Die »Dirne«, der Bürger und der Staat: Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1940er Jahre 9783412216757, 9783412222383


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Die »Dirne«, der Bürger und der Staat: Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1940er Jahre
 9783412216757, 9783412222383

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ZÜRCHER BEITRÄGE ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT BAND 3

HERAUSGEGEBEN VON GESINE KRÜGER UND SEBASTIAN SCHOLZ

DIE »DIRNE«, DER BÜRGER UND DER STAAT Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1930er Jahre

VON SABINE JENZER

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Gefördert durch den Forschungskredit der Universität Zürich, Verfügung Nr. 56621701, sowie durch den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2012 auf Antrag von Prof. Dr. Philipp Sarasin (Erstgutachter) und Prof. Dr. Martin Lengwiler (Zweitgutachter) als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Vorne: Karikatur aus der schweizerischen Satirezeitschrift Nebelspalter (Nebelspalter, Nr. 3, 19. Januar 1900. Zentralbibliothek Zürich.). Hinten: Karikatur aus der schweizerischen Satirezeitschrift Scheinwerfer. (Scheinwerfer, Nr. 21, 8. Oktober 1920, S. 4. Zentralbibliothek Zürich.).

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22238-3

Inhalt Dank  ............................................................................................................................. 

7

1 Einleitung  .............................................................................................................. 

9

2 Prostitution um 1900  ......................................................................................... 

37 37 56 69

2.1 Ein Großstadtphänomen ............................................................................  2.2 Lebensläufe von Prostituierten  .................................................................  2.3 Reaktionen auf die Prostitution  . . .............................................................. 

89 3.1 Die Anfänge der Sittlichkeitsbewegung  ..................................................  89 3.2 Die Mitglieder  .............................................................................................  104 3.3 Tätigkeitsfelder  ............................................................................................  125

3 Die evangelischen Vereine zur Hebung der Sittlichkeit um 1900  . . .......... 

4 Private Erziehungsheime für weibliche Jugendliche im 19. Jahrhundert  . 163

4.1 Genealogie der Heimerziehung für weibliche Jugendliche  . . ................  4.2 Die Heimerziehung der Sittlichkeitsvereine  .. .........................................  4.3 Handlungsstrategien der involvierten Akteure  ......................................  4.4 Die Ambivalenz der Heimerziehung  ....................................................... 

163 173 225 248

5 Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik 1900 – 1940  .. ......................  253

5.1 Die Durchsetzung der Heimerziehung für weibliche Jugendliche  .....  253 5.2 Staatliche Intervention  ...............................................................................  268 5.3 Einflussnahme der Sittlichkeitsvereine auf die staatliche Fürsorge  .. ...  274 5.4 Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge  297 349 6.1 Der Einfluss wissenschaftlicher Konzepte auf die Heimerziehung  . . ...  349 6.2 Die Heimerziehung für weibliche Jugendliche um 1940  .....................  356 6.3 Das Ende der Magdalenenheime nach 1968  ...........................................  375

6 Heimerziehung weiblicher Jugendlicher bis 1970 – ein kurzer Ausblick  .. .. 

7 Schluss  .................................................................................................................  379

6



8 Anhang  . . ................................................................................................................  399

8.1 Die Heimlandschaft für weibliche Jugendliche in der deutschsprachigen Schweiz im 19. Jahrhundert bis 1940  ..........  399 9 Abkürzungsverzeichnis  ......................................................................................  407 10 Quellen- und Literaturverzeichnis  . . ..................................................................  409

10.1 Nicht publizierte Quellen  .. ........................................................................  409 10.2 Publizierte Quellen  .....................................................................................  413 10.3 Literatur  ........................................................................................................  417 11 Abbildungsverzeichnis  .......................................................................................  449

Dank Auf dem Weg zum fertigen Buch haben mich viele Menschen unterstützt und begleitet. Ich danke Prof. Philipp Sarasin für die engagierte Begleitung meiner Dissertation und die wertvollen, unterstützenden und motivierenden Rückmeldungen. Prof. Martin Lengwiler danke ich für sein Interesse an meiner Arbeit, für die wertvollen Impulse und die anregenden Gespräche. Für die vielen hilfreichen und fruchtbaren Diskussionen und Anregungen danke ich Sonja Matter und Tanja Rietmann, die mich immer wieder auf meinem Weg motiviert haben. Martina Akermann danke ich für ihre wertvollen Inputs und die wohltuenden, anregenden Gespräche. Sara Galle danke ich für die vielen fruchtbaren Gespräche – es hat unglaublich motiviert, zwischendurch im Büro gemeinsam zu fachsimpeln. Ein Dank geht auch an meine „Bürogspänli“ an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zürich, die durch eine angenehme, freundschaftliche Atmosphäre in unserem Büro die Arbeit erleichterten und bereicherten. Prof. Brigitte Studer, Prof. Thomas David und Prof. Christian Topalov danke ich für ihre hilfreichen Rückmeldungen. Ich danke Nicola Behrens für seinen kriti­ schen, juristisch geschulten Blick auf meine Texte, der mir Sicherheit in meinen Ausführungen zu gesetzlichen und juristischen Belangen gab. Dem Evangelischen Frauenbund Zürich danke ich, dass er mich in meinen Recherchen und im Verfassen meiner Arbeit engagiert und unkompliziert unterstützt hat. Ich möchte mich auch bei den Angestellten der von mir besuchten Archive bedanken, die mir während meiner Archivrecherchen wertvolle Hilfe geleistet haben. Meinen Eltern danke ich für ihre tatkräftige Unterstützung, ihre liebevolle, fürsorgliche Begleitung und die wertvollen Gespräche, die mir auf meinem Weg immer wieder weiterhalfen. Meinem Lebenspartner Roland Baumgartner danke ich, dass er mich in dieser Zeit vorbehaltlos unterstützt und mich auf meinem Weg gestärkt und bestärkt hat und dass er immer für mich da war. Sabine Jenzer, August 2013

1 Einleitung Debatten zum Umgang mit Prostitution kennen Konjunkturen. Mal lodern sie kurz auf, mal sind sie auf Sparflamme, dann wiederum brennen sie lichterloh, bevor sie zwischenzeitlich ganz erlöschen. Mal sind sie emotional eingefärbt, mal nüchtern, mal sexuell geladen, oder eine Mischung davon. Das Ende des 19. Jahrhunderts, der Zeitpunkt, mit dem diese Arbeit einsetzt, war eine Zeit, in der das Sexgewerbe mit einiger Hartnäckigkeit und Wucht ins Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung trat. Die Pros­ titution – übrigens weder erwiesenermassen das älteste Gewerbe noch (unabänder­ licher) Bestandteil jeder Gesellschaft –1 avancierte von einem in Männerzirkeln sowie Politiker- und Medizinerkreisen diskutierten zu einem in breiten Bevölkerungsteilen debattierten Gesprächsthema. Es ging um die Lösung der als zunehmend dringend empfundenen „sexuellen Frage“, welche Prostitution und Geschlechtskrankheiten, aber auch Homosexualität und Geburtenkontrolle betraf. Während die Prostituierten selbst praktisch keine Selbstzeugnisse hinterließen, also quasi stumm blieben, ist gleichzeitig ein aufgeregtes Reden über sie auszumachen. Dafür gesorgt hatte wesentlich die abolitionistische Bewegung (im deutschsprachigen Raum Sittlichkeitsbewegung genannt), die von England her kommend weite Teile Europas und in den 1870er Jahren auch die Schweiz erfasste. Wie der engli­ sche Abolitionismus, dessen Name in Anlehnung an die amerikanische Anti-Sklaverei-Bewegung entstand, riefen auch die von besorgten Bürgerinnen und Bürgern gegründeten (und in dieser Arbeit näher untersuchten) evangelischen Sittlichkeitsvereine der deutschsprachigen Schweiz öffentlichkeitswirksam zum Kampf gegen den käuflichen Sex und die white slavery – den Frauenhandel – auf, als in verschiedenen Kantonen unter anderem als Antwort auf die grassierenden und noch kaum heilbaren Geschlechtskrankheiten die Einführung der Reglementierung der Prostitution auf der politischen Agenda stand. Mithilfe der damit verbundenen polizeilichen Registrierung und regelmäßigen ärztlichen Kontrolle der Sexarbeiterinnen auf Geschlechtskrankheiten sollte die Prostituierte, die als Ansteckungsherd schlechthin galt, bei einer Erkrankung rechtzeitig und bis zu ihrer Genesung aus dem Verkehr gezogen werden. Die stark konfessionell geprägten Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine stellten sich gegen die herrschende bürgerliche Doppelmoral, die den Männern Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe gestattete, den Frauen hingegen nicht, und forderten für beide Geschlechter die Beschränkung der Sexualität auf die Ehe. Sie waren Teil von in weiten Teilen Europas im 19. Jahrhundert engagierten erweckten Kreisen, die sich zu einflussreichen Lobbygruppen entwickelten und eine verstärkte

1

Vgl. Ringdal, Weltgeschichte, 2006, S. 14 – 21.

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staatliche Regulierung der Sexualität forderten.2 Diese Gruppierungen waren oftmals involviert in die Durchsetzung der Gesetze, indem sie strafrechtliche Verfolgung der Prostituierten unterstützten oder in die Wege leiteten oder indem sie ein eigenes System von Überwachung der Bordelle und der Bevölkerung aufbauten. Sie verfolgten das Ziel, „von der politischen Macht neue Gesetze zu erhalten, die ihre Bemühungen um die Sittlichkeit bestätigten“, und erreichten wiederholt das Einfließen ihrer Lösungsstrategien in das staatliche Strafsystem.3 Der Höhepunkt ihrer Aktivitäten lag zwischen 1880 und 1914.4 Diese religiösen Gruppierungen nahmen überdies eine zunehmend wichtige Rolle als Fürsorger in Bereichen ein, in denen der Staat erst minimal engagiert war.5 Die Protektion der Jugendlichen war dabei eines ihrer zentralen Anliegen. So engagierten sich auch die Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine in der Fürsorge für meist junge Frauen. Sie fokussierten dabei auf weibliche Jugendliche, die sich prostituierten oder die in Gefahr schienen, es eines Tages zu tun. Sie initiierten neue Fürsorge­felder für sogenannt „gefallene“ und „sittlich gefährdete“ Frauen und bauten ein Fürsorgenetzwerk für diese Frauen auf, zu dem auch zahlreiche Erziehungsanstalten 6 gehörten. Ihre Erziehungsheime waren meist und in zunehmendem Maße für weibliche schulentlassene Jugendliche gedacht, weil man deren Beeinflussbarkeit höher einstufte als diejenige von älteren Personen. Viele von ihren Heimen bildeten damit einen Bestandteil der in der Deutschschweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Heime für nachschulpflichtige Jugendliche. Mit ihrer Fürsorgetätigkeit engagierten sich die Sittlichkeitsvereine in einer typischen Domäne des philanthropisch tätigen Bürgertums,7 insbesondere der bürger­ lichen Frauen. Die soziale Arbeit lag am Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend in den Händen privater, meist weiblicher Wohltätigkeit. Bürgerliche Frauen arbeiteten in Bereichen, die von der staatlichen Armen- und Waisenpflege nicht abgedeckt wurden. 2 3 4 5 6

7

Vgl. Jackson, Sex, 2011, S. 91 – 100. Vgl. Foucault, Wahrheit, 2003, S. 88 – 101. Zit. nach Foucault, Wahrheit, 2003, S. 92. Vgl. Jackson, Sex, 2011, S. 92. Vgl. Jackson, Sex, 2011, S. 91 – 100. Obwohl der Begriff „Anstalt“ ein zeitgenössischer Ausdruck ist und heute in diesem Zusammenhang nicht mehr verwendet wird, setzte ich den Begriff zugunsten des Leseflusses nicht in Anführungs- und Schlusszeichen. Catherine Duprat und Jacques-Guy Petit definieren Philanthropie als „l’ensemble des oeuvres sociales, caritatives et humanitaires d’initiative privée, qu’elles soient ou non confessionnelles.“ (Duprat, Introduction, 1994, S. V.). Lawrence J. Friedman sieht einen Philanthropen durch die spezifische Intention seines wohltätigen Engagements gekennzeichnet: „Philanthropists intend to impose their vision of the good society through collective missionary-like (religious and secular) ventures. Whereas some of these ventures are self-reflective and deeply attentive to the concerns of the recipients, others are not.“ Friedman, Philanthropy, 2003, S. 2 f.

Einleitung

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Die Fürsorgearbeit der Sittlichkeitsvereine an „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen war Teil dieser im Entstehen begriffenen sozialen Arbeit. Nach der Jahrhundertwende nahm der Staat die Jugendfürsorge zunehmend als eigene Aufgabe wahr und verstärkte den interventionistischen Zugriff auf norm­ abweichende nachschulpflichtige weibliche Jugendliche. Es kam zu einem Erlass neuer Gesetze und zum Aufbau staatlicher Fürsorgeinstitutionen. An der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert ist im Bereich der Fürsorge in zahlreichen europäischen Ländern, so auch in der Schweiz, ein Transformationsprozess auszumachen.8 Mit der Formierung des Sozialstaates wurden die Arbeitsteilung und die Beziehung zwischen privaten und staatlichen Akteuren neu verhandelt. Fragen nach der Rolle privater und staatlicher Organisationen, nach der Art der vom Staat an Private delegierten Aufgaben und nach dem Maß an Vollmacht und Autorität der beiden Sektoren wurden aufgeworfen.9 Die Debatten fanden vor allem an internatio­ nalen Fürsorgekongressen statt, die insbesondere an der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert stattfanden.10 Staatsvertreter, wissenschaftliche Experten sowie Vertreter privater Vereinigungen und Institutionen zahlreicher europäischer Länder diskutierten an diesen Kongressen, wie die Zusammenarbeit zwischen privater und staatlicher Fürsorgetätigkeit in Zukunft gestaltet werden sollte. Die Zuständigkeiten, Verantwortungen, Aufgaben und Kompetenzen des privaten und des staatlichen Sektors wurden in der Folge neu verteilt, wobei sich um die Jahrhundertwende der Vorschlag einer Zusammenarbeit der beiden Sektoren durchsetzte, die auf einer besseren Koordination und auf bestimmten Grundsätzen und Methoden beruhen sollte. Einige der beteiligten einflussreichen Männer waren sowohl Vertreter privater Vereinigungen als auch Staatsvertreter, was nach Colette Bec das ausgeprägte Bemühen erklärt, ein Gleichgewicht zwischen privater und staatlicher Initiative zu finden.11 Trotz Kompromissen war es aber der Staat, der die Regeln festlegte und einen Zuwachs erfuhr. Diese Studie schließt an Untersuchungen an, die im Rahmen eines groß angelegten schweizerischen Nationalfondsprojekts zu Integrations- und Ausschlussmechanismen im schweizerischen Sozialstaat (NFP 51) in jüngster Zeit erschienen und laufend erscheinen.12 Diese Forschungen zeigen auf, dass parallel zum Ausbau des Schweizer National- und Sozialstaat bis in die 1970er Jahre eine Sozialpolitik betrieben wurde, die einerseits integrativ wirkte, andererseits eine Reihe sozialer Gruppierungen aus der 8

Vgl. zum folgenden Abschnitt Schumacher, Selbstbilder, 2010, S. 55 f.; Katz, Introduction, 1996; Topalov, laboratoires, 1999; Bec, congrès, 1994. 9 Katz, Introduction, 1996, S. 11 f. 10 Vgl. ausführlich Topalov, laboratoires, 1999; Bec, congrès, 1994. 11 Vgl. Bec, congrès, 1994. 12 Vgl. zu den Forschungsprojekten und den Resultaten des NFP 51: Grunder, Dynamiken, 2009, http://www.nfp51.ch (12. 7. 2011).

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Einleitung

Gesellschaft ausschloss.13 Bis nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die soziale Absicherung seitens des Staates schwach ausgebildet und war in erster Linie darauf ausgerichtet, eine weitere Zuspitzung der sozialen Spannungen zwischen Armen und Wohlhabenden zu verhindern. Einher mit dem, wenn auch zögerlichen Ausbau der Sozialversicherungen ging ein verstärkter Zugriff auf normabweichende Personen. Zu den sozialpolitischen Maßnahmen von Bund und Kantonen zählten etwa Kindswegnahmen und Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen bei Pflegefamilien oder in Erziehungsheimen sowie Sterilisationen, Eheverbote, Bevormundungen und administrative Versorgungen von Normabweichenden. Begründet wurden die Eingriffe mit moralischen, psychiatrischen und eugenischen Vorstellungen sowie mit finanziellen Überlegungen. Betroffen von diesen oft mit disziplinierenden und normierenden Elementen verbundenen Maßnahmen waren ausgeprägt kinderreiche, arme Familien sowie arme, alleinerziehende Mütter und Frauen, denen ein von bürgerlichen Normen abweichendes Sexualleben zugeschrieben wurde. Diese Gruppen waren besonders stark von der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreiteten Armut und schwachen sozialen Absicherung betroffen. Eine Anpassung an die bürgerlichen Normen und an das bürgerliche Familienideal, das den Männern die Ernährerrolle und den Frauen das Gebären und Erziehen von Kindern innerhalb einer Ehe zusprach, wurde zu einem Leitmotiv dieser staatlichen Interventionen. Noch bis in die 1970er Jahre bezogen sich Interventionen in die Bereiche Paarbeziehung, Heirat, Mutter- und Vaterschaft, Abtreibung, Sterilisation und Kastration auf das idealisierte, in den Unterschichten allein schon aufgrund der finanziellen Lage kaum umgesetzte Bild der bürgerlichen Familie.14 In der hier vorliegenden Studie steht die Gruppe jener vorwiegend aus den untersten Schichten stammenden jungen Frauen im Zentrum, die aufgrund ihres norm­ abweichenden Verhaltens zur Erziehung in Heime eingewiesen wurde. Abweichendes Verhalten wurde für weibliche und männliche Jugendliche unterschiedlich definiert. Bei jungen Männern galt Arbeitsunlust, Nichterfüllen familiärer Unterhaltspflichten sowie Delinquenz, wie Diebstahl oder Unterschlagung, als typisch normabweichendes Verhalten. Bei jungen Frauen wurde die Verletzung der an einer gerade für Frauen rigiden Moral gemessenen sexuellen Norm als typisch weibliche Devianz gehandelt. In den Fokus fürsorgerischer Maßnahmen gerieten ausgeprägt sogenannte „sittlich gefährdete“ oder „gefallene“ Frauen aus der Unterschicht, die in prekären materiellen Verhältnissen lebten und die eines sexuell auffälligen Verhaltens bezichtigt wurden oder als gefährdet galten, eines Tages von den bürgerlichen sexuellen Normen abzuweichen. Eine Frau, die von der eng gesteckten sexuellen Norm abwich, wurde rasch abwertend als „Hure“ oder „Dirne“ bezeichnet und konnte dabei leicht in den Verdacht geraten, ihren Körper gegen Geld zu verkaufen. Die für Frauen (jedoch 13 Vgl. Grunder, Erträge, 2009, S. 160. 14 Vuille, Essai, 2009, S. 71.

Einleitung

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nicht für Männer) sehr eng gesteckte bürgerliche Sexualmoral – die von der Sexualmoral der Arbeiterklasse teilweise abwich – verlangte von der Frau eine auf die Ehe beschränkte Sexualität. Als „sittlicher Fall“ galten neben der Prostitution entsprechend unter anderem das Konkubinat und die aussereheliche Schwangerschaft, die beide in der Unterschicht noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und im Rahmen einer festen Partnerschaft akzeptiert waren. Die Sexualität der Arbeiterschaft galt in bürgerlichen Kreisen als ungezügelt und triebhaft. Die scheinbar freie und ungezügelte Sexualität wurde unter anderem für die hohen Unehelichkeits- und Abtreibungsraten, die angeblich boomende Prostitution sowie für die grassierenden Geschlechtskrankheiten verantwortlich gemacht.15 Die in Heime eingewiesenen jungen Frauen hatten sich oftmals keine strafrechtlich relevante Tat zuschulden kommen lassen, sondern ihr Verhalten galt als Sitten und Familien gefährdend, potenziell belastend für die durch die verbreitete Armut stark beanspruchte Armenkasse sowie als Gefahr für die physische und psychische Volksgesundheit. Im Untersuchungszeitraum ermöglichten in zunehmendem Maße neue Gesetze und Fürsorgeeinrichtungen die effektive Durchsetzung bürgerlicher Normvorstellungen und Sexualitätsstandards. In den Gesetzen wurde im Zusammenhang mit diesen normabweichenden Frauen oft mit den vagen, unscharfen Begriffen „Liederlichkeit“, „Lasterhaftigkeit“ und „Unsittlichkeit“ operiert, die mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden konnten und die je nach aktuellen gesellschaftlichen Moralvorstellungen nach Bedarf wandelbar waren.16

Fragestellung Das Interesse dieser auf kultur- und sozialhistorischen Forschungstraditionen aufbauenden Arbeit liegt darin, das Fürsorgesystem, wie es von Bürgern und vom Staat für die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen ausgebaut wurde, von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Dabei liegt der spezifische Fokus auf der Heimerziehung 15 Eder, Kultur, 2009, S. 174. 16 „Liederlichkeit“: Gemäß Definition des Deutschen Wörterbuches von 1892 „Begriff des Ausschweifenden, Unordentlichen und Genussüchtigen“ (Heyne, Moriz. Deutsches Wörter­ buch. 2. Bd. Leipzig 1892. S. 654). Der Jurist Emil Friedrich subsumierte unter „liederlichem Lebenswandel“ eine Lebensführung, die als „moralisch minderwertig“ charakterisiert wurde (Friedrich, Emil. Die Bevormundungsfälle des schweizerischen Rechts. Dissertation, Bern 1917, S. 113 f.). „Lasterhaftigkeit“ bedeutete gemäß dem Juristen Joseph Kaufmann ein „moralisches Werturteil“, das auf aktuell herrschende Moralbegriffe abstellt war (Kaufmann, Kommentar, 1915, S. 64 f.).

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für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche und den für diese Klientel errichteten Jugendheimen. Im Zentrum stehen die Ausprägung der privaten Fürsorge, die Rolle des Staates sowie das Zusammenwirken der privaten und staatlichen Akteure. Die Arbeit konzentriert sich auf die drei Schweizer Kantone Basel-Stadt, Bern und Zürich, mit einem spezifischen Fokus auf den Kanton Zürich. Die Untersuchung hat vier Schwerpunkte: Mich interessiert erstens die Pionierarbeit der von besorgten Bürgern und vor allem Bürgerinnen getätigten privaten Fürsorge. Aufseiten der privaten Wohlfahrt untersuche ich die evangelischen Frauenund Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit (der Einfachheit halber bezeichne ich diese Vereine entweder als Sittlichkeitsvereine oder Vereine zur Hebung der Sittlichkeit 17). Der Fokus dieser Arbeit liegt seitens der privaten Fürsorge entsprechend auf evangelischen Erziehungsheimen. Mich interessieren die Vereinstätigkeit der Sittlichkeitsvereine, ihre Fürsorgekonzepte, ihre Leitideen und Forderungen. Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand ist der Umgang dieser Vereine mit den als sexuell deviant geltenden jungen Frauen. Es wird ein Blick in ihre Erziehungsheime geworfen. Des Weiteren analysiere ich ihren spezifischen Blick auf die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen. Zweitens interessiert mich, wann, weshalb und wie sich der Staat in diesem Bereich der Fürsorge zu engagieren begann. Ich untersuche ferner, auf welchen Erziehungsprämissen, Norm- und Ordnungsvorstellungen er aufbaute. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern die Interventionen rechtsstaatlich abgestützt waren. Mich interessiert drittens die Schnittstelle zwischen dem Engagement privater Vereinigungen und der staatlichen Intervention und Aktivität in der Heimerziehung, wie sie sich im entstehenden Schweizer Sozialstaat darstellte. Untersucht wird das zunehmend enge und von Aushandlungsprozessen, Synergien, Abhängigkeiten und Rollenkonflikten begleitete Zusammenspiel der Bürger und des Staates in diesem Fürsorgesystem: ihre Zusammenarbeit, die Aufgaben- und Kompetenzverteilung. Es stellt sich überdies die Frage nach der Bedeutung der privaten Fürsorge im Fürsorge­ system und dem Einfluss der evangelischen Sittlichkeitsvereine auf die sozialstaatlichen Strukturen. Ich frage aber auch danach, inwiefern die Wissenschaft (Sozialwissenschaften und Medizin), die sich im von mir untersuchten Zeitraum in den Arbeits- und Handlungsfeldern des Sozialstaates, vor allem in der Sozialen Arbeit, zu etablieren vermochte,18 die Fürsorge für die „gefallenen Mädchen“ beeinflusste. 17 Der Berner Männerverein hieß im Untersuchungszeitraum eigentlich Berner Männerverein zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, der Berner Frauenverein hieß Bernischer Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, der Zürcher Frauenverein hieß Zürcher Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit, der Zürcher Männerverein war der kantonal zürcherische Verein zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, der Basler Verein hieß Basler Frauenverein am Heuberg. 18 Raphael, Verwissenschaftlichung, 1996, S. 171 – 179.

Einleitung

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Mich interessieren viertens die in diesem System anvisierten jungen Frauen. Fehlende schriftliche Quellen aus der Hand von ehemaligen Heiminsassinnen (deren Namen in dieser Arbeit anonymisiert wiedergegeben sind, indem fiktive Namen verwendet wurden) erschweren eine detaillierte Untersuchung der Sicht dieser Frauen. Zudem wurden aufgrund des untersuchten frühen Zeitraums in dieser Arbeit keine Interviews mit ehemaligen „Zöglingen“ oder Angestellten durchgeführt. Jedoch kann zumindest schemenhaft ein Bild davon gezeichnet werden, wie ein Leben einer als „sittlich gefährdet“ oder „gefallen“ erachteten jungen Frau im Erziehungsheim ausgesehen haben mag. Die hier hinzugezogenen schriftlichen Quellen geben zudem Aufschlüsse über die Reaktionen der „Zöglinge“ auf ihren Heimaufenthalt und über deren Handlungsspielraum im Fürsorgenetz. Für die hier interessierenden Jugendheime für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche nehme ich auf privater Seite schwerpunktmäßig den Berner Sulgenhof, das Basler Zufluchtshaus, den Zürcher Pilgerbrunnen und den anfänglich privaten Zürcher Tannenhof 19, auf staatlicher Seite den Heimgarten bei Bülach und das Loryheim in Münsingen in den Fokus. Junge Frauen wurden auch in andere Anstalten eingewiesen; dies auch dann, wenn diese nicht für sie konzipiert waren oder sie aufgrund des Einweisungsgrundes nicht dorthin gehörten – etwa in Irrenanstalten, Zwangserziehungsanstalten für Erwachsene und Strafanstalten. Aufgrund von Berichten von Betroffenen wurde vor allem der Fall von Hindelbank bekannt, das als Korrektions- und Strafanstalt für erwachsene Frauen konzipiert war, jedoch auch administrativ versorgte Minderjährige aufnahm. Diese Anstaltstypen sowie die Einweisung in dieselben stehen jedoch nicht im Zentrum dieser Untersuchung. Diese Arbeit untersucht den Zeitraum zwischen den 1870er und 1930er Jahren. In den 1870er Jahren setzten in der Deutschschweiz erste Aktivitäten der Sittlichkeits­ bewegung ein. Aus ihr gingen zahlreiche Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Frauen hervor. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzten auch die Anfänge moderner Sozialstaatlichkeit in der Schweiz ein.20 Nach der Jahrhundertwende zeigt sich eine zunehmende Verrechtlichung und staatliche Institutionalisierung der Fürsorge für sexuell normabweichende junge Frauen. Dieser Prozess fand im Wesent­ lichen in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts statt. Der staatliche Zugriff auf diese Frauen wurde insbesondere in der Zwischenkriegszeit verstärkt – einer Zeit also, die von zunehmender Staatsintervention in die Belange der Bevölkerung, 19 Der Tannenhof wurde 1929 von der Stadt Zürich übernommen. 20 Vgl. Studer, Sicherheit, 1998. In der Forschung wird teilweise auch die Auffassung vertreten, von einem Sozialstaat könne in der Schweiz erst ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede sein, weil erst dann zentrale Elemente, wie die AHV und eine umfassende ALV, realisiert wurden. Vgl. etwa Degen, Bernard. „Sozialstaat“. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (11. 2. 2010).

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von massiven sozialen Spannungen und Arbeiterunruhen, Furcht der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Kommunismus, von Wirtschaftskrisen gepaart mit sozialer Misere, einer weiterhin schwachen sozialen Abfederung von Armutsrisiken seitens des Staates, Angst vor einer physischen und psychischen „Entartung“ des Schweizer Volkes sowie einem ausgeprägten Konformitätsdruck geprägt war. 21 Geografisch fokussiert diese Arbeit wie erwähnt auf die reformierten Kantone Bern, Basel-Stadt und Zürich, mit Schwerpunkt auf den Kanton Zürich und den dortigen Sittlichkeitsvereinen. Die Sittlichkeitsvereine waren evangelischer Ausrichtung und deshalb in reformierten Kantonen am aktivsten, in katholischen hingegen weit weniger präsent. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstanden auch katholische Vereine mit ähnlichen Zielsetzungen. Dieses katholische Engagement, das anfänglich auf katholische Kantone beschränkt war, ist jedoch nur am Rande Thema dieser Untersuchung. Die Wahl der drei Kantone Bern, Basel-Stadt und Zürich ist auch deshalb erfolgt, weil es jene mit den größten Deutschschweizer Städten waren, in denen sich die Pros­ titution am stärksten bemerkbar machte und die Sittlichkeitsvereine entsprechende Aktivitäten entfalteten. Die private wie öffentliche Fürsorge für sexuell deviante junge Frauen fokussierte ausgeprägt auf die Städte, die als besonders gefährdend für den sittlichen Halt galten. Ländliche Kantone, deren Fürsorgesystem meist milizartiger und weniger zentralisiert aufgebaut war, werden hier nicht näher behandelt. Die Westschweizer Kantone werden einerseits aufgrund der schlechten Quellenlage zur Heimfürsorge der dortigen abolitionistischen Vereine nicht näher untersucht. Andererseits war die inhaltliche Ausrichtung teilweise verschieden, was 1901 zu einer Trennung der Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit von ihren Westschweizer Schwestergesellschaften führte. Eine über die bislang noch recht spärlich vorhandenen Forschungen hinausgehende Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie der Zusammenarbeit zwischen den deutsch- und französischsprachigen Sittlichkeitsvereinen wäre aber wünschenswert. Mein Fokus liegt überdies auf dem kommunalen und kantonalen Raum, nicht auf dem eidgenössischen. Die soziale Arbeit war in der Schweiz lange Zeit kantonal und kommunal geregelt, verbunden mit einer starken privaten Wohlfahrt. Das ausgeprägt föderalistische System schlug sich auch auf die Fürsorgepolitik nieder. Vor der Einführung des eidgenössischen Zivilgesetzbuches 1912 und des eidgenössischen Strafgesetzbuches 1942 waren auch die Fürsorge- und Versorgungsgesetze kantonal geregelt und es bestanden teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den Kantonen. Auch die Errichtung von Erziehungsheimen blieb Angelegenheit der Kantone. Die öffentliche Fürsorge war kommunal organisiert. Auch die private Fürsorge fand auf der kommunalen Ebene in den Städten und Dörfern statt. Ich werde in dieser Arbeit für 21 Vgl. zur Zwischenkriegszeit in der Schweiz ausführlich Guex, Krisen, 1998; Furrer, Schweiz, 2008.

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die kommunale, kantonale und eidgenössische Ebene den Begriff „Staat“ verwenden, auch wenn er für kommunale Verwaltungen nicht einschlägig ist, sondern lediglich für kantonale und eidgenössische. Neben dem Begriffspaar „privat“ – „staatlich“ verwende ich auch das Begriffspaar „öffentlich“ – „privat“, obwohl es nicht trennscharf ist, weil auch Vereine öffentlich sein können. Zusätzlich beschränke ich meine Untersuchung auf die nachschulpflichtigen weiblichen Jugendlichen. Die Fürsorge für ältere Frauen wie auch für männliche Jugendliche wird hier nicht näher thematisiert. Auch die von den Männervereinen zur Hebung der Sittlichkeit geförderten Gründungen von christlichen Vereinen für junge Männer, die christliche und sittliche Unterhaltung sowie ein keusches Leben propagierten, werden hier nicht näher untersucht. Ebenso wenig wird der Umgang mit der männlichen Prostitution thematisiert. Diese wurde als Randerscheinung behandelt, die es mit Gefängnis zu bestrafen gelte.22

Forschungsstand Diese Untersuchung berührt die großen Themenfelder Heimerziehung, Sozialstaat und private Wohlfahrt. Zur Heimerziehung in der Schweiz sind in den letzten Jahren vermehrt historische Forschungen publiziert worden.23 In jüngster Zeit haben Medienberichte und 22 Mit dem Aufkommen der Männerforschung (men’s studies) sind auch die männlichen Prostituierten ins Blickfeld historischer Untersuchungen gerückt. Vgl. Lücke, Hierarchien, 2010; Lücke, Männlichkeit, 2008; Lücke, Utopien, 2006, S. 301 – 318; Schlatter, Neigung, 2002; Dolder, Duldungspolitik, 2008; Peniston, Pederasts, 2004. Vgl. für die Schweiz: Kauer, Leib, 2004, S. 96 – 99. Über die Wahrnehmung männlicher Homosexualität durch die deutsche Sittlichkeitsbewegung: Fout, Politics, 1992. Ein zeitgenössischer Blick auf die männliche Prostitution in Bern findet sich bei: Schneeberger, Prostitution, 1872, S. 77 – 79. 23 Chmelik, Armenerziehungs- und Rettungsanstalten, 1986; Alzinger, Erziehungsheime, 1987; Hafner, Heimkinder, 2011; Huonker, Anstaltseinweisungen, 2002; Huonker, Wandlungen, 2003; Lippuner, Bessern, 2005; Ruchat, L’oiseau, 1993, Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999; ­Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013; Hauss, Retten, 1995; David, Wohltätigkeit, 2009; Jenzer, Mädchen, 2004; Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012; Tanner, Erziehung, 1998; Praz, l’enfant, 2005; Grunder, Landerziehungsheim, 1987; Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989; Avvanzino, Histoire, 1993; Keller, Anstalt, 1988; Heller, Enfance, 2005; Heller, prison, 2012; Akermann, Meerrohrstock, 2004; Sax, Erziehungsanstalten, 2006; Hürlimann, Kinder, 2000; Ott, Heim, 2008; Strebel, Weggesperrt, 2010; Germann, Humanität, 2010; W ­ illen, Härz, 2000; Willen, Überlegungen, 2004; Müller, Verwahrlosung, 1982; Locher, Macht, 2011; Schär, Erziehungsanstalten, 2006, u. a. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. Lengwiler, Bestandesaufnahme, 2013 sowie den Forschungsstand von Thomas Huonker im Einleitungsteil in Furrer, Fürsorge, im Druck.

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öffentliche Auftritte von ehemaligen Heiminsassinnen und -insassen in der Öffentlichkeit große Resonanz ausgelöst und den Anstoß zu weiteren Untersuchungen gegeben. So arbeitet Thomas Huonker im Auftrag der Guido-Fluri-Stiftung die Kinderheime in der Schweiz auf, mit Schwerpunkt auf der Dokumentation der Stimmen ehemaliger Heimkinder.24 Auch die Ingenbohler Schwestern haben eine unabhängige Untersuchung der Vorkommnisse in von ihnen geleiteten Heimen in Auftrag gegeben, die kürzlich abgeschlossen wurde, und auch die Heilsarmee plant eine solche Aufarbeitung.25 Die Luzerner Synode, das Parlament der römischkatho­lischen Landeskirche, hat überdies eine kürzlich abgeschlossene interdisziplinäre Studie zur katholischen Heimerziehung in Auftrag gegeben, welche der Frage nach der Verbindung zwischen Gewaltausübung in der Heimerziehung und den Besonderheiten des kirchlichen und gesellschaftlichen Umfeldes nachgeht.26 Zudem sind verschiedene weitere Forschungs- und Archivprojekte zur Aufarbeitung der Thematik in Gang.27 Der Verein Kloster Fischingen hat zudem eine historische Aufarbeitung der Geschichte des Kinderheims St. Iddazell in Auftrag gegeben, 24 http://www.kinderheime-schweiz.ch/de/index.php. (12. 11. 2011) 25 Zu Ingenbohl vgl. Strittmatter, Anton. Zwischenbericht im Auftrag des Klosters Ingenbohl. 2012. (Manuskript); Schlussbericht: Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen. Erziehungspraxis und institutionelle Bedingungen unter besonderer Berücksichtigung von Rathausen und Hohenrain. Schlussbericht der unabhängigen Expertenkommission Ingenbohl, 23. Januar 2013, http://www.kinderheime-schweiz.ch/de/pdf/ingenbohler_schwestern_in_kinderheimen_schlussbericht_expertenkommission_23januar2013.pdf (5. 2. 2013). Zur Aufarbeitung der Heilsarmee vgl. Hostettler, Otto. Kinderheime. Privater ermöglicht Heim-Aufarbeitung. In: Beobachter, Nr. 24 (2010). http://www.beobachter.ch/dossiers/administrativ-versorgte/ artikel/kinderheime_privater-ermoeglicht-heim-aufarbeitung/ (12. 7. 2011.) und http://www. kinderheime-schweiz.ch/de/pdf/20111121_Guido%20Fluri-Stiftung_refPresse.pdf (12. 11. 2011.) 26 Ries, Mauern, 2013. 27 Integras, der Fachverband Sonder- und Sozialpädagogik, hat eine historische Aufarbeitung der Heimerziehung in Auftrag gegeben. Zudem arbeitet Kevin Heiniger an einer Dissertation zur „Zwangserziehungsanstalt Aarburg – Institution und Lebenswelten“, und Sonja Furger arbeitet an einer Dissertation mit dem Titel „... zur Arbeit und zur Ordnung anhalten ... Heimleitung und pädagogische Praxis im Kontext von Modernisierung und Medikalisierung: das Beispiel der ehemaligen Armenerziehungsanstalt auf Schloss Kasteln (Kanton Aargau) im 20. Jahrhundert (1900 – 1979)“, http://www.hist.uzh.ch/fachbereiche/neuzeit/privatdozierende/ziegler/dissertationen/5.html (12. 7. 2011). In Planung ist zudem ein transnationales Forschungsprojekt, das erstmals detailliert Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Heimerziehung in Deutschland, Österreich und der Schweiz erforschen will, unter der Leitung von Prof. Birgit Bütow vom Institut für Sozialpädagogik in Jena mit dem Arbeitstitel „Zur Normativität von (Heim-)Erziehung und Erziehungskonzepten – nationale Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Erziehungskonzepten – nationale Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Vergleich der deutschsprachigen Länder Schweiz, Österreich, Deutschland“.

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nachdem Missbrauchsvorwürfe und Vorwürfe wegen Medikamentenversuchen an Heimkindern in den Medien laut wurden.28 Der Schlussbericht wird Ende März 2014 abgeschlossen sein.29 Anfangs 2014 startet überdies ein groß angelegtes, interdisziplinäres Nationalfondsprojekt (Synergiaprojekt) zur Heimerziehung in der Schweiz zwischen 1940 und 1990.30 Im Frühjahr 2014 erscheint zudem eine Itinera-Nummer zum Thema Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz zwischen 1850 und 1980, welche die aktuelle Forschungslandschaft skizzieren will.31 Vonseiten der Politik hat der Kanton Luzern als erster (und bislang einziger Kanton) reagiert und eine historische Aufarbeitung der Vorkommnisse in Luzerner Kinderheimen von 1930 bis 1970 eingeleitet. Anfang 2011 ist ein Zwischenbericht erschienen, im September 2012 der Schlussbericht.32 Der Bund hat eine gesamtschweizerische Aufarbeitung bislang an die Kantone delegiert. Mitte April 2011 wurde jedoch im Nationalrat eine von Vertretern sämtlicher großer Parteien unterschriebene parlamentarische Initiative eingereicht, die ein Gesetz zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten verlangt. Diese fordert unter anderem auch eine historische Aufarbeitung der Vorgänge.33 Ferner wurde im Auftrag des Bundesamtes für Justiz ein „Runder Tisch für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen“ eingerichtet, der im Juni 2013 seine Arbeit aufnahm.34 Neben Betroffenen (Heimkinder, Verdingkinder, Zwangssterilisierte, Zwangsadoptierte, administrativ Versorgte etc.) sind der Bund, die Kantone, Städte, Gemeinden, Institutionen, Organisationen, Kirchen und die Wissenschaft am Runden Tisch vertreten. Themen sind u. a. Akteneinsicht, Datenschutz, Entschädigungsformen und eine historische Aufarbeitung der Problematik. 28 In jüngster Zeit sind Vorwürfe wegen Medikamentenversuchen an Heim- und Verdingkindern in den Fokus der Schweizer Öffentlichkeit geraten. Neben der Untersuchung zum Kinderheim St. Iddazell sind auf Bundesebene (Runder Tisch, http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/index.html) und im Kanton Thurgau (zur Psychiatrischen Klinik Münsterlingen) Bestrebungen in Gang, diese Problematik aufzuarbeiten. 29 Verfasst von Martina Akermann, Sabine Jenzer, Thomas Meier und Janine Vollenweider, unter der Leitung von Thomas Meier. 30 Placing Children in Care: Child welfare in Switzerland (1940 – 1990). 31 Furrer, Fürsorge, im Druck. 32 Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012. 33 Strebel, Dominique. Administrativ Versorgte. Es geht voran mit der Rehabilitierung. In: Beobachter, Nr. 9 (2011), http://www.beobachter.ch/dossiers/administrativ-versorgte/­artikel/ administrativ-versorgte_es-geht-voran-mit-der-rehabilitierung/ (12. 7. 2011.). Zudem werden eine „Anerkennung von begangenem Unrecht“ durch das Parlament sowie der freie Zugang zu den Akten gefordert. Zum Stand der politischen Diskussion vgl. http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/index.html (6.12.2013). 34 http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/index.html (12. 6. 2013).

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Im Vorfeld gab das Bundesamt für Justiz eine Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder in Auftrag, die einen aktuellen Forschungsüberblick zur Thematik liefert.35 Generell ist die Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen in jüngster Zeit in verschiedenen Ländern durch Medienberichte über Missstände in solchen Heimen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein verstärkt in den Fokus der historischen Aufarbeitung gerückt. In Irland, Deutschland und Australien haben die Regierungen umfassende wissenschaftliche Aufarbeitungen in Auftrag gegeben, und in Österreich hat die Stadt Wien eine historische Untersuchung beauftragt.36 Auch spezifische Untersuchungen zu Erziehungsheimen für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche sind in anderen Ländern teilweise zahlreich erschienen, etwa in Deutschland und insbesondere in Irland, wo aufgrund mehrerer öffentlichkeitswirksamer Filme und Medienberichte 37 neben zahlreichen entstandenen universitären Forschungsarbeiten auch die Regierung eine kürzlich abgeschlossene Untersuchung der Thematik der Magdalenenheime in Auftrag gegeben hat.38 In der 35 Lengwiler, Bestandesaufnahme, 2013, http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/ pdf/Bericht_Lengwiler_de.pdf (30. 8. 2013). 36 Für Irland vgl. zur Aufarbeitung von Kindsmissbrauch in Heimen den 2009 vorgelegten, ausführ­ lichen Schlussbericht der eingesetzten Kommission unter http://www.childabusecommission. com/rpt/ (9. 5. 2010) sowie den 2012 erschienenen Bericht zu den Magdalen Laundries unter http://www.idcmagdalen.ie (8. 2. 2012). Für Deutschland, wo 2009 ein „Runder Tisch“ mit Vertretern ehemaliger Heimkinder, aus Politik, der katholischen und protestantischen Kirche und aus Wohlfahrtsverbänden eingerichtet wurde, vgl. den Zwischen- und Schlussbericht der Kommission unter http://www.rundertisch-heimerziehung.de (9. 5. 2010) sowie den Bericht und die Expertisen zur Heimerziehung in der DDR, http://www.paritaet-lsa.de/cms/files/expertise_bericht_­heimerziehung_der_ddr.pdf sowie http://www.paritaet-lsa.de/cms/files/fond_­ heimerziehung_ost.pdf (8. 2. 2012); vgl. Auch den Bericht zu Bremen unter http://www.soziales. bremen.de/sixcms/media.php/13/Dokumentation_Ehemalige%20Heimkinder_verlinkt.26258. pdf (18. 12. 2012). Für Australien, wo die Deportation von Heimkindern aus Großbritannien nach Australien und deren Freigabe zur Adoption untersucht wurden, vgl. http//aph.gov.au und den Hintergrundbericht von 2005 unter http//aph.gov.au/house/committee/fhs/adoption/report/ fullreport.pdf (9. 5. 2010). Für Österreich vgl. den Schlussbericht zu Gewalt gegen Kinder in Erziehungsheimen der Stadt Wien unter www.wien.gv.at/menschen-gesellschaft/pdf/endbericht.pdf (20. 9. 2012), sowie den 2013 erschienenen Schlussbericht zum städtischen Kinderheim Schloss Wilhelminenberg unter http://www.kommission-wilhelminenberg.at/ (14. 6. 2013). 37 Vgl. die Auflistung bei Luddy, Magdalen Asylums, 2008, S. 283. 38 Vgl. für Irland etwa Luddy, Magdalen Asylums, 2008; Luddy, Prostitution, 2007; Smith, Magdalene Sisters, 2007; McCormick Sisters, 2005; Smith, Magdalen Laundries, 2008; McCarthy, Origins, 2010; Luddy, Women, 1995; Luddy, Women, 1997; Luddy, Women, 1998; Luddy, Prostitution, 2007; Smith, Ireland’s Magdalen Laundries, 2008; Finnegan, Poverty,

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Schweiz ist diese Thematik noch wenig detailliert untersucht worden. Ich konnte spezifisch bezüglich Erziehungsheimen für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche auf der 1998 erschienenen sozialpädagogisch ausgerichteten Untersuchung von Ursula Hochuli Freund aufbauen, die eine quantitative Entwicklungslinie der Heimerziehung von Mädchen und weiblichen Jugendlichen in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert nachzeichnet.39 Auch die Untersuchung von Jürg Schoch, Heinrich Tuggener und Daniel Wehrli zur außerfamiliären Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der deutschsprachigen Schweiz, die auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Heimen thematisiert, diente mir als Grundlage.40 Ferner gehen Dominique Puenzieux und Brigitte Ruckstuhl in ihrer Untersuchung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Syphilis und Gonorrhöe in Zürich 1870 – 1920 am Beispiel der Heime des Zürcher Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit kurz auch auf die Heime für weibliche Jugendliche der Sittlichkeitsvereine ein.41 Es sind zudem einige Lizenziats- bzw. Masterarbeiten zu einzelnen Erziehungsheimen für weibliche Jugendliche oder zur geschlechtsspezifischen Erziehung von Mädchen in Anstalten entstanden.42 Meine Studie konnte auch auf Untersuchungen zur administrativen Anstaltsversorgung von Personen mit sozial unerwünschtem Verhalten aufbauen. Von administrativen Versorgungen, die ohne Gerichtsurteil und ohne, dass ein kriminelles Delikt vorlag, verfügt werden konnten, waren auch weibliche Jugendliche betroffen.43 Ich konnte hierbei auf die Untersuchung von Sabine Lippuner zur ­Praxis der administrativen Versorgung von „Liederlichen“ und „Arbeitsscheuen“ in die Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufbauen.44

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1979; Finnegan, Penance, 2004. Zudem hat die Regierung in Irland einen 2012 abgeschlossenen Bericht in Auftrag gegeben, der untersuchen sollte, inwieweit der Staat in das System der privaten Magdalen Laundries involviert war, http://www.idcmagdalen.ie (8. 2. 2012). Auch in Deutschland sind zahlreiche Untersuchungen entstanden, welche die Thematik in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandeln: u. a. Schmidt, Mädchen, 2002; Schmidt, Elend, 1999; Kohtz, Willen, 1999; Harris, Absence, 2008; Fastnacht, Mädchenrettungsanstalt, 1993; Gehltomholt, Mädchen, 2006; Hitzer, Netz, 2006; Damberg, Mutter, 2010; Fontana, Fürsorge, 2007; Frings, Gehorsam, 2012; Zimmermann, Menschen, 2004; Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, 2012; Kraul, Verwahrung, 2012. Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999. Schoch, Aufwachsen, 1989. Puenzieux, Medizin, 1994; Puenzieux, Schwachen, 1995. Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989; Keller, Anstalt, 1988; Müller, Verwahrlosung, 1982; Locher, Macht, 2011; Willen, Härz, 2000; Willen, Überlegungen, 2004. Meine Dissertation basiert zudem auf meiner Lizenziatsarbeit zum gleichen Thema: Jenzer, Mädchen, 2004. Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. Lippuner, Bessern, 2005.

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Auch die Untersuchung von Tanja Rietmann zur administrativen Anstaltsversorgung im Kanton Bern zwischen 1884 – 1981, in der sie die Entwicklung des politischen Diskurses und der Praxis der administrativen Versorgung untersucht, war wegweisend für diese Arbeit.45 Auf die Thematik der administrativen Versorgung junger Frauen u. a. in Hindelbank geht auch Dominique Strebel in seinem Buch „Weggesperrt“ ein.46 Nur am Rande thematisiert sind in der Schweizer Forschung zur Heimerziehung die Aushandlungsprozesse, die Zusammenarbeit, Aufgaben- und Kompetenzver­ teilung zwischen den Privatheimen und dem Staat; ebenso die gesetzliche Lage und die staatliche Aufsicht spezifisch der Privatheime. Meine Dissertation versteht sich als Beitrag zu diesen Forschungslücken. Die Heimerziehung „sittlich gefährdeter“ und „gefallener“ junger Frauen war keine singuläre Praxis in der Fürsorge, vielmehr war sie Teil eines ganzen „Systems“, dem etwa auch Kindswegnahmen, Sterilisationen, Eheverbote oder Bevormundungen von Normabweichenden zuzuordnen sind. Insbesondere im Rahmen des bereits erwähnten schweizerischen Nationalfondsprojekts (NFP 51) zu Integrations- und Ausschlussmechanismen im schweizerischen Sozialstaat entstanden in jüngster Zeit Forschungen zu diesem Themenfeld, die wegleitend für diese Arbeit waren.47 Für meinen Untersuchungsgegenstand waren dabei die Forschungen unter der Leitung von Gisela Hauss und Béatrice Ziegler zur städtischen Fürsorge im Kräftefeld von Eugenik, Geschlecht und medizinisch-psychiatrischen Normalisierungsdiskursen in Bern und St. Gallen ab dem Ende des Ersten Weltkrieges bis in die 1950er Jahre von besonderer Bedeutung, in denen sie unter anderem die fürsorgerischen Maßnahmen gegenüber jungen Frauen und die dahinterstehenden Diskurse und geschlechtsspezifischen Normvorstellungen aufzeigen.48 Wegleitend für diese Arbeit war auch die Untersuchung von Béatrice Ziegler zu Berner und Bieler Frauen zwischen Diskurs und Alltag, in der sie den Normalisierungsdruck auf weibliche Personen via Abtreibungs- und Verhütungsverbot, Zwangssterilisationen, Kampf gegen die Prostitution sowie die Verdrängung der Frau aus dem Erwerbsprozess untersucht.49 Neben den Untersuchungen von Gisela Hauss et. al. und von Béatrice Ziegler haben sich auch andere Forscherinnen und Forscher mit der Thematik der Zwangssterilisation von als „liederlich“ geltenden jungen Frauen

45 Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 46 Strebel, Weggesperrt, 2010. 47 Vgl. zu den Forschungsprojekten und den Resultaten des NFP 51: Grunder, Dynamiken, 2009, http://www.nfp51.ch (12. 7. 2011). 48 Hauss, Norm, 2007; Hauss, Helfen, 2010; Hauss, Eingriffe, 2012; Hauss, Sterilisation, 2009. 49 Ziegler, Arbeit, 2007.

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auseinandergesetzt.50 Des Weiteren konnte ich auf den Arbeiten von Nadja Ramsauer und Elena Wilhelm zur Zürcher Jugendfürsorge aufbauen.51 Die Sozialstaatsforschung hat sich von einer staats- und versicherungszentrierten Sicht verabschiedet. Auch die Fürsorge (und mit ihr selbstredend die Jugendfürsorge bzw. die Heimerziehung) sowie das Schul- und Gesundheitswesen werden als Teil des Sozialstaates verstanden.52 In der neueren Sozialstaatsforschung wurde zudem der Begriff der Sozialpolitik erweitert und umfasst nun nebst der staatlichen auch die kommunale Sozialpolitik und die private Wohltätigkeit. Es wird von einer mixed economy of welfare gesprochen, wobei neben dem Staat die privaten und Non-­ProfitOrganisationen (der sogenannte dritte Sektor), die Unterschichtselbsthilfe, die Familie und der Markt eine Rolle spielten.53 Die Aktivitäten privater Organisationen im Sozialstaat sowie die Zusammenarbeit und Aufgabenteilung privater und staatlicher Akteure rückten dabei verstärkt in den Fokus der internationalen Forschung. Die private Wohltätigkeit spielte für die Ausprägung des Sozialstaates eine wichtige Rolle, wie von verschiedenen Forschungen konstatiert wurde.54 Es wird etwa auf ihre Pionierrolle verwiesen, auf ihr breites Netzwerk, ihre Verflechtung mit der staatlichen Fürsorge, ihren Einfluss auf die staatliche Sozialpolitik sowie auf das Eindringen von Ideen, Prinzipien und Arbeitsmethoden, die ursprünglich von philanthropischen Gesellschaften eingeführt wurden, in die staatliche Fürsorge und Gesetzgebung. In der Schweiz, wo die Philanthropie erst punktuell erforscht ist, wurden und werden das auch in dieser Arbeit interessierende Zusammenspiel dieser beiden Akteure sowie die 50 Wecker, Eugenik, 1998; Wecker, Eugenik, 2009; Wecker, Eugenik, 2013; Cagnazzo, Abtreibungsund Sterilisationspraxis, 2006; Imboden, Abtreibung, 2007; Ziegler, Frauen, 1999; Dubach, Abtreibungspolitik, 2007; Dubach, Verhütungspolitik, 2013; Meier, Zwang, 2007; Gossenreiter, Sterilisation, 1995; Gossenreiter, Psychopathinnen, 1992; Gossenreiter, Lebenswandel, 1994. 51 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000; Wilhelm, Rationalisierung, 2005. 52 Vgl. Ritter, Sozialstaat, 2010, S. 16 und 98. Ritter zählt Folgendes zum Sozialstaat: Schutz der sozialen Sicherheit des Einzelnen aufgrund von Maßnahmen der Einkommenssicherung bei Alter, Invalidität, Krankheit, Umfall und Arbeitslosigkeit; Hilfe für große Familien, Gesundheitsfürsorge und sozialen Wohnungsbau; ebenso die Versuche zum Ausgleich unterschiedlicher Startchancen des Einzelnen durch ein staatliches Erziehungs- und Bildungswesen und die partielle Umverteilung von Einkommen durch das Steuersystem; Regulierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen durch Maßnahmen des Schutzes für Arbeitnehmer. (Ebd. S. 16). 53 Vgl. Harris, origins, 2004; Harris, Introduction, 2007; Katz, introduction, 1996; Evers, Wohlfahrtspluralismus, 1996. 54 Vgl. etwa Prochaska, impulse, 1988; Baldwin, Politics, 1990; Finlayson, Citizen, 1994; Bauer, Fürsorgepolitik, 1998; Nitsch, Wohltätigkeitsverein, 1999; Lees, Cities, 2002; Villadsen, Care, 2009; Brandes, Armenfürsorge, 2008; Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, 2009; Topalov, Laboratoires, 1999. Spezifisch zum Einfluss privater Wohltätigkeit von Frauen etwa Gordon, Scholarschip, 1990; Koven, Policies, 1990; Koven, Mothers, 1993; Bock, Maternity, 1991; Lewis, Woman, 1993; Lewis, Sector, 1995, Digby, Gender, 1996; Buhle, Women, 2009.

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Bedeutung der privaten Wohltätigkeit im entstehenden Sozialstaat gerade in jüngster Zeit zum Thema detaillierterer Untersuchungen gemacht.55 Dieses Projekt möchte einen Beitrag zu dieser Forschungstätigkeit leisten. Eine dichotome Gegenüberstellung von privat und öffentlich wird in der Sozial­ staatsforschung dabei abgelehnt. Der private und der öffentliche Sektor bildeten nie gänzlich getrennte Alternativen. Vielmehr waren (und sind) sie miteinander vermengt. Die öffentliche Hand bediente sich der privaten Fürsorge und Vorsorge, indem sie ihnen eine Lizenz erteilte und sie teilweise finanzierte.56 Die Definition, was als privat und was als staatlich galt, veränderte sich überdies im Laufe der Zeit immer wieder und war länderspezifisch verschieden.57 Was ganz genau privat war und was staatlich, sei aufgrund der starken Interdependenzen zudem teilweise schwierig zu definieren.58 Überdies vermischten sich diese beiden Sektoren durch Doppelmandate der Akteure, indem viele von ihnen sowohl in privaten Organisationen als auch in öffentlichen Ämtern tätig waren, ein Umstand, der sich auch in der Sittlichkeits­ bewegung deutlich zeigt. Zur Sittlichkeitsbewegung existieren international bereits aufschlussreiche Untersuchungen.59 Die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit in der Schweiz waren ebenfalls 55 Vgl. Schumacher, Denken, 2010; Leimgruber, Solidarity, 2008; David, Influence, 2006; David, Wohltätigkeit, 2009; Gredig, Tuberkulosefürsorge, 2000; Mooser, Armut, 2011; Studer, Aufsicht, 2011; Leimgruber, Transformationen, 2009. Es ist zurzeit ein transnationales Forschungsprojekt „Europhil, Les philanthropes en Europe et la vulnérabilité sociale (1880 – 1920)“ um Brigitte ­Studer, Christian Topalov, Thomas David, Janick Marina Schaufelbühl, Claus Weber etc. in Gang, welches das philanthropische Netzwerk zwischen 1880 und 1920 in der Schweiz, Frankreich und England untersucht. An der Universität Bern wird zudem in diesem Rahmen seit Beginn 2012 ein Forschungsprojekt zu Philanthropie und sozialer Vulnerabilität in der Schweiz (1890 – 1920) durchgeführt, das u. a. untersucht, inwieweit die Philanthropie das „Agenda-Setting“ im Ausbau der sozialen Sicherheitssysteme mitbestimmte und welche Leistung den privaten Akteuren in der Ausgestaltung sozialer Sicherheitssysteme zukam. Es sind zudem zwei Forschungsprojekte an der Universität Bern in Gang, die sich mit der Zusammenarbeit und Aufgabenteilung privater und staatlicher Akteure im Sozialstaat auseinandersetzen (von Matthias Ruoss zur Geschichte der Pro Senectute, von Eva Keller zur Geschichte der Straffälligenhilfe.). 56 Katz, Introduction, 1996, S. 11. 57 Katz, Introduction, 1996, S. 10, 12 und 21. 58 Vgl. Berner, Sozialstaat, 2009; Esping-Andersen, Worlds, 1990, S. 81. Esping-Andersen kritisiert am Konzept des welfare mix „the difficulty of defining exactly what should be considered private or public“ (ebd.). 59 Zur abolitionistischen Bewegung vgl. die ergiebige Aufsatzsammlung Gender, Religion and Politics. Josephine Butler’s Campains in International Perspective (1875 – 1959). In: Women’s History review (2008), Vol. 17, Nr. 2. Vgl. auch Davidson, Sex, 2001. Zum deutschen Abolitionismus auch: Kretschmar, Bahn, 2009; Lisberg-Haag, Unzucht, 2002; Lisberg-Haag, Ringen, 1996; Meyer-Renschhausen, Ehre, 1986; Fout, Politics, 1992; Wolff, Ideentransfer, 2008; Wolff,

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Gegenstand einiger Publikationen,60 wobei der Fokus der Untersuchungen meist auf den Frauenvereinen liegt. Die Männervereine sind bislang erst wenig erforscht.61 Auch die Rolle der Sittlichkeitsvereine im entstehenden schweizerischen Sozialstaat ist noch nicht detailliert untersucht worden. Im Schweizer Wohlfahrtssystem spielten Non-Profit-Organisationen eine wichtige Rolle. Der genaue welfare mix ist länder-, regions- und zeitspezifisch verschieden. In der Forschung zu Wohlfahrtsregimen werden die Unterschiede zwischen den nationalen welfare mixes und die möglichen Gründe dafür in den Fokus genommen. Das Bemühen, die ländertypisch unterschiedliche Ausprägung der Wohlfahrtsregime zu erklären, hat zu einer ganzen Reihe von Studien geführt.62 Die viel zitierte und einflussreiche Arbeit von Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism (1990), unterscheidet drei Typen des Wohlfahrtsstaates: das sozialdemokratische Modell, das konservativ-christdemokratische und das liberale System. Esping-Andersens Dreiteilung hat zahlreiche Kritik ausgelöst. Einige kritische Erweiterungen seiner Überlegungen sind für diese Arbeit interessant. Jüngst sind etwa in der Forschung die regionalen Unterschiede innerhalb eines Landes betont worden. Statt die Wohlfahrtsregime der Länder zu charakterisieren und zu unterteilen, sei es sinnvoller, einen welfare regionalism zu betreiben.63 Auch wenn ein nationales Sozialsystem bestehe, würden die Regeln doch regional unterschiedlich interpretiert und angewendet, und es existierten unterschiedliche Ansichten und Verhaltensweisen je nach Region. Dieser welfare regionalism ist in der föderalistischen Schweiz ausgeprägt zu konstatieren. Ein weiterer Kritikpunkt an Esping-Andersens Modell ist dessen mit der Realität nicht kompatible Starrheit und Vereinfachung. Viele der Wohlfahrtssysteme ließen sich nicht in einen der Typen eingliedern. So weist etwa die Schweiz Spuren aller

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Geburtstag, 2009. Zum englischen Abolitionismus vgl. Daggers, Sex, 2006; Summers, Women, 2006; Walkowitz, Prostitution, 1980; Bland, Banishing, 2001; Hall, Hauling Down, 2004; Bristow, Vice, 1977; Hall, Sex, 2000; Käppeli, croisade, 1990; Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 157 – 159. Zu Frankreich vgl. etwa Corbin, filles, 1978. Zur österreichischen Bewegung: Jušek, Suche, 1994. Zum niederländischen Abolitionismus Vries, Sklavinnen, 2006; Vries, Slave, 2010. Hervorzuheben ist auch die Studie von Bettina Hitzer, die den Umgang des konservativen Protestantismus mit Zuwanderung, Prostitution und Großstadt untersucht (Hitzer, Netz, 2006). Ulrich, Bordelle, 1985; Bracher, Geschichte, 1986; Cairoli, déclin, 1987; Mesmer, Ausgeklammert, 1988; Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007; Käppeli, croisade, 1990; Käppeli, féminisme, 1987; Janner, Frauen, 1992; Janner, Bilder, 1998; Puenzieux, Medizin, 1994; Ziegler, Arbeit, 2007; Malherbe, Péril Vénérien, 2002; Engel, Festseuche, 1990. Eine Ausnahme bildet Puenzieux, Medizin, 1994; Ulrich, Bordelle, 1985. Eine Zusammenfassung der verschiedenen Interpretationen liefert etwa Cousins, Welfare States, 2005; Kaufmann, Varianten, 2003; Manow, Religion, 2008. Vgl. King, Welfare Peripheries, 2007, S. 19.

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drei Modelle auf.64 Peter Baldwin hat das Konzept der Staatlichkeitsstile, die styles of statism, eingeführt.65 Statt von einem fixen Wohlfahrtstypen eines Landes spricht Baldwin von Staatlichkeitsstilen, von einem Mix dieser verschiedenen Typen. Aktuelle Forschungen betonen ferner die Bedeutung der Religion bei der Ausgestaltung von Wohlfahrtssystemen. So hat insbesondere Philip Manow auf die konfessionelle Prägung aufmerksam gemacht.66 Esping-Andersen hat zwar katholische und protestantische Länder unterschieden, jedoch den Protestantismus nicht weiter aufgegliedert. Manow hingegen unterteilt den Protestantismus in seine beiden Hauptspielarten: das lutherische Staatskirchentum auf der einen Seite sowie den reformierten Protestantismus und die freikirchlichen Sekten und Strömungen des Protestantismus auf der anderen Seite. Die Schweiz sieht er neben Großbritannien, den Niederlanden, den USA, Australien und Neuseeland als ein Land mit starkem reformiertem und freikirchlichem Einfluss.67 In diesen puritanischen oder calvinistischen Ländern sei Sparsamkeit, Selbstdisziplin, Kampf gegen „Müßiggang“ und „Trunksucht“ hochgehalten worden, versehen mit moralischen Zwischentönen und hohem Erwartungsdruck hinsichtlich konformen Verhaltens.68 Die freikirchlichen Strömungen des Protestantismus seien durch eine prononciert anti-sozialstaatliche Programmatik und eine protestantische Ethik von Disziplin und Selbstverantwortung geprägt gewesen.69 In Ländern mit diesem Einfluss ist nach Manow eine starke Tendenz zur Eigenvorsorge sowie zur Bevorzugung lokaler Organisationen vor staatlichen Interventionen auszumachen. Die Soziallehre dieser Strömungen des Protestantismus habe sich nachhaltig auf das Leistungsniveau und den institutionellen Entwicklungspfad des Sozialstaates jener Länder ausgewirkt. Im 19. Jahrhundert nahm in den USA und Europa, so auch in der Schweiz, die Zahl von Vereinen und Organisationen als Teil der aufblühenden zivilgesellschaftlichen Strukturen stark zu.70 In der Schweiz wurde die Mehrzahl dieser meist in der 64 Studer, Sicherheit, 1998. Brigitte Studer hat als bislang Einzige versucht, Esping-Andersens Modell auf die Schweiz anzuwenden. 65 Baldwin, Weak, 2005. 66 Vgl. etwa Manow, Religion, 2008; Manow, Good, 2002; Manow, Wohlfahrtswelten, 2005; Kersbergen, Religion, 2009. Philip Manow hat zahlreiche Publikationen zum Thema veröffentlicht. Neben Manow betont u. a. auch Sigrun Kahl den Zusammenhang zwischen Religion und Ausbildung des Wohlfahrtssystems. Vgl. Kahl, Roots, 2005. 67 Manow, Religion, 2008, S. 33. 68 Manow, Good, S. 19. Vgl. zu deren Wertmuster auch David, Wohltätigkeit, 2009. 69 Manow, Religion, 2008, S. 30 und 33. 70 Das Konzept der Zivilgesellschaft fand in den letzten Jahren verstärkt Eingang in die Forschung. Unter Zivilgesellschaft versteht man den „Bereich zwischen der Privatsphäre und den Familien, dem Staat und der Wirtschaft“ (Bauerkämpfer, Einleitung, 2009, S. 8.). Wohltätige Gesellschaften spielten in der Zivilgesellschaft eine herausragende Rolle (vgl. David,

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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten Gesellschaften von reformierten Protestanten ins Leben gerufen,71 so auch die Sittlichkeitsvereine. Die Aktivitäten der privaten Wohlfahrt in den von reformiertem und freikirchlichem Protestantismus stark geprägten Ländern weisen große Ähnlichkeiten auf.72 Sie setzten den Fokus auf innere und äußere Mission, moralische Hebung sowie Heime zur Erziehung der moralisch Gestrauchelten.73 Sie gründeten Heime für Prostituierte, Alkoholiker und kriminelle Jugendliche, die eine zentrale Rolle in ihren Aktivitäten spielten und ihre Werte widerspiegelten. Das in der Schweiz bis nach dem Zweiten Weltkrieg wenig ausgebaute soziale Sicherungssystem seitens des Staates wird in der Forschung mit verschiedenen Faktoren erklärt.74 Neben politischen Strukturen spielten wirtschaftliche und ökonomische Interessen eine wichtige Rolle. In der Forschung ist zudem der frühe Ausbau privater Versicherungssysteme betont worden, der eine raschere Entwicklung staatlicher Wohlfahrtselemente mit verhinderte.75 Zudem ist in der Forschung jüngst angebracht worden, dass die Stärke des philanthropischen Netzwerkes, das sich gegen seine Verdrängung durch staatliche Interventionen wehrte, ebenfalls dazu beitrug.76 Die drei letztgenannten Faktoren werden auch im Bereich der Heimerziehung sichtbar, wie in dieser Arbeit deutlich wird. Matthieu Leimgruber und Martin Lengwiler haben jüngst im Zusammenhang mit der Entwicklung von Sozialversicherungen im Zweiten Weltkrieg darauf hingewiesen, dass zwar in der Schweiz ein gedrosseltes Tempo des Sozialstaatsausbaus auszumachen sei, indem nur beschränkt und wohldosiert Sicherungssysteme eingeführt wurden und nur wenige sozialstaatliche Initiativen erfolgreich waren.77 Gleichzeitig jedoch sei in der Schweiz ein „delegierter Sozialstaatsausbau mit fragmentierten und hybriden Akteurskonstellationen“ auszumachen.78 Konkret machen sie drei Eigenheiten der Schweizer Sozialstaatsentwicklung im Zweiten Weltkrieg aus (die sich auch in der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher in den 1870er bis 1930er Jahren zeigen, wie ich in dieser Arbeit darlegen werde):79 Erstens kam die Dynamik des Ausbaus in der Schweiz stark von unten, konkret

71 72 73 74 75 76 77 78 79

Wohltätigkeit, 2009, S. 38.). Vgl. zum Konzept der Zivilgesellschaft auch Schneider, Armut, 2009; Kocka, Zivilgesellschaft, 2010; Liedtke, Einleitung, 2009, S. 9 f. David, Wohltätigkeit, 2009, S. 39. Vgl. David, Wohltätigkeit, 2009. David, Wohltätigkeit, 2009, S. 54. Vgl. etwa Studer, Sicherheit, 1998; David, Wohltätigkeit, 2009, S. 52; Wicki, Sicherung, 2001. Leimgruber, Solidarity, 2008. David, Wohltätigkeit, 2009. Leimgruber, Transformationen, 2009. Leimgruber, Transformationen, 2009, S. 42. Leimgruber, Transformationen, 2009, S. 23 und 42.

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von föderalen Akteuren (kantonale und kommunale Behörden) oder von dezentralen, parastaatlichen und privaten Einrichtungen. Zweitens war die Entwicklung der Sozialversicherungen häufig durch eine Delegation des Bundesstaates an andere, meist private Akteure, gekennzeichnet (Delegationsmodell). Drittens sei die Schweizer Sozialstaatsgeschichte in weiten Teilen von „hybriden institutionellen Konstellationen“ geprägt, „in denen die öffentlichen Sozialstaatssysteme entscheidend von privaten Akteuren vorstrukturiert wurden.“80 Entsprechend plädieren sie für die Mitberücksichtigung der von privaten und parastaatlichen Organisationen geleisteten sozialen Sicherung, um die Ausprägung der sozialen Sicherung insgesamt erfassen zu können. Sozialstaatliche Institutionen seien meist von privaten Akteuren geführt, oft öffentlich subventioniert und staat­ lichen Regulierungen unterworfen worden. Auch Peter Baldwin, der die Frage ins Zentrum rückt, warum in manchen Ländern, wie den USA oder der Schweiz, so vieles außerhalb des Staates arrangiert werde, fordert ein neues Verständnis der Sozialpolitik.81 Statt Staaten in die Kategorien schwach und stark einzuteilen, müssten sämtliche Bemühungen, auch jene, die nicht direkt vom Staat betätigt werden, Berücksichtigung finden.

Datenbasis und Datenlage Der Quellenkorpus dieser Arbeit besteht vorwiegend aus den überlieferten Schriften und Akten der Sittlichkeitsvereine sowie der politischen Behörden. Eine wichtige Rolle für diese Untersuchung spielen kantonale und kommunale Behördenakten: Gesetze, Protokolle, Korrespondenzen, Rechenschaftsberichte, Berichte von Behörden, wie der Armen- und Vormundschaftsbehörde sowie der Polizei. Es ist umfangreiches Material erhalten. Bei den Sittlichkeitsvereinen wird seitens der Frauenvereine das Quellenmaterial des Zürcher, Basler und Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit sowie des Dachverbandes der deutschschweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit hinzugezogen, seitens der Männervereine das Quellenmaterial des Berner und Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit (im Kanton BaselStadt wurde kein Männerverein gegründet und es kam nicht zu einem Zusammenschluss der Männervereine unter einen Dachverband). Die Sittlichkeitsvereine haben eine Flut an Schriften und Akten hinterlassen: Sitzungsprotokolle mit Behörden und Politikern, Jahresberichte, Hausordnungen, Vorstandsprotokolle, Korrespondenzen, Berichte von Komiteemitgliedern über ihre Besuche in den 80 Leimgruber, Transformationen, 2009, S. 23. 81 Baldwin, Weak, 2005.

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Erziehungsheimen, Vereinspublikationen etc. Im Falle der Frauenvereine ist das Material zu einem guten Teil erhalten geblieben. Weniger ergiebig ist es bei den Männervereinen, insbesondere beim Berner Männerverein, von dem das Material nur sehr lückenhaft überliefert ist. Bei den in dieser Studie näher untersuchten Heimen ist die Quellenlage unterschiedlich. Bei den einen Anstalten ist aus dem untersuchten Zeitraum praktisch kein Material aus dem Heim erhalten, wie beim Basler Zufluchtshaus. Die umfangreichsten Archivbestände hingegen sind beim Sulgenhof und vor allem beim Pilgerbrunnen überliefert. Neben den vollständig erhaltenen Jahresberichten existieren beim Pilgerbrunnen Hausordnungen, Statuten für die Vorsteherinnen, Fotos, ergiebige, monatlich verfasste Protokolle des Heimkomitees sowie Besuchsbücher, die von Mitgliedern des Heimkomitees basierend auf ihren regelmäßigen Besuchen des Pilgerbrunnens geschrieben wurden.82 Für den Sulgenhof sind die vollständigen Jahresberichte, Hausordnungen, Berichte über den Sulgenhof, Prospekte und die Protokolle des Heimkomitees erhalten.83 „Zöglingsdossiers“ sind in den Archivbeständen weder beim Pilgerbrunnen noch beim Sulgenhof noch bei den anderen untersuchten Heimen vorhanden. Während eine Fülle an Material seitens der bürgerlichen Vereine und von Behörden erhalten ist, fehlen – wie bereits angedeutet – persönliche Zeugnisse von Heiminsas­ sinnen fast gänzlich. Recht spärlich erhalten sind solche von Vorsteherinnen oder Gehilfinnen, die in den untersuchten Heimen arbeiteten. Diesen „einseitigen Blick“ der Quellen gilt es zu berücksichtigen. Mithilfe der oral history könnten jedoch wertvolle zusätzliche Erkenntnisse über die Heimerziehung weiblicher Jugendlicher und den Heimalltag gewonnen werden.

82 Die Protokolle aus den Sitzungen des Heimkomitees sind nur teilweise erhalten – im untersuchten Zeitraum für die Jahre 1900 bis 1905 und ab 1916 (EFZ, C I Heft 2 – 4.). Bei den Besuchsbüchern sind die Jahre 1889 – 1895 und 1901 – 1920 überliefert (Berichte der Hausbesucherinnen, EFZ, C I Heft 7 – 9.). 83 Die Protokolle des Heimkomitees sind für die Jahr 1904 bis 1919 erhalten (Gosteliarchiv, SEFSektion Bern, B 14:1.). Ein Besuchsbuch existiert hingegen nicht mehr. Wöchentliche Besuche jeweils eines Komiteemitglieds wurden 1917 eingeführt, um mehr Einblick in die Arbeit zu erhalten (Protokoll des Komitees Sulgenhof-Asyl vom 26. Oktober 1917. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 14:1.), ebenso das Führen eines Besuchsbuches (Protokoll des Komitees Sulgenhof-Asyl vom 4. Mai 1918. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 14:1). Der Versuch, die wöchentlichen Besuche zu institutionalisieren, wurde wegen mangelnden Nachkommens seitens der Frauen abgebrochen und von einzelnen Komiteemitgliedern sporadisch weitergeführt (Protokoll des Komitees Sulgenhof-Asyl vom 4. Mai 1918 und vom 1. November 1918. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 14:1.).

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Theoretische und methodische Einbettung In Anlehnung an poststrukturalistische Ansätze verstehe ich Zuschreibungen, wie „gefallen“, „sittlich verdorben” oder „sittlich gefährdet”, als diskursiv erzeugte Kategorien, die historisch wandelbar sind. Das Verhalten einer jungen Frau, das in einem gewissen Zeitraum als normabweichend wahrgenommen wurde, kann heute als konform gelten. Solche diskursiv verfassten Ordnungsmodelle von Norm und Normabweichungen verfestigten sich – beispielsweise im Bild der „Gefallenen“ – zu „Bildern von Devianz, die in der Regel Kriminelle und/oder Aussenseiter reproduzieren bzw. Verbrecherbilder produzieren, an denen sich die Abweichung zeigen soll.“84 In diesem Sinne lehne ich mich auch an aktuelle Forschungen zur Sexualitäts­geschichte an, welche die Konstruktion des sexuellen Subjekts in den Fokus ihrer Untersuchung rücken.85 Überlegungen zum sexuellen Subjekt als Konstruktion sind für meine Arbeit fruchtbar, um zu zeigen, wie ein Bild der Prostituierten und der sexuell devianten Frau konstruiert wurde und was es beinhaltete. Ich ziehe ferner für meine Untersuchungen Überlegungen von Michel Foucault mit ein, wonach Sexualität im bürger­lichen Zeitalter nicht etwa einfach unterdrückt, totgeschwiegen und verdammt wurde, wie dies in der Forschung die Repressionshypothese in den 1960er und 1970er Jahren formuliert hat, sondern dass sie viel eher für ein optimales Funktionieren verwaltet, in „Nützlichkeitssysteme“ eingefügt und „zum grösstmöglichen Nutzen aller“ geregelt wurde.86 „Richtiger“ Sex wurde zum Ziel einer biopolitischen Regulierung der Bevölkerung. Während es in dieser Zeit zu einer „Säuberung“ des Vokabulars und zu einer strengeren Festlegung kam, wann, wie und mit wem über Sex gesprochen werden durfte, nahm gleichzeitig in anderen Bereichen das Sprechen über den Sex unaufhörlich zu, sodass er nicht etwa ins Dunkle verbannt, sondern durch ein unablässiges Sprechen über ihn als „das Geheimnis“ auftritt.87 Diese Fokussierung auf den Sex zeigt sich auch in der Heimerziehung, indem sich die Hausordnung, die Heimorganisation und die Architektur ganz ausgeprägt um den „Zögling“ und seine Sexualität drehten. Auch die Kategorien Geschlecht und Klasse, die beide für diese Arbeit zentral sind, verstehe ich als diskursiv erzeugte Kategorien.88 Zuschreibungen, wie ein „richtiger“ 84 Härter, Repräsentationen, 2010, S. 8. Vgl. auch Opitz, Einleitung, 2006, S. 10. 85 Ein Klassiker in diesem Forschungsfeld, der überdies den aktuellen Forschungsstand aufzeigt, ist Eder, Kultur, 2009. 86 Foucault, Wille, 1999, S. 36. 87 Vgl. Foucault, Wille, 1999, S. 27 – 49. 88 Zur Theorie der sozialen Konstruktion von Geschlecht und zur Kontroverse um die Analy­ se­kategorie „Gender“ vgl. maßgeblich Butler, Unbehagen, 1991 und Scott, Gender, 1986. ­Vgl. auch Butler, Körper, 1995; Scott, Sprache, 1994; Scott, Zukunft, 2001; Ko, Geschlecht, 2013; Budde, Geschlecht, 1997; Hornscheidt, Nicht-Rezeption, 2002; Voss, Sex, 2010; Opitz-­ Belakhal, Geschlechtergeschichte, 2010, S. 10 – 34.

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Mann bzw. eine „richtige“ Frau angeblich „ist“, verändern sich ebenso wie die Bedeutung von Klassenzugehörigkeit in einer Gesellschaft. Um die Kategorien Geschlecht und Klasse analytisch fassen zu können, ziehe ich Überlegungen der Geschlechter­ forschung zur Intersektionalität hinzu.89 Diese intersektionale Perspektive richtet den Blick auf die Analyse sozialer Ungleichheiten, die via verschiedene Kategorien, wie Geschlecht, Klasse oder Rasse, hergestellt werden. Geschlecht müsse sowohl als eigene Kategorie als auch im Zusammenhang mit anderen Ungleichheiten, die sich in einer Person überschneiden können, untersucht werden. Diese verschiedenen Kategorien treten in verwobener Weise auf und können „sich gegenseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern“.90 Ich ziehe ferner für die Untersuchung der bildlichen Darstellung der Sittlichkeitsvereine und der Prostitution im Kapitel 3.3 Überlegungen der Bild- und Medien­ geschichte hinzu, wie sie nach dem iconic turn formuliert wurden.91 In Anlehnung an und in Weiterentwicklung des linguistic turn werden Bilder nicht einfach als Quellen verstanden, die eine Wirklichkeit abbilden. Bilder konstruieren vielmehr eine Wirklichkeit mit. Durch das serielle Nebeneinanderstellen von Bildern können kollektive Vorstellungen aufgeschlüsselt werden – in dieser Untersuchung kollektive Bilder über die Sittlichkeitsbewegung und die Prostitution. Ich beziehe ferner in meine Untersuchungen zur privaten Fürsorge und staatlichen Sozialpolitik, insbesondere im Kapitel 5.4, Überlegungen aus der Netzwerkforschung ein. Dabei orientiere ich mich an der social network analysis (in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft auch als Netzwerkforschung bezeichnet),92 welche die 89 Zur Intersektionalität vgl. etwa Winker, Intersektionalität, 2009; McCall, Complexity, 2005; Axeli-Knapp, Intersectionality, 2008; Klinger, Achsen, 2007; Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, 2010, S. 34 – 38; Martschukat, Geschichte, 2008, S. 27 – 33. Vgl. auch die Überlegungen von Joan W. Scott, wie Geschlecht, Rasse, Klasse, Sexualität und andere Kategorien zusammen historisch analysiert werden können, bei Scott, Gender, 1986. 90 Winker, Intersektionalität, 2009, S. 10. 91 Zu den Überlegungen der Bild- und Mediengeschichte ist in den letzten Jahren eine Vielzahl an Publikationen erschienen. Vgl. beispielsweise Maar, Christa; Burda, Hubert (Hg.). Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004; Lengwiler, Martin. Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden. Zürich 2011. S. 130 – 152; Reichardt, Rolf E. Bild- und Mediengeschichte. In: Eibach, Joachim; Lottes, Günther (Hg.). Kompass der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2002. S. 219 – 230; Talkenberger, Heike. Historische Erkenntnis durch Bilder. Zur Methode und Praxis der Historischen Bildkunde. In: Goertz, Hans-Jürgen (Hg.). Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 2007. S. 88 – 103; Jordan, Stefan. Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Paderborn 2009. S. 196 – 200; Bisanz, Elize. Die Überwindung des Ikonischen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft. Bielefeld 2010; Maar, Christa. Iconic worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume. Köln 2006. 92 Zur Schwierigkeit bei der Übersetzung des englischen Ausdrucks social network analysis ins Deutsche vgl. Stegbauer, Netzwerkanalyse, 2008, S. 12 f.

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Verbindungsmuster und die Dynamik in sozialen Netzwerken erforscht.93 Die Netzwerkforschung eruiert Beziehungsstrukturen, die Akteure pflegen und aufbauen, sowie die Position und den Grad der Vernetzung der Akteure innerhalb des Netzwerkes. Diesen Ansatz ziehe ich für eine quantitative Untersuchung bei, um die Beziehungsstrukturen und Vernetzungen der zahlreichen privaten, parastaatlichen und staatlichen Akteure, die das Fürsorgenetzwerk für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen konstruierten, sowie das „Funktionieren“ dieses Netzwerks anhand des Beispiels der Sittlichkeitsvereine und des Staates aufschlüsseln zu können. In der social network analysis stehen nicht die Akteure im Fokus der Untersuchung, sondern die Beziehungen bzw. Verbindungen (Kanten) zwischen den Akteuren (Knoten). Als Akteure gelten nicht nur Personen, sondern auch Organisationen und Institutionen. Zum Fürsorgenetzwerk zähle ich entsprechend nicht nur die beteiligten Individuen, sondern auch die Fürsorgeinstitutionen, die Vereine und die Erziehungsheime. In der historischen Forschung zu Netzwerken werden soziale Netzwerke als wesent­ liche Voraussetzung für gesellschaftliche Entwicklungen angesehen; Netze gelten als „Motoren der Innovation“94. Die Verflechtung zwischen den beteiligten staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren zu einem Fürsorgenetzwerk verstehe ich in diesem Sinne als wichtige Triebfeder und Voraussetzung für den Ausbau der weiblichen Jugendfürsorge. In die Beschreibung des Fürsorgesystems für sexuell normabweichende Frauen beziehe ich ferner Überlegungen der Forschung zu Disziplinierungs- und Norma­ lisierungsprozessen ein, wie sie sich in kritischer Weiterentwicklung von Ansätzen von Gerhard Oestreich, Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault entfaltet haben. Diese Ansätze, die trotz vielfältiger Unterschiede unter dem Schlagwort „Sozialdisziplinierung“ zusammengefasst wurden,95 verbinden ein Verständnis von Sozialdisziplinierung als „Totalisierung jener Disziplinierungstechniken, mit deren 93 Die social network analysis ist ein Forschungsansatz, der in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren zunehmend an Interesse gewonnen hat. Eine explizite Beschäftigung mit diesem Ansatz erfolgt in der Geschichtswissenschaft erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts (Mittag, Netzwerke, 2008, S. 16.). Vgl. zur social network analysis und zum Forschungsstand etwa Stegbauer, Netzwerkanalyse, 2008; Unfried, Netzwerke, 2008; Knoke, network analysis, 2008, S. 3 – 15; Freeman, development, 2004. Zur Anwendung der social network analysis in der Geschichtswissenschaft vgl.: Boyer, Netzwerk 2008; Neurath, Geschichtswissenschaft, 2008; Schuhmann, Improvisationen, 2008. Zur grafischen Visualisierung von Netzwerken hilfreich ist: Krempel, Visualisierung, 2005. 94 Boyer, Ausblick, 2008, S. 222. 95 Der Begriff „Sozialdisziplinierung“ wurde erstmals 1962 von Gerhard Oestreich geprägt. Zu Gerhard Oestreichs Theorie der Sozialdisziplinierung (Fundamentaldisziplinierung), Norbert Elias, Zivilisationstheorie, Michel Foucaults Theorie einer Disziplinargesellschaft sowie Max Webers Rationalisierungs- und Modernisierungstheorie vgl. Breuer, Sozialdisziplinierung, 1986.

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Hilfe abweichendes Verhalten schon in der Wurzel ausgerottet wird“.96 Das Sozialdisziplinierungsparadigma evozierte eine breite Forschungsdebatte, die etwa Eingang in die Kriminalitäts- und Armutsforschung fand.97 Aktuelle Forschungen verweisen in Anlehnung an und unter Weiterentwicklung dieser Ansätze zur Sozialdisziplinierung auf den zunehmenden Normalisierungsdruck, der sich mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft und dem Einsetzen der Industrialisierung in den meisten Lebensbereichen sowie klassen- und schichtübergreifend verstärkte.98 Die Unterscheidung zwischen „normal“ und „anormal“ wurde konstitutiv für das gesellschaftliche Selbstverständnis.99 Gegenüber Frauen nahm der Normalisierungsdruck in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Zwischenkriegszeit, gerade im Bereich Körper, Reproduktion und Sexualität zu.100 Davon betroffen waren die Frauen aller Schichten, besonders ausgeprägt die Frauen aus der Unterschicht. Dieser verstärkte Normalisierungsdruck zeigt sich auch – wie in dieser Arbeit dargelegt wird – in der Etablierung und Institutionalisierung der Heimerziehung für sexuell normabweichende Jugendliche. Eine weitere für diese Untersuchung fruchtbare Modifikation und Weiterentwicklung des Konzepts der Sozialdisziplinierung ist die Überlegung, dass in der Bevölkerung ein gewisses Bedürfnis an Kontrolle, Regulierung und Disziplinierung vorhanden war (und ist).101 Maßnahmen für mehr Sicherheit und weniger „Unordnung“ konnten durchaus auf einen gewissen gesellschaftlichen Konsens stoßen. Dieser Konsens ist in der Heimerziehung deutlich sichtbar. Einer der in der Forschung geäußerten Kritikpunkte, die zur Verfeinerung des Sozialdisziplinierungsparadigmas geführt haben, ist die bei Weber und Oestreich anzutreffende Suggestion einer Disziplinierung von oben nach unten, die Gegenüberstellung von Herrschenden und Beherrschten, von Normsetzenden und -adressaten. Stattdessen wird auf das (auch von Foucault betonte)102 nicht statische Kräfteverhältnis 96 Breuer, Sozialdisziplinierung, 1986, S. 62. 97 Zu den Forschungsdebatten um das Sozialdisziplinierungskonzept vgl. die ausführliche Zusammenfassung bei Casanova, Nacht-Leben, 2007, S. 21 – 36. 98 Opitz, Einleitung, 2006, S. 10; Tanner, Ordnungsstörungen, 2007; Ziegler, Arbeit, 2007. 99 Tanner, Ordnungsstörungen, 2007, S. 289. 100 Ziegler, Arbeit, 2007. 101 Vgl. Landwehr, Policey, 2000, S. 315; Landwehr, Normdurchsetzung, 2000; Casanova, Nacht-Leben, 2007, S. 32 f. 102 Foucault, Wille, 1977; Foucault, Überwachen, 1976. Foucault betont die Allgegenwart der Macht. Sie strahlt nicht nur von einer zentralen Stelle aus, sondern existiert auch zwischen Freunden, Ehepaaren, Untergebenen und deren Chefs etc. Sie ist auch kein Privileg einer Gruppe, Person oder Institution. Foucault definiert Macht als „etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (Foucault, Wille, 1977, S. 115.). Er geht im Gegensatz zu Max Weber, der zwischen „Herrscher“ und

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zwischen den Akteuren verwiesen, das Widerstand, gegenseitige Beeinflussung, Möglichkeiten des Ausweichens und Unterlaufens, Handlungsspielräume, Kompromisse und Missachtungen beinhaltet.103 Alf Lüdtke spricht in diesem Zusammenhang von einem „Kräftefeld“, auf dem die Individuen angeordnet sind.104 Das Kräftefeld ist keine statische Größe, sondern verändert sich mit der Aktivität oder Passivität der Akteure. Diese Kräfteverhältnisse, Aushandlungsprozesse, Handlungsspielräume und Widerstandsformen finden sich auch (wenn auch meist mit einem asymmetrischen setting) zwischen den beteiligten Akteuren der Heimerziehung: zwischen „Zöglingen“, deren Verwandten, Behörden und Heimbetreibern. In der Forschung zur Sozialen Arbeit wurde das Sozialdisziplinierungsparadigma denn auch zunehmend durch Konzepte abgelöst, welche die soziale Arbeit weniger als hierarchischen Vorgang verstehen, sondern auf Ambivalenzen und Vielschichtigkeiten hinweisen. So verweisen Überlegungen zu Inklusions- und Exklusionsmecha­ nismen in der Fürsorge auf ausschließende wie auch auf integrierende Momente bzw. auf eine „inkludierende Exklusion“105 hin.106 Praktiken der Inklusion und Exklusion „Beherrschten“ klar unterscheidet (Breuer, Sozialdisziplinierung, 1986, S. 45 – 52; Lüdtke, Einleitung, 1991, S. 11.), davon aus, dass die Machtverhältnisse zwischen den involvierten Akteuren nicht starr sind, sondern dass die Möglichkeit besteht, diese zu verändern oder gar umzukehren, und betont, dass, wo es Macht gibt, auch Widerstand vorhanden ist (vgl. Foucault, Wille, 1977, S. 116.). Die häufige Kritik an Foucaults Theorie der Macht, sie negiere die Möglichkeit eines Widerstandes, weil es keinen machtfreien Raum gibt, ist deshalb unberechtigt, weil Foucault die Möglichkeit des Widerstandes explizit mit einbezieht. Der Begriff des Widerstandes taucht in den Arbeiten Foucaults aber erst 1976 auf (vgl. hierzu Kneer, Rationalisierung, 1996, S. 243, Anm. 3). Zur Theorie der Macht von Foucault vgl. Sarasin, Michel Foucault, 2005, S. 122 – 171; Kneer, Rationalisierung, 1996, S. 240 – 250. 103 Vgl. etwa Härter, Security, 2010, S. 43; Schilling, Profil, 1999; Landwehr, Policey, 2000; Landwehr, Normdurchsetzung, 2000; Lüdtke, Einleitung, 1991. Auch Martin Dinges kritisiert die Vorstellung eines einseitig von oben gesteuerten Integrations- und Repressionsprozesses (Dinges, Armenfürsorge, 1991.). Vgl. auch die weiteren Forschungshinweise bei Casanova, Nacht-Leben, 2007, S. 31 f. 104 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Lüdtke, Einleitung, 1991, S. 9 – 51. 105 Vgl. Bohn, Inklusion, 2006, S. 20 und 43 f. 106 Zahlreiche Untersuchungen zur Thematik von Integration und Ausschluss im Bereich der Fürsorge in der Schweiz wurden im Rahmen des NFP 51 (Integration und Ausschluss, http:// www.nfp51.ch, 12. 7. 2011) gemacht. Eine Synthese dieser aktuellen Forschungen liefert ­Grunder, Dynamiken, 2009. In Deutschland beschäftigt sich der Trierer Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“ seit 2002 in verschiedenen interdisziplinär angelegten Projekten mit der Thematik der Inklusion/Exklusion im Bereich von Armut und Fremdheit. Aus diesen Forschungen sind bereits zahlreiche Publikationen hervorgegangen und wurden im Peter Lang Verlag in einer eigenen Schriftenreihe (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Herausgegeben für den Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit

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tauchen in der Regel kombiniert auf, indem sie sich verschränken.107 Beispielsweise kann Integration mit Ausschluss aus einem anderen Bereich gekoppelt sein. So zielte die Einweisung in ein Erziehungsheim auf die Integration von normabweichenden Personen, indem diese nach erfolgreicher Nacherziehung wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden sollten. Gleichzeitig bewirkte die Heimeinweisung eine Exklusion, indem ihnen auch noch nach dem Heimaufenthalt ein Stigma anhaftete. Das Konzept von Inklusion/Exklusion stellt die Frage nach Integrations- und Ausschlussmechanismen sowie nach der gesellschaftlichen Teilhabe von Individuen als Personen.108 Die Praktiken des Ein- und Ausschlusses vollziehen sich jeweils in verschiedenen Institutionen (etwa in den Erziehungsheimen) und durch unterschiedliche Handlungsvollzüge.109 Mit diesem Ansatz geraten auch ambivalente Praktiken der Sozialen Arbeit in den Blick; etwa die Ambivalenz zwischen Hilfe und Kontrolle, Schutz und Repression, Unterstützung und Disziplinzierung – ein Spannungsverhältnis, das auch für die Heimerziehung prägend war.110

Aufbau der Arbeit Das Kapitel zwei fungiert als Einstieg in die Thematik, die den Sittlichkeitsvereinen (und anderen Zeitgenossen) als brennendes Problem und Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung erschien und Ausgangspunkt für ihr fürsorgerisches und politisches Engagement bildete: die Prostitution und ihre Begleiterscheinungen. Die Ängste vor den gesellschaftlichen Schäden durch die Prostitution bildeten ein wichtiges Motiv für die Ausdehnung der privaten wie auch der staatlichen weiblichen Jugendfürsorge. Neben einem Einblick in das Sexgewerbe des fin de siècle, der einen teils starken Kontrast zum verbreiteten Bild der „Dirne“ und zur viel beschworenen und Armut“ von Andreas Gestrich, Lutz Raphael und Herbert Uerlings) publiziert. Eine Umreißung des Konzepts Inklusion/Exklusion liefert Bohn, Inklusion, 2006 und Raphael, Figurationen, 2008. 107 Vgl. die Debatten bei Bohn, Inklusion, 2006, S. 20; Hauss, Eingriffe, 2012, S. 12 – 17. 108 Bohn, Inklusion, 2006, S. 7. 109 Vgl. Raphael, Figurationen, 2008, S. 20. 110 In der sozialen Arbeit wird dieses Spannungsverhältnis als „Doppeltes Mandat“ bezeichnet. Der Begriff wurde 1973 von Lothar Böhnisch und Hans Lösch in die Debatten zur sozialen Arbeit eingeführt (vgl. Böhnisch, Handlungsverständnis, 1979). In den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten zu diesem Spannungsverhältnis in der Fürsorge entstanden. Zu nennen sind etwa Wilhelm, Rationalisierung, 2005; Hauss, Eingriffe, 2012; Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, 2009; Matter, Armut, 2011; Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000; Peukert, Grenzen, 1986; Grindel, Disziplinierung, 1994; Koller, Wohnen, 1995; Mottier, Pflege, 2007; Dubach, Verhütungspolitik, 2013; Wecker, Eugenik, 2013; Meier, Zwang, 2007.

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Einleitung

Prostitutionsfrage offenbart, zeige ich die Reaktionen auf das zunehmend als bedrohend wahrgenommene Sexgewerbe auf. Die Sittlichkeitsbewegung war dabei nur eine von mehreren zeitgenössischen Antworten auf die Prostitutionsfrage. Das Kapitel drei dreht sich um die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit. Nach der Thematisierung der spezifischen Ausprägung der abolitionistischen Vereine in der deutschsprachigen Schweiz und der überwiegend aus bürgerlichen Schichten stammenden Mitglieder richte ich das Augenmerk auf einige ihrer wichtigsten Tätigkeitsfelder und die teils abwehrenden Reaktionen auf ihre Aktivitäten. Der Fokus liegt in diesem Kapitel auf den Anfängen der Sittlichkeitsvereine zur Zeit der Gründergeneration. Die späteren Entwicklungslinien werden nicht näher aufgezeigt. Das Kapitel vier nimmt die Fürsorge der Sittlichkeitsvereine in ihren Anfängen anhand ihrer Erziehungsheime in den Fokus. Im Unterkapitel zur Genealogie konzentriere ich mich zunächst auf die Anfänge der Heimerziehung für weibliche Jugendliche und deren historische Wurzeln sowie auf das neue Ausmaß der Fürsorge für „gefallene Mädchen“ am Ende des 19. Jahrhunderts. Um die Heimerziehung der Sittlichkeitsvereine drehen sich die folgenden Kapitel. Es wird ein Blick in ihre Erziehungsheime geworfen, am Beispiel eines der Heime der Sittlichkeitsvereine, dem Vorasyl zum Pilgerbrunnen in Zürich. Auch das Bild der „Zöglinge“, wie es von den Sittlichkeitsvereinen konstruiert wurde, wird aufgezeigt. Im Kapitel fünf rückt das Zusammenspiel der privaten und staatlichen Akteure, wie es sich mit dem wachsenden Interesse des Staates an der Jugendfürsorge nach der Jahrhundertwende und ganz ausgeprägt in der Zwischenkriegszeit herauskristallisierte, ins Zentrum. Zunächst werden das wachsende Interesse an der Jugendfürsorge und der Heimerziehung thematisiert sowie die Gründe, warum sich der Gedanke einer Nacherziehung von „gestrauchelten“ jungen Frauen in spezifischen Heimen etablieren konnte. Anschließend interessieren, wann und in welchen Bereichen der Staat in der weiblichen Jugendfürsorge aktiv wurde, welchen Einfluss die private Wohlfahrt auf die entstehenden sozialstaatlichen Strukturen hatte, weshalb der Staat die Heimerziehung weitgehend der privaten Fürsorge überließ und wann er in diesem Bereich doch noch selbst aktiv wurde. Es geht dabei auch um die Rolle und Position der Gemeinnützigkeit im Fürsorgenetzwerk sowie um die Kompetenzen und Handlungsfreiräume, die ihr und ihren Privatheimen vom Staat zugesprochen bzw. aberkannt wurden. Das Kapitel sechs schließlich geht in einem kurzen Ausblick der Frage nach der weiteren Entwicklung der Heimerziehung „sittlich gefährdeter“ und „gefallener“ weiblicher Jugendlicher nach. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern sich die Heimerziehung für weibliche Jugendliche mit der verstärkten Aktivität des Staates und dem wachsenden Interesse an der Jugendfürsorge durch eine Vielzahl an Akteuren, allen voran vonseiten der Wissenschaft, nach der Jahrhundertwende bis zum Ende meines Untersuchungszeitraums veränderte. Dabei werden einige wichtige Entwicklungslinien anskizziert, die aber durch weitere Forschungen vertieft und präzisiert werden müssten.

2 Prostitution um 1900 2.1

Ein Großstadtphänomen

Abb 1

Ein großstädtisches Nachtbild.

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Prostitution um 1900

Das Ende des 19. Jahrhunderts war geprägt von einer boomenden städtischen Freizeitund Vergnügungsindustrie. Neue Varietés, „Tingeltangel“,1 Kaffeehäuser, Wirtschaften, Cabarets und Theater säumten die Straßen und Gassen insbesondere der entstehenden, rasch anwachsenden Großstädte. In den „Amüsiervierteln“ reihten sich die Vergnügungsstätten dicht aneinander. So bemängelte ein vom Zürcher Nachtleben lärmgeplagter Amtsvormund: „Wenn die Zahl dieser Wirtschaften wenigstens noch bescheiden wäre, etwa bloss dem sogenannten Bedürfnis entspräche! Aber das gerade Gegenteil ist der Fall. Stellenweise reiht sich ein Lokal ans andere, was die Alkohol­ gefahr erhöht. Ein Wirt sucht es dem anderen an Attraktionen zuvorzutun, um in der allgemeinen Konkurrenz nicht zu unterliegen. Allerlei Tingeltangel, Freibier, Prämierungen und wie die plumpen Kniffe alle heissen.“2 Die Stadt Zürich, die in dieser Zeit zur Touristenattraktion wurde und jährlich rund 150.000 Touristen anlockte,3 wandelte sich zu einem Anziehungspunkt für Freizeitvergnügen. Der Umstand, dass immer mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt abwanderten und die Städte rasant wuchsen, begünstigte die Vervielfachung des Vergnügungsangebotes. Zwischen 1850 und 1870 setzte in der Schweiz – etwa zeitgleich wie in Frankreich, Deutschland und Österreich – die Verstädterung voll ein und erreichte in der Zeit zwischen den 1880er Jahren (nach der Großen Depression und deren Auswirkungen) und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt.4 Zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Städte 5 in der Schweiz von 8 auf 26 und der Anteil der Stadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung nahm von 6,4 % auf 25,8 % zu.6 Zürich wurde 1893, mit der Eingemeindung der umliegenden Vororte, zur ersten Großstadt der Schweiz mit über 100.000 Einwohnern.7 Nach Zürich stiegen auch Basel und Genf zu Großstädten auf; Bern folgte als vierte 1919.8 1 2

3 4

5 6 7 8

Meist zweitklassige Theaterwirtschaften, in denen Künstlertruppen Konzerte und Komödien aufführten. Sigg, E. Gässchenelend – Gässchen und Alkoholenden. In: Gemeinde-Blatt für die Glieder und Freunde der Predigergemeinde Nr. 3. Zürich 1919. S. 3 f. StadtA Zürich, V. E. C. 62/5. Akten der Wirtschaftspolizei. Zit. nach Kessler, Nachtleben, 2007, S. 291. Avanzino, Franken, 2004, S. 60. Tögel, Stadtverwaltung, 2004, S. 65; Geschichte des Kantons Zürich, 1997, S. 181 f. Vgl. auch die Statistik zur Verstädterung in der Schweiz vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1920 bei Tögel, Stadtverwaltung, 2004, S. 66. Zu den Einwohnerzahlen in Basel, Bern und Zürich: Für Bern vgl. Tögel, 2004, S. 66 – 69; für Zürich vgl. Geschichte des Kantons Zürich, 1997, S. 181; für Basel vgl. Sarasin, Stadt, 1997, S. 29 – 31. Bei einer Stadt übersteigt die Einwohnerzahl statistisch die Grenze von 10.000 Einwohnern. Tögel, Stadtverwaltung, 2004, S. 65. Geschichte des Kantons Zürich, 1997, S. 181. Geschichte des Kantons Zürich, 1997, S. 181.

Ein Großstadtphänomen

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An Orten, an denen die Menschenmassen zusammenkamen und sich dem Vergnügen und dem Konsum hingaben, war auch die Prostituierte als Teil des wachsenden Amüsier-, Konsum- und Unterhaltungsbedürfnisses zu finden.9 Das 19. Jahrhundert zeigte sich weit sinnesfreudiger als das Bild des prüden, den Sex unterdrückenden und totschweigenden viktorianischen Zeitalters gerne evoziert. Michel Foucault nennt die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gar eine Gesellschaft der „blühendsten Perversion“10 und spricht von einer „diskursiven Explosion“, die sich in einer Flut an pornografischen Werken und (pseudo)wissenschaftlichen Abhandlungen um den Sex gezündet habe.11 Die Prostitution entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem internationalen Massenmarkt.12 In den Zürcher Bordellen etwa waren Frauen aus der ganzen Welt anzutreffen, beispielsweise aus Prag, Lyon, Budapest, Leipzig oder Buenos Aires.13 Die „Bordellmädchen“ wurden regelmäßig ausgewechselt, um den Kunden immer neue „Ware“ anbieten zu können; entsprechend wurden „Bordelldirnen“ von einem öffentlichen Haus ins nächste gereicht. Die Internationalisierung des Frauenhandels 14 wurde begünstigt durch Erfindungen, welche die Kommunikation vereinfachten und die Mobilität erhöhten, wie das Telegrafennetz und das Dampfschiff.15 Die Frauenhändler, in zeitgenössischem Jargon als „Mädchenhändler“ bezeichnet, organisierten den Handel mit den jungen Frauen. Das lukrative Geschäft des „weißen Sklavenhandels“, wie der Frauenhandel auch genannt wurde, war international vernetzt. Bei der Zürcher Kupplerin Luise Frick fand die Polizei Visitenkarten und Briefe ausländischer Bordelle in Mülhausen, Besançon, Amsterdam, Strassburg, Mailand und Bremer­ haven, und ein Bordellverzeichnis listete Häuser in Algier, Moskau, Amsterdam und Montevideo auf.16 Für die Vermittlung von jungen Frauen kassierte Luise Frick eine Vermittlungsgebühr, die je nach „Wert der Ware“ höher oder tiefer liegen konnte. Zudem verlangte sie von den Prostituierten die Bezahlung von Kleidern, Unterkunft und Reisekosten, die sie während der Vermittlungszeit angeblich für die „Mädchen“ bezahlt hatte. Das genaue Ausmaß des „Mädchenhandels“ bleibt im Dunkeln. Die vorhandenen Quellen liefern zu wenige Angaben, um verlässliche Aussagen machen zu können.17 9 10 11 12 13 14

Schulte, Sperrbezirke, 1979, S. 22; 56 – 67. Foucault, Wille, 1999, S. 63. Foucault, Wille, 1999, S. 27. Sarasin, Prostitution, 2004, S. 9. Avanzino, Typus, 2004, S. 113. Zum Frauenhandel um 1900 vgl. u. a. Vries, Sklavinnen, 2006, S. 133 – 157; Vries, Slave, 2010; Sabelus, Sklavin, 2009; Harris, Absence, 2008, S. 289 f.; Avanzino, Typus, 2004. 15 Bohnenblust, Zentralstelle, 2007, S. 32. 16 Bochsler, Luise, 2004, S. 53. 17 Vgl. etwa Avanzino, Typus, 2004; Bohnenblust, Zentralstelle, 2007, S. 37 – 42; 146.

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Abb 2

Prostitution um 1900

Die Kupplerin.

Ein Großstadtphänomen

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Gewisse Zeitgenossen beschwerten sich über die „Dirnen“, die in den Straßen „massenhaft“ auf Kundenfang seien. Der Schriftsteller Stefan Zweig schrieb beispielsweise von der „ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa“.18 Die Gehsteige der Großstädte seien von käuflichen Frauen „derart durchsprenkelt“, „dass es schwerer hielt, ihnen auszuweichen, als sie zu finden“. Zeitgenossen aus Politik, Kirche und Wissenschaft sprachen von einer sprunghaften Zunahme der Prostitution in den Städten und sahen darin die Ursache für die angeblich ebenso starke Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten.19 Inwieweit solche Einschätzungen über das Ausmaß bzw. die Zunahme der Prostitution der Realität entsprachen oder einem „mora­lischen“ oder hygienisch-medizinischen Blick auf das „Treiben“ entsprachen, ist kaum auszumachen.20 In jenen Städten, in denen sich eine Reglementierung der Prostitution durchzusetzen vermochte, existieren zwar Zahlen über die registrierten und ärztlich kontrollierten „Dirnen“.21 Diese besagen jedoch nichts über die tatsächliche Anzahl der Prostituierten, denn die „heimliche“, nicht registrierte (Gelegenheits-) Prostitution machte einen beträchtlichen Anteil aus, der zahlenmäßig im Dunkeln liegt.22 In Bern, Basel und Zürich, wo sich die Reglementierung offiziell nicht durchzusetzen vermochte, fällt auch dieses Zahlenmaterial weg. Es existieren hingegen Angaben über die Anzahl der von der Polizei aufgegriffenen Prostituierten. Diese Zahlen schwankten jedoch beträchtlich – wohl primär verursacht durch das mehr oder weniger harte Durchgreifen der Sittenpolizei. In Zürich etwa lagen sie um die Jahrhundertwende zwischen jährlich 89 und 651 aufgegriffenen Frauen.23 Über die Gesamtzahl der Prostituierten sind nur zeitgenössische Schätzungen vorhanden, die jedoch stark variierten, je nachdem, welche Aussage gestützt werden sollte und welcher Grad an Empörung ihnen zugrunde lag. So schätzte die Zürcher Sittenpolizei das Ausmaß der Prostitution tendenziell niedrig ein, sicherlich auch, um ihre eigene Arbeit im Kampf gegen die Prostitution nicht zu diskreditieren.24 Die Sittlichkeitsvereine hingegen lieferten weit höhere Zahlen, um ihre Forderungen nach einer konsequenten Verfolgung der käuflichen Liebe durchzusetzen.25 Die Schätzungen beruhten auf keinem konkreten Zahlenmaterial, weil dieses gar nicht 18 Zweig, Stefan. Die Welt von Gestern. Lebenserinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 1979. S. 70. Zit. nach Jušek, Suche, 1994, S. 80. 19 Eder, Kultur, 2002, S. 188. 20 Vgl. zur fehlenden Basis für die Berechnung des Ausmaßes der Prostitution ausführlich Jušek, Suche, 1994, S. 78 – 94. 21 Vgl. Schulte, Sperrbezirke, 1979, S. 20 f. 22 Vgl. Jušek, Suche, 1994, S. 93. 23 Ulrich, Bordelle, 1985, S. 33 und S. 178. 24 Ulrich, Bordelle, 1985, S. 33 f. 25 Ulrich, Bordelle, 1985, S. 34. Die Sittlichkeitsvereine schätzten die Anzahl der Prostituierten Anfang des 20. Jahrhunderts in Zürich auf rund 3000 Frauen. (Ulrich, Bordelle, 1985, S. 34.).

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Prostitution um 1900

existieren konnte. Denn nicht nur der Umstand, dass sich Frauen heimlich prostituierten, sondern auch die Frage, wer überhaupt als Prostituierte mitgezählt werden sollte, verunmöglicht(e) eine genaue Erfassung der Sexarbeit.26 Zählte eine Gelegen­ heitsprostituierte, die neben ihrer Erwerbsarbeit einige Male zur Aufbesserung ihres Lohnes oder zur Überbrückung von Arbeitslosigkeit ihren Körper verkaufte, dazu? Oder die Maitresse, die von einem Herrn ausgehalten und später von ihm geheiratet wurde? Wie steht es mit den Frauen, die mit Herren in Hotelzimmern verkehrten und als Gegenleistung für die sexuellen Dienste statt Geld Essen und Kleider erhielten? Und zählte auch die männliche Prostitution dazu? Obwohl Selbstzeugnisse von Prostituierten fehlen, können aus der Flut an (Polizei-) Akten und Publikationen einige Erkenntnisse zur weiblichen Prostitution gewonnen werden. Etwa über die verschiedenen Arten der Prostitution, die teilweise einfallsreiche Formen annahmen, um den Augen der Sittenpolizei zu entgehen. Beispielsweise die „Zigarreuse“, die in als Zigarrenläden getarnten Bordellen körperliche Dienste anbot.27 In diesen Tabakläden, wie sie in Bern, Basel und Zürich existierten, wurden neben Zigarren auch erotische Postkarten und Sex in einem Nebenzimmer verkauft. Verbreitet waren ferner die sogenannten „Animierkneipen“, in denen die Kellnerinnen von den Wirten zum Mittrinken und sich Prostituieren angehalten wurden, um den betrunkenen Gästen möglichst viel Geld zu entlocken. Im Jahr 1872 erschien ein Buch über die Prostitution in Bern.28 Der Autor, Johann Friedrich Schneeberger, zeichnete im Detail die verschiedenen Arten der Prostitution nach. Er berichtete von den „Droschkenprostituierten“, die „feinen“ Herren während Droschkenfahrten diskrete sexuelle Vergnügen boten und seit Neuestem in Bern verbreitet seien;29 von den „Straßen- und Laubendirnen“, die in den Straßen und unter den Lauben Berns auf Kundenfang gingen; von den „Tanzdirnen“, die in Varietés und „Tingeltangel“ auftraten; den „Badedirnen“, die in den Badeanstalten ihren Körper verkauften; von „feinern Dirnen“ (Luxusprostituierten); von Maitressen und Konkubinen, die von „feinen“ Herren ausgehalten wurden; von „Keller- und Stuben­mädchen“, „Ouvrièren und Putzmacherinnen“, „Fabrikmädchen und hausierenden Mädchen“, die sich zum Lebensunterhalt zusätzlich oder gelegentlich prostituierten.30 Er beschrieb auch die homosexuelle Szene. 26 27 28 29

Vgl. Jušek, Suche, 1994, S. 93. Lüssi, Zigarreuse, 2004, S. 64 – 71; Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 36 – 40. Schneeberger, Prostitution, 1872. Auch in Basel gab es die Droschkenprostitution, in Zürich dagegen nicht. Für Basel vgl. Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 23 – 26. 30 Dienstmädchen etwa wurden teilweise über die Sommermonate entlassen, um während der Reisezeit im Sommer keine Lohnkosten zu haben, sowie kurz vor Weihnachten, um Weihnachtsgeschenke einzusparen (Schulte, Sperrbezirke, 1979, S. 87). Zum Alltag von Dienstmädchen in der Schweiz vgl. Bochsler, Dienen, 1989.

Ein Großstadtphänomen

Abb 3

Aus der Winkelkneipe.

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Abb 4

Prostitution um 1900

Zeitungsnotiz.

Ein Großstadtphänomen

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Die weiblichen Prostituierten stammten überwiegend aus der Unterschicht und der sozial absteigenden kleinbürgerlichen Mittelschicht.31 Mit dem Strukturwandel am Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Anzahl Erwerb suchender Frauen in den Städten. Die Arbeiterfrauen waren auch nach einer Heirat auf einen Erwerb angewiesen und auch die Töchter aus Familien des Kleinbürgertums mussten vermehrt einen Beruf ausüben, da die finanziellen Mittel dieser Familien nicht mehr für den Lebensunterhalt der Töchter ausreichten.32 Auffallend viele Prostituierte stammten aus Handwerkerfamilien, den klassischen Niedergangshandwerken des 19. Jahrhunderts, wie Textilhandwerker, Schneider, Schuster, Zimmerleute und Wagner. Sie gehörten einer absteigenden Schicht an, die von der kapitalistischen Entwicklung der Massenproduktion verdrängt wurde und der die Proletarisierung drohte. Typische Berufe der Prostituierten waren Fabrikarbeiterin, Dienstmagd, Glätterin, Stickerin, Köchin, Kellnerin und Verkäuferin – Berufe also, die außerordentlich schlecht bezahlt und teilweise saisonalen Schwankungen unterworfen waren.33 Der berufliche Hintergrund der Prostituierten variierte über die Jahre hinweg stark.34 Selten gerieten Mädchen und Frauen oberer Klassen in die Prostitution. Dieser Umstand zeigt sich etwa darin, dass auch Mädchen und Frauen aus der gut situierten Mittelklasse sowie aus der Oberschicht Opfer von Frauenhandel wurden.35 Extrem niedrige Löhne und eine hohe weibliche Arbeitslosigkeit waren die Merkmale der Frauenarbeit.36 Wirtschaftliche Not war denn auch meist der Grund, warum Frauen der Prostitution nachgingen.37 Der herrschende Mythos, eine Prostituierte bleibe für immer eine „Dirne“, entsprach nicht der Realität.38 Gelegenheitsprostitution war im Sexgewerbe der Normalfall. Viele prostituierten sich, um Zeiten der Arbeitslosigkeit oder extrem niedrige Einkommen zu überbrücken, und sie blieben nicht im Milieu „hängen“.39 31 Vgl. zur sozialen und beruflichen Herkunft der Prostituierten Ulrich, Bordelle, 1985, S. 17 f. und 36 – 38; Eder, Kultur, 2002, 189 f.; Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 45; Schulte, Sperrbezirke, 1987, S. 68 – 113; Walkowitz, Prostitution, 1980, S. 15 f.; Ziegler, Arbeit, 2007, S. 250 – 259; Avanzino, Franken, 2004, S. 62. 32 Ulrich, Bordelle, 1985, S. 41. 33 Schulte, Sperrbezirke, 1987, S. 68 f.; Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 45. 34 Schulte, Sperrbezirke, 1987, S. 68. 35 Vgl. Harris, Absence, 2008, S. 289 f. 36 Wecker, Frauen, 1984. 37 Eder, Kultur, 2002, S. 185 f.; Ulrich, Bordelle, 1985, S. 42 f.; Luddy, Prostitution, 2007, S. 3 – 5; Thoben, Strassendirnen, 2006, S. 377 – 390; Walser, Prostitutionsverdacht, 1985, S. 100; Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 45. 38 Walser, Prostitutionsverdacht, 1985. 39 Jušek, Suche, 1994, S. 78; Walkowitz, Prostitution, 1980, S. 15 f. und 19; Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 46; Ulrich, Bordelle, 1985, S. 15 und 36.

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Abb 5

Prostitution um 1900

Der freche Höfliche.

Ein Großstadtphänomen

Abb 6

Die feine Tochter.

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Abb 7

Prostitution um 1900

An der Quelle der Prostitution.

Ein Großstadtphänomen

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Die Prostituierten waren meist zwischen 17 und 30 Jahre alt.40 In den Bordellen waren üblicherweise etwas unter oder knapp über 20 Jahre alte Frauen tätig.41 Die Straßenprostituierten waren im Vergleich älter und wiesen eine größere Altersstreuung auf.42 Am häufigsten waren die 20- bis 25-Jährigen. Die meisten Frauen stiegen mit Mitte zwanzig aus dem Gewerbe aus. Ältere „Dirnen“ hatten weit weniger Chancen auf Kundschaft. Eine „Ausstiegsmöglichkeit“ für ehemalige Prostituierte bildete die Arbeit als Kupplerin, indem sie beispielsweise Zimmer an Prostituierte vermieteten. Ehemalige „Bordellmädchen“ konnten zur Soumaîtresse oder Bordellinhaberin „aufsteigen“. Als Aufstiegsmöglichkeit übernahm ein Teil der Frauen die Stelle der Bordellköchin, -dienstbotin oder -haushälterin.43 Einige wiederum fanden einen Arbeitsplatz außerhalb des Sexgewerbes, der ihnen genug zum Leben einbrachte. Andere heirateten und wurden Mütter – wobei die Heirat keine Garantie war, nicht erneut in die Prostitution zu gleiten. Es gab jedoch auch Frauen, die nicht mehr aus der Prostitution herausfanden und als Straßenprostituierte auch im hohen Alter noch ihren Lebensunterhalt zu verdienen suchten.44 Einige der ehemaligen Prostituierten wurden „Zigarreusen“, die Zigarrenhandlungen führten oder dort als Angestellte arbeiteten.45 Die „Zigarreusen“ waren meist Frauen über 30, die als professionelle Prostituierte arbeiteten. Langjährige Prostituierte wurden teilweise auch Luxusprostituierte, die einen exquisiten Kundenkreis bedienten. Auguste B. etwa war eine solche „Luxusdirne“.46 Sie stieg als Gelegenheitsprostituierte ein, die ihren Fabriklohn unter dem Existenzminimum mit Prostitution aufbesserte, kam ins Bordell, arbeitete als „Karten­ mädchen“47, wurde mehrmals von Männern als Maitresse ausgehalten und auf Reisen mitgenommen und lernte schließlich ihren zukünftigen Mann kennen, mit dem sie ein Bordell erwarb. Als das Bordell zu wenig Einnahmen brachte, kamen sie nach Zürich und erwarben eine Villa, in der Auguste B. ihre Kunden in einem luxu­riösen, ganz in weiß gehaltenen Zimmer mit prächtigem Himmelbett empfing. Sie bot ihren Kunden, vor allem gut betuchte Banker und Börsianer, einen speziellen Service, der auch Sex zu dritt mit dem Dienstmädchen beinhalten konnte. Die Freier wurden mit Champagner verwöhnt und konnten bei Bedarf „unsittliche Photographien“ anschauen. 40 41 42 43 44 45 46 47

Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 46. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 14. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 36. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 15. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 37. Vgl. zu den Zigarreusen detailliert bei Lüssi, Zigarreuse, 2004. Vgl. Moritzi, Freudenmädchen, 2004, S. 41 – 45. Registrierte Straßenprostituierte.

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Abb 8

Prostitution um 1900

Maitresse.

Der Verdienst einer Prostituierten variierte stark. Ihre Attraktivität und ihr sexuelles Raffinement spielten eine Rolle, aber auch der Ort, an dem sie sich prostituierte. Zudem unterlagen die Preise den Schwankungen von Angebot und Nachfrage. Eine Luxusprostituierte verdiente ein Vielfaches eines einfachen „Straßenmädchens“ oder einer „Bordelldirne“ in einem drittklassigen Bordell. Auguste B. verlangte hundert Franken für ihren Service, ließ jedoch bis auf zehn Franken mit sich verhandeln.48 Die Straßenprostituierte Bertha K. demgegenüber, die mit ihren Kunden im Freien, meistens auf einer Parkbank verkehrte, verlangte üblicherweise 48 Moritzi, Freudenmädchen, 2004, S. 43.

Ein Großstadtphänomen

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zwei Franken.49 Die Kellnerin Maria A. gibt ebenfalls an, zwei Franken Trinkgeld von einem Freier erhalten zu haben.50 Im Zürcher Bordell an der Kreuzbühlstraße verdiente eine Frau fünf Franken für „gepflogenen geschlechtlichen Umgang“ mit einem Kunden.51 Sie musste jedoch die Hälfte an die Bordellinhaberin abgeben. Dazu fielen Kosten für die Pension, für kostspielige Kleider und Wäsche an, ferner Arztkosten, die sie von ihrem Verdienst abgeben musste. Während die Bordellinhaberin gutes Geld mit ihrem Etablissement verdiente, blieb für die Prostituierte je nach Anzahl ihrer Kunden nur wenig übrig.52 Nur das sogenannte Strumpfgeld, eine Art Trinkgeld des Freiers, konnte sie vollumfänglich für sich behalten.53 Ihr Verdienst hing also eng mit der Zufriedenheit, der Kaufkraft und der Anzahl ihrer Kunden zusammen. Je nach Raffgier der Bordellinhaber war das „Bordellmädchen“ großer finanzieller Ausbeutung ausgesetzt. Gewisse Bordelle verkauften den „Bordelldirnen“ Kleider und Unterwäsche zu inflationären Preisen, sodass die Frauen in eine Schuldenfalle gerieten. Hatten sie Schulden bei den Bordellinhabern angesammelt, mussten sie diese abzahlen, auch wenn sie bereits in einem anderen Bordell tätig waren. Vergleicht man diese Preise mit Frauenlöhnen in anderen von Frauen aus der Unterschicht verübten Gewerben, so wird deutlich, dass eine Frau mit Prostitution ein Vielfaches mehr verdienen konnte – jedoch nur, sofern sie den Großteil ihres Verdienstes nicht an Bordellwirte oder Zuhälter abgeben musste und regelmäßig Kunden hatte.54 Die besseren Verdienstmöglichkeiten und die geringeren Arbeitszeiten als in den gängigen Tätigkeitsbereichen von Frauen aus der Unterschicht ließen die Prostitution zumindest finanziell zu einer attraktiven Alternative werden.

49 50 51 52 53 54

Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 18. Avanzino, Franken, 2004, S. 62. Furrer, Topografie, 2004, S. 37 f. Zur finanziellen Ausbeutung der „Bordellmädchen“ vgl. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 19 – 22. Furrer, Topografie, 2004, S. 38. Zum Vergleich: Um 1900 verdiente eine Zettlerin in der Seidenbandweberei der Stadt Basel 11,60 Franken pro Woche, eine Weberin verdiente in Burgdorf-Langenthal in der Baumwollund Leinenindustrie 25 Rappen pro Stunde, in der Bekleidungsindustrie der Stadt Zürich verdiente eine Wäscherin 25 Rappen pro Stunde und eine Näherin 26 Rappen pro Stunde, in der Stickereiindustrie der Nordostschweiz verdiente eine Nachseherin zwischen 1900 und 1904 2,36 bis maximal 2,59 Franken pro Tag, eine Nachstickerin 2,07 bis maximal 3,20 pro Tag und eine Fädlerin oder Schifflifädlerin 1,50 bis maximal 2,50 Franken pro Tag (Gruner, Arbeiterschaft, 1987, 398 f.). Kellnerinnen erhielten pro Monat zwischen 20 und 30 Franken (Avanzino, Franken, 2004, S. 59). Zu den Löhnen und Lebenshaltungskosten in der Schweiz: Head, Armut, 1989; Hauser, Neue, 1989, S. 137 – 145; Gruner, Arbeiterschaft, 1987, S. 343 – 405; Balthasar, Spannungen, 1989.

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Prostitution um 1900

In ihrer Kleidung waren die Prostituierten kaum von den anderen Passanten in den Straßen unterscheidbar. Die Frauen versuchten – aus Angst vor dem Zugriff der Sittenpoli­ zei und der Ächtung der Gesellschaft –, möglichst unauffällig und nicht als Prostituierte erkennbar aufzutreten.55 Solange die Frau nicht als „Dirne“ öffentlich bekannt geworden war, konnte sie aus dem Milieu hinausfinden. Dadurch, dass die „Dirne“ kaum von der „Nichtdirne“ unterscheidbar war, lief Letztere Gefahr, als Prostituierte angesprochen und verdächtigt zu werden. Dieser Umstand kommt in den Schriften der Sittlichkeitsvereine wiederholt zum Ausdruck. Sie beklagten, dass auch „anständige“ Frauen auf den Straßen angesprochen und belästigt, teilweise gar von der Sittenpolizei verhaftet würden.

Abb 9

Schützengarten.

Wegen ihrer möglichst unauffälligen Kleidung musste die Prostituierte ihren potenziellen Kunden auf andere Art und Weise zeigen, wer sie war. Sie tat dies durch eine auffällige Gangart, einen Blick, eine Geste oder Obszönität, die dem Mann ihre Absichten verdeutlichen sollten; etwa, indem sie einen sich nähernden Mann mit dem Blick fixierte und ihm nachsah oder indem sie eine obszöne Melodie sang, wenn er vorbeiging, auch ein unnötiges Heben des Rockes oder ein auffallend freundliches Lächeln gegenüber „besseren Herren“ diente der Kundenanwerbung.56 Der bereits erwähnte Johann Friedrich Schneeberger beschrieb in seinem Buch zur Berner Prostitution die Allüren 55 Ausführlich bei Schulte, Sperrbezirke, 1987, S. 25 – 31. 56 Schulte, Sperrbezirke, 1987, S. 28 f.; Ulrich, Bordelle, 1985, S. 30.

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der „Dirnen“, ihre delikate Aufmachung, ihren „unverschämten“ und unzweideutigen Kundenfang. Er berichtete zudem, dass sich die Prostituierten wohlklingende Namen zulegten – sicherlich auch aus Sorge um ihre Anonymität –, wie beispielsweise Sidonie, Kamilla, Thusnelda, Hulda, Amanda, Aurora, Flora, Veronika. Außerdem besäßen die Berner „Dirnen“ einen eigenen Wortschatz. Mit „Greiferei“ etwa meinten sie die Polizei. Ein „Kober“ bezeichnete einen Freier, ein „fetter Kober“ einen gut bezahlenden Freier, ein „nasser Kober“ oder „Nassauer“ war jener, welcher die Frau um ihren Lohn prellte oder wenig bezahlte. Auch gewisse Gesten nannte Schneeberger als Charakteristika der „Straßenmädchen“. Sah eine von ihnen beispielsweise eine Genossin mit einem Freier, den sie als schlechten Bezahler kannte, gab sie ihr ein Warnzeichen, indem sie einen schnalzenden Laut mit dem Mund erzeugte. Während die weibliche Prostitution in einer wahren Aktenflut – insbesondere Polizeiakten – in den Archiven ihren Niederschlag fand, ist über die männliche Prostitution kaum Material erhalten.57 Um die homosexuelle Prostitution senkte sich ein Schweigen, das kaum einmal gebrochen wurde. In der weiblichen Prostitution, bei der bei Ent­deckung nur die „Dirne“ das Nachsehen hatte, der Freier jedoch ungeschoren davonkam, war vorwiegend die Frau bemüht, möglichst unbemerkt zu bleiben. Dem Freier ging es höchstens um seine Anonymität. Im Falle der homosexuellen Prostitution hingegen machte sich der Freier wegen „widernatürlicher Unzucht“ strafbar und war deshalb um größtmögliche Diskretion bemüht. Wegen seiner homosexuellen Neigungen drohten ihm nicht nur die polizeiliche Verfolgung und die Verhängung von Haftstrafen, sondern auch die Ächtung durch die Gesellschaft. Die Strafbarkeit seiner Handlung machte ihn besonders erpressbar, was gewisse Prostituierte ausnutzten.58 Die Erpresser wähnten sich vor einer Anklage sicher, weil sich der Freier als Mitschuldiger kaum an die Polizei wandte. Die Orte der homosexuellen Prostitution waren neben spezifischen Pensionen auch öffentliche Pissoirs und Toiletten sowie Männerbadeanstalten.59 Gerade die öffentlichen Toiletten waren berüchtigt als Treffpunkte für Männer. In der Zürcher Satirezeitschrift „Scheinwerfer“ heißt es zum nächtlichen Anziehungspunkt für gleichgeschlechtlichen Sex: „Gegen Mitternacht sind es noch vereinzelte Gestalten, welche sich auffallender Weise in und um das kleine Pissoir an der rechten Seite der 57 Mit dem Aufkommen der Männerforschung (men’s studies) sind auch die männlichen Prostituierten ins Blickfeld historischer Untersuchungen gerückt. Vgl. Lücke, Hierarchien, 2010; Lücke, Männlichkeit, 2008; Lücke, Utopien, 2006, S. 301 – 318; Dolder, Duldungspolitik, 2008; Peniston, Pederasts, 2004. Vgl. für die Schweiz: Kauer, Leib, 2004, S. 96 – 99. Über die Wahrnehmung männlicher Homosexualität durch die deutsche Sittlichkeitsbewegung: Fout, Politics, 1992. Ein zeitgenössischer Blick auf die männliche Prostitution in Bern findet sich bei: Schneeberger, Prostitution, 1872, S. 77 – 79. 58 Kauer, Leib, 2004, S. 99. 59 Näheres dazu Kauer, Leib, 2004, S. 97.

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Bahnhofbrücke direkt vis-à-vis des Herrenmodegeschäftes H. Siegert zu schaffen machen. Es ist ‚Börsenzeit‘, es werden ‚Abschlüsse‘ gemacht. Alternde Herren suchen sich junge ‚Ware‘ ihres Geschlechtes dienstbar zu machen.“60 Über die Person der männlichen Prostituierten ist aufgrund der äußerst spärlichen Quellenlage kaum etwas bekannt. Ihr Sozialprofil und die Motive für das Verkaufen ihres Körpers bleiben weitgehend im Dunkeln. Auch das zahlenmäßige Ausmaß der homosexuellen Szene ist nicht auszumachen.

Abb 10 Ein Sittenbild aus unserer Zeit.

60 Wirz, P. Ein „Hagelwetter“ für unsere Sittlichkeitsapostel. Eulenburg in Zürich. In: Scheinwer­fer, 16. März 1911. Zit. nach Kauer, Leib, 2004, S. 97 f.

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Über den hetero- und homosexuellen Freier ist ebenfalls nur wenig bekannt.61 Er verbarg sich in der Anonymität und war umgeben von Schweigen und Diskretion. Wurde ein Freier mit einer weiblichen Prostituierten entdeckt, verhielt sich die Polizei ihm gegenüber äußerst diskret, da sich der Freier nicht strafbar gemacht hatte. Die Freier wurden auch meist nicht als Zeugen eingeladen, um ihre Anony­mität zu wahren, und sie konnten in Polizeieinvernahmeprotokollen auf die Geheimhaltung ihres Namens bestehen. Gerade gegenüber den gehobenen Klassen wahrten Polizisten Diskretion, wie Johann Friedrich Schneeberger für Bern schreibt.62 Luxusbordelle seien den „besseren“ Herren ebenso einschlägig bekannt wie der Polizei. Letztere übe aber in der Regel gegenüber den wohlsituierten Herren „schonende Rücksichten“ aus. Die Freier tauchen in den Quellen dann auf, wenn sie von der Polizei über eine der Prostitution bezichtigte Frau befragt wurden oder wenn bei der verhafteten Frau Briefe von ihm gefunden wurden. Diese Briefe erlauben einen etwas intimeren Blick auf die Freier.63 Sie dienten als Kommunikationsmittel zwischen Freier und „Dirne“, zur Vereinbarung von Rendezvous oder zum Austausch von Grüßen. Den Frauen ermöglichten sie, sich bei einem Kunden in Erinnerung zu rufen und sich so eine Stammkundschaft aufzubauen. Während die einen Männer in den Briefen eine grobschlächtige Sprache verwendeten, ohne Umschweife nach einer halben Stunde Besuchszeit fragten und etwa vermerkten, sie bekomme „auch 10 Fr für ein guten Fick“64, verwendeten andere eine etwas freundlichere Wortwahl, um ein Rendezvous zu erbitten. Es gibt Briefe, die von einer emotionalen Bindung des Freiers an die Pros­ tituierte berichten, die bis zur Verliebtheit reichen konnte.65 Bekannt ist ebenso, dass die Freier aus allen Gesellschaftsschichten stammten. Schlecht bezahlte Arbeiter fanden Sex in ihrer Preisklasse, etwa bei einfachen Straßenprostituierten, Kellnerinnen oder in billigen Bordellen. Gut Betuchte dagegen konnten sich Luxusprostituierte leisten, gingen in Bordelle der gehobenen Klasse oder zu Droschkenprostituierten. Wie Johann Friedrich Schneeberger ausführt, fand man(n) diese „feineren Damen“ statt in den Lauben und Gassen vor dem Theater, auf den Promenaden oder auf den guten Plätzen im Theater oder bei Konzerten.66

61 Vgl. Eder, Kultur, 2002, S. 189 (mit ausführlichen Literaturverweisen); zudem Ulrich, Bordelle, 1985, S. 80 f.; Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 52 f. 62 Schneeberger, Prostitution, 1872, S. 56. 63 Vgl. zum Briefverkehr zwischen Freier und „Dirne“ Bochsler, Martha, 2004, S. 22 – 27; Germann, Abend, 2004, S. 28 – 33. 64 Germann, Abend, 2004, S. 29. 65 Vgl. Bochsler, Martha, 2004, S. 25 f.; Germann, Abend, 2004, S. 31. 66 Schneeberger, Prostitution, 1872, S. 55.

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2.2 Lebensläufe von Prostituierten In den 1920er Jahren erschien ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel „Wie sie dazu kamen – Lebensfragmente bordellierter Mädchen“.67 Es zeichnet Lebensläufe von „Bordellmädchen“ im süddeutschen Baden (heute Baden-Baden) nach. Die Lebensgeschichten wurden von einer Frau niedergeschrieben und nicht, wie damals üblich, von einem Mann und potenziellen Freier – mit teils voyeuristischem Blick, wissenschaftlicher Nüchternheit, statistischer Trockenheit, moralischer oder klassen­ kämpferischer Empörung.68 Obwohl das Buch erst 1928 erschien, ziehe ich es hinzu, weil es einen intimen Einblick in das Leben von Prostituierten gewährt. Die Hinzunahme einer süddeutschen Quelle ist deshalb nicht abwegig, weil die „Bordellmädchen“ äußerst mobil waren und häufig ihren Arbeitsort im In- und Ausland wechselten. Um den spezifischen Wert dieser Quelle zu verdeutlichen, werde ich zuerst ihre spannende Entstehungsgeschichte darstellen, um danach zwei exemplarische Lebensläufe zu skizzieren sowie Parallelen und Unterschiede zu den anderen Lebensläufen des Buches zu ziehen.

67 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928). Die Originalausgabe von 1928 beinhaltet 35 Lebensläufe, die Neuausgabe von 1985, aus der die hier vorgestellten Lebensläufe stammen, 18. Die Ausgabe von 1985 enthält neben dem Vorwort von Elga Kern aus der ersten Ausgabe ein Nachwort der Herausgeberin Hanne Kulessa. 68 Prostituierte darstellende Literatur und Kunst war von Männern dominiert, Werke von Frauen sind quasi inexistent, wie Charles Bernheimer in seiner Untersuchung zu den männlichen Repräsentationen von Prostituierten im Frankreich des 19. Jahrhunderts feststellt (vgl. Bernheimer, Figures, 1989, S. 6). Dies gilt, wie gesagt, auch für die fiktiven Biografien des deutschen Sprachraums. Von Männern niedergeschriebene Biografien von „Dirnen“ sind etwa: Schneider, Kurt. Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prostituierter. In: Lilienthal, K. v.; Schott, S.; Wilmmans, C. (Hg.). Abhandlungen aus dem Gesamtgebiet der Kriminalpsychologie, Heft 4. Berlin 1921; Hammer, Wilhelm. Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen und zehn Beiträge zur Behandlung der geschlechtlichen Frage. Berlin o. J. (ca. 1905); Röhrmann Carl. Der sittliche Zustand von Berlin nach Aufhebung der geduldeten Prostitution des weiblichen Geschlechts. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenwart. Nachdruck, Leipzig 1981 (1846). Es kamen auch Biografien von einzelnen Prostituierten auf den Markt, die gemäß Buchtitel von diesen selbst stammten, jedoch in Tat und Wahrheit von einem Mann niedergeschriebene Pornografie waren. Etwa: Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt. O. O. und J. (ca. 1906). Oder: Die verruchtesten Witze, Anekdoten, Histörchen und Skandalgeschichten der Lebedame Fanny Hill. Von ihr selbst erzählt. O. J. 1749.

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Eine Untersuchung im Bordell Elga Kern, die Verfasserin der Lebensläufe, war eine deutsche Ärztin, Publizistin und Übersetzerin.69 Anfang 1927 beschloss sie, in den Bordellen der süddeutschen Stadt Baden sozialpsychologische Studien zu machen.70 Bestärkt wurde sie in ihrem Vorhaben „durch die immer mehr sich zuspitzenden Kämpfe der Reglementaristen und der Abolitionisten vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes zu Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, das die reglementierte Prostitution aufheben sollte und von dessen Auswirkungen nun jede der beiden Kampfesfronten die Erfüllung der eigenen Erwartungen, der eigenen Prophezeiungen, die Rechtfertigung der eigenen Stellungnahme abzuleiten bereit war.“71 Am 1. Oktober 1927 trat in Deutschland das Gesetz betreffend Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Kraft, was für die Aboli­ tionisten einen großen Erfolg ihrer Bemühungen bedeutete.72 Ab diesem Zeitpunkt wurden die bestehenden Bordelle geschlossen. Elga Kern wollte vor der Schließung der Bordelle Interviews mit den „Bordellmädchen“ machen, um über deren Leben unter dem Regime der sittenpolizeilichen Reglementierung der Prostitution Aussagen machen zu können. Sie wollte mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur heftigen Diskussion über den Umgang mit der Prostitution leisten. Außerdem, und in ihren Augen noch wichtiger, wollte sie als Frau eine Studie über Prostituierte machen. Kern begann im Juli 1927 mit den Interviews. Sie ging direkt in die Bordelle, zu den Frauen und Mädchen, und interviewte sie in ihrem gewohnten Umfeld. Der Gang ins Bordell kostete sie einiges an Überwindung: „Es war in der Tat für mich keine 69 Elga Kern wurde 1888 in München geboren. Sie stammte aus einer jüdischen Familie und lebte vor allem in Baden (heute Baden-Baden), später in Polen. Der Verlag, der ihre Lebensläufe und andere Werke von ihr publizierte, vermutete, dass sie 1933 emigrierte (vgl. das Nachwort der Herausgeberin Hanne Kulessa, in Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 149). Wohin sie ging, ist nicht bekannt. Sie überlebte das Dritte Reich und starb 1955 in Deutschland (zu Elga Kerns Lebenslauf: Röhling, Jürgen. „Sollten wir nicht versuchen, Frau K. endlich das Handwerk zu legen?“ Elga Kerns Buch Vom alten und neuen Polten und die Akte Elga Kern im Auswärtigen Amt Berlin. In: Brandt, Grenzüberschreitungen, 2006, S. 171 – 186. hier S. 171 – 173). 70 Vgl. zum Folgenden das Vorwort von Elga Kern: Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 7 – 15. Kern plante zudem, nach Ablauf von zwei Jahren katamnestische Untersuchungen aufzunehmen (Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 15), was sie jedoch nie durchführte. 71 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 8. 72 Die sittenpolizeiliche Überwachung der Prostitution wurde durch eine medizinische ersetzt. Die Gesundheitsbehörde sollte fortan die Kontrolle und Behandlung der Geschlechtskrankheiten übernehmen. Das Gesetz, das die Abolitionisten als Erfolg werteten, beinhaltete, dass beide Geschlechter gleichermaßen von Gesundheitsmaßnahmen betroffen waren, wenn sie verdächtigt wurden, geschlechtskrank zu sein. Andererseits mussten sich Prostituierte nun nicht mehr automatisch einer Zwangsuntersuchung unterziehen (vgl. Wolff, Geburtstag, 2009, S. 28 f.).

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Kleinigkeit, monatelang täglich mehrere Stunden in dieser Umgebung zu arbeiten, besonders deshalb, weil die Auseinandersetzungen mit den Bordellwirten, das Zusammentreffen mit allen möglichen unwünschbaren Existenzen und nicht zuletzt die oft an mittelalterliche Zustände gemahnende Örtlichkeit und manches andere mehr fast unerträglich waren. Nur die stärkende Gewissheit, an der Lösung einer so schwierigen und drängenden Aufgabe mitschaffen zu können, liess mich diese inneren Hindernisse überwinden.“73 Vonseiten der Prostituierten schlug ihr zu Beginn Misstrauen und Ablehnung entgegen und sie wurde von den Frauen wiederholt gefragt, ob sie nicht von der Polizei oder der Fürsorge sei. Im Allgemeinen, so schreibt Kern, sei es jedoch nicht schwierig gewesen, nach der Überwindung des ersten Misstrauens die Frauen zur Beantwortung der Fragen zu veranlassen. Die Lebensfragmente bestehen aus drei Teilen: die jeweiligen Äußerungen der Frauen, der Befund von Kern und die Aussagen aus amtlichen Akten und von Pfarr­ ämtern. Der erste Teil, die Interviews, sollten nach Kern vorwiegend den Psychologen und Pädagogen nützlich sein sowie eine „breite Leserschaft“ erreichen.74 Der Schwerpunkt der Interviews liegt auf der Zeit vor dem Eintritt ins Bordell, der „Zeitspanne bis zum offensichtlichen Abbiegen von der sittlichen Norm“.75 Kern stellte in allen Interviews die gleichen Fragen. Themen sind Familienverhältnisse, Schulzeit, Entwicklungsjahre und die Zeit bis zum Eintritt ins Bordell. Aber auch über das Leben im Bordell will Elga Kern Auskunft erhalten. Sie interessiert die Beziehung zu den Freiern, die erwünschten sexuellen Dienstleistungen, der Bordellalltag, die Freizeitbeschäftigung der Frauen und die Zufriedenheit mit dem Leben im Bordell. Während des Interviews prüfte sie durch eingestreute Fragen das Schulwissen und die Intelligenz.76 Kern hatte zu jenem Zeitpunkt noch keine Kenntnisse der Akten und Aussagen der Pfarrämter. Sie wollte den Frauen „so wenig voreingenommen wie nur irgend möglich gegenübertreten“.77 Der zweite Teil, der Bewertungsteil, den sie „Befunde und Feststellungen“ nannte, ist – zeittypisch – von Beschreibungen des Äußeren der Frauen, der Physiognomie, des Auftretens, des Gesprächsverlaufs etc. geprägt. Er legte den Fokus auf die äußere

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Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 10. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 9. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 12. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 12 f. Die Intelligenzprüfung bestand in der Definition konkreter Gegenstände, wie Bett, Handschuhe, Stadt, Dorf, und der Definition abstrakter Begriffe, wie Freiheit, Wahrheit, Monarchie, Frieden, Krieg. Zudem mussten die Frauen das Sprichwort „Wer andern eine Grube gräbt …“ erklären. Kern stellte des Weiteren Verstandesfragen, etwa, ob Stehlen oder Töten schlimmer sei, oder was die Frauen vom neuen Gesetz zu den Geschlechtskrankheiten hielten. 77 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 14.

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Erscheinung, etwa auf Haartracht, Kleidung, Körperpflege, Bewegung, Mimik und bevorzugte Farben. Den Befund schrieb Kern immer am Tag der Befragung auf.78 Im dritten Teil zog sie Aussagen von Pfarrämtern und aus Polizei- und Fürsorgeakten hinzu. Die Aussagen der Pfarrer dienten Kern dazu, den Wahrheitsgehalt der Angaben der „Dirnen“ zu überprüfen. Kern misstraute offenbar den Frauen, während sie den Pfarrern eine objektive Sichtweise zuschrieb. Ihre Vorurteile über die „Lügenhaftigkeit“ der Prostituierten bewahrheiteten sich während ihrer Interviews jedoch nicht, wie sie anmerkte: „Meine Befürchtung, dass die Mitteilungen dieser Frauen mit noch grösserer Vorsicht aufgenommen werden müssten, als dies im allgemeinen bei Angaben über Herkunft, Erlebnisse usf. der Fall ist, bestätigte sich nicht; denn wenn ich schon im Verlaufe der Unterredung in den allermeisten Fällen den Eindruck gewinnen musste, dass die Mädchen den ehrlichen Wunsch hatten, mir wahrheitsgetreu Rede zu stehen, so rechtfertigte die Übereinstimmung des Akteninhaltes und der Antwort der Pfarrämter mit den Aussagen diese Annahme durchaus. Auch ein Fall von Pseudologia phantastica, wie der der Julia Anselmo, oder die verschiedenen kleineren Abweichungen, die auf Versagen des Erinnerungsvermögens, des Gedächtnisses zurückzuführen sind, berechtigen nicht dazu, anzunehmen, dass diese Mädchen lügenhafter seien als andere Menschen.“79 Gegenüber den Behördenakten zeigte sich Kern hingegen skeptisch und kritisch eingestellt. Die Fürsorgeakten seien „nicht ganz frei von subjektiver Einwirkung“.80 Und auch die Polizeiakten seien „äusserst einförmig“ und könnten nicht als „Wahrheitsfeststellung“ angesehen werden, weil die Angaben der Frauen „sehr subjektiver Art“ seien.81 Einerseits kämen die Frauen in den meisten Fällen „unter einem sie ganz beherrschenden fremden Einfluss“ aufs Inspektorat, um sich erstmals infolge der Reglementierung als registrierte Prostituierte unter Kontrolle nehmen zu ­lassen. Andererseits seien auch die Beamten nicht immer objektiv: „Es kommt noch hinzu, dass der protokollierende Beamte beim besten Willen unter den gegebenen Umständen und bei den notwendigen Formalitäten nicht immer objektiv bleiben kann.“82 Kern war sich gewisser Problematiken von Untersuchungsakten demnach bewusst. Ihre eigene subjektive Sichtweise reflektierte sie gleichwohl nicht, ebenso wenig jene der Pfarrer. Mich interessieren hier von den drei Textteilen einzig die Interviews. Es sind die Lebensläufe der Frauen, die ins Blickfeld gerückt werden sollen, und nicht etwa der Blick von außen auf die „Dirnen“, die Einbettung des Textes in die zeitgenössischen 78 79 80 81 82

Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 12. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 11. Hervorhebungen im Original. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 14. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 14. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 14.

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politischen Prostitutionsdebatten oder zeitgenössische Untersuchungsmethoden. Elga Kern schreibt, sie habe sich bei den Interviews „einstweilen nur zur Aufgabe gemacht, den Lebensweg dieser periodisch ausserhalb der anerkannten Normen, abseits der bürgerlichen Rechte lebenden Frauen bis zur Gegenwart zu verfolgen und aufzuzeigen“.83 Für die Interviews habe sie „die Aussagen bzw. die Antworten der Mädchen“ „wörtlich festgehalten“, sodass „die Ausdrucksweise der einzelnen unverfälscht sich widerspiegelt“.84 Sie habe „selbst in keinem einzigen Falle etwas hinzugefügt, so dass es sich also um Originalien“ handle. 85 Nur „ganz selten einmal“ habe sie es „für richtig erachtet, zu starke Ausfälle zu streichen“.86 Kerns Aussage muss jedoch dahin gehend relativiert werden, als der Text nicht in Interviewform verfasst ist und keine wortwörtliche Wiedergabe der Aussagen enthält. Nicht ersichtlich sind die Fragen von Kern und die direkten Antworten der Befragten. Ferner ist der Text nicht in Ich-Form geschrieben. Vielmehr schrieb Kern die Aussagen der Frauen in indirekter Form nieder. Aber wenn auch aufgrund der damals nicht vorhandenen technischen Hilfsmittel (Aufnahmegeräte), des mit Vorurteilen und Emotionen aufgeladenen Themas Prostitution, der spezifischen Absichten und Intentionen Kerns sowie des unweigerlich subjektiven Blicks von Kern auf die Frauen und deren Aussagen Abweichungen und Interpretationen im Text nicht zu negieren sind, so liegt hier doch eine Quelle vor, die zumindest teilweise wie ein Sprachrohr der „Dirnen“ funktioniert. Diese spezifische Qualität des Interviewteils ist es, was diese Quelle mangels Selbstzeugnissen von Prostituier­ten so wertvoll macht.

Lebensläufe von Bordellmädchen Erna Wagner

Erna Wagner war zur Zeit des Interviews eine dreißigjährige Frau, klein, schlank und blondhaarig, mit dunklen Augen und „grobem Gesichtsschnitt“.87 Ihr Vater war Polizeibeamter, dessen Einkommen der Familie mit vier Kindern ein Leben ohne finanzielle Not ermöglichte. Mit ihrem Vater, der sehr an seinen Kindern und insbesondere an Erna Wagner hing, verband sie eine große Zuneigung. Zur Mutter hingegen, die sie als herb, streng und verschlossen erlebte, bestand eine schwierige Beziehung. Sie fühlte sich als Kind von der Mutter gehasst, ungerecht behandelt 83 84 85 86 87

Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 15. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 11. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 11. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 11. Zum Interview mit Erna Wagner vgl. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 132 – 142.

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und gequält. Die Mutter gab sie mit zwei Jahren zu einer kinderlosen Tante, die ein Hotel betrieb. Erst mit zwölf Jahren kehrte sie in ihr Elternhaus zurück. In der Höheren Mädchenschule hielt sie es nicht aus. Ebenso wenig von Erfolg gekrönt war ihr Besuch der Mittelschule. Mit 13 Jahren verließ sie diese und wollte vorerst bügeln lernen. Ihre Geduld habe dazu jedoch nicht gereicht. Danach folgten zwei Versuche, Verkäuferin zu werden. Einer der Arbeitgeber ging jedoch Bankrott, der andere beschuldigte sie, geklaut zu haben. Sie blieb eine Weile zu Hause und brannte dann – bereits zum zweiten Mal – von zu Hause durch. Sie ging vorübergehend zu ihrem Großvater in die Landwirtschaft, wo sie sich glücklich und frei fühlte. Später zog sie mit einer Freundin in die Fremde. Dort machte sie ihre erste Begegnung mit der Sittenpolizei. In einem Hotel wurde sie von der Polizei aufgegriffen, jedoch nach ein paar Stunden wieder freigelassen. Warum sie verhaftet worden war, erfahren der Leser und die Leserin nicht. Die Sittenpolizei schickte sie wieder in ihr Elternhaus zurück, wo sie eine Zeit lang blieb. In diese Zeit fiel ihre Verlobung mit einem jungen Mann. Nach einem Jahr Verlobungszeit drohte er ihr, eine andere zu suchen, wenn sie weiterhin keinen Geschlechtsverkehr hätten. Seinem Druck nachgebend machte sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Nach einem erneuten Weglaufen aus ihrem Elternhaus – ausgerüstet mit von den Eltern ertrickstem Geld – wurde sie erneut von der Sittenpolizei in einem Hotel in L. festgenommen; diesmal explizit wegen „gewerbsmässiger Unzucht“. Bis dahin hatte sie den Begriff „gewerbsmässige Unzucht“ nicht gekannt. Der Grund ihrer Verhaftung war, dass die Polizei auf ihrem Tisch eine Visitenkarte eines Herrn fand. Sie sagte im Interview, sie hätte sich „nie erinnern können, dass damals ein Mann mit ihr im Zimmer zusammen gewesen“ sei.88 Bei ihrer Festnahme wurde sie als tripperkrank diagnostiziert. Nach ihrer Genesung kam sie für acht Tage in Haft und danach für acht Tage Arbeitsstrafe in eine Bleistiftfabrik. Im Gefängnis erfuhr sie von einer Mitinhaftierten zum ersten Mal vom Bordell. Der Aufforderung der Mitgefangenen, sie doch einmal zu besuchen, ging sie nach – teils aus Neugierde, teils aus Lange­ weile, wie Erna Wagner berichtete. Im Bordell kam ihr die „Freundin“ in einem eleganten schwarzen Spitzenkleid entgegen und ihr wurden Kaffee und Gebäck aufgetragen. Erna Wagner kam sich „wie im Märchen“ vor. Sie dachte, das müssten reiche Leute hier sein und wollte unbedingt gleich dableiben, „ohne recht zu wissen, was in dem Hause eigentlich vorginge“.89 Weil sie noch nicht 21 Jahre alt war und damit noch minderjährig, wollte sie die Bordellinhaberin nicht aufnehmen. Der Wunsch, in einem solch „märchenartigen“ Haus zu leben, gewann jedoch überhand. Widerwillig kehrte sie vorläufig erneut nach Hause zurück. Dort blieb sie exakt bis zu ihrem 21. Geburtstag, an dem sie zum letzten Mal durchbrannte und am selben 88 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 136. 89 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 137.

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Abend noch in einem Bordell einzog. Als Beweggründe für den Eintritt im Bordell gab sie den Wunsch nach schönen Kleidern, Neugier und „vielleicht auch Arbeitsunlust“ an.90 Die Eltern wussten lange nichts von ihrer Tätigkeit als Prostituierte. Im Bordell hatte sie ihren ersten bezahlten Geschlechtsverkehr und wurde bereits nach sechs Wochen schwanger. Sie blieb im Bordell, bis der Arzt sie aus Angst vor einer Fehlgeburt in die Frauenklinik schickte, wo sie bis zur Entbindung arbeitete. Das Kind starb nach drei Monaten. Sie kehrte danach vorerst in ihr altes Bordell zurück, wechselte dann immer wieder die Häuser und die Städte und wurde des Öfteren wegen Geschlechtskrankheiten ins Krankenhaus eingeliefert. Sie stand in dieser Zeit immer unter Kontrolle der Behörden, außer einmal, als sie von einem amerikanischen Freier aus dem Bordell geholt wurde. Der Amerikaner hielt sie aus und verlobte sich schließlich mit ihr. Sein plötzlicher Tod verhinderte jedoch die geplante Heirat. Die Zeit mit dem Amerikaner beschrieb Erna Wagner als schönste Zeit ihres Lebens. Im Nachhinein realisierte sie jedoch, dass sie ihn nicht geliebt hatte, sondern ihm „nur“ gut gewesen sei. Nach seinem Tod kehrte sie ins Bordell zurück, in die „alte Gleichgültigkeit, das Glück der Bordellmädchen“.91 Zum Zeitpunkt des Interviews beabsichtigte sie, einen jungen Kaufmann aus einer „achtbaren Familie“ zu heiraten, der „sehr gut zu ihr sei, der sie eigentlich nicht ausnütze und sich sehr um sie sorge“.92 Über die Sexualität mit fremden Männern berichtete sie, es mache ihr „durchaus keinen Spass“.93 Im Gegenteil seien ihr die Männer, die ins Bordell kämen, „meistens widerlich, und nachdem sie das Geld erhalten, habe sie jedes Mal nur den einen Wunsch, der Betreffende möge so bald wie möglich verschwinden“.94 Anders sei es hingegen, wenn „man einen lieb habe“.95 „Perversitäten“ mache sie, weil es am meisten Geld einbringe. In ihrer Freizeit las sie viel (deutsche Literatur wie Schiller und Goethe, hingegen „perverse Bücher“ lese sie nur, um die Zeit totzuschlagen) und hörte gerne Musik. Sie trieb Sport, turnte täglich und lernte Motorrad fahren. Täglich trank sie ein Glas Bier und rauchte bis zu sechzig Zigaretten. Betrunkene Menschen waren ihr zuwider. Gegenüber diesen wurde sie aggressiv und schlug gerne zu. Das Zuschlagen bedeutete für sie eine „Erleichterung, auf diese Weise die manchmal im Übermass sich anhäufende Wut abzuleiten“.96

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Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 137. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 138. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 139. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 138. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 138. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 138. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 139.

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Polina Taczewska Im Gegensatz zur Deutschen Erna Wagner wuchs die in Galizien geborene Polina Taczewska in armen Verhältnissen auf.97 Ihr Vater, ein Arbeiter, starb früh. Polina Taczewska besuchte vier Jahre lang die Schule und lernte „notdürftig Lesen und Schreiben und etwas Rechnen“. Mit elf Jahren schickte sie der Pfarrer von der Schule weg, mit der Begründung, sie habe nun genug gelernt. Sie kam daraufhin in fremde Dienste bei einer Bauernfamilie, wo sie auf dem Feld und im Stall half. Ihren ganzen Verdienst musste sie der Mutter abgeben. Trotzdem ging es ihr dort gut, wie sie festhält, erhielt sie doch immer genug zu essen. Sie blieb eineinhalb Jahre und kehrte dann nach Hause zurück, wo sie in einer Fabrik arbeiten ging. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden alle Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen. Polina Taczewska ging zu ihrer Schwester, die eine Weile für sie sorgte und ihr dann Arbeit in einer Fabrik vermittelte. Sie verlobte sich mit einem Mann, den sie bereits von der Schule her kannte. Der Bräutigam starb nach schwerer Verwundung im Krieg. Durch einen Unfall am Arbeitsplatz verlor Polina Taczewska ihren linken Arm in einer Maschine. Sie erhielt daraufhin von der Versicherung monatlich etwas Geld. Auf dem Feld arbeiten konnte sie fortan nicht mehr, deshalb versuchte sie ihr Glück nochmals in einem Fabrikbetrieb, diesmal in Deutschland. Sie arbeitete vier Jahre, wurde dann aber arbeits- und obdachlos. In dieser schwierigen Situation lernte sie einen „Herrn“ kennen, mit dem sie in einem Hotel Geschlechtsverkehr hatte. Er gab ihr kein Geld, sondern kaufte ihr Sachen. Sie wurde jedoch von der Polizei erwischt und erhielt dreimal eine Haftstrafe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, dass mit Sex Geld zu verdienen war. Als bei ihr Tripper diagnostiziert wurde, kam sie ins Krankenhaus. Nach ihrer Genesung wurde sie wieder mit einem Mann in einem Hotelzimmer erwischt und unter Zwangskontrolle gestellt. Obwohl sie in ihrer alten Dienststelle hätte arbeiten können, kam sie nicht mehr aus der Zwangskontrolle frei. Denn ein „Oberst“ auf der Polizeidirektion hatte sie vor die Wahl gestellt: entweder aus Deutschland ausgewiesen zu werden oder sich als kontrolliertes „Bordellmädchen“ einzuschreiben. Polina Taczewska sah denn auch die Hauptschuld, dass sie im Bordell landete, bei der Polizei. Anfänglich gefiel es ihr im Bordell nicht. Sie genierte sich furchtbar. Dann aber bekam sie Freude am Geld, sie, die zuvor immer nur Armut gekannt hatte. Wenn man „so jung und so arm und so weit von der Heimat“ sei, dann „sei man leicht mit Geld zu verführen“.98 Während ihrer Zeit als kontrolliertes „Bordellmädchen“ war sie oft wegen Trippers oder Syphilis im Krankenhaus. Zudem wurde sie Mutter von Zwillingen, die bei ihrer Schwester aufwuchsen. Einmal pro Woche besuchte Polina Taczewska ihre Kinder, die sie als ihre einzige Freude bezeichnete. Seit der Geburt 97 Zum Interview mit Polina Taczewska vgl. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 55 – 60. 98 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 57.

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lebte sie sehr sparsam, weil sie das Geld für die Kinder brauchte. Polina Taczewska machte sich nach der Schließung der Bordelle große Sorgen um ihre Zukunft. Sie hatte Angst vor einer Ausweisung aus Deutschland und davor, nicht genug Geld für ihre Kinder verdienen zu können. Die Sexualität war für sie ein reines Geschäft, auch die „Perversitäten“, die manche Kunden verlangten. Nur bei ihrem Freund empfand sie „etwas, aber sie brauche dies nicht zum Leben“.99 Gegenüber den Freiern wurde sie manchmal sehr heftig und vergriff sich an ihnen. Vor den Menschen hatte sie Angst, weil sie von ihnen schon viel Böses erfahren habe. Gegenüber ihrem Freund, einem arbeitslosen Kaufmann, der mit Musik sein Geld verdiente, war sie misstrauisch, auch wenn er sie gut behandelte, nie Geld von ihr verlangte und ihr die Heirat versprochen hatte. Polina Taczewska berichtete zum Schluss des Interviews, sie sei froh, dass Elga Kern nicht wie die typischen Fürsorgefrauen aussähe, die „gross und dick“ seien und graue Haare und eine Brille auf der Nase hätten.100 Vor Menschen mit grauen Haaren und einer Brille fürchte sie sich. Dagegen könne sie einem Menschen wie Elga Kern „viel eher sagen, wie es ihr ums Herz sei“.101 Parallelen und Unterschiede zu anderen Lebensläufen

In den Berichten von Erna Wagner und Polina Taczewska tauchen biografische Elemente auf, die auch in anderen von Elga Kern publizierten Lebensläufen wiederholt anzutreffen sind. Die von Polina Taczewska angesprochene Angst vor Fürsorgerinnen wurde von anderen Frauen geteilt. Zwei der Befragten äußerten sich gar abfällig gegenüber der Fürsorge. Ella Ziegler klagte, dass die Fürsorge „ewig Kontrolle aufnehme und alles ausschnüffle und doch keiner helfe“.102 Sie schimpfte im ersten Interview derart über die Fürsorge und geriet darob in eine solche Aufregung, dass Elga Kern das Gespräch abbrach. Auch Gertrud Brenner hatte schlechte Erfahrungen mit der Polizei und der Fürsorge gemacht. Vor allem mit Letzterer wollte sie „gar nichts mehr zu tun haben“.103 Mit deutlichen Worten sagte sie: „Lieber im Strassengraben krepieren; das seien ja lauter scheinheilige Frauenzimmer, die vom warmen Herd und dem Fettopf noch nie weggekommen und dann sich anmassten, über ein unglückliches Menschenkind zu urteilen.“104

99 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 58. 100 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 59. 101 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 59. 102 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 74. 103 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 65. 104 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 65.

Lebensläufe von Prostituierten

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Wie die Historikerin Victoria Harris für Deutschland gezeigt hat, standen viele Prostituierte den Fürsorgerinnen mit mehr Abneigung gegenüber als der Sittenpolizei.105 Die Beziehung zu den Eltern wird in den Lebensläufen häufig als schwierig dargestellt. Eva Salwsky wollte im Interview gar nichts über ihr Elternhaus erzählen, weil sie sonst Selbstmordgedanken kriegen würde. Auch Gertrud Brenner sagte nichts über ihre Vergangenheit, weil sie sonst wochenlang verstört sei. Einige berichteten von sexuellem Missbrauch durch ihre Väter oder Stiefväter. Aber auch Missbrauchs­ erlebnisse durch andere Männer tauchen wiederholt in den Interviews auf. Ernestine Weiler etwa erzählte, ihr Stiefvater habe sie „dauernd gebrauchen“ wollen, die Mutter habe ihm scheinbar nicht mehr gefallen. Ihre Mutter ging deshalb einmal aus Eifersucht mit einem Messer auf ihre eigene Tochter los. Anna Merkl berichtete, sie sei mit 16 Jahren von einem jungen Mann vergewaltigt worden. Sie hatte danach Angst vor Männern. Geldnot trieb sie schließlich aber doch in den „Puff “. Einige der Frauen kamen früh in ein Erziehungsheim. Teilweise wurden sie von ihren Eltern, die nicht mehr mit ihnen zurechtkamen, eingewiesen. Ihre Erfahrungen in den Heimen waren sehr unterschiedlich. So berichtete Gertrud Brenner, in der Fürsorgeerziehung bei katholischen Ordensschwestern „habe sie mehr Gemeinheiten kennengelernt – als im Puff “.106 Ella Ziegler dagegen, die von ihren Eltern ins Heim eingewiesen wurde, weil sie in einer „Animierkneipe“ arbeitete, war „eigentlich recht gern dort gewesen“, weil sie viel gelernt habe.107 Sie meinte, sie hätte die Gelegenheit nutzen sollen, um „etwas Ordentliches zu lernen“, dann hätte sie in einem anderen Beruf arbeiten können.108 Wie Erna Wagner erzählten auch andere Frauen von schwierigen Liebesbeziehungen mit Männern. Else Brunner heiratete einen Mann, der sie auf den Strich und später ins Bordell schickte und von ihrem Verdienst lebte. Barbara Hess war mit einem Mann verheiratet, der sie ausnutzte. Sie wollte sich scheiden lassen und einen anderen Mann heiraten, den sie kennengelernt hatte. Ihr Ehemann war jedoch unauffindbar. Grete Richter, mit 16 Jahren verheiratet und junge Mutter eines Kindes, wurde von ihrem Mann geschlagen und misshandelt. Eines Tages verschwand er spurlos und nahm all ihr Hab und Gut mit. Später kehrte er immer wieder zu ihr zurück und sie nahm ihn aus Liebe wieder auf. Julia Anselmo wurde von einem Mann geschwängert, der sie daraufhin sitzen ließ. Ein anderer lebte von ihrem Verdienst, verschwand eines Tages mit einer anderen Frau und nahm ihr ganzes Geld sowie ihre Habseligkeiten mit.

105 Harris, Sex, 2010. 106 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 66. 107 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 71. 108 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 71.

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Die Beweggründe der Frauen, in ein Bordell einzutreten, waren sehr unterschiedlich – wenn sie überhaupt frei über den Eintritt entscheiden konnten. Berta Munk etwa berichtete, dass sie im Krankenhaus erstmals vom „Puff “ hörte; „man könne dort viel Geld verdienen, schöne ‚Kleeder’ kaufen“.109 Diese Verheißungen seien ihr in den Kopf gestiegen. Eine andere Prostituierte meinte, sie habe romantische Vorstellungen vom „Puff “ gehabt und sei „ganz unwissend“ ins Bordell gegangen.110 „Schöne Kleider“ und eine „angenehme Existenz“ schwebten ihr vor.111 Andere wurden von Kupplerinnen unter falschen Versprechungen in ein Bordell gebracht. Ida Schüsser kam durch ein zwielichtiges „Stellenvermittlungsbüro“ in den „Puff “, das Arbeit suchende Frauen unter Vorspielung falscher Tatsachen ins Bordell vermittelte. Eine andere sagte, sie sei ins Bordell gegangen, weil „man in den Häusern nicht lange lebe“.112 Wieder eine berichtete, der Hunger habe sie in die Prostitution getrieben.113 Es gab Frauen, die aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen in den Frauenberufen ins Bordell gingen. Gertrud Brenner erzählte, sie sei „mit Überlegung und nicht aus Not“ ins Bordell gegangen.114 Sie ging vorher „ehrlicher Arbeit“ nach, diese sei ihr aber schlecht bekommen. Als Verkäuferin, Hilfsschwester und Dienstmädchen versuchte sie sich. Über die Arbeit als Dienstmädchen ließ sie sich besonders aus. Sie arbeitete für drei Tage in einer Dienststelle. Die „gnädige Frau“, die ihrerseits „keinen Finger krumm“ machte, drangsalierte sie „vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein“.115 In einem ungeheizten Lattenverschlag unter dem Dach musste sie schlafen. Es war im Dezember und Gertrud Brenner vermerkte, es wundere sie noch heute, dass sie nicht „in dem elenden Bett eingefroren“ sei.116 Und sie fügte an, „da sei es im Puff immer noch gemütlicher“.117 Einige der Befragten berichteten, dass sie vor ihrem ersten Kontakt mit der Sittenpolizei oder vor ihrem Eintritt ins Bordell nichts vom auch in den Unterschichten stark tabuisierten Sexgewerbe gewusst hätten. Wie Erna Wagner berichteten auch andere, dass ihre Eltern nichts oder erst nach einer Weile von ihrem Bordelldasein erfahren hätten. Hedwig Klugmann beispielsweise hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter und konnte jederzeit nach Hause gehen. Von ihrer Arbeit als Prostituierte erzählte sie ihr nichts. Auch Ernestine Weilers Eltern wussten nicht, wo sie arbeitete, weil sie sonst „nie wieder heim dürfe“.118 109 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 39. 110 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 128. 111 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 128. 112 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 72. 113 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 19. 114 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 66. 115 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 66. 116 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 66. 117 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 66. 118 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 109.

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Von eigenen Kindern berichteten ebenfalls zahlreiche Prostituierte. Einige sparten möglichst viel Geld für ihre Kinder oder besuchten sie regelmäßig. Andere erzählten von Fehlgeburten oder dem frühen Tod ihrer Kinder. Schwangerschaften und Versuche, diese zu verhindern, gehörten zum Lebensalltag der meisten Prostituierten. Sichere Verhütungsmethoden gab es nicht und der Schwangerschaftsabbruch war (in Deutschland wie in der Schweiz) illegal. Es wurden verschiedene Methoden angewandt, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern, und Abtreibungen wurden trotz Verbots teils unter lebensgefährlichen Umständen vorgenommen.119 Zum Berufsrisiko der Prostituierten gehörten ebenso Geschlechtskrankheiten, allen voran die weitverbreitete Syphilis, die bis zur Einführung des Penizillins 1945 mit wenig effektiven oder mit vielen Nebenwirkungen verbundenen Präparaten behandelt wurde.120 Zahlreiche Interviewte berichteten von immer wiederkehrenden Krankenhausaufenthalten zur Behandlung ihrer Geschlechtskrankheiten. Gegenüber den Freiern empfanden fast alle Befragten Wut, Hass und Verachtung, oder aber Gleichgültigkeit. Ihrer täglichen Arbeit, dem Geschlechtsverkehr mit Freiern, standen die einen mit Ekel und Wut gegenüber, andere waren von Gleichgültigkeit durchdrungen. Anna Merkl etwa berichtete, der „Verkehr mit Männern im Geschäft mache auf sie keinen grössern Eindruck als irgendeine andere Tätigkeit“.121 Freude und Empfindungen habe sie nur, wenn sie jemanden gern habe. Ella Ziegler sprach von ihrer Gleichgültigkeit, die sie seit ihrem Eintritt im Bordell erfülle. Sie mache „alles mit, wie es komme“.122 Beim Verkehr empfinde sie nichts, außer bei ihrem Freund. Einzig eine der Prostituierten gab an, „am Verkehr eine grosse Freude gehabt“ zu haben, jedoch mit einer klaren Einschränkung: „freilich nicht bei jedem, nur wenn ihr einer gefallen habe“.123 Elga Kern befragte die Frauen auch über von Freiern geforderten „perversen“ Sex. Berta Munk berichtete, sie „wundere sich immer, dass so viele Männer pervers seien. Und manchmal frage sie einen, woher dies komme“.124 Gertrud Brenner meinte, Perversitäten und Sex stehe sie gleichgültig gegenüber. Es mache ihr gar nichts aus, 119 Ein exzellenter und detaillierter Einblick in das Thema Verhütung und Abtreibung im Laufe der Geschichte bietet die Homepage des Museums für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch in Wien, die auch eine Onlinebibliothek mit digitalisierten Archivtexten zum Thema enthält, die laufend ergänzt wird: http://de.muvs.org/ (21. 1. 2011). Vgl. zudem Jütte, Lust, 2003; Ryter, Abtreibung, 1983. 120 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 203 – 208; Wick, Syphilitische, 1996; Turrian, Zauberkugel 2004. Der Syphiliserreger wurde 1905 identifiziert durch Fritz Schaudinn und Erich Hoffmann (Roelcke, Krankheit, 1999, S. 173). 121 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 122. 122 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 72. 123 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 92. 124 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 40.

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sie könne „so einen Kerl verprügeln, soviel er es wünsche“.125 Ella Ziegler erzählte, sie schlage im Allgemeinen nicht gern, „nur wenn sie eine Wut habe, mache es ihr Spass, die Männer zu vermöbeln. Und das erleichtere einen.“126 Eine andere Befragte berichtete, perverse Männer seien ihr lieber, „weil sie Männer am liebsten nicht an ihren Körper lasse“.127 Anna Merkl erzählte, anfangs habe sie mit perversen Männern nichts anfangen können. Heute hingegen mache sie alles fürs Geld und, „weil man ja auch die feineren Empfindungen in diesem Leben vollkommen einbüsse“.128 Die höheren Einnahmen bewegten manche der „Bordellmädchen“ dazu, trotz ihrer Abneigung perverse Männer zu „bedienen“. Mathilde Werner bemerkt während des Interviews, „das Geld bestimme im Bordell jede Handlung“.129 Sie selbst machte sich die Perversitäten von Freiern zunutze, um zusätzliches Geld zu verdienen: „Um Geld zu verdienen, tue sie manches. Um viel Geld zu verdienen: alles.“130 Auch Berta Munk sagte aus, sie mache alles, was Geld einbringe, „deshalb habe sie auch gute Kunden und verdiene gut“.131 Einige berichteten von lesbischen Beziehungen, die sie aufgrund ihrer Enttäuschung und Abneigung gegenüber Freiern eingegangen seien. Helene Szybelak etwa erzählte von einer Beziehung mit einem anderen „Bordellmädchen“, die zwar schwierig sei, dass aber auf „ein Mädel“ „mehr verlass“ sei.132 Ida Schüsser berichtete, sie habe einige Jahre als Lesbe gelebt, heute möge sie jedoch weder Männer noch Frauen. Keine der Interviewten beschrieb sich als glücklich mit ihrem Leben im Bordell. Einige sahen keine Möglichkeit, um aus der Prostitution herauszufinden. Zwei berichteten von Selbstmordversuchen. Andere erzählten von Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit, die sie ihrem ausweglosen Leben als „Dirne“ entgegenbrachten. Als starkes Motiv, warum die Frauen im Bordell blieben, taucht einige Male das Geld auf. Viele erhofften sich, aus dem Leben in der Prostitution herauszufinden. Der Wunsch, durch eine Heirat in die „achtbare Gesellschaft“ zurückzufinden, wie es Erna Wagner ausdrückte, taucht mehrmals auf. Dem Weg zurück blickten die Frauen jedoch meist mit Angst und Misstrauen entgegen. Die „Verachtung der Menschen“133 gegenüber ihnen als Prostituierte taucht dabei mehrmals auf. Helene Szybelak etwa erzählte, dass sie gerne ins „normale“ Leben zurück wolle. Sie fühle sich als Ausgestoßene und 125 126 127 128 129 130 131 132 133

Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 67. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 72. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 46. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 123. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 123. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 94. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 40. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 45. Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 95.

Reaktionen auf die Prostitution

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schäme sich, ihre Wohnadresse bekannt zu geben. Die Wohnungssuche gestalte sich schwierig und die Menschen würden schlecht von ihr als „Dirne“ denken. Und Ella Ziegler berichtete, sie wolle Kinderkrankenschwester werden. An den erwachsenen Menschen „habe sie sich den Magen verdorben“.134

2.3 Reaktionen auf die Prostitution Der Widerstand gegen die Reglementierung der Prostitution Die im Gefolge der Vergnügungs- und Freizeitindustrie zunehmend sichtbar werdende Prostitution blieb nicht ohne Reaktionen. Aus der Bevölkerung heraus formierte sich in der Schweiz im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine zunächst von Männern aus bürgerlichen und kirchlichen Kreisen getragene Protestbewegung. Am Diskurs über Prostitution hatten sich bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem medizinische und behördliche Kreise beteiligt, die Bevölkerung hingegen ignorierte diesen weitgehend.135 Seit den 1870er und 1880er Jahren mit der Großen Depression und deren Auswirkungen sowie dem raschen gesellschaftlichen Wandel und den damit verbundenen Verunsicherungen und Ängsten änderte sich dieser Umstand jedoch, als immer größere Teile der Bevölkerung die Prostitution und ihre sichtbaren Begleit­ erscheinungen kritisierten.136 Durch den diagnostizierten Anstieg der Prostitution in den rasant wachsenden Städten schien die bürgerliche Ordnung bedroht. Die Prostituierte wurde zum Sinnbild für die wankende gesellschaftliche Ordnung stilisiert.137 Auch die bürgerlichen Familien schienen in Gefahr zu sein, waren doch die Söhne und Väter, Ehemänner und Brüder durch die Prostituierten zahlreichen Verlockungen und Ansteckungsgefahren ausgesetzt. Der Widerstand gegen das Sexgewerbe ging zunächst primär von dezidiert religiösen Exponenten des Bürgertums aus. In Bern beispielsweise gelangte 1873 eine mit zahlreichen Unterschriften versehene Erklärung an den Gemeinderat,138 die sich entschieden, aber erfolglos gegen die Einführung von

134 Kern, Lebensfragmente, 1985 (1928), S. 70. 135 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 57. 136 Ängste und Vorbehalte gegenüber der Prostitution tauchen jeweils in Krisenzeiten oder kurz danach in erhöhtem Maße auf (vgl. Harris, Sex, 2010, S. 125; Luddy, Prostitution, 2007). Wie Maria Luddy zudem für Irland feststellt, wurde die Prostitution meist toleriert, wenn sie in den Straßen nicht sichtbar war (Luddy, Prostitution, 2007, S. 13). 137 Vgl. Walkowitz, City, 1992; Schulte, Sperrbezirke, 1979. 138 Memorial des Gemeinderathes der Stadt Bern an den Tit. Regierungsrat des Kts. Bern zur Verständigung über die gegen das Prostitutionsunwesen zu ergreifenden Massnahmen. Bern 1873, S. 55. StadtA Bern, Mappe „Prostitution“.

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öffentlichen Häusern oder die Patentierung der „Strassenmädchen“ wehrte. 139 Wie in Bern formierte sich auch in Zürich in den 1870er Jahren eine Widerstandsbewegung gegen das „Sündengewerbe“. Sie war eine direkte Reaktion auf das Inkrafttreten des neuen kantonalen Strafgesetzbuches am 1. Februar 1871, das Maßnahmen zur Reglementierung der Bordellprostitution einführte und heftige Debatten auslöste.140 1872 verlangte eine von Tausend vorwiegend der Predigergemeinde angehörenden Männern unterzeichnete Petition die Abschaffung der Bordelle und die Aufhebung der staatlichen Duldung der Prostitution mit der Begründung, „die staatliche Duldung zersetze die sittlichen Anschauungen der Bevölkerung, vermehre die Verrohung der Jugend, namentlich der betreffenden Quartiere, in erschreckender Weise, belästige die Nachbarschaft, korrumpiere die Polizei usw.“.141 Die Petition beklagte die Lage der Bordelle inmitten „ehrbarer“ Quartiere und das „unverschämte“ Treiben der „Dirnen“. Initiant war der Pfarrer der Predigergemeinde und Angehörige eines alten Zürcher Geschlechts, Pfarrer Hirzel.142 Die Petition war jedoch nicht von Erfolg gekrönt.143 Diese Initiativen entstanden als Reaktion auf Versuche der Regierung, das Sexgewerbe zu reglementieren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde eine umfangreiche Literatur über Prostitution verbreitet, welche die Notwendigkeit der staatlichen Reglementierung der Prostituierten unterstrich.144 Das System der Reglementierung erfuhr in europäischen Politiker- und Wissenschaftskreisen eine zunehmend breite Zustimmung. Mittels Registrierung und regelmäßiger medizinischer Untersuchung der Prostituierten sollten die Freier und gegebenenfalls deren Ehefrauen gegen die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten geschützt werden. Das System basierte auf einer 1836 vom französischen Hygieniker Alexandre Parent-Duchâtelet formulierten Theorie, nach der die Spermien des Mannes regelmäßig in Bordellen, abgeschirmt von der moralisch empfindlichen Öffentlichkeit, entleert werden müssten. 145 139 Memorial des Gemeinderathes der Stadt Bern an den Tit. Regierungsrat des Kts. Bern zur Verständigung über die gegen das Prostitutionsunwesen zu ergreifenden Massnahmen. Bern 1873, S. 56. StadtA Bern, Mappe „Prostitution“. 140 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 50 – 53; Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 61 – 63; Zehnder, Gefahren, 1891, S. 38 – 51. 141 Vgl. 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 4. Vgl. zur Petition ebd.; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 52 f. 142 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 52. 143 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938, S. 12. Der Stadtrat stimmte ihrer Beschwerde in einem Memorial zwar voll und ganz zu, jedoch lancierten daraufhin Ärzte einen Gegenschlag, der mehr Erfolg hatte (50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 4). 144 Gilman, Rasse, 1992, S. 133. Zur Reglementierung der Prostitution vgl. ausführlich Corbin, filles, 1978; Walkowitz, Prostitution, 1980; Jušek, Suche, 1994, S. 89 – 123; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 33 – 46. 145 Sarasin, Maschinen, 2001, S. 382. Zu Alexandre Parent-Duchâtelet und seiner Theorie vgl. Corbin, filles, 1978, S. 13 – 36; Bernheimer, Figures, 1989, S. 8 – 33.

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Parent-Duchâtelet bezeichnete die Bordelle entsprechend als „égout séminal“, als „spermatische Kanalisationsanlage“.146 Die Bordelle sollten auch Übergriffe auf „ehrbare“ Töchter verhindern.147 Seine Theorie basierte auf der damals verbreiteten Annahme, der Mann verfüge über einen stärkeren Geschlechtstrieb als die Frau.148 Diese Einschätzung korrespondierte mit den gesellschaftlichen Rollen, die dem Mann Aktivität und Stärke zuschrieb, der Frau Passivität und Anpassungsfähigkeit. Zudem herrschte die Ansicht, Sexualabstinenz sei für den Mann gesundheitsschädigend, weil das Sperma nicht abfließen könne und dadurch einen „Energiestau“ im Körper verursache.149 Regelmäßiger – aber nicht übermäßiger – Geschlechtsverkehr war die Devise; bei mangelnder Alternative innerhalb einer Ehe eben mithilfe der „spermatischen Kanalisationsanlage“. Eine logische Entwicklung aus diesem Sexualitätskonzept war die bürgerliche Doppelmoral, die dem Mann vor- und außereheliche sexuelle Aktivitäten zugestand, der Frau hingegen nicht. Sexuelle Erfahrungen gehörten beim Mann zur Grundausrüstung für eine Ehe, während die Frauen der oberen und mittleren Schichten als Jungfrau und möglichst ahnungslos in die Ehe gehen mussten. Die weibliche Ehre verlangte zudem absolute Treue dem Ehegatten gegenüber. Für sie bedeuteten sexuelle Erfahrungen außerhalb einer Ehe eine Ausgrenzung aus ihrem Milieu. Das Verdikt der sexuellen Reinheit und Keuschheit galt nur für die bürgerliche Frau, während der Mann einen größeren Spielraum genoss. Seinen Bewegungsspielraum konnte er jedoch nur bei Prostituierten oder bei Frauen aus den unteren Schichten ausleben, galt es doch, die bürgerliche Frau in ihrer Reinheit zu bewahren. Dem bürgerlichen Ideal entsprach eine vergeistigte Ehe, die von sexueller Leidenschaft befreit bleiben sollte. Leidenschaftliche Lust konnte der Mann gemäß diesem bürgerlichen Ideal nur außerhalb der Ehe bei Frauen aus der Unterschicht und Prostituierten ausleben. Parent-Duchâtelets 1836 erschienene Studie zur Prostitution in Paris,150 für welche er mehrere Jahre den ärztlichen Untersuchungen der registrierten Prostituierten beiwohnte, genoss während des ganzen 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein 146 Sarasin, Maschinen, 2001, S. 382; Corbin, filles, 1978, S. 84 – 128. 147 Sarasin, Maschinen, 2001, S. 382. 148 Vgl. zur Sexualmoral der bürgerlichen Gesellschaft und deren Bezug zu den Geschlechtscharak­ teren etwa ausführlich bei Eder, Kultur, 2002, S. 130 – 150. 149 Diese Ansicht blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet. Um 1900 kam es zu einem kurzen Umdenken in der wissenschaftlichen Fachwelt, als die Sexualabstinenz für den Mann nicht mehr als gesundheitsgefährdend galt. Gegen diese Meinung formierte sich jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Gegnerschaft, sodass es zu einem Streit um die Sexualabstinenz kam (vgl. ausführlich Puenzieux, Medizin, 1994, S. 150 – 167; vgl. auch Sarasin, Maschinen, 2001, S. 382). 150 Sie trug den Titel „De la prostitution dans la ville de Paris, considérée sous le rapport de l’hygiène publique, de la morale et de l’administration“.

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große Beachtung und galt als Klassiker auf diesem Gebiet.151 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts richtete sich international die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zunehmend auf die Hygienisierung der Prostituierten. Die „Dirne“, „the ‚Great Unwa­ shed‘“152, wurde mit Schmutz und Ansteckung assoziiert und zum zentralen Ansteckungsherd stilisiert.153 Dies führte zur Ausgrenzung von Prostituierten aus der bürgerlichen Welt in „Sperrbezirke“.154 Am internationalen Medizinkongress von 1867 in Paris kam es erstmals zu einer breiten Erörterung hygienischer Maßnahmen zur Bekämpfung der sexuell übertragbaren Krankheiten.155 Geschlechtskrankheiten sollten nicht mehr länger primär als moralisches Problem angesehen werden, sondern als übertragbare Krankheit, die es durch Prophylaxe zu eliminieren galt. Die Reglementierung der Prostitution wurde als wirksamstes Mittel propagiert. Die „Dirne“ sollte als „Kartenmädchen“ (registrierte Straßenprostituierte) oder registrierte „Bordelldirne“ in diesem „hygienischen“ System vom Staat registriert, medizinisch überwacht und bei Nichtregistrierung polizeilich verfolgt werden, um als Ansteckungsherd eliminiert zu werden. Geschlechtskranke „Dirnen“ sollten im Krankenhaus geheilt werden, bevor sie wieder der „Spermaaufnahme“ dienen konnten. Auf diese Weise erhofften sich Hygieniker und Ärzte, die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten in den Griff zu kriegen und den Freiern ein „sorgloses“ Ausleben ihrer sexuellen Gelüste ohne Ansteckungsrisiko zu ermöglichen. Die so genannten „Venuspriesterinnen“, die geheimen Prostituierten, die im Versteckten arbeiteten, sollten hingegen konsequent verfolgt werden. Die Reglementierung der Prostitution hatte in Frankreich und Belgien am längsten Bestand.156 Zweifel am S­ ystem der Hygienisierung der Prostitution häuften sich aus Wissenschaftskreisen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als an internationalen medizinischen Kongressen immer mehr Ärzte die Wirksamkeit der Reglementierung für die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten infrage stellten.157 Neue Strategien wurden diskutiert. Aufklärungskampagnen sollten fortan eine zentrale Rolle spielen, ebenso

151 152 153 154

Puenzieux, Medizin, 1994, S. 45 f. Walkowitz, Prostitution, 1980, S. 4. Vgl. Beccalossi, Sex, 2011, S. 106 – 108; Jackson, Sex, 2011, S. 87; Luddy, Prostitution, 2007, S. 124. Schulte, Sperrbezirke, 1979. Vgl. zur Ausgrenzung und Kasernierung der Prostituierten auch Lücke, Hierarchien, 2010. 155 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 34 f. 156 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 44. Zur Reglementierung in Frankreich, die Reaktionen darauf und deren Entwicklung und Ausprägung bis zum Ersten Weltkrieg (und in einem Ausblick bis 1978) bei Corbin, filles, 1978. Die Reglementierung fand in weiten Teilen Europas zeitweilige Verbreitung, so etwa in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Polen, Italien und Großbritannien (vgl. Baldwin, Contagion, 2005, S. 367 – 378; Davidson, Sex, 2001, S. 4 f.). 157 Die betreffenden internationalen medizinischen Kongresse fanden 1899, 1902 und 1913 statt (vgl. hierzu ausführlich Puenzieux, Medizin, 1994, S. 125, 169 – 172.).

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die Frage, ob ein Meldezwang für Geschlechtskrankheiten eingeführt werden sollte, um mehr Patientinnen und Patienten rascher medizinisch behandeln zu können.158 Auch in Politikerkreisen regte sich Widerstand gegen das System der Reglementierung. Ein Bericht eines Berner Regierungsrats über die in der Stadt Bern praktizierte Reglementierung gibt Einblick in einige verbreitete Kritikpunkte sowie in das Berner System der Reglementierung der Bordellprostitution.159 So schrieb der freisinnige Regierungsrat und Polizeidirektor Joseph Stockmar 1888, die Stadtpolizei beschränke sich darauf, den Bordellinhabern „Weisungen über die Aufführung der von ihnen gehaltenen Weibspersonen in der Oeffentlichkeit, im Theater etc. zu erteilen und ihnen zu empfehlen, die regelmässige sanitarische Untersuchung ihres Personals nicht zu vernachlässigen“.160 Die Inhaber dieser Etablissements verpflichteten sich durch ihre Unterschrift, diese Weisungen zu befolgen. Zudem mussten sie alle „Dirnen“ sogleich nach deren Eintritt im Bordell auf der Polizei einschreiben und deren Ausweisschriften deponieren. Die Frauen mussten persönlich beim Polizeiinspektor erscheinen, der festzustellen hatte, ob sie aus freiem Willen in das betreffende Haus eintraten. Die Erklärung der Prostituierten wurde in ein spezielles Register eingetragen. Minderjährige wurden in der Stadt Bern offiziell nicht zur Einschreibung zugelassen. Die ärztliche Kontrolle fand zweimal wöchentlich statt. Jedes öffentliche Haus wählte seinen Arzt selbst, der das Ergebnis seiner Inspektion in eine Kontrollkarte einzutragen hatte, die von Zeit zu Zeit dem Polizeiinspektor zur Unterschrift vorzulegen war. Das System der Reglementierung sah Stockmar jedoch aus verschiedenen Gründen als gescheitert an – Punkte, die zeitgleich auch von den Sittlichkeitsvereinen hervorgehoben wurden. Etwa sagte er, die geheime Prostitution existiere trotz der Reglementierung munter weiter. Die Polizei wisse um die Existenz von nicht gemeldeten Bordellen, belästige diese aber ebenso wenig wie die registrierten. Von Zeit zu Zeit sehe man einen Zigarrenladen von verdächtigem Aussehen aufgehen, aber die Polizisten, „die gewöhnt wurden, die Augen zuzudrücken, hüten sich wohl einzuschreiten, da sie nicht wissen, ob die Behörde in ihrer grossen Weisheit für gut befunden hat, die Zahl ihrer ‚Vorsichtsmassregeln’ zu vermehren“.161 158 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 125 – 132. In Basel etwa wurde 1919 der Meldezwang bei Geschlechtskrankheiten durch das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten eingeführt (Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 71 – 73). In Zürich wurde die Meldepflicht 1915 vorerst im Militär eingeführt (Puenzieux, Medizin, 1994, S. 220). 159 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. Sozarch, 176/11:7. 160 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 4. Sozarch, 176/11:7. 161 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 12 f. Sozarch, 176/11:7.

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Abb 11 Moral eines Polizeikommissars oder Theorie und Praxis.

Stockmar bemängelte zudem, die Geschlechtskrankheiten hätten sich durch die Reglementierung nicht vermindert. Die von Stockmar darüber befragten Krankenhausdirektoren kritisierten heftig die Art der Kontrolle der Bordelle. Sie hätten Hinweise erhalten, dass die Visitenbücher des kontrollierenden Arztes bisweilen vom Polizeiinspektor „en blanc“ unterschrieben worden seien.162 Zudem habe ein Arzt zugegeben, Gesundheitszeugnisse für Personen ausgestellt zu haben, die er gar nicht untersucht hatte. Des Weiteren unterstehe der kontrollierende Arzt nicht der Polizei, sondern dem Bordell, was seine Glaubwürdigkeit nicht gerade steigere. Die Wirksamkeit dieser ärztlichen Kontrollen sei also ein Ammenmärchen. 162 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 16. Sozarch, 176/11:7.

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Ein weiterer zentraler Punkt für Stockmar, der sich für die Schließung der Bordelle einsetzte, waren die Lebensbedingungen der „Bordellmädchen“. Er nannte in seinem Bericht mehrere Beispiele von in Bordellen gefangen gehaltenen Frauen, von üblen Methoden der Bordellhalter sowie vom Verkaufen der Frauen an andere Bordelle gegen eine hohe Summe, welche die Verkaufte zuerst abarbeiten musste. Auf die unterschriebene Erklärung der „Dirne“, freiwillig im Bordell zu sein, war in Stockmars Augen kein Verlass. Gleich einem „Opfertier“, das sich seinem Schicksal ergebe, würden die Frauen vor dem Polizisten erscheinen. Kupplerinnen würden oft miese Tricks anwenden und allerlei Versprechungen abgeben, um Mädchen ins Bordell zu locken. Stockmar verweist in seinem Bericht auf eine Akte eines Gerichtsfalles aus dem Jahr 1886, in der die Lebensweise der „Bordellmädchen“ beschrieben wurde: „Die Ausbeutung dieses menschlichen Viehes ist darin mit einem an Naivität grenzenden Zynismus dargelegt“, schrieb er dazu.163 Selbst wenn eine Frau dem Bordellhalter monatlich 200 Franken einbringe, gehöre ihr nicht einmal die Wäsche auf ihrem Leib. „Wie kann man unter solchen Umständen von persönlicher Freiheit und Einwilligung sprechen?“164 Die Bordelle bezeichnet Stockmar als „Sklavenhäuser […] des Lasters“. 165 Der Eintritt in ein öffentliches Haus bedeute „für eine Weibsperson die letzte Stufe der Erniedrigung“.166 Die Bordelle gäben ihnen – im Gegensatz zur Straßenprostitution – nicht die Wahl, ihre Freier selbst auszuwählen. Neben dem Widerstand aus der Politik, aus dezidiert christlichen Kreisen des Bürgertums sowie zunehmend von Ärzten stemmten sich auch andere Kreise gegen die Reglementierung und die Prostitution. Einige Kritiker, allen voran die sich formierende Arbeiterbewegung, erachteten die Prostitution als Ausdruck der kapitalistischen Ausbeutung der Unterschichten durch die herrschende Klasse. Um die Jahrhundertwende kam ferner vonseiten von Sexualwissenschaftlern, Anarchistinnen, Sozialisten, Feministinnen, Soziologen, Psychologinnen sowie Lebens- und Sexual­ reformern Kritik an der herrschenden bürgerlichen Doppel-, Ehe- und Sexualmoral auf, die das Sexgewerbe als Ausdruck einer fehlgeleiteten Moral anprangerten.167 Diese Stimmen propagierten eine umfassende Sexualreform, die in der „freien Liebe“ münden 163 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 11. Sozarch, 176/11:7. 164 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 11. Sozarch, 176/11:7. 165 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 11. Sozarch, 176/11:7. 166 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 11. Sozarch, 176/11:7. 167 Linse, Freivermählten, 1999.

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sollte.168 Sie kritisierten, dass der Staat allein die Ehe und die polizeilich überwachte Prostitution als legitime Orte der Sexualität akzeptiere.169 Statt der herrschenden bürgerlichen Doppelmoral propagierten sie eine auf Liebe basierende, genussvolle Sexualität, die nicht auf die Ehe beschränkt war. Unverheiratete Liebespaare sollten sich auch sexuell näherkommen dürfen. Konkubinate begrüßten sie explizit. Die Sexualität galt ihnen als Teil der Liebe zwischen zwei Menschen und als wichtiger Bestandteil für das Glück eines Paares. Hingegen sprachen sie sich gegen Sexualität ohne Liebe und polygame Beziehungen aus (und meinten damit auch die Prostitution); nicht aus moralischen Gründen, sondern aus hygienischen und aufgrund der Ansteckungsgefahr für Geschlechtskrankheiten. Ein herausragender Exponent dieser Richtung war der Schweizer Psychiater, Hirnforscher, Ameisenforscher, Professor und Klinikleiter Auguste Forel. 1905 veröffentlichte er das berühmte Werk „Die sexuelle Frage“.170 Forel, der ursprünglich im ersten Vorstand des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit saß, sich jedoch nach der Jahrhundertwende von deren christlich-moralischen Ansichten abwandte und sich ins Lager der sich formierenden Gegnerschaft gegen die propagierte Triebunterdrückung gesellte,171 plädierte in seinem Buch für die freie Ausübung der Sexualität und für die freie Liebe. Jedoch machte er wesentliche Einschränkungen: Die Sexualpartner durften nicht von Geschlechtskrankheiten infiziert oder betrunken sein, und „Minderwertige“ durften keine Kinder zeugen. Er gehörte einer neuen Zeit an, die Sexualität nicht mehr aus einer christlich-moralischen Warte betrachtete und bewertete, sondern ein freies Ausleben der (nicht reproduzierenden) Sexualität propagierte, gleichzeitig aber als Eugeniker die Zeugung von „minderwertigen“ Kindern verhindern wollte.172 Es war aber nicht der Ruf nach freier Liebe, der die Debatten um den Umgang mit Prostitution und Geschlechtskrankheiten um die Jahrhundertwende entscheidend mitprägte, ebenso wenig vermochten die ersten Protestbewegungen bürgerlicher und kirchlicher Kreise Einfluss zu nehmen. Hierzu war eine Bewegung nötig, die eine weit breitere Anhängerschaft zu mobilisieren vermochte: die Sittlichkeitsbewegung. Die seit den 1870er Jahren in der deutschsprachigen Schweiz allmählich Fuß fassende Sittlichkeitsbewegung, auf deren Anfänge ich im nächsten Kapitel noch 168 Zur Sexualreformbewegung: Reinert, Frauen, 2000; Linse, Leben, 1998, S. 446 – 448; Linse, Freivermählten, 1999; Linse, Sexualreform, 1998; Gröning, Entwicklungslinien, 2010; Beccalossi, Introduction, 2011, S. 14; Ferdinand, Wissenschaft, 2005; Wischermann, Frauenbewegungen, 2003. 169 Linse, Freivermählten, 1999, S. 64. 170 Forel, Auguste. Die sexuelle Frage. Eine naturwissenschaftliche, psychologische und hygienische Studie nebst Lösungsversuchen wichtiger sozialer Aufgaben der Zukunft. München 1905. 171 Zu diesen gehörten auch der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud sowie der Arzt und Sexualwissenschaftler Iwan Bloch. 172 Sarasin, Prostitution, 2004, S. 16 f.

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ausführlicher eingehen werde, setzte sich vehement gegen den Frauenhandel und gegen die Prostitution ein, die sie als Erniedrigung für das weibliche Geschlecht und als Ausdruck des sittlichen Zerfalls der Gesellschaft erachtete, und forderte von Männern wie Frauen eine auf die Ehe beschränkte Sexualität. Sie vermochte neben medizinischen Kreisen Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Debatten zu nehmen und trug wesentlich dazu bei, dass das Sexgewerbe und dessen Auswirkungen zu einem öffentlichkeitswirksam und breit diskutierten Thema wurden. Sie beging in ihrem Kampf gegen die Bordelle einen Tabubruch, indem sie öffentlich über die in den bürgerlichen Familien totgeschwiegenen Themen Sexualität und Prostitution sprach. Der 1877 gegründete Berner Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit hatte sich noch 1886 gescheut, „die Dinge, von welchen hier gesprochen werden muss[,] vor allem Volk zu nennen“.173 Man laufe sonst Gefahr, „junge unschuldige Gemüther, namentlich Frauen, tief zu verletzen oder sie mit Dingen bekannt zu machen, von denen sie glücklicherweise noch Nichts wissen und so den Thau der Reinheit von ihrer Seele zu wischen und mehr zu schaden als zu nützen“.174 Auch die anfänglichen Vorträge über die Sittlichkeitsbewegung, die Frauen zur Gründung solcher Vereine animieren sollten, wurden vor einem weiblichen Publikum im ungestörten Rahmen gehalten, um den Frauen die Hemmungen vor dem Sprechen über Prostitution und Sexualität zu nehmen.175 Diese Scheu ließen namentlich die Frauen der stark konfessionell geprägten Sittlichkeitsbewegung fallen. Mithilfe von Broschüren, Vorträgen, Abstimmungskämpfen und Mitgliederanwerbung in der Bevölkerung lancierten sie gemeinsam mit den Männervereinen eine breite Diskussion über die Prostitution. Die Frauen kritisierten, dass „die meisten Männer“ ihr Möglichstes täten, „um die Frauen in ihrer Blindheit und Unwissenheit zu erhalten“.176 Bisher habe die „Frauenwelt“ sich zudem gescheut, den „Schleier zu lüften, den die Gesellschaft über dieses Thema verbreitet“ habe.177 1905 schrieb der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, erst die Bekanntschaft mit dem englischen Abolitionismus habe bei ihnen den Bann gelöst, während es 173 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 10. NB, V BE 5545. 174 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 10 f. NB, V BE 5545. 175 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 8. NB, V BE 5545. 176 Heim-Vögtlin, Marie. Die Aufgabe der Mutter in der Erziehung der Jugend zur Sittlichkeit. Vortrag an der Jahresversammlung des Zürcher Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit. Zürich 1904. S. 6. Zit. nach Puenzieux, Sieg, 1994, S. 115. 177 Heim-Vögtlin, Marie. Die Aufgabe der Mutter in der Erziehung der Jugend zur Sittlichkeit. Vortrag an der Jahresversammlung des Zürcher Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit. Zürich 1904. S. 6. Zit. nach Puenzieux, Sieg, 1994, S. 115.

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zuvor nicht der Sitte entsprach, „über solche Dinge zu ­sprechen“.178 Auch der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit berichtete von seinem Tabubruch in den Anfängen seiner Vereinstätigkeit, mit dem er den Bann des Schweigens durchbrach, dem die Frauen Zürichs bis dahin verfallen gewesen seien.179 Während die Sittlichkeitsvereine von Bern und Zürich einen Kampf gegen die Reglementierung der Prostitution führten, blieb dieser in Basel aus, weil dort nie eine Reglementierung eingeführt wurde oder politisch zur Diskussion stand.180 In Bern konstituierte sich 1877 der Berner Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit, „um mit frischer und vereinter Kraft an der Hebung des sittlichen Rufes unserer Stadt, wie solchen die Mehrzahl ihrer Bewohner wünscht, zu arbeiten“.181 Er entstand als Reaktion auf die gegen das kantonale Strafgesetzbuch verstoßende Einführung der Reglementierung der Bordelle.182 Der Männerverein startete eine Offensive und versuchte durch mehrmalige Eingaben die Behörden zur Aufhebung der gesetzeswidrigen Reglementierung zu bewegen. Seine Bemühungen waren aber nicht von Erfolg gekrönt. 1886 schrieb er, dass er „endlich für eine Zeit lang diesen erfolglosen Kampf “ aufgeben würde, „[n]achdem wir lang und viel mit den Behörden correspondirt hatten um sie zu grösserer Energie gegenüber den vielen bestehenden, zum Theil im Stillen sanktionirten Bordellen aufzumuntern“.183 Erst das organisierte Auftreten der Berner Frauen verhalf der Sittlichkeitsbewegung zum Sieg. Die Petition des Berner Frauenvereins, die er am 22. April 1887, kurz nach seiner Gründung, beim Regierungsrat einreichte, führte zur Schließung der Bordelle in Bern. Maßgeblich für den sofortigen Erfolg der Bernerinnen dürfte erstens gewesen sein, dass sie in kürzester Zeit eine stattliche Anzahl Personen zu mobilisieren vermochten – 3.254 Unterschriften innerhalb weniger Tage.184 Der Berner Männerverein zur Hebung 178 179 180 181

Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit von 1905, S. 6. 1. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1889, S. 7. Vgl. Zumkehr, Prostitution, 1992; Fankhauser, Basels, 1931; Wick, Syphilitische, 1996. Aufruf zur Gründung eines Bernischen Vereins zur Hebung der Ordnung und Sittlichkeit der Stadt Bern resp. einer Sektion der Fédération britannique. April 1877. NB, V BE 5545. Zum Bordellkampf in Bern vgl. Ziegler, Arbeit, 2007, S. 235 – 241; StadtA Bern, Mappe „Prostitution“; StABE, BB III b 3360 Gemeinnütziges, 1833 – 1932. Dossier „Bekämpfung der Prostitution, 1835“; Weiss, Prostitutionsfrage, 1906; Kraft, Sittenpolizei, 1929. 182 Berner Strafgesetzbuch vom 30. Januar 1866, Art. 164 und Art. 168. Vgl. zur Reglementierung in Bern Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 131; Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 4. Sozarch, 176/11:7; Kraft, Sittenpolizei, 1929, S. 67 f. 183 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptver­sammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 5. NB, V BE 5545. 184 Petition gegen die Prostitutionshäuser. Bericht der Polizeidirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern (21. Jänner 1888). Bern 1888. S. 3. Sozarch, 176/11:7; 11. Jahresbericht des Berner

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der Sittlichkeit hatte offenbar nicht erkannt, dass er die weibliche Bevölkerung mit ins Boot holen musste, um Erfolg mit seinen Behördeneingaben zu haben. Er hatte sich noch 1886 gescheut, das tabuisierte Thema an die Frauenwelt heranzutragen.185 Zweitens war der Umstand entscheidend, dass der bereits erwähnte freisinnige Regierungsrat Joseph Stockmar, der 1886 die Polizeidirektion übernommen hatte, die Eingabe des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit unterstützte und sich für die sofortige Schließung der Bordelle einsetzte. Der Berner Männerverein würdigte das Engagement von Stockmar dankbar. Gott habe ihm „das Herz gelenkt, dass er sein Ohr den berechtigten Klagen der Frauen-Petition öffnete und sich, durch einige Freunde kräftig angespornt, dieser Angelegenheit warm und energisch annahm“.186 Und 1891 schrieben sie, Stockmar, „diesem Magistraten ohne Furcht und Tadel“, verdanke Bern „die Räumung der öffentlichen Häuser, die Säuberung der Strassen von herumschwärmenden Dirnen, überhaupt die Wiederherstellung seines guten Rufes“.187 Auch in Zürich formierte sich die Sittlichkeitsbewegung in den 1880er Jahren erfolgreich gegen die Reglementierung der Prostitution.188 Zum Erfolg war wie in Bern eine umfangreichere Mobilisierung der Bevölkerung und insbesondere der weiblichen Bevölkerung nötig, wie sie mit der Entstehung von Sittlichkeitsvereinen gelang. Die Zürcher Frauen- und Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit reichten kurz nach ihrer Gründung im Juni 1888 in Anlehnung an das Berner Vorbild jeweils eine Petition an den Regierungsrat ein, in der sie die Schließung der Bordelle und eine strenge Bestrafung von Kupplern und Mädchenhändlern forderten.189 In kurzer Zeit sammelte der Frauenverein 10.960 Unterschriften von „Frauen und Jungfrauen“, der Männerverein 6.570 Unterschriften von Männern.190 Die beiden Petitionen führten dazu, dass eine zweiköpfige Expertenkommission eingesetzt wurde, um die Forderungen der Sittlichkeitsvereine zu prüfen. Die beiden mit der Aufgabe betrauten Amtsärzte, Carl Zehnder und Hermann Ernst Müller, waren bekennende Reglementaristen. Es war deshalb zu vermuten, dass sie sich Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913. S. 3. 185 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 10 f. NB, V BE 5545. 186 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 25. April 1888 (ohne Druckdatum). NB, V BE 5545. 187 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites für seine Thätigkeit während der Jahre 1889 und 1890. Aufgelegt auf Juni 1891. S. 4 f. NB, V BE 5545. 188 Dominique Puenzieux und Brigitte Ruckstuhl haben den Bordellkampf der Sittlichkeitsvereine und die Reaktionen der Behörden in Zürich detailliert nachgezeichnet (vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 76 – 93 und 186 – 192). 189 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 6. 190 Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 63.

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gegen die Vorschläge der Petitionen äußern würden. Ihre Empfehlungen, die sie 1892 in einem Gutachten abgaben, richteten sich denn auch gegen die Schließung der Bordelle. Stattdessen setzten sich die beiden Ärzte für die Reglementierung als beste Lösung des Prostitutionsproblems ein.191 Der Frauen- und der Männerverein reichten daraufhin zwei separate Eingaben an den Regierungsrat ein.192 Es mussten aber weitere Eingaben an die Stadt- und Kantonsregierungen durch beide Sittlichkeitsvereine folgen, bis sich der Zürcher Stadtrat 1894 schließlich auf die Seite der Sittlichkeitsvereine schlug. 193 Ausschlaggebend für die stadträt­ liche Kehrtwende waren nicht nur die hartnäckigen Eingaben der Sittlichkeitsvereine gewesen, sondern auch die Tatsache, dass sich immer mehr Ärzte gegen die Reglementierung einsetzten.194 Ein von 16 teilweise sehr einflussreichen Ärzten unterzeichneter Brief an den Stadtrat, der sich mit medizinischen Argumenten gegen die Reglementierung aussprach, dürfte großen Einfluss auf den Entscheid des Stadtrates ausgeübt haben.195 Der Stadtrat forderte nach seinem Meinungsumschwung den Männerverein auf, eine Initiative für die Revision des Sittlichkeitskapitels im kantonalen Strafgesetzbuch einzureichen.196 Am 27. Juni 1897, beinahe zehn Jahre nach der ersten Petition der Sittlichkeitsvereine, kam es zur Volksabstimmung, die mit großer Mehrheit zugunsten der Sittlichkeitsvereine ausfiel und die konsequente sittenpolizeiliche Verfolgung der Prostitution verankerte.197 Während des Abstimmungskampfes erschienen zahlreiche Zeitungsinserate über die Gesetzesvorlage. Die überwiegende Mehrheit davon stand der Initiative befürwortend gegenüber.198 Sämtliche ablehnenden Inserate erschienen anonym. Diese Anonymität der Gegner der Initiative ließ den Verdacht aufkommen, Bordellhalter stünden hinter der Gegenkampagne.199

191 Vgl. zum Gutachten Puenzieux, Medizin, 1994, S. 58 – 62. 192 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 11. 1992 reichte der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit eine „Eingabe des Zürch. Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit an den h. Regierungsrat des Kantons in Beantwortung des Gutachtens des Sanitätsrates“ ein. Zum Gegengutachten des Männerbundes vgl. Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 66 – 69. 193 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 12; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 74. 194 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 74. 195 Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 80; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 74. 196 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 13. 197 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 14. Die Vorlage wurde mit 40.751 Jastimmen gegen 14.710 Neinstimmen angenommen (ebd.). Das revidierte kantonale Strafgesetzbuch trat am 27. Juni 1897 in Kraft. 198 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 82. 199 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 83.

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Abb 12 Resolution des Zürcherischen Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit, 1912.

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Im Jahr 1902 wurde eine Gegeninitiative lanciert, welche die Wiedereinführung der geduldeten Bordelle forderte.200 Auf 10.000 Einwohner sollte nach dem Willen der Initianten ein öffentliches Bordell kommen. Sie begründeten ihren Vorschlag damit, dass die Prostitution trotz strengen Sittengesetzes nicht verschwunden sei, sich im Gegenteil auf der Straße vermehre. Die Initianten blieben während des gesamten darauf folgenden Abstimmungskampfes anonym. Von den Gegnern dieser sogenannten „Antisittlichkeitsinitiative“ wurden sie deswegen als Bordellhalter verunglimpft. Eine Schrift, unterschrieben von zahlreichen Juristen, Geistlichen, Politikern, einigen Ärzten und Kaufleuten rief zur Verwerfung der Initiative auf. Zudem plädierten im Vorfeld der Abstimmung 198 Ärzte in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung für die Beibehaltung des Bordellverbotes. Die Abstimmung fand am 31. Januar 1904 statt. Das Stimmvolk lehnte die „Antisittlichkeitsinitiative“ deutlich ab und bestätigte die von den Sittlichkeitsvereinen geforderte Gangart.

Die Dominanz des Moraldiskurses In den Kantonen Bern, Zürich und Basel-Stadt sagten die Behörden übereinstimmend aus, große Teile der Bevölkerung würden eine Reglementierung der Prostitution nicht akzeptieren. Nach Angaben des Basler Polizeiinspektorats wurde „das Bedürfnis nach irgendwelcher Regelung der Prostitution […] bisher von keiner Seite her geltend gemacht, geschweige denn nachgewiesen“.201 Der Mediziner Wilhelm Bernoulli, der aufgrund der Enquete über die Geschlechtskrankheiten in Basel von 1881 einen Bericht an das Sanitätsdepartement verfasste, meinte, auch nur die politische Debatte über eine gesetzliche Kontrollierung und Reglementierung der Prostitution sei nicht angebracht, weil „die grosse Mehrzahl der hiesigen Bevölkerung solchen Einrichtungen abgeneigt“ sei.202 Auch Befürworter der Reglementierung aus den Medien zeigten sich überzeugt, dass in Basel eine staatliche Kontrolle der Prostitution keine Chance auf Einführung hätte und auch keine öffentliche Diskussion darüber zustande kommen könnte.203 Auch der Gemeinderat von Bern konstatierte im Jahr 1873, dass die Reglementierung der Prostitution „nach Allem, was dem Gemeinderath darüber bekannt geworden, der Anschauungsweise unserer

200 Vgl. zu dieser Gegeninitiative Puenzieux, Medizin, 1994, S. 187 f. Vgl. auch 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 16. 201 Brief des Basler Polizeiinspektorats an die Stadt Strassburg vom 20. Dezember 1912. StABS, PD-Reg.1 1950 2201 II. Teil. Zit. nach Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 75. 202 Wick, Syphilitische, 1996, S. 90. 203 Zumkehr, Prostitution, 1992, S. 75.

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Bevölkerung vollständig zuwider“ sei.204 Und eine Bernerin schrieb 1900, die öffentliche Meinung sei großenteils für die Strafbarkeit der Prostitution.205 Auch in Biel im Kanton Bern schrieb der dortige Gemeinderat 1915, „dass der Grossteil der Bevölkerung Biels die definitive Schliessung der öffentlichen Häuser“ verlange.206 Zudem, so der Gemeinderat von Biel, würde das geduldete Bordellwesen der Stadt und „ihrem Ruf und Ansehen“ enorm schaden.207 In Zürich zeigen die beiden Bordellabstimmungen von 1897 und 1902, die mit erdrückender Mehrheit zugunsten der Gegner der Reglementierung ausfielen, den großen Rückhalt aus der stimmberechtigten (männlichen) Bevölkerung. In Bern wie in Zürich sammelten die Sittlichkeitsvereine zudem in kurzer Zeit Tausende von Unterschriften für ihre Bordelleingaben. Ihre Forderungen fanden in der Politik weit über die konservativen Positionen hinaus bis in die gemäßigten sozialdemokratischen Kreise hinein eine Anhängerschaft.208 Die Reglementierung setzte sich in der Schweiz auf Gesetzesebene nur vereinzelt durch. Die Mehrzahl der kantonalen Strafgesetze der Schweiz vertrat zumindest auf dem Papier den „pönalistischen Standpunkt“ – die Prostitution wurde sittenpolizeilich bekämpft.209 Ende des 19. Jahrhunderts führten zwar verschiedene Kantone mehr oder weniger offiziell die Reglementierung ein, jedoch verhinderte der Widerstand aus der Bevölkerung vielerorts eine dauerhaftere Etablierung der Reglementierung. Die Ärzte vermochten sich nicht als einheitliche Gegenkraft zu vereinen, weshalb neue Ansätze in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten längere Zeit keine Chance auf Umsetzung hatten.210 Es ist sicherlich kein Zufall, dass in der Schweiz im europäischen Vergleich erst spät eine von Ärzten getragene Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten gegründet wurde, um den Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten primär medizinisch anzugehen. Während in anderen europäischen Ländern bereits vor dem Ersten Weltkrieg solche Gesellschaften entstanden – in Deutschland etwa 1902 –, wurde die schweizerische erst 1918 gegründet.211 204 Memorial des Gemeinderathes der Stadt Bern an den Tit. Regierungsrat des Kts. Bern zur Verständigung über die gegen das Prostitutionsunwesen zu ergreifenden Massnahmen. Bern 1873. S. 56. StadtA Bern, Mappe „Prostitution“. 205 Aus einem Brief von Helene von Mülinen an Eugen Huber, 14. 9. 1900. S. 1 f. Bundesarchiv Bern, Nachlass Eugen Huber, J. I. 109.443. Zit. nach Brodbeck, Hunger, 2000, S. 101. 206 Gemeinderat Biel an Regierungsstatthalteramt, 4. 11. 1915. Stadtarchiv Biel. 1901 – 1925.768. Zit. Nach Ziegler, Arbeit, 2007, S. 239. 207 Gemeinderat Biel an Regierungsstatthalteramt, 4. 11. 1915. Stadtarchiv Biel. 1901 – 1925.768. Zit. nach Ziegler, Arbeit, 2007, S. 239. 208 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 124. Dieser Umstand ist auch im Bereich der Heimerziehung von jungen Frauen zu beobachten, wie ich im Kap. 5 aufzeigen werde. 209 Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 6. 210 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 236. 211 Silberschmidt, Geist, 2004, S. 158; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 236.

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Die vergleichsweise späte Gründung erklären Puenzieux und Ruckstuhl mit dem starken Gewicht des Moraldiskurses, der in der Schweiz „dermassen dominant war, dass kaum eine andere Meinung formuliert werden konnte“.212 So war es auch nicht verwunderlich, dass Auguste Forels Buch „Die sexuelle Frage“ auf heftige Proteste aus verschiedensten Kreisen stieß. Als Reaktion entstanden Entgegnungsschriften, die seine Theorien zu widerlegen suchten. In Lausanne und im Kanton Thurgau erhielt er gar Redeverbot.213 Dieses „geistige Klima“ wirkte sich hemmend auf die sich neu entwickelnde Sexualreformbewegung aus, die sich in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland nicht zu etablieren vermochte.214 In Deutschland bestand zwar auch eine konservative Gegenbewegung zur Sexualreformbewegung, die aus kirchlichen Kreisen bestand und strikte sexuelle Abstinenz außerhalb der Ehe forderte. Obwohl diese zahlenmäßig kleinere Gegenbewegung ein starkes Gewicht erlangte, vermochte sie jedoch nicht diese Dominanz wie in der Schweiz zu erreichen.215 Offenbar trafen die Sittlichkeitsvereine mit ihren Anliegen den Nerv der Zeit und vermochten eine ernst zu nehmende Anhängerschaft zu mobilisieren. Ihre Strategien im Kampf gegen die Prostitution erwiesen sich als erfolgreich und avancierten um die Jahrhundertwende immer mehr zur dominanten Lösungsstrategie, ihre Forderungen waren in der Bevölkerung und beim Stimmvolk konsens- und mehrheitsfähig.216 Die Bernerin Helene von Mülinen schrieb im Jahr 1900, die Befürworter der Strafbarkeit der Prostitution würden immer stärker und festigten ihre errichteten „Wälle“.217 Es ist signifikant, dass die Befürworter der Bordelle in den zwei Zürcher Bordellabstimmungen nur noch anonym auftreten konnten. Der Sittlichkeitsdiskurs, der maßgeblich von den Vereinen zur Hebung der Sittlichkeit und von kirchlichen Kreisen getragen wurde, war derart dominant, dass es für die Gegner offenbar nicht möglich war, namentlich aufzutreten, ohne gesellschaftlich Schaden zu nehmen. Auch in Bern kommentierte der Berner Männerverein 1884, es sei nicht leicht, jemanden zu finden, „der sich öffentlich und offen zum Verteidiger dieses Lasters aufwerfen möchte“.218 Auch in Bern war es offenbar gesellschaftlich verpönt, sich öffentlich als Befürworter der Bordelle zu bekennen. 212 213 214 215 216

Puenzieux, Medizin, 1994, S. 158 und 236. Zit. S. 158. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 158. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 158; Sarasin, Prostitution, 2004, S. 16. Vgl. zur konservativen Gegenbewegung und ihrem Einfluss Reinert, Frauen, 2000, S. 79 f. Zu diesem Schluss kommen auch Puenzieux und Ruckstuhl: Puenzieux, Medizin, 1994; Puenzieux, Sieg, 1994, S. 105. Zum Einfluss der englischen abolitionistischen Bewegung auf die Regulierung der Sexualität vgl. Walkowitz, Prostitution, 1980; Mort, Sexualities, 2000. 217 Aus einem Brief von Helene von Mülinen an Eugen Huber, 14. 9. 1900. S. 1 f. Bundesarchiv Bern, Nachlass Eugen Huber, J. I. 109.443. Zit. nach Brodbeck, Hunger, 2000, S. 101. 218 Das Comite des Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit in Bern an die Herren Pfarrer und Kirchgemeinderäthe. Bern, Januar 1884. NB, V BE 5544.

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Den Erfolg verdankten die Sittlichkeitsvereine unter anderem ihren vielfältigen Beziehungen zu wichtigen Personen im politischen und gesellschaftlichen Leben.219 Dominique Puenzieux und Brigitte Ruckstuhl führen den Erfolg der Sittlichkeitsvereine zudem auf ihre Moralisierungsstrategie zurück, die im moralisch-sittlichen Unvermögen der Gesellschaftsmitglieder die Ursache des Übels ortet und die in der Orientierungskrise des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine „integrative Funktion“ erfüllte, indem für die sozialen Spannungen, Unsicherheiten und Ängste der diagnostizierte Zerfall von Moral und Sitte verantwortlich gemacht werden konnte.220 Die Formierung der Sittlichkeitsbewegung geschah vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts durch die Entstehung der modernen, industriellen Gesellschaft. Die zunehmende Industrialisierung, wachsende Städte, soziale Differenzen, hohe soziale und geografische Mobilität und ein hoher Anonymitätsgrad waren Kennzeichen dieser Veränderungen. Der Modernisierungsschub wurde vorwiegend als Krise erfahren.221 Zeitgenossen stellten die Diagnose eines „nervösen Zeitalters“.222 Ambivalenz, Zerrissenheit, Destabilisierung und ein Fehlen klarer Identitätsleitbilder prägten diese Zeit.223 Der „Eindruck eines durchgängigen psychischen und physischen Niederganges war weit verbreitet“224: Die Modernisierungskrise betraf die meisten mittel- und westeuropäischen Länder.225 Die Modernisierung wurde jedoch nicht nur negativ eingeschätzt. Fortschrittsoptimismus und positivistische Wissenschaftsgläubigkeit prägten ebenso jene Zeit. Die gegenläufigen Strömungen zwischen Optimismus gegenüber dem Fortschritt und Pessimismus gegenüber dem Wandel sind ein Kennzeichen der Zeit um 1900. Die Sittlichkeitsvereine vermochten zudem nicht zuletzt durch ihre wortgewandten, an Emotionen anrührenden Kampagnen erfolgreich, das Thema Prostitution auf die politische Agenda zu setzen. Sie bedienten sich in ihrem Kampf gegen die Prostitution ausgeprägt einer wortgewaltigen, ausdrucksstarken, teils schreierischen Sprache, die reich an Metaphern und Stereotypen war. Die Sittlichkeitsvereine beschwörten eine unheimliche Gefahr herauf, die das Volk vergifte und sich leise und unbemerkt aus dem Finstern emporschleiche. Die Prostitution wird als „ekelhaft“, als „Eiterbeule“, „verderbliche Schlinge“, „Abgrund“, „giftiger Samen“ und „tiefer Sumpf “ bezeichnet, die Prostituierte als „dem Tode verfallen“, als „tot an Leib und Seele“, als „entwertet“ und als „Abgrund von Fäulnis“. Prostitution wird als etwas außer Kontrolle Geratenes 219 Vgl. Kap. 3.2 und 5.4 (Unterkapitel Parastaatliches Milizsystem). 220 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 105 und 124. 221 Dahlke, Jünglinge, 2006, S. 12. 222 Roelcke, Krankheit, 1999, S. 146. 223 Dahlke, Jünglinge, 2006, S. 12. 224 Zit. nach Weingart, Rasse, 1992, S. 51. 225 Roelcke, Krankheit, 1999, S. 146.

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angesehen, dem Einhalt geboten werden muss. Die „Unzucht“ bezeichneten sie als den „grössten aller Ansteckungsherde“, die „gleich dem Aussatz um sich greift“ und „ganze Familien mit ihrem Pesthauch durchseucht“.226 Die Reglementierung habe die „Schleusen bestialischer Leidenschaft und Ausgelassenheit geöffnet und die Gottlosigkeit mit dem nackten Laster zhur Staatsreligion gemacht“.227 Die Verwendung dieser Metaphern spiegelt das Gefühl von Bedrohtsein und die Untergangsstimmung der Gesellschaft um die Jahrhundertwende wider.228 Sie vermochten Angst zu erzeugen und dienten als wirksames Propagandamittel für die Arbeit der Sittlichkeitsvereine. Mit an die Emotionen der Lesenden rührender, bildhafter Sprache versuchten die Sittlichkeitsvereine, an die Verantwortung und das Mitgefühl der Bevölkerung zu appellieren, um deren aktive Mitarbeit und deren finanzielle wie politische Unterstützung zu erlangen. Die Prostitution erhielt dabei neben dem bedrohlichen Gesicht auch ein empörendes und bemitleidenswertes. Sie wurde als „Skandal für alle ehrbaren Bewohner“, als „Schandflecken“, als „Stätte des geistigen und leiblichen Ruines unserer Männer und Jünglinge“, als „Höllen“ und „Ursache der bittersten Tränen so vieler unserer Frauen und Mütter“ beschrieben.229 Die Bordellbesitzer beschrieben sie als „arbeitsscheues und gewissen­ loses, oft ausländisches Gesindel der niedrigsten Sorte“, welche die jungen Mädchen in Bordellen „in schändlicher Sklaverei“ halten würden.230 Kuppler, Frauenhändler und Bordellhalter nannten sie „elendes Gelichter“, „arbeitsscheues Gesindel“, „Scheusale“, „Seelenverkäufer“ und „Blutsauger“.231 Die Opfer von „Mädchenhandel“ würden in „verruchten Schlingen“ gefangen, erniedrigt, mit Leib und Seele zugrunde gerichtet, wie Ware von Ort zu Ort verkauft, und am Ende „wie ein abgenutztes Werkzeug“ weggeworfen.232 Esther Sabelus, die den Diskurs über den Frauenhandel um 1900 untersucht hat, spricht von einer bewussten Inszenierung eines Melodramas, um Empörung auszulösen und strengere Gesetze zu erlangen. Nicht, dass es Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung nicht gab, – und nicht, dass diese nicht zu verurteilen sind. Jedoch seien, so Sabelus, die Schilderungen über die Prostituierten von einem verzerrten bürgerlichen Blick geprägt gewesen, der zwingend von Tod und Verfall ausging.233 „Der Rückgriff auf 226 6. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1894, S. 3. 227 Männer-Verein für öffentliche Sittlichkeit der Stadt Bern. Bericht des Komites an die werten Mitglieder vom Oktober 1904 (ohne Druckdatum). S. 9. NB, V BE 5545. 228 Vgl. auch Puenzieux, Medizin, 1994, S. 100. 229 Petition des Berner Zweiges des interkantonalen Comites des Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit an den Tit. Hohen Regierungsrat des Kantons Bern, Februar 1887. Gosteliarchiv SEF-Sektion Bern, B 23:1. 230 Zur Abstimmung vom 27. Juni. ZBZ, LK 653. 231 Ein Notschrei. In: 1. Beilage zu Nr. 25 des Schweizer Frauenheim vom 19. Juni 1897. ZBZ, LK 653. 232 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 29. März 1889 (ohne Druckdatum). S. 11. NB, V BE 5545. 233 Sabelus, Sklavin, 2009, S. 199.

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die bekannte politische Protestform des Melodramas als eine gut erzählte Geschichte erwies sich im Kampf für die Abschaffung der Prostitution durch eine hohe symbolische Wirkung und eine performative wie visuelle Präsenz als sinn- und machtvolles Instrument.“234 Solch eine melodramatische Inszenierung eines Problems löste „einen Prozess der Hegemoniedurchsetzung bürgerlicher Sexualitätsstandards aus“.235 Sabelus charakterisiert den Abolitionismus als soziale Bewegung, die eine moralische Panik initiierte, trug und verbreitete. Durch eine „spezifische Rhetorik und Strategie der Übertreibung und des emotionalen Betroffenseins“ gelang es ihr, die Aufmerksamkeit zu erregen und das Thema auf die Agenda des öffentlichen Interesses zu setzen.236 Nach Stanley Cohen produzieren Gesellschaften immer wieder moralische Paniken.237 Ein bestimmter Zustand, eine Episode, eine Person oder eine ganze Gruppe von Personen werden dabei als Bedrohung für die gesellschaftlichen Normen und Interessen wahrgenommen. Die Bedrohung wird dabei in stilisierter, stereotypisierter und übertriebener Form beschrieben. „Rechtschaffene“, sozial anerkannte Experten, wie Herausgeber, Bischöfe, Politiker (oder eben Sittlichkeitsvereine), stellen ihre Diagnosen und präsentieren Lösungen des Problems. Das Konzept der moral panic des britischen Soziologen Stanley Cohen beschreibt drei Aspekte als kennzeichnend für das verwendete Sprachinventar: Prophezeiungen, Symbolisierung sowie als Drittes Übertreibung und Verzerrung.238 Diese drei Elemente finden sich immer wiederkehrend in der Flut an Schriften der Sittlichkeitsvereine. Ihre wortgewaltige Sprache hatte denn auch einen wesentlichen Vorteil: Sie legitimierte das Eingreifen der Sittlichkeitsvereine in die Gesellschaft und forderte zur Kontrolle und sittlichen Erziehung der Bevölkerung und insbesondere der Unterschichten auf. Mit dem Ersten Weltkrieg bröckelte der Einfluss der Sittlichkeitsvereine dann jedoch nach und nach ab.239 Angesichts der Kriegssituation und deren Ausnahme­ erscheinung nahm eine nüchterne Diskussion über die Prostitution überhand, die auch nach dem Weltkrieg fortdauerte, wie dies Béatrice Ziegler für Bern sowie ­Dominique Puenzieux und Brigitte Ruckstuhl für Zürich aufgezeigt haben.240 Die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1918 läutete 234 Sabelus, Sklavin, 2009, S. 201. 235 Sabelus, Sklavin, 2009, S. 202. 236 Sabelus, Sklavin, 2009, S. 103 – 114. Zit. S. 121. 237 Vgl. Cohen, Devils, 2002. 238 Vgl. Cohen, Devils, 2002, S. 19. Cohen geht auf diese drei sprachlichen Elemente („Exag­ geration and Distortion“, „Prediction“, „Symbolization“) detailliert ein (vgl. Cohen, Devils, 2002, S. 19 – 30). 239 Auf den Umgang mit Freizeitvergnügen vermochten sie jedoch länger Einfluss auszuüben, wie Roland Engel feststellt, der den Kurswechsel hin zu einer liberaleren Handhabe der Unterhaltungskultur in Zürich Ende der 1920er Jahre festmacht (Engel, Festseuche, 1990). 240 Vgl. Ziegler, Arbeit, 2007, S. 236 – 241; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 215 – 234.

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in der Schweiz eine neue Phase im Umgang mit Prostitution und Geschlechtskrankheiten ein, in der den Ärzten die dominante Stellung zukam und neue Strategien zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten eingeleitet wurden.241 Die neu gegründete Gesellschaft, die sehr einflussreich war, wollte ein Spezialgesetz einführen, das möglichst viele geschlechtskranke Personen, nicht nur Prostituierte, zum Gang zum Arzt motivieren sollte. Eine Meldepflicht, die geschlechtskranken Männern wie Frauen den Arztbesuch vorschrieb, eine Zwangsbehandlung beim mutwilligen Therapieabbruch sowie Verhängung einer Strafe bei Sexualverkehr während der Ansteckungsphase sollten die Geschlechtskranken dazu bringen, ihre Krankheit behandeln zu lassen und damit weitere Ansteckungen zu vermeiden. Die Gesellschaft empfahl zudem die Einrichtung von sogenannten Desinfektionsanstalten, in denen sich Männer präventiv desinfizieren lassen konnten.242 In der Prävention vertrat die Gesellschaft jedoch konservative Werte. Sie propagierte – wie die Sittlichkeitsvereine – als einziges wirksames Mittel gegen eine Ansteckung die Sexualabstinenz. Um nicht der Propagierung außerehelicher Sexualität verdächtigt zu werden, hütete sie sich, Kondome als Schutzmittel zu empfehlen.243 Im Unterschied zu den Sittlichkeitsvereinen waren ihre Aufklärungskampagnen aber nicht mit einem moralischen Unterton versehen. Ihre Argumente waren medizinischer Natur.244 In den 1940er Jahren, mit der Einführung des eidgenössischen Strafgesetzbuches 1942, wurde die „gewerbsmässige Unzucht“ weitgehend als straffrei erklärt.245 Die Sittlichkeitsvereine hatten erneut – jedoch diesmal vergeblich – versucht, diese Kehrtwende abzuwenden.246

241 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 237. 242 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 253. 243 Silberschmidt, Geist, 2004, S. 161. 244 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 243. 245 Die Prostitution wurde in Artikel 206 betreffend Anlockung zur Unzucht und Artikel 207 betreffend Belästigung durch gewerbsmäßige Unzucht behandelt. Prostitution als solche war straffrei. Nicht erlaubt hingegen war vorsätzliche Anlockung zur Unzucht, beispielsweise auf der Straße Männer anzusprechen. Ebenfalls durfte keine Belästigung des Umfeldes stattfinden, ansonsten machte sich die „Dirne“ straffällig. In beiden Fällen (Art. 206 und Art. 207) musste eine Vorsätzlichkeit vorliegen (vgl. Rapport an die Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern, 9. März 1943. StadtA Bern, Stadtpolizei, Mappe 4. Dossier 9, Dirnenwesen 1943 – 1952.). Bei unmündigen Prostituierten unter 18 Jahren hatte der Richter über ihren „körperlichen und geistigen Zustand und über ihre Erziehung genaue Berichte“ einzuholen (zum Werdegang des Gesetzes vgl. Germann, Strafgesetzbuch, 1944, S. VII f., und Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 328). 246 Die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit sowie andere Vereinigungen der Sittlichkeitsbewegung reichten mehrere Eingaben ein. Vgl. Bundesarchiv Bern, E 4110 (A), 1000/820, A.2.05 – 1937.

3 Die evangelischen Vereine zur Hebung der Sittlichkeit um 1900 3.1

Die Anfänge der Sittlichkeitsbewegung

Abb 13 Arbeitsprogramm für den kantonalen zürcherischen Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit, Oktober 1889.

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Abb 14 Statuten des Zürcherischen Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit von 1888.

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Die deutschschweizerischen evangelischen Sittlichkeitsvereine gehörten der Bewegung zur Hebung der öffentlichen und privaten Sexualmoral an, die ihren Anfang in England nahm und sich seit den 1860er Jahren in unterschiedlichen regionalen Ausprägungen auf weite Teile Europas und Nordamerikas ausbreitete. Im Kampf gegen die Einführung der Reglementierung der Prostitution nicht wie bisher nur auf Militärbasen, sondern allgemein verbindlich, formierte sich 1869 in England unter Josephine Butler eine Oppositionsbewegung mit dem Namen „Abolitionismus“.1 Der englische Abolitionismus, dessen Name in Anlehnung an die amerikanische Anti-Sklaverei-Bewegung entstand, opponierte gegen die Reglementierung und verlangte die Bekämpfung der white slavery, der Prostitution, durch neue Gesetze und Fürsorgemaßnahmen für die Prostituierten. Er kämpfte für die Befreiung der Frauen aus der sexuellen Versklavung durch Männer. Josephine Butler, die Führerin der englischen abolitionistischen Bewegung, propagierte die gleichen Rechte und die gleiche Moral für Mann und Frau, verlangte die Aufwertung der Frauen und den Kampf gegen ihre Vermarktung als „Ware Sex“. Zudem forderte sie die bürgerlichen Frauen zur wohltätigen Arbeit mit den Prostituierten auf, speziell zur Errichtung von offenen Heimen, wo die Frauen Tag und Nacht Unterschlupf finden konnten.2 Die aus einer hugenottischen Familie stammende, streng religiös erzogene ­Josephine Butler sah die Prostitution als Verletzung der „göttlichen Sittengesetze“ an, die außer­ eheliche Sexualität verboten. In den Augen Butlers waren nicht die Prostituierten moralisch verwerflich, sondern jene, die für das sittliche, soziale und ökonomische Elend der Prostituierten verantwortlich waren und die Frauen so dazu brachten, sich zu prostituieren. Als Ursachen der Prostitution sah Butler die Geringschätzung der Frau, ihre soziale und wirtschaftliche Benachteiligung sowie die ungezügelte Triebhaftigkeit des Mannes, die sich in der entsprechend großen Nachfrage nach käuflichem Sex ausdrücke. Sie kritisierte, dass die Frauen in ihren Rechten missachtet und die Männer in ihrem Laster nicht angetastet würden. Die Männer, die ihr Triebe ungehemmt auslebten, sollten darauf verzichten und die Frauen als gleichwertige Persönlichkeit anerkennen, so eine zentrale Forderung von Butler. 1875 gründete sie eine internationale Vereinigung, die zuerst Fédération britannique, continentale et générale pour l’abolition de la prostitution hieß, 1901 in Fédération abolitionniste internationale (FAI) umgetauft wurde.3 1

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Vgl. zu den Contagious Diseases Acts, welche die Reglementierung der Prostitution regelten, und den Reaktionen darauf ausführlich Walkowitz, Prostitution, 1980. Im deutschsprachigen Raum wird die abolitionistische Bewegung Sittlichkeitsbewegung genannt, in angelsächsischen Ländern spricht man von social purity movement. Journal du bien public, 1879, 4. Jahr, Nr. 3, S. 19 f.; Journal du bien public, 4. Jahr, Nr. 4, 1879, S. 31 f. sowie Journal du bien public, 1879, 4. Jahr, Nr. 11, S. 87 f. Janner, Frauen, 1992, S. 52; Käppeli, Croisade, 1990, S. 195; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 112. Die Statuten der Fédération sind enthalten in: Pappitz, Anna. Die Teilnahme der Frauen. In:

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Die abolitionistische Bewegung fasste nach einer Vortragsreise von Josephine Butler in der Schweiz in den 1870er Jahren Fuß. Butler hatte verwandtschaftliche Beziehungen zur französischsprachigen Schweiz, was ihr den Zugang zur Genfer, Waadtländer und Neuenburger Aristokratie ermöglichte.4 Es waren denn auch diese aristokratischen Familien, die sich für die Ideen Butlers mobilisieren ließen.5 Im schweizerischen Nationalkomitee der Fédération saßen anfänglich ausschließlich Männer – ganz im Gegensatz zu England, wo Frauen stark vertreten waren.6 Die Frauen gründeten separate Organisationen. Josephine Butlers Besuch hatte zur Folge, dass 1877 in der französischsprachigen Schweiz die Oeuvres du secours gegründet wurden, die sich für Wohltätigkeitsarbeit einsetzten und zahlreiche Mädchenasyle eröffneten, sowie die Dames de la Fédération, die neben der Forderung zur Hebung der Sittlichkeit auch ein egalitäres Verhältnis zwischen den Geschlechtern verlangten. Trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung schlossen sich diese beiden Organisationen 1875 zum Comité intercantonal de dames de la Suisse zusammen. Die Oeuvres du Secours gründeten verschiedene Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen. Das Erste entstand 1875 in La Chaux-de-Fonds. Es folgten Heime in Le Locle, Neuchâtel und Sagne.7 Am ersten internationalen abolitionistischen Kongress 1877 wurde zudem die Vereinigung der Freundinnen junger Mädchen gegründet. Diese eröffnete Wohnheime für alleinstehende Berufstätige (Marthahäuser) sowie Bahnhofswerke mit „Platzierungsbüros“, die allein reisenden jungen Mädchen und Frauen als Anlaufstellen dienten, vor „Mädchenhändlern“ zu schützen suchten und ihnen beim Finden einer Unterkunft oder einer geeigneten Stelle behilflich waren.8 Die finanzielle Basis dieser abolitionistischen Vereinigungen sicherte die nach dem Muster der Missionskollekten gegründete Association du sou pour le relèvement moral oder Kollektenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, die sich in der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz sowie im Elsass ausbreiteten.9 Sammlerinnen gingen von Haustüre zu Haustüre, berichteten von der Arbeit der Vereine und warben

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Lange, Helene; Bäumer, Gertrud (Hg.). Handbuch der Frauenbewegung, Bd. 2, Berlin 1901. S. 154 – 193. Hier S. 162. Käppeli, Feminismus,1984, S. 48. Butlers Schwester war mit einem Bankier aus dem Waadtland verheiratet. Vgl. hierzu ausführlich bei Käppeli, Feminismus, 1984, S. 48. Janner, Frauen, 1992, S. 52 – 54. Janner verweist auf Actes du Congrès de Genève 17.–23. Septembre 1877. Herausgegeben von der Fédération britannique, continentale et génerale, 3 Bände, ohne Jahr. S. Teil 1: Mémoires historiques, S. 264. Journal du bien public, revue d’économie sociale et d’éducation populaire, Bulletin des Œuvres du Secours. 3. Jahr, Nr. 3, 1878, S. 17. Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 163. Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 162.

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um neue Mitglieder, die sich lediglich dazu verpflichten mussten, wöchentlich eine kleine Summe, den sogenannten sou, zu spenden.10 Die Tätigkeit der Sammlerinnen half mit, die Sittlichkeitsbewegung in breiten Kreisen bekannt zu machen. In der deutschsprachigen Schweiz breiteten sich in den 1870er Jahren als erste Frauen­organisation der abolitionistischen Bewegung die Freundinnen junger Mädchen aus. Außerdem entstanden ebenfalls in den 1870er Jahren in Bern und in Zürich erste lokale Komitees der Fédération, die reine Männerkomitees waren.11 In Bern wurde 1877 der Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit gegründet.12 Auch in Zürich kam es in den 1870er Jahren zum Zusammenschluss eines Komitees zur Hebung der Sittlichkeit, das sich nach einer erfolglosen Eingabe zur Abschaffung der Bordelle jedoch wieder auflöste.13 Zur eigentlichen Vereinsgründung eines Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit kam es schließlich 1888. In Basel blieb eine solche Vereins­ gründung ganz aus.14 Außer in Bern und Zürich entstand in der Deutschschweiz einzig in St. Gallen ein weiterer Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit. Dieser wurde allerdings erst spät, während des Ersten Weltkrieges, gegründet.15 Die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit der Deutschschweiz entstanden erst zehn Jahre nach der Gründung entsprechender Frauenvereine in der Westschweiz, von Männerkomitees in Bern und Zürich sowie der Freundinnen junger Mädchen.16 In elf Kantonen der Deutschschweiz wurden seit den 1880er Jahren Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit gegründet.17 Der Zürcher Frauenverein meinte, das Zögern 10 Vgl. zur Association du sou pour le relèvement moral Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 162. 11 Janner, Frauen, 1992, S. 52 f. Janner verweist auf Actes du Congrès de Genève 17.–23. Septembre 1877. Herausgegeben von der Fédération britannique, continentale et génerale, 3 Bände, ohne Jahr. S. Teil 1: Mémoires historiques, S. 268 f.; Vgl. auch Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 164. 12 Aufruf zur Gründung eines Bernischen Vereins zur Hebung der Ordnung und Sittlichkeit der Stadt Bern resp. einer Sektion der Fédération britannique. April 1877. NB, V BE 5545. 13 Demme, Bestrebungen, 1904, S. 157; 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 12. 14 Der Advokat und Grossrat Hermann Christ-Sozin (1833 – 1933) versuchte vergeblich, ein paral­leles Männerkomitee zu gründen ( Janner, Frauen, 1992, S. 64). Zu Christ-Sozin vgl. Roth, Politik, 1988, S. 138. 15 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. 16 Dominique Puenzieux und Brigitte Ruckstuhl zählen folgende Vereine und Organisationen zur deutschschweizerischen Sittlichkeitsbewegung: die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit, die Vereine Freundinnen junger Mädchen, die Marthavereine, der Verein Ethos der Studentenschaft und der Schweizerische Verein der Freunde des jungen Mannes (vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 269, Anm. 2). 17 Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit entstanden neben Zürich, Basel, Bern in Aargau, in Appenzell, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, Solothurn, Winterthur, St. Gallen und Thurgau (Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 13 – 34.).

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der Deutschschweizer Frauen möge zum Teil „an den geordneteren Verhältnissen unserer kleinen Städte liegen“, zum Teil auch falle „es der Eigenart der deutsch-schweizerischen Frau schwerer, aus dem eng begrenzten Rahmen ihres häuslichen Lebens herauszutreten und in die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens einzugreifen“.18 Einzig in Bern hatte sich nach einem Vortrag von Josephine Butler bereits im Jahr 1875 ein Frauenkomitee zusammengeschlossen, das Sittlichkeitsarbeit leistete. 19 Es bildete sich jedoch vorerst kein Verein.20 1886 wurde aus diesem Frauenkomitee heraus der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit gegründet. Ausschlaggebend für die Konstituierung eines Vereins war der Besuch von Gertrude Guillaume-Schack, einer Vorkämpferin des Abolitionismus in Deutschland, im August 1885 in Bern,21 wo sie zwei Vorträge vor weiblichem Publikum hielt. In Zürich entstand 1887 der Zürcherische Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, kurze Zeit vor der Gründung des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit im Jahr 1888. Der Erfolg des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit in seinem Bordellkampf, der in der Schließung der Berner Bordelle mündete, unterstützte die Konstituierung der beiden Zürcher Vereine. Der unmittelbare Ausschlag aber, der Tropfen quasi, der das Fass zum Überlaufen brachte, bildete das Ruchbarwerden der Tatsache, dass bereits Gymnasiasten ins Bordell gingen.22 In Basel kam es deutlich später zu einer Vereinsgründung als in Zürich und Bern,23 nämlich erst 1892. Die Aktivitäten des Vereins blieben aber bis 1896 auf die Durchführung einer Jahresversammlung der Freundinnen junger Mädchen und der Association de Dames suisses pour le Relèvement Moral, die im Mai 1893 stattfand, beschränkt.24 18 1. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1889, S. 6. 19 11. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 2 f. Das Komitee gründete das erste Wöchnerinnenheim Berns und kümmerte sich um „gefährdete“ und „gefallene“ Frauen. 20 Das Frauenkomitee stand in enger Zusammenarbeit mit der Association du Sou, der sie angehörten, und trat dem Comité intercantonal de dames de la Suisse bei (11. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 3; Bracher, Geschichte, 1986, S. 13). 21 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptver­ sammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 8. NB, V BE 5545. 22 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 6; 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 12. 23 Bereits 1882 wurde jedoch die Basler Sektion der Freundinnen junger Mädchen gegründet, die 1890 ein Bahnhofsheim eröffneten ( Janner, Frauen, 1992, S. 63). 1883 entstand ein Asyl für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen, das Mädchenasyl am Nonnenweg, sowie 1892 das Entbindungsheim Bethesda für erstmalig „gefallene“ Mädchen. 24 Janner, Frauen, 1992, S. 65. Nach der Durchführung dieser Jahresversammlung fanden noch zwei Sitzungen des Komitees statt, danach erloschen die Aktivitäten für drei Jahre ( Janner, Frauen, 1992, S. 65).

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Nach der Jahresversammlung erlosch die Vereinstätigkeit bis 1896, als mit dem Eintritt einer neuen Präsidentin, Lily Zellweger-Steiger, neuer Schwung in den Verein kam. Aus der Sittlichkeitsbewegung heraus entstanden in der Deutschschweiz zudem christliche Vereine für junge Männer.25 Diese Vereinigungen boten jungen Männern christliche und sittliche Unterhaltung, Kunst, Wissenschaft und „Erbauung“. Sie dienten als Begegnungsort „fernab der Ausschweifungen anderer Vereine“ und boten ein „sicheres Heim“.26 Ihr erklärtes Ziel war es, junge Männer „vor Verrohung oder vor Versimpelung zu bewahren“.27 Die jungen Männer verpflichteten sich zu einem keuschen Leben und mussten sich strengen Vorschriften unterziehen, um ihre Begierden zu beherrschen.28 Die Vereine für junge Männer blieben unter den Jugendvereinen jedoch eine Randerscheinung, die nur wenige Mitglieder an sich zu binden vermochten.29 1900 wurde zudem das Schweizerische Nationalkomitee gegen den Mädchenhandel gegründet, das gegen den Frauenhandel kämpfte,30 und 1904 entstand ein deutschschweizerischer Zweig des Schweizerischen Bundes gegen die unsittliche Literatur,31 nachdem vor der Jahrhundertwende in diversen Städten lokale Vereine zur Bekämpfung der Pornografie und von als „unsittlich“ eingestuften Werken sowie zur Verbreitung „guter“ Schriften entstanden waren.32 In den Fokus des Bundes gegen 25 Es entstanden in Anlehnung an den 1890 gegründeten Deutschen Bund vom Weißen Kreuz in der Schweiz Vereine des Weißen Kreuzes, in Zürich etwa 1892 (vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 269, Anm. 1 und 2. Zum Deutschen Bund vgl. Fout, Politics, 1992, S. 281 f.). In Bern wurde 1885 der Verein für junge Männer, Philadelphia genannt, gegründet. 1901 entstand eine weitere Sektion des Philadelphia in Thun (vgl. Demme, Bestrebungen, 1904, S. 160; Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 1. Februar 1886. S. 7 (ohne Druckdatum). NB, V BE 5545). 1906 wurde der Schweizerische Verein der Freunde des jungen Mannes gegründet, wo junge Männer Rat von älteren, erfahrenen Männern erhalten konnten und wo sie auf bestehende Vereine für junge Männer hingewiesen wurden (Wild, Soziale Fürsorge, 1919, S. 11). 26 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 1. Februar 1886 (ohne Druckdatum). S. 7. NB, V BE 5545. 27 Demme, Bestrebungen, 1904, S. 160. 28 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 269, Anm. 1. 29 Das Weiße Kreuz in Zürich bestand konstant aus rund 80 bis 90 Männern (Puenzieux, Medizin, 1994, S. 269, Anm. 1). 30 Vgl. Näheres zum Nationalkomitee Bohnenblust, Zentralstelle, 2007. 31 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 33. Zum Bund gegen unsittliche Literatur und zum Kampf der Sittlichkeitsbewegung gegen „Schmutz-“ und „Schundliteratur“ vgl. Gurtner, Kultur, 2004. 32 In Bern entstand z. B. 1890 der Verein Bern für Verbreitung guter Schriften (Demme, Bestrebungen, 1904, S. 161). 1904 bestanden im Kanton Bern bereits 24 Ausschüsse. Bis Ende 1900 wurden über zwei Millionen Vereinsschriften, genau 2.099.662, verkauft (Demme, Bestrebungen, 1904, S. 161).

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die unsittliche Literatur gerieten auch neue Medien, wie das Kino oder deren Vorgänger, die Kinematografen. Auch die hier im Zentrum stehenden Vereine zur Hebung der Sittlichkeit waren aktiv im Kampf gegen Pornografie, „unsittliche“ Werke und Frauenhandel tätig, dem in der Deutschschweizer Sittlichkeitsbewegung generell ein großer Stellenwert beigemessen wurde. Die Sittlichkeitsvereine der deutschsprachigen Schweiz waren trotz ihrer evangelischen Prägung für Mitglieder aller Religionsrichtungen offen. So schrieb etwa der Berner Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit, er wolle „Männer aller politischen, kirchlichen, socialen Richtungen“ in einem Verein vereinen.33 Aufgrund der immer deutlicher hervortretenden konfessionellen Prägung der Sittlichkeitsvereine kam es jedoch noch vor der Jahrhundertwende zu einer konfessionellen Ausdifferenzierung. Die Sittlichkeitsvereine blieben weiterhin für Mitglieder anderer Religionen offen. Von katholischer und jüdischer Seite entstanden jedoch Pendants zu den evangelisch geprägten Sittlichkeitsvereinen, die sich auf ihre Religionsangehörigen beschränkten. Schon 1885 hatten die israelitischen Frauen einen eigenen Schweizer Verband zum Schutz von Frauen und Kindern gegründet.34 Die Katholiken gründeten mehrere Parallelvereinigungen zu den evangelischen Sittlichkeitsvereinen,35 die sich stark von den evangelischen Vereinen abgrenzten und eigene Zugriffsmöglichkeiten auf junge Frauen schufen. Da viele katholische Mädchen auf der Suche nach Arbeit aus ihren ländlichen, katholischen Heimatgebieten in die Städte abwanderten, kamen sie bei einem entsprechenden Lebenswandel mit den dortigen evangelisch ausgerichteten Sittlichkeitsvereinen in Berührung. Die katholischen Vereine sollten sich der jungen Katholikinnen in der Fremde annehmen, um die Bindung an die katholische Religion aufrechtzuerhalten. Die Gründung eigener katholischer Fürsorgeinstitutionen steht im Zusammenhang mit der Herausbildung eines starken katholischen Standesbewusstseins. Nach dem Kulturkampf der 1870er und 1880er Jahre zwischen Staat und Kirche bauten die katholisch-konservativen Politiker mit der katholischen K ­ irche zusammen ein dichtes Netz von Organisationen auf. Es bildete sich eine katholische „Subkultur“ heraus.36 Als Folge entstanden eigene katholische Einrichtungen, wie Fürsorgevereine, Erziehungsheime, eine eigene christlichsoziale Gewerkschaft, die Caritas, katholische Krankenkassen, Turnvereine, Gesangsvereine, ein christlich­ sozialer Arbeiter- und Arbeiterinnenverein etc. 33 Aufruf zur Gründung eines Bernischen Vereins zur Hebung der Ordnung und Sittlichkeit der Stadt Bern resp. einer Sektion der Fédération britannique. April 1877. NB, V BE 5545. 34 Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 162. Zur jüdischen Frauenbewegung im deutschsprachigen Raum vgl. Grandner, Geschlecht, 2005. 35 Ausführlich bei Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 268 – 277; auch Altermatt, Katholizismus, 1989, S. 206 – 211; Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007, S. 15 f.; Schweizer, Verband, 1999, S. 19. 36 Vgl. Altermatt, Weg, 1995; Altermatt, Katholizismus, 1989; Altermatt, Konfession, 2009.

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Die Schweizer Sittlichkeitsvereine gehörten unterschiedlichen Flügeln der aboli­ tionistischen Bewegung an.37 Die einen kämpften politisch für ihre egalitären Forderungen, andere widmeten sich mehr der praktischen Fürsorgearbeit; die einen richteten ihr Augenmerk auf die sittlich-religiöse Erziehung der Bevölkerung, andere mehr auf den Kampf für Frauenrechte und Rechte der Prostituierten. In der französischsprachigen Schweiz etablierte sich mehrheitlich eine emanzipative Richtung der Sittlichkeitsbewegung,38 die in der Tradition von Josephine Butler politisierte.39 Dieser Abolitionismus englischer Prägung setzte sich für eine liberalere Handhabung der Prostitution und mehr Rechte für die Prostituierten ein, lehnte sich gegen eine moralische Wertung der Prostitution auf und machte sich grundsätzlich für gleiche Rechte für Mann und Frau stark. In der deutschsprachigen Schweiz hingegen etablierte sich mehrheitlich eine konfessionelle Richtung der Sittlichkeitsbewegung. Es überwogen in den Deutschschweizer Sittlichkeitsvereinen denn auch Ortsvereine, die eher den traditionellen kirchlichen Hilfsorganisationen nahestanden als der Fédération.40 Die konfessionelle Richtung übernahm zwar die abolitionistischen Forderungen nach Triebbeherrschung des Mannes, gleicher Moral für beide Geschlechter, mehr Achtung gegenüber dem weiblichen Geschlecht und Bekämpfung der Reglementierung. Prostitution und Pornografie erachtete sie als Ausdruck der Erniedrigung des weiblichen Geschlechts. Jedoch kämpfte diese Richtung statt für mehr Rechte für die „Dirnen“ für deren Verfolgung und sittliche Erziehung. Sie argumentierte von der christlichen, monogamen Ehe aus, die es zu verteidigen galt, und von der „schwerlastende[n] Sünde 37 Zur deutschschweizerischen evangelischen Sittlichkeitsbewegung und den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zur englischen abolitionistischen Bewegung und zum Abolitionismus der französischsprachigen Schweiz vgl. Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 157 – 168; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 110 – 115; Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007, S. 14 f.; Janner, Frauen, 1992; Janner, Bilder, 1998; Käppeli, féminisme, 1987. Zum Abolitionismus in der französischsprachigen Schweiz vgl. Malherbe, Péril Vénérien, 2002; Käppeli, Feminismus, 1984, S. 47 – 52; Käppeli, Croisade, 1990. 38 Auch Beatrix Mesmer bezeichnet diese Ausrichtung als emanzipativen Flügel der Sittlichkeitsbewegung, die sich vor allem in der französischen Schweiz etablierte. Sie unterscheidet diesen vom gemäßigt-präventiven Flügel, der in der Schweiz durch die Vereinigung der Freundinnen junger Mädchen verkörpert worden sei, sowie vom repressiv-kirchlichen Flügel, der sich im Dachverband der deutsch-schweizerischen Vereine zur Hebung der Sittlichkeit manifestierte und Rückhalt bei den evangelisch-konservativen Parteien, den Freikirchen und den Landeskirchen fand (Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007, S. 14 f.). 39 Wie Judith Walkowitz gezeigt hat, entwickelte sich die abolitionistische Bewegung in England um die Jahrhundertwende zunehmend zu einer konservativen, repressiven und moralisierenden Bewegung, wie sie nicht im Sinne Butlers war. Viele Anhängerinnen und Anhänger des Abolitionismus trugen diese Ausrichtung mit – nicht so jedoch Judith Butler (Walkowitz, Prostitution, 1980). 40 Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 163.

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der Unsittlichkeit“,41 die es zu bekämpfen galt. Zudem gehörten die Deutschschweizer Frauenvereine eher der gemäßigten Richtung der Frauenbewegung an, wie wir noch sehen werden, während ihre Pendants in der französischsprachigen Schweiz eher der egalitären Richtung anzurechnen sind. Die Deutschschweizer Vereine zur Hebung der Sittlichkeit forderten denn auch, dass sich beide Geschlechter dem gleichen Sittenkodex unterwerfen sollten: kein Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe. Die herrschende Doppelmoral, die den Männern außereheliche Sexualität erlaubte, den Frauen hingegen nicht, bekämpften sie entsprechend entschieden. Die käufliche Liebe galt den Sittlichkeitsvereinen als extremster Ausdruck der Doppelmoral und Sinnbild für die Entwürdigung der Frau durch die ungehemmte Triebbefriedigung des Mannes. Die Prostitution – und damit auch die Doppelmoral – sei es, welche die christliche Familie zerstöre und durch die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten die Volksgesundheit untergrabe. Die Ehe war ihnen heilig. Auch ein Verlöbnis sollte nicht erlauben, sexuellen Verkehr zu haben, sondern erst die Ehe sollte dazu berechtigen.42 Sie stützten sich dabei auf seit den 1880er Jahren von Ärzten aus verschiedenen Ländern veröffentlichte Gutachten, welche die Unschädlichkeit der sexuellen Abstinenz für den Mann untermauern und wissenschaftlich legitimieren sollten.43 Dem Mann wurde zwar auch von ihnen ein stärkerer Geschlechtstrieb als den Frauen attestiert, jedoch verlangten sie von den Männern, ihre Triebe unter Kontrolle zu halten. Dieser Kampf „gegen den Reizzustand im Bereich der Genitalsphäre“ müsse „vom Mann überhaupt durchgekämpft werden“, und er müsse „in seiner Intention Sieger werden“.44 Bei Nichteinhalten ihrer Sexualnorm drohten Geschlechtskrankheit und zerstörtes Familienglück. Dieses Bild der kontrollierten Lust als Zeichen der (vernunftgesteuerten) Männlichkeit entsprach einem verbreiteten Männlichkeitsentwurf, wie er mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft virulent wurde.45 Aufgrund des angeblich geringeren Geschlechtstriebes der Frau, der nur durch den Mann entfacht werden konnte oder sogar ganz ausblieb, galt die Frau dem Mann als sittlich überlegen. Sie sollte deshalb die Rolle der „Sittenwächterin“ übernehmen und ihren Ehemann zu einem sittlich reinen Leben führen. Der Fokus der Sittlichkeitsvereine lag in ihrer Fürsorge- und Erziehungs­arbeit entsprechend ausgeprägt auf der sittlichen Erziehung der Mädchen und Frauen. 41 Vortrag zu der kl. Einweihungsfeier des neugebauten Asyles Pbrunnen. EFZ, Schachtel C.1. Heft 1. 42 Liebe Frauen und Mütter! Um 1911. S. 4. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 27:3. 43 Vgl. zur kontroversen Diskussion Puenzieux, Medizin, 1994, S. 150 – 167. 44 Wyss, Oskar. Die Gefahren des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs. Druckschriften der akademischen Vereinigung Ethos Zürich. Zürich 1901. S. 16. Zit. nach Puenzieux, Sieg, 1994, S. 110. 45 Vgl. Hull, Sexuality, 1996; Martschukat, Geschichte, 2008, S. 149 – 151; Brunotte, Männlich­ kei­ten, 2008; Fout, Politics, 1992, S. 284 f.; Sarasin, Maschinen, 2001, S. 240 und 419 f.

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Die Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine gehörten denn auch den kulturkritischen Reformbewegungen des fin de siècle an, die im rasanten gesellschaftlichen Wandel der Jahrhundertwende eine Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung und den Verlust alter Werte sahen. Die Ziele und Lösungsstrategien der kulturkritischen Bewegungen waren sehr unterschiedlich. Ihnen allen gemeinsam war jedoch ihr Anstreben von Reformen, mit denen sie die Gesellschaft verändern wollten. Individuelle Verhaltensänderungen sollten die Gesellschaft revolutionieren. Die Hinwendung zu einem einfacheren und enthaltsameren Leben sahen sie als Lösung der gegenwärtig empfundenen Krise. Ein Teil der kulturkritischen Bewegungen setzte sich insbesondere für eine sittliche Reform ein, wozu auch die Deutschschweizer Vereine zur Hebung der Sittlichkeit zu zählen sind. Die Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine arbeiteten eng mit anderen religiös orien­tierten Organisationen protestantischer Richtung zusammen, etwa bei Behörden­ eingaben, durch Informationsaustausch, gegenseitige finanzielle Unterstützung oder durch enge Zusammenarbeit in der Fürsorgearbeit. Ein reger Austausch bestand vor allem mit inländischen, aber auch ausländischen protestantischen Vereinen, die sich für den Schutz junger Mädchen vor Prostitution, Frauenhandel und ausserehelicher Mutterschaft, für die sexuelle Reinheit von jungen Männern und Frauen sowie für den Kampf gegen Alkoholismus und „unsittliche“ Literatur einsetzten.46 Die Sittlichkeitsvereine bedienten sich eines weit gefassten, stark religiös eingefärbten Sittlichkeitsbegriffs. Er beinhaltete eine moralisch einwandfreie, religiös gefestigte Lebensführung, die eine Mäßigung oder gar Abstinenz von „Ausschweifung“, „Genuss- und Vergnügungssucht“, Alkohol und Sex erforderte. Züchtige Kleidung, sexuelle Reinheit des Körpers bis zur Ehe, Monogamie, Triebkontrolle, „sittsame“ Lektüre, mäßiger Alkoholkonsum, züchtige Freizeitvergnügen, Ablehnung von freizügiger Kunst, erotischer Literatur oder von Kinofilmen mit zweideutigen Anspielungen bildeten ihre Anforderungen an einen vertretbaren Lebensstil. Wie viele Zeitgenossen waren die Sittlichkeitsvereine skeptisch gegenüber dem Indivi­ dualismus, Rationalismus und Materialismus eingestellt, betonten die von den wachsenden Großstädten und deren Vergnügungsangeboten ausgehende Gefahr und bekämpften neben dem Sittenzerfall den diagnostizierten Familienzerfall und die geortete überhandnehmende Säkularisierung in der Bevölkerung. Gegenüber der sozialen Frage vertraten die Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine in ihren Anfängen die Ansicht, dass diese neben einer Rechristianisierung nicht zuletzt durch 46 Dies waren vor allem die Freundinnen junger Mädchen, die Vereine gegen unsittliche Literatur, die Marthavereine, die Abstinenzvereine und die Vereinigungen gegen den „Mädchenhandel“. Auch mit Vereinen aus Deutschland bestand ein reger Austausch, indem etwa deutsche Mitglieder Vorträge in der Schweiz hielten oder indem sie sich über ihre Fürsorgeaktivitäten austauschten.

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die Unterweisung von Frauen aus der Unterschicht in bürgerlichen Moral- und Familienvorstellungen sowie Hygienevorschriften zu lösen sei, eine Sichtweise, die sie mit zahlreichen Anhängerinnen und Anhängern der frühen Frauenbewegung und der Sozialreform des ausgehenden 19. Jahrhunderts teilten.47 Sie orientierten sich dabei stark an einer protestantischen Ethik von Disziplin, Bescheidenheit und Arbeitsamkeit. Symptomatisch für die unterschiedliche Ausrichtung der deutsch- und französischsprachigen Schweiz ist ihr Bruch im Jahr 1901. Die Deutschschweizer Frauen­ vereine zur Hebung der Sittlichkeit trennten sich wegen zunehmender Meinungsverschiedenheiten von der Fédération abolitionniste internationale und den abolitionistischen Vereinen der französischsprachigen Schweiz, indem sie die Verbindung zur Association du sou auflösten, und schlossen sich zusammen zum Verband deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit.48 Die Initiative zur Gründung eines Dachverbandes ging von den beiden großen Frauenvereinen in Bern und Zürich aus.49 Als Begründung für die Trennung wurde angeführt, die immer regere Tätigkeit der Sittlichkeitsvereine in der Deutschschweiz habe es notwendig gemacht, „das gesammelte und bisher mit der Föderation geteilte Geld den kantonalen Aufgaben zu erhalten und nach ihrem Bedürfen und Ermessen zu gebrauchen, um so mehr, da der Unterschied der Sprache, des Volkscharakters und der lokalen Verhältnisse sehr oft verschiedene Art der Arbeit und des Vorgehens bedingt“.50 Für die Abspaltung gab es noch andere Gründe.51 Im Mai 1901 beschloss die Fédération abolitionniste internationale neue Statuten, in denen die Hebung der öffentlichen Moral als Zweck der abolitionistischen Bewegung nicht mehr vorkam. Dagegen hielten sie fest, dass die „Prostitution kein Vergehen im strafrechtlichen Sinne ist, sondern ein Laster, welches nur das eigene Gewissen angeht“.52 Während sich die Westschweizer Vereine weiterhin zur Fédération bekannten, wollten sich die Deutschschweizer Vereine nicht mit der Entkriminalisierung der außerehe­ lichen Sexualbeziehungen abfinden. In seinem Gesamtbericht von 1914 schrieb der Dachverband der deutschschweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit in deutlicher Abgrenzung gegenüber dem englischen Abolitionismus, die 47 Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 116 – 128; Mesmer, Reinheit, 1982; Gerhard, Geschlecht, 2003, S. 268 – 275; Koller, Wohnen, 1995. 48 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 15. 49 Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 164. 50 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 9. 51 Vgl. hierzu Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 163 f. 52 Pappritz, Anna. Die Teilnahme der Frauen. In: Handbuch der Frauenbewegung II. S. 163. Zit. nach Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 163 f.; Weiss, Theodor, S. 2.

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Sittlichkeitsbewegung in der Schweiz sei nicht einfach englischer Import, sondern aus eigenen Bedürfnissen und Nöten entsprungen.53 Die Trennlinien zwischen den beiden Flügeln waren aber nicht scharf. Dies zeigt sich etwa darin, dass die abolitionistischen Frauenvereine der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz trotz des Bruches weiterhin bei politischen Eingaben zusammenarbeiteten. Außerdem gab es regionale Abstufungen. Das Beispiel des Basler Frauenvereins verdeutlicht diesen Umstand. Der Basler Frauenverein näherte sich unter dem Präsidium von Lily Zellweger den abolitionistischen Ideen der französischsprachigen Vereine und des englischen Abolitionismus an, im Gegensatz zum Berner und Zürcher Frauenverein.54 Der Frauenverein von Basel setzte sich denn auch früher als die anderen Sektionen öffentlich für das Frauenstimmrecht ein.55 Er forderte ferner eine Witwenrente sowie für beide Geschlechter gleichen Lohn für gleiche Arbeit und stellte sich gegen eine Zwangsuntersuchung allein der Frau, sondern forderte, dass auch Freier, die mit einer Prostituierten gesichtet wurden, auf Geschlechtskrankheiten zwangsuntersucht werden.56 Die Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit erfreuten sich großer Beliebtheit und vermochten vor allem die bürgerliche Frauenwelt zu mobilisieren. Der Dachverband der deutschschweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit avancierte zu einem der größten und einflussreichsten Frauenvereine der Schweiz.57 Der Basler, Zürcher und Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit wurden die mitgliederstärksten Sektionen des Verbandes. Ihre Mitgliederzahlen überschritten rasch die Tausend-Marke.58 53 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 8. 54 Vgl. zu den Unterschieden zwischen dem Basler und dem Berner und Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit bei Janner, Frauen, 1992; Janner, Bilder, 1998, S. 119 – 125. 55 Vgl. Kap. 3.2. 56 Vgl. zu den Forderungen des Basler Frauenvereins 11. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 5 – 7. 57 1912 avancierte er mit 20.000 Mitgliedern zum größten Frauenverein der Schweiz überhaupt (Brief von Emma Hess an Frau Pfarrer Schmutziger vom 24. April 1912. Gosteliarchiv, SEFSektion Bern, B 14:1.). Der Dachverband der deutschschweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit vermochte imposante Mitgliederzahlen aufzuweisen: 1904 waren es 13.709, 1914 25.000, 1915 25.614, 1926 35.793, 1927 37.796 (zu diesem Zeitpunkt existierten bereits 13 Sektionen), 1931 40.078. Den Höhepunkt seiner Mitgliederzahlen erreichte er 1967 mit 53.954 und total 16 Sektionen (vgl. Müller, Frauen, 2005, S. 29). Vergleichende Zahlen zu anderen Frauenverbänden bei Fetz, Schritt, 1984, S. 398, Anm. 2. 58 Der Zürcher Frauenverein zählte gleich nach der Gründung 1.200 Mitglieder (vgl. 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 8), 1897 bereits 3.000 Mitglieder (Eingabe an das Schweiz. Justiz- und Polizeidepartement betreffend Abänderung des Artikels 113 des Vorentwurfs eines schweiz. Civilgesetzbuches. 24. November 1897. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 23:1), im Jahr 1917

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Die Frauenvereine vermochten weitaus mehr Mitglieder zu gewinnen als ihre männlichen Pendants. Die Mitgliederzahlen der Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit lagen im dreistelligen Bereich.59 Der Zürcher Männerverein stand mitgliedermäßig und finanziell im Vergleich zu den anderen beiden Männervereinen relativ gut da und sah keinen Anlass zu Klagen über niedrige Mitgliederzahlen, schwach besuchte Jahresversammlungen, schwierige Mitgliederrekrutierung und mangelndes Engagement der Mitglieder, wie dies bei den anderen beiden Vereinen immer wieder der Fall war. Der Zürcher Männerverein regte wiederholt, aber ohne Erfolg neue Gründungen von Männervereinen zur Hebung der Sittlichkeit sowie den Zusammenschluss der bestehenden drei Vereine in Zürich, Bern und St. Gallen an.60 Auch der Basler 6.000 Mitglieder (30. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1917, S. 6). Der Basler Frauenverein war vor der Jahrhundertwende ein vergleichsweise kleiner Verein. 1897 zählte er 300 Mitglieder (Eingabe an das Schweiz. Justiz- und Polizeidepartement betreffend Abänderung des Artikels 113 des Vorentwurfs eines schweiz. Civilgesetzbuches. 24. November 1897. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 23:1). Nach der Trennung von der Fédération abolitionniste im Jahr 1901 schnellten durch verstärkte Propaganda und die Reorga­ nisation der Kollekte die Mitgliederzahlen rasch in die Höhe (vgl. 1. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1902, S. 2; auch Janner, Frauen, 1992, S. 81). Der Verein entwickelte sich in der Folge zur größten und einflussreichsten Frauenorganisation in Basel ( Janner, Frauen, 1992, S. 33; Der Basler Frauenverein, Oktober 1933. StABS, PA 882, B 2.2 c). 1902 hatte er 3.000 Mitglieder (1. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1902, S. 2), 1913 350 Aktivmitglieder und 6.000 Passivmitglieder ( Janner, Frauen, 1992, S. 81). In Bern existieren für die ersten Jahre der Vereinstätigkeit praktisch keine Angaben, 1907 hatten sie etwas mehr als 1.500 Mitglieder. In den folgenden Jahrzehnten stiegen die Mitgliederzahlen kontinuierlich. 1910 lagen sie bei etwas weniger als 3.000, 1920 bei gegen 4.000 und 1930 bei rund 7.000 Mitgliedern. Am meisten Mitglieder zählte der Verein 1960 mit 8.870 Mitgliedern (vgl. zu den Zahlen die Grafik bei Bracher, Geschichte, 1986, S. 35). 59 1890 zählte der Zürcher Männerverein 104 Mitglieder (50 Jahre Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, S. 18). 1897 waren es 210 (Ulrich, Bordelle, 1985, S. 142). Der Berner Männerverein verzeichnete in den 1920er Jahren rund 200 Mitglieder. Im Jahr 1923 gingen die Mitgliederzahlen von 203 auf 189 zurück ( Jahresbericht des Berner Männer-Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit über das Vereinsjahr 1922, S. 7. NB, V BE 5545), im Jahr 1924 von 185 auf 179 ( Jahresbericht des Berner Männer-Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit über die Vereinsjahre 1923 und 1924, S. 7. NB, V BE 5545), in den Jahren 1925 und 1926 auf 161 Mitglieder ( Jahresbericht des Berner Männervereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit für die Jahre 1925 und 1926, S. 6. NB, V BE 5545). 60 Vgl. Vierundzwanzigster Jahresbericht der kantonalen Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl und ihres ständigen Sekretariates. In: Nachrichten der schweizerischen Vereinigungen für sittliches Volkswohl und ähnlichen Institutionen. Beilage 2 zu den „Mitteilungen“ des Bundes gegen unsittl. Literatur. März 1934. Stattdessen wurden der St. Galler und der Berner Männerverein 1933 zu kantonalen Vereinigungen umgestaltet, denen andere Vereine als Kollektivmitglied

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Frauenverein setzte sich für die Gründung eines männlichen Pendants im Kanton Basel-Stadt ein, der die sittliche Hebung der männlichen Jugend vorantreiben sollte.61 Seine Bemühungen blieben jedoch ebenfalls erfolglos. Die deutlich niedrigeren Mitgliederzahlen hatten direkte Auswirkungen auf die Arbeit der Männervereine: Sie waren auf die finanzielle Zusammenarbeit mit den Frauen­vereinen angewiesen und mussten versuchen, neue Zielgruppen anzuwerben. In den 1920er Jahren schrieb der Berner Männerverein, er zähle noch 161 Mitglieder und sei „deshalb sehr froh“, dass er „mit dem Frauenverein in gewissen Fragen Hand in Hand arbeiten“ könne.62 Aufgrund des chronischen Mitgliedermangels und der sinkenden Mitgliederzahlen projektierte der Berner Männerverein die Gründung von Sektionen außerhalb von Bern.63 1933 öffnete er seinen Verein auch für weibliche Mitglieder.64 Auch der mitgliedermäßig etwas besser ausgestattete Zürcher Männer­ verein musste für die Beschäftigung eines Sekretärs auf die finanzielle Hilfe des Zürcher Frauenvereins und anderer Vereine – überwiegend Frauenvereine – zurückgreifen.65 Waren die Männervereine finanziell auf die Frauenvereine angewiesen, so bestand auch umgekehrt bis zu einem gewissen Grad eine Abhängigkeit: Bei ihren politischen Aktivitäten waren die Frauen auf die Mithilfe von Männern angewiesen, verfügten sie doch über kein Stimm- und Wahlrecht und blieb ihnen der Weg in politische Gremien verschlossen. Die deutschschweizerischen Frauen- und Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit arbeiteten denn auch eng zusammen in ihrem politischen Kampf und reichten teilweise parallel oder gemeinsam politische Eingaben ein.66 Sie hielten regelmäßig gemeinsame Komiteesitzungen ab und unterstützten finanziell gegenseitig Aktivitäten und Projekte, wie Vorträge, Erziehungsheime oder den Posten eines Sekretärs oder einer Fürsorgerin.

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beitreten konnten (Kantonal-bernische Vereinigung für sittliches Volkswohl. In: Nachrichten der schweizerischen Vereinigungen für sittliches Volkswohl und ähnlichen Institutionen. Beilage 3 zu den „Mitteilungen“ des Bundes gegen unsittl. Literatur. Mai 1934. S. 1). Protokoll des Vorstandes des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 4. November 1903. StABS, PA 882, E 1.1. Jahresbericht des Berner Männervereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit für die Jahre 1925 und 1926, gedruckt am 7. Februar 1927, S. 6. NB, V BE 5545. Am 5. Januar 1924 entstand in Thun eine solche Sektion ( Jahresbericht des Berner Männer-Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit über die Vereinsjahre 1923 und 1924, gedruckt im August 1925, S. 7. NB, V BE 5545). Kantonal-bernische Vereinigung für sittliches Volkswohl. In: Nachrichten der schweizerischen Vereinigungen für sittliches Volkswohl und ähnlichen Institutionen. Beilage 3 zu den „Mitteilungen“ des Bundes gegen unsittl. Literatur. Mai 1934. S. 1. P. P. Zürich, im Mai 1895. ZBZ, LK 653. Zur Aufgabenteilung und Zusammenarbeit sowie zum sozialen Hintergrund der Frauen in der abolitionistischen Bewegung Frankreichs vgl. Battagliola, Philanthropes, 2009, S. 135 – 154.

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Die Sittlichkeitsbewegung stieß in der Deutschschweiz bei Frauen offensichtlich auf deutlich mehr Interesse als bei Männern. Warum? Die expliziten und impliziten Motive der Mitglieder der Sittlichkeitsvereine sind nur schwer dechiffrier- und historisierbar, weil die Wohltäter stereotype Selbstbilder transferierten und nur selten eigennützigere und persönlichere Motive als Rettermotiv, Opferfreudigkeit und christliche Nächstenliebe offenbarten.67 Offenbar bekundeten aber Frauen – und zwar vorwiegend aus bürgerlichen Schichten – mehr Interesse am aktiven Kampf für eine Gesellschaft, die gegen Prostitution, Pornografie und sexuelle Ausbeutung vorgeht. Die bürgerlichen Frauen unterstanden bereits restriktiven Moralvorstellungen. Den Männern hingegen drohte durch die Aktivitäten der Sittlichkeitsvereine eine Beschneidung ihrer sexuellen Freiheiten und „Vergnügungen“. Der Berner Männerverein bemerkte, als der Berner Regierungsrat 1887 die Schließung der illegalen Bordelle in Bern beschloss: „Auch ist die Männerwelt zum grossen Theil mit dem Regierungsbeschlusse sehr unzufrieden und hält denselben für sehr dumm, – natürlich, – weil er ihren bösen Gelüsten den bisher gewährten Vorschub entzieht.“68

3.2 Die Mitglieder Schicht, Geschlecht und Religion sind jene drei sozialen Kategorien, die für die Einordnung der Mitglieder der Deutschschweizer Vereine zur Hebung der Sittlichkeit zentral sind. Anhand dieser drei Kategorien lässt sich zudem das „Funktionieren“ der in dieser Arbeit untersuchten Vereine aufzeigen. Eine intersektionelle Perspektive drängt sich deshalb für dieses Kapitel auf. Ausgehend von zwei prägenden Persönlichkeiten der Gründergeneration werde ich die Mitglieder, ihre Herkunft, ihren religiösen Hintergrund und ihre politische Zugehörigkeit aufzeigen. Da eine Einordnung der 67 Vgl. die Ausführungen bei Brandes, Armut, 2008, S. 34. Zu den vielfältigen Motiven von in wohltätigen Organisationen engagierten Personen vgl. etwa ausführlich Bec, Philanthropies, 1994; Friedman, Charity, 2003; Hamer, America, 2002; Adam, Stifter, 2009; Liedtke Religion, 2009; Brandes, Armenfürsorge, 2008; Topalov, Patronages, 1999; Duprat, Introduction, 1994, S. VIII; Schumacher, Selbstbilder, 2010, S. 39; Martschukat, Geschichte, 2008, S. 128 – 132; Jost, Sociabilité, 1991, S. 26; Hitzer, Zivilgesellschaft, 2009, S. 78. In der Forschungsliteratur finden sich teilweise auch tiefenpsychologische Erklärungsansätze für die Motive der Frauen und Männer der Sittlichkeitsbewegung (vgl. etwa Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 166; Käppeli, Feminismus, 1984, S. 49). Die Quellen ermöglichen jedoch keine solchen Schlüsse, existieren doch meines Wissens keine entsprechenden Aussagen von in der Sittlichkeitsbewegung engagierten Frauen und Männern. 68 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 25. April 1888. S. 5 (ohne Druckdatum). NB, V BE 5545.

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Frauen weit schwieriger ist – ich werde in diesem Kapitel darauf zurückkommen –, versuche ich die weiblichen Mitglieder zudem über ihre Zugehörigkeit zu anderen Frauenvereinen und der Frauenbewegung einzuordnen.

Zwei prägende Persönlichkeiten Christian Beyel Eine der prägendsten Persönlichkeiten der deutschschweizerischen Sittlichkeitsbewegung war Christian Beyel, Ingenieur, Mathematiker, Privatdozent an der Universität Zürich und Angehöriger einer alten Zürcher Familie. Beyel, der verheiratet und Vater eines Sohnes war, trat dem Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit im Jahr 1905 bei und blieb engagiertes Mitglied bis zu seinem Tod 1941. 1936 wurde er zum Ehrenmitglied des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit ernannt. Neben seinem Engagement im Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit war er auch in zahlreichen anderen Vereinigungen der Sittlichkeitsbewegung tätig.69 Beyel verfasste die Jahresberichte für den Männerverein, amtierte als Delegierter des Vereins und war zwischen 1916 und 1936 Redakteur der vom Zürcher Männerverein und dem Bund gegen die unsittliche Literatur herausgegebenen Blatt „Mitteilungen“.70 Diese Zeitschrift, welche die zentrale Stimme der Männer der deutschschweizerischen Sittlichkeitsbewegung bildete und als solche eine wichtige Funktion im Selbstverständnis und in der Öffentlichkeitsarbeit dieser männlichen Abolitionisten hatte, war dementsprechend entscheidend geprägt und getragen durch die Persönlichkeit Christian Beyels. Beyels Artikel sind gekennzeichnet durch seine mit spitzer Feder vorgetragene Kritik an einer als „unmoralisch“ und zusehends „gottlos“ wahrgenommenen Gesellschaft. Die Hebung der Moral und die „Förderung des sittlichen Volkswohls“ waren ihm ein zentrales Anliegen, das er in den „Mitteilungen“ mit kantigen Worten verteidigte. Christian Beyel gehörte einer philanthropisch tätigen, alten Elite an, die von einer strengen Religiosität und protestantischer Arbeitsethik geprägt war und die 69 Er war Mitgründer des Schweizerischen Bundes gegen die unsittliche Literatur, der Schweizerischen Kommission für Kinoreform sowie der Arbeitsgemeinschaft zum Schutze der Jugend vor Schund und Schmutz (vgl. Zur Erinnerung an Dr. Christian Beyel. O. O. 1941. S. 14. StadtA Zürich, Bibl. Nd Beyel, Christ). Zudem war er Präsident des Schweizerisches Bundes gegen die unsittliche Literatur, des Nationalkomitees gegen den Mädchenhandel sowie der Kommission für Kinoreform. 70 Der Bund gegen die unsittliche Literatur gab ab 1916 die „Mitteilungen des Schweizerischen Bundes gegen die unsittliche Literatur“ heraus, in dem auch der Zürcher, Berner und St. Galler Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit Teile ihrer Jahresberichte publizieren und sonstige Mitteilungen anbringen durften. Seit 1926 wurden die Mitteilungen auch zum offiziellen Vereinsorgan des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit.

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Wohltätigkeit für die Armen als christliche Pflicht der Reichen ansah, immer im Rahmen der Erhaltung der sozialen Hierarchien.71 Er gehörte der Zunft „Gesellschaft zur Constaffel“72 an, in der seine Familie seit ihrer Einbürgerung in Zürich im Jahr 1529 vertreten war.73 Er besaß Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten, an die er mit den Anliegen der Sittlichkeitsbewegung gelangen konnte. Der Freundeskreis, in dem er in Zürich verkehrte, bestand aus einem Kreis „aufrechter Zürcher“ und „altzürcherischer Freunde“, die „konservative Grundsätze auf christlicher Grundlage in Leben und Politik tapfer verfochten“, wie dies ein Zeitgenosse formulierte.74 Dieser Freundeskreis war in den politisch konservativen Zirkeln Zürichs zusammengeschlossen – im Eidgenössischen Verein, im Gemeindeverein für das vereinigte Zürich und in der Gesellschaft vom alten Zürich.75 Ihr Organ war die Freitagszeitung, die bis zum Ersten Weltkrieg die konservative Anschauung in Zürich vertrat.76 Diese Zirkel vereinigten Bürger der Stadt Zürich, die auf dem Boden des evangelischen Bekenntnisses standen und eine göttliche und sittliche Weltordnung anerkannten, die zwar alle Menschen vor Gott und seinen Geboten gleich machte, jedoch nicht innerhalb der Gesellschaft.77 In den Grundsätzen kämpften sie für das Eindämmen „schrankenloser Ausdehnung der Staatsgewalt“78 und plädierten für die Erhaltung der privaten Wohltätigkeit und christlichen Mildtätigkeit der Reichen für die Armen.79 „Uneigennützigkeit, Frei­ gebigkeit, Wohlthätigkeit“ hielten sie als Pflichten der Begüterten für ihre weniger privilegierten Mitmenschen hoch.80 Ihre Abwehr galt der staatlichen Sozialpolitik, die in ihren Augen weiterhin „eben so gut oder besser“ durch die private Wohltätigkeit der Wohlhabenden geleistet werden konnte.81 Sie standen im „Widerstand gegen die Klassenverhetzung der Sozialdemokratie und alle offenen oder versteckten Versuche, auf gewaltsamem Wege die bestehende Staatsordnung umzustürzen“.82 71 Vgl. Sarasin, Stadt, 1997, S. 143 f.; Sarasin, Sittlichkeit, 1984, S. 90 – 105; Battagliola, Philanthropes, 2009; David, Wohltätigkeit, 2009, S. 39. 72 Vgl. zur Gesellschaft zur Constaffel bei Illi, Constaffel, 2003. 73 Zur Erinnerung an Dr. Christian Beyel. O. O. 1941. S. 7. StadtA Zürich, Bibl. Nd Beyel, Christ. 74 Zur Erinnerung an Dr. Christian Beyel. O. O. 1941. S. 6. StadtA Zürich, Bibl. Nd Beyel, Christ. 75 Zur Erinnerung an Dr. Christian Beyel. O. O. 1941. S. 6. StadtA Zürich, Bibl. Nd Beyel, Christ. 76 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 301. 77 Geschichte und Zweck der Gesellschaft vom alten Zürich. Zürich 1892. S. 7 f. ZBZ, LK 1617. 78 Statuten des Eidgenössischen Vereins, 16. April 1875. § 1. Aus: Rinderknecht, Eidgenössische Verein, 1949, S. 20. Sie bezeichneten staatliche Zentralisierungsbestrebungen als „Gleichmacherei“ und „einen zusammengestampften Staatsbrei“ (Geschichte und Zweck der Gesellschaft vom alten Zürich. Zürich 1892. S. 12. ZBZ, LK 1617). 79 Geschichte und Zweck der Gesellschaft vom alten Zürich. Zürich 1892. S. 11. ZBZ, LK 1617. 80 Geschichte und Zweck der Gesellschaft vom alten Zürich. Zürich 1892. S. 11. ZBZ, LK 1617. 81 Statuten des Gemeindevereins für das vereinigte Zürich, 22. April 1892. § 1 Abs. 7. ZBZ, LK 931. 82 Statuten des Gemeindevereins für das vereinigte Zürich, 22. April 1892. § 1 Abs. 6. ZBZ, LK 931.

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Beyel lag neben seinem Engagement für das „sittliche Wohl“ der Bevölkerung vor allem das kirchliche Leben am Herzen.83 Er war langjähriges Mitglied der unter dem Einfluss der Erweckungsbewegung und unter Aufnahme pietistischen Gedankenguts gegründeten Evangelischen Gesellschaft Berns und redigierte deren „litera­rischen Anzeiger“. Auch unterstützte er das Evangelische Seminar Unterstrass und die Freie Schule Zürich, beides Institutionen der Evangelischen Gesellschaft. Ein wichtiges Anliegen war ihm bei diesem Engagement die christliche Jugendund Lehrerbildung. Mathilde von Goumoëns-von Wurstemberger Eine der prägendsten Persönlichkeiten der Gründerinnengeneration der Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit war Mathilde von Goumoëns-von Wurstemberger (1841 – 1915).84 Ihre Eltern stammten beide aus alten adeligen Bernergeschlechtern. Mathilde von Goumoëns wuchs in einem Elternhaus auf, das eine paternalistische Fürsorge pflegte. Für Arme und Hilfesuchende hatten Goumoëns Eltern eine offene Tür. Oft sei der Hausflur voll von diesen Menschen gewesen.85 Sie kam daher früh mit den Lebensumständen der Unterschicht in Berührung. Sie selbst übernahm dieses Vorbild der Eltern und fühlte sich früh verantwortlich für das „Wohl der Armen“. Mit achtzehn Jahren vermählte sie sich mit dem sieben Jahre älteren Offizier und Kaufmann Adolf Eugen von Goumoëns und zog mit ihm eine Pflegetochter groß. Mathilde von Goumoëns war äußerst aktiv in der Sittlichkeitsbewegung tätig. Dreizehn Jahre lang war sie Präsidentin des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, zudem Vizepräsidentin des bernischen Zweiges der Freundinnen junger Mädchen, Gründerin und Hauptförderin des Marthahauses und Präsidentin des sogenannten „Aufgeschaut-Komitees“, welches das offizielle Vereinsorgan der Freundinnen junger Mädchen und später auch des Dachverbandes der deutsch-schweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit mit dem Titel „Aufgeschaut! Gott vertraut!“ herausgab. Seit 1897 leitete sie ein Initiativkomitee von Frauen der Sittlichkeitsbewegung, das politische Eingaben für das eidgenössische Zivil- und Strafgesetzbuch vorbereitete. Sie war auch Mitglied des Bundes zur Bekämpfung der unsittlichen Literatur, des Nationalkomitees gegen den Mädchenhandel sowie des Vereins für Frauen- und Kinderschutz, der aus der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft hervorgegangen war. Zudem engagierte sie sich in „Liebeswerken“ der Äußeren und Inneren Mission. Neben diesen gemeinnützigen Tätigkeiten übertrug 83 Zur Erinnerung an Dr. Christian Beyel. O. O. 1941. S. 6. StadtA Zürich, Bibl. Nd Beyel, Christ. 84 Vgl. zum Folgenden ihre Biografie in Frau von Goumoëns. Ein Bild ihres Lebens und Wirkens; Bracher, Geschichte, 1986, S. 53 – 56; Lexikon der Frau, Bd. 1. Zürich 1953. Spalte 1260. 85 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 4.

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ihr der freisinnige Berner Regierungsrat und Polizeidirektor Joseph Stockmar das Präsidium für die neu gegründete staatliche Patronatskommission für das „Weiberarbeitshaus Hindelbank“.86 Mathilde von Goumoëns war eine sehr religiöse Person. Das eine Ziel, das sie immer im Auge behalten habe – so berichtet der Pfarrer an ihrer Leichenrede –, sei die Rettung der „armen Sünder“ aus ihrem sündhaften Dasein durch Gottes Hilfe.87 Ihren kränkelnden Mann pflegte sie bis zu dessen Tod. In ihren Augen war es die Pflicht der Ehefrau, sich als aufopfernde Pflegerin des Ehegatten zu betätigen und ihm ein gemütliches und geordnetes Heim zu bieten. 88 Den Forderungen von Frauenrechtlerinnen nach Einführung des Frauenstimmrechts stand sie kritisch und eher ablehnend gegenüber.89 Von ihrem Vater, der Selbstdisziplin und Pflichttreue nicht nur von sich, sondern auch von seinen Kindern forderte, lernte sie Selbstdisziplin und Selbstzucht.90 Sie war eine unermüdliche Schafferin, die sich bis ins Alter hinein keine Ferien gönnte und sich nie beklagte.91 Diese Arbeitsethik verlangte sie auch von den „Zöglingen“ der Anstalten der Sittlichkeitsvereine. Tüchtig und nützlich sollten diese Frauen werden.92 Effizienz, Bescheidenheit und Arbeitsethik, die bei Mathilde von Goumoëns-von Wurstemberger wie bei Christian Beyel sichtbar werden, waren kennzeichnend für das philanthropisch tätige protestantische Großbürgertum.

Religiöser Hintergrund und politische Ausrichtung Christian Beyel und Mathilde von Goumoëns sind in mehreren Belangen typische Repräsentanten der Sittlichkeitsvereine. In den deutschschweizerischen Vereinen zur Hebung der Sittlichkeit ist mehrheitlich das evangelische, gut situierte, gebildete, philanthropisch tätige, politisch zu einem guten Teil evangelisch-konservativ orientierte Bürgertum vertreten. Eine rege Vereinstätigkeit in wohltätigen, religiösen und politischen Vereinen sowie eine enge Verbindung zur konservativen Politik und ein starker Glaube waren verbreitet bei den Mitgliedern der Sittlichkeitsvereine und 86 Die staatliche Patronatskommission war ein reines Damenkomitee, das vom Staat eingesetzt wurde und deren finanzielle Hilfeleistungen an die Entlassenen aus dem Alkoholzehntel mitsubventioniert wurden. Vgl. zur „offiziellen Stellung“ der Patronatskommission Hindelbank bei Schaffroth, Geschichte, 1898, S. 291. 87 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 3. 88 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 5. 89 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 19. 90 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 3. 91 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 6. 92 Frau von Goumoëns: Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 13.

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kennzeichneten generell viele Philanthropen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert lagen in der Schweiz philanthropische Aktivitäten primär in der Hand der protestantischen Elite.93 Die Philanthropie war zudem eng verbunden mit der Erweckungsbewegung.94 Die Mitglieder der Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine rekrutierten sich stark aus pietistischen Kreisen.95 Diese standen im engeren oder weiteren Umfeld der hauptsächlich von konservativen (positiven) Protestanten getragenen Inneren Mission, die eine eigene sozialpolitische Einflussnahme lange Zeit weitgehend ablehnte, in der sozialen Frage die soziale Verantwortung der Gläubigen betonte sowie die soziale Krise primär als Glaubenskrise interpretierte. Aus der vom deutschen Johann Hinrich Wichern initi­ierten Inneren Mission gingen unter anderem auch Magdalenenasyle für „gefallene Mädchen“ sowie die Diakonissenhäuser hervor.96 In den Heimen der Sittlichkeitsvereine spielten Diakonissen als Vorsteherinnen denn auch eine herausragende Rolle. Wichtige Trägerinnen der Inneren Mission waren die Evangelischen Gesellschaften,97 in welchen auffallend viele Mitglieder der Sittlichkeitsvereine vertreten waren.98 93 Jost, Sociabilité, 1991, S. 24 f. Zur engen Verbindung zwischen Philanthropie und Religion in Europa vgl. Liedtke, Religion, 2009. 94 David, Wohltätigkeit, 2009, S. 42 – 44. 95 Vgl. zum religiösen Hintergrund der Sittlichkeitsbewegung in der Schweiz Käppeli, Croisade, 1990; Janner, Frauen, 1992. 96 Vgl. Hitzer, Netz, 2006. 97 Vgl. zur Anschauung der Evangelischen Gesellschaft zur sozialen Frage Meyer, Mission, 2011, S. 42 – 44; Barth, Protestantismus, 1981, S. 127 f.; S. 83 – 97. Die Evangelischen Gesellschaften, wie sie seit 1831 in der Schweiz entstanden, sind Ausdruck der starken pietistischen Bewegung in der Schweiz. Tonangebend in den Evangelischen Gesellschaften war die städtische Oberschicht (Rieder, Netzwerke, S. 109 und 609, Anm. 96; Meyer, Mission, 2011, 57 und 59; Barth, Protestantismus, 1981, S. 35). Sie betrieben innere und äußere Mission und Evangelisation, betätigten sich im Verlagswesen und in sozialen Werken, wie etwa Krankenhäusern, christlichen Hospizen und Herbergen, und gründeten das Diakoniewerk Neumünster. Zu den Evangelischen Gesellschaften vgl.: Wijnkoop Lüthi, Marc van. Evangelische Gesellschaften. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (12. 8. 2008); Meyer, Mission, 2011; Barth, Protestantismus, 1981, S. 83 – 97; Dellsperger, Wort, 1981; Lindt, Evangelische Gesellschaft, 1982; Kocher, Gott, 1931; Hofmeister, Geschichte, 1882; Hofmeister, Geschichte, 1882; Hauri, Evangelische Gesellschaft, 1959; Gerber, Jahre, 1881; Rieder, Netzwerke, 2008, S. 109 und S. 609, Anm. 96. 98 Zürcher Männerverein: In der Evangelischen Gesellschaft vertreten waren etwa Louis Rahn-­ Bärlocher, Dr. med. Heinrich Denzler, Christian Beyel, Prof. v. Orelli, Johann Ninck und Emil Pestalozzi (vgl. Mitgliederliste der Evangelischen Gesellschaft Zürich im Jahresbericht der Evangelischen Gesellschaft der Jahre 1897/98. StadtA Zürich, Rn 51). Berner Männerverein: Im Gründerkomitee der Evangelischen Gesellschaft von 1877 waren dies Moritz von Schiferli, Eduard Küpfer-Miescher und Franz von Büren-von Salis. Im Vorstandskomitee der Evangelischen Gesellschaft von 1901 waren dies: Jakob Kummer, Stadtmissionar Feldmann-Habicht (zudem Lehrer an der Lerberschule der Evangelischen Gesellschaft), G. von Tscharner-von

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Nicht alle Mitglieder der Sittlichkeitsvereine aber gehörten der konservativen (positiven) Richtung innerhalb der protestantischen Kirche an. Bei den Sittlichkeitsvereinsmitgliedern sind auch Mehrfachmitgliedschaften mit religiösen und sozialen Vereinigungen auszumachen, die ein versöhnliches Verhältnis zum Sozialismus anstrebten. Etwa waren Helene von Mülinen 99, Mitglied des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, wie auch Fritz Barth 100, Jakob Kummer und Wilhelm Lauterburg, alle drei Vorstandsmitglieder des Berner Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit, gleichzeitig Vorstandsmitglieder der christlich-sozialen Gesellschaft Bern. Diese entsprang aus der Deutschen christlich-sozialen Bewegung um Friedrich Naumann,101 der seit den 1880er Jahren für einen christlichen Sozialismus eintrat und die Diakonie wie den Sozialismus als Anwälte für die Schwachen in der Gesellschaft ansah.102 Innerhalb der traditionellen Inneren Mission und dem deutschen Protestantismus, die eine sozialpolitische Einflussnahme lange Zeit weitgehend ablehnten, vertrat er damit lange Zeit eine Minderheitenposition, die erst Jahrzehnte später von der Mehrheit mitgetragen wurde.103 Es sind bei den Mitgliedern der Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine auch Verbindungen zur von Christoph Blumhardt initiierten religiös-sozialen Bewegung auszumachen, wie sie in der Schweiz 1906 entstand. Der religiöse Sozialismus anerkannte die Notwendigkeit einer politischen Organisation der Arbeiterschaft und strebte eine Sozialpartnerschaft mit der Sozialdemokratie an.104 Die sozialpolitischen Wattenwyl (de Pontes) sowie Stadtmissionar Gottlieb Schmid-Beck. Eine detaillierte Untersuchung der Evangelischen Gesellschaft Berns steht bislang noch aus. 99 Vgl. zu Mülinen Brodbeck, Hunger, 2000. 100 Fritz Barth, Vater des bekannten Theologen Karl Barth, war vor seiner Professur an der Universität Bern Lehrer der Predigerschule in Basel, die meist für Freikirchen „schriftgebundene“ Prediger in Opposition zur liberalen Theologie ausbildete, sowie Religionslehrer an der Lerberschule, die der Evangelischen Gesellschaft Bern angegliedert war. Barth war einflussreiches Mitglied des Synodialrats der Berner Landeskirche und von 1895 bis 1909 Direktionsmitglied des Vereins des Mädchenheims Brunnadern (vgl. 100 Jahre Evangelisches Mädchenheim Brunnadern in Bern, 1954. S. 42). 101 Brodbeck, Hunger, 2000, S. 81. 102 Kaiser, Kirche, 2008, S. 45. Innerhalb der christlich-sozialen Bewegung vertrat Naumann damit eine andere Auffassung als der konservative Flügel der Bewegung. Zum konservativen Teil und den Auseinandersetzungen mit Naumann vgl. Friedrich, Fahne, 1997. Zur christlich-sozialen Bewegung unter Naumann vgl. Kaiser, Kirche, 2008, zu Naumann und seiner Beziehung zur Inneren Mission insbesondere S. 44 – 55. Zu Naumann sind zudem zahlreiche Aufsätze und Monografien entstanden, beispielsweise Bruch, Rüdiger vom (Hg.). Friedrich Naumann in seiner Zeit. Berlin; New York 2000. 103 Kaiser, Kirche, 2008, S. 52. 104 Die Anhänger der Bewegung waren aufgrund ihrer Unterstützung der Arbeiterstreiks unbeliebt im Bürgertum. Nur wenige Anhänger traten aber der Sozialdemokratischen Partei bei.

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Positionen der Inneren Mission stellte er als unchristlich infrage und sah im Sozialismus die Verwirklichung von Gottes Willen auf Erden. Er stand dezidiert für den Sozialismus als neue Gesellschafts- und Wirtschaftsform ein. Einige der Anhänger des religiösen Sozialismus traten der Sozialdemokratie bei. Im Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit vertraten etwa dessen langjährige Präsidentin Lily Zellweger sowie Anna Herzog-Widmer diese Richtung.105 Ebenso war der Pfarrer Paul Pflüger 106, Vorstandsmitglied des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit, aktiv in der religiös-sozialen Bewegung tätig und zugleich ein Vertreter der gemäßigten linkspolitischen Grütlianer. Die starke religiöse Ausrichtung der Sittlichkeitsbewegung ist allein schon in der Angewohnheit auszumachen, vor jeder Sitzung gemeinsam zu beten. Auch in den Jahresberichten machten Bibelzitate und Verweise auf Gott den Abschluss. Trotz der engen Verbindung zur evangelischen Kirche und der Rekrutierung vieler Mitglieder in kirchlichen Kreisen waren die Sittlichkeitsvereine keine kirchlichen Hilfsorga­ nisationen, sondern blieben finanziell und politisch unabhängig von der Mutter­ kirche. Sie vertraten jedoch dieselben Ansichten im Kampf gegen das „Laster“.107 Sie fanden in ihren Forderungen Zustimmung und Rückhalt bei den Freikirchen und den Landeskirchen.108 Die politische Ausrichtung der Mitglieder der Sittlichkeitsvereine schätze ich zu einem guten Teil als evangelisch-konservativ ein. Die Konservativen waren unterteilt in zwei große religiöse Lager, das katholische und das reformierte.109 Die Evangelisch-Konservativen 110 bildeten sich aus den Landeskirchen, den e­ vangelikalen Ihre sozialen Anliegen wurden erst später weitgehend von der Kirche aufgenommen. Zu den religiösen Sozialisten in der Schweiz vgl. Aerne, Sozialisten, 2006; Brassel-Moser, Freiheit, 2009; Barth, Protestantismus, 1981, S. 209 – 217; Degen, Bernard. Religiöser Sozialismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (12. 8. 2008). Zudem ist ein Disserta­ tionsprojekt zu religiösen Sozialistinnen in der Schweiz der 1910er und 1920er Jahre von Ruth Amman an der Universität Bern in Arbeit. 105 Janner, Frauen, 1992, 45 und 105. 106 Der Pfarrer und erfolgreiche Politiker Paul Pflüger gehörte zu den wichtigsten sozialpoli­ tischen Pionieren der Schweiz. 1915 gründete er den Verein für Familiengärten und förderte den gemeinnützigen Wohnungsbau. Er setzte sich für die Armen und den sozialen und kulturellen Aufstieg der Arbeiter ein und schrieb Bücher über Sozialpolitik und Moral. Urchristentum und Sozialismus waren für ihn eins. Vgl. zu Paul Pflüger und zu seiner Sozialpolitik Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 64 – 69; S. 172 f.; Barth, Protestantismus, 1981, S. 203 – 207. 107 Vgl. etwa Das Comite des Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit in Bern an die Herren Pfarrer und Kirchgemeinderäthe. Bern, Januar 1884. NB, V BE 5544. 108 Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007, S. 15. 109 Vgl. Jost, Avantgarde, 1992, S. 33 f.; Rimli, Ideen, 1951, S. 39 f. 110 Vgl. zu den Evangelisch-Konservativen Jost, Avantgarde, 1992; Rimli, Ideen, 1951; Roth, Politik, 1988; Wyss, Politik, 1948; Rinderknecht, Eidgenössische Verein, 1949; Altermatt, Urs.

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Freikirchen und den evangelischen Gesellschaften heraus und errichteten nach Beatrix Mesmer zumindest ansatzweise eine Subkultur (ähnlich den Linken und den Katholiken).111 In den Sektionen des konservativen Eidgenössischen Vereins, 1875 in Olten von Vertretern einer evangelisch-konservativen Politik gegründet,112 finden sich zahlreiche Doppelmitgliedschaften von Mitgliedern der Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit, ebenso in anderen politisch konservativen Vereinigungen.113 Es ist sicherlich kein Zufall, dass in Basel gerade ein Gründungsmitglied des dortigen Eidgenössischen Vereins – der Advokat und Grossrat Hermann Christ-­Sozin – versuchte, ein Basler Männerkomitee zur Hebung der Sittlichkeit zu gründen.114 Dass der Versuch zur Gründung eines Vereins misslang, hing mög­ licherweise damit zusammen, dass in Basel die Liberal-Konservativen stärker waren als in Zürich und in Bern und deshalb in der Politik größeren Einfluss nehmen konnten.115 Eine Vereinsbildung zur Vertretung ihrer konservativen Anliegen könnte deshalb als weniger dringlich wahrgenommen worden sein. Die von wohlhabenden Schichten dominierten Evangelisch-Konservativen vertraten in ihren Wertvorstellungen – mit unterschiedlicher regionaler und individueller Ausprägung – traditionelle Hierarchien, riefen nach paternalistischer Fürsorge und machten sich gegen den von vielen Zeitgenossen diagnostizierten Zerfall von Konservatismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (12. 8. 2008). 111 Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007, S. 12. Zu den kantonalen parteilichen Ausprägungen der Evangelisch-Konservativen vgl. Jost, Avantgarde, 1992, S. 33 – 35. 112 Zum Eidgenössischen Verein vgl. Vischer, Eidgenössische, 1885; Rinderknecht, Eidgenössische Verein, 1949; Rimli, Ideen, 1951. 113 Zürcher Männerverein: Im Eidgenössischen Verein vertreten waren etwa Christian Beyel, J. J. Maag, Oberst Vögeli-Bodmer, Dr. med. Heinrich Denzler (vgl. St AZH, X 177:2). In der Gesellschaft vom Alten Zürich saßen Dr. med. J. Heinrich Denzler, Christian Beyel und Emil Pestalozzi (vgl. Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft vom Alten Zürich. ZBZ, Handschriftenabteilung, Ms. Z III 369). Vom Gemeindeverein für das vereinigte Zürich sind meines Wissens keine Mitgliederlisten überliefert. Berner Männerverein: Die enge Verbindung des Berner Männervereins mit der konservativen Politik lässt sich exemplarisch anhand des Vorstandsmitglieds Alexander von Tavel-von Wattenwyl erkennen. Tavel war Burgerratsschreiber, Schul- und Gemeindepräsident und konservativer Groß- und Gemeinderat von Bern. Er stand an vorderster Front der konservativen Bewegung. Der 1850 gegründete „Schweizer Verein“, der bis 1860 einen Treffpunkt für evangelische und katholische Konservative bildete, stand unter der Leitung von Alexander von Tavel. Als Redakteur der Eidgenössischen Zeitung, danach des Berner Boten, vertrat Tavel insbesondere die Interes­ sen der Burgergemeinde (Bischof, Franz Xaver. Katholizismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (5. 12. 2011); Braun, Hans. Tavel, Alexander von. In: Histo­ risches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (12. 8. 2008). 114 Vgl. zur versuchten Vereinsgründung von Christ-Sozin Janner, Frauen, 1992, S. 64. 115 Zur unterschiedlichen Stärke vgl. Jost, Avantgarde, 1992, S. 34.

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Sitte, Familie und Autorität stark.116 Ein strenger evangelischer Glaube kennzeichnete beinahe alle Kräfte dieser Bewegung.117 Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen sie die Liberalen als Gegner wahr, mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung bekämpften sie zunehmend die Sozialdemokratie.118 Die Evangelisch-Konservativen waren keine geschlossene Organisation mit einheitlichen Ideen und Auffassungen. Erst spät – im Jahr 1913 – entstand eine gesamtschweizerische Partei, die Liberal-Demokratische Partei, in welcher der evangelische Konservatismus hauptsächlich organisiert war.119 In der Sozialpolitik existierte keine Verpflichtung auf ein Parteiprogramm. Die Ausrichtungen waren von Kanton zu Kanton und auch innerhalb der Kantone verschieden.120 Verpflichtend waren aber eine Anerkennung der eigenen gemeinnützigen Tradition und eine Ablehnung der Verstaatlichung der privaten Wohltätigkeit.121 Die moralische und religiöse Hebung der Unterschicht war vielen Konservativen ein Hauptanliegen in der sozialen Frage. Nächstenliebe und Mildtätigkeit gehörten in ihren Augen zu den Aufgaben eines jeden Christen. Reichtum erlegte dem Besitzer moralische Verpflichtung auf, bedürftigen Mitmenschen beizustehen. Staatliche sozialpolitische Eingriffe wurden in diesen Kreisen lange Zeit weitgehend abgelehnt. Einzig die Evangelisch-Konservativen des Kantons Basel-Stadt setzten sich bereits in den 1860er Jahren in einer Mehrheit für eine staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung ein, um durch Sozialreformen revolutionäre Bewegungen der Arbeiterschaft zu verhindern.122 Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Evangelisch-Konservativen, generell eine, wenn auch beschränkte, staatliche Intervention in die Sozialpolitik anzuerkennen.123 Die private Wohltätigkeit wurde nicht mehr als allein ausreichend zur Lösung der sozialen Probleme erachtet.124 Die Evangelisch-Konservativen propagierten jedoch auch fortan keinen Staatsinterventionismus, sondern eine auf einzelne Maßnahmen beschränkte staatliche Sozialpolitik gekoppelt mit einer weiterhin starken privaten Wohlfahrt. Die stark pietistisch und politisch evangelisch-konservativ geprägten Sittlichkeitsvereine riefen entsprechend nach Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, Selbstverantwortung 116 Vgl. zur Grundeinstellung der Evangelisch-Konservativen Jost, Avantgarde, 1992, S. 34 f. Vgl. zur Mitgliederstruktur ausführlich Rimli, Ideen, 1951, S. 53 f. 117 Rimli, Ideen, 1951, S. 39. 118 Jost, Avantgarde, 1992; David, Wohltätigkeit, 2009, S. 45. 119 Jost, Avantgarde, 1992, S. 34 und 36. 120 Vgl. dazu die ausführliche Untersuchung zu den sozialpolitischen Ideen der Liberal-Konservativen bei Rimli, Ideen, 1951. 121 Roth, Politik, 1988, S. 63. 122 Rimli, Ideen, 1951, S. 114 – 119; 128. 123 Rimli, Ideen, 1951, S. 205 f. 124 Rimli, Ideen, 1951, S. 205.

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und Selbstdisziplin. Sie vertraten damit eine Soziallehre, wie sie in der Schweiz und anderen puritanischen oder calvinistischen Ländern verbreitet war und wie sie sich nachhaltig auf das Leistungsniveau des Sozialstaates auswirkte.125 Neben Mitgliedern mit einer eher abwehrenden, misstrauischen Haltung dem Sozialismus und den Forderungen der Arbeiterbewegung gegenüber waren in den Sittlichkeitsvereinen aber auch wie erwähnt Mitglieder mit einer eher befürwortenden Haltung vertreten. Neben Evangelisch-Konservativen gab es Anhänger der sozialreformerisch orientierten, gemäßigten Sozialdemokratie, einige Mitglieder gehörten der Inneren Mission an, andere standen den Ideen eines religiösen oder christlichen Sozialismus nahe.126 Wie stark welches Element im Laufe des untersuchten Zeitraums jeweils vorhanden war und wie sehr kantonale Unterschiede auszumachen sind, müsste noch näher untersucht werden. Von der inhaltlichen Ausrichtung der Vereine her scheint von den hier untersuchten Vereinen der Basler Frauenverein zumindest unter dem Präsidium von Lily Zellweger am stärksten von den Haltungen der Inneren Mission und der Evangelisch-Konservativen abgewichen zu sein.127 Mit ihren Tätigkeiten und ihren Forderungen vermochten die Sittlichkeitsvereine jedenfalls offensichtlich Personen verschiedener politischer und religiöser Strömungen anzusprechen. So reihte sich beispielsweise der gemäßigte Sozialdemokrat und protestantische Pfarrer Paul Pflüger ebenso problemlos in die Aktivitäten der Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine ein wie der bereits näher vorgestellte politisch konservative Christian Beyel. Pflügers Einstellung zur Fürsorge war stark protestantisch und moralisch geprägt. „Verwahrlosung“ führte der Verfasser unzähliger Publikationen nicht nur auf materielle Not und erbliche Belastung zurück, sondern auch auf fehlende Moral, die es zu heben gelte, auf mangelnde Aufsicht und frühe Selbstständigkeit der Kinder, „schlechte“ Gesellschaft, die „Schundliteratur“, das Kino und die „Verführung“.128 Wie andere sozialreformerisch orientierte, gemäßigte Sozialdemokraten vertrat er in Übereinstimmung mit bürgerlichen Politikern die Ansicht, die Großstadt und deren zahlreiche „Verlockungen“ schädige die Jugend. In seiner politischen Arbeit stellte Pflüger denn auch bei den bürgerlichen Parteien einen wenig streitbaren Beamten dar, der sich durch eine hohe Kompromissbereitschaft auszeichnete.129

125 Manow, Religion, 2008, S. 30 und 33; Manow, Good, S. 19. 126 Auch in der reformierten Kirche sind unterschiedliche Ansichten gegenüber der Sozialpolitik auszumachen. Vgl. Hofmann, Evangelium, 2011. 127 Sara Janner hat für den Basler Frauenverein unter dem Präsidium von Lily Zellweger eine Verschiebung mehr in Richtung religiösen Sozialismus‘ festgestellt (vgl. Janner, Frauen, 1992). 128 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 64 f. und 172 f. 129 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 67.

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Herkunft und beruflicher Hintergrund Die Mitglieder der Gründergeneration gehörten überwiegend der Mittel- und Oberschicht an.130 Auch bäuerliche und handwerkliche Kreise des Kleinbürgertums waren vertreten, wenn auch in der deutlichen Unterzahl. Unterschichtangehörige tauchen in den Quellen nur ganz vereinzelt als Mitglieder auf und befinden sich nicht in den Vorständen der Vereine – sie gehörten dadurch auch nicht zu den Entscheidungsträgern. Während sich die Vereinsmitglieder, die keine Funktionen im Vorstand innehatten, stärker aus mittelständischen Schichten rekrutierten, waren die Vorstände, welche die Ziele des Vereins festlegten, klar von wohlhabenden, einflussreichen und angesehenen Angehörigen des Bürgertums und bekannten Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft dominiert. Die Organisation philanthropischer Vereinigungen blieb bis zum Ersten Weltkrieg von der gehobenen Gesellschaft getragen, gehörte doch Philanthropie zu ihrem Lebensstil.131 Für Angehörige der patrizischen Oberschicht, die durch die politischen Umwälzungen der 1870er Jahre ihre politische Vormachtstellung verlor, bedeuteten ihre ausgeprägten Aktivitäten in philanthropischen Vereinigungen eine Möglichkeit, weiterhin wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen sowie kulturelle Deutungsmacht zu bewahren und damit ihre verlorene politische Macht ein Stück weit wettzumachen.132 Anita Ulrich hat die Mitglieder des Zürcher Männervereins aus dem Jahr 1897 anhand ihrer Berufstätigkeit aufgegliedert.133 Auffallend ist die berufliche Heterogenität der Mitglieder. Es dominierten die bildungsbürgerlichen 134 Berufe Pfarrer, Ärzte, Professoren, Juristen und Lehrer, die über die Hälfte der insgesamt 210 erfass130 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 57; Puenzieux, Sieg, 1994, S. 104; Ulrich, Bordelle, 1985, 142; Janner, Frauen, 1992, S. 16 und 28. 131 Topalov, Patronages, 1999, S. 365 f.; Faure, Philanthropes, 1994, S. 114 f.; Sarasin, Stadt, 1997. Christian Topalov hat die Akteure der reformerisch tätigen Vereine ausführlich untersucht (vgl. Topalov, Patronages, 1999). 132 Vgl. Mooser, Armenpflege, 2011, S. 186 f.; Sarasin, Stadt, 1997; Topalov, Patronages, 1999, S. 362 – 364; David, Wohltätigkeit, 2009. 133 Vgl. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 142. Der Häufigkeit ihres Vorkommens nach geordnet sieht die Berufsstruktur folgendermaßen aus: 39 Pfarrer, 24 Lehrer, 22 Kaufmänner, 18 Ärzte, 14 Handwerkermeister, 12 Juristen, 10 Professoren, 7 Fabrikanten, 5 Redakteure, 5 Sekretäre, 5 Landwirte, 4 Händler, 3 Verwalter, 3 Bankiers, 3 Stadträte, 2 Schuldirektoren, 2 Bezirksräte, 2 Beamte, 2 Vereins­ präsidenten, 2 Kassierer, 2 Kantonshelfer, 2 Regierungsräte, 1 Gemeindepräsident, 1 Erziehungsrat, 1 Nationalrat, 1 Waisenrat, 1 Kantonsrat, 1 Ingenieur, 1 Direktor einer Strafanstalt, 1 Maschinenmeister, 1 Mechaniker, 1 Bibliothekar, 1 Buchbinder, 1 Buchdrucker, 1 Maler, 1 Armeekorpskommandant, 1 Major, 1 Handelsmakler, 11 Berufe unbekannt (nach Ulrich, Bordelle, 1985, S. 142). 134 Das Bildungsbürgertum war eine Schicht, die sich in Herkunft, Ausbildung und ökonomischer Basis sehr unterschied, deren gemeinsame Basis hauptsächlich Fach- und Sachkompetenz war (Tanner, Bürgertum, 1988, S. 214 f.). Vgl. zur Definition des Bildungsbürgertums bei Schäfer, Geschichte, 2009, S. 92 – 105; Kocka, Bürgertum, 1987, S. 31; 33 – 38.

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ten Mitglieder ausmachten.135 Hinzu kamen Berufe, die dem Wirtschaftsbürgertum zuzuordnen sind, wie Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers, sowie Vertreter des gewerblich-bäuerlichen Kleinbürgertums, wie etwa Landwirte, Handwerkermeister, je ein Mechaniker, Maler, Buchbinder und Buchdrucker.136 Die Dominanz von Pfarrern kommt deutlich hervor. Zudem wird die starke Vertretung von Politikern und hohen Beamten ersichtlich: zwei Kantonsräte, ein Nationalrat, ein Erziehungsrat, zwei Bezirksräte, drei Stadträte, ein Gemeindepräsident und ein Waisenrat. Während im Vorstand des Zürcher Vereins in der Gründergeneration eine wissenschaftliche und politische Elite ausgeprägt vertreten war,137 war diese in Bern weniger präsent.138 Dieser Umstand könnte sich dadurch erklären, dass sich in Zürich die alten Geschlechter früher als in Bern neuen Berufen öffneten, während in Bern die alte Führungsschicht länger Erwerbstätigkeit etwa im Banken-, Handels- und Verlagswesen als unstandesgemäß ablehnte.139 In Zürich (wie auch in Basel) entfalteten sich entsprechend auch eine größere städtische Unternehmerschicht und eine Verlagsindustrie. In den Anfängen waren die Berner Sittlichkeitsvereine denn auch stark geprägt von Angehörigen alter Berner Patriziergeschlechter und Bernburgern, den stark an ihrer gehobenen Herkunft orientierten Angehörigen der Berner Burgergemeinde.140 Das Initiativkomitee etwa, aus dem 1877 der Berner Männerverein entstand, war dominiert von Bernburgern.141 Diese ausgesprochene Dominanz verflüchtigte sich 135 Vgl. Ulrich, Bordelle, 1985, S. 142. 136 Vgl. zur Sozialstruktur des Bürgertums ausführlich Tanner, Patrioten, 1995. 137 In der Gründergeneration des Zürcher und Berner Männervereins sind einige bekannte Persönlichkeiten anzutreffen. Vgl. ausführlich Puenzieux, Medizin, 1994, S. 108 f. und Anhang „Biographien“. Zum ersten Vorstand von 1888 vgl. 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 3. 138 Zur Gründergeneration des Männervereins gehörte etwa der Botanikprofessor und Direktor des Botanischen Gartens in Bern, Ludwig Fischer senior, dessen Ehefrau die Tochter des bekannten Basler Architekten Melchior Berri und die Nichte des renommierten Historikers und Universitätsprofessors Jacob Burckhardt war. Im Vorstand saß zudem der bereits vorgestellte Fritz Barth, ein angesehener Berner Theologieprofessor, dessen Ehefrau Anna Katharina Barth-Sartorius Vorstandsmitglied des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit war. Vgl. ausführlich zu Fritz Barth in der Biografie zu dessen Sohn: Busch, Karl, 2005 (1975). 139 Vgl. Tögel, Stadtverwaltung, 2004, S. 73. 140 Die im Berner Männer- und Frauenverein vertretenen Geschlechter von Wattenwyl, von Tscharner und von Fischer etwa gehörten zu den wirtschaftlich dominanten Geschlechtern in Bern (Tanner, Patrioten, 1995, S. 130). Zur Definition von Bernburgern und Patriziern vgl. Rieder, Netzwerke, 2008, S. 15; 19 f.; 249. Zu den Bernburgern auch Barth, Bern, 2003, S. 242 – 247. Die Burgergemeinde existiert heute noch und spielt weiterhin eine dominante Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben Berns (vgl. Rieder, Netzwerke, 2008). 141 Zu den Gründervätern gehörte der Arzt Karl Moritz von Schiferli-Vuillème, langjähriger Präsident des Vereins und engagiert in zahlreichen gemeinnützigen und religiösen Vereinen,

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jedoch nach und nach. In den Jahren vor der Jahrhundertwende machten sie rund die Hälfte der Vorstandsmitglieder aus, die andere Hälfte gehörte dem Bildungsbürgertum an, meist Geistliche und Wissenschaftler.142 Nach dem Rücktritt des langjährigen Präsidenten und Bernburgers Moritz von Schiferli-Vuillème um 1890143 trat der Arzt Jakob Kummer, der nicht der Burgergemeinde angehörte, seine Nachfolge an.144 Im Vorstand von 1934 waren schließlich keine Bernburger mehr vertreten.145 Leider sind die Namen der Vorstände nur ganz vereinzelt überliefert, weshalb nicht gesagt werden kann, wann sich die Bernburger aus dem Vereinsvorstand zurückzogen.146 Sie wurden von Mitgliedern der aufstrebenden städtischen Mittelschicht, primär Angehörige des Bildungsbürgertums, abgelöst.147

der Arzt Eduard Küpfer-Miescher, der Bankier Karl Eugen Alexander von Fischer sowie der Sachverwalter Franz von Büren-von Salis und Pfarrer Gerber. Außer dem Letztgenannten, Pfarrer Gerber, waren alle diese Herren Bernburger. 142 Vgl. Anweisung, was gegen die Ausstellung und den Verkauf unsittlicher Schriften und Bilder gethan werden kann. O. O. und J. (1890er Jahre). NB, V BE 4874; Tit.! Bern, im Oktober 1901. NB.,V BE 4874. 143 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites für seine Thätigkeit während der Jahre 1889 und 1890, aufgelegt auf Juni 1891, S. 7. Nationalbibliothek Bern, V BE 5545. 144 Jakob Kummer war zudem Mitglied der Evangelischen Gesellschaft und Direktionsmitglied des Vereins des Mädchenheims Brunnadern. Im Jahr 1901 waren von den sieben Vorstandsmitgliedern drei Bernburger. Neben dem Präsidenten bestand der Vorstand aus dem Bernburger Wilhelm Lauterburg, dem Stadtmissionar, Lehrer an der Lerberschule und Mitglied der Evangelischen Gesellschaft R. Feldmann-Habicht, dem Botanikprofessor und Bernburger Ludwig Fischer senior, dem Sachverwalter, Bernburger und Mitglied der Evangelischen Gesellschaft G. von Tscharner – von Wattenwyl (de Pontes), dem Stadtmissionar und Mitglied der Evangelischen Gesellschaft Gottlieb Schmid-Beck und dem katholischen Pfarrer Dr. phil. Jakob Kunz (vgl. Tit.! Bern, im Oktober 1901. NB, V BE 4874). 145 Der Vorstand von 1934 bestand aus einem Prediger, einem pensionierten Lehrer an der Kunstschule, einem Buchhalter der Brandversicherungsanstalt des Kantons Bern, einem Beamten, einem Prokurator der Kantonalbank, zwei weiteren Herren und zwei Damen (Kantonal-berni­ sche Vereinigung für sittliches Volkswohl. In: Nachrichten der schweizerischen Vereinigungen für sittliches Volkswohl und ähnlichen Institutionen. Beilage 3 zu den „Mitteilungen“ des Bundes gegen unsittl. Literatur. Mai 1934. S. 1). 146 Einzig das Initiativkomitee von 1877 sowie die Vorstände von ca. 1890 (das genaue Datum ist unbekannt), von 1901 und 1934 sind meines Wissens überliefert. 147 Diese Feststellung trifft auch für die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft zu. Die alten Eliten wurden auch dort von der aufstrebenden bürgerlichen Mittelschicht ersetzt. Dieser Prozess setzte bereits in den 1880er Jahren ein, als die SGG ihren Fokus weg von theoretischen Debatten hin zu praktischer Tätigkeit verschob. Die neue Ausrichtung mit ihrer sichtbaren Wohltätigkeit erfüllte das Bedürfnis des aufstrebenden mittleren Bürgertums nach Repräsentation und Zurschaustellung ihres Reichtums (vgl. Schumacher, Selbstbilder, 2010, S. 55).

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Die Mitglieder der Sittlichkeitsvereine verfügten durch ihren eigenen Status über einflussreiche Beziehungen.148 Sie verkehrten im In- und Ausland in Kreisen, in denen sie mit Wissenschaftlern, Politikern und Behördenmitgliedern verschiedener Länder in Kontakt kamen. Sie waren verheiratet, verwandt oder bekannt mit Bundesräten, National- und Ständeräten, Kantons- und Gemeindepolitikern, Ärzten, Juristen, Universitätsprofessoren oder Leitern staatlicher Fürsorgestellen. Verwandtund Bekanntschaften mit einflussreichen Persönlichkeiten waren wie auch die illustren Mitglieder, die sie in ihren Vereinen vereinten, entscheidend für den Einfluss der Sittlichkeitsvereine. Etwa konnten sie dank der Unterstützung durch Politiker, Kommissionsmitglieder und einflussreiche Wissenschaftler ihre Botschaften und Forderungen während wichtiger politischer Entscheidungsfindungsprozesse sowie bei politischen Eingaben wirkungsvoller platzieren. So suchten sie mit der Hilfe von Wissenschaftlern ihre Forderungen und politischen Eingaben mit „wissenschaftlichen Beweisen“ zu unterlegen. Sie zogen zur Ausarbeitung ihrer Eingaben Juristen bei, die ihre Gesetzesvorlagen verfassten, ihnen beratend zur Seite standen oder ihnen Gutachten ausstellten.149 Auch von Ärzten und Psychiatern ließen sie für ihre politischen Eingaben Gutachten erstellen, die ihre darin formulierten Forderungen aus „wissenschaftlicher“ Sicht stützten.150 Mit dem Einbezug von Wissenschaftlern bedienten 148 Es ist zurzeit ein Forschungsprojekt um Brigitte Studer, Christian Topalov, Thomas David, Janick Marina Schaufelbühl, Claus Weber etc. in Arbeit, welches das philanthropische Netzwerk zwischen 1880 und 1920 untersucht. Das persönliche Beziehungsnetz der Philanthropen ist ein wesentlicher Aspekt der Untersuchung, die als vergleichende Studie ausgelegt ist. Untersucht werden Genf, Bern, Basel, London und Paris. Aus den Ergebnissen der Untersuchung soll eine Publikation hervorgehen. Vgl. zu den philanthropischen Netzwerken, die in länderübergreifenden Assoziationen und Kongressen kumulierten, auch ausführlich Bec, Philanthropies, 1994; Topalov, Laboratoires, 1999. 149 Etwa holte der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit bei Carl Hilty, dem religiö­ sen Professor für öffentliches Recht an der Universität Bern und Mitglied der freisinnigen Nationalratsfraktion, ein Gutachten für zwei Eingaben zum eidgenössischen Zivilgesetzbuch bezüglich Erhöhung des heiratsfähigen Alters und Verbesserung des rechtlichen Schutzes Minderjähriger ein (Bracher, Geschichte, 1986, S. 46). Die Frauen besprachen die Petitionen betreffend das eidgenössische Zivilgesetzbuch zudem mehrmals mit dem Juristen und Redaktor des eidgenössischen Zivilgesetzbuches, Eugen Huber (Bracher, Geschichte, 1986, S. 46). 150 In einer ihrer Eingaben zum eidgenössischen Strafgesetzbuch listeten sie 16 Ärztinnen auf, die ihre Forderungen begrüßten (Eingabe an die hohe Bundesversammlung zuhanden der Tit. nationalrätlichen und ständerätlichen Kommission für das Schweizerische Civilgesetz. April 1904. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 23:5). Für die 1911 erfolgte Eingabe zum 1942 in Kraft getretenen eidgenössischen Strafgesetzbuch verfasste der bekannte Zürcher Psychiater Eugen Bleuler ein Gutachten, in dem er aus psychiatrischer Sicht eine Hebung des Schutzalters unterstützte (Gutachten zum Schutzalter von Herrn Prof. Dr. Bleuler, Direktor der Irrenanstalt Burghölzli ad Art. 122 und 127. Gosteliarchiv, SEF, A 25:2. Dossier „1911“).

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sich die Sittlichkeitsvereine eines Mittels, das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend verbreitet war. Wissenschaftliche Expertisen gewannen mit der Zunahme sozialstaatlicher Institutionen einen wachsenden Einfluss.151

Die Frauenvereine als Teil der Frauenbewegung Während die Männer über ihre berufliche und ihre politische Position und Vereinstätigkeit verortet werden können, lässt sich über die Mitglieder der Berner 152, Basler 153 und Züricher 154 Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit weit weniger herausfinden. 151 Lengwiler, Verwissenschaftlichung, 2006, S. 167; Raphael, Verwissenschaftlichung, 1996, S. 165 – 171. 152 Im 1886 gegründeten Berner Frauenkomitee saßen Frau Pfarrer Krieg-Chopard, Gründerin des Zoar, einer Zufluchtsstätte für junge Frauen während ihrer ersten Entbindung, „Fräulein“ von Lerber, die Gründerin des „Asyls“ in der Sulgeneck in Bern für Mädchen im Konfirmandenalter (vgl. zum Sulgeneck Schwab, Armenpflege der Stadt Bern, S. 82 f.), Frau von Tscharner, Paulina Deucher-Schnebli, die Ehefrau des freisinnigen Bundesrates, Arztes und Verfechters des Ausbaus des Sozialstaates Adolf Deucher, Frau Raupert, „Fräulein“ Tièche, etwas später stieß Mathilde von Goumoëns-von Wurstemberger dazu (vgl. 11. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 2). Die Protokolle des Frauenkomitees wurden zu Beginn auf Französisch geschrieben, was neben einigen Patriziernamen darauf hinweist, dass die Gründerfrauen aus der Berner Oberschicht stammten (Bracher, Geschichte, 1986, S­ . 15). 1917 saßen Anna Katharina Barth-Sartorius, Frau Prof. von Wyss, Frau von Steiger-v. Fellenberg, Frau Brunner-v. Fischer, Frau E. v. Fischer-Brunner und Frau A. von Büren-v. Salis im Vereinsvorstand (13. Jahresbericht des Berner Frauenvereins, 1915 und 1916. S. 16 f.). 153 An der Gründung des Basler Frauenvereins beteiligt waren Maria Kober-Gobat, die Gründerin des Asyls am Nonnenweg; A. Dufour-Huber, die Präsidentin der Basler Sektion der Freundinnen junger Mädchen; „Fräulein“ Emma Caumont, die Haupteinnehmerin der Kollektenvereine der Association du Sou in der Deutschschweiz; Charlotte Kühne-Brenner, die Ehefrau eines Missionskaufmanns; „Fräulein“ Clara Burckhardt, Präsidentin des leitenden Komitees einer 1890 gegründeten Herberge für stellensuchende, reisende junge Frauen der Freundinnen junger Mädchen (vgl. Niedermann, Anstalten, 1896, S. 37); „Fräulein“ Julie Streckeisen und „Fräulein“ Siegfried (vgl. Janner, Frauen, 1992, S. 63 f.). Alle diese Frauen gehörten den Freundinnen junger Mädchen an. 1896 stieß die Fabrikantentochter Lily Zellweger-Steiger zum Verein und übernahm die Präsidentschaft, später traten Helene Lüscher-Streckeisen, Emma Iselin-Sarasin, die Ehefrau des Juristen und liberal-konservativen National- und Regierungsrates Isaak Iselin-­ Sarasin, der sich für die Kranken- und Unfallversicherung einsetzte; Frau Speiser-Sarasin, die Ehefrau des Rechtsprofessors und liberal-konservativen National- und Regierungsrates Paul Speiser-Sarasin; Marie Elisabeth Gelzer-Vischer und Adèle Fueter-Gelzer­zum Vorstand (vgl. Janner, Frauen, 1992, S. 70). 154 Im Zürcher Frauenverein saßen bei seiner Gründung u. a. Elise Rahn-Bährlocher (Präsidentin), deren Mann Gründungsmitglied des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit

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Bei vielen ist außer ihrem Namen – teilweise ausschließlich der Nachname – nichts überliefert. Aufgrund des Nachnamens oder der Bezeichnung Frau oder „Fräulein“ wird jeweils deutlich, ob die Bezeichnete verheiratet oder ledig war. Nur über vereinzelte Frauen sind biografische Angaben auffindbar. Anlässlich ihres Todes wurden je nach ihrer vereinsinternen Funktion und Bedeutung in den Jahresberichten oder den Verbandsblättern Nachlasse gedruckt, in Separatdrucken Kurzbiografien oder über die Verstorbene einige Worte in Zeitungen verfasst. Eine Verortung der Frauen wird zudem erschwert, weil sie meist weder einen Beruf ausübten noch politischen Organisationen angehörten. Die verbreiteten verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Mitgliedern des Männer- und des Frauenvereins, etwa indem beide Ehegatten in der Sittlichkeitsbewegung tätig waren oder deren Töchter und Söhne, lassen jedoch Rückschlüsse auf die Frauen zu. Eine Verortung der Frauen lässt sich zudem über ihre Vereinstätigkeit machen. Es sind zahlreiche Mehrfachmitgliedschaften auszumachen, besonders häufig in Vereinen, die in verwandten Bereichen tätig waren, allen voran den Freundinnen junger Mädchen.155 Die Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit gehörten der organisierten Frauenbewegung an. Sie sind eher der gemäßigten Richtung zuzuordnen, die am dualistischen Geschlechterkonzept festhielt und die Theorie von der „Andersartigkeit, aber Gleichwertigkeit“ der Geschlechter vertrat, während sich die egalitäre Richtung der Frauenbewegung für die rechtliche Gleichstellung der Frauen einsetzte und sich dabei auf die Ideale der Aufklärung berief. Um sich einen Platz in der Öffentlichkeit zu erkämpfen, verwiesen die Frauen der gemäßigten Richtung auf ihre „soziale Mütterlichkeit“ und wollten ihre als spezifisch weiblich erachteten Fähigkeiten – wie Hilfsbereitschaft und Opferfähigkeit – in den Dienst der Gesellschaft stellen.156 Sie forderten ihr Recht auf Mitsprache in war; Emma Boos-Jegher, eine Pionierin der Frauenbewegung, die als engagierte Kämpferin für Frauen- und Mädchenbildung verschiedene Frauen- und Mädchenschulen gründete, Mitinitiantin des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins und Präsidentin der emanzipatorisch ausgerichteten Union für Frauenbestrebungen war; Emma Schneeli-Berry, Präsidentin des Marthavereins Zürich und Gründerin einer Dienstbotenschule, eines Kinderheims und von Wohnheimen für stellensuchende oder arbeitende junge Frauen und Schülerinnen von höheren Schulen; „Fräulein“ Emma Hess, Gründerin von Kleinkinderschulen und Mitglied der Freundinnen junger Mädchen; mehrere Ehefrauen von Pfarrern wie Frau Finsler, Frau Knecht, Frau Lavater, Frau Kupferschmid, und im Weiteren Frau Garnaus-Locher, Frau Schmid-Gysin, Frau Villot, Frau Elise Huber, Frau Frey-Usteri, Frau Gödecke, „Fräulein“ Emilie Ith, „Fräulein“ Margareta Waser und „Fräulein“ Cleopha Bremi (vgl. ausführlicher 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 6; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 106 und Anhang „Biographien“). 155 Vgl. auch Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 229. 156 Zur sozialen Mütterlichkeit insbesondere Sachsse, Mütterlichkeit, 1986. Vgl. auch Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 104 – 110; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 116, Mesmer,

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öffentlichen Angelegenheiten. Ihre Arbeit in der Öffentlichkeit sahen sie als Dienst an der „erweiterten Familie“.157 Die Divergenzen zwischen der egalitären und der dualistischen Richtung der Frauenbewegung waren jedoch nicht so groß, wie ihre unterschiedlichen Ansichten vermuten lassen, und die ideologischen und personellen Trennlinien zwischen den Vereinen verliefen nicht scharf.158 Dies zeigt sich unter anderem darin, dass die verschiedenen Vereine gemeinsame Behördeneingaben machten, teilweise auch gemeinsam mit den Arbeiterinnenvereinen.159 Zudem waren Frauen teilweise über diese ideologische Grenze hinweg in Vereinen aktiv,160 wie dies auch bei Mitgliedern der Sittlichkeitsvereine sichtbar wird, etwa in Emma Boos-Jegher, einer Pionierin der Frauenbewegung, die auch Präsidentin der der egali­ tären Richtung angehörenden Union für Frauenbestrebungen war. Hinter den dualistischen Argumentationsmustern der Deutschschweizer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit verbarg sich jedoch auch eine ausgeprägt emanzipative und eigenständige Seite, wie sie für die internationale abolitionistische Bewegung generell kennzeichnend war.161 Diese emanzipatorischen Elemente lassen sich anhand der Aufgabenteilung und Zusammenarbeit der Männer- und Frauenvereine zeigen. Während sich die Männer und Frauen der Sittlichkeitsvereine schichtspezi­ fisch in gleichen Feldern bewegten, nahmen sie geschlechtsspezifisch teilweise je eigene Felder ein, die jedoch nicht immer klar voneinander abgetrennt waren und Überschneidungen zuließen. Die Sittlichkeitsvereine verwiesen in ihren Schriften auf eine klare Arbeitsteilung zwischen den Männer- und Frauenvereinen. Der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit vermerkte in seinem ersten Jahresbericht, ihm stehe ein „Verein edler Männer“ zur Seite, an den er sich „anlehnen“, in dessen Hände er „ruhig alle äusseren Angelegenheiten legen“ könne.162 Der Frauenverein aber dürfe seine „ganze Kraft den Werken dienender Menschenliebe zuwenden“. Sie referierten damit auf die gängigen Geschlechterrollen. Der bürgerliche Geschlechterdiskurs teilte Frauen und Männer aufgrund der ihnen zugeschriebenen Geschlechts­ charaktere je unterschiedliche Wirkungsfelder zu. Frauen schienen geeignet, in der Ausgeklammert, 1988, S. 154 und 158; Stoehr, Mütterlichkeit, 1982. 157 Joris, Konstituierung, 1991, S. 157. 158 Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 107; 194 – 204. 159 Zum Beispiel reichten 364 Frauenvereine im Jahr 1893 zusammen eine Eingabe zum eidgenössischen Zivil- und Strafgesetz ein. Weitere Beispiele gemeinsamer Eingaben finden sich im 25. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 12, sowie im 26. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1914, S. 13. 160 Vgl. Redolfi, Frauen, 2000, S. 25 – 29 und S. 31; Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 234. 161 Für die französischsprachige Schweiz vgl. Käppeli, croisade, 1990. Für England, wo die Führerin der Bewegung eine Frau war, nämlich Josephine Butler, vgl. Gender, Religion and Politics, 2008; Daggers, Sex, 2006. Für Frankreich vgl. Battagliola, Philanthropes, 2009. 162 1. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1889, S. 10.

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„Privatheit“ der Familie zu wirken, während Männern die „Öffentlichkeit“ zugesprochen wurde.163 Diese Aufgabenteilung wurde mit der unterschiedlichen Natur der Geschlechter begründet: Emotionalität und Passivität, wie sie der Frau zugeschrieben wurde, schienen geeignet für das häusliche, die Aktivität und Rationalität des Mannes hingegen für das öffentliche Leben. Die Vereinsfrauen betonten in den ersten Jahren nach der Vereinsgründung immer wieder, dass sie in ihrer Vereinstätigkeit die Pflicht als Frauen, Gattinnen und Mütter wahrnahmen und die gängigen Rollenverteilungen nicht anzweifelten. So schrieben sie 1890, dass sie „nicht nach der Emanzipation der Frau in dem Sinne [streben würden], wie die es tun, die Gottes Gebet nicht als höchstes anerkennen“, und dass es sie „kein Kleines“ koste, in ihrer „Zurückgezogenheit nicht bleiben zu dürfen“.164 Bei näherem Hinsehen lässt sich diese vorgehaltene Rollenteilung aber nicht aufrechterhalten. Die historische Forschung hat die Dichotomie privat-öffentlich als grundsätzlich getrennte Sphären relativiert.165 Auch wenn gemäß den bürgerlichen Geschlechterrollen den Frauen der private Raum, den Männern der öffentliche Raum zugesprochen wurde, so sind die Trennung nicht so starr und die Grenzen nicht so klar gewesen, wie das die zeitgenössischen Vorstellungen vorgaben. Etwa leiteten Frauen auch Geschäfte, waren berufstätig, führten Salons und pflegten soziale Netzwerke. Mit ihrer Mitgliedschaft in politisch aktiven Vereinen traten die Frauen mit ihrer Arbeit aus den ihnen zugesprochenen Wirkungsfeldern der privaten Familie heraus und bewegten sich in Männern zugesprochenen gesellschaftlichen Räumen. So waren die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit finanziell unabhängig und verfügten eigenständig über die Entscheidungsgewalt. In ihren Heimen hatten sie die alleinige Leitung inne, ohne Mithilfe oder Mitsprache von Männerseite. Sie gründeten eigene Sekretariate und managten ihre verschiedenen Fürsorgeprojekte von Beginn an unabhängig von den Männervereinen. Für ihre Anliegen setzten sie sich lautstark, kämpferisch und mit spitzer Zunge ein. Sie waren politisch ausgesprochen aktiv (ganz ausgeprägt der Zürcher und Berner Frauenverein), soweit es die fehlenden politischen Rechte zuließen. Um ihre Erfolgsaussichten bei Behördeneingaben zu steigern, versuchten sie möglichst viele andere Vereine und Organisationen zum Unterschreiben ihrer Petitionen zu bewegen. 163 Vgl. zum dualistischen Geschlechterkonzept insbesondere den wegweisenden Aufsatz von Karin Hausen: Hausen, Polarisierung, 1976. 164 2. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1890, S. 10. 165 Vgl. etwa Opitz, Um-Ordnungen, 2005, S. 156 – 187; Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, 2010, S. 98 – 121; Budde, Harriet, 2004, S. 332 – 334; Hausen, Frauengeschichte, 1992. Auch mit dem spatial turn, der den Raum in die historische Untersuchung einbezieht, wurde diese Dichotomisierung hinterfragt. Vgl. ausführlich bei Flather, Gender, 2007; zudem Ineichen, Gender, 2009.

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Die Fürsorgearbeit in den Vereinen war eine der wenigen standesgemäßen Beschäftigungsmöglichkeiten bürgerlicher Frauen außerhalb des Haushaltes.166 Neben vielen unentgeltlich tätigen Frauen waren in den Sittlichkeitsvereinen auch einige in Lohnarbeit beschäftigt. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde das Bedürfnis nach neuen Berufsfeldern vonseiten bürgerlicher Frauen virulent;167 einerseits, weil immer mehr unverheiratete Töchter aus kleinbürgerlichen Kreisen finanziell gezwungen waren, einem Verdienst nachzugehen, eine Problematik, die Teil der im ausgehenden 19. Jahrhundert formulierten „Frauenfrage“ wurde. Andererseits drängten auch immer mehr Frauen aus großbürgerlichen Familien auf den Bildungs- und Arbeitsmarkt und hinterfragten die traditionelle Rolle als Gattin und Mutter. Ein als unerfüllt und langweilig erlebtes Leben im großbürgerlichen Familienkreis weckte den Wunsch nach einer sinnvollen Aufgabe und einer gründlicheren Ausbildung: „Welches denkende Mädchen klagt nicht über die Zustände daheim, über die Zwecklosigkeit seines eigenen Lebens, über den brennenden Wunsch selbständig zu werden und irgend etwas gründlich zu erlernen! Man tanzt sich müde, man wird das Sticken, Malen, Musizieren, Holzbrennen und wie diese öden Dilettantenkünste der weiblichen Jugend noch heissen mögen, gründlich satt […].“168 Auffallend ist, dass viele unverheiratete Frauen in der Sittlichkeitsbewegung aktiv waren. Die „Fräuleins“ fanden in der Vereinstätigkeit eine gesellschaftlich anerkannte Beschäftigung auch außerhalb ihrer Aufgaben und Abhängigkeiten in den Haushalten von Verwandten oder ihren Eltern. Allerdings exponierten sich diese Frauen durch ihre Tätigkeit in einem Sittlichkeitsverein, weit stärker noch als verheiratete Frauen. So wurde Emma Hess, eine der engagiertesten Kämpferinnen in den Anfängen des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, als Unverheiratete besonders stark angegriffen, weil sie sich mit den tabuisierten Themen Sexualität und Prostitution auseinandersetzte, mit denen sich ganz generell „eine Frau […] nicht befassen sollte“169: „Wir Alten mussten in ungleich stärkerem Masse zuerst, als alles noch im Anfang war, Schmach und Hohn auf uns nehmen. Und wie wurde ich als Unverheiratete mit Kot begossen!“170 Unverheiratete Frauen widersprachen dem gängigen Rollenmodell der 166 Als standesgemäße Berufe für Frauen aus bürgerlichen Kreisen galten vorwiegend jene, in welchen sie ihre angeblich spezifisch weiblichen Fähigkeiten einsetzen konnten. Helfende, dienende, pflegende und erzieherische Berufe, wie Krankenpflege, Lehrberuf oder Sozialarbeit, galten als besonders geeignet (vgl. Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 112 – 115; Sachsse, Geschichte, 1980, S. 234 f.). 167 Vgl. zum Folgenden Kuhn, Familienstand, 2000; Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 112 f.; Hardmeier, Frauenstimmrechtsbewegung, 1997, S. 62. 168 Moser, Jugend, 1903, S. 7. Vgl. hierzu auch ausführlich Kuhn, Familienstand, 2000, S. 43 f. 169 5. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1893, S. 3. 170 Brief von Emma Hess an Frau Pfarrer Schmutziger vom 24. April 1912. Gosteliarchiv, SEFSektion Bern, B 14:1.

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bürgerlichen Gesellschaft, das der Frau Heirat und Mutterschaft als Lebenskonzept auferlegte. Eine unverheiratete Frau wurde als Gesellschaftsmitglied abgewertet (die Bezeichnung „alte Jungfer“ deutet auf diese Abwertung hin). Ihre Tugendhaftigkeit und Jungfräulichkeit stellte die absolute Bedingung für ihre Lebensform dar.171 Obwohl das Engagement in der Sittlichkeitsbewegung die Tugendhaftigkeit der unverheirateten Mitglieder unterstrich, wurde allein die Beschäftigung mit dem Thema Sexualität und Prostitution bereits als Regelverstoß gewertet. Die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit hielten zwar an der gängigen Ansicht der Mutterschaft als „natürliche Bestimmung“ der Frau fest, forderten jedoch ihr Recht auf Mitwirkung und Mitsprache in spezifischen öffentlichen Angelegenheiten. Es gebe eine Grenze, so der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit 1889, „wo das Schweigen zum Unrecht wird, wo das Wohl der heranwachsenden Söhne und Töchter der Mutter das Hervortreten an die Oeffentlichkeit zur Pflicht macht“.172 Wie zahlreiche andere Vertreterinnen der frühen Frauenbewegung argumentierten sie, die geschlechtsspezifischen Fähigkeiten von Frauen, wie etwa das Erziehen und Pflegen, dürften nicht länger auf die Privatsphäre der Familie beschränkt bleiben.173 Frauen müssten vielmehr ihre „wesensmässigen“ Kompetenzen in den öffentlichen Dienst stellen. Seit den 1910er Jahren setzten sich die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit öffentlich für das Frauenstimmrecht ein; der Basler Frauenverein bereits 1913, der Berner Frauenverein 1918, die Zürcherinnen 1919 und der Dachverband der deutsch-schweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem in mehreren Schweizer Städten erfolglos Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimmrechts stattgefunden hatten.174 Aber auch, als sich die Deutschschweizer Frauenvereine nach langem Zögern für das Frauenstimmrecht einzusetzen begannen, argumentierten sie mit ihrer Aufgabe als „Mütter des Volkes“.175 Die 171 Vgl. den Tagungsbeitrag von Kyra Inachin, „Ledige und tugendhafte Frauen“ an der Tagung „Im Korsett der Tugenden. Moral und Geschlecht im kulturhistorischen Kontext“ des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien (IZFG) der Universität Greifswald vom 08. 10. 2009 bis 10. 10. 2009 in Greifswald. Tagungsbericht unter http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3028; vgl. zudem Kuhn, Familienstand, 2000. 172 1. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1889, S. 7. 173 Vgl. etwa Schröder, Arbeiten, 2001, S. 102 – 109; Sachsse, Mütterlichkeit, 1986, S. 94 – 103; Koven, Mothers, 1993. 174 Mir sind keinerlei Hinweise begegnet, dass die Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit sich ebenfalls politisch aktiv für das Frauenstimmrecht eingesetzt hätten. Jedoch schrieb der Zürcher Männerverein bereits 1913: „Der Frau ist in rechtlicher, politischer und sozialer Beziehung Gleichberechtigung mit dem Manne zu erkämpfen.“ Die Prostitutionsfrage in der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Zürich, 1913, S. 103. 175 15. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1918, S. 5. Auf die weitere Entwicklung in Bezug auf Emanzipation und Frauenstimmrecht geht Beatrix Mesmer

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Frauenstimmrechtsbewegung fassten sie nun als „organisierte Mutterliebe“ auf.176 Das Frauenstimmrecht ermögliche dem „Stand christlicher Bürgerinnen“ ein Mitreden in „öffentlichen Fragen, Gesetzen und Wahlen, im Schutz für Schwache und Hilflose, für Heim und Herd, für Sittenreinheit u. a. m.“.177

Abb 15 Büro des Zürcher Frauenbundes in den 1920er Jahren.

3.3 Tätigkeitsfelder In diesem Kapitel werden einige ausgewählte Tätigkeitsfelder der Sittlichkeitsvereine detaillierter umrissen, in welchen sie neben ihrem bereits näher dargelegten Engagement gegen die Reglementierung der Prostitution tätig waren. Ihre Fürsorgetätigkeit für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen und dabei insbesondere ihre Erziehungsheime werden in den folgenden Kapiteln noch ausführlich thematisiert werden. Hier soll der Fokus zunächst auf ihrem Engagement für die Hebung der sittlichen Begriffe in der Bevölkerung sowie ihrem Einsatz für soziale Reformen liegen.

ein: Mesmer, Staatsbürgerinnen, 2007, S. 15 f. 176 15. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1918, S. 5. 177 15. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1918, S. 6.

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Einsatz für die Hebung der Sittlichkeit der Bevölkerung Das Engagement der Sittlichkeitsvereine für die Hebung der sittlichen Begriffe in der Bevölkerung lässt sich am Beispiel des Sekretärs des Zürcher Männervereins aufzeigen. Der Sekretär unternahm unter anderem Streifzüge in die dunklen Ecken der urbanen Massengesellschaft auf der Suche nach „Unsittlichem“.178 Das 1895 eingerichtete Sekretariat, das die Haupttätigkeit des Zürcher Männervereins bildete,179 war eine Schaltzentrale der deutschschweizerischen Sittlichkeitsbewegung. Dem Sekretariat, das von einem vollamtlich angestellten Sekretär geführt wurde, waren auf Initiative des Zürcher Männervereins verschiedene Vereine der Sittlichkeitsbewegung der Deutschschweiz angegliedert, darunter auch der Dachverband der deutschschweizerischen Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit. Die angegliederten Vereine bildeten gemeinsam eine Kommission, die sich in ihrem Kampf wider die Prostitution und deren Begleiterscheinungen zusammengetan hatte.180 Die zeitgleich mit dem Sekretariat gegründete Kommission hieß anfänglich schlicht gemeinsame Kommission. Seit 1912 nannte sie sich Schweizerische Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit,181 ab 1916 Schweizerische Vereinigung für sittliches Volkswohl oder Schweizerischer Verein zur Bekämpfung der Unsittlichkeit.182 Die Kommission bezahlte den Sekretär des Zürcher Männervereins.183 Als Gegenleistung für die finanziellen Aufwendungen der angegliederten Vereine übernahm der Sekretär die Arbeiten der Kommission, die darin bestanden, „alle diejenigen Ziele auf sittlichem

178 Esther Sabelus hat in Bezug auf den Frauenhandel die Diskurse und Praktiken bürgerlicher Kontroll- und Deutungsinstanzen nachgezeichnet und geht dabei u. a. den Ermittlungen von Abolitionistinnen und Abolitionisten an Orten der „sexuellen Gefahr“ nach (Sabelus, Sklavin, 2009). 179 Sechster Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit und der Schweizerischen Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1910 bis 31. Dezember 1915. S. 6. StAZH, III Ca 13. 180 Vgl. Statuten der Schweizerischen Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit. In: Sechster Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit und der Schweizerischen Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1910 bis 31. Dezember 1915. S. 59 – 61. StAZH, III Ca 13. 181 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 32. 182 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 32. Die Kommission beschloss am 20. November 1927 nach der Übertragung des Mädchenheims zum Tannenhof an den Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit ihre Auflösung, das Sekretariat bestand jedoch weiterhin (ebd.). Der Entschluss zur Auflösung der Kommission war primär finanziell motiviert (vgl. auch Protokoll des Stadtrates von Zürich vom 29. Dezember 1928, S. 999). 183 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 32.

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Gebiet zu verfolgen, zu deren Erreichung eine einzelne Vereinigung zu schwach“ ist.184 Das erklärte Ziel war demnach, die Schlagkraft der einzelnen Vereinigungen durch gemeinsames Vorgehen zu erhöhen. Zu Beginn gehörten der Kommission ausschließßlich Vereine der Zürcher Sittlichkeitsbewegung an: der Marthaverein, der Zürcher Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit, der Bund vom Weißen Kreuz sowie der Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit.185 Seit 1906 weitete sie sich zu einer überregionalen, gesamtschweizerischen Kommission aus. Zugezogen wurden weitere Vereinigungen, so der Schweizerische Verein der Freundinnen junger Mädchen, der Verband deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, das Schweizerische Natio­nalkomitee gegen den Mädchenhandel, der Schweizerische Bund gegen unsittliche Literatur, der Bund Schweizerischer Frauenvereine sowie der Schweizerische Hebammenverein.186 Einzelne Vereine und Verbände blieben nur über einige Zeit in der Kommission und schieden dann – vermutlich aus finanziellen Gründen – wieder aus; so etwa der Marthaverein und das Weiße Kreuz.187 Die Ernennung eines neuen Sekretärs ging jeweils sehr sorgfältig vonstatten. Schließlich sollte er ein Mann sein, der „seine ganze Kraft und einen jeden Zweifel ausschliessenden Charakter in den Dienst unserer Bestrebungen“ stellen konnte.188 Über die im Sekretariat tätigen Herren sind nur wenige Informationen erhalten. Die Namen der Sekretäre und die Zeitdauer ihrer Anstellung sind überliefert.189 Mehr ist nicht bekannt. Einzig über einen der Sekretäre ist seine frühere Tätigkeit zu erfahren: Der zwischen 1906 und 1912 engagierte Sekretär hatte zuvor im Polizeidienst 184 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 31. 185 P. P. Zürich, im Mai 1895. ZBZ, LK 653. 186 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 32; Vierundzwanzigster Jahresbericht der kantonalen Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl und ihres ständigen Sekretariates. In: Nachrichten der schweizerischen Vereinigungen für sittliches Volkswohl und ähnlichen Institutionen. Beilage 2 zu den „Mitteilungen“ des Bundes gegen unsittl. Literatur. März 1934. 187 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 31. Zeitweilig vertrat die Kommission auch die beiden Männervereine zur Hebung der Sittlichkeit in Bern und St. Gallen sowie verschiedene katholische Vereine, wie den Schweizerischen Katholischen Frauenbund, den Schweizerischen Katholischen Volksverein und den Schweizerischen Katholischen Fürsorgeverein für Frauen, Mädchen und Kinder (vgl. Statuten des Männervereins. O. O. und J. Sozarch, 176/3: V1). Es muss sich jedoch bei den katholischen Vereinen und den beiden Männervereinen nur um eine kurze Zeitspanne gehandelt haben, wie ich vermute, denn im Rückblick des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit auf 50 Jahre Tätigkeit erwähnt der Zürcher Männerverein diese Vereinigungen mit keinem Wort als Mitglieder der Kommission (50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938). 188 P. P. Zürich, im Mai 1895. ZBZ, LK 653. 189 Zu den Namen und der Anstellungsdauer der Sekretäre vgl. 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 25.

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bei der Kantonspolizei Zürich gearbeitet.190 Über die alltäglichen Geschäfte und Tätigkeitsbereiche der Sekretäre ist ebenfalls nur wenig, dafür aufschlussreiches Quellenmaterial erhalten.191 Die Tätigkeit des Sekretärs Die Aufgabe des Sekretärs bestand in der „Bekämpfung jeder Art der Unsittlichkeit in Wort, Schrift und Tat mit allen zulässigen Mitteln“, in der Verbreitung der Vereinsgrundsätze durch die Presse und durch Referate in Versammlungen und Vereinen, in der „Unterstützung von Polizei und Gerichten in der Verfolgung der Delikte gegen die Sittlichkeit“ sowie in der „unentgeltlichen Erteilung von Rat und Auskunft in festgesetzten Sprechstunden an das Publikum“.192 In den Sprechstunden konnte die Bevölkerung Rat einholen zu verschiedenen Themen, wie Vaterschaftsklagen und Strafsachen. Diese beratende Tätigkeit des Sekretariates ist hier nur von sekundärem Interesse.193 Vielmehr liegt der Fokus auf seinen Praktiken im Kampf gegen die Unmoral. Die Vereine, die das Sekretariat mitfinanzierten, konnten die Arbeitskraft des Sekretärs mit beanspruchen. Im Wesentlichen bestand diese Beanspruchung darin, dem Sekretär Hinweise zu „Unsittlichem“ zu übermitteln, wie beispielsweise verdächtige Inserate, vermutete Aufenthaltsorte von „Dirnen“, die Wohnadresse eines vermeintlichen Konkubinatspaares, Hinweise auf Theateraufführungen oder Varietés, die „unsittlich“ sein könnten, oder Adressen von Buchhandlungen, die verdächtigt wurden, „unsittliche“ Literatur zu verkaufen. Es ist nicht mehr eruierbar, wo der Schwerpunkt der Anzeigen bei den einzelnen Vereinigungen und Sektionen lag und welche Unterschiede diesbezüglich zwischen den verschiedenen Organisationen 190 Sechster Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit und der Schweizerischen Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1910 bis 31. Dezember 1915. S. 6. StAZH, III Ca 13. 191 Bei der Auflösung des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit wurde das verbleibende Material dem StAZH übergeben. Dort sind auch einige Archivalien des Sekretariats enthalten (StAZH, W I 56). Weniges über das Sekretariat ist auch im Sozialarchiv zu finden, unter der Signatur 176/3: V2. Seit 1926 wurden die Berichte des Sekretärs in einer Beilage zu den Mitteilungen des Schweizerischen Bundes gegen die unsittliche Literatur als „Nachrichten des Sekretariates der Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl“ gedruckt. Aufschluss über die Arbeit der Sekretäre geben zudem die Jahresberichte des Zürcher Männer­ vereins, ebenso die Jubiläumsschrift 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl aus dem Jahr 1938. 192 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 25. 193 Die Beratungsstätigkeit nahm im Laufe der Jahre an Bedeutung zu und bildete in den 1930er Jahren die Haupttätigkeit des Sekretärs (50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 25).

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bestanden. Ob sich allenfalls auch Widerstand gegenüber vereinzelten Aktivitäten des Sekretärs regte, müsste noch untersucht werden. Die Anzeigen wurden auch von Privatpersonen beim Sekretär eingereicht. Angaben darüber, aus welchen Gesellschaftsschichten diese Denunzianten stammten, sind leider in den spärlich vorhandenen Quellen nicht erhalten. Es ist zu vermuten, dass sie aus allen Gesellschaftsschichten stammten, wie dies auch bei der Einweisung von jungen Frauen in die Erziehungsheime der Sittlichkeitsvereine der Fall war. Sicher ist, dass die Beratungen des Sekretärs von Personen aus allen Gesellschaftsschichten aufgesucht wurden.194 Dies zeugt von einer gewissen Akzeptanz der Arbeit der bürgerlichen Vereine. Durchschnittlich ging fast täglich eine Anzeige beim Sekretär ein,195 der er danach sorgfältig nachging, wie wir noch sehen werden. Im Zeitraum zwischen dem 1. Oktober 1906 und dem 1. Oktober 1907 behandelte der Sekretär folgende Anzeigen, anhand der Häufigkeit aufgelistet:196

•• 37 Anzeigen wegen „einfacher Unzucht“ (Geschlechtsverkehr zwischen Unver•• •• •• •• •• •• •• •• •• •• ••

heirateten) und „gewerbsmässiger Unzucht“ (Prostitution) 20 wegen Verdachts auf „Mädchenhandel“ (Frauenhandel) 18 gegen „unsittliche“ Inserate 18 wegen Kuppelei 18 wegen Konkubinats 15 wegen „unsittlicher“ Wirtschaftsführung, wie „Nachtwirtschaften“ bzw. „Animierkneipen“ (Kellnerinnen animieren zum Trinken), minderjährige Kellnerinnen etc. 14 wegen Ehebruchs 11 zur Nachforschung und Versorgung junger Mädchen 10 wegen „öffentlichen Ärgernisses“ und Vornahme „unzüchtiger Handlungen“ 9 gegen Ausstellung und Vertrieb „unsittlicher“ Schriften und Bilder 9 Vaterschafts- und Alimentationsklagen 8 zur Versorgung „sittlich gefährdeter“ Kinder

194 Vgl. 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 25 f. 195 Zwischen dem 1. Oktober 1906 und dem 1. Oktober 1907 gingen beim Sekretariat 257 Anzeigen ein (vgl. Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. Sozarch, 176/3: V1). In der Zeit zwischen dem 1. Januar 1909 und dem 1. Oktober 1910 waren es 341 (vgl. Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins ­zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis ­1. Oktober 1910. S. 12. Zürich 1910. Sozarch, 176/3: V1). 196 Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in einer zweiten erhaltenen Statistik, welche die Tätigkeit des Sekretärs während dreier Monate im Jahr 1907 auflistet. Vgl. Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. Sozarch, 176/3:V2.

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•• 6 Anzeigen wegen „Nachstellung nach jungen Mädchen“ (Belästigung von jun•• •• •• •• •• •• ••

gen Frauen) 3 Anzeigen gegen Theateraufführungen und Zirkus 3 wegen „widernatürlicher Unzucht“ (z. B. Homosexualität, Zoophilie) 3 wegen Abtreibung 2 gegen zwielichtige „Plazierungsbüros“ (Stellen- und Wohnungsvermittlungs­ büros, welche junge Frauen ohne deren Wissen an Bordelle vermittelten) 2 wegen Vernachlässigung der Familienpflichten 1 wegen „Notzucht“ (Vergewaltigung) 1 Anzeige wegen „Verführung von Pflegebefohlenen“.197

Die Sexualität der Bevölkerung ist unübersehbar das Kernelement der Bemühungen des Sekretärs. Im Zentrum der breit gefächerten Aktivitäten des Sekretärs stand der Kampf für eine Sexualität, die auf Ehe und Reproduktion beschränkt war. Die Aktivitäten der Sittlichkeitsvereine, wie sie sich im Zürcher Sekretariat spiegeln, sind als Versuch zu werten, ihre christlichen Moralprämissen und bürgerlichen Sexualitätsstandards in der Bevölkerung durchzusetzen: Kampf gegen die außer- und voreheliche Sexualität, die Homosexualität, die Pornografie, die sexuell freizügige Literatur und Kunst etc. Der größte Anteil der Anzeigen, die im Sekretariat eingingen, betraf die Pros­ titution im weiteren Sinn: neben Prostitution im engen Sinne auch „Kuppelei“, „Mädchen­handel“,198 „unsittliche Wirtschaftsführung“,199 zwielichtige „Plazierungsbüros“, „öffentliches Ärgernis“, „unzüchtige Handlungen“ sowie die Nachforschung nach und Versorgung von jungen Mädchen. Bei letzterem Punkt handelte es sich um junge, „sittlich gefährdete“ oder „gefallene“ Frauen, die von zu Hause ausgerissen oder Opfer von „Mädchenhandel“ worden waren, an Stellen arbeiteten oder an Orten wohnten, die den Eltern verdächtig schienen, oder die sich einem vermuteten „unsittlichen“ oder „gefährdenden“ Lebenswandel hingaben. Dass die „einfache 197 Jahresbericht des Sekretariats umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1906 – 1. Oktober 1907. Zürich, Oktober 1907. Sozarch, 176/3: V2, und Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. Sozarch, 176/3: V1. Der Sekretär erteilte zudem in diesem Zeitraum 34 „allgemeine Informationen“, 26 Anzeigen lagen außerhalb seines Aufgabenbereichs. 198 Der Kampf gegen den „Mädchenhandel“ wurde dem Aufgabenbereich des Sekretärs erst 1906 zugefügt, mit der Ausdehnung der Kommission und der Aufnahme von Vereinen und Verbänden, die sich auf den Kampf gegen den „Mädchenhandel“ verschrieben hatten (vgl. Kantonaler Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit. Zürich, im Februar 1906. ZBZ, LK 653). 199 Die Sittlichkeitsvereine forderten zum Schutz der jungen Frauen ein Verbot der Ausübung des Kellnerinnenberufes für Minderjährige.

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Unzucht“ (Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten) und die „gewerbsmässige Unzucht“ (Prostitution) vom Sekretär in seinen Statistiken jeweils in einer Rubrik zusammengeführt waren, weist auf die Nähe, die den beiden zugeschrieben wurde, und die Schwierigkeiten, die beiden auseinanderzuhalten. Neben diesem wichtigsten Aufgabenbereich der Prostitution folgte an zweiter Stelle der Kampf gegen „unsittliche“ Inserate, Bilder, Kunst, Schriften und Freizeitvergnügen.200 Gerade die „Schundliteratur“ war Gegenstand „einer ständigen Überwachung“ ihrerseits.201 Die Sittlichkeitsvereine kämpften für eine strenge staatliche Überwachung des Inseraten- und Annoncenwesens, das ihrer Ansicht nach ein Handels­platz für allerlei „unsittliche“ Angebote war.202 Einen prominenten Platz nahmen auch Anzeigen gegen Ehebruch und Konkubinat ein, die den christlichen Grundsätzen von Ehe und Sexualität widersprachen. Der Sekretär agierte zudem – wenn auch weniger prioritär – im Bereich des Schutzes von Frauen und Kindern vor sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch sowie zahlungsunwilligen Vätern ausserehelicher Kinder. Diese Tätigkeitsbereiche wurden gerade von den Frauenvereinen durch politisches Engagement vorangetrieben. Der Sekretär arbeitete überdies im Bereich des „Schutzes junger Mädchen“, wie er es bezeichnete. Zu diesem Aufgabenbereich des Sekretärs zählten die Platzierung junger Frauen an „bessere“ Arbeitsstellen und das Erteilen von Auskunft über Betriebe, in welchen den Mitarbeiterinnen nachgestellt wurde.203 Ebenso gehörte dazu das Erwirken von Bevormundungen und von Einweisungen junger Frauen in Erziehungsheime.204 Zu den Aufgaben des Sekretärs gehörte auch, nach Abtreibungs- und Verhütungsinseraten zu fahnden und das illegale Abtreibungswesen in der Schweiz auszukundschaften. Die Sittlichkeitsvereine lehnten Abtreibung und Verhütung als unchristlich

200 Vgl. zum Einsatz der Sittlichkeitsvereine in diesen Bereichen näher bei Engel, Festseuche, 1990; Gurtner, Kultur, 2004. 201 Jahresbericht des Berner Männer-Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit über die Vereinsjahre 1923 und 1924. Gedruckt im August 1925. S. 4 – 7. 202 Eingabe des Zürch. Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit an den h. Regierungsrat, 1892, S. 13 – 16. ZBZ, DDN 1076. 203 Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis 1. Oktober 1910. S. 21. Zürich 19010. Sozarch, 176/3: V1. 204 Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis 1. Oktober 1910. S. 20 f. Zürich 19010. Sozarch, 176/3: V1; Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. S. 17. Sozarch, 176/3: V1.

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und familienfeindlich ab.205 Eugenisch begründete Abtreibungen unterstützten die Sittlichkeitsvereine nicht, jedenfalls sind mir keine solchen Hinweise begegnet. Zusätzlich zu diesen Themenbereichen intervenierte der Sekretär auch bei Homosexualität sowie bei Vernachlässigung der Familienpflichten, wie beispielsweise dem Vertrinken des Lohnes in den Kneipen (die Sittlichkeitsvereine kämpften entsprechend auch für die Einführung der Polizeistunde). Zudem gingen im Sekretariat auch Anzeigen zur Versorgung „sittlich gefährdeter“ Kinder bei ihm ein. Im Laufe der Jahre tauchten neue „Bedrohungen“ auf, denen die Sittlichkeitsvereine ihre Aufmerksamkeit zuwendeten. Etwa die Nacktkulturbewegung 206, die freizügigere Damenkleidung der 1920er Jahre oder die immer knapper ausfallende Bademode, ebenso neue Unterhaltungsangebote wie das Kino, oder die durch den Ersten Weltkrieg gelockerte Sexualmoral der Frauen, die sich in „Flirten, Kokettieren, Anbändeln, Nachlaufen, bis zu dem sich Wegwerfen um ein paar Batzen“ manifestiere,207 beschäftigten sie. Der Sekretär ging jeder eingegangenen Anzeige nach, soweit sie in seinen Aufgabenbereich fiel. Jedes einzelne Geschäft verzeichnete er genauestens auf einer Karte und ordnete diese alphabetisch.208 Dieses minutiös gesammelte Zahlen- und Faktenmaterial diente den Sittlichkeitsvereinen wiederum als „Beweismaterial“ für ihre Statistiken, mit welchen sie ihre politischen Eingaben untermauerten. Sie bedienten sich mit dem Anlegen von Statistiken eines Werkzeugs, das sich im 19. Jahrhundert zur wissenschaftlichen Behandlung der sozialen Frage durchsetzte und auch von den Sozialreformern zur Untermauerung ihrer Forderungen benutzt wurde.209 Mithilfe von Enqueten und amtlichen Statistiken sollten die anstehenden gesellschaftlichen Probleme wissenschaftlich angegangen und faktenorientiert behandelt werden. Es ist denn auch kein Zufall, dass sich die anfänglich rein zürcherische Kommission gerade seit 1906 zu einer gesamtschweizerischen Kommission ausdehnte und es zu einem Ausbau in personeller und organisatorischer Hinsicht kam; zu einem ­Zeitpunkt 205 Vgl. Protokoll des Dachverbandes vom 5. Juni 1913, vom 2. Mai 1911, vom 28. Mai 1909, vom 9. November 1905 und vom 9. Mai 1906. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. 206 Dem Sittlichkeitsverein widerstrebte die um die Jahrhundertwende im Zuge der Lebensreformbewegung aufkommende Nacktkulturbewegung und die mit der Naturheilkunde einhergehende Lichtlufttherapie, die ein Licht- und Lufttanken ohne Bekleidung als Therapie propagierte. 207 12. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1914, S. 7. 208 Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis 1. Oktober 1910. S. 12. Zürich 1910. Sozarch, 176/3: V1. 209 Raphael, Verwissenschaftlichung, 1996, S. 171 f.; Topalov, réformateurs, 1999, S. 40 f. Zu den in Reformkreisen angewandten wissenschaftlichen Methoden vgl. Topalov, réformateurs, 1999, S. 41 f.

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also, an dem sich bei den Beratungen um das eidgenössische Strafgesetzbuch eine Kehrtwende gegen die Ansichten der Sittlichkeitsvereine in Sachen Prostitution abzuzeichnen begann.210 Die Kommission sollte zu verhindern suchen, „dass durch das Schweizerische Strafrecht Grundsätze Aufnahme fänden, die diese Bestrebungen zunichte machten oder doch sehr schädigten“.211 Das vom Sekretär gesammelte statistische Material sollte zur Untermauerung ihrer geplanten weiteren Eingaben zum Strafgesetzbuch dienen. Die gesammelten „Beweise“ dienten auch der Beweisführung gegen von den Sittlichkeitsvereinen denunzierte Personen. Der Sekretär überreichte das „Beweismaterial“ der Polizei, der Vormundschaftsbehörde oder den Gerichten, damit diese gegen die „Fehlbaren“ von Staats wegen vorgehen sollten. Bei Verdacht auf Prostitution und Kuppelei prüfte er die ihm gemeldeten Fälle nach, sammelte Beweismaterial vor Ort und brachte die „Dirnen“ und Kuppler vor Gericht. Bei Hinweisen auf „Mädchenhandel“ forschte er in der ganzen Schweiz nach, fuhr an die vermuteten Aufenthaltsorte von „Mädchenhändlern“ und suchte nach verschwundenen Mädchen und Frauen. Bei Verdacht auf „unsittliche“ Inserate bestellte der Sekretär die angebotene Ware und erhielt gegebenenfalls „obszöne“ Kataloge oder Fotos zugeschickt, „die aller Beschreibung spotten“.212 Handelte es sich um „unsittliche“ Inserate, wurde er bei den entsprechenden Zeitungen vorstellig. Erschienen die Inserate weiterhin, nahm er die Hilfe der Behörden in Anspruch, um gegen die fehlbare Zeitung vorzugehen. Bei Hinweisen auf „unsittliche“ Ausstellungen oder Zirkus- und Theateraufführungen ging der Sekretär vorbei und nahm sich einen persönlichen Augenschein, sammelte Aktenmaterial und überreichte dieses zur Beweisführung der städtischen Polizeibehörde. Bei Anzeigen gegen Buchläden oder Kioske mit Verdacht auf Verkauf von unsittlichen Büchern, Zeitschriften oder Bildern (beispielsweise waren die Romane von Émile Zola den Sittlichkeitsvereinen ein 210 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 31. Der Vorentwurf zum eidgenössischen Strafgesetzbuch von 1908 strich im Artikel 130 den Passus, der das Führen von Bordellen strafbar machte. Ausschlaggebend hierfür sei die Ansicht gewesen, den Kantonen die Detailregelung zu überlassen (Puenzieux, Medizin, 1994, S. 188). 211 Zit. nach Sechster Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Bekämpfung der öffent­ lichen Unsittlichkeit und der Schweizerischen Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1910 bis 31. Dezember 1915. S. 30. StAZH, III Ca 13. Vgl. auch Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. S. 3. Sozarch, 176/3: V1; 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 31. 212 Jahresbericht des Sekretariats umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1906 – 1. Oktober 1907. Zürich, Oktober 1907. Sozarch, 176/3:V2.

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Dorn im Auge, ebenso Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“) ging der Sekretär in besagte Verkaufsläden und täuschte Interesse am Kauf „unsittlicher“ Literatur oder „pornographischer“ Bilder vor. Der Sekretär nahm auch Erkundigungen über zukünftige Schwiegersöhne vor. Er werde „oft angegangen, um über den Charakter und die Vergangenheit eines Heirats­kandidaten Erkundigungen einzuziehen, die in vielen Fällen ebenso nötig sind wie eine ärztliche Untersuchung, zu der wir in allen Fällen raten müssen“.213 Für seine Nachforschungen nach dem Aufenthaltsort junger Mädchen und deren Lebensweise reiste der Sekretär in der ganzen Schweiz herum und scheute für seine Beobachtungstouren, wie er seine Erkundigungen nannte, keine Tages- und Nachtzeit. Er berichtete beispielsweise über ein Geschwisterpaar, das er nach vielen Bemühungen erfolgreich aus seinem „unsittlichen“ Lebensstil herausgeholt habe. Seine Bemühungen bestanden unter anderem darin, den beiden nachts zu folgen und sie bei „unsittlichen“ Aktivitäten zu überraschen.214 In seinen Berichten sind die Ausführungen zu seinen Nachforschungen nach „gestrauchelten“ Mädchen und jungen Frauen sehr vage gehalten. Bezeichnenderweise führt er nicht näher aus, in welchen Situationen er das Geschwisterpaar während ­seiner nächtlichen Rundgänge erwischte. Über seine Nachforschungen nach jungen Frauen schrieb der Sekretär, er habe „auf diesem Gebiete peinliche Beobachtungen machen müssen, über welche an dieser Stelle von weitern Ausführungen abgesehen“ werde.215 Im Zusammenhang mit den „gestrauchelten“ jungen Frauen und deren „Schutz“ und Nacherziehung arbeitete er eng mit den Frauenvereinen zur Hebung der Sittlichkeit und den Vereinen Freundinnen junger Mädchen zusammen. Zudem stand er in Kontakt mit den Vormundschaftsbehörden und der Polizei, an die er die gesammelten Beweise herantrug. Auch von der städtischen Polizeiassistentin erhielt er, wie der Zürcher Männerverein hervorhob, „in verdankenswerter Weise“ Unterstützung.216 Die Tätigkeit des Sekretärs, so verdeutlicht seine Anzeigenliste, weist einerseits repressive Elemente auf, indem er in der Bevölkerung spionierte und Anzeigen einreichte. Andererseits beinhalten seine Aktivitäten Aspekte der Hilfe und des Schutzes. Seine 213 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 41. 214 Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis 1. Oktober 1910. S. 21. Zürich 1910. Sozarch, 176/3: V1. 215 Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. S. 17. Sozarch, 176/3: V1. 216 Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis 1. Oktober 1910. S. 20. Zürich 1910. Sozarch, 176/3: V1.

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Suche nach vermissten Frauen und nach von Menschenhändlern Verschleppten, die Vaterschaftsklagen sowie die (wenn auch wenigen) Anklagen bei Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch sind umso beachtenswerter, als die Gesetze um die Jahrhundertwende noch äußerst lasch gegenüber solchen Straftaten waren. Die Einweisung junger Frauen in Heime war auch ein Versuch, junge Frauen aus der Prostitution und dem Sexmilieu zu holen oder sie davor zu bewahren, und der Kampf gegen „Animierkneipen“, „Mädchenhandel“ und Bordelle war ebenso ein dezidierter Kampf gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen im Sexgewerbe. Kontroll- und Deutungsinstanz über die Sittlichkeit der Bevölkerung In seinem Bericht über das eidgenössische Schützenfest in Zürich im Jahr 1907, an dem er sich im Auftrag des Zürcher Männervereins in der Menschenmenge auf die Suche nach „Anstössigem“ machte, resümierte der Sekretär seinen Eindruck über die Arbeit der Sittenpolizei während des Schützenfestes. Er lobte das Engagement einiger der Detektive der Sittenpolizei, beklagte aber, dass den Detektiven während des Festes keine „angemessene Zulage“ bezahlt wurde, „denn zweifelsohne hätte doch etwas intensiver gearbeitet werden können“.217 Er beklagte zudem, dass sich unter den Polizisten Männer befänden, die „sich nicht geniren, Kellnerinnen etc. zu belästigen“.218 Er sah sich selbst als besser geeignet an, in Sachen „Unsittlichkeit“ zu ermitteln, als die Polizei. Der Sekretär war also auch als kritischer Beobachter der Arbeit der Sittenpolizei tätig. Er fungierte quasi als Überwacher der Polizei, um die Einhaltung der Gesetze und das Einschreiten der Polizei bei Gesetzesübertritten zu kontrollieren. Einen staatlichen Auftrag dazu hatte er nicht erhalten. Er handelte allein im Interesse der Sittlichkeitsvereine. Die Meinung des Sekretärs über die Polizei teilte er mit seinen Arbeitgebern. Die Sittlichkeitsvereine stellten die Fähigkeit der Behörden, für die Umsetzung der Sittlichkeitsgesetze und die Moral der Bevölkerung zu sorgen, infrage. Die Polizei beschuldigten sie der „Laxheit“ und bezweifelten ein engagiertes Vorgehen und die moralische Integrität der Polizisten – wussten sie doch von Fällen zu berichten, wo Polizisten sich selbst des käuflichen Sexes bedienten. Sie bezichtigten ferner die Gerichte, die „guten Gesetze“ „zu lasch“ zu handhaben.219 Die Sittlichkeitsvereine sahen sich demgegenüber selbst als befähigt an, als Kontrollinstanz über die Sittlichkeit der Bevölkerung zu wachen. Es sei ihre Pflicht, die 217 Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. S. 5. Sozarch, 176/3: V2. 218 Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. S. 5. Sozarch, 176/3: V2. 219 Protokoll des Komitees Sulgenhof-Asyl, vom 26. Oktober 1917. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 14:1.

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„mannigfachen Übelstände auf[zu]decken“220 und eine „Aufsicht auszuüben, wie sie die Polizei nicht besorgen kann und durch solche das sittliche Bewusstsein und das Gefühl für öffentlichen Anstand im Ganzen zu heben“.221 Die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit forderten ihre Mitglieder in ihren Schriften und Jahresberichten immer wieder auf, Augen und Ohren offen zu halten und bei Verdacht bei der Polizei Anzeige zu erstatten oder dem Zürcher Sekretär Mitteilung zu machen. Sie sahen es gar als explizite Pflicht jedes Mitgliedes an, sich aktiv an der Suche nach dem „Laster“ zu beteiligen.222 Die Vereinsmitglieder sollten – und taten es gemäß den Sittlichkeitsvereinen auch – beispielsweise Zigarrenhandlungen, Konditoreien oder Weinhandlungen ausspionieren, hinter denen sie versteckte Bordelle vermuteten; oder sie sollten in Zeitungen nach verwerflichen Angeboten suchen, die sich hinter scheinbar harmlosen Annoncen für Badeanstalten, Möbelhandlungen, Heirats- oder Stellenvermittlungsbüros verbargen.223 Der Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit setzte zudem Mitglieder als sogenannte „Vertrauensmänner“ ein, die sich im Auftrag des Vereins in ihrem jeweiligen Wohnkreis auf Beobachtungstouren in die sexuellen Niederungen begaben.224 Jedes Mitglied sollte Teil ihres Kontrollnetzes sein und zu dessen Dichte beitragen. Ihre Arbeit stellten sie als Auftrag Gottes dar. In der Trauerrede am Begräbnis für Christian Beyel, einem langjährigen, engagierten Vorstandsmitglied des Zürcher Männervereins, wurde der Verstorbene als Persönlichkeit bezeichnet, die „im Auftrag und in der Vollmacht eines Höhern kam, um für seine Ordnung in dieser Welt zu kämpfen und mitten im Chaos der menschlichen Unordnung und Verirrung klar und deutlich Gottes Ordnung aufzuzeigen“.225 Die Sittlichkeitsvereine sahen sich dank ihrer „sittlichen Reinheit“ zur Wiederherstellung der gottgewollten Ordnung berufen. Indem sich die Sittlichkeitsvereine eine Aufsichtsfunktion über die gesellschaftliche Sittsamkeit auferlegten, agierten sie auch ohne offiziellen staatlichen Auftrag in einer Funktion, die eigentlich in den Händen staatlicher Organe lag. Mit ihren 220 Männer-Verein für öffentliche Sittlichkeit der Stadt Bern. Bericht des Komites an die werten Mitglieder vom Oktober 1904 (ohne Druckdatum). S. 7. NB, V BE 5545. 221 Anweisung, was gegen die Ausstellung und den Verkauf unsittlicher Schriften und Bilder gethan werden kann. O. O. und J. NB, V BE 4874. 222 Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 25. April 1888 (ohne Druckdatum). S. 2 f. NB, V BE 5545. 223 Eingabe des Zürch. Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit an den h. Regierungsrat, 1892, S. 15. ZBZ, DDN 1076. 224 Protokoll der Sitzung der Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl vom 23. September 1926. StAZH, W I 56.2; Protokoll der Sitzung der Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl vom 30. April 1926. StAZH, W I 56.2. 225 Zur Erinnerung an Dr. Christian Beyel. O. O. 1941. S. 10. StadtA Zürich, Bibl. Nd Beyel, Christ.

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Praktiken der Überwachung und Kontrolle positionierten sie sich quasi als Privatpolizei und betätigten sich – etwas überspitzt formuliert – als Spione, Detektive, Polizisten, Kläger und Richter. Die Sittlichkeitsvereine ermächtigten sich letztlich zu definieren, was unsittlich und was sittlich war, was dem öffentlichen Anstand genügte und was nicht. Sie fungierten demnach als bürgerliche Kontroll- und Deutungsinstanzen. Da die Gesetze vage formuliert waren und nicht näher definierten, was genau als „Liederlichkeit“ oder „unsittliche“ Literatur und Kunst zu gelten hatte, eröffnete sich hier ein Ermessensspielraum, der nicht nur für die Behörden, Richter und Polizisten galt. Auch die Sittlichkeitsvereine bedienten sich dieses Spielraums. Gestützt auf ihren weit gefassten, stark religiös eingefärbten Sittlichkeitsbegriff sahen sie sich zum Eingreifen in die Gesellschaft bis hin in die Privatsphäre der einzelnen Gesellschaftsmitglieder befugt. Auf ihren Streifzügen in die dunklen Ecken der Städte urteilten sie mit ihrem eigenen moralischen Blick. Die Sittlichkeitsvereine griffen dabei gleich in doppelter Weise als Moralinstanz in die Gesellschaft ein: als „Regelsetzer und -durchsetzer“ (Howard Becker)226. Einerseits waren sie erfolgreich bemüht um den Erlass neuer Gesetze um die Sittlichkeit. Andererseits fungierten sie als Durchsetzer der herrschenden Sittengesetze in der Bevölkerung. Die Erziehungsprämissen und Kontrollmechanismen der Sittlichkeitsvereine waren auf alle Gesellschaftsschichten gerichtet, nicht allein auf die Unterschicht.227 Alle sollten sich ihren Moralvorstellungen entsprechend verhalten, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Höhere wie untere Schichten waren von ihrem Auskundschaften nach dem Vorleben eines zukünftigen Schwiegersohns, ihrem Engagement gegen „unsittliche“ Literatur, freizügige Kunst, Theater, Kinematografen und Kneipen betroffen. Die Einzigen, die ihre Erziehungsbemühungen zumindest nicht direkt tangierten, waren die Frauen und Mädchen aus der Mittel- und Oberschicht – weil die Sittlichkeitsvereine diesen eine einwandfreie Moral und eine passive Sexualität attestierten. Die Sittlichkeitsvereine beobachteten die Lebensweise von Frauen aus der Unterschicht, befreiten jedoch Frauen aus der Mittel- und Oberschicht von einer solchen Überprüfung –,228 sicherlich nicht zuletzt, weil Mädchen und Frauen aus 226 Vgl. Becker, Aussenseiter, 1981, S. 133 – 148. 227 Michel Foucault wertet die Aktivitäten der Sittlichkeitsvereine in England, die hauptsächlich von Begüterten und Aristokraten gegründet wurden, als moralische Kontrolle der Vertreter der oberen Klassen über die ärmeren Schichten. „Damit wird sie [die moralische Kontrolle] zu einem Instrument der Macht der reichen Klassen über die armen Klassen, der Ausbeuter über die Ausgebeuteten, und das verleiht diesen Kontrollinstanzen eine neue politische und soziale Polarität.“ Foucault, Wahrheit, 2003b, S. 92. 228 David Crew hat für Deutschland festgestellt, dass Fürsorgerinnen Hausbesuche auf Unterschichten konzentrierten. Mittelschichten blieben von fürsorgerischer Kontrolle und Überwachung meist verschont. Als Erklärung wurde vorgebracht, dass diese gut situierten Kreise

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­bürgerlichen Schichten bereits einer starken gesellschaftlichen und familiären Kontrolle sowie einem sexuell engen Korsett unterworfen waren. Die Frauen aus bürgerlichen Schichten blieben zwar vor direkten Moralkontrollen der Sittlichkeitsvereine verschont, indirekt waren sie aber dennoch betroffen. Ihnen wurde durch das Agieren der Sittlichkeitsvereine vor Augen geführt, was geschah, wenn sie die sittlichen Regeln umgingen oder lockerten. Bei den Männern gerieten alle gesellschaftlichen Schichten in den Fokus der Sittlichkeitsvereine – als (potenzielle) Freier und untreue Ehemänner. Sie waren von den Maßnahmen der Sittlichkeitsvereine direkt tangiert und explizit ins Visier genommen. Ihnen sollte die „Ware Sex“ entzogen, der Konsum von Pornografie und sonstiger „unsittlicher“ Schriften und Bilder verunmöglicht werden. Die Sittlichkeitsvereine waren sich bewusst, dass die Freier und Konsumenten von Pornografie aus allen gesellschaftlichen Schichten stammten. Der Kampf der Sittlichkeitsvereine richtete sich nicht primär oder einzig gegen die „Sittenlosigkeit“ der Unterschichten, sondern gegen die „Unsittlichkeit“ und letztlich die „Gottlosigkeit“ der Gesellschaft schlechthin. Die Tätigkeit der Sittlichkeitsvereine hatte aber insofern einen ausgeprägten Klassenbias, als sich ihre vielfältigen Fürsorge- und Nacherziehungsmaßnahmen auf die Unterschichten bezogen. Tangiert von ihren initiierten Zwangsmaßnahmen waren neben den „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Unterschichtfrauen auch die meist aus armen Verhältnissen stammenden Zuhälter, Kuppler und Kupplerinnen durch die von den Sittlichkeitsvereinen erreichten verschärften Strafgesetze gegen Kuppelei und Zuhälterei. Die aus allen Gesellschaftsschichten stammenden Freier dagegen blieben von Straf- oder Erziehungsmaßnahmen verschont. So standen beispielsweise Erziehungsheime für (potenzielle) Freier oder Fürsorgestellen zur sittlichen Beeinflussung von Freiern und untreuen Ehemännern nie zur Diskussion. Ebenso ohne rechtliche oder erzieherische Konsequenzen blieb der Konsum von Pornografie oder der Kauf „unsittlicher“ Bilder und Schriften. Den Konsumenten des „Unsittlichen“ wurde einzig durch die Verknappung der „Ware Sex“ begegnet. Damit zementierten die Sittlichkeitsvereine letztlich die Doppelmoral, gegen die sie eigentlich ankämpften. Ein Grund für das Verschonen der männlichen Sexkonsumenten könnte gewesen sein, dass der Zugriff auf sich prostituierende Frauen, die am Rande der Gesellschaft standen und überwiegend aus den unteren Schichten stammten, einfacher zu bewerkstelligen und konsensfähiger war als jener auf die männlichen und zudem häufig aus den oberen, einflussreicheren Schichten stammenden Sexkonsumenten.

leichter die nötigen Ratschläge über die gute Haushaltsführung und Kindererziehung erhalten konnten (vgl. Crew, Germans, 1998, S. 121).

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Der liberale Gegenwind wider die „Sittlichkeitsschnüffelei“ Die „falsche Rolle eines Aufpassers, Denunzianten, Ketzerriechers“ Die Sittlichkeitsvereine wussten es: Sie genossen in sexuell freizügiger eingestellten Kreisen den zweifelhaften Ruf, „Moralapostel“ zu sein. Als „Sittlichkeitstanten und -onkel“, „Moralisten“, „Sittlichkeitsschnüffler“, „Tugendwächter“ oder „Betschwestern“ wurden sie von diesen betitelt und belächelt. Die Sittlichkeitsvereine verweisen in ihren Schriften wiederholt auf dieses Image hin, gegen das sie anzukämpfen hätten. Noch in den 1930er und 1940er Jahren scheinen die Sittlichkeitsvereine ihren Ruf als „Moralapostel“ nicht losgeworden zu sein.229 Dass die Sittlichkeitsvereine in ihren Schriften immer wieder den Widerstand gegen ihre Tätigkeit betonten, verweist nicht nur auf die vorhandenen kritischen Stimmen aus der Bevölkerung. Dahinter verbergen sich auch Marketingstrategien der Vereine. Ihre Arbeit gewann in Anbetracht der gegenwärtigen „Mächte des Abgrundes“ an Wichtigkeit. Zudem unterstrichen die Vereine damit, dass sie trotz Widerständen Erfolg hatten. Die Einwände gegen die Sittlichkeitsvereine gingen aber weiter als ein bloßes Belächeln von als rigid erachteten Moralvorstellungen. Einige ihrer Aktivitäten wurden als „Sittlichkeitsschnüffelei“ und als Eingriffe ins Privatleben kritisiert.230 Letztlich ging es um den Anspruch der Vereine, ihre Moralvorstellungen in der Bevölkerung durchzusetzen, sowie die Art und Weise, wie sie ihre Verhaltensregeln an den Mann und die Frau brachten. Diese kritischen Stimmen sahen die Freiheit des Einzelnen durch einen Verein bevormundet und beschnitten. Das Engagement der Sittlichkeitsvereine für das „allgemeine Wohl“ werteten sie als unerwünschte Einmischung. Die Überwachung der Moralität der Bürger durch Private stand im Widerspruch zum bürgerrechtlichen Freiheitsdenken. Seit der Französischen Revolution, die zwischen Bürgern und Staat keine Organisation, Gruppierung oder Interessensvertreter mehr akzeptierte, blieb auch in der Schweiz der Raum zwischen der Bevölkerung und dem Staat ein umstrittenes Terrain.231 Diese kritischen Stimmen fanden in der Bevölkerung eine gewisse Verbreitung. In Zeitungen, Satirezeitschriften, Fastnachtsumzügen,232 Behördenakten, literarischen Schriften 233 sowie in Schriften der Verfechter der Reglementierung 234 finden sich

229 Vgl. für die 1930er Jahre Leimgruber, Wertung, 1935, S. 18 f. Vgl. für die 1940er Jahre Brief der Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern an die Staatsanwaltschaft des Mittellandes, 14. 4. 1943. StadtA Bern, Stadtpolizei, Mappe 4. Dossier 9, Dirnenwesen 1943 – 1952. 230 Gegen die Aktivitäten der Polizeiassistentin (vgl. Götting, Kritik, 2009) und die Hausbesuche von Fürsorgerinnen (vgl. Crew, Germans, 1998, S. 121) regte sich ebenfalls Widerstand wegen Eingriffs in die Privatsphäre. 231 Schumacher, Selbstbilder, 2010, S. 39. 232 Vgl. Janner, Frauen, 1992, S. 127, Anm. 4; Janner, Vereine, 1994, S. 74. 233 Vgl. z. B. Loosli, Bümpliz, 1906, S. 158 f. 234 Vgl. Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 120 und 125.

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kritische Anspielungen auf einige als „schnüfflerisch“ wahrgenommene Aktivitäten der Sittlichkeitsvereine. Ein treffendes Beispiel einer solchen Kritik findet sich in der im August 1903 erschienen Schweizer Hauszeitung, einer Familien- und Frauenzeitung, die sich an ein bürgerliches Frauenpublikum richtete. Es ist ein Artikel zum Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit und dessen Arbeit. Der Artikel bedachte den Verein mit ausgesprochen lobenden, aber auch mit äußerst kritischen Worten.235 Der Artikel lobte die „guten Taten“ des Vereins und anerkannte „bedingungslos“ die „ganze segens­ reiche Tätigkeit“ in ihren beiden Erziehungsheimen Maternité und Pilgerbrunnen.236 Gelobt wurde ihr Kampf gegen den „Mädchenhandel“ und für die Abschaffung der Bordelle. Durch ihre Erfolge könnten Söhne und Töchter vor Krankheit, Elend und Schande bewahrt werden, durch ihre segensreiche Tätigkeit fänden „Jahr für Jahr gefallene oder dem Falle nahe Mädchen wieder festen Halt und moralischen Grund unter ihren Füssen“.237 Kritisch äußert sich der Artikel hingegen über die bevormundenden Tendenzen des Vereins. Der Frauenverein müsse sich davor hüten, nicht in die „falsche Rolle eines Aufpassers, Denunzianten, Ketzerriechers unter allen Umständen“ zu verfallen. Dem Zürcher Frauenverein wirft er vor, ob seines fast missionarischen Eifers die Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen zu missachten. Nicht nur die „edeln Bestrebungen“ des Vereins hätten ihre Berechtigung, sondern es gelte auch „der eigene Wille eines jeden Menschen“. Jede „Absicht einer Bevormundung der Gesellschaft durch einen einzelnen Verband oder Verein“ führe „naturgemäss zur Reaktion“. Der Autor oder die Autorin riet dem Frauenverein, sich „in weiser Mässigung vor jedem Übereifer“ zu hüten. Im Visier der Kritik des Artikels stand demnach ihr Auftreten in der Bevölkerung als denunzierende, spionierende, bevormundende Instanz. Von der Kritik ausgespart blieben neben dem Kampf gegen Bordelle und Frauenhandel jedoch ihre Erziehungsmaßnahmen gegenüber normabweichenden weiblichen Jugendlichen – offenbar galt die Forderung nach Respektierung des freien Willens nicht für die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ Mädchen und Frauen. 235 Werke wackerer Zürcher Frauen. In: Schweizer Hauszeitung vom 22. August 1903. 33. Jg., Nr. 47, S. 380. Gosteliarchiv, SEF, A 2 :1. Dossier „Schweizer Hauszeitung, 1903“. Die Hauszeitung nannte sich selbst die älteste Familien- und Frauenzeitung der Schweiz. Die Zeitung steht ideologisch der bürgerlichen Frauenbewegung nahe. Sie sprach sich gegen den Sozialismus aus. Ich ordne die Hauszeitung im Mittelfeld zwischen der konservativen und der liberalen bürgerlichen Frauenbewegung an. Sie propagierte ein dualistisches Geschlechterbild, kämpfte für den Ausbau frauenspezifischer Arbeitsplätze und für das politische Stimm- und Wahlrecht für Frauen. 236 Werke wackerer Zürcher Frauen. In: Schweizer Hauszeitung vom 22. August 1903. 33. Jg., Nr. 47, S. 380. Gosteliarchiv, SEF, A 2 :1. Dossier „Schweizer Hauszeitung, 1903“. 237 Werke wackerer Zürcher Frauen. In: Schweizer Hauszeitung vom 22. August 1903. 33. Jg., Nr. 47, S. 380.

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Auch der Jurist Theodor Weiss, ein Gegner der Sittlichkeitsvereine und Befürworter der Reglementierung der Prostitution, bezog in seinem 1906 erschienenen Buch zur Prostitutionsfrage in der Schweiz mit kantigen Worten kritisch Stellung, und zwar zur Zusammenarbeit zwischen Sittlichkeitsvereinen und Polizei: „Hand in Hand mit der Bekämpfung jeglicher Kuppelei geht eine unerträglich werdende Sittlichkeitsschnüffelei, angeregt und unterhalten durch die Sittlichkeitsvereine, die zu vielfachen Übergriffen der Polizei und Eingriffen in das heiligste des Privat­lebens führt.“238 Der Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit fasste Theodor Weiss‘ Kritik als Verurteilung der Aktivitäten ihres Sekretärs auf. Der Männerverein rechtfertigte das Vorgehen des Sekretärs, das nur jene tangieren würde, die gegen die herrschenden „Sittenregeln“ verstoßen und das Wohl und die Sicherheit der Gesellschaft tangieren. Er schrieb 1907: „Was die Tätigkeit unseres Sekretaria­ tes betrifft, so kann jedermann an Hand des nachstehenden Berichtes über diese Behauptung, soweit sie uns etwa betreffen soll, genügend Rechenschaft erhalten. Niemand hat unsere Tätigkeit zu befürchten, es sei denn, er stehe mit den elementarsten Begriffen öffentlicher Sittlichkeit, mit den Gesetzen, die die Sitte oder der Wille des Volkes geschaffen, in direktem Widerspruch und er drohe mit seinem Gebahren andere zu schädigen.“239 Die Sittlichkeitsvereine bezichtigten ihre Kritiker der „Freiheitsduselei“.240 Für sie standen das allgemeine Wohl und die öffentliche Ordnung über dem privaten Interesse und über der Freiheit des Einzelnen.241 Von „griesgrämigen Sittlichkeitstanten“ und „lebensfreudigen Dirnen“ Ins Lager jener, die sich wider gewisse, als „bevormundend“ und „schnüfflerisch“ erachtete Aktivitäten der Sittlichkeitsvereine stellten, gesellten sich mit Vorliebe die Karikaturisten (Abb. 16 – 17). In zeitgenössischen Karikaturzeitschriften sind die Sittlichkeitsvereine vorwiegend im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die Prostitution, gegen „unsittliche“ Literatur und Kunst sowie – seit den 1920er Jahren – gegen freizügige (Bade-)Kleidung karikiert. Ihre anderen Tätigkeiten finden kaum Beachtung. Anhand des schweizerischen Nebelspalters und des Zürcher 238 Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 125. 239 Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. ­S. 9. Sozarch, 176/3:V1. Hervorhebung im Original. 240 Männer-Verein für öffentliche Sittlichkeit der Stadt Bern. Bericht des Komites an die werten Mitglieder vom Oktober 1904. S. 7. NB, V BE 5545. 241 Vgl. etwa Sechster Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit und der Schweizerischen Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit umfassend den Zeitraum vom 1. Oktober 1910 bis 31. Dezember 1915. S. 51. StAZH, III Ca 13.

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Scheinwerfers möchte ich im Folgenden das Bild der Sittlichkeitsvereine aufzeigen, wie es diese Gegner konstruierten. Während der Scheinwerfer primär lokal ausgerichtet war, behandelte der Nebelspalter schweizweite Themen. Der 1875 erstmals publizierte Nebelspalter erschien über den gesamten von mir untersuchten Zeitraum, der Scheinwerfer seit 1910. Ich lehne mich in meiner Untersuchung an die Überlegungen der Bild- und Mediengeschichte an. Bilder fasse ich in diesem Sinn nicht als bloße Abbilder von Wirklichkeit, sondern in erster Linie als Wirklichkeitskonstruktion auf. Durch das serielle Nebeneinanderstellen von Bildern können kollektive Vorstellungen aufgeschlüsselt werden – in meinem Fall kollektive Bilder über die Sittlichkeitsvereine und die Prostitution. Im Nebelspalter und im Scheinwerfer kommt die Haltung der Karikaturisten gegenüber der Prostitution deutlich zum Vorschein: Sie sind gegen deren Unterdrückung. Der Nebelspalter positionierte sich in den Abstimmungskämpfen in Genf und Zürich jeweils im Lager der Reglementaristen. Auch der Scheinwerfer spricht sich deutlich für die Wiedereinführung der Bordelle und die ärztliche Kontrolle der Frauen aus.

Abb 16 Das neu eröffnete Strandbad.

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Abb 17 Vorsorglich.

Die Karikaturen über die Prostitution und die Sittlichkeitsvereine weisen in beiden Zeitschriften die gleichen Deutungsmuster auf. Die Prostituierten werden überwiegend positiv gezeichnet: Sie sind meist als junge, anmutige, erotisch-sinnliche Wesen dargestellt, mit einem Lächeln im hübschen Gesicht und angetan mit freiz­ügigen, figurbetonten Kleidern. Die Welt um sie herum ist großstädtisch und modern, (feucht)fröhlich und sinnlich, pompös und mondän, genussvoll und lebensfreudig (vgl. Abb. 18 – 20, 21, 22). Es erstaunt nicht, dass die Orte der Prostitution in den Karikaturen mit dem Paradies gleichgesetzt werden (Abb. 21 – 23). Die Prostitution erscheint als Schlaraffenland, in dem alle (sexuellen) Wünsche erfüllt werden und der Freier und die „Dirne“ restlos glücklich sind. Der herrschende Kampf der Sittlichkeitsvereine und der Sittenpolizei gegen die käufliche Liebe wird wörtlich als „Vertreibung aus dem Paradies“ bezeichnet.242

242 Vgl. u. a. Scheinwerfer Nr. 11, 4. Juni 1929. S. 5.; Scheinwerfer, Nr. 25, 13. Dezember 1913, S. 1 f.; Der Nebelspalter Nr. 44, 1. November 1919; Der Nebelspalter 1894, Nr. 41.

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Abb 18 Urania Bar.

Dem Garten Eden der Prostitution wird die Welt der Sittlichkeitsvereine diametral gegenübergestellt. Sie wird als ernst, düster, streng und freudlos gezeichnet (Abb. 24). Es ist eine Welt, die nicht erstrebenswert ist und Sehnsucht nach dem Paradies weckt. Die Frauen und Männer der Sittlichkeitsvereine treten als das Gegenteil der Prosti­ tuierten in Erscheinung: ältliche, spindeldürre oder unförmig-dicke, sittenstreng gekleidete, empört, mürrisch oder griesgrämig dreinblickende steife Personen, die obendrein hässlich und/oder lächerlich aussehen (vgl. Abb. 16, 24 – 28). Einige Frauen weisen gar Hexenattribute auf wie Warzen auf der Nase, einen stechenden Blick oder eine lange, krumme Nase (vgl. Abb. 16, 26 – 28).

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Abb 19 Varieté.

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Abb 20 Zürcher Nachtbild.

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Abb 21 Die Austreibung aus dem Paradies.

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Abb 22 Die Vertreibung aus dem Paradies.

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Abb 23 Zum Paradies.

Ein typisches Beispiel einer Gegenüberstellung der beiden Frauentypen, der Pros­ tituierten und der Vereinsfrauen, zeigt eine Karikatur im Nebelspalter aus dem Jahr 1900 (Abb. 28). Prominent in Szene gesetzt sind vier tanzende Prostituierte. Alle vier sind jung, hübsch, leicht bekleidet und mit einem strahlenden Lächeln versehen. Ein Jüngling tanzt vergnügt mit und symbolisiert die durch die Prostitution gefährdete männliche Jugend. Vor den vier tanzenden Schönheiten und dem Knaben sitzt am Boden eine ältere Dame mit von Entsetzen weit geöffneten Augen. Eine lange, krumme Nase ziert ihr Gesicht und gibt ihr zusammen mit den stechenden Augen einen hexenhaften Ausdruck. Offenbar musste sie sich vor Empörung setzen oder wurde von den langen Beinen der tanzenden Schönheiten zu Boden gestoßen, denn unter ihrem umfangreichen und unförmigen Leib hat sie einen Hund halb begraben, der versucht, sich zu befreien. Die ganze Figur wirkt lächerlich und deplatziert. Auf ihrem Rücken hat der Karikaturist „Besittlichungsvereine“ hingeschrieben.

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Abb 24 Das besittlichte Zürich.

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Abb 25 Die Wirkung.

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Abb 26 Sittlichkeitstante.

Abb 27 Der Kampf um die Polizeistunde.

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Abb 28 Zürich im Zeichen des Tanzes.

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In beiden Karikaturzeitschriften tauchen dieselben Gegensatzpaare zur Beschreibung der Sittlichkeitsvereinsmitglieder und der Prostituierten auf, wie hübsch-hässlich, attraktiv-abstoßend, jung-alt, fröhlich-mürrisch, leger-streng. Diese Übereinstimmung weist auf einen spezifischen Bilddiskurs hin, der in diesem Genre eine gewisse Verbreitung erlangt haben muss. Mit diesen Gegenbildern sollen die „Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen oder Verhaltensweisen“ etabliert werden, „mit ihnen soll festgelegt werden, was richtig und was falsch ist“.243 Die Karikaturisten beabsichtigten damit, die Bestrebungen der Sittlichkeitsvereine als prüde und nicht zeitgemäß darzustellen. Wer sich nicht lächerlich machen will, muss sich der Meinung der Karikaturisten anschließen und gegen die Sittlichkeitsvereine einstehen. Zudem macht ein „sittenstrenges“ Leben mürrisch, ernst und freudlos. Die Zeichnungen suggerieren die Unmöglichkeit, dass ein Vereinsmitglied jung, hübsch, von angenehmem Charakter oder lebensfroh sein kann. Die stereotyp dargestellten Sittlichkeitsdamen und -herren sind im Zusammenhang mit der Prostitutionsfrage stets im Kampf gegen die Prostitution gezeichnet. Ihre Fürsorge für die „Dirnen“ findet (ebenso wie ihr Engagement gegen Frauenhandel und sexuelle Ausbeutung) hingegen kaum Beachtung. Eine einzige Karikatur äußert sich zu den Erziehungsanstalten der Sittlichkeitsvereine.244 Sie mokiert sich über die Erziehung von „Gefallenen“, stellt diese aber nicht grundsätzlich infrage. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Die hier untersuchten Karikaturisten belächelten zwar die rigide Moral der Sittlichkeitsvereine, deren Erziehung von Prostituierten dagegen machten sie nicht zum Thema. Ob Prosti­ tuierte zur „Resozialisation“ für mehrere Jahre in ein Heim interniert wurde, schien die Karikaturisten wenig zu interessieren, ebenso wenig Missstände wie Frauenhandel oder Ausbeutung. Die Karikaturen zum „Sittlichkeitskampf “ vertraten weitgehend die Interessen der Freier und deren uneingeschränktes Vergnügen. Die Prostituierte diente der männlichen Lust, der Freier sollte diesen Garten Eden ungestört benutzen dürfen. Das Leben der Prostituierten wird als begehrenswerte, fröhliche, ja heile Welt verherrlicht und aus der „sexuellen“ Sicht von Freiern dargestellt. Die teilweise harte Realität des „Dirnenalltags“ (Kundenrückgang im Alter, Krankheit, Zwang, Gewalt, gesellschaftliche Ächtung, ausbeuterische Arbeitsbedingungen, psychische Belastung etc.) findet zumindest in den beiden von mir untersuchten Karikaturzeitschriften kaum Beachtung. Bedeutsam ist auch das Auftauchen des Kollektivsymbols 245 „Hexe“ in den Karikaturen. In Heynes Deutschem Wörterbuch von 1892 wird die Hexe als „Zauberweib“ 243 Landwehr, Geschichte, 2001, S. 127. 244 Vgl. Abb. 36 in Kap. 4.2. Näheres zu dieser Karikatur zudem in Kap. 4.2. 245 Philipp Sarasin bezeichnet die Kollektivsymbole nach Jürgen Link als „diskursive Elemente, die zu einer bestimmten Zeit in vielen Diskursen vorkommen und als Ressource von Verstehbarkeit und Evidenz dienen.“ Sarasin, Subjekte, 1996, S. 144.

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bezeichnet, aber auch auf die Verwendung als Schimpfwort verwiesen („Diese alte Hexe“).246 In Märchen und Sagen taucht die Hexe meist in Gestalt einer hässlichen, buckligen alten Frau mit langer, krummer Nase auf.247 Sie verfügt über Zauberkräfte, mit welchen sie den Menschen Schaden zufügt, und steht zudem oft im Bunde mit dem Teufel. Als Schimpfwort bezeichnet die Hexe eine bösartige, zänkische, unangenehme, teilweise auch hässliche weibliche Person.248 Mit der Gleichsetzung der Frauen (nicht jedoch der Männer) der Sittlichkeitsvereine mit Hexen wird suggeriert, dass sie charakterlich bösartig und garstig sind und mit ihnen nicht auszukommen ist. Sie verfügen über Kräfte, mit welchen sie die Welt beeinflussen, ja in ihrem Sinne verhexen können. Mit ihren Taten fügen sie der Menschheit bewusst Schaden zu. Der Einfluss dieser Frauen wird zur unkontrollierbaren Gefahr. Dahinter schwingt mitunter eine Angst vor einer Einschränkung der männlichen Sexualität, vor der politischen und gesellschaftlichen Einflussnahme der Frauenvereine und dem Vordringen der Frauen in traditionelle Männerdomänen mit. Durch die Verwendung von Kollektivsymbolen und Stereotypen, wie etwa jenem der Hexe, werden die Karikaturen allgemein verständlich und erhalten durch ihre „realitätsstiftende Wirkung“ eine gewisse Evidenz.249 Interessanterweise bedienten sich die Sittlichkeitsvereine ähnlicher Strategien, um ihre Aussagen und ihre Verhaltensweisen als „richtig“ darzustellen und deutlich von „falschen“ zu trennen. Sie verwendeten ebenfalls Antonyme, mit welchen sie die beiden Gegenwelten der „Gefallenen“ und der „Sittsamen“ konstruierten. Die heile, fröhliche Welt stellt bei ihnen aber nicht die Welt der Prostituierten dar, sondern wird im Gegenteil zum Privileg der behüteten bürgerlichen Töchter, wie wir bereits gesehen haben.250

Einsatz für soziale Reformen Gewisse Aktivitäten des Zürcher Sekretärs waren – wie wir gesehen haben – auf den Schutz junger Frauen vor sexueller und finanzieller Ausbeutung ausgerichtet. Die Sittlichkeitsvereine plädierten denn auch für soziale Reformen. Der Zürcher Männerverein etwa sprach sich 1913 im Kampf gegen die Prostitution für ein höheres „soziales Verantwortlichkeitsgefühl“ aus. In diesem Sinne sei „besonders die soziale Bewegung zu begrüßen und zu fördern, namentlich alle auf die Reform des Wohnungswesens und die Ermöglichung eines gesunden Familienlebens 246 Heyne, Wörterbuch, 1892, S. 149 f. 247 Duden, Deutsches Universalwörterbuch. 5., überarbeitete Auflage. Mannheim u. a. 2003. S. 766. 248 Duden, Deutsches Universalwörterbuch. 5., überarbeitete Auflage. Mannheim u. a. 2003. S. 766. 249 Zitat nach Kury, Ostjudenmigration, 1998, S. 58. Vgl. zudem Sarasin, Subjekte, 1996, S. 144. 250 Vgl. Kap. 4.2 (Unterkapitel Die Dirne und die Bürgerin oder die Konstruktion der Gefallenen).

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gerichteten Bemühungen. Einer gründlichen Verbesserung bedarf das Logiswesen.“251 Gewisse Aktivitäten der Sittlichkeitsvereine hatten denn auch einen sozialpolitischen Impetus, indem sie die Lebenssituation von Kindern, Frauen und Familien zu verbessern suchten; etwa die Kinderkrippen, die Tagesheime für Kinder erwerbstätiger Eltern und die „Zufluchtshäuser“ für obdachlose Frauen. Ferner errichtete beispielsweise der Basler Frauenverein Arbeitergärten, wo Arbeiter­ familien für den Eigenbedarf Gemüse anpflanzen konnten.252 Er stellte die poli­ tische Forderung auf, jede Arbeiterfamilie müsse ein Gärtchen mieten dürfen und das Erstellen von „kleinen, hässlichen Küchen“ sei zu verbieten.253 Oder der Berner Männerverein engagierte sich im Bereich der sozialen Wohnungsfrage, indem er Eingaben an die Behörden einreichte.254 Aufgrund einer seiner Eingaben wurden zwei Arbeiterquartiere mit Arbeiterhäusern eingerichtet.255 Auch das Los von Verdingkindern versuchten die Sittlichkeitsvereine zu verbessern. So schrieb etwa die Präsidentin des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, Mathilde von Goumoëns, Briefe mit Beweismaterial an die Gemeinderäte des ganzen Kantons Bern und verlangte ein Patronat für jedes Verdingkind.256 Sie kritisierte, dass die meisten Familien, mit wenigen löblichen Ausnahmen, die Verdingkinder nur als billige Arbeitskräfte benutzen, diese weit über ihre Kräfte mit Arbeit ausnähmen und sie zudem knapp mit Essen und Kleidern hielten.257 Auch der Basler Frauenverein, dem 1907 vom Sanitätsdepartement des Kantons Basel-Stadt die Aufsicht über alle Kostkinder in der Stadt Basel übertragen wurde, setzte sich für das Wohl dieser Kinder ein.258 Die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit engagierten sich auch für die Erhöhung des Schutzalters und des Heiratsalters von Mädchen im Zivil- und Strafgesetzbuch von 15 auf 18 Jahre, unter anderem um Mädchen 251 Die Prostitutionsfrage in der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Zürich, 1913, S. 103. Hervorhebung im Original. 252 Die Arbeitergärten wurden vom Basler Frauenverein seit 1909 betrieben und gegen einen kleinen Mietzins an Arbeiterfamilien vermietet. Vgl. beispielsweise 8. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1909, S. 1; 11. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 5 f; 18. Jahresbericht des Basler Frauenvereins, 1918, S. 4. 253 11. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 5 f. 254 Jahresbericht des Berner Männer-Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit über die Vereinsjahre 1923 und 1924, gedruckt im August 1925, 2 f. NB, V BE 5545. 255 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites für seine Thätigkeit während der Jahre 1889 und 1890, aufgelegt auf Juni 1891, S. 1 und 4. NB, V BE 5545. 256 Frau von Goumoëns. Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 16. 257 Frau von Goumoëns. Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 16. 258 Zur Pflegekinderaufsicht des Frauenvereins vgl. Häsler, Händen, 2008, 88 – 129; Janner, Vereine, 1992, S. 82; 119 – 123; 132 f.

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vor sexuellen Übergriffen und falschen Heiratsversprechen zu schützen.259 Sie taten dies übrigens erfolgreich, wurden doch beide Forderungen im eidgenössischen Zivilgesetzbuch aufgenommen, die Erhöhung des Heiratsalters gar mit großer Mehrheit in der Bundesversammlung.260 Die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit vermochten das Sexualstrafrecht dadurch nachhaltig zu prägen und zu beeinflussen.261 Die Sittlichkeitsvereine setzten sich auch für erleichterte Vaterschafts- und Alimentationsklagen ein. Ein besonderes Anliegen war ihnen die Ausdehnung der Vaterschaftsklage von nach geltendem Recht drei Wochen auf ein Jahr nach der Geburt des Kindes, um Väter, die sich der Verantwortung für ihre ausserehelichen Kinder entziehen wollten, wirkungsvoller und einfacher belangen zu können.262 Sie erkannten die finanziellen Schwierigkeiten und die gesellschaftliche Ächtung der Mütter, wenn der Kindsvater sich nicht zum Kind bekannte. Auch forderten die Männer- und Frauenvereine mit deutlichen Worten härtere Gesetze bei „Notzucht“ und „Schändung“ (Vergewaltigung und sexueller Missbrauch).263 Und Lily Zellweger, die Präsidentin des Basler Frauenvereins, die dem religiösen Sozialismus nahestand, setzte sich für eine staatliche Witwenrente und für gleichen Lohn für beide Geschlechter ein.264

259 Vgl. An den hohen Bundesrat in Bern, ZBZ, LK 152; 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 11; Eingabe an das Schweiz. Justiz- und Polizeidepartement betreffend Abänderung des Artikels 113 des Vorentwurfs eines schweiz. Zivilgesetzbuches. 24. November 1897. Gosteliarchiv, SEFSektion Bern, B 23:2; Eingabe an die hohe Bundesversammlung zuhanden der Tit. nationalrätlichen und ständerätlichen Kommission für das Schweizerische Zivilgesetz. April 1904. Gosteliarchiv SEF-Sektion Bern, B 23:5; Fräulein Emma Hess, Aufgeschaut! Gott Vertraut!, 1928, S. 86; 12. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1900, S. 8; 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 16. Die Erhöhung des Heiratsalters wurde im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas und Nordamerikas diskutiert und von feministischen Bewegungen gefordert (vgl. Jackson, Sex, 2011, S. 92 – 96). 260 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 34 f.; Frau von Goumoëns. Ein Bild ihres Lebens und Wirkens. S. 18. 261 Beatrix Mesmer führt dies darauf zurück, dass sie neben Unterstützung von Männerseite auch die anderen Frauenverbände für ihre Anliegen zu gewinnen vermochten (Mesmer, Ausgeklammert, 1988, S. 239). 262 Ott, Emma Hess, 1928, S. 19. Zu den Gesetzen vgl. Schreiber, Amtsvormundschaft, 1993, S. 165. 263 Vgl. An den hohen Vereinesrat in Bern. ZBZ, LK 152; Protokoll des Dachverbandes vom 15. November 1907. Gosteliarchiv, SEF, A 6:1; Begründung des Initiativbegehrens betr. Aenderung des strafrechtlichen Gesetzbuches. ZBZ, LK 653; 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1909, S. 3. 264 Vgl. zu den Forderungen des Basler Frauenvereins 11. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 5 – 7.

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Neben dem Willen, die Lebenslage der Unterschichten zu verbessern, spiegelt das Engagement der Sittlichkeitsvereine für soziale Reformen auch das Bemühen wider, ihre bürgerlichen und religiösen Familien- und Sexualitätsstandards in der Unterschicht zu verankern. So war der Hintergedanke des Engagements des Berner Männervereins in der Wohnungsnot nicht nur das Bedürfnis, „dieses Elend zu mildern“,265 sondern auch, der „notorischen Ueberfüllung gewisser Wohnungen, durch welche der Unsittlichkeit Vorschub geleistet wird, Aufmerksamkeit zuzuwenden“.266 Eine der schlimmsten sozialen Ursachen der Prostitution seien „die Wohnungszustände unserer Städte, die notwendig das sittliche Leben vergiften und verderben müssen“. 267 Das enge Zusammenleben von Eltern und Kindern, wodurch die Kinder schon früh mit Sexualität konfrontiert wurden, war den Sittlichkeitsvereinen ein Dorn im Auge. Auch die Forderung nach Erhöhung des Heiratsalters begründeten die Frauenvereine unter anderem mit dem daraus resultierenden positiven Einfluss auf die Moral der Bevölkerung. In der Bevölkerung habe sich aufgrund des niedrigen gesetzlichen Heiratsalters von 16 Jahren die „verhängnisvolle Meinung“ gebildet, auch der Geschlechtsverkehr sei in diesem Alter bereits legitim, „was für die Moral und das Volkswohl von grösstem Schaden“ sei.268 Die Erfahrungen in ihren „zahlreichen Asylen für unverheiratete Mütter und gefährdete oder schon verkommene Mädchen“ gäben einen tiefen Einblick „in den Jammer und das Elend, die diese laxen moralischen Begriffe für viele unserer jungen, kaum erwachsenen Töchter nach sich ziehen“.269 Zudem argumentierten die Frauen, dass die Möglichkeit einer frühen Eheschließung falsche Eheversprechungen von Knaben und Männern gegenüber „jungen, vertrauensseligen Mädchen“ fördere.270 In ihrer Fürsorgearbeit erlebten die Frauen der Sittlichkeitsvereine Fälle, wo junge Frauen nach einem Eheversprechen mit ihrem Zukünftigen eine sexuell intime 265 Jahresbericht des Berner Männer-Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit über die Vereinsjahre 1923 und 1924, gedruckt im August 1925, 2 f. NB, V BE 5545. 266 Berner Männerverein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites für seine Thätigkeit während der Jahre 1889 und 1890, aufgelegt auf Juni 1891, S. 1 und 4. NB, V BE 5545. 267 Die Prostitutionsfrage in der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Zürich, 1913, S. 100. Hervorhebung im Original. 268 Eingabe an die hohe Bundesversammlung zuhanden der Tit. nationalrätlichen und ständerätlichen Kommission für das Schweizerische Zivilgesetz. April 1904. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 23:5. 269 Eingabe an die hohe Bundesversammlung zuhanden der Tit. nationalrätlichen und ständerätlichen Kommission für das Schweizerische Zivilgesetz. April 1904. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 23:5. 270 Eingabe an die hohe Bundesversammlung zuhanden der Tit. nationalrätlichen und ständerätlichen Kommission für das Schweizerische Zivilgesetz. April 1904. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 23:5. Nicht nur aus moralischen Gründen, auch aus handfesten ökonomischen Überlegungen sprachen sie sich für die Erhöhung des Heiratsalters aus: „In ökonomischer Beziehung

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Beziehung eingingen, dieser sie dann aber verließ, wenn sie schwanger wurde. Gegen solche falschen Eheversprechen hofften die Frauen der Sittlichkeitsbewegung mit einer Erhöhung des Heiratsalters gegensteuern zu können. Auch ihre Forderungen nach erleichterten Vaterschaftsklagen zielten in dieselbe Richtung. Mit den Arbeitergärten bezweckte der Basler Frauenverein, das Familienleben zu fördern und zu heben.271 Die Arbeitergärtchen als Sinnbild eines verherrlichten Landlebens sollten den negativen Auswirkungen des „sittenverrohenden“ und „familienfeindlichen“ Großstadt- und Fabriklebens entgegenwirken. „Die Möglichkeit, die Abende in der guten Jahreszeit auf eigenem Grund und Boden bei gesunder, froher und fruchtbringender Arbeit zu verbringen, erweist sich als ungemein wirksam für den Frohsinn und das häusliche Glück der Familien“.272 Erzieherische Prämissen standen dabei im Vordergrund. Die Arbeitergärtchen wurden von „Aufsichtsdamen“ des Frauenvereins beaufsichtigt, die sich vergewisserten, ob die Gärten fleißig bepflanzt und Gemüse und Früchte geerntet wurden.273 Diese Aufsicht bezweckte nicht nur, dass die begehrten Gärten nicht ungenutzt blieben, sondern ebenso, die Mütter zu einer geordneten und fleißigen Haushaltsführung zu erziehen. Auch in der Kinder­ station des Basler Frauenvereins mussten die Kinder aus denselben Gründen den Garten bebauen.274 Hinter der vom Basler Frauenverein propagierten staatlichen Witwenrente steckte auch die Ansicht, die Frau solle sich um die Erziehung und Aufsicht ihrer Kinder kümmern, statt einer Erwerbsarbeit nachzugehen.275 Letztlich ging es um die Durchsetzung des bürgerlichen Familienideals und der stärkeren Aufsicht und Kontrolle der Unterschichtjugend durch die Mütter. Auch seine Forderung nach Lohngleichheit beider Geschlechter – so unbestritten fortschrittlich und emanzipiert sie war – ließ die überlebensnotwendige Mindesthöhe eines Lohnes, die saisonalen Schwankungen von Anstellungsverhältnissen und die langen Arbeitszeiten gewisser Branchen außer Betracht. Trotz ihres Einsatzes für soziale Reformen rührten die Sittlichkeitsvereine in ihren Anfängen denn auch nicht grundsätzlich an der herrschenden sozialen Ordnung und beteiligten sich nicht am politischen Kampf für existenzsichernde Löhne, soziale macht die Armenpflege tagtäglich die Erfahrung, dass so frühe Heiraten eine Quelle der Armut, der liederlichen Haushaltungen und früher Ehescheidungen bilden.“ (ebd.). 271 11. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 5 f.; Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 18. 272 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 18. 273 18. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1918, S. 4. 274 17. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1917, S. 3. 275 11. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 5.

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Absicherung bei Erwerbsausfall oder gegen die langen Arbeitszeiten. Ihre politischen Eingaben sprechen eine deutliche Sprache: Sie zielten nicht auf die sozia­le Hebung und finanzielle Absicherung der Unterschicht.276 Es ist bezeichnend, dass die meisten Insassinnen ihrer Heime in bürgerliche Haushalte als Dienstmädchen vermittelt wurden. Mit dem schlecht bezahlten, durch lange Arbeitszeiten geprägten traditionellen Frauenberuf des Dienstmädchens hielten die Sittlichkeitsvereine an einem Beruf fest, aus welchem, neben den Kellnerinnen, die meisten Prostituierten hervorgingen.277 Ein Hauptgrund für das Abrutschen in die Prostitution – die niedrigen Frauenlöhne und die saisonale Arbeitslosigkeit ohne soziale Absicherung – blieb damit ungelöst. Noch 1940 unterstellte die Zürcher Karikaturzeitschrift Scheinwerfer – sicherlich selbst nicht wertfrei – den Frauenvereinen in ihrem Kampf für die Hebung von Moral und Sittlichkeit mangelndes Engagement für die Verbesserung der Lebenslage der Frauen aus der Unterschicht:278 „So lange es Heimarbeiterinnen gibt, die mit drei Franken am Tage auskommen sollen, so lange es in grossen Geschäften Geschäftsführer gibt, die zu den Angestellten sagen: ‚Abends 7 Uhr sind Sie frei, nachher können Sie tun, was Ihnen beliebt’, so lange wird es Frauen geben, die aus der Not eine Untugend machen.“279 Frauen, die spätabends auf dem Heimweg seien, so schrieb der „Scheinwerfer“, könnten erzählen, wie oft sie von „unternehmenslustigen, liebesbedürftigen Männern angequaselt“ würden.280 Nach einem Tag mit Kaffee und Brot ließen sich einige gerne zum Essen einladen. Von der Einladung zur Prostitution sei es dann ein kleiner Schritt. „Zur Hebung der Moral und Sittlichkeit machen wir folgende Vorschläge: die bestehenden führenden Frauenvereine kämpfen vermehrt gegen die Schundlöhne der Heimarbeiterinnen und teilweise der Verkäuferinnen.“281 276 Für eine Auflistung der politischen Eingaben der Frauenvereine für das ZGB und das StGB vgl. Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 34 – 39. Für den Zürcher Frauenverein vgl. Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 24 – 33 sowie 50 Jahre Zürcher Frauenverein; für den Berner Frauenverein vgl. die detaillierte Liste bei Bracher, Geschichte, 1986, S. 41 – 60; für den politisch wenig aktiven Basler Frauenverein die nicht vollständige Liste bei Janner, Frauen, 1992, S. 99 – 103. Bei den Männervereinen zur Hebung der Sittlichkeit ist eine solche Auflistung nur sehr bruchstückhaft möglich, weil die Quellenlage weit weniger gut ist als bei den Frauenvereinen. Der Zürcher und der Berner Männerverein fokussierten bei ihren Eingaben primär auf die Prostitutionsgesetze, auf das Wirtschaftsgesetz (Mindestalter der Kellnerinnen, Polizeistunde, Nachtcafés, Anstellungsverhältnisse der Serviertöchter etc.), auf „unsittliche“ Literatur, Kunst, Freizeitaktivitäten und Kleidung (primär die Badekleidung). 277 Ulrich, Bordelle, 1985, S. 181; Schulte, Sperrbezirke, 1979, S. 68 f. 278 Scheinwerfer, 27. Jg., Nr. 19, 29. Oktober 1940, S. 5. ZBZ, AY 316 h. 279 Ebenda, S. 5 f. ZBZ, AY 316 h. 280 Ebenda, S. 6. ZBZ, AY 316 h. 281 Ebenda, S. 6. ZBZ, AY 316 h.

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„Sie halten von Moral triefende Reden“ – die Kritik einer Sozialistin Mit dieser Kritik war der Scheinwerfer nicht allein. Sozialistinnen und Sozialisten warfen Teilen der Frauenbewegung vor, ein verkürztes Problemverständnis für die Ursachen und die Mittel zur Bekämpfung der Prostitution zu haben.282 Eine dieser Kritikerinnen war Lily Braun, deutsche Schriftstellerin, Sozialistin und Frauenrechtlerin aus adeligem Haus.283 Im Jahr 1899 fand in London der vom Internatio­ nalen Frauenbund organisierte Internationale Frauenkongress statt, an dem auch Lily Braun teilnahm.284 In einem Artikel schrieb sie äußerst kritisch – und sicherlich ihrerseits nicht frei von Stereotypen und plakativen Vereinfachungen – über den in ihren Augen am Kongress vorherrschenden „bürgerlichen Klassencharakter“285 und die „Zerfahrenheit der bürgerlichen Frauenbewegung“286. Braun galt bei vielen aus bürgerlichen Schichten stammenden Frauen als radikal und zu emanzipatorisch. Der Artikel von Braun ist deshalb interessant, weil er den Blick einer sozialistisch denkenden, aus reichem Haus stammenden Frau auf die Ursachen der Prostitution und des sozialen Elends sowie auf den „rein bürgerlichen Standpunkt“287 von Teilen der Frauenbewegung um 1900 darstellt. Den Frauenkongress zeichnet Braun als Parade, an der die Teilnehmerinnen im Glanz ihrer Juwelen, Seide und Brokat erstrahlten. Der Kongress zeuge, so Braun, von einer „Verschwendung an Kraft und Organisationstalent“. Es seien „unfruchtbare ideologische Schwärmereien“ ausgetauscht worden, statt sich dem wichtigen Thema der Frauenfrage, insbesondere der wirtschaftlichen, zuzuwenden. Dolmetscher habe es keine gegeben, denn man rechnete nur mit einem gebildeten Publikum. Im Programm der Vorträge sei alles aufgenommen worden, was auch nur im Entferntesten mit dem Leben der Frau zu tun habe: Kindererziehung, Politik, Wohltätigkeit, Gesetzgebung, Tierschutz, Friedensbewegung, Blumenpflege, Kleiderreform. Das wichtige und große Gebiet der Gesetzgebung und der Arbeiterinnenfrage sei dafür in einer Sektion von insgesamt fünf zusammengestaucht worden. Bei den Vorträgen 282 Vgl. Konieczka, Arten, 1986, S. 120. 283 Lily Braun (1865 – 1916) stammte aus einer preußischen Adelsfamilie. 1895 trat sie der Sozial­demokratischen Partei (SPD) bei. Aufgrund ihres Beitritts zur SPD wurde sie von ihrer Familie enterbt. Wegen ihrer gutbürgerlichen Herkunft begegnete ihr die SPD mit Misstrauen und gar mit Ausgrenzung. Nach Konflikten mit der von Clara Zetkin geführten sozialdemokratischen Frauenbewegung zog sich Braun mehr und mehr aus der politischen Arbeit zurück (vgl. Terlinden, Wohnungsfrage, 2006, S. 138, Anm. 8; Brodbeck, Hunger, 2000, S. 211 f.). 284 Auf Einladung von Minna Cauer nahm Lily Braun am Frauenkongress teil (vgl. Terlinden, Wohnungsfrage, 2006, S. 139). 285 Braun, Frauenkongress, 1899, S. 494. 286 Braun, Frauenkongress, 1899, S. 498. 287 Braun, Frauenkongress, 1899, S. 492.

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sei in den meisten Fällen der Standpunkt der reichen „Bourgeoisiedamen“, wie sie die Autorin betitelt, hervorgetreten, der wenig mit der Lebensrealität der Frauen aus der Unterschicht gemein habe. Der „bürgerliche Klassencharakter“ habe entsprechend bei fast allen behandelten Themen und Lösungsvorschlägen dominiert. In den Vorträgen über die Wohltätigkeit hätten die Rednerinnen stolz ihre vollbrachten Werke gezeigt. Über „Besserungsanstalten“ sei des Langen und Breiten verhandelt worden. Die Vortragenden hätten sich dabei allesamt als „Kurpfuscher“ bestätigt, indem sie als einziges Mittel gegen Wunden ein Pflaster propagierten. Lily Braun, die sich stark für die Lebensbedingungen des Proletariats, insbesondere der Arbeiterinnen, interessierte, bemängelte, dass das wirtschaftliche Elend als Ursache der Prostitution beinahe von keiner Rednerin auf den Tisch gebracht worden sei; so auch nicht beim Thematisieren der Sittlichkeitsfrage und der doppelten Moral. Statt die Doppelmoral und die Prostitution als Früchte der wirtschaftlichen Zustände zu sehen, seien sie vom moralischen Standpunkt aus beleuchtet worden. „Jede Rednerin pries ihre Spezialheilmittel an, von denen jedes an sich gewiss gut ist, keins aber das Uebel ausrotten kann. […] Nur eine Rednerin erklärte die ökonomische Befreiung und Gleichstellung der Frau für das wesentliche Mittel zur Bekämpfung der doppelten Moral.“288 Diese Rednerin habe allerdings weniger Anhänger gefunden als der Vortrag über den Feldzug gegen „sittenlose“ Literatur und Kunst. Fabrikgesetzgebung und industrielle Frauenarbeit, von der Autorin als eine der wichtigsten Seiten der Frauenfrage bezeichnet, habe wenig Interesse bei den Kongress­ teilnehmerinnen gefunden. Es sei vorgekommen, dass von über 2000 nur gerade 30 bis 40 Personen den Weg zu diesen Vorträgen fanden. Mehr Zulauf habe hingegen die Dienstbotenfrage gefunden – ein Thema, das die „Bourgeoisiedamen“ besonders interessiert habe. Die Vorträge über Fabrikgesetzgebung und industrielle Frauenarbeit seien ferner meist durch mangelndes Verständnis für die Arbeiterrealität hervorgestochen. Nur wenige Rednerinnen – in erster Linie die „sozialistischen Parteigenossen“ Brauns – hätten fundiert gesprochen. Eine davon, Amie Hicks, eine englische Sozialistin, prangerte in deutlichen Worten die vorangegangenen Vortragenden an, indem sie sprach: „Sie halten von Moral triefende Reden, während Ihre Schwestern von Ihrer Gesellschaftsordnung ins Elend hineingetrieben werden; Sie begeistern sich für den ewigen Frieden, und sorgen mit Ihrer Kraft und Ihrem Gelde für die Verwundeten, aber dem Schlachtfeld des täglichen Lebens bleiben Sie fern. Wollen Sie für die Befreiung der Frau ernstlich kämpfen, wie Sie es vorgeben, zu thun, so kämpfen Sie zuerst für Ihre ökonomische Befreiung!“289

288 Braun, Frauenkongress, 1899, S. 493. 289 Braun, Frauenkongress, 1899, S. 495.

4 Private Erziehungsheime für weibliche Jugendliche im 19. Jahrhundert Die Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen hatte einen zen­ tralen Stellenwert in der Tätigkeit der Sittlichkeitsvereine, insbesondere der Frauenvereine. Letztere waren neben ihrem politischen Engagement in der Fürsorge ausgesprochen aktiv. Am engagiertesten war dabei der Basler Frauenverein.1 Aber auch bei den anderen Frauenvereinen lag ein großes Gewicht ihrer Aktivitäten auf der Fürsorge­ tätigkeit. Die Frauenvereine veranstalteten beispielsweise Mütterabende sowie Flickund Nähabende für Frauen aus der Unterschicht, errichteten Erziehungsheime für weibliche Personen sowie Kindergärten, Krippen und Tagesheime für Kinder, deren Eltern auswärts arbeiteten, stellten Fürsorgerinnen ein, die sich in dermatologischen Kliniken um die geschlechtskranken Prostituierten kümmerten, oder gründeten eine Kellnerinnenfürsorge, die Kellnerinnen an Großanlässen „sichere“ Ruhe- und Rückzugsräume zur Verfügung stellten. Die Männervereine beteiligten sich hingegen nur am Rande an der Fürsorgearbeit. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag vielmehr auf dem politischen und gesellschaft­ lichen Kampf für die Hebung der Sittlichkeit und gegen die staatliche Legitimierung der Prostitution, den sie insbesondere durch politische Eingaben, Vorträge, Publikationen und Verteilen von Broschüren bestritten. Der Zürcher Männerverein war der Einzige, der für einige Zeit auch ein Erziehungsheim betrieb, nämlich den Tannenhof. Die unmittelbare Heimleitung aber hatte ein Frauenkomitee inne. Dieses Kapitel dreht sich um diese Fürsorgetätigkeit der Sittlichkeitsvereine, spezi­ fisch um ihre Erziehungsheime.

4.1

Genealogie der Heimerziehung für weibliche Jugendliche

Die Entstehung von Fürsorgeeinrichtungen für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen entsprach einem Trend, wie er sich seit dem 18. Jahrhundert abzeichnete, nämlich der allmählichen Ausdifferenzierung von Institutionen und Heimen. Im Mittelalter war das Hospital (Spittel) der Ort, wo neben Kranken auch Arme, Waisen, Witwen oder Behinderte untergebracht wurden. Das Hospital hatte zusätzlich die Funktion der Armen- und Krankenversorgung, des Erziehungsheims und des Straf- und Untersuchungsgefängnisses inne. Im 18. Jahrhundert fand eine erste Differenzierung dieser Vielzweckeinrichtung statt, als Waisen in getrennten Institutionen 1

Vgl. zu den diversen Fürsorgezweigen des Basler Frauenvereins ausführlich bei Janner, Frauen, 1992, S. 104 – 125 sowie 50 Jahre Basler Frauenverein, S. 4 – 8.

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untergebracht wurden.2 Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstand ein immer größeres Netz an Heimen und Institutionen, wie Irrenanstalten, Erholungsheime, Kinderheime, Altersheime und verschiedene Arten von Erziehungsheimen. Hannes Tanner gliedert die Ausdifferenzierung in drei grundlegende Schritte: Erstens die Differenzierung nach Altersgruppen – beginnend mit der Ausgliederung der Waisen­ kinder –, zweitens die institutionelle Differenzierung nach dem Kriterium gesund oder krank, wo zunächst die Arbeitsfähigen von den wegen körperlicher Gebrechen Arbeitsunfähigen getrennt wurden, und drittens die Unterscheidung nach „normal“ oder „abweichend“ bzw. „gefährdet“, die zu einer immer größeren Anzahl an psychia­trischen und pädagogischen Einrichtungen führte, darunter auch die Heime für „gefallene“ und „sittlich gefährdete“ junge Frauen.3 Dieser Differenzierungsprozess war begleitet von einem fundamentalen Wandel des Strafsystems im Laufe des 19. Jahrhunderts.4 Nicht mehr Strafe, sondern Erziehung der „Devianten“ wurde als Lösungsmodell gehandelt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren Körperstrafen, wie Marter, Verstümmelungs- und Todesstrafe, die üblichen Maßnahmen gegen Delinquenten gewesen. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte jedoch in ganz Europa zunehmend eine von der Aufklärung beeinflusste Kritik gegen dieses Strafsystem ein und führte im Laufe des 19. Jahrhunderts zur allmählichen Ersetzung der Körperstrafen durch Einschließßstrafen verbunden mit Arbeitszwang. Das neue Strafsystem, das sich zunehmend auf „die Kontrolle und die psychologische oder moralische Veränderung der Einstellung und Verhaltensweisen des Einzelnen“ konzentrierte,5 führte zu einer immer größeren Spezialisierung der Institutionen. Anstelle der Tat rückte der Täter ins Zentrum des neuen Strafrechts. Seine „mangelnde“ Erziehung, seine Charakterschwächen, seine „ungezügelten Leidenschaften“, sein „Müssiggang“ und seine „Ausschweifungen“ galt es individuell zu korrigieren.6 Der Staat erweiterte seine Sanktionsmacht auf bislang strafrechtlich nicht oder weniger hart geahndete Nonkonformität.7 Es kam zu einer 2 3 4

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Maria Crespo hat diese Entwicklung am Beispiel von Zürich detailliert aufgearbeitet (Crespo, Verwalten, 2001). Vgl. Tanner, Erziehung, 1998, S. 186. Vgl. zu diesem Ausdifferenzierungsprozess auch Tuggener, Armenhaus, 1975. Vgl. zu diesem Wandel Foucault, Überwachen, 1976; Foucault, Wahrheit, 2003, S. 78 – 84; Germann, Strafrechtsreform, 2003; Germann, Psychiatrie, 2004; Germann, Regulation, 2006; Germann, Humanität, 2010, S. 232; Ammerer, Zucht- und Arbeitshäuser, 2006; Criblez, Päda­ gogisierung, 1997, S. 322 – 324 und 348 f.; Tanner, Erziehung, 1998, S. 185 f.; Ruchat, L’oiseau, 1993; Oberwittler, Strafe, 2000, S. 74 – 81; Peukert, Grenzen, 1986; Dörner, Erziehung, 1991. Foucault, Überwachen, 1976; Foucault, Wahrheit, 2003. Zit. Nach Foucault, Wahrheit, 2003, S. 83. Ammerer, Zucht- und Arbeitshäuser, 2006, S. 39. Lippuner, Bessern, 2005, S. 53 f.

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verstärkten Kriminalisierung abweichenden Verhaltens. Der Besserungsgedanke rückte dabei verstärkt ins Zentrum und gewann gegenüber dem zuvor dominierenden Produktivitätsgedanken die Oberhand.8 Statt um die ökonomische Brauchbarkeit der Internierten ging es primär um die Resozialisierung, um die Erziehung, Heilung und moralische Besserung von „Gestrauchelten“. Das Augenmerk wurde dabei immer stärker auf die präventive Erziehung gerichtet. Nicht mehr das tatsächliche, sondern das potenzielle Handeln, nicht mehr der tatsächliche Verstoß, sondern das mög­ liche Verhalten gerieten in den Fokus, und dank rechtzeitigen Einschreitens sollte der Betroffene vor der schiefen Bahn bewahrt werden. 9 Die Fokussierung auf präventive Maßnahmen wurde unter anderem auch durch die Verkettung zwischen Amoralität, Armut und Kriminalität gefördert.10 So wurden fehlende Moral (aber auch sozialstrukturelle Mängel) als eine Ursache der Armut und die Armut als ein „Vorhof zum Verbrechen“11 angesehen. Diese Stimmen beeinflussten die Debatten zur sozialen Frage und zum Pauperismus, wie sie im 19. Jahrhundert mit der einsetzenden Industrialisierung und dem damit verbundenen starken gesellschaftlichen Wandel virulent wurden, stark mit. So lag bei den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Zwangserziehungsanstalten der primäre Fokus nicht auf Straftaten, sondern auf moralisch abweichendem Verhalten.12 Regula Ludi bezeichnet die Errichtung der „Zwangserziehungsanstalten“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Instrument der Krimina­ lisierung abweichenden Verhaltens.13 Bei weiblichen Internierten in „Zwangserziehungsanstalten“ wurde „Arbeitsscheu“ und „Liederlichkeit“ häufig mit einem „unsittlichen“ Lebenswandel in Verbindung gebracht.14 Dem diagnostizierten „Sittenzerfall“ und der „Lasterhaftigkeit“ sollte mit Nacherziehung entgegengewirkt werden.15 Auch die Entstehung und Entwicklung des neuen Anstaltstyps des Erziehungsheims für weibliche Jugendliche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend seit dem letzten Viertel des Jahrhunderts,16 verweist auf diesen Wandel im Straf­ system und die verstärkte Fokussierung auf moralisch abweichendes Verhalten. Bei den Heimen für schulentlassene weibliche Jugendliche überwogen zunächst „industrielle 8 Ammerer, Zucht- und Arbeitshäuser, 2006, S. 40. 9 Foucault, Wahrheit, 2003, S. 83; Foucault, Überwachen, 1976. 10 Vgl. etwa Germann, Humanität, 2010, S. 219; Lippuner, Bessern, 2005, S. 30 – 35; 40 f.; Germann, Humanität, 2010, S. 218 f.; Sturm, Annäherungen, 2009, S. 164 f. 11 Lippuner, Bessern, 2005, S. 37. 12 Vgl. Lippuner, Bessern, 2005, S. 23 – 55 13 Ludi, Fabrikation 1997, S. 408 – 411; 416 f. 14 Vgl. Lippuner, Bessern, 2005, S. 154; Ludi, 1989, S. 31. 15 Vgl. Lippuner, Bessern, 2005; Ruchat, L’oiseau, 1993, S. 9. 16 Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 30 und 45. In Deutschland entstanden bereits seit den 1820er Jahren erste Jugendheime (vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 296).

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Anstalten“. Fabrikbesitzer gründeten seit den 1850er Jahren solche Heime, in denen üblicherweise nachschulpflichtige Kinder und Jugendliche von ca. 12 bis 20 Jahren mit Fabrikarbeit beschäftigt und mit Unterkunft sowie Verpflegung entlohnt wurden.17 Bis um 1900 entstanden neun industrielle Heime für weibliche Jugendliche.18 Die industriellen Anstalten, die durchschnittlich 88 weibliche Jugendliche aufnahmen,19 handelten sich schon früh Vorwürfe ein, die Jugendlichen als billige Arbeitskräfte skrupellos auszubeuten, primär aus Profitstreben statt aus fürsorgerischen Überlegungen Heime zu betreiben und außer einer Erziehung zur Fabrikarbeit keinerlei Erziehung der Jugendlichen zu leisten. Die Insassen würden „wohl zur Arbeit gedrillt, aber eben nur zur Fabrikarbeit“.20 Eine individuelle Betreuung sei daher ausgeschlossen. Gewisse Fabrikbesitzer bestritten auch nicht, dass Rentabilitätsüberlegungen sie zur Gründung solcher Anstalten verleiteten, waren Kinder doch billige und angepasste Fabrikarbeiter.21 Einweisungsgründe waren „sittliche Verdorbenheit“, Armut und Elternlosigkeit.22 Die Einweisenden zahlten kein Kostgeld, da die Fabrikarbeit der Kinder und Jugendlichen die Kosten des Heimbetriebs decken sollten. Die indus­ triellen Anstalten waren deshalb als kostengünstige Heime bekannt. Die Tage waren mit rund neuneinhalb bis zwölf Stunden Arbeitszeit in der Fabrik ausgefüllt.23 Zudem erhielten die Kinder und Jugendlichen je nach Alter bis zu zwölf Stunden Unterricht pro Woche.24 Dieser beinhaltete bei Mädchen auch Mithilfe in der Hauswirtschaft, beim Kochen, Waschen und Putzen.25 Wie Sabine Bitter in ihrer Untersuchung der industriellen Schorenanstalt Basel aufgezeigt hat, wurde die schulische und hauswirtschaftliche Bildung jedoch den wirtschaftlichen Prämissen des Fabrikbetriebs untergeordnet und blieb entsprechend marginal. Die hauswirtschaftliche Bildung war äußerst rudimentär und reichte nicht aus, um danach als einfache Dienstmagd eine Anstellung zu finden.26 Auch der heiminterne Schulunterricht ließ zu wünschen übrig. Die im Prospekt der Schorenanstalt versprochenen sechs Repetierstunden in Lesen, Schreiben, Rechnen und Singen pro Woche wurden nicht eingehalten. Die Schorenanstalt wurde deswegen wiederholt vom Schulinspektor gerügt, waren doch 17 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 75 – 85. Zu den industriellen Anstalten vgl. auch Bitter, Richter-­ Linder’sche Anstalt, 1989; Keller, Anstalt, 1988. 18 Vgl. die Liste der Heime für weibliche Jugendliche im Anhang. 19 Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 31. 20 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 390. 21 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 75 und 83. 22 Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 43 – 47. 23 Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 70; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 80 f.; Keller, Anstalt, 1988, S. 124. 24 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 81. 25 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 80 f. 26 Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 67 – 70.

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in der Anstalt auch schulpflichtige Mädchen, die der 1874 in der Bundesverfassung verankerten obligatorischen Schulpflicht entsprechend Unterricht erhalten mussten.27 Auch die Religion spielte neben der dominierenden Fabrikarbeit eine Rolle. Ein Pfarrer erteilte eine bis eineinhalb Stunden Religionsunterricht pro Woche und las einmal im Monat eine „erbauliche Geschichte“ vor.28 Am Sonntag gab es je einen Kirchgang für die katholischen und die reformierten Mädchen.29 Die industriellen Heime, die alle vor der Jahrhundertwende gegründet wurden, sind um 1900 beinahe ganz verschwunden.30 Das beinahe gänzliche Verschwinden der stark auf Fabrikarbeit ausgerichteten „industriellen Anstalten“ wurde nicht zuletzt durch eine stärkere Sensibilisierung für die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in Fabriken begünstigt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann zunehmend die Einsicht an Bedeutung, dass den katastrophalen Arbeitsverhältnissen der Fabrikarbeiterschaft begegnet werden müsse. Die eidgenössischen Schutzbestimmungen im Fabrikgesetz von 1877 führten schweizweit ein Verbot von Kinderarbeit von Kindern unter 14 Jahren, für Erwachsene den Elfstundentag und für Frauen ein Nacht- und Sonntagsarbeitsverbot ein.31 Diese verschärften Bestimmungen betrafen natürlich auch die industriellen Heime, deren Rentabilitätsbestrebungen durch das Gesetz beschnitten wurden und die ein Weiterführen solcher Heime unattraktiver machte.32 Auch der schlechte Ruf der industriellen Anstalten dürfte ihren Niedergang beschleunigt haben. Einige industrielle Anstalten nahmen auch eine Neuausrichtung vor, um den Erfordernissen der Heimerziehung genüge zu tun, wie dies in der Erziehungsanstalt Richterswil sichtbar wird.33 Insbesondere ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erfolgten zahlreiche Gründungen von Heimen für weibliche Jugendliche, deren Fokus auf der Erziehung zu typisch weiblichen Tätigkeiten lag, etwa Haushalt, Gartenarbeit, Stricken, Nähen und Waschen. Das Ziel war es, aus den Insassinnen nicht Fabrikarbeiterinnen, sondern Dienstmädchen sowie tüchtige zukünftige Hausfrauen und Mütter zu machen, 27 28 29 30 31

Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 77 – 79. Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 77 und S. 78. Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 79. Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 83. Studer, Brigitte. Arbeiterschutz. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (14. 6. 2011), und Studer, Brigitte. Fabrikgesetze. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http:// www.hls.ch (14. 6. 2011). 32 Wie jedoch Sabine Bitter anhand der Basler Richter-Linder’sche Anstalt aufgezeigt hat, wurde das Fabrikgesetz anfänglich teilweise durch Sondergenehmigungen umgangen. Bis in die 1890er Jahre blieb das eidgenössische und kantonale Fabrikgesetz ohne Wirkung. Zur Förderung der Seidenbandindustrie räumten die Behörden der Anstalt Sondergenehmigungen ein (vgl. Bitter, Richter-Linder’sche Anstalt, 1989, S. 104). 33 Vgl. Keller, Anstalt, 1988.

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galt doch Fabrikarbeit als besonders „sittengefährdend“. Diese Heime waren meist von religiösen, wohltätigen Organisationen getragen, waren meist kleiner und fokussierten auf religiöse, hauswirtschaftliche und moralische Erziehung von „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen. Zwölf solche Heime entstanden bis zur Jahrhundertwende. Neun dieser Heime entsprangen direkt der evangelischen Sittlichkeitsbewegung oder fungierten auf den Listen ihrer Heime als „[v]erwandte Anstalten, die unsern Bestrebungen dienen“34. Ein weiteres wurde von der protestantisch-freikirchlichen Heilsarmee gegründet, zwei waren katholische Erziehungsheime. Heime, die aus der evangelischen Sittlichkeitsbewegung entsprangen oder ihr nahestanden, spielten demnach in dieser Heimlandschaft, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert, eine mengenmäßig wichtige Rolle, die katholischen Heime hingegen eine noch untergeordnete. Staatliche Heime existierten noch keine. Die Arbeitserziehung blieb in diesen Heimen wichtig, sowohl als Erziehungsmittel wie auch als Einnahmequelle. Ganz im Sinne des internationalen Trends zu mehr Resozialisierung, Besserung und Prävention statt primärer Produktivitätssteigerung wurde der religiösen, hauswirtschaftlichen und sittlichen Erziehung jedoch eine große Bedeutung beigemessen. Der Fokus der Heime auf frauenspezifische Bildung ging einher mit der hauptsächlich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erfolgten systematischen Einführung eines auf Mädchen ausgerichteten Unterrichts in den Schweizer Schulen.35 Gerade Frauenvereine, die für viele der neu gegründeten Heime verantwortlich zeichneten, setzten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die häusliche Erziehung der jungen Frauen ein.36 Die Forderung, frauenspezifische Arbeit und Bildung zu forcieren, machte auch vor den Erziehungsheimen nicht halt. Warum wurde der Erziehung weiblicher nachschulpflichtiger Jugendlicher vermehrt Gewicht beigemessen, die, so scheint mir, gerade seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts verstärkt auf die sittliche Erziehung „sittlich gefährdeter“ und „gefallener“ junger Frauen fokussierte? Einmal ist diese erhöhte Aktivität auf die verstärkte Sensibilität gegenüber der Prostitution und ihren Begleiterscheinungen zurückzuführen sowie auf die Sorge um die wachsende Zahl nachschulpflichtiger junger Frauen, die fernab ihrer Familie ohne Aufsicht in den entstehenden Großstädten Arbeit suchten und „gefährdet“ schienen, „sittlich“ zu „fallen“.37 Die Magdalenenarbeit gewann aber auch durch das Engagement der Sittlichkeitsbewegung, welche die Sensibilisierung für 34 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1922, S. 46. 35 Head-König, Anne-Lise. Mädchenerziehung. In: Historisches Lexikon der Schweiz, www.hls.ch (5. Oktober 2010). 36 Mesmer, Ausgeklammert, 1988; Schumacher, Volk, 2010. 37 Vgl. auch Hall, Sex, 2000; Davidson, Sex, 2001, S. 10.

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das Thema Prostitution vorantrieb, an Bedeutung. Die Initiative für die zahlreichen neuen Heimgründungen basierte wesentlich auf der Sittlichkeitsbewegung, welche die bürgerlichen Bedrohungsängste aufnahm. Zudem gründeten sie neue Fürsorgefelder für „Gefallene“ und „Gefährdete“. Dieses neue Fürsorgenetz war stark präventiv ausgerichtet und ging weit über die bisher existierende Magdalenenarbeit, auf die ich gleich noch kommen werde, hinaus.38 Beispielsweise gab es nun Fürsorgestellen für geschlechtskranke und für von der Polizei verhaftete Frauen, Bahnhofswerke mit „Platzierungsbüros“, die sich allein reisender junger Frauen annahmen und ihnen eine sichere Stelle und Unterkunft vermittelten, um sie vor den „Gefahren“ der Großstadt zu bewahren, Mütterheime, die „erstgefallene“, ledige Schwangere für die Zeit der Geburt aufnahmen, Wohnheime für alleinstehende Berufstätige, Zufluchtshäuser für obdachlose Frauen, Stellenvermittlungsbüros etc. Primäre Gründer dieses erweiterten Fürsorgenetzwerkes waren in der deutschsprachigen Schweiz die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit sowie die Sektionen der Freundinnen junger Mädchen. Die Gründerinnen leisteten mit der Erschließung neuer Fürsorgefelder Pionierarbeit. Heike Schmidt, welche die Heimerziehung für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche in Deutschland untersucht hat, konstatiert drei Einrichtungen als primäre Wurzeln der weiblichen Jugendheime, die für die Entwicklung der Heimerziehung für weibliche Jugendliche von Bedeutung waren: die „Zucht-, Arbeits- und Waisenhäuser“,39 die „Rettungsanstalten“ für Kinder sowie die evangelischen „Magdalenien“ und katholischen Klöster, die reuige Prostituierte aufnahmen.40 Die „Zucht-, Arbeits- und Waisenhäuser“ des 17. und 18. Jahrhunderts, die separate Abteilungen für Kinder errichteten, stellten einen neuen Anstaltstypen dar, in dem die Armen durch Freiheitsentzug, Arbeitszwang und Körperstrafen im merkantilistischen Sinne zur Arbeit und rationalen Lebensführung erzogen werden sollten.41 Ordnungs- und sozialpolitische Ziele hatten unter anderem zur Schaffung dieser Anstalten beigetragen, um den bettelnden und „renitenten“ Armen sowie den Bettelkindern begegnen zu können sowie Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen. Die Durchsetzung von Arbeitszwang und bürgerlich-christlichem Arbeitsethos 38 Auch in Deutschland gewann die Magdalenenarbeit am Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung und es entstanden neue Formen der Fürsorge (vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 47 und 49; auch Hitzer, Netz, 2006, S. 355 f.). 39 In Deutschland hießen diese „Zucht-, Werk- und Waisenhäuser“, in der Schweiz dagegen „Zucht-, Arbeits- und Waisenhäuser“. Vgl. für Deutschland Schmidt, Mädchen, 2002, S. 26 f., für die Schweiz Crespo, Verwalten, 2001, S. 37 f. 40 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 25. 41 Vgl. zum Folgenden Ammerer, Zucht- und Arbeitshäuser, 2006, S. 8 und 32 f.; Crespo, Verwalten, 2001, S. 37 f.; Schmidt, Mädchen, 2002, S. 27.

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wurde als Instrument zur Vermeidung und Behebung von Armut und deren sozialen Folgeerscheinungen, wie unangepasstes Verhalten, Kriminalität und Mobilität, eingesetzt. Sie zielten unter anderem auf die Besserung und Resozialisierung von Armen mit normabweichendem Verhalten, wie Bettler, „Vaganten“, „liederliche“ Frauen, „Schwererziehbare“ und Delinquentinnen. Dabei wurde die Arbeitskraft der Insassinnen und Insassen genutzt, um die Anstalt finanziell möglichst selbsttragend zu halten. Mit der Ausdifferenzierung nach Altersgruppen durch Schaffung separater Kinderabteilungen wurden erste Überlegungen zur altersgerechten Erziehung von Jugendlichen gemacht. Gleichzeitig fokussierten diese Anstalten auf die Figur des jugendlichen Delinquenten, die für die spätere Heimerziehung zentral werden sollte.42 Im 18. Jahrhundert wurden nach Kritik an den Zuständen in diesen Anstalten separate Waisenhäuser für Kinder errichtet.43 Diese erreichten jedoch in der Schweiz einen beschränkten Wirkungsgrad, da sie nur für einen kleinen Teil der bedürftigen Kinder Platz aufwiesen.44 Heike Schmidt schätzt den Einfluss der Waisenhäuser auf die spätere Zwangserziehung geringer ein als jenen der kombinierten „Arbeits-, Zucht- und Waisenhäuser“.45 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte ein eigentlicher Boom an Gründungen von Erziehungsheimen für Kinder aus armen Verhältnissen ein. Es entstanden philan­ thropisch orientierte „Armenerziehungsanstalten“ und vom Pietismus geprägte „Rettungsanstalten“ für Kinder meist unter 12 oder 13 Jahren, die in der Regel von privaten Vereinen oder Privatpersonen initiiert wurden und meist gemischtgeschlechtlich waren.46 Angestrebt wurden in den als große Familie aufgebauten Anstalten die Arbeitsfähigkeit durch Arbeitserziehung in Haus- und Landwirtschaft und Industrie sowie die religiös-sittliche und schulische Bildung der Kinder. Die Schulbildung blieb einfach, war aber fester Bestandteil dieser Anstalten und sicherte den Kindern vor dem schweizweiten Obligatorium des Primarschulunterrichts seit der Revision der Bundesverfassung 1874 eine, wenn auch rudimentäre, Schulbildung zu. Der Eintritt in diese Anstalten musste auf dem freien Entschluss der Eltern basieren.47 Wohltätige und helfende Motive sowie eine christlich motivierte, sozial tätige Nächstenliebe 42 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 32. 43 Vgl. zu dieser Entwicklung die Untersuchung von Crespo, Verwalten, 2001. Vgl. zu den Waisen­ häusern zudem Hafner, Heimkinder, 2011, S. 31 – 57. 44 Crespo, Verwalten, 2001, S. 41. 45 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 26. 46 Vgl. zu diesen Heimen Chmelik, Armenerziehungs- und Rettungsanstalten, 1975; Tanner, Erziehung, 1998, S. 187 – 189; Hafner, Heimkinder, 2011, S. 59 – 97; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 18; 139 – 146; Willen, Härz, 2000; Stöcker, Rettungshaus, 2010; Peukert, Grenzen, 1986, S. 46 – 49. 47 Crespo, Verwalten, 2001, S. 53.

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waren in diesen Anstalten gepaart mit dem Bestreben, die von Armut betroffenen Kinder zu einem arbeitsamen, christlichen und einfachen Leben, d. h. zu einem standes­gemäßen Leben in Armut zu erziehen.48 Die Kinder sollten nicht vergessen, dass sie zu den Armen gehörten und die Armut mit Würde tragen. Neben diesen philanthropisch orientierten „Armenerziehungsanstalten“ und vom Pietismus geprägte „Rettungsanstalten“ für Kinder beeinflussten in der Schweiz auch die katholischen Kinderheime, wie sie im 19. Jahrhundert vor allem durch katholische Frauenorden betrieben wurden, die Ausprägung der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher, insbesondere jene der seit den 1910er Jahren in größerer Zahl errichteten katholischen Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Mädchen.49 Auch diese Heime waren meist gemischtgeschlechtlich, der religiös-sittlichen und der Arbeitserziehung wurde großes Gewicht beigemessen, ebenso der Erziehung zu einem einfachen Leben. Die 1883 gegründete katholische Verpflegungs- und Erziehungsanstalt armer Kinder in Rathausen im Kanton Luzern etwa entstand nach Angaben des Luzerner Regierungsrates als direkte Reaktion auf den Pauperismus, der als Bedrohung wahrgenommen wurde.50 Mit der Errichtung der Erziehungsanstalt Rathausen sollte dafür gesorgt werden, „dass den Waisen­ kindern eine gute christliche Erziehung zu Theil werde, damit sie in den Stand gesetzt werden, sich selbst ehrlich durch die Welt zu bringen, und nicht mehr den Waisenämtern zur Last fallen“.51 Die dritte Wurzel der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher waren die Magda­ lenien und Klöster, die reuige Prostituierte aufnahmen. Bereits im Mittelalter waren „Dirnen“ Ziel von Bestrebungen, sie von ihrem „sündigen“ Leben zu „retten“ und ihnen aus der Prostitution zu helfen. Im 13. Jahrhundert begann die Papstkirche die Nonnenklöster zu ermuntern, auch reuige Prostituierte in ihre Klöster eintreten zu lassen.52 Verschiedene Orden nahmen nun solche Frauen als Nonnen auf und boten ihnen einen Zufluchtsort. Seit dem späten Mittelalter entstanden zudem im 48 Germann, Humanität, 2010, S. 223; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 19; Schmidt, Mädchen, 2002, S. 32 f.; Crespo, Verwalten, 2001, S. 46 und 49; Stöcker, Rettungshaus, 2010, S. 89. Auch Pestalozzi vertrat diese Ansicht der Erziehung zur Armut (Crespo, Verwalten, 2001, S. 46 f.; Tuggener, Armenerzieher, 1985, S. 4.). 49 Vgl. zu diesen Heimen Alzinger, Erziehungsheime, 1987; Akermann, Bericht, 2012; Ries, Mauern, 2013; Ott, Daheim, 2008; Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt. 50 Bericht und Antrag des Luzerner Regierungsrates zur Errichtung einer Verpflegungs- und Erziehungsanstalt für arme Kinder in Rathausen vom 4. 10. 1882. Gezeichnet von Schultheiss Vincenz Fischer und Staatsschreiber. S. 2. Staatsarchiv Luzern, A 853/294. 51 Bericht und Antrag des Luzerner Regierungsrates zur Errichtung einer Verpflegungs- und Erziehungsanstalt für arme Kinder in Rathausen vom 4. 10. 1882. Gezeichnet von Schultheiss Vincenz Fischer und Staatsschreiber. S. 3. Staatsarchiv Luzern, A 853/294. 52 Ringdal, Weltgeschichte, 2006, S. 187.

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katholischen und protestantischen Europa sogenannte Magdalenenheime, welche reuige Prostituierte wieder in die Gesellschaft eingliedern wollten.53 Auch in der Deutschschweiz wurden solche Heime in der Tradition der Magdalenien errichtet.54 Die „moralische Hebung“ und die „Rettung“ der Seelen waren wichtige Ziele dieser konfessionellen Fürsorge.55 Buße, harte Arbeit und Beten waren die primären Erziehungsmittel. Die Frauen lernten Nähen, Weben, Spinnen, Waschen sowie andere den Frauen zuerkannte Tätigkeiten und erhielten damit eine, wenn auch marginale, frauenspezifische Ausbildung.56 Mit der Reformation und der damit verbundenen Schließung der Klöster verschwanden auf protestantischer Seite solche Einrichtungen.57 Erst im 19. Jahrhundert entstanden erneut reformierte Magdalenien. Auch auf katholischer Seite wurde nach einer Unterbrechung mit der Gründung von Klöstern zum Guten Hirten die Fürsorge für „Gefallene“ wiederaufgenommen.58 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückte dabei die Prävention verstärkt ins Blickfeld. Nicht mehr primär die „gefallene Dirne“, bereits die „Gefährdete“ galt es vor dem „Fall“ zu bewahren. Diese drei Wurzeln, die „Zucht- und Waisenhäuser“, die pietistisch geprägten „Rettungsanstalten“, philanthropisch orientierten „Armenerziehungsanstalten“ und katholischen Kinderheime sowie die reformierten „Magdalenien“ und katholischen 53 Ringdal, Weltgeschichte, 2006, S. 215; zudem Schmidt, Mädchen, 2002, S. 39 – 50. 54 Etwa die 1868 gegründete katholische Anstalt zum Guten Hirten in Altstätten, St. Gallen, die von Schwestern des Ordens „Unsere Frau von der Liebe des Guten Hirten“ geführt wurde (vgl. Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 51 – 54; Knabenhans, Erziehungs- und Besserungsanstalten, 1912, S. 117 – 119). 1865 wurde in Schüpfheim die „Rettungsanstalt zum Guten Hirten“ für „gefallene Mädchen“ gegründet (vgl. zum Heim in Schüpfheim Niedermann, Anstalten, 1896, S. 165). Das von Ingenbohler Schwestern geleitete Heim fiel jedoch ein Jahr später einem Feuer zum Opfer. An der Stelle des Guten Hirten wurde eine „Amtsarmenanstalt“ errichtet, die aber weiterhin auch „gefallene Mädchen“ aufnahm. Zudem entstand das Magdalenenheim „Schirmeck“, später „Réfuge“ genannt, das ein „Asyl für gefallene reumütige Mädchen“, das stark vom Gedankengut der englischen Abolitionistin Josephine Butler, aber auch von der Gefängnisreformerin Elisabeth Fry geprägt war (50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 4; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 108; Schmid, Zürich, 1900, S. 231). 55 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 46. 56 Ringdal, Weltgeschichte, 2006, S. 215. 57 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 39. 58 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 41. Aus der Tradition älterer katholischer Ordenshäuser für „Büsse­rinnen“ hervor wurden im 19. Jahrhundert durch den Orden „Unsere Frau von der Liebe des Guten Hirten in Angers“ zahlreiche solche Heime gegründet, die sich von Frankreich aus in weite Teile der Welt ausbreiteten, zum Zweck der Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Mädchen und Frauen (Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 53). In der Schweiz blieb das Heim in Altstätten das einzige Heim des Ordens „Unsere Frau von der Liebe des Guten Hirten“ (Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 51).

Die Heimerziehung der Sittlichkeitsvereine

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Klöster, die reuige Prostituierte aufnahmen, beeinflussten die Ausrichtung und Prägung der Heimerziehung für weibliche Jugendliche. Gemeinsam war den im folgenden Kapitel näher betrachteten Heimen der Sittlichkeitsvereine, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts präsentierten, der ausgeprägt präventive Charakter, die stark religiöse Ausrichtung der Erziehung, das Vorhandensein von Aspekten der Hilfe und des Schutzes, der starke Fokus auf die „moralische Hebung“ und auf die Besserung und Resozialisierung, das Ermöglichen einer wenn auch einfachen Schulund Berufsbildung sowie die angestrebte Herstellung von klassen- und geschlechtsspezifischen Identitäten, etwa durch die Erziehung zu Häuslichkeit und tüchtiger Hausarbeit, zu Sparsamkeit, bescheidenem und „sittlichem“ Lebenswandel, harter Arbeit und langen Arbeitstagen, um tüchtige und von der Armenkasse unabhängige Arbeitnehmerinnen, Hausfrauen und Mütter zu schaffen.

4.2 Die Heimerziehung der Sittlichkeitsvereine Das irische Filmdrama Magdalene Sisters („Die unbarmherzigen Schwestern“) von Peter Mullan aus dem Jahr 2002 handelt vom Leben in einem katholischen Magdalenenheim im Irland der 1960er Jahre. Vier fiktive Frauenschicksale stehen im Zentrum des Films. Alle vier Frauen wurden von ihren Familien ins Erziehungsheim geschickt; eine, weil sie vergewaltigt worden war, die Zweite, eine verführerisch attraktive Waise, weil sie gerne flirtete, die Dritte, weil sie ledig schwanger wurde, und schließlich die Vierte, weil sie ein aussereheliches Kind hatte und an einer Lernschwäche litt. Der Alltag ist von Strafen bei kleinsten Vergehen geprägt: Haare abschneiden und Schläge mit Lederriemen oder Stöcken. Von Demütigungen durch die als geldgierig, sadistisch und bösartig dargestellten Ordensschwestern sowie von sexuellen Übergriffen des Heimpfarrers erzählt der Film. Das dargestellte Opfer der sexuellen Übergriffe des Pfarrers stirbt jung in einer psychiatrischen Klinik, in die es nach der Aufdeckung des Missbrauchs abgeschoben wurde. Der Pfarrer kommt ungeschoren davon. Das letzte Heim dieser Art wurde in Irland erst 1996 geschlossen. Der Film wurde mit einigen Preisen ausgezeichnet und wirbelte viel Staub auf.59 Er trug neben anderen Filmen und Medienberichten dazu bei, dass in den folgenden Jahren die Thematik der Heimerziehung in Irland in der Forschung verstärkt aufgegriffen wurde und auch im Auftrag der Regierung eine Aufarbeitung stattfand. Aber auch in anderen Ländern, etwa in Deutschland, war er einer der Auslöser für verstärkte Forschungen in diesem Bereich. Die katholische Kirche kritisierte den Film scharf als „anti-katholische“ und „aggressive Ideologie“ und als Zeichen für die „Vorurteile und 59 Zu den Auszeichnungen vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Die_unbarmherzigen_Schwestern (6. 10. 2010).

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Feindseligkeit“ gegenüber der katholischen Kirche.60 In einer offiziellen Stellungnahme an alle Katholiken empfahl der Vatikan, den Film nicht anzusehen.61 Wie viel reality und wie viel fiction, wie viel Stereotypisierungen oder Einseitigkeit, Auslassungen oder präzise Beschreibungen stecken hinter dem Film M ­ agdalene Sisters? Darüber ist in Irland eine Forschungsdebatte ausgebrochen.62 Um das Leben in diesen Magdalenenheimen geht es auch in den hier folgenden Kapiteln. Der spezifische Fokus liegt auf dem vom Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit am 5. Juni 1889 im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl an der Badenerstraße 397 eröffneten evangelischen „Vorasyl zum Pilgerbrunnen“.63 Ich fokussiere ausgeprägt auf dieses Heim, weil außer „Zöglingsdossiers“ (die auch in den anderen Heimen der hier untersuchten Anstalten der Sittlichkeitsvereine fehlen) umfangreiches Quellenmaterial vorhanden ist. Für den Pilgerbrunnen existieren neben den Jahres­ berichten des Vereins ergiebige Protokolle und Besuchsbücher des Heimkomitees (Berichte der Hausbesucherinnen). In monatlichen Sitzungen kam ein für den Pilger­brunnen zuständiges Komitee zusammen, bestehend aus Vereinsmitgliedern des Zürcher Frauen­vereins zur Hebung der Sittlichkeit.64 In den Sitzungen wurden neben adminis­trativen und organisatorischen Fragen vorwiegend über die „Zöglinge“ gesprochen, der Reihe nach wurde über ihren Eintritt oder Austritt oder über ihr Verhalten diskutiert. Teilweise sind sehr ausführliche Schilderungen von Begebenheiten mit „Zöglingen“ vorhanden. Das Besuchsbuch 65 demgegenüber enthält Berichte von Komiteemitgliedern, die den Pilgerbrunnen aufsuchten und im Besuchsbuch kurze Notizen darüber niederschrieben. Die Mitglieder des Komitees waren verpflichtet, abwechselnd während vierzehn Tagen das Heim drei- bis viermal zu besuchen und 60 http://www.abendblatt.de/kultur-live/article612743/Die-Kritik-des-Vatikans.html; http:// www.welt.de/print-welt/article329345/Alles_geklaut_alles_verfehlt_alles_erfunden.html;­ http://www.nzz.ch/2003/02/21/fi/article8NRI0.html (6. 10. 2010). 61 http://www.abendblatt.de/kultur-live/article612743/Die-Kritik-des-Vatikans.html (6. Oktober 2010). 62 In Irland sind in den letzten Jahren aufgrund mehrerer öffentlichkeitswirksamer Filme und Medienberichte (vgl. die Auflistung bei Luddy, Magdalen Asylums, 2008, S. 283) zahlreiche Untersuchungen zu den Magdalenenheimen publiziert worden (vgl. Forschungsstand in der Einleitung). Der Realitätsgehalt von Mullans Film wurde dabei vielfach diskutiert. (Etwa Luddy, Prostitution, 2007, S. 10 – 12; Smith, Magdalene Sisters, 2007; McCormick, Sisters, 2005; Smith, Magdalen Laundries, 2008). 63 2. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1890, S. 7. Zum Standort des Asyls: Siebenundzwanzig Jahre Verbandsarbeit, 1928, S. 23. 64 Die Protokolle aus diesen Sitzungen sind nur teilweise erhalten – im untersuchten Zeitraum für die Jahre 1900 bis 1905 und ab 1916. EFZ, C I Heft 2 – 4. 65 Überliefert sind die Besuchsbücher der Jahre 1889 – 1895 und 1901 – 1920 (Berichte der Hausbesucherinnen, EFZ, C I Heft 7 – 9).

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„einige Notizen zu geben über das tägliche Leben in dieser Anstalt“.66 Im Vergleich zu den Protokollen wurde in diesen Büchern auf die Ereignisse im Heim meist knapper und unsystematischer eingegangen, dafür sind monatlich mehrere Einträge vorhanden. Den Hauptteil der Notizen bildeten auch hier die „Zöglinge“. Im Vergleich zu den Jahresberichten, worin den Vereinsmitgliedern Rechenschaft über die Vereinsarbeit abgelegt und die Notwendigkeit sowie der Erfolg ihrer Arbeit dargelegt werden sollte, wurde im Besuchsbuch und in den Sitzungsprotokollen viel direkter und unzensierter über die Anstalt und ihre Bewohner geschrieben.

Abb 29 Außenansicht des Mädchenasyls zum Pilgerbrunnen, 1911.

Die überlieferten Quellen stammen größtenteils aus der Feder von bürgerlichen Vereinsmitgliedern, Zeugnisse von „Zöglingen“ fehlen und sind von Vorsteherinnen und Gehilfinnen recht spärlich erhalten. Die einseitige Quellenlage ermöglicht insofern nur eine beschränkte Beantwortung der Frage, wie der Heimalltag im Pilgerbrunnen aussah. Unterschiede zwischen den einzelnen Angestellten und deren Erziehungspraxis und Verhaltensweisen sowie zu den anderen Heimen der Sittlichkeitsvereine lassen sich kaum ausmachen. Detailliertere Aufschlüsse würden Interviews mit ehemaligen Insassinnen und Angestellten geben.

66 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom September 1904.

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Vier Heimtypen Die von den Deutschschweizer Sittlichkeitsvereinen betriebenen Heime lassen sich grob in vier unterschiedliche Heimtypen unterteilen: Zufluchtshäuser und Durchgangsheime, Mütterheime, Erziehungsanstalten sowie Frauenkolonien. Der erste Heimtyp umfasst die Zufluchtshäuser und Durchgangsheime. In Basel, Bern und Zürich errichteten die Sittlichkeitskreise je ein solches Heim, das für einen kurzen Aufenthalt vor der Platzierung in einer Stelle, Familie oder einer anderen Anstalt gedacht war. In Basel war dies das „Zufluchtshaus“, in Bern der „Sulgenhof “, in Zürich der „Tannenhof “. Die Aufenthaltsdauer betrug in diesen Heimen einige Tage bis wenige Monate. Aufnahme fanden Frauen, „die in Not oder Schuld leben“.67 In diesen Zufluchtshäusern fanden sich etwa Obdachlose, Arbeitslose, Kränkliche und Geschwächte, aus dem „Arbeitshaus“ oder dem Gefängnis Entlassene oder von der Geburt geschwächte Mütter mit ihrem Kind nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Der Aufenthalt bezweckte unter anderem, das weitere fürsorgerische Vorgehen abzuklären und die Insassinnen entsprechend ihrem „Erziehungsbedarf “ an Stellen zu vermitteln oder für längere Zeit zur Nacherziehung in eine Anstalt einzuweisen. Aus diesen Heimen wurden später oft Beobachtungs- und Durchgangsheime. Als zweiter Heimtyp errichteten die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit spezi­ fische Heime für Schwangere, ledige Mütter und deren Kinder.68 Diese Mütterheime waren für kürzere Aufenthalte konzipiert, indem die Schwangere für die Geburt des Kindes und darüber hinaus bis zu ihrer körperlichen Erholung im Heim blieb. Die jungen Frauen sollten im Heim auf ihre Rolle als Mutter vorbereitet werden. Waren die Mütter wieder erwerbsfähig, vermittelten ihnen die Sittlichkeitsvereine eine Stelle, die einen regelmäßigen Besuch des im Heim zurückbleibenden Kindes ermöglichte. Das Neugeborene blieb üblicherweise für die ersten Lebensjahre im Heim, wo es die Mutter zur angestrebten Stärkung der „Mutterliebe“ regelmäßig besuchen durfte und sollte. Der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit errichtete 1890 das erste solche Heim dieser Art in der Schweiz,69 das „Versorgungshaus zum Pilgerbrunnen“, später „Maternité“ genannt. Demgegenüber gab es als dritten Heimtyp die Erziehungsanstalten, in die junge Frauen für zwei bis drei Jahre eingewiesen wurden. Ein solches Heim war das Vorasyl zum Pilgerbrunnen, das im nächsten Kapitel im Zentrum stehen wird. Der Pilgerbrunnen war das einzige solche Heim dieses Typs der Berner, Basler und Zürcher Sittlichkeitsvereine. 67 2. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903. S. 1. 68 Vgl. zu den Mütter- und Kinderheimen ausführlich Naegele, Himmelblau, 2004. 69 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 9.

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Diese drei Heimtypen wurden immer stärker auf junge Frauen ausgerichtet, weil diese als „erziehbarer“ galten als ältere Personen. Die bestehende Lücke bei der Fürsorge für ältere Frauen, „die anderweitig keine Aufnahme mehr finden können“, wurde 1918 gefüllt, als der Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit die Frauenkolonie Ottenbach im Kanton Zürich gründete.70 Diese bildete den vierten Heimtyp der Sittlichkeitsvereine. Die Sittlichkeitsvereine orientierten sich im Ausland primär an Heimen in Deutschland, die sie als Vorbilder ansahen.71 Vergleiche mit Magdalenenheimen anderer Länder zeigen überdies ausgeprägte Parallelen in der Ausrichtung und Organisation der Heime (gepaart mit lokalen Unterschieden),72 was auf einen regen transnationalen Austausch zwischen Heimbetreiberinnen und Heimbetreibern schließen lässt.73 Inwiefern sich das Heimleben in den vier Heimtypen unterschied oder ähnelte, ist aufgrund der Quellenlage schwer zu eruieren. Bei einigen Heimen, wie etwa beim Basler Zufluchtshaus, sind kaum Quellenmaterialien überliefert. Die Grundstrukturen und Erziehungsprämissen weisen aber grundsätzlich große Übereinstimmungen auf. Der Aufenthalt diente bei allen Heimen der Sittlichkeitsvereine dazu, „wieder die Liebe zur Arbeit, die Freude am Rechttun und die Gottesfurcht einzupflanzen“ und durch die Anleitung zu frauenspezifischen Arbeiten die Insassinnen „etwas zu lehren, womit sie später ihr Brot ehrlich verdienen können“.74 So bestimmten bei allen die Arbeitserziehung und ein strikter Tagesablauf die Zeit im Heim. Der religiösen Erziehung wurde überall großer Stellenwert beigemessen und die „sittliche

70 1. Jahresbericht der Frauenkolonie Ottenbach, 1918, S. 6. Das Heim in Ottenbach am Albis verstand sich als Auffangnetz „für sittenschwache Frauen, die anderweitig keine Aufnahme mehr finden können“, weil sie „ein gewisses Alter erreicht haben, oder schon mehrfach rückfällig geworden sind“ (1. Jahresbericht der Frauenkolonie Ottenbach, 1918, S. 5 f.). 71 Sichtbar etwa im Protokoll des Dachverbandes vom 5. März 1903. Gosteliarchiv, SEF, A 6:1. Generell orientierten sich die Schweizer Heimgründer im Ausland primär an Deutschland. Umgekehrt galten gerade die Schweizer Heime für Kinder international als Referenz (Ruchat, L’oiseau, 1993, S. 7 f. und S. 20). 72 Vgl. etwa für Deutschland Schmidt, Mädchen, 2002; Fastnacht, Mädchenrettungsanstalt, 1993; Harris, Absence, 2008. Für Neuseeland Tennant, Magdalens, 1986; Dalley, rules, 1993. Für Irland Luddy, Magdalen Asylums, 2008; Luddy, Prostitution, 2007; Finnegan, Poverty, 1979. Für Schottland Mahood, Ärger, 1999; Mahood, Magdalenes, 1990. 73 Wohltätige Gründungen waren generell häufig von ausländischen Einrichtungen inspiriert. Es fand ein reger Austausch an Wissen und innovativen Ideen im lokalen Bereich wie über die Ländergrenzen hinweg statt. Entsprechend groß sind die Übereinstimmungen zwischen solchen Einrichtungen und philanthropischen Aktivitäten über die Ländergrenzen hinweg (vgl. Duprat, Introduction, 1994, S. VII–VIII). 74 Zit. nach 2. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903. S. 1.

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Hebung“ der Insassinnen bei allen ins Zentrum der Erziehungsbemühungen gerückt. Etwaige Differenzen sind nur schwer fassbar und hingen wohl eher von der jewei­ li­gen Heimleitung sowie dem Personal ab als vom Heimtyp.75

Die Finanzierung der Heime Wie finanzierten die Sittlichkeitsvereine ihre Erziehungsheime? Der Pilgerbrunnen des Zürcher Frauenvereins beispielsweise wurde mithilfe von Jahresbeiträgen, Kapitalerträgen, Spenden, Hinterlassenschaften und Kostgeldern sowie mit den Erträgen aus der Arbeit der Heiminsassinnen finanziert.76 Wie viel Prozent der Kosten für den Pilgerbrunnen durch die Arbeitsleistung der „Zöglinge“ abgedeckt wurden, ist aus den Jahresrechnungen aufgrund nicht detaillierter Rechnungsaufstellung nicht ersichtlich. In der eigenen Lohnwäscherei, Weißnäherei und Schneiderei wurde für Kunden gewaschen, geplättet und genäht. Durch eigenen Gemüseanbau wurde eine größtmögliche Selbstversorgung angestrebt. Eine wichtige Einnahmequelle waren zudem die Kostgelder für die „Zöglinge“. Teilweise wurden auf Gesuche der Privat­ heime jährliche Teilsubventionierungen oder Zuschüsse an Um- und Neubauten seitens des Staates gewährt. Jedoch waren Anträge auf regelmäßige, jährliche Subventionen der hier untersuchten Heime der Sittlichkeitsbewegung oft erfolglos. Im Jahr 1919 reichte der Zürcher Frauenverein ein Gesuch um Gewährung eines jähr­lichen Beitrages an die Betriebskosten ihrer beiden Anstalten Pilgerbrunnen und Versorgungshaus Maternité für ledige Mütter und ihre Kinder an den Zürcher Stadtrat ein. Der Stadtrat beschloss daraufhin die finanzielle Unterstützung der Maternité mit einem jährlichen Beitrag von tausend Franken, lehnte hingegen die Mitfinanzierung des Pilgerbrunnens ab, weil sich dieses „Asyl“ durch die Arbeit der Insassinnen „selbst zu erhalten“ vermöge.77

75 Interviews mit ehemaligen Heimkindern zeigen den wichtigen Stellenwert des Heimpersonals und der Heimleitung auf, die für das Leben im Heim zentral waren (vgl. Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012; Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt). Sara Janner hat versucht, das Basler Zufluchtshaus in dessen Erziehungsmethoden und Umgang mit den Insassinnen gegenüber den anderen Heimen der Sittlichkeitsbewegung abzugrenzen ( Janner, Bilder, 1998). 76 Vgl. zur Heimfinanzierung Akermann, Bericht, 2012. Das laufende Forschungsprojekt „Akermann, Schlussbericht“ wird ebenfalls Erkenntnisse dazu liefern. 77 Auszug aus dem Protokoll des Stadtrates von Zürich vom 5. März 1919. EFZ Hist. Dok. Mappe 3.

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Einweisende Instanzen Zwischen 1900 und 1905 wurden gemäß den Protokollen und Besuchsbüchern des Heimkomitees des Pilgerbrunnens von 38 Insassinnen, bei denen Hinweise zur Einweisung existieren, 7 von unterschiedlichen Behördenstellen im Heim angemeldet, die restlichen durch private Einrichtungen oder Privatpersonen. Aus den Quellen wird dabei nicht ersichtlich, wer den Versorgungsentscheid fällte. Die Heiminsassinnen kamen – soweit dies die Quellen trotz fehlender Anmeldebögen offenlegen – vor allem durch die Polizei, Armenpflegen, Pfarrämter, Waisenämter, Vormundschaftsbehörden, Krankenhäuser, Fürsorgevereine für entlassene weibliche Strafgefangene sowie andere Vereine oder Privatpersonen ins Heim. Auch Einweisungen durch Eltern und Verwandte kamen oft vor 78 – wobei unklar ist, wie viele durch behördlichen Druck dazu gebracht wurden und wie viele ihre Tochter bzw. Verwandte aus eigenem Willen in ein Heim einwiesen. In den Besuchsbüchern und Heimprotokollen des Pilgerbrunnens der Jahre 1889 bis 1905 ist von den erwähnten einweisenden Instanzen ein Zehntel Verwandte des „Zöglings“. In den Jahresberichten von 1890 bis 1918 ist es gar ein Viertel. Die breite Palette an Institutionen und Personen, die einen „Zögling“ im Pilgerbrunnen anmeldeten, verweist auf die Zusammenarbeit verschiedenster Akteure im entstehenden Fürsorgenetz, auf die ich noch näher eingehen werde, und deutet auf einen gewissen gesellschaftlichen Konsens über die Existenz und Ausrichtung dieser Heime. Auch die Einweisung durch Verwandte konnte – musste aber nicht – Ausdruck eines solchen Konsenses sein.

Das Heimpersonal Statuten für die Vorsteherinnen, Juni 1889. EFZ, Schachtel C1, Heft 1.79 „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, das verloren ist. Luc. XIX, 10 Alles, was ihr thut mit Worten oder mit Werken, das thut Alles in dem Namen des Herrn Jesu und danket Gott und dem Vater durch ihn. Kol. III, 17. §1. Die Leitung des Vorasyls zum Pilgerbrunnen wird in vollem Vertrauen vom Komite den Frl. […] und Frl. […] als gleichberechtigten Vorsteherinnen übergeben. Frl. […] übernimmt die Durchführung, Küche und Garten, Frl. […] die Wäsche, das Reinhalten der Schlafzimmer und der ganzen Häuser und die Anleitung und Ueberwachung der Arbeit.

78 Es gab aber auch immer wieder Fälle, in denen Eltern oder Verwandte sich gegen die Einweisung einer Tochter oder Verwandten massiv zur Wehr setzten. 79 Durchstreichungen im Original. Diese wurden nachträglich eingefügt.

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Ueber die Arbeiten der Korrespondenz können die Vorsteherinnen sich untereinander vereinbaren. §2. Da nicht wir, sondern unser Herr Jesus allein der Retter der Verlorenen ist, die der Vater zu ihm zieht, so werde Er, als das unsichtbare, das gegenwärtige Herr und Muster das Haus allzeit vor Augen gehalten und die Zügel der Regirung alle Tage in seine Hände gelegt; beide Vorsteherinnen mögen sich seiner einheitlichen Regirung unterordnen, so wird Einheit immer möglich sein. Auch wir Komiteglieder erkennen Jesu als unser Haupt und das Haupt des ganzen Werkes an, und in dieser Weise gedenken wir mit den Vorsteherinnen zusammen zu arbeiten, ein jeder in seiner Stellung and Amt, umschlungen von dem Land der Vollkommenheit, das da ist die Liebe, ein jeder dem anderen Unterthan und gehüllt in die Demuth, als Mitarbeiterinnen Jesu. 1. Kor. III, 9. 1. Petr. IV, 5. Kor. III, 14. Matth. XXVIII, 1. Kor. XII, 6, Kor. In, 27 §3. Wir Komiteglieder wünschen das Leben und die Angelegenheiten des Vorasyls mitzutragen und in dieselben eingeweiht zu werden. Wo Ungewissheiten und Schwierigkeiten entstehen, Fragen, die zum voraus nicht gelöst worden sind, wünschen wir zu Rath und That beigezogen zu werden. Die Vorsteherinnen mögen sich in den verschiedenen Fragen an diejenige von uns wenden, die ihnen auf dem fraglichen Gebiet am bewandertsten erscheint. §4. Die Aufgabe wird die Zeit und Kraft der Vorsteherinnen in vollem Maass in Anspruch nehmen, doch ist damit nicht ausgeschlossen, daß jede abwechselnd etwa dreimal des Monats, wo die Umstände es am besten erlauben, einiger Erholungsstunden außer der Anstalt geniessen kann. − Auch soll jährlich jeder Vorsteherin eine Ferienzeit von 14 Tagen eingeräumt werden. §5. Die Vorsteherinnen mögen sich immer erinnern, unter allen Vorkommnissen eine würdige Haltung den Pfleglingen gegenüber zu bewahren und sich nicht in viel Hin- und herreden einzulassen. Immer naheliegend ist die Gefahr einer Unverträglichkeit, die uns zum Weltkind herunterzieht, anstatt dasselbe zu uns emporzuheben. Wie naheliegend auch die Gefahr, sich zu unseligem Zorn, Aerger und Scheltworten hinreissen zu lassen, wodurch wir ebenfalls auf den Boden ihrer eigenen Leidenschaften herab­ gezogen werden und ihnen Anlaß geben, sich als gleich und gleich mit ihnen anzusehen. Die Sünderin werde in der Kraft Jesu auch bei der schlechtesten Aufführung geliebt und geschont, die Sünde auch in der täuschendsten Gestalt gehasst und entlarvt. Leute, auf die wir erzieherisch einwirken wollen, sollten uns wohl persönlich gar nie beleidigen können. §6. Die Vorsteherinnen mögen um Gottes willen alle Creaturenliebe scharf von sich abweisen und selbst auf der Hut sein, nicht die Creatur, sondern nur das Bild Gottes in ihren Pfleglingen zu lieben. So allein bekommt Gott die Seelen, und so allein wird auch die Partheilichkeit vermieden.

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§7. Des Abends, wenn alles Stille geworden ist, werden die Vorsteherinnen zusammen die Erlebnisse des Tages besprechen und das Programm des folgenden Tages so viel wie möglich festsetzen, worauf ein Vorsprung in der Arbeit gewonnen und die Schwesterliche Liebe und Einigkeit gestärkt wird. §8. Wir halten dafür, dass die Pfleglinge nicht ermuntert werden sollen, ihre geistlichen Anliegen den Anstaltsgeistlichen ohne Aufforderung von dieser Seite oder ohne besondere Gründe vorzubringen, wodurch seine Zeit zu sehr in Anspruch genommen würde und bei den Pfleglingen Gefahren besonderer Art entstehen. Im Allgemeinen wird es den Vorsteherinnen und uns zufallen, ihre besonderen Anliegen, Sünden und Gebrechen auf dem Herzen zu tragen. In Fällen, die uns zu schwer erscheinen, werden eher wir für uns den Rath des Anstaltsgeistlichen erbitten. §9. Die Pfleglinge werden angeleitet, in Beziehung auf ihre Körperleiden, wo nicht etwas Schwereres vorliegt, sich zur allgemeinen Arbeit zu überwinden und sich an den zu wenden, der sie zerrissen hat und der sie auch heilen wird, der sie geschlagen hat und der sie auch verbinden wird. Wo es hingegen dem Komite nöthig erscheint, kann es jederzeit den Arzt verlangen. Josua VI, 1 Wein als Stärkungsmittel wird nur in seltenen Ausnahmen gestattet werden. §10. Die Pfleglinge in ihren Schlafkammern sollen wissen, dass sie zu unerwarteter Zeit, unter Umständen sogar in der Nacht, überrascht werden. Sie sollen sich nie in dieser Beziehung der Sicherheit getrösten können. §11. Wo die Arbeit es erfordert, kann die Schlafenszeit etwas hinausgerückt werden, da die Pfleglinge später oft in den Fall kommen werden, ihre Nachtruhe abzukürzen. §12. Grössere Einkäufe und Anschaffungen für Haus sollen dem Komite vorgelegt werden und die Vorsteherinnen werden sich in allen Punkten strenge Sparsamkeit zur Pflicht machen. §13. Die Besoldung der Vorsteherinnen besteht in einem Jahresgehalt von 400 Fr. nebst freier Station, Kost, Feuer, Licht und Wäsche. Die Vorsteherinnen geniessen denselben Te[…] und Kost wie die Pfleglinge. Für die Auflösung gilt eine gegenseitige zweimonatliche Kündigungsfrist. §14. Die Sonntage sollten für die Anstalt rechte Freudentage sein, verschönert durch Spaziergänge (auf einsamen Wegen), durch gute und spannende Lectüre, Spiele, bei denen der Geist in Thätigkeit gesetzt wird, Abschreiben eines schönen Liedes in ein Erinnerungsheft und dergleichen, auch vielleicht durch ein Extra mit Thee statt Kaffee um 4 Uhr* (*oder nach dem Spaziergang) sammt eingemachten eigenen Beeren. §15. Nach und nach können die Vorsteherinnen, wie wir hoffen, mit unserer Hülfe und mit Herbeiziehung unserer Kräfte, Arbeitszweige einführen, die der Anstalt einen Verdienst zuwenden, wie z. B. Gemüseverkauf, Obstverkauf, vielleicht Geflügelzucht, Sonnenblumenzucht, Schneiderei, vielleicht könnten auch für die Milch der Anstalt Ziegen gehalten werden. Alsdann kann man die Pfleglinge in die Sorgen und Hoffnungen um die Existenz der Anstalt einiger Massen hereinziehen, jede in eine ihr entsprechende Arbeit hereinstellen,

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ihnen zeigen wie Ausgaben und Einnahmen gegeneinander abgewogen werden müssen, mannigfaltigere Lebensinteressen in ihnen wecken für die Zukunft einzelner Mädchen, die sich zu schwach fühlen sich in der Welt standhaft zu halten, dauernd beschäftigen. So sollte besonders den länger weilenden Pfleglingen als Pflicht vorgehalten w[erden], so weit möglich ihr eigen Brot in der Anstalt zu essen durch Arbeit ihrer Hände. Hierdurch ward die Anstalt lebensfähig und wachsthumsfähig gemacht und sich zu einer Arbeitscolonie ausbilden, die auch das Interesse und die Aufmerksamkeit des Publikums mehr auf sich zöge und die schreienden Noth- und Uebelstände Jedermann zu Wissen und Gewissen brächten. §16. Die Unterschrift der Vorsteherinnen wird dafür verstanden werden, dass was mit menschlichem Vorsatz ausgeführt werden kann, wirklich ausgeführt werde und was nur in Gottes Kraft erfüllt werden kann, doch gutgeheissen und von Herzen angestrebt werde.“

In der Anfangszeit des Pilgerbrunnens arbeiteten Frauen aus bürgerlichen Kreisen als Vorsteherinnen im Heim.80 Bei der Eröffnung des Pilgerbrunnens trat eine ehemalige Schneiderin als Vorsteherin ein. Die Gehilfin, die an ihre Seite gestellt wurde, kündigte schon bald, und auch deren Nachfolgerinnen blieben nur kurze Zeit im „Asyl“. Auch die Heimleiterin blieb nicht lange. Der häufige Wechsel beim Personal veranlasste den Frauenverein, nach dem Rücktritt der zweiten Heimleiterin im Jahr 1895 Diakonissen aus dem Diakonissenhaus in Riehen einzustellen. Bis zur Schließung des Heims im Jahr 1951 waren solche als Vorsteherinnen im Pilger­ brunnen tätig.81 Die Diakonie entstand im Zuge der Erweckungsbewegung als eine Form fürsorgerischer Tätigkeit für Arme, Kranke und Kinder.82 Die Riehener Schwestern, in der ganzen Schweiz und teilweise auch im Ausland in Krankenhäusern, Heimen, Gefängnissen oder Krippen tätig, stammten meistens aus dem „Arbeiter- und Bauernstande“, wenige aus „obern Klassen“.83 Diakonissen waren generell beliebte Angestellte in evangelischen Anstalten, da sie einerseits günstige 80 50 Jahre Zürcher Frauenverein, S. 9. 81 Notizen über Entstehung & Betrieb des Vorasyls z. P.brunnen. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. Zum Diakonissenhaus in Riehen vgl. Schär, Wunsch, 2008; Kellerhals, Zeichen, 2002; Kaegi, Diakonissenhaus, 1902; Raith, Gemeindekunde, 1980; Heim, Leben, 1998. 82 Zu den Diakonissen, ihrer Tätigkeit und ihrem Alltag vgl. etwa Schnyder, Geschwistergeschichten, 2008, S. 222 – 235; Schär, Wunsch, 2008; Meyer, Mission, 2011, S. 134 – 37; Köser, Diakonisse, 2006; Kaiser, Dienerinnen, 2010; Schmidt, Beruf, 1995. 83 Kaegi, Diakonissenhaus, 1902, S. 103. Dies bestätigt auch Regula Schär in ihrer Untersuchung, die eine starke Vertretung aus handwerklichen und bäuerlichen Kreisen ausmacht, zudem eine Minderheit aus höheren bürgerlichen Schichten (vgl. Schär, Wunsch, 2008, S. 71 – 73.). Vgl. zur Herkunft der Diakonissen in der Kranken- und Diakonissenanstalt Neumünster in Zürich Meyer, Mission, 2011, S. 136.

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Arbeitskräfte waren, andererseits eine religiöse Erziehung garantierten. Sie stellten des Weiteren eine Kontinuität im Personal sicher, denn die Schwestern wurden von ihrem Mutterhaus an ihren Arbeitsort vermittelt und nötigenfalls ersetzt. Dreißig Jahre lang, von 1896 bis 1926, stand die erste Diakonissin, die vom Zürcher Frauenverein als Vorsteherin engagiert wurde, dem Pilgerbrunnen vor. Die gebürtige Bernerin stammte, wie viele Diakonissen, aus einer Handwerkerfamilie. Ihr Vater war Schneider, sie selbst absolvierte eine Lehre als Damenschneiderin und arbeitete in Schneiderateliers und als Ladentochter, bevor sie 1894 ins Diakonissenhaus Riehen als Schwester eintrat.84 Ein Jahr später, im jungen Alter von 30 Jahren, wurde sie in den Pilgerbrunnen versetzt. Das Mutterhaus konnte eine Schwester jederzeit von ihrem Posten abberufen und an einen neuen Arbeitsort verlegen. Das Versprechen des Gehorsams verlangte von den Schwestern, sich diesen Anordnungen des Mutterhauses zu fügen. Ihre Aufgabe im Erziehungsheim fiel der jungen Diakonissin nicht leicht. Nach vier Jahren schrieb sie in einem Rückblick: „… schon zu der äussern Arbeit fühlte ich meine Untüchtigkeit, geschweige noch an der Erziehung solcher armen Mädchen mitzuhelfen. […] Mit der äussern Arbeit ging es mir recht ordentlich; mehr zu schaffen gab es mir aber, mit der Erziehung der Mädchen. Der Gedanke, ‚Andere erziehen wollen’, und selbst noch so unerzogen, verlässt mich nicht […].“85 In einem anderen Rückblick schrieb sie, die Aufgabe sei keine leichte und gehöre nicht zu den begehrenswerten, sie sah ihre Arbeit an den „Zöglingen“ aber als „Rettungsarbeit“ an, und hielt fest, ihr „Rettersinn“ sei durch ihre eigene „Rettung“ geweckt worden.86 Die religiöse Motivation, die „Zöglinge“ aus ihrem „sündhaften Dasein“ zu „retten“, scheint im Zentrum ihrer Erziehungsarbeit gestanden zu haben. In der Beerdigungsansprache wurde über sie gesagt, dass sie in der Anstalt eine „musterhafte Ordnung“ gehalten hatte, die „gelegentlich auch ihre Anerkennung bei den Behörden gefunden“ habe, und ihre Tüchtigkeit habe „ganz wesentlich“ dazu beigetragen, „dem Hause immer mehr das Vertrauen der Behörden und Einzelversorger zu erwerben“.87 Der Vorsteherin zur Seite standen am Anfang eine, seit 1895 zwei weitere Diakonissen, die beide über 25 Jahre im Heim arbeiteten.88 Neben den Vorsteherinnen wurden zusätzlich Gehilfinnen für die Auftragsarbeit in der Wäscherei, Weißnäherei und Schneiderei eingestellt, darunter immer wieder ehemalige „Zöglinge“. 84 85 86 87 88

Lebenslauf der ersten Diakonissin im Pilgerbrunnen. Archiv Diakonissenhaus Riehen. Rückblick nach 5 Jahren, vor der Einsegnung. Archiv Diakonissenhaus Riehen. Rückblick 25-Jahr Jubiläum. Archiv Diakonissenhaus Riehen. Beerdigungsansprache, S. 4 f. Archiv Diakonissenhaus Riehen. Vgl. Notizen über Entstehung & Betrieb des Vorasyls z. P.brunnen. EFZ Schachtel C.1. Heft 1; 65. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, S. 9; 38. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, S. 8 f.

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In den Statuten für die Vorsteherinnen aus dem Jahr 1889 ist das Arbeitsverhältnis genau geregelt. Neben Lohn, Ferien und Freizeit ist auch die Zusammenarbeit mit dem Komitee des Zürcher Frauenvereins festgelegt. Der Lohn ging an das Mutterhaus in Riehen.89 Die Arbeit im Erziehungsheim bedeutete kaum Freizeit und Privatsphäre, wohnten doch die Diakonissen im Heim und mussten lange Arbeitstage in Kauf nehmen.90 Durch die ein- bis zweimal wöchentlich stattfindenden Besuche eines Komiteemitgliedes war das Leben im „Asyl“ einer steten Kontrolle unterzogen. In den Bestimmungen über die Handhabe des Besuchsbuches ist vermerkt, dass das besuchende Mitglied „die Aufsicht über das Vorasyl zu halten“ und „sich über Alles zu erkundigen“ habe. 91 Die Hausmutter musste das Komitee in den gemeinsamen Sitzungen und bei den Besuchen der Komiteemitglieder im Heim über die Begebenheiten im „Asyl“ auf dem Laufenden halten.92 Die Entscheidungskompetenz lag allein beim Komitee: Entscheidungen darüber, wer Aufnahme im Heim fand, welche Gehilfinnen angestellt wurden und ob ein „Zögling“ bei schlechtem Betragen austreten musste oder nicht, war ebenso allein dem Komitee vorbehalten wie jene über Anschaffungen und Einkäufe.93 Auch der Umgang der Hausmutter und der Gehilfinnen mit den Pflegebefohlenen wurde genau vorgeschrieben. Die Statuten aus dem Jahr 1889, die noch für die bürgerlichen Vorsteherinnen verfasst worden waren, legten fest, dass die „Haus-‚Mutter‘“, wie ein Komiteemitglied die Heimleiterin bezeichnete,94 wie eine liebende Mutter zu den „Zöglingen“ sein sollte. Mit mütterlicher Liebe war eine Liebe gemeint, „die alles vergibt, aber auch mit ganzem Ernst alles richtet“95, eine „Liebe“, die “ermahnt, straft und tröstet“.96 Die Vorsteherinnen waren zudem aufgefordert, in allen Fällen 89 In den Verträgen zwischen dem Mutterhaus Riehen und dem Arbeitgeber war üblicherweise kein Lohn für die Diakonissen selbst vorgesehen, sondern allein für das Mutterhaus. Teilweise erhielten die Diakonissen aber auch einen eigenen Lohn von ihrem Arbeitgeber (vgl. Schär, Wunsch, 2008, S. 55 und 62 f.). 90 Vgl. für katholisches Ordenspersonal auch Ott, Geschichte, 2008, S. 53 – 59; Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt; Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen, 2013. 91 Berichte der Hausbesucherinnen, Bestimmungen. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 92 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 11. 1904 und vom 7. 5. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 93 Statuten für die Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §12. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1; Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 7. 7. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2; Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen 5. 1. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 94 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 24. 5. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 95 24. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 9. 96 20. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1908, S. 10.

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eine würdige Haltung einzunehmen und sich nicht auf ein Hin- und Herreden einzulassen. Zorn oder Ärger sei zu vermeiden, weil sie sich sonst auf das gleiche Niveau mit den Insassinnen begeben würden und ihnen Anlass gäben, sich als auf gleicher Höhe mit ihren Vorgesetzten anzusehen.97 Eine überlegene, distanzierte Haltung wurde auch dahin gehend als wünschenswert erachtet, weil die Leiterinnen keinerlei Anhänglichkeit zu einem oder mehreren „Zöglingen“ entwickeln sollten. Nicht der Mensch, sondern allein das Bild Gottes in jedem von ihnen sollte geliebt werden.98 Wie die aus denselben Gesellschaftsschichten stammenden Diakonissen effektiv mit den „Zöglingen“ umgingen, ob und inwieweit sie diese Anweisungen befolgten, ist aufgrund der einseitigen Quellenlage nicht auszumachen. Eine Untersuchung zu Luzerner Kinder- und Jugendheimen hat aufgrund von Interviews mit ehemaligen Heimkindern aufgezeigt, dass die individuellen Unterschiede in der Verhaltensweise der einzelnen Angestellten und Heimleiterinnen und -leiter gegenüber den „Zöglingen“ teilweise beträchtlich waren.99 Zudem wurden nicht alle Heimkinder gleich behandelt. Die Arbeit der Hausmutter und ihrer Gehilfinnen ist von den Komiteemitgliedern als mühevoll beschrieben worden. Die Tätigkeit der Hausmutter wird als „stünd­ liche[s] Ausharren auf dem schwierigen Posten“100 bezeichnet. Die Vereinsfrauen betonen denn auch immer wieder ihre Dankbarkeit für die „aufopfernde“ Tätigkeit der Leiterinnen für das „Asyl“, hing doch vieles von deren Arbeit mit den „Zöglingen“ ab. Die Abhängigkeit von der guten Mitarbeit der Vorsteherinnen wird besonders durch die großen Schwierigkeiten deutlich, denen die Vereinsfrauen bei der Suche nach einer geeigneten Hausmutter begegneten. Die Besuchsbücher und Sitzungsprotokolle zeigen, wie wichtig den Frauen des Komitees das Wohl der Vorsteherinnen war, indem sie sich bei den Besuchen nach deren Befinden erkundigten, ihnen zusätzliche Freitage und Ferien zugestanden, sie an Kurorte zur Erholung sandten oder zeitweilig im Heim bei der Arbeit mithalfen.101

97 Statuten für die Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §5. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 98 Statuten für die Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §6. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 99 Vgl. Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012. Das zur Zeit laufende Forschungsprojekt „Akermann, Schlussbericht“ untersucht diese Thematik ebenfalls. 100 19. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1907, S. 9. 101 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 11. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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Herkunft, Alter und religiöse Zugehörigkeit der Zöglinge Die Nacherziehung in den Heimen der Sittlichkeitsvereine weist einen ausgeprägten Klassenbias auf. „[D]ie Hauskinder [werden] Angehörige der entblösstesten Klasse sein“, vermerkten die Vereinsfrauen bei der Gründung des Pilgerbrunnens.102 In den Quellen sind nur vereinzelt Angaben zur Herkunft der Insassinnen des Pilgerbrunnens vorhanden, die exakte Schichtverteilung lässt sich deshalb nicht mehr eruieren. Anhand der Angaben zu einzelnen Insassinnen drängt sich jedoch die Annahme auf, dass sie aus der Unterschicht und dem absteigenden unteren Bürgertum stammten, und auf diese war die Heimerziehung auch ausgerichtet. Aus ihren Erziehungsheimen Entlassene wurden bezeichnenderweise meistens als Dienstmädchen in „christliche Familien“ vermittelt. Die Stelle als Dienstmädchen wird als „Ort seiner Bestimmung“ beschrieben.103 Im Heim sollten die Frauen lernen, mit minimalen Mitteln auszukommen. Kleidung, Essen und Einrichtung des Hauses waren einfach. Den „Zöglingen“ wurde die Zubereitung von „einfache[r], aber nahrhafte[r] Kost“ beigebracht.104 Im Heim hatten die Insassinnen ihre „alten unbrauchbaren Kleider“105 – die in den Augen der Vereinsfrauen üblicherweise entweder zerfetzt oder zu luxuriös waren – sowie Schmucksachen abzugeben und eine einfache Haustracht zu tragen,106 die sie selbst anfertigen und wenn nötig flicken mussten.107 Die Frauen sollten lernen, mit einfachen Mitteln sauber und ihrem Stand entsprechend gekleidet zu sein. Auch bei der Einrichtung des „Asyls“ wurde jeder Luxus vermieden. Ein dem Pilgerbrunnen als Gabe überreichtes Ensemble von Tisch und Stühlen fand keine Verwendung, weil es „wohl in ein reichausstaffirtes Haus nicht aber in unser Asyl“ passe. Die Möbel wurden verkauft und an deren Stelle ein den „Erziehungsgrundsätzen“ entsprechendes Ensemble aus Holz angeschafft.108 Bei der Vergrößerung des „Asyls“ im Jahr 1909 wurde „unnöthiger Luxus vermieden, eingedenk des Zweckes der Anstalt“, nur die „erlaubten Erleichterungen“ wurden eingeführt.109 102 1. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1889, S. 11. 103 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 11. 104 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 12. Die Ernährungsweise der Unterschicht wird in den Jahresberichten stark angeprangert (etwa 12. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1900, S. 6). 105 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 10. 106 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §11. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 107 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 10 und 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 16. 108 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 10. 1900 und vom 16. 1. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 109 Vortrag zu der kl. Einweihungsfeier des neugebauten Asyles Pbrunnen, im Februar 1910. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1.

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Insassinnen höherer Schichten sind mir nur in den Durchgangsheimen der Sittlichkeitsvereine begegnet, und auch dort selten. Das Basler Zufluchtshaus diente gar explizit als zeitweiliger Zufluchtsort für „in Not geratene weibliche Personen jeden Standes und jeden Alters zu zeitweiligem Aufenthalt“.110 Der Grundsatz im Zufluchtshaus lautete, „jede notleidende Frau & jedes Kind aufzunehmen“.111 1904 etwa kam ein mittelloses Mädchen aus begütertem Haus ins Zufluchtshaus, das sich wegen einer Heirat mit dem Vater zerstritt und von zu Hause davonlief.112 1913 vermerkte der Basler Frauenverein zudem, Frauen aus besseren Verhältnissen oder Erholungs­ bedürftige hätten seit dem Umzug in ein neues Haus ein „eigenes kleines Stübchen“.113 Das weitläufige Haus ermögliche es, die „Zöglinge“ „nach Alter und Art ihrer Not zu trennen“.114 Bei den mir begegneten Fällen von Frauen höherer Stände – wobei jeweils nicht klar wird, aus welcher höheren Schicht sie genau stammten – handelte es sich aber nicht um Prostituierte, ledige Mütter oder Schwangere, sondern jeweils um sittlich „unbescholtene“ Personen, die wegen einer Notsituation vorübergehend in den Zufluchtshäusern Unterschlupf fanden. Wie lange diese dort blieben und wie sie behandelt wurden, geht aus den Quellen nicht näher hervor. Solche „Zöglinge“ aus begütertem Elternhaus sind mir hingegen bei den Erziehungsheimen, in denen die jungen Frauen für zwei bis drei Jahre zur Nacherziehung interniert waren, nicht begegnet. Das Alter der Insassinnen im Pilgerbrunnen variierte in den ersten Jahren des Bestehens des Pilgerbrunnens stark. So war die Jüngste 12, die Älteste 52 Jahre alt.115 Die meisten Zöglinge waren unter oder knapp über zwanzig. Spätestens seit 1900 existierte eine Altersbegrenzung: Die Insassinnen hatten zwischen 14 und 30 Jahre alt zu sein.116 Zwischen 1900 und 1905 waren dabei drei Viertel bei ihrem Eintritt unter zwanzig Jahren, also noch minderjährig.117 110 Statuten des Zufluchtshauses für bedrängte Frauenspersonen, Holeestrasse 119. Undatiert. (ca. 1910.). StABS, PA 882, AA 1.1 a. 111 Basler Frauenverein an den hohen Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, 26. Dezember 1920. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 14. 112 3. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1904, S. 5. 113 12. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 4. 114 12. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 4. 115 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 13. 2. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2 (12 Jahre); 4. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1892, S. 7 (52 Jahre). 116 Schmid, Zürich, 1900, S. 204. 117 Das Alter der Zöglinge wurde vom Frauenverein nicht systematisch, sondern nur vereinzelt vermerkt. Zwischen 1900 und 1905 ist in den Protokollen folgende Altersverteilung zu sehen: ein „Zögling“ 12 Jahre alt, drei 14, drei 16, vier 17, einer 18, fünf 19, drei waren 21, zwei 22 und je einer 27 und 29 Jahre alt. Ab 20 Jahren war man volljährig (vgl. Eingabe des Zürch.

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Die „Zöglinge“ kamen aus verschiedenen Orten der Schweiz, ein Großteil aus deutschschweizerischen Kantonen, meist aus den Kantonen Zürich, Bern und BaselStadt, seltener aus der Westschweiz. Neben der überwiegenden Anzahl an Schweizerinnen gab es auch Deutsche, wenige Österreicherinnen, Französinnen, Italienerinnen und Liechtensteinerinnen. Der Konfession nach waren die meisten protestantisch, wenige katholisch. Im Prospekt des „Mädchenasyls“ ist vermerkt, dass in der Anstalt protestantische Seelsorge ausgeübt werde, auf Verlangen aber auch Katholikinnen aufgenommen würden.118

Einweisungsgründe Im Pilgerbrunnen fanden „in sittlicher Gefahr stehende“ und „bereits gefallene Mädchen“ Aufnahme.119 „[D]ie meisten der Zöglinge“, so wurde in einer Rede am Einweihungsfest des erweiterten und renovierten Asyls im Februar 1910 den geladenen ­Gästen berichtet, seien der „schwerlastende[n] Sünde der Unsittlichkeit […] zum Opfer gefallen“.120 Oftmals hing in der Schweiz im untersuchten Zeitraum eine Einweisung in ein Erziehungsheim bei jungen Frauen mit einer Abweichung von der eng gesteckten sexuellen Norm zusammen, die als typisch weibliche Devianz galt; ein Umstand, der bis in die 1970er Jahre anhielt und auch in anderen Ländern beobachtet werden konnte.121 Wie eine Untersuchung für Deutschland zeigt, wurde noch 1966 bei 80 % der jungen Frauen sexuelle Auffälligkeit als Einweisungsgrund genannt.122 Die neu Eintretenden im Pilgerbrunnen wurden entsprechend von der Hausärztin neben

Frauenvereines zur Hebung der Sittlichkeit an den h. Regierungsrat, S. 6). Die Vereinsfrauen bezeichneten die Zöglinge als „Mädchen“, egal, ob sie minder- oder volljährig, 14 oder 30 Jahre alt waren. In der Anstalt Ottenbach, wo ältere Prostituierte untergebracht waren, wurden die „Zöglinge“ hingegen als Frauen bezeichnet. 118 Prospekt vom Mädchenasyl z. Pilgerbrunnen. EFZ, Schachtel C.1. Heft 3. 119 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 9. 120 Vortrag zu der kl. Einweihungsfeier des neugebauten Asyles Pbrunnen . EFZ, Schachtel C.1. Heft 1. 121 Für die Schweiz vgl. Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 109; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 192 – 199; Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 227 – 228. Für Deutschland vgl. Frings, Gehorsam, 2012, S. 46 und 402; Schmidt, Mädchen, 2002; Foitzik, Disziplinierung, 1997; Kohtz, Willen, 1999. Für Großbritannien vgl. Bartley, Prostitution, 2000; Mahood, Ärger, 1999; Mahood, Magdalenes, 1990. Für Kanada vgl. Sangster, Girls, 1996. Für Neuseeland vgl. Dalley, rules, 1993. Für Norwegen vgl. Astri, Gender, 2002. Für Irland vgl. Luddy, Pros­ titution, 2007; Luddy, Magdalen Asylums, 2008; Finnegan, Poverty, 1979. 122 Frings, Gehorsam, 2012, S. 402.

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einem generellen Gesundheitscheck auf etwaige Geschlechtskrankheiten untersucht und gleichzeitig ihre „Jungfräulichkeit“ überprüft.123 Als „Gefallen“ galt, wer vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einem oder mehreren Männern gehabt hatte. In den Komiteesitzungen der Sittlichkeitsvereine wurde teilweise mit Freude berichtet, wenn die medizinische Untersuchung bei einer neu eingetretenen Schutzbefohlenen ergeben hatte, dass sie noch nicht zu den „Gefallenen“ gezählt werden musste, sondern noch „Jungfrau“ war. In die Gruppe der „Gefallenen“ gehörten einmal die Frauen, die ihren Körper gegen Geld verkauft hatten. In den Heimen der Sittlichkeitsvereine waren aber lange nicht alle „Gefallenen“ Prostituierte, sie wurden jedoch als gefährdet erachtet, eines Tages im Sexmilieu zu landen. Zudem geriet ein „Zögling“, der vor- oder außerehelichen Sexualverkehr gehabt hatte, rasch in den Verdacht der Prostitution, auch wenn er sich selbst nicht als Prostituierte sah. Neben den vermeintlichen oder tatsächlichen Prostituierten wurden zudem beispielsweise ledige Mütter oder im Konkubinat lebende Frauen als „Gefallene“ bezeichnet. Dieser „sittliche Fall“ galt als Vorstufe zur Prostitution. Es spielte dabei keine Rolle, ob der außereheliche Sexualkontakt mit oder ohne Einverständnis der „Gefallenen“ stattgefunden hatte. Ein Dienstmädchen, das von seinem Dienstherrn oder dessen Sohn, von seinem eigenen Vater oder Bruder sexuell missbraucht worden war, konnte ebenso als nacherziehungsbedürftig gelten wie eine Kellnerin, die mit ihrem Geliebten eine außereheliche sexuelle Beziehung pflegte. Ella Kramer (fiktiver Name), die laut Berichten der Polizei angeblich „in romanhaftem Verhältnis zu einem russischen Studenten“ stand,124 kam ebenso in den Pilgerbrunnen wie Jolanda Prediger, die von zwei Polizisten „zur Unsittlichkeit“ benutzt worden war,125 oder ein anderer „Zögling“, der „Opfer eines unsittlichen Bruders geworden“ war.126 Wenn sich die Sittlichkeitsvereine auch dezidiert für die Bestrafung von Sexualstraftätern einsetzten, in poli­tischen Eingaben strengere Gesetze forderten und mit den jungen Frauen vor Gericht gingen, so waren sie dennoch der Ansicht, dass ein Opfer einer Vergewaltigung – der zeitgenössische Begriff dafür war „Notzucht“127 – einer sittlichen Nach­erziehung bedürfen konnte. Hinter dieser Auffassung steckt die von ihnen vertretene Ansicht, eine 123 Der schlechte Gesundheitszustand vieler „Zöglinge“ führte dazu, dass seit 1904 beim Eintritt ein ärztliches Zeugnis mitgebracht werden musste. Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 10. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 124 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 2. 11. 1889. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 125 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 27. 8. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 126 9. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1897, S. 12. 127 Künzel, Unzucht, 2003, S. 9. Vgl. auch Protokoll des Dachverbandes vom 15. November 1907. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1.

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­ ergewaltigung sei nicht nur ein tiefer und prägender Schock für das Opfer, sondern V sie vergifte oft auch die bislang reine Gedankenwelt der Mädchen und errege in vielen Fällen die Sinnlichkeit der Vergewaltigten 128 – eine Auffassung, die auch in Wissenschaftskreisen vertreten wurde.129 Dadurch wurden manche der Vergewaltigten – denen teilweise eine Mitschuld an der Vergewaltigung attestiert wurde –130 zu einer „sittlichen Gefahr“ für die Gesellschaft und entsprechend nacherziehungsbedürftig. Die Erfahrung aus der vereinsinternen Fürsorgearbeit, dass viele Prostituierte als Kind oder Jugendliche sexuell missbraucht wurden, schien ihre Theorie zu bestätigen. In einem Aufruf schrieb der Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit zur Vergewaltigung: „Diese Sünde sollte mit den härtesten Strafen belegt werden, denn sie ist viel ärger als irgend ein Diebstahl, ja wir möchten sagen, schlimmer als Mord. Ein Kind missbrauchen, das ist eigentlich das scheusslichste Verbrechen, das man begehen kann. Man weiss nicht, was die Folgen sind. Sehr oft ist ein solches Mädchen in seinem moralischen Empfinden und auch an seinem Körper ruiniert für’s ganze Leben. Die schlimmsten Triebe sind in ihm wach geworden und kommen nicht mehr zur Ruhe. Das ist der Ursprung vieler gemeiner Dirnen, die dann wieder darauf aus gehen, Männer anzulocken und zu verführen.“131 Eine sittliche Nacherziehung in einem Heim vermochte in dieser Argumentation die angeblich geweckten sexuellen Triebe zurückzubinden. Neben den „Gefallenen“ wurden im Pilgerbrunnen auch junge Frauen aufgenommen, die als „sittlich gefährdet“ galten, die also in Gefahr schienen, eines Tages zu „fallen“. Frauen galten als „sittlich gefährdet“, wenn sie sich entgegen den herrschenden bürgerlichen Normen und eng gesteckten Moralvorstellungen verhielten oder wenn ihre Lebensumstände als gefährdend galten, etwa durch Obdachlosigkeit. Die Vorstellung von „sexueller Verwahrlosung“ bei jungen Frauen war eng mit dem Konzept von „Triebhaftigkeit“, „Hemmungslosigkeit“ und „Willensschwäche“ verknüpft.132 Bereits das „Herumtreiben“ auf der Straße oder an T ­ anzveranstaltungen 128 An das Eidgenössische Justizdepartement zu Handen der Kommission zur Vorbereitung eines Schweizerischen Strafgesetzbuches. S. 3. Gosteliarchiv, SEF, A 25:2, Dossier „Eingaben Schweiz. Strafgesetzbuch 1908 – 1915.“ 129 Auch der bekannte Schweizer Professor für Pädagogik und Psychologie an der Universität Basel, Paul Häberlin, eine Koryphäe seines Faches, vertrat die Ansicht, der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wecke bei diesen den Sexualtrieb vorzeitig. Im Bezug auf homosexuellen Missbrauch bestehe zudem die Gefahr, dass der betroffene Knabe sich selbst zum Homosexuellen entwickle (diesen Hinweis zu Paul Häberlin habe ich von Sara Galle erhalten. Vgl. Kapitel 2 der Dissertation von Sara Galle, Bekämpfung, Voraussichtliches Erscheinungsjahr: 2014.). 130 Vgl. Frings, Gehorsam, 2012, S. 505; Lützke, Erziehung, 2002, S. 211 – 214. 131 Liebe Frauen und Mütter! undatiert, S. 5 f. StABS, PA 882, B 2.2 c. 132 vgl. hierzu Kohtz, Willen, 1999, S. 172 f.

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und das Vernachlässigen von Haushalt und Geschwistern galt als unweiblich, weil es auf einen angeblichen Mangel an Häuslichkeit hinwies und einen scheinbar ungezügelten sexuellen Drang offenbarte – beides Abweichungen vom propagierten Ideal der sittenreinen und häuslichen Frau.133 Die bürgerlichen Geschlechterrollen forderten von den Frauen ein Hausfrauen- und Mutterdasein, wie es in der Realität aufgrund der tiefen Löhne jedoch kaum umsetzbar war. Auch wer rauchte und Alkohol trank, sich mit Schminke, Kleidern und Schmuck herausputzte oder keiner regelmäßigen Arbeit nachging, lief Gefahr, als „sexuell verwahrlost“ zu gelten. Auch Diebstahl wurde in die Nähe von sexueller Normabweichung gestellt. Der Kauf von Naschereien und Putzzeug oder die Verwendung des Geldes für Vergnügungen wie Tanz wurde als „sinnliche Neigung“ interpretiert, die zu „sittlicher Verwahrlosung“ führen könne.134 Insgesamt also galten beispielsweise „Trunksucht“, „Vagabundismus“, „Diebstahl“, „Ungezogenheit“, „Arbeitsfaulheit“, „Mannssucht“, „Leichtsinn“, „Liederlichkeit“, „Verwahrlosung“, häufiger Stellenwechsel oder der häufige Besuch von Tanzveranstaltungen als Einweisungsgründe. Als Gründe für die Einweisung wurde auch seitens Verwandter der in den Pilgerbrunnen Eingewiesenen der Kontrollverlust der Eltern, Prostitution, zu freie und ungebundene Lebensführung oder sexuelle Freizügigkeit genannt. Exakte statistische Angaben zu den Einweisungsgründen lassen die überlieferten Quellen zum Pilgerbrunnen aber nicht zu. Oft sind in den überlieferten Quellen des Pilgerbrunnens mehrere Gründe aufgelistet, warum eine junge Frau eingewiesen wurde. Emma Kirchner beispielsweise wurde zur Aufnahme im Pilgerbrunnen empfohlen, weil sie „leichtsinnig, oberflächlich u arbeitsscheu“ sei.135 Über die Fabrikarbeiterin Michaela Tischler erfuhren die Vereinsfrauen, dass sie „leichtfertig & mannssüchtig ist[,] zwar bei den Eltern wohnt, sich aber nicht ihnen unterordnet“, und entschlossen sich aufgrund dieser Auskünfte zur Aufnahme von Michaela Tischler.136 Bei einer anderen wird als Einweisungsgrund genannt, sie sei „jung, stark und frisch, für alle Lustbarkeit offen, sich dieser immer mehr hingebend, so dass weder elterliche Ermahnung noch Strenge das Mädchen abends zu Hause halten konnte“.137 Die verwendeten Begrifflichkeiten zur Charakterisierung und Kategorisierung der jungen Frauen waren oft vage und unscharf definiert; beispielsweise „liederlich“, 133 Schmidt, Mädchen, 2002, S. 198. 134 Vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 198. 135 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 16. 11. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 136 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 13. 2. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 137 25. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 9.

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„arbeitsscheu“, „verwahrlost“ oder „mannstoll“. Entsprechend konnten sie mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden und eröffneten den Fürsorgeinstanzen einen großen Handlungsspielraum in der Frage, wer als nacherziehungsbedürftig zu gelten hatte. Ferner enthalten sie eine hohe „paraphrastische Kapazität“, indem in ihnen eine ganze Botschaft zusammengefasst werden konnte.138 Durch ihre Elastizität konnten sie immer wieder mit neuen Inhalten gefüllt werden und über Jahrzehnte in Gebrauch bleiben, angepasst an neue Zeitumstände. In der Forschung zur Schweizer Jugendfürsorge wird dem „Verwahrlosungsbegriff “139 teilweise eine zentrale Bedeutung für die Kinder- und Jugendfürsorge beigemessen, dem der Status eines wissenschaftlichen Oberbegriffs und eines Scharniers zwischen den beteiligten Akteuren zugesprochen wird.140 Dies soll hier keinesfalls in Abrede gestellt, aber insofern relativiert werden, als dem Begriff nicht jene Dominanz zufiel, die dieser Status vermuten ließe. Sara Galle hält in ihrer Untersuchung zu den Jenischen in der Schweiz fest, dass der Verwahrlosungsbegriff in den Begründungen der vormundschaftlichen Maßnahmen gegenüber jenischen Kindern eine untergeordnete Rolle spielte und auch in den psychiatrischen Gutachten kaum vorkam. 141 Außerdem wurde er fast ausschließlich in Kombination mit anderen Begründungen verwendet. Auch in meinem Untersuchungsmaterial wird der Verwahrlosungsbegriff zwar verwendet, jedoch steht er neben anderen, weit häufiger auftauchenden Begrifflichkeiten, wie etwa „liederlich“, „leichtsinnig“, „gefährdet“, „gefallen“ oder „moralisch verkommen“.142 Ob diese Beobachtung auch für den Fachdiskurs über Heimerziehung weiblicher Jugendlicher zutrifft, in welchem mir der Verwahrlosungsbegriff eine weit bedeutendere Rolle zu spielen scheint, müsste noch überprüft werden. 138 Vgl. Link, Kollektivsymbolik, 1982, S. 6. 139 Wie der Begriff der „Liederlichkeit“ war auch der „Verwahrlosungsbegriff “ ein offener und unscharf formulierter Begriff, der quasi beliebig mit Inhalt gefüllt werden konnte. Nach Detlef Peukert, der die Fürsorge für männliche Jugendliche in Deutschland untersucht hat, bezeichnet „Verwahrlosung“ „die relative Stellung und Beurteilung von Personen mit abweichendem Sozialverhalten aus einer kategorischen Sichtweise heraus, die sich an den herrschenden gesellschaftlichen Normen der Zeit orientiert“ (vgl. Peukert, Grenzen, 1986, S. 151 – 162. Zit. nach Peukert, Grenzen, 1986, S. 152). Die zeitgenössischen Autoren, die sich um eine Begriffsdefinition bemühten, deduzierten „in der Regel aus einem unhinterfragten Begriff von Normalität nur Symptombündel von Abweichungen […], die die behördlich erfassten ‚Fälle‘ begreifbar und behandelbar machen sollten.“ (Peukert, Grenzen, 1986, S. 157. Zum „Verwahrlosungsbegriff “ vgl. auch Crew, Elternschaft, 1992, S. 271. Zudem Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 205 f.). 140 Vgl. etwa Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000; Wilhelm, Rationalisierung, 2005. 141 Vgl. Kapitel 5 und Kapitel 7 der Dissertation von Sara Galle, Bekämpfung, Voraussichtliches Erscheinungsjahr: 2014. 142 Auch bei den Fremdplatzierungen von Kindern in Familien taucht in ländlichen Gebieten der Begriff „Verwahrlosung“ kaum auf (Leuenberger, Behörde, 2011.).

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Die Dirne und die Bürgerin oder die Konstruktion der Gefallenen Die Sittlichkeitsvereine vermitteln in ihren Schriften ein stark stereotypisiertes Bild der „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Unterschichtfrauen und ihres Herkunftsmilieus, das sie mit zahlreichen Zeitgenossen teilten. In den meisten zeitgenössischen Quellen erscheint die Prostituierte – wie die potenzielle Prostituierte auch – als Konstrukt jener, die über sie diskutieren und sie beobachten, die sie ändern, retten, heilen oder als Sexobjekt kommerzialisieren wollen.143 Im bürgerlichen Kreis sprachen die Mitglieder der Sittlichkeitsvereine emsig über die von ihnen Betreuten aus den unteren Schichten, legten Akten über sie an und zeichneten dabei ein Bild dieser Frauen. Das vermittelte Bild offenbart dabei mindestens genauso viel über die bürgerliche Gesellschaft und deren Bedrohungsängste wie über die dargestellten Frauen selbst.144 Mit Vorliebe stellten die Sittlichkeitsvereine in ihren Schriften die „Dirne“ der Bürgerin gegenüber und verglichen und analysierten das Gespann. 1916 finden sich zwei fiktive Biografien zweier junger Frauen im Jahresbericht des Zürcher Mädchenheims zum Tannenhof, einem Heim der Zürcher Sittlichkeitsbewegung.145 Die Erste erzählt die Geschichte eines jungen, „auffallend hübschen“ Mädchens aus dem Arbeiter­milieu, das sich ausserehelichem Geschlechtsverkehr hingibt und schließlich als Prostituierte endet, das in anderen Worten also eine klassische „Karriere“ eines weiblichen Heimzöglings aufwies. Die Zweite handelt von einer behüteten, sittsamen Tochter wohlhabender Eltern, die sich glücklich verheiratet. Die Geschichte der Tochter aus der Unterschicht konstruiert die Erzählerin – die Vorsitzende der Heimkommission des Tannenhofes, die selbst in „günstigen Lebensbedingungen aufgewachsen“146 ist, – aus Gehörtem, aus ihren Erfahrungen in der Fürsorgearbeit, ihren Besuchen des Tannenhofes und den Berichten Dritter. Die Geschichte der wohlhabenden Tochter hingegen kann sie aus eigenem Erleben erzählen. Die Biografien spiegeln den bürgerlichen Blick einer Schreiberin auf die sexuell normabweichende Frau aus der Unterschicht sowie auf die Ursachen für die „sittliche Gefährdung“ und den sittlichen „Fall“ wider; sie verweisen überdies darauf, wie in den Augen der Sittlichkeitsvereine ein solches „Straucheln“ verhindert werden konnte und welche fürsorgerischen und erzieherischen Maßnahmen die Vereine im Kampf gegen die „sittliche Verwahrlosung“ der Unterschicht propagierten. Für die Sittlichkeitsvereine waren es verschiedene Ursachen, die eine „sittliche Gefährdung“ bewirkten und schließlich zu einem „sittlichen Fall“ führten. Ihre Fürsorge- und Erziehungsarbeit zielte entsprechend darauf, diese Ursachen zu beheben. 143 Luddy, Prostitution, 2007, S. 8. 144 Luddy, Prostitution, 2007, S. 8. 145 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 1 – 5. 146 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 5.

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Das Arbeitermädchen Die Erzählung über das Leben der jungen Frau aus dem Arbeitermilieu beginnt Jahre vor ihrer Geburt in der Generation ihrer Großeltern. Die Schreiberin führt uns in eine ärmliche Mansardenwohnung inmitten eines Arbeiterviertels. Darin wohnt eine siebenköpfige Familie. Die älteste Tochter des Hauses und zukünftige Mutter des in der Erzählung im Zentrum stehenden „Arbeitermädchens“ arbeitet seit ihrem 14. Lebensjahr in einer Couvert-Fabrik und muss allen Verdienst nach Hause tragen, um zum Überleben der Familie beizutragen. Von Geldsparen – geschweige denn von eigenem Sackgeld – kann keine Rede sein. Sie lernt einen Maurer kennen, der ebenfalls ohne Erspartes im Leben steht. Die beiden heiraten und kaufen Möbel auf Kredit. Der kleine Lohn des Mannes macht es notwendig, dass die Frau weiterhin in der Fabrik arbeitet. Der Haushalt macht der jungen Frau „keine besondere Freude […], denn sie hat zu Hause weder kochen, noch waschen, noch nähen gelernt, sie war vom ersten Tage an, als sie aus der Schule entlassen wurde, in der Fabrik.“147 Das erste Kind lässt nicht lange auf sich warten, es folgen zwei weitere. Die Not ist groß, das älteste Kind müssen sie aus finanziellen Gründen zeitweilig verkostgelden. Die arbeitenden Eltern haben wegen langer Arbeitstage wenig Zeit für die Kinder, die Krippe ist überfüllt und bietet keine Entlastung. „Die Kinder werden notdürftig versorgt, doch meistens sind sie allein und von sorgfältiger Erziehung kann gar nicht die Rede sein.“148 Die älteste Tochter, das „Arbeitermädchen“, ist „lebhaft und auffallend hübsch, eine gute Schülerin, das für seine Lehrer und Lehrerinnen schwärmt und sich jeden Morgen auf seine Schule freut, in der es ganz lebt und aufgeht. Gerade im gefährlichsten Alter hört aber dieses Schulleben auf und mit dem letzten Schultag fängt etwas ganz neues an: das Erwerbsleben mit seinen Gefahren und mit seiner für ein so unfertiges, junges Mädchen zu grossen Freiheit und Selbständigkeit. Zu Hause aber hält kein glückliches Familienleben das Gleichgewicht.“149 Mit 14 Jahren fängt die älteste Tochter gegen einen kümmerlichen Lohn als Ladentochter in einem Warenhaus an. „Schon nach wenig Wochen kennen wir es kaum mehr; die Haare sind modern frisiert, die ganze Kleidung ist, wenn auch ärmlich, doch möglichst ‚chic‘, der Ausdruck des Gesichtes wird gefallsüchtig.“150 Die Mutter merkt von all dem kaum etwas, denn sie sieht die Tochter wegen der langen Arbeitstage selten. Ein solch hübsches Mädchen bleibt nicht lange vom anderen Geschlecht unentdeckt: Ein neu eingezogener Nachbarsjunge bemerkt sie, fängt ein harmloses Gespräch mit ihr an, schreibt ihr Kartengrüße. Was „harmlos“ anfängt, entwickelt sich bald zu einer Liebes­beziehung. Der junge Mann beteuert ihr seine Liebe und Treue. Es 147 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 2. 148 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 2. 149 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 2 f. 150 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 3.

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kommt zum ersten Geschlechtsverkehr. Dies alles bleibt ganz unbemerkt von ihren Eltern. „Bald sehen sich die jungen Leute jeden Tag, er besucht sie abends, wenn die Mutter bis um 10 Uhr an der Arbeit ist und der Vater sorglos mit seinen Kameraden im Wirtshaus sitzt. Sonntags gehen sie zusammen spazieren und das Verhältnis wird ein unerlaubtes, ohne dass die Eltern eine Ahnung davon haben.“151 Zwar bemerkt der Seelsorger eine Veränderung am jungen Mädchen und spricht mit den Eltern, diese zeigen sich zwar besorgt, bestreiten aber, etwas daran ändern zu können. „So lebt das Mädchen sein eigenes Leben.“152 Der Nachbarsjunge, „der ihr Liebe und Treue vorgab“, verschwindet eines Tages so plötzlich, wie er aufgetaucht ist. Es bleibt nicht beim einzigen Verhältnis. Die Geschichte endet schließlich im „Strassensumpf “. Das junge Mädchen „sinkt immer tiefer, arbeitet nicht mehr, mietet ein eigenes Zimmer und wird eine Strassendirne, die von der Polizei aufgegriffen, schliesslich im Gefängnis oder Spital endigt“.153 Die Erzählung ist eine melodramatisch anmutende Darstellung eines jungen Lebens, das im Elend und in der Krankheit endet. Mit dem Melodrama bedienten sich die Sittlichkeitsvereine einer gängigen Erzählform im Zusammenhang mit Pros­titution,154 mit deren Hilfe in düsteren Worten der Werde- und Niedergang einer „Dirne“ dargelegt wird. Die fiktive Biografie bedient auf dichtem Raum einige zentrale Ansichten und Überzeugungen der Sittlichkeitsvereine über die „Dirne“ und die Ursachen für ihren „sittlichen Fall“. Prostitution galt eindeutig als Unterschichtphänomen. Die „mangelhafte“ Erziehung und Aufsicht der Töchter im Unterschichtenmilieu führte in den Augen der Sittlichkeitsvereine dazu, dass Mädchen und junge Frauen „gefährdet, verführt und der Sinneslust fröhnend“ zu Prostituierten zu werden drohten.155 Mit dem raschen gesellschaftlichen Wandel des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde die Auflösung der Familienstrukturen der Unterschichten in Verbindung gebracht. Viele Jugendliche wanderten nach der Schulzeit vom Land in die Stadt auf der Suche nach Arbeit. Zudem mussten Mütter aus der Unterschicht vermehrt einer außerhäuslichen Tätigkeit nachgehen und ihre Kinder waren tagsüber aus Mangel an Krippenplätzen ohne Betreuung. Die fehlende Aufsicht machte die Jugend nach Ansicht der Sittlichkeitsvereine anfällig für die zahlreichen „Verlockungen“ der Großstadt, was zu einer zunehmenden „Verwahrlosung“ und „sittlichen Gefährdung“ von Jugendlichen führe. Der wachsenden Anzahl junger Frauen, die in die entstehenden Großstädte 151 152 153 154 155

3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 3. 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 3. 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 3. Vgl. die Untersuchung von Sabelus, Sklavin, 2009. Zit. nach 15. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1918, S. 1.

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­abwanderte, wollten die Sittlichkeitsvereine eine Infrastruktur bieten, die den vormaligen Schutz der Familie ersetzte. Dem Verlust an Kontrolle sollte durch bessere Aufsicht der Jugendlichen bei Arbeit und Freizeit Einhalt geboten werden.156 Die mobilen jungen Frauen schienen nur dann vor den ungewohnten „Gefahren“ der Großstadt sicher, wenn ihnen ein moralisch einwandfreier Familienersatz geboten wurde. Zentrales Moment der fiktiven Biografie ist denn auch, dass die Mutter mitverdienen und die Kinderbetreuung vernachlässigen muss. Für die in der Deutschschweiz agierenden Sittlichkeitsvereine bedeutete dies eine klare Abweichung vom bürger­ lichen Familienideal. Dieser „Zerfall der Familie“ wies ihrer Meinung nach den Weg in die „Unsittlichkeit“ und schließlich in die Prostitution. Bezeichnenderweise taucht der Begriff „Familie“ im Text über die junge Arbeiterfrau nie auf, ganz im Gegensatz zur fiktiven Biografie über die bürgerliche Tochter, wo das Familienidyll zentraler Moment der Erzählung ist, wie wir noch sehen werden. Auch die haushälterischen Defizite der Mutter werden in der Biografie erwähnt. Die Sittlichkeitsvereine sahen darin eine der Ursachen des „sittlichen Falls“, wiesen sie doch auf eine „mangelhafte“ Erziehung und eine „Verwahrlosung“ der Unterschichtjugend. So schrieb der Basler Frauenverein 1914: „Tausendfaches häusliches Elend kommt von der Unfähigkeit unserer Frauen, richtig hauszuhalten. Aus einem wohlgeordneten Hauswesen werden in den seltensten Fällen Dirnen oder arbeitsscheue Burschen hervorgehen; der Einfluss der Mutter ist in den meisten Fällen durchschlagend.“157 Entsprechend setzten sie sich dezidiert für die hauswirtschaftliche Ausbildung der jungen Frauen ein, die in der Armutsbekämpfung generell eine Schlüsselposition einnahm.158 Aber auch die Wirtshausbesuche des Vaters werden erwähnt, welche die mangelnde Aufsicht der Kinder durch die häufige Abwesenheit des Vaters verstärkten. Wenn die Erzählung auch keinerlei solcher Aussagen macht, schimmert doch eine Anspielung auf einen Hang zum Alkohol und zum verschwenderischen Ausgeben des bescheidenen Lohnes hindurch. Sowohl die haushälterischen Defizite der Mutter als auch der Hang des Vaters zum Alkohol und zur Verschwendung waren verbreitete Stereotype über das Unterschichtmilieu und galten als Armutsursachen. Ein wichtiger Topos in der Biografie des „Arbeitermädchens“, der sich zu einem verbreiteten Stereotyp verfestigt hatte, ist auch die „faule“ und „putzsüchtige“ Pros­ tituierte, die sich aufgrund von „Arbeitsscheu“ und Drang nach schönen Kleidern und Schmuck prostituierte. So schrieb etwa der Basler Frauenverein, das „Lasterleben“ werde den Prostituierten „so leicht gemacht! Keine anstrengende Arbeit, viel Vergnügungen, reichliche Geldmittel, scheinbare Freiheit; nach all dem brauchen sie nur die 156 Peukert, Grenzen, 1986, S. 310; Schmidt, Mädchen, 2002, S. 193. 157 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 19. 158 Sutter, Armenpflege, 2011, S. 227.

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Hand auszustrecken; das Ende dieser Laufbahn aber in Krankheit und Verzweiflung ist ihnen verborgen, und doch enden Alle ohne Ausnahme im Elend, wenn sie nicht umkehren.“159 Den Sittlichkeitsvereinen galt Müßiggang als „aller Laster Anfang“.160 Die „Untüchtigkeit zur Arbeit“ galt ihnen als eine Hauptursache für den Weg in die Prostitution,161 den „Dirnen“ haftete der Ruf an, „oft arbeitsscheues Gesindel“ zu sein.162 Von den Heiminsassinnen wird in den Jahresberichten der Sittlichkeitsvereine zudem geschrieben, dass kaum eine „einfach gekleidet“ ins Heim käme,163 auch wird ihnen ein „Hang zur Eitelkeit und Vergnügungssucht“ nachgesagt.164 Nicht selten käme die Hausmutter in „Begleitung von weissbeschuhten und stark parfümierten Mädchen“ vom Tram zurück, wo sie neu Eintretende abholte.165 In der fiktiven Biografie endet die Geschichte im Straßensumpf. Ein Entrinnen aus eigener Kraft scheint unmöglich. Hierfür war die Hilfe des Mädchenheims Tannenhof nötig, wie den Leserinnen und Lesern des Jahresberichts dargelegt wird. Dass Frauen sich in den meisten Fällen nur vorübergehend prostituierten und auch ohne Hilfe von Fürsorgestellen nicht im Gewerbe hängen blieben, wird in den Schriften der Sittlichkeitsvereine ausgeblendet. Auch die Armut wird in der fiktiven Biografie als Ursache der Prostitution thema­ tisiert. Die Biografie verdeutlicht die finanzielle Not und die schwierigen Lebensumstände des Proletariats. Die Schreiberin verweist auf die langen Arbeitszeiten der Arbeiterfamilien, die niedrigen Löhne und die daraus resultierende finanzielle Notwendigkeit, dass alle Familienmitglieder mitverdienten – eine Lebensrealität, die weite Teile der Bevölkerung betraf. Die Sittlichkeitsvereine (an)erkannten die Armut als eine der Wurzeln der Prostitution. Wie mir scheint, gewann dieses Deutungsmuster in ihrem Diskurs besonders nach der Jahrhundertwende an Gewicht. Die Sittlichkeitsvereine beschrieben die „äussere und innere Verwahrlosung“ der Unterschichten als eine Folge der Armut und der „Entbehrungen“.166 Sie erkannten, dass die „karge Entlöhnung“ der Frauen diese auf die Straße trieb.167 Prostitution sei, so schrieb der Zürcher Männerverein 1913 in prägnanten Worten, „sehr oft eine Folge sozialer Not“, denn es seien „vorwiegend die Töchter des ärmeren Volkes, die ihr zum Opfer fallen“ 159 6. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1907, S. 9. 160 21. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1921, S. 3. 161 Eingabe des Zürch. Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit an den h. Regierungsrat, 1892, S. 16. ZBZ, DDN 1076. 162 So schrieb es der Zürcherische Männerverein in seinem Initiativbegehren von 1895. Zit. nach Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 83. 163 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 10. 164 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 13. 165 5. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, Januar 1917–Dezember 1918, S. 4. 166 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 1. 167 50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 40.

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würden. Oft würden sie dem „Laster direkt aus Not [verfallen], oft freilich auch aus Genusssucht, Leichtsinn, Eitelkeit, aber diese sind fast immer Folge einer schlechten Erziehung, an der soziale Missstände mitschuldig sind. Zum Versinken in die Prostitution führt dann doch die soziale Lage; denn die genusssüchtigen, leichtsinnigen und eitlen Töchter, die sich in den bessergestellten Ständen finden, ergeben sich nur selten der Prostitution.“168 Unter den genannten sozialen Missständen subsumierte der Männerverein die Klassenunterschiede, die niedrigen Frauenlöhne, Arbeitslosigkeit, die Wohnungsnot in den Städten, Alkoholismus, „sittlich gefährdende“ Frauen­berufe sowie die Verführung zum „Laster“ durch „unsittliche“ Literatur, Kunst und Freizeitvergnügen. Die Sittlichkeitsvereine setzten sich denn auch für soziale Reformen zur Verbesserung der Lebenslage der Arbeiterinnen und deren Familien ein. Ihr diesbezügliches Engagement zielte dabei aber nur in beschränktem Maße auf die soziale „Hebung“ der Unterschicht, wie ich gezeigt habe.169 Dadurch negierten sie zwar beileibe nicht, marginalisierten in ihren konkreten politischen und fürsorgerischen Aktivitäten aber die Armut als wichtigste Wurzel der Prostitution. Eine der Eigenschaften von Melodramen, wie sie die Sittlichkeitsvereine in ihren Schriften bezüglich der Prostituierten wortgewandt inszenierten, ist denn auch das Marginalisieren der ökonomischen und sozialen Ursachen der Prostitution.170 Eine zentrale Ursache für die Prostitution sahen die Sittlichkeitsvereine auch in der Sexualmoral der Unterschichten, wie sie in der fiktiven Biografie thematisiert wird. Sexualität vor der Ehe war in der Arbeiterschaft weit verbreitet und üblicher als dies in bürgerlichen Schichten der Fall war.171 Vorehelicher Geschlechtsverkehr erregte keinen Anstoß, solange von der Frau gewisse Regeln beachtet wurden: Der Geschlechtsverkehr musste in einer festen Beziehung stattfinden, welche die Heirat zum Ziel hatte. Das Konkubinat war in diesen Kreisen anerkannt, ebenso aussereheliche Kinder, die nicht als Schande galten, sofern die Frau vom Kindsvater nicht verlassen wurde und das Kind aus einer „festen Beziehung“ stammte. Die vorehe­ liche Sexualität der Unterschichtfrauen verstanden die Sittlichkeitsvereine jedoch als Vorstufe der Prostitution. Die Schreiberin der fiktiven Biografie sah denn auch in der sexuellen Preisgabe des jungen Mädchens an ihre jeweiligen Freunde einen entscheidenden Schritt hin zum Leben als Prostituierte. Die Proletarierinnen hatten in den Augen der Sittlichkeitsvereine „wegen ihrer Anlage und Erziehung“ keine „Widerstandskraft“ und waren deshalb eine leichte Beute für Verführungskünste und böse Absichten von Männern – im Gegensatz zu 168 Die Prostitutionsfrage in der Schweiz, 1913, S. 100. 169 Vgl. Kap. 3.3. 170 Sabelus, Sklavin, 2009, S. 202. 171 Zur Sexualmoral der Unterschichten vgl. Eder, Kultur, 2002, S. 172 – 186; Lipp, Sexualität, 1986; Lipp, Innenseite, 1990.

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den bürgerlichen Töchtern.172 Besonders das Arbeitermilieu galt als unmoralisch und als unsittlicher Pfuhl, wo die jungen Mädchen und Frauen der Unzucht ausgeliefert schienen und der Weg in die Prostitution wie eine Kausalkette vorgezeichnet schien.173 Die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ weiblichen Jugendlichen galten entsprechend nicht nur als „Gefahr“ für die Gesellschaft, sie waren auch selbst durch die Gesellschaft „gefährdet“. Entsprechend mussten sie in den Heimen geschützt werden vor den negativen Einflüssen von außen und ihre Widerstandskraft musste gestärkt werden, gleichzeitig galt es, sie für die Gesellschaft „ungefährlich“ zu machen. Kein Thema war für die Schreiberin der fiktiven Biografie eine mögliche erbbiologische Disposition der jungen Arbeiterfrau zur Prostitution, ebenso wenig verwendete sie psychiatrische Erklärungsmuster. In den Anfängen der Sittlichkeitsbewegung spielten psychiatrische und eugenische Erklärungsmuster eine untergeordnete Rolle. Kurz nach der Jahrhundertwende änderte sich dies jedoch langsam. Die Sittlichkeitsvereine bezeichneten ihre Arbeit als „Fürsorge für moralisch und oft auch physisch oder geistig minderwertige Mädchen“.174 In ihrer Fürsorgearbeit sähen sie „die Zusammenhänge von vererblicher Belastung und elterlicher Vernachlässigung und Verantwortlichkeit“.175 Erbliche Belastung sahen sie als eine der Ursachen des mora­ lischen Zerfalls.176 In Aarau plante die dortige Sektion bereits 1909 die Gründung eines Heims für „erblich belastete, sittlich gefährdete, schulpflichtige Kinder“.177 Vereinzelte Stimmen vertraten bereits früh explizit eugenische Maßnahmen. Paul Pflüger etwa, Mitglied des Zürcher Männervereins zur Hebung der Sittlichkeit, setzte sich als Sozialdemokrat und Vorsteher des Armen- und Vormundschaftsamtes für die „Rassengesundung“ durch eugenische Maßnahmen ein, wie permanente Anstaltsversorgung, Ehefähigkeitszeugnisse und Sterilisation.178 Trotz Einfließens biologistischer und psychiatrischer Begrifflichkeiten blieben jedoch moralische Qualifikationen der Prostituierten im Untersuchungszeitraum in den Schriften der Sittlichkeitsvereine dominant.179 172 4. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1916–April 1917, S. 3 f. 173 Vgl. etwa 6. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1894, S. 14. 174 An den hohen Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, 2. September 1907. StABS, PA 882, C 4.1. 175 Jahresberichte der Sektion Graubünden des deutsch-schweizerischen Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit über die Zeit vom Januar 1914–Dezember 1916, S. 5. 176 3. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit,1904, S. 6. 177 Protokoll des Dachverbandes vom 17. November 1909. Gosteliarchiv, SEF, A 6:1. 178 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 173; Hürlimann, Kinder, 2000, S. 34 f.; Pflüger, Ziele, 1914, S. 10 und 14. 179 Eugenisches Gedankengut scheint sich seit den 1930er Jahren bei den Sittlichkeitsvereinen zunehmend etabliert zu haben. 1938 schrieb der Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit, in neuester Zeit sei sein Interesse auch auf die Rassenforschung und Eugenik gelenkt

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Mit ihrem stereotypen Bild der Prostituierten aus der Unterschicht schwiegen die Sittlichkeitsvereine die Prostituierte aus dem Bürgertum tot.180 Dieses Stereotyp war weit verbreitet und wurde etwa auch von der Sozialdemokratie bedient. Die Frauen höherer Schichten stellten die Sittlichkeitsvereine bezeichnenderweise als sittsam, rein und wohlbehütet dar, wie wir noch sehen werden. Die Möglichkeit eines außerehelichen sexuellen Kontaktes durch eine bürgerliche Tochter wurde von ihnen nicht thematisiert. Existierende Abweichungen von dieser bürgerlichen Norm bleiben in ihren Schriften unerwähnt – obwohl auch Frauen höherer Schichten als „zu scharf auf männliche Gesellschaft“ gelten konnten, Klassenzugehörigkeit also nicht davor schützte, als „leichtes Mädchen“ zu gelten,181 und obwohl auch bei Frauen der höheren Schichten aussereheliche Schwangerschaften oder Prostitution vorkamen.182 Mit dem Todschweigen von „Dirnen“ und „sittlich Gestrauchelten“ aus bürgerlichen Schichten verkam die Prostitution und die Unmoral rasch zu einem „Unterschichtenproblem“ und konnte von den Vereinen für die soziale Arbeit instrumentalisiert werden. Die bürgerliche Tochter Wie anders liest sich die fiktive Biografie zur Kindheit und Jugend der „bürgerlichen Tochter“. Die Erzählung beginnt und endet mit demselben Ereignis: mit der Heirat der jungen Frau mit einem „gut erzogenen jungen Mann in gesicherter Stellung“, aus der ein Leben an seiner Seite als „tüchtige Gattin und Mutter“ resultiert. Die Heirat bildet den „frohen“ Anfangs- und Schlusspunkt der Erzählung, den unverkennbaren Höhepunkt, den Rahmen, der das Leben der jungen Frau bestimmt. Eheliche Vereinigung mit einem Mann wurde in den bürgerlichen Schichten als anzustrebender Idealfall betrachtet. Das bürgerliche Ehemodell galt als Norm; unverheiratete und ökonomisch unabhängige Frauen widersprachen dieser bürgerlichen Norm.183

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(50 Jahre Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl, 1888 – 1938. S. 41). Béatrice Ziegler sieht in der weiteren Entwicklung des Diskurses innerhalb der Sittlichkeitskreise ein immer stärkeres Überhandnehmen eugenischen Gedankengutes gegenüber fürsorgerischen Vorstellungen, die „Erwägungen Raum bot, die von der erbbiologischen Disposition zur Pros­titution ausgingen und die Sterilisation solcher Frauen anvisierten.“ Ziegler, Arbeit, 2007, S. 435, Anm. 255. Vgl. zudem Briner, Beschreibung, 2007. Der Einfluss eugenischen Gedankengutes auf die Sittlichkeitsvereine müsste noch weiter untersucht werden. Im Zusammenhang mit dem Frauenhandel bedienten die in diesem Bereich aktiven Vereine hingegen das Stereotyp des unschuldigen Opfers aus bürgerlichen Verhältnissen (vgl. Sabelus, Sklavin, 2009). Vgl. Dubinsky, Advances, 1993. Zur ausserehelichen Schwangerschaft von Frauen aus der Mittel- und Oberschicht vgl. Buske, Fräulein, 2004, S. 42 und 86. Zur Prostitution höherer Schichten vgl. Kap. 2.1. Die Ergänzungstheorie besagte, dass sich Mann und Frau erst gemeinsam zu einem vollkommenen Menschen ergänzen. Deshalb war die eheliche Vereinigung zentral (vgl. Schnyder,

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Die Kindheit und Jugendzeit wird in der fiktiven Biografie als glücklich, ungetrübt und sorglos beschrieben. Armut und Not sind ferne Begriffe, die keinerlei erlebte Bedeutung haben. Dann kommen die Schuljahre: „Jeder Schritt wird behütet […], jeder schlechte Einfluss wird ferngehalten, jedes nicht geziemende Wort gerügt […].“184 Es folgt nach der Konfirmation der obligate Aufenthalt in einem Pensionat in der französischsprachigen Schweiz, wo die Tochter „ein Jahr sorgloser, glücklicher Jugendzeit im Kreise wohlerzogener Freundinnen“ verlebt.185 Zum ersten Mal verliebt sie sich, ein Schwärmen für einen jungen Studenten, den sie auf den Pensionatsspaziergängen des Öfteren sieht. Aber die Schmetterlinge im Bauch finden wenig Freiraum zum Gaukeln. Außer einem freundlichen Gruß gibt es keine Annäherung. Ein Kennenlernen ist unmöglich, „denn keines der Mädchen darf ohne Begleitung einen Schritt vor’s Haus tun“.186 So kehrt die Tochter „harmlos und unverdorben“ heim. Sie wird in die Gesellschaft eingeführt, „begleitet vom wachsamen Auge der Mutter“.187 Unter den Blicken der Gesellschaft entfalten sich belauschte Gespräche mit sorgsam ausgewählten jungen Männern. Daneben lernt die Tochter kochen, nähen, stricken, malen; eben alles, um ihrem Zukünftigen ein gemütliches Heim bieten zu können. Und es kommt, wie es idealerweise auch kommen sollte: „Es dauert nicht lange, bis derjenige kommt, dem man sich für’s Leben anvertraut, und aus dem jungen Mädchen wird eine tüchtige Gattin und Mutter, die gelernt hat, dem Manne das Heim gemütlich zu gestalten.“188 Mit diesem märchenhaft anmutenden „Ende gut, alles gut“ endet die Erzählung. Der Text vermittelt eine heile Welt, ein Familienidyll, in dem das Kind – von Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten und Pensionatsangestellten behütet – „sorgen­ frei“ und „fröhlich“ aufwächst. Der Text ist bestückt mit euphorisch anmutenden Begriffen, wie „Glück“, „Freude“ und „Fröhlichkeit“. Das Familienidyll allein reicht aber noch nicht aus, um das hohe Gut der sexuellen Unschuld der Tochter zu bewahren. Sie wird stetig begleitet, behütet, überwacht. Kein Schritt ist unbeob­ achtet, ein Fehltritt wird (zumindest in der Erzählung) zur Unmöglichkeit. Die Parallelen zwischen der Erziehung, wie sie die bürgerlichen Frauen genossen, und der Erziehung in den Anstalten der Sittlichkeitsvereine sind unverkennbar: Die bürgerliche Tochter und die Heiminsassin steckten im selben engen Korsett. Sie wurden beide von der Männerwelt weitestgehend abgeschirmt, jeder Kontakt wurde unterbunden oder überwacht. In den Mädchenpensionaten, wie sie von Töchtern

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Geschwistergeschichten, 2008, S. 150). 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 4. 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 4. 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 4. 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 4. 3. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, April 1915–April 1916, S. 5.

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aus begütertem Elternhaus besucht wurden, sind ähnliche Verhaltensmuster wie in den Erziehungsheimen auszumachen.189 Besuche wurden genau beobachtet, Briefe und Postkarten kontrolliert, die Mädchen standen stetig unter strengster Beobachtung. Männerbesuche waren unerwünscht, selbst häufiger Besuch von Brüdern war nicht gern gesehen, da ein Mann in die „heile“ Mädchenwelt eindrang. Die Pensionate mussten um die sexuelle Unschuld der Mädchen bedacht sein. Auch nach der Kindheit und der Zeit im Pensionat ging es darum, die Tugend der bürgerlichen Tochter zu bewahren. Ihre Unschuld wurde von ihren Verwandten sorgfältig gegen „verführerische“ Einflüsse abgeschirmt. In der bürgerlichen Familie wurden Vorstellungen von Sexualität und Sexualverhalten verschlüsselt vermittelt. Nicht nur voreheliche Jungfräulichkeit galt als unabdingbare Basis von Unschuld, sondern auch die Reinheit in den Gedanken und im sprachlichen Ausdruck. Entsprechend galt Unwissenheit über Sexualität als Garant für die Unschuld der Frau bis zur Ehe. Die Frau war für die Aufrechterhaltung ihrer Sittlichkeit zuständig, nicht der Mann. Sie musste Annäherungsversuche von Männern unterbinden.190 Der Sozialist Eduard Fuchs beschrieb 1912 in seiner illustrierten Sittengeschichte den gemeinsamen sprachlichen und alltäglichen Umgang von Frauen und Männern aus dem Bürgertum, den sie untereinander zur Wahrung des „äusseren Anstandes“ verwendeten. Zu einem „korrekten Benehmen“ gehöre, „dass man in der Unterhaltung aufs peinlichste solche Sprachformeln vermeidet, die einen geschlechtlichen Doppelsinn nicht nur haben, sondern auch nur haben könnten. Ja, selbst ernste Unterhaltungen über geschlechtliche Fragen werden peinlich vermieden; und mit einer Frau über solche Dinge zu reden, gilt geradezu als taktlos. Eine anständige Frau weiss offiziell von solchen Dingen nichts. Ebenso sind die klaren Benennungen von jenen weiblichen Körperteilen und Kleidungsstücken, die beim geschlechtlichen Verkehr erotisch anreizen, stark verpönt. Diese Dinge müssen sämtlich ‚delikat‘ umschrieben werden. […] für eine anständige Frau ist überhaupt jeder Umgang mit Männern nur in Gegenwart von dritten Personen zulässig. Selbst Verlobte sollen sich bis zum Tage der Trauung immer nur in Gesellschaft Erwachsener begegnen und sprechen.“191 Ein wichtiger Moment der Erzählung ist auch die Erziehung der bürgerlichen Tochter zu einer tüchtigen zukünftigen Gattin und Mutter, die das traute Heim für den Ehemann gemütlich machen kann. Durch ihre glückliche Hand soll der Ehemann gerne nach Hause kommen – im Gegensatz zum Vater des Arbeitermädchens, der sich lieber im Wirtshaus aufhält. Dahinter klingt die verbreitete Ansicht an, 189 Vgl. Schnyder, Geschwistergeschichten, 2008, S. 288 – 290. 190 Vgl. Schnyder, Geschwistergeschichten, 2008, S. 293. 191 Fuchs, Eduard. Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 3: Das bürgerliche Zeitalter. München 1912. S. 116 – 118. Zit. nach Konieczka, Arten, 1986, S. 104 f.

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dass es nicht zuletzt die haushälterischen Defizite der Unterschichtfrauen waren, die ein idyllisches Familienleben verunmöglichten und die den Familienvater von zu Hause fernhielten, wo er das knappe Familieneinkommen verprasste.

Abb 30 Der allljährlich wiederkehrende Traum der Schwiegermutter mit ihren heiratsfähigen Töchtern an den Kurorten 1. Ranges.

Was in der fiktiven Biografie der bürgerlichen Tochter gänzlich fehlt und ignoriert wird, ist das Luxusleben der Oberschicht; ihr gehobener Lebensstil, ihr gesellschaftliches Leben in den bürgerlichen Salons, im Theater und an Bällen, ihr teilweise erheblicher Reichtum, ihre Dienerschaft usw. Dieses Faktum bleibt generell in den Schriften der Sittlichkeitsvereine unausgesprochen. Der Blick des Lesers und der Leserin wird stattdessen gezielt auf ihre mildtätige und opferfreudige Tätigkeit als „Retter“ sowie auf die zu „Rettenden“ gelenkt. Philipp Sarasin thematisiert in seiner Dissertation zum Basler Großbürgertum dieses Phänomen. Die Wohltätigkeit der patrizischen Großbürger sei „konstitutiv für diese Klasse, die angesichts der übergrossen Bevölkerungsmehrheit der Besitzlosen psychisch irgendwie mit ihrem Reichtum fertig werden musste. Dazu gehörte ein Moment der Verdrängung des eigenen Reichtums und seiner Verschleierung hinter der Fassade der Bescheidenheit; der ganze Diskurs der bürgerlichen Wohltätigkeit enthält daher ein starkes

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Moment der Ablenkung des Blicks vom eigenen Luxus auf die Bedürftigkeit der Anderen […].“192

Abb 31 Unsere höheren Töchter.

192 Sarasin, Stadt, 1997, S. 148.

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Märchenwelt und Melodrama Die beiden fiktiven Texte lesen sich wie Antigeschichten: Dem Idealbild der bürger­ lichen Lebenswelt steht das Schreckensbild der Arbeiterwelt gegenüber. Die eine Geschichte erzählt ein Märchen mit der obligaten Hochzeit der Protagonistin mit dem ersehnten Prinzen, die andere ein Melodrama, das im Straßensumpf, in Krankheit und Elend endet. Beide sind wirkungsvoll inszeniert, geschickt auf ein fulminantes Ende hin aufgebaut, mit einprägsamer Bildsprache angereichert. Die beiden Biografien sind geprägt von Antonymen. Mit Gegensatzpaaren und Gegenbildern, wie „rein“ – „unrein“, „sittlich“ – „unsittlich“, wird das „Normale“ vom „Abnormalen“ unterschieden. Diese Gegensatzpaare versuchen, „Grenzen zwischen verschiedenen Gruppen oder Verhaltensweisen zu etablieren“, mit ihnen „soll festgelegt werden, was richtig und was falsch ist“.193 Der Diskurs der Sittlichkeitsvereine konstruierte die „Gefallene“ als die „Andere“.194 Der Ausschluss des „unreinen Anderen“ (hier des Arbeitermädchens) geschieht primär via Sexualität und Moral, die als „abnorm“ qualifiziert wird. Aber auch die Erwerbstätigkeit und die haushälterischen Defizite der Mutter, die mangelnde Aufsicht und Kontrolle der Kinder, der häufige Wirtshausbesuch des Vaters oder die „Putz- und Gefallsucht“ und die mangelnde Häuslichkeit des jungen Arbeitermädchens werden als Normverstöße qualifiziert. Mit dieser Konstruktion der Prostituierten skizzierten die Vereine zugleich quasi als „Negativschablone“ das Bild der Frau, wie sie in ihren Augen sein sollte: sittenrein und unschuldig, häuslich und angepasst, auf die Rolle als Ehefrau und Mutter legitimer Kinder fixiert. In den Schriften der Sittlichkeitsvereine zeigt sich ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits werden die Prostituierten als „Schwestern“ bezeichnet, werden also den bürgerlichen Frauen trotz Klassenunterschieden scheinbar gleichgestellt. Auch die Bezeichnungen „Tochter“, „unsere Kinder“ und „unsere Mädchen“ kommen wieder­ holt vor, suggerieren Zugehörigkeit sowie Verbundenheit und deuten auf eine Hebung der jungen „Gefallenen“ auf die Stufe der bürgerlichen Frauen hin. Mit ergreifenden Worten beschrieben sie das Los der Prostituierten: „Aus tiefst empörtem Frauen­ herzen ertönt es, um – Gott geb’s – zu wiederhallen in Tausenden unseres Geschlechts. In den Kot geworfen, zertreten, gänzlich beraubt jenes Stempels hoher, sittlicher Würde, das ist das Los von Tausenden unserer Mitschwestern im herrlichen Zürcherlande!“195 Die Sittlichkeitsvereine bezeichneten die „gefallenen“ jungen Frauen als „Opfer“ „der Schlechtheit der Männer“ und der „Ausbeutung infamer Kuppler

193 Landwehr, Geschichte, 2001, S. 127. 194 Vgl. auch Jackson, Sex, 2011, S. 91. 195 Ein Notschrei. In: 1. Beilage zu Nr. 25 des Schweizer Frauenheim vom 19. Juni 1897. ZBZ, LK 653.

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und Mädchenhändler“.196 Weil beide, Prostituierte wie bürgerliche Frau, Opfer der bürgerlichen Doppelmoral waren, wurde die Prostituierte zur „Geschlechtsgenossin“. In diesem Sinn solidarisierten sich die Frauen der Sittlichkeitsvereine mit den „gefallenen“ Geschlechtsgenossinnen. Das Bild der solidarischen und liebevollen Aufnahme und der Aufhebung von Klassenunterschieden lässt sich bei näherem Betrachten aber nicht aufrechterhalten. Denn andererseits bezeichneten sie die Prostituierten als die „Niedrigsten unseres Geschlechts“.197 Ihre Fürsorgearbeit mit den „unreinen Gefallenen“ koste sie Überwindung, sie müssten lernen, „den Ekel, den … [ihnen] das Laster entblösst, zu überwinden und die armen Mädchen als … [ihre] Schwestern betrachten“198 und „nicht mit Abscheu, sondern mit tiefem Mitleid auf die armen Gefallenen zu blicken“.199 Diese Bewertungen zeigen, dass die bürgerlichen Frauen die jungen „Gefallenen“ nicht als gleichwertige Geschlechtsgenossinnen anerkannten, sondern macht eine eindeutige Hierarchie innerhalb des weiblichen Geschlechts sichtbar.

Die Entstehung des Bildes der Zöglinge Die Sittlichkeitsvereine sprachen und schrieben viel über die in ihren Heimen Betreuten. Das Beispiel des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit und der „Zöglinge“ ihres Erziehungsheims Pilgerbrunnen soll im Folgenden veranschaulichen, wie die Mitglieder der Sittlichkeitsvereine sich in ihrer täglichen Arbeit ein Bild von diesen Frauen machten. Bereits bevor die Vereinsmitglieder oder die Vorsteherinnen einen neu eintretenden „Zögling“ zu Gesicht bekamen, hatten sie sich eine Vorstellung von ihm gemacht. Der Zürcher Frauenverein forderte von den einweisenden Personen und möglichen weiteren Personen Informationen über die Angemeldete. Sie wollten die Vergangenheit der Angemeldeten, ihren geistigen und körperlichen Zustand, ihre Charaktereigenschaften und die Gründe für ihre Einweisung in Erfahrung bringen sowie über ihre Eltern bzw. Verwandten und deren Lebensstil Auskunft erhalten. Bekam der Frauenverein zu knappe Informationen, bat er um weitere Auskünfte, bevor er über die Aufnahme des angemeldeten „Zöglings“ entschied.200 Informanten hatten demnach weitreichenden Einfluss auf die Zukunft der jungen Frauen, beeinflussten 196 19. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1907, S. 10, und 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 8. 197 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 6. 198 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 4. 199 8. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1896, S. 4. 200 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 15. 10. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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doch ihre Aussagen die Entscheidung des Vereins wesentlich, ob sie eine Angemeldete aufnahmen oder nicht. Die Informationsbeschaffung erfolgte etwa über Pfarrämter, Ärzte, Privatpersonen aus dem Umfeld der Angemeldeten, Vereine, Vormünder, ehemalige Arbeitgeber, Armenpflegen, Vormundschaftsämter und Anstalten, in denen die Angemeldete bereits war. Die durch Berichte von Drittpersonen entstandene Vergegenwärtigung eines „Zöglings“ war vorwiegend negativ konnotiert. Falls die Vereinsfrauen über die Angemeldeten Positives erfuhren, so schrieben sie das zumindest nicht auf. In den Jahresberichten, Protokollen und Besuchsbüchern, in denen teilweise die Vergangenheit von Neueingetretenen skizziert ist, heißt es dann zum Beispiel: Die neu Eingetretene soll gemäß dem einweisenden Pfarrer „wegen leichtem Charakter in sittl. Gefahr gestanden haben“.201 Oder: Der einweisende Pfarrer „gab uns den traurigen Bericht über sie; schon während dem Confirmationsunterricht sei sie im eigentlichsten Sinn eine Strassendirne gewesen“.202 Und: „Die arme Frau soll, wie man uns sagte sehr verschlagen sein u. sei ihr in nichts zu trauen“.203 Nadia Ramsauer hat in ihrer Forschungsarbeit zur Amtsvormundschaft in der Schweiz zwischen 1900 und 1945 die bürgerlichen Fürsorgerinnen der Zürcher Vormundschaftsbehörde und deren Wahrnehmung der Unterschichten untersucht.204 Die Fürsorgerinnen mussten die von einer Kindswegnahme betroffenen Familien besuchen, sich durch „Ausspionieren“ in der Nachbarschaft über deren Lebensweise, Haushaltsführung und Kindererziehung informieren und dem Amtsvormund Bericht über ihre Befunde erteilen. Ramsauer hat festgestellt, dass die Fürsorgerinnen belastende Aussagen der Nachbarn in ihren Berichten ausführlich und ohne sie zu hinterfragen zitierten, Ungereimtheiten stehen ließen und offensichtliche Gerüchte so wiedergaben, als seien es gegebene Tatsachen. Die Aussagen der Betroffenen hingegen betrachteten die bürgerlichen Frauen mit Argwohn und stellten sie in ihren Berichten als bloße Behauptungen dar. Auch aus den Quellen der Sittlichkeitsvereine wird deutlich, dass der Wahrheitsgehalt der Auskünfte von Drittpersonen gegenüber anderslautenden Aussagen der betroffenen Frau höher eingeschätzt wurde. „Zöglinge“, die ihre von Drittpersonen geschilderte Vergangenheit abstritten, galten als Lügnerinnen. Über Renate Wunderli beispielsweise vernahmen die Vereinsfrauen ihre Vergangenheit im Waisenhaus, in der Lehrstelle, im Armenhaus und von ihrem 201 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 15. 10. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 202 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 17. 2. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 203 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 31. 3. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 204 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 136 – 142.

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anschließenden ­häufigen Stellenwechsel.205 Renate Wunderli bestritt jedoch die Aussagen und Gerüchte über sie, fand aber kein Gehör. „Mit grosser Frechheit läugnete sie ihre traurige Vergangenheit, so dass Frl. [...] [ein Komiteemitglied] beabsichtigte das Mäd. zu entlassen; Die erste Unterredung hatte aber doch zur Folge, dass sie ihr Lügen eingestand & Abbitte that […].“206 Nicht nur durch Informationsbeschaffung via Drittpersonen, auch während des Heimaufenthaltes sammelten die Vereinsfrauen „Wissen“ über die „Gestrauchelten“. Die Mitglieder des Pilgerbrunnen-Komitees waren verpflichtet, abwechselnd den Pilger­brunnen zu besuchen und Bericht darüber abzugeben. Sie sprachen während ihrer Besuche mit der Hausmutter über die Begebenheiten in der Anstalt, erkundigten sich nach dem Betragen der „Zöglinge“ und machten einen Rundgang.207 Auch nachdem die Vereinsfrauen während ihrer Besuche die neu Eintretenden zu Gesicht bekommen hatten, blieben die Beschreibungen der Insassinnen weitgehend negativ konnotiert. Die Vereinsmitglieder stützten sich dabei stark auf die Berichte der Hausmutter, denn die Visiten allein reichten für ein umfassendes Bild nicht aus. Eine Komiteedame berichtete von ihren Besuchen im Mädchenheim zum Tannenhof in Zürich, es springe einem ins Auge, wie fröhlich und anständig die meisten Insassinnen seien. Jedoch staune sie, „wenn die Vorsteherin nachher ein Bild von Jedem“ entwerfe. Ein „Abgrund von Verlogenheit und moralischer Verkommenheit“ tue sich ihr dann auf.208 Die Hausmutter berichtete den Besucherinnen über Begebenheiten, die sich während der Abwesenheit eines Komiteemitgliedes ereignet hatten, und machte Aussagen über den Charakter sowie das Betragen jedes einzelnen „Zöglings“.209 So schrieb ein Komiteemitglied nach einem Besuch: „Inzwischen sagt mir […] [die Hausmutter des Pilgerbrunnens] sie sei ganz ordentlich mit ihr zufrieden in dieser kurzen Zeit. – Doch sie fand gleich heraus, dass das Mädchen faul sei.“210 Oder ein anderes Mitglied schrieb: „Dankerfüllt darf ich den guten Bericht der treuen […] [Hausmutter] hier wiedergeben, dass das Betragen der Mädchen gegenwärtig gut sei u zu keinerlei Klagen Anlass gebe.“211 205 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 7. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 206 Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 7. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 207 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 23. 8. 1916 und Besuchsbuch vom 4. 4. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9. 208 8. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, 1921, S. 1. 209 Von der Hausmutter des Pilgerbrunnens existieren keine etwaigen schriftlichen Notizen über die „Zöglinge“ mehr. 210 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom Februar 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 211 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 3. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8.

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Die Aussagen der Hausmutter konnten weitreichende Folgen für die „Zöglinge“ haben. Denn ihre Beobachtungen wurden hinzugezogen, um das Ausmaß der Besserung jedes „Zöglings“ festzustellen, etwaige Maßnahmen bei Anzeichen von fehlendem Erziehungserfolg zu treffen, über die definitive Aufnahme nach der Probezeit zu entscheiden sowie über die Zukunft des „Zöglings“ – geeigneter Moment des Austritts und passende Platzierung – zu befinden.212 Die Urteile der Mitglieder des Zürcher Frauenvereins über die „Zöglinge“ zeigen, wie stark sie in ihrem bürgerlichen Hintergrund verhaftet waren. Auch die direkte Begegnung und der Umgang mit den Insassinnen änderten nichts an deren stark stereo­ typisiertem Bild der „gefallenen“ jungen Frau aus der Unterschicht. Nadja Ramsauer hat in ihrer oben erwähnten Untersuchung konstatiert, dass „die Urteile“ der Fürsorgerinnen der Zürcher Amtsvormundschaft bei ihren Besuchen in Unterschichtfamilien stark „von deren subjektiver beziehungsweise schichtspezifischer Wahrnehmungsperspektive geprägt sind, nämlich vom bürgerlichen Hintergrund und von diesbezüglichen Stereotypen“.213 In den Berichten ist immer wieder von Unordnung, schlechten Düften und „abstossendem Aussehen“ der Frauen die Rede. Das Schreiben, Sprechen und Sehen der Fürsorgerinnen ist von ihrer bürgerlichen Mentalität geprägt: „Im Moment, in dem die Berichterstatterinnen eine Wohnung betraten, konnten sie nicht anders, als die Dinge so wahrzunehmen, wie es ihre soziale Herkunft und Bildung erlaubten.“214 Das von ihnen gezeichnete Bild der besuchten Frauen aus der Unterschicht war geprägt von klassenspezifischen Vermutungen und gängigen Stereotypen. Diese Wahrnehmungsperspektive lässt sich ebenfalls bei den meist aus der Mittelschicht stammenden Sozialarbeiterinnen (Polizeiassistentinnen) in Deutschland und ihrem stereotypen Bild der „Dirne“ und der „sittlich Gefährdeten“ feststellen.215 Die Mitglieder des Zürcher Frauenvereins beschrieben zwar manche „Zöglinge“ des Pilgerbrunnens in positiver Weise, aber erst, wenn sie durch die Erziehung im Heim im Sinne des Sittlichkeitsvereins umgeformt worden waren – sicherlich auch, um mit den Erfolgsmeldungen vereinsintern und –extern ihre Erziehungsarbeit zu legitimieren und anzupreisen. Auch über die kürzlich Eingetretenen finden sich vereinzelt positive Berichte, doch bei diesen wenigen Ausnahmen wird die wohlwollende Aussage jeweils abgeschwächt durch modifizierende Verben wie „sie scheint“ oder durch abschwächende Adverbzusätze wie „sie hält sich bis dahin ordentlich“. Durch Bezeichnungen wie „sie scheint“ oder „bis dahin“ vermittelten die Vereinsfrauen den 212 Vgl. etwa Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 28. 11. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2; Sitzungsprotokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 13. 12. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 213 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 130. 214 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 134. 215 Vgl. hierzu Harris, Absence, 2008, S. 284.

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Eindruck, als ob sie damit rechneten, dass der „Zögling“ bei längerem Anstaltsaufenthalt in das von ihnen erwartete stereotype Verhalten fallen bzw. sein „wahres Gesicht“ zeigen wird. Ramsauer bezeichnet diese relativierende Ausdrucksweise als „spekulative Erzählstruktur“.216 Die Fürsorgerinnen der Amtsvormundschaft benutzten ebenfalls solche Sprachelemente und drückten damit Misstrauen gegenüber den Betreuten aus. In den Aussagen des Sittlichkeitsvereins über die Insassinnen ihrer Erziehungsheime springt noch etwas ins Auge: Die „Zöglinge“ und deren „sündiges Vorleben“ werden oft und ausführlich klassifiziert, bewertet und eingeordnet.217 Es sind die bürgerlichen Wohltäterinnen, die über das „richtige Verhalten“ urteilen, über den Fortschritt befinden, die „Reinlichkeit“ und „Erziehbarkeit“ einer Frau bewerten und deren „Würdigkeit“ feststellen, in ihren Heimen Aufnahme zu finden. Sie sahen sich qualifiziert, aufgrund von eigenen Beobachtungen sowie von Akten, Berichten und Gerüchten von Drittpersonen die jungen Frauen und deren Verhalten zu bewerten. Ihre Urteile hatten weitreichende Auswirkungen auf die „Zöglinge“ und deren Zukunft. Nicht selten waren es die Sittlichkeitsvereine, die den zukünftigen Arbeitsort auswählten, über den Zeitpunkt von Aufnahme und Entlassung entschieden oder über die Möglichkeit eines Lehrabschlusses während des Heimaufenthaltes befanden. – Und ihr „bürgerlicher Blick“ auf die Insassinnen leitete sie dabei. Ihre Urteile gelangten zudem in die Akten von Vormündern, Fürsorgern, Vormundschafts- oder Armenbehörden und Anstaltsleitern oder kamen zukünftigen Arbeitgebern zu Ohren. Hier schloss sich der Kreis wieder: Wo immer die junge Frau hinkam, „ihr aktenmässiger Ruf eilte […] [ihr] voraus oder hinterher“.218 Die vielen oft negativ konnotierten Zuschreibungen, die über sie in Akten gesammelt und von dort im Fürsorgenetzwerk verbreitet wurden, hafteten ihr in Zukunft als Makel an.

Die Erziehungsziele Im Pilgerbrunnen galt es in erster Linie, die „Zöglinge“ zu bürgerlicher Sittsamkeit und Respektabilität zu erziehen: „Hier sollen unsere armen Mädchen, die schon fast alle, teils durch eigene Wahl, teils durch fremde Schuld die Unsittlichkeit kennen gelernt haben, so ausgerüstet werden, dass sie den offenen und geheimen Lockungen zur Sittenlosigkeit für immer entgegenstehen können.“219 Die äußerliche Sittsamkeit 216 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 140 – 142. 217 Vgl. auch die Ausführungen zum Wohltätigkeitsdiskurs des Basler Großbürgertums bei Sarasin, Stadt, 1997, S. 148. 218 Galle, Menschen, 2009, S. 222. Zur Problematik des Anlegens von Akten vgl. Galle, Menschen, 2009. 219 18. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1906, S. 6.

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war gemäß dem Frauenverein schnell hergestellt. Die Haare wurden den „Zöglingen“ straff nach hinten gekämmt. Das Tragen von Schmuckstücken war untersagt. Die innere Sittsamkeit war hingegen schwieriger herzustellen. Die „unordentliche, unsaubere Gedankenwelt“ der „Zöglinge“ galt es, in mühevoller Arbeit mithilfe der wöchentlichen Religionsstunden und durch stetige Arbeit und Gesang während der Arbeit „zu ordnen, zu reinigen“.220 Die Verbreitung „gefährlicher“ Gedanken wurde durch Kontrolle und Unterbindung der Gespräche zu verhindern versucht. Auch sexuelle Beziehungen zwischen den Insassinnen rückten ins Visier der Vorsteherinnen. Es war die Aufgabe der Vorsteherinnen, die „Zöglinge“ unerwartet in ihren Schlafkammern zu überraschen. Diese sollten wissen, „dass sie zu unerwarteter Zeit, unter Umständen sogar in der Nacht, überrascht werden [konnten]. Sie sollen sich nie in dieser Beziehung der Sicherheit getrösten können.“221 Diese permanente Gefahr, kontrolliert zu werden, richtete sich gegen Schwatzen, lesbische Beziehungen, Fluchtversuche im Schutze der Dunkelheit sowie den Verzehr von geschmuggelten Genuss- und Lebensmitteln. In den Erziehungsanstalten sollte Sexualität möglichst unterdrückt werden. Gleichzeitig aber ist in den Hausordnungen, in der inneren Organisation und in der architektonischen Ausgestaltung der Sex äußerst präsent:222 Die aufgestellten Verhaltensregeln, das Überwachen des Schlafengehens, die Unterteilung der Schlafsäle etc. liefen auf das Thema Sex hinaus. So gaben mit Ratschlägen, Beobachtungen und medizi­nischen Untersuchungen bestückte Publikationen Anweisungen über den „Zögling“ und seinen Sex sowie über Pläne für ideale Anstalten zum korrekten Vorgehen zur „sittlichen Reinhaltung“ der Kinder und Jugendlichen. Dieser ausgeprägten Fokussierung auf die zu zügelnde Sexualität der „Zöglinge“ stand die Tabuisierung, ja Negierung der Sexualität des Heimpersonals gegenüber, die in Protokollen und Schriften zum Pilgerbrunnen keine Erwähnung fand. Wie eine Untersuchung zu den Luzerner Kinder- und Jugendheimen ergeben hat, scheint eine Sensibilität gegenüber möglichen sexuellen Übergriffen durch das Heimpersonal kaum vorhanden gewesen zu sein – Übergriffe übrigens, die auch durch Frauen verübt wurden.223 Kamen sexuelle Übergriffe dennoch ans Tageslicht, gerieten 220 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 10 (Arbeit); 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 11 (Gesang); 24. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 7 (Reli­ gionsstunden). Zit. nach ebd. 221 Statuten der Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §10. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 222 Vgl. hierzu Foucault, Wille, 1999, S. 40 – 43. 223 Akermann, Kurzfassung, 2011, S. 25 f.; Akermann, Bericht, 2012. Vgl. zu dieser Problematik auch Ries, Mauern, 2013. Das zur Zeit laufende Forschungsprojekt „Akermann, Schlussbericht“ untersucht die Thematik der sexuellen Übergriffe durch Heimpersonal ebenfalls.

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seitens der Heimleitung und von Behördenseite her üblicherweise zuallererst die Glaubwürdigkeit der „Zöglinge“ und die Lebensweise ihrer Herkunftsfamilien mit kritischem Blick in den Fokus. Auch in den Heimen der Sittlichkeitsvereine sind mir keine Hinweise auf solche Übergriffe begegnet. Interviews mit ehemaligen „Zöglingen“ und Heimpersonal könnten hier Aufschlüsse liefern. Neben der Erziehung zur Sittsamkeit sollte den jungen „Zöglingen“ auch Sauberkeit beigebracht werden. So zeugten das Heim und die „Zöglinge“ von Sauberkeit und Ordnung.224 Die Insassinnen wurden bei ihrem Eintritt als Erstes gewaschen und erhielten eine saubere Anstaltskleidung. Mit der aufkommenden Hygienebewegung, welche die Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste und unter anderem Ordnung und Sauberkeit im Privatbereich forderte, entstand eine enge Verknüpfung zwischen Sauberkeit und Rechtschaffenheit. „Unreinheit“ stand für eine den gesellschaftlichen Normen widersprechende unkontrollierte, delinquente, aussereheliche Sexualität, die als verunreinigend angesehen wurde. Mit der Reinlichkeit von Haus und „Zöglingen“ verfolgten die Sittlichkeitsvereine wohl die Absicht, die Reinheit der „Zöglinge“ zu erlangen. Berichte über frisch eingetretene „Zöglinge“ enthalten immer wieder Bemerkungen zum „schmutzigen“ Zustand der Frauen. Sie hätten es mit „ganz zerlumpten, im tiefsten Schmutz und Ungeziefer steckenden Kreaturen“ zu tun.225 Über einen kürzlich eingetretenen „Zögling“ berichtete der Frauenverein beispielsweise, dass er „unter all seinen Sachen nicht einmal ein einziges Taschentuch [hatte], das noch zu brauchen gewesen wäre. Dafür hatte aber die Hausmutter die gepauschten Haare von Ungeziefer zu reinigen.“226 Bei jenen, die sauber im Heim eintrafen, erwähnten die Frauen nichts. Viele Anstalten dokumentierten die Umwandlungen ihrer „Zöglinge“ von „unordentlichen“, „schmutzigen“, „verlumpten“ „Kreaturen“ in „ordentliche“ Kinder und Jugendliche in sauberen Anstaltskleidern anhand von Vorher-nachher-Fotografien.227 Die Erziehung im Pilgerbrunnen richtete sich nach traditionellen Werten wie Autorität, Gehorsam, Unterordnung, Fleiß, Pflichterfüllung, Familie, Aufrichtigkeit und Höflichkeit, wie sie bis in die 1960er Jahre in der Gesellschaft dominierten.228 Auch eine Orientierung an einer protestantischen Ethik von Disziplin, Sparsamkeit, 224 Ein beschriebener Rundgang in der Anstalt: „Wir kehren ins Haus zurück. Die Küche ist blank, die Gänge und Treppen rein. Die Schlafzimmer sind in Ordnung und gut gelüftet, alles zeugt von Fleiss und guter Aufsicht. Die früher so unordentlichen, arbeitsscheuen Mädchen werden mit Ernst dazu angehalten, etwas Ordentliches zu leisten.“ 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 10. 225 5. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, Januar 1917–Dezember 1918, S. 4. 226 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 10. 227 Oberwittler, Strafe, 2000, S. 169. 228 Vgl. Klages, Wertorientierung, 1984; Inglehart, Umbruch, 1989.

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Bescheidenheit und Arbeitsamkeit wird deutlich sichtbar. Den jungen „Zöglingen“ sollten entsprechend Anpassungs- und Unterordnungsfähigkeit, Fleiß und Ordnung, Sparsamkeit und Wahrheitsliebe, Häuslichkeit und Disziplin beigebracht werden. Im Pilgerbrunnen sollte „die fünfzehn- bis zwanzigjährige Lügen- und Trägheitspflanze in zwei Jahren ausgerissen sein“.229 Die „früher so unordentlichen, arbeitsscheuen Mädchen“ wurden „mit Ernst dazu angehalten, etwas Ordentliches zu leisten“. 230 Der Ordnungsbegriff spielt im Erziehungsdiskurs der Sittlichkeitsvereine eine zentrale Rolle.231 Die jungen Frauen sollten zur Ordnung, zur „geordneten Arbeit und Lebensweise“232 erzogen werden. Ordnung und Norm sind eng miteinander verbunden: Wer sich nicht „ordentlich“ verhält, der fällt aus der Norm.233 Aufrechterhaltung und Wieder­herstellung der gesellschaftlichen Ordnung durch Erziehung der jungen Frauen zu einem „geordneten“ Leben und durch Adaption der herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte bildeten wesentliche Argumentationen und Zielsetzungen der fürsorgerischen Intervention. In den Berichten über einzelne „Zöglinge“ wird deutlich, dass die Nacherziehung dann als geglückt galt, wenn die jungen Frauen eine seriöse Arbeitsstelle gefunden hatten und sich dort gut hielten.234 Die meisten Austretenden traten eine Stelle als Dienstmädchen an, wenige ergriffen auch andere Berufe, wie Schneiderin, Plätterin, Köchin oder Weißnäherin. Die Nacherziehung richtete sich nach dem bürgerlichen Gesellschaftsideal, das ledige Frauen aus der Unterschicht als Dienstboten vorsah.235 Weil die Frauen aus der Unterschicht auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen waren, sollten sie zumindest einer Arbeit nachgehen, die möglichst nahe bei ihrem „natür­ lichen“ Beruf der Mutter und Hausfrau lag. Die Arbeit als Dienstmädchen galt wegen ihrer Ähnlichkeit zur Hausfrauenarbeit als besonders geeignet. Die Erfolgsquote bezifferten die Vereinsfrauen mit durchschnittlich 70 bis 80 Prozent der Insassinnen, die durch die Erziehung im Pilgerbrunnen auf den „richtigen Weg“ gebracht worden seien.236

229 23. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 6. 230 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 10. 231 Vgl. auch die ausführlichen Überlegungen zum Ordnungsbegriff Tanner, Ordnungsstörungen, 2007, sowie die Einleitung in Meier, Zwang, 2007. 232 11. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 9. 233 Vgl. die Überlegungen zu „Ordnung“ in der Einleitung bei Meier, Zwang, 2007; Tanner, Ordnungsstörungen, 2007. 234 Etwa 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 8; 24. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 9. 235 Zur Mädchenbildung vgl. Schumacher, Volk, 2010; Gernert, Mädchenerziehung, 1996; Grunder, Einseitigkeit, 1991; Mantovani, Mädchen, 1997. 236 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 39.

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Die Erziehungsmittel Hausordnung für das Vorasyl zum Pilgerbrunnen, ca. 1889. EFZ, Schachtel C. I. Heft 1. „§1. Im Vorasyl soll jedes weibliche Wesen, das moralisch hülfsbedürftig ist, Aufnahme finden können. Im Vorasyl soll dann geprüft werden, ob der Aufenthalt sich verlängern oder anderweitige Versorgung oder Entlassung erfolgen solle. Wer ins Vorasyl eintritt, gibt damit zu erkennen, das es gerne dem Rath derer, die Barmherzigkeit an ihm üben, folgen will. §2. Jeder Pflegling hat den Vorsteherinnen ohne Widerrede zu gehorchen. §3. Mittheilungen unter den Pfleglingen aus dem früheren Leben sind strenge untersagt. Bei gegenseitiger Bekanntschaft darf nichts von Vergangenem erwähnt werden. Nutzloses Plaudern überhaupt und Zanken sind verboten. §4. Vom 1. April bis 30. September wird um 5 Uhr aufgestanden, in den übrigen Monaten um 6 Uhr. §5. Im Sommerhalbjahr von 5 – 6, im Winterhalbjahr von 6 – 7 haben die Pfleglinge sich anzukleiden, sich zu waschen und zu kämmen, Zimmer und Gänge zu reinigen. Nach dem Frühstück wird das Bett gemacht. §6. Um 6 Uhr, beziehungsweise um 7 Uhr findet das Frühstück statt, um 12 Uhr das Mittagessen, um 4 Uhr der Kaffee, um 8 Uhr die Abendsuppe. Unter Umständen, die es wünschbar machen, können auch etwa die beiden letzten Mahlzeiten in einer einzigen, um 6 Uhr verschmolzen werden, wo dann Mais, Maccaroni, Reis etc. an die Stelle der Suppe tritt. §7. Morgens nach dem Frühstück bleiben die Hausgenossen zur Morgenandacht versammelt, wobei jeder der Theilnehmenden der Reihe nach einen Vers aus dem vorliegenden Bibelabschnitt liest. Nach der Abendandacht, die unter gewöhnlichen Umständen im Sommer zwischen 8 ½ und 9 Uhr, im Winter zwischen 9 und 9 ½ Uhr stattfindet, wird in aller Stille zu Bette gegangen. In den Schlafräumen ist alles Sprechen untersagt. §8. Besuche können die Pfleglinge nur unter Erlaubnis und im Beisein einer Vorsteherin annehmen. Die Besuchenden haben sich an die Besuchsstunden Sonntags und Mittwochs zwischen 12 ½ und 2 Uhr zu halten. [und um 1 – 1 ½] §9. Briefe gehen offen durch die Hand der Vorsteherin und sind auf das äusserste zu beschränken. §10. Ausgänge können nur in Begleitung einer Vorsteherin gemacht werden. §11. Das Geld, das ein Pflegling mitbringt, Kleider und sonstige Habseligkeiten müssen der Vorsteherin abgeliefert werden, die ein Verzeichnis derselben aufbewahrt. §12. Kein Pflegling darf Geschenke geben oder annehmen oder etwas austauschen ohne Erlaubnis. §13. Niemand darf Kleidungsstücke der Anstalt ohne Erlaubnis umändern. Schmuck­ sachen müssen abgelegt werden. Die Haare sind in der Mitte zu scheiteln und glatt hinter die Ohren zu kämmen. Mittwoch Nachmittags dürfen die Mädchen für sich arbeiten.

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§14. Wenn Ermahnungen nicht fruchten, wird mit Entziehung von Vergünstigungen, z. B. vom Besuch des Gottesdienstes, vom Spaziergang, von besseren Speisen oder mit Isolierung oder mit Ausweisung bestraft. §15. Eigenwillig Austretende dürfen die dem Asyl gehörenden Kleidungsstücke nicht mitnehmen; sie erhalten ihre mitgebrachten Kleider und sonstigen Habseligkeiten zurück. §16. Wer der Hausordnung oder den Anordnungen der Vorsteherinnen sich nicht fügt, insbesondere der Arbeit sich weigert oder Unzufriedenheit erregt, kann ohne weiteres entlassen werden unter Zustimmung eines Comite-Mitgliedes.“

Hausordnung für das Vorasyl zum Pilgerbrunnen vom April 1899. EFZ, Schachtel C. I. Heft 1. „Einleitung Das Vorasyl ist eine Anstalt für Mädchen, die aus allerlei Irre und Sünden gerettet zu werden wünschen, und die entweder selbständig um Aufnahme bitten oder durch Eltern, Vormünder oder Gemeindebehörden in die Anstalt versorgt werden müssen. Der definitiven Aufnahme geht eine Probezeit von etlichen Wochen voraus. Das Vorasyl bietet seinen Pfleglingen Schutz gegen die Versuchungen von aussen und sucht sie dem Arzt zuzuführen, der da mächtig ist den innewohnenden Schaden aufzudecken, zu heilen und davon zu erlösen.

Hausordnung Die Eintretenden haben ihre Schriften, Geld, Schmucksachen etc. sowie auch die übrigen Kleidungsstücke der leitenden Schwester zu übergeben, welche ein Verzeichnis davon aufnimmt. Die Mädchen haben den Vorsteherinnen ohne Widerrede zu gehorchen, die ihnen zugetheilte Arbeit willig und gründtlich zu verrichten und ihnen mit der gehörigen Ehrerbietung und Zuvorkommenheit zu begegnen. Mittheilungen unter den Mädchen aus ihrem früheren Leben sind strenge untersagt. Die Mädchen haben am Morgen wenn geweckt wird sofort aufzustehen, Ordnung, Reinlichkeit und gute Lüftung der Schlafzimmer wird verlangt. Nach einer halben Stunde wird geläutet, worauf alle Mädchen sich im Arbeitszimmer zur Kontrolle einzufinden haben, allswo einem jeden ein Theil der Hausarbeit übertragen wird. Eine halbe Stunde später wird zum Frühstück geläutet. Nach diesem folgt die Morgenandacht. [Danach] geht jedes an seine Arbeit.

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Die Abendandacht findet nach dem Nachtessen statt. Bei den Mahlzeiten sollen die Mädchen nicht wählerisch sein. Nach der Abendandacht wird stille zu Bette gegangen. Alles Herumstehen und Plaudern auf den Gängen oder in den Schlafzimmern ist untersagt. Das stille Gebet, Morgens und Abends, im Kämmerlein wird den Mädchen gelegentlich empfohlen. Besuche können die Mädchen nur unter Erlaubnis und im Beisein einer Vorsteherin annehmen. Die Besuchenden haben sich an die dazu bestimmten Stunden jeden 1ten Sonntag im Monat von 3 – 4 Uhr zu halten. Die Mädchen dürfen unter sich nicht Geschenke geben oder annehmen oder etwas austauschen ohne Erlaubnis. Eigenwillig Austretende haben keinen Anspruch an weitere Hilfe. Sie dürfen die dem Asyl gehörenden Kleidungsstücke nicht mit sich nehmen. Wer der Arbeit sich weigert, wer Unzufriedenheit unter den Mädchen erregt und wer sich den Ermahnungen der Vorsteherinnen widersetzt wird vom Comite zur Rechenschaft gezogen und nöthigenfalls ausgewiesen. Es ist den Mädchen sehr zu empfehlen, dass sie gegen ihre Vorsteherinnen recht offen seien, ihnen ihre innern Kämpfe & die ihnen anklebenden Sünden offen bekennen & ihren Rath & ihre Fürbitte nachsuchen. den Aufrichtigen lässt es Gott gelingen. So sehr boshafte Klatschereinen vermieden werden müssen, so ernst ist sie wiederum die Pflicht den Vorsteherinnen anzuzeigen, wo wirklich Verbotenes geschieht oder Verführung zu bösen Dingen vorhanden ist. Hütet Euch vor der Seuche, die im Finstern schleicht und die zu Mittag verdarbet, sagt Gottes Wort. Wandelt als Kinder des Lichts. Wer Zurechtweisung & Strafe demütig annimmt, der ist auf dem Wege innerlicher Erneuerung. Wer Reue über seine Sünden trägt & sie verabscheut, der wird Vergebung durch Christi Blut empfangen & Kraft in einem neuen Leben zu wandeln. Wo dieses zu Stande kommt, da erwacht auch das Bewusstsein der Pflicht andere retten zu helfen. Möchten doch viele unserer Mädchen zu rechtschaffener innerer Erneuerung gelangen & durch ihren Wandel es beweisen, dass in ihrem Herzen durch Gottes Gnade ein neuer Grund gelegt worden ist und sie aus dem Reich der Finsternis erlöset und wirklich Kinder Gottes geworden sind. Wie tröstlich wäre es, wenn aus unserer Mädchenschaar aufrichtige Christinnen hervorgingen die selbst nach Kräften mitarbeiten würden zur Rettung der Verlorenen, sei es im Vorasyl selbst oder draussen. Möge Gott uns diese Freude schenken!“

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Das wichtigste Erziehungsmittel im Pilgerbrunnen lautete in Anlehnung an die benediktinische Klosterregel „bete und arbeite“237. Dank „beständiger und angestrengter Arbeit“ sollte der „Arbeitseifer“ der „Zöglinge“ wachgerufen werden.238 Anhaltende und ermüdende Arbeit galt als „ausgezeichnetes Erziehungsmittel“.239 Alle 14 Tage wurde gewaschen und geplättet, die Woche dazwischen genäht und geflickt, womit nach Ansicht der Vereinsfrauen „viel Selbstzucht geübt werden“ konnte.240 Im Sommer kam der Gemüseanbau hinzu. Die täglichen Hausgeschäfte und das Kochen wurden abwechselnd von den „Zöglingen“ besorgt.241

Abb 32 „Zöglinge“ des Pilgerbrunnens beim Wäschebügeln, 1910.

237 23. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 6. 238 7. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1895, S. 8. 239 9. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1897, S. 15. 240 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 10. 241 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 16.

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Abb 33 Nähzimmer des Mädchenasyls zum Pilgerbrunnen, vor 1911.

Religion spielte im Heimalltag eine ebenso zentrale Rolle wie die Arbeit. Nur durch die Mithilfe Gottes konnten nach Ansicht des Frauenvereins die „irregeleiteten Seelen“ wieder auf den „richtigen Weg“ geführt werden: „Neben dem Arbeiten steht das Beten […]. Ohne diese Macht ist nicht auszukommen. Ohne diese Macht gibt es keine Umwandlung […].“242 Bei großer Arbeitsbelastung wurden die Kundenaufträge reduziert, um mehr Zeit für die religiöse Bildung zur Verfügung zu haben.243 Für die „Rettung“ der jungen „Gefallenen“ und „Gefährdeten“ war es ferner wichtig, dass sie den Vorsteherinnen oder Komiteemitgliedern ihre „Sünden“, nicht zuletzt ihre sexuellen „Sünden“, bekannten und Reue darüber zeigten. „Erst wenn sie ihr Leben als Sünde erkennen und einen Widerwillen davor bekommen, ist Rettung möglich.“244 Die neu Eintretenden wie 242 23. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1911, S. 7. 243 1900 erhielt die Hausmutter die Erlaubnis, bei Bedarf die Zahl der Kunden einzuschränken (Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 10. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2), 1903 wurden mehrere Kunden aufgegeben (Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 6. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2). 244 6. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1907, S. 2 f.

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auch jene „Zöglinge“, die sich im Heim eines fehlerhaften Verhaltens schuldig gemacht hatten, wurden angehalten, ihre vergangenen „Sünden“ der Vorsteherin oder einem Vereinsmitglied zu bekennen und Buße zu tun.245 Verweigerte ein „Zögling“ ein Geständnis, wurde er in mehrstündigen Arrest gesetzt, bis er „mürbe geworden“ war.246 Beharrliche Verweigerung führte schließlich zur Entlassung aus dem „Asyl“.247

Abb 34 Waschküche des Mädchenasyls zum Pilgerbrunnen.

Die Erziehung im Pilgerbrunnen war stark von den herrschenden Erziehungsvorstellungen von Autorität, Bestrafung und Kontrolle geprägt. Es gab verschiedene Sanktions- und Strafmittel, die Anwendung fanden, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden 245 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §16; Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 246 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 1. 9. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 247 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 7. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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wird. Der Tagesablauf war in der Hausordnung minutiös geregelt. Arbeit und religiöse Erbauung füllten dabei die meiste Zeit aus:248 Der Tag begann im Sommerhalbjahr um fünf Uhr, im Winterhalbjahr um sechs Uhr. Die „Zöglinge“ hatten „am Morgen wenn geweckt […] sofort aufzustehen“.249 In der ersten Morgenstunde mussten die „Zöglinge“ nach dem Ankleiden zunächst Zimmer und Gänge reinigen. Nach einer halben Stunde wurde „geläutet, worauf alle Mädchen sich im Arbeitszimmer zur Kontrolle einzufinden“ hatten.250 Nach dem Frühstück folgte die Morgenandacht, bei der alle der Reihe nach einen Vers aus der Bibel vorzulesen hatten. Anschließend ging es wieder an die Arbeit. Um zwölf Uhr gab es Mittagessen, um vier Uhr Kaffee und um acht Uhr die Abendsuppe. Nach dem Abendessen folgte erneut eine Andacht. Ein Seelsorger erteilte einmal pro Woche Religionsunterricht, einigen Mädchen auch Konfirmationsunterricht. Danach – um neun Uhr im Sommer, in der Winterzeit um halb zehn – hatten die „Zöglinge“ ins Bett zu gehen. Bei gehäufter Auftragsarbeit kam es vor, dass nach der Abendandacht weitergearbeitet wurde. Der Frauenverein rechtfertigte dies damit, dass die jungen Frauen in ihren späteren Stellen ebenfalls lange Arbeitstage haben würden.251 Die Sonntage waren arbeitsfrei und durch den obligaten Kirchgang sowie oftmals einen längeren Spaziergang ausgefüllt. Eine „sittsame“ Gestaltung der Freizeit sollte den Insassinnen anerzogen werden, da schließlich die boomende Freizeitindustrie in den Städten als Gefahrenherd für junge Frauen erachtet wurde. Statt ihre Freistunden mit „gefährlichem Leichtsinn“ zu zelebrieren, sollten sie „veredelnd“ wirkenden Aktivitäten nachgehen.252 Bezeichnenderweise wurden den Insassinnen nur „gute Bücher“ vorgelesen,253 an Festtagen wurden religiöse Lieder gesungen und an Sonntagnachmittagen sorgten „jüngere Freundinnen“ der Anstalt für „passende Unterhaltung“, indem sie „gute Erzählungen“ vorlasen oder die „biblische Geschichte“ lehrten.254 In den Statuten wurde den Vorsteherinnen nahegelegt, wie sie diese freien Tage gestalten sollten: „Die Sonntage sollten für die Anstalt rechte Freudentage sein, verschönert durch Spaziergänge (auf einsamen Wegen), durch gute Lectüre, Spiele, bei denen der Geist in Thätigkeit gesetzt wird, Abschreiben eines schönen Liedes in ein Erinnerungsheft und dergleichen, auch vielleicht durch ein Extra mit Thee statt Kaffee um 4 Uhr sammt eingemachten eigenen Beeren.“255 In den Statuten hieß es ursprünglich, die Lektüre solle gut und spannend sein, erst im Nachhinein wurde das „spannend“ im Text gestrichen. 248 Vgl. hierzu Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §4 – 7. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 249 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 250 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 251 Statuten für die Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §11. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 252 25. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 9. 253 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 11. 254 20. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1908, S. 9. 255 Statuten für die Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §14. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1.

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Abb 35 Ein Sonntag im Pilgerbrunnen, 1911.

Wie unangenehm der sonntägliche Kirchgang für „Zöglinge“ gewesen sein konnte, lässt folgende Karikatur in der Zürcher Karikaturzeitschrift Scheinwerfer aus dem Jahr 1920 erahnen. Sie zeigt eine Schar „Zöglinge“ des Erziehungsheims Pilgerbrunnen auf dem sonntäglichen Kirchgang. Die jungen Frauen starren demütig und beschämt auf den Boden, teilweise mit zum Gebet gefalteten Händen. Vor und nach der Mädchen­schar gehen die Aufseherinnen, mit erhobenem Kopf und in Schwesterntracht, mit gefalteten Händen und schwatzend. Auf der Straße tummeln sich neugierig starrende und lachende Passanten, an den Fenstern sind Gesichter zu sehen, die dem Zug nachblicken. Im Mittelpunkt der Karikatur stehen die beschämten jungen Frauen, die von allen Seiten wie Freiwild oder exotische Zootiere angestarrt werden. Die Karikatur wird von folgendem Text begleitet: „[…] An der Stadtgrenze bei Altstetten ist ein Asyl für ‚gefallene‘ Mädchen. Pilgerbrunnen haben es die Stifter getauft. Jeden Sonntag werden nun diese armen Geschöpfe unter Begleitung von 4 bildhübschen Betschwestern wie Zuchthäuslerinnen zur Andacht nach der Brauerstrasse geführt, natürlich jeweilen ‚bewundert‘ von den zahlreichen Passanten und Zuhörern! Es ist ja schön und recht, wenn man einen ‚Umgefallenen‘ wieder auf die Beine stellt, besonders während der Sauserzeit, aber diese betschwesterlichen

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Umzüge sind hässlich und empörend. Wenn die Mädchen Erbauung nötig haben, so soll der Herr Pfarrer ins Asyl hinunterkommen. Punktum.“ Die Stigmatisierung, die den weiblichen Jugendlichen begegnete, wenn sie in der Öffentlichkeit bei gemeinsamen Ausgängen im Gänsemarsch gehen mussten, beklagten auch „Zöglinge“ des städtischen Erziehungsheims Heimgarten bei Bülach nach einem Massenausbruch in den 1950er Jahren an. Es habe für sie „überhaupt etwas Erniedrigendes, dass sie in Reih und Glied aufmarschieren müssten besonders auch zum Kirchgang, sodass das ganze Dorf wisse: Aha, jetzt kommen die Heimgarten-Mädchen.“256

Abb 36 Pilgerinnen.

Ein zentrales Erziehungsmittel war auch der Bruch mit dem alten Milieu und der „unrühmlichen“ Vergangenheit schlechthin. Für die Nacherziehung wurde es als wichtig erachtet, die „Zöglinge“ aus ihrer alten Umgebung, die oft für den „Fall“ (mit) verantwortlich gemacht wurde, zu entfernen und möglichst von jedem „verderbenden“ Einfluss von außen abzuschirmen. „Wenn Lasterhafte in jugendlichem Alter den Versuchungen entrückt und in eine gesunde Atmosphäre gebracht werden, wo ihnen Lust zu nützlicher Arbeit gebracht wird, sind sie in den meisten Fällen als gerettet zu

256 Die Stadtärztin, Stadtärztlicher Dienst Zürich, an den Vorsteher des Gesundheits- und Wirtschaftsamtes, 19. Oktober 1953. Archiv Schulinternat Heimgarten.

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betrachten.“257 Zur Abschirmung von der Außenwelt durften die jungen Frauen das Haus nicht allein verlassen und auch an den arbeitsfreien Sonntagen wurden sie nicht aus den Augen gelassen.258 Gemeinsame Spaziergänge fanden „auf einsamen Wegen“ statt,259 ohne Möglichkeit, in Kontakt mit alten Bekannten oder mit der Männerwelt zu treten. Kontakte mit Verwandten und Bekannten wurden stark beschnitten und unterstanden einer strengen Kontrolle. So wurde die Post „erst nach genauer Prüfung durch die Vorsteherin den Mädchen übergeben“,260 ebenso wurden ihre eigenen Briefe kontrolliert, die zudem gemäß Hausordnung auf „das äusserste zu beschränken“ waren.261 Besuche durften sie nur im Beisein einer Vorsteherin empfangen.262 Den „Zöglingen“ war es außerdem nicht gestattet, untereinander über ihre Vergangenheit zu sprechen.263 In den Schlafzimmern herrschte Sprechverbot, „nutzloses Plaudern“ war überall und jederzeit untersagt.264 Im Erziehungsheim des Berner Frauenvereins, dem Sulgenhof, wurde gemäß der Hausordnung bei Zuwiderhandeln gegen dieses Gesprächsthemenverbot gar ein Schweigegebot verhängt.265 Die Überwachung der „Zöglinge“ sollte möglichst umfassend sein. Der Pilgerbrunnen war mit einem Zaun umgeben und es war die Aufgabe der Hausmutter und der Gehilfinnen, die „Zöglinge“ zu beaufsichtigen und zu überwachen.266 Der Bau eines neuen, größeren Hauses im Jahr 1894 ist im Sinne einer verstärkten Kontrolle über die „Zöglinge“ zu sehen. Mit der Schaffung von mehr Zimmern und einer damit einhergehenden besseren Trennung der Insassinnen wollte man „allem unnützen Gespräch“ zuvorkommen und „allen gefährlichen Verkehr“ abschneiden.267 Nach dem Heimaufenthalt gingen die Erziehung und Kontrolle weiter. Für die Austretende wurde eine Stelle bei „christlichen“ und „braven“ Leuten gesucht, wo „Gottesfurcht und gute Sitte herrscht[e]“, bei Leuten, welche die jungen Frauen im 257 Erklärungen und Begründungen zu unsern Wünschen. ZBZ, LK 152. 258 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §10. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 259 Statuten für die Vorsteherinnen des Pilgerbrunnens, §14. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 260 24. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 7. 261 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §9. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 262 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §8. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 263 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §3. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 264 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §7. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 265 Hausordnung des Sulgenhof, 1930er Jahre, §3. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 15:4. 266 1. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit,1889, S. 11; 13. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1901, S. 5; 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 13; 25. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 8. 267 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 12. Zum Zeitpunkt der Vergrößerung des Hauses vgl. 4. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1892, S. 10.

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Sinne des Sittlichkeitsvereins „anleiten und weiter erziehen“.268 Die Vermittlung der Austretenden an ausgesuchte Orte garantierte nicht nur ihre Weitererziehung, sondern auch die weitere Kontrolle über sie. Die Arbeitgeberin hatte dem „Asyl“ vom Betragen der Ehemaligen Bericht zu erstatten.269 Die neue Dienststelle wusste also über die mit Stigma behaftete Vergangenheit der Angestellten Bescheid, was die Reintegration in die Gesellschaft erschweren konnte. Jedem austretenden „Zögling“ wurde eine Patronin, ein Mitglied des Komitees, zur Seite gestellt.270 Ebenfalls als „wichtige und notwendige Fortsetzung des Erziehungswerkes“ wurden der Briefverkehr und der Besuch der Hausmutter empfunden, bei dem die jungen Frauen jeweils zur weiteren „geistigen Pflege“ aufgemuntert, beraten, aber auch ernsthaft und streng ermahnt werden konnten.271 Bei ihrem Austritt, sofern dieser mit Einwilligung des Komitees geschah, bekamen die Insassinnen ein Sparbuch, das je nach Betragen mehr oder weniger Geld aufwies.272 Das Sparkonto blieb nach dem Austritt während einer Weile unter der Verwaltung des Pilgerbrunnens, um die Sparsamkeit der ehemaligen Insassin prüfen zu können. Sie wurde zudem angehalten, ihr Erspartes auf das Konto einzuzahlen. Im Sinne Michel Foucaults zielte der Verein mit den zahlreichen Kontrollmechanismen auf die Errichtung einer panoptischen Institution,273 in der die Insassinnen einer 268 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 14 (christliche Leute); 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 15 (brave Leute); 28. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1916, S. 6 (Gottesfurcht); 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 11 (anleiten und weiter erziehen). 269 14. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1902, S. 5; 16. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1904, S. 8; 20. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1908, S. 10. 270 16. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1904, S. 8. 271 13. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1901, S. 8 (Erziehungswerk); 6. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1894, ­S. 8 (geistige Pflege); 13. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1901, S. 8; 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1903, S. 15; 19. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1907, S. 10 (aufmuntern und ermahnen). 272 Vgl. etwa Vertrag über die Aufnahme in das Mädchenasyl zum Pilgerbrunnen in Zürich 3, 9. Januar 1926. § 3. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 6:1. Dossier Pilgerbrunnen Zürich. 273 Zum Panoptikum vgl. Foucault, Überwachen, 1976, S. 251 – 291; Foucault, Wahrheit, 2003, S. 102 – 124. Das Panoptikum zielt auf eine „permanente Überwachung von Menschen durch jemanden, der Macht über sie ausübt – Lehrer, Meister, Arzt, Psychiater, Gefängnisdirektor [in diesem Fall die Komiteemitglieder und die Vorsteherinnen] – und der dank dieser Macht nicht nur die Möglichkeit hat, sie zu überwachen, sondern auch Wissen über sie anzusammeln“ (Foucault, Wahrheit, 2003, S. 86). Dieses neue Wissen orientiert sich an der Norm, an

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möglichst permanenten Überwachung ausgesetzt waren. Ziel dieses „Apparates zur Normalisierung“ war es, das „richtige“ Verhalten zu internalisieren und die Insassinnen letztlich zu einem Selbstzwang zu erziehen. Die Definitionsmacht, was „normal“ oder „abnormal“, „richtig“ oder „falsch“ war, lag konzentriert bei der Direktion der Institution. Jedoch blieb das angestrebte Ziel einer totalen Überwachung unerreicht, fanden doch die Insassinnen immer wieder Schlupflöcher, entwickelten Strategien zur Unterwanderung der Kontrollen und verweigerten die Internalisierung der Normen, wie wir gleich sehen werden. Michel Foucault selbst stellte das Panopti­kum von Bentham als Idealbild, als Modellfall, als „der älteste Traum des ältesten Souveräns“274 dar: „… if I had wanted to describe ‚real life‘ in the prisons, I wouldn’t indeed have gone to Bentham“.275 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Panoptismus eine reine Utopie ist. Panoptische Züge sind in Erziehungsheimen wie dem Pilgerbrunnen klar auszumachen. Foucault formuliert dies in einem Interview pointiert: „But the fact that this real life isn’t the same thing as the theoreticians’ schemas doesn’t entail that these schemas are therefore utopian, imaginary, etc. One could only think that if one had a very impoverished notion of the real.“276 Und Foucault fügt hinzu: „It is absolutely true that criminals stubbornly resisted the new disciplinary mechanism in the prison […].“277

4.3 Handlungsstrategien der involvierten Akteure Die Quellen zeigen teils intensive Aushandlungs- und Interaktionsprozesse zwischen den Insassinnen, den Vereinsfrauen, Vorsteherinnen und außenstehenden Drittpersonen, wie Behördenstellen oder Eltern. Es geht dabei um die Länge des Aufenthalts und um den Heimalltag, aber auch um Kostgeldzahlungen. Es wird dabei deutlich ein asymmetrisches setting zugunsten der involvierten Behördenstellen oder des Erziehungsheims sichtbar, jedoch verfügten auch die Insassinnen oder deren

dem, was als normal oder nicht normal erachtet wurde und ermöglicht es zu bestimmen, ob jemand sich konform und regelgerecht verhält und ob er Fortschritte macht. Die panoptischen Institutionen verfolgen das Ziel, den Einzelnen an einen „Apparat zur Normalisierung“ zu binden, an einen „Prozess zur Erzeugung, Bildung, Umerziehung oder Besserung“ (Foucault, Wahrheit, 2003, S. 112). In seinen Überlegungen zur Gouvernementalität nimmt Foucault das Panoptikum wieder auf und diskutiert dessen Bedeutung in einem liberalen Staat (Foucault, Gouvernementalität, Bd. 2, 2004, S. 102 f.). 274 Foucault, Gouvernementalität, Bd. 1, 2004, S. 102. 275 Foucault, Questions, 1991, S. 81. 276 Foucault, Questions, 1991, S. 81. 277 Foucault, Questions, 1991, S. 81.

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Angehörige über gewisse, wenn auch stark eingeschränkte Handlungsspielräume.278 In den Besuchsbüchern und Protokollen berichteten die Vereinsmitglieder über Begebenheiten mit „Zöglingen“, die indirekt deren Reaktionen auf die an ihnen ausgeübte Fürsorge­arbeit aufzeigen. Besprochen wurden allerdings fast ausschließlich jene Fälle, die einmal oder wiederholt negativ auffielen. „Zöglinge“, die sich anpassten und sich „gut“ verhielten, sind in den Quellen meist nur bei ihrem Ein- und Austritt Thema. Nach Erving Goffmann konnten Insassinnen und Insassen von Anstalten vier (auch kombinierbare) Strategien wählen: „Rückzug aus der Situation“ durch Apathie und Desinteresse, „kompromissloser Standpunkt“ durch Ablehnung und Verweigerung einer Zusammenarbeit, „Kolonisierung“ durch das Aufbauen einer stabilen, relativ zufriedenen Existenz oder „Konversion“ durch die Internalisierung der vermittelten Deutungsmuster und das Spielen der Rolle des perfekten Insassen.279 Eine solche Aufgliederung ist im Falle des Pilgerbrunnens nicht möglich, da die Quellenlage dies nicht zulässt. Ich unterscheide stattdessen im Folgenden vereinfacht zwischen angepasstem und unangepasstem Verhalten.

Unangepasstes Verhalten und die Sanktionen dagegen Eugenie Kunz „gibt Anlass zu ernster Unzufriedenheit. Ihr jähzorniger Charakter kommt täglich mehrmals zum Ausbruch. […] Sie wollte bereits zweimal fortlaufen.“280 Eugenie Kunz war mit ihrem rebellischen Verhalten keine Ausnahme. Die Komiteemitglieder und die Vorsteherinnen klagten wiederholt über die Schwierigkeiten im Umgang mit den „Zöglingen“ und über den Widerstand, gegen den sie ankämpfen mussten. Im Jahresbericht von 1910 vermerkt der Frauenverein, eine der Charaktereigenschaften, welche die Frauen ins Heim mitbringen würden, sei Trotz und Starrsinn, „der sich bei Widersetzlichkeit so zu steigern vermag, dass ein Mädchen lieber sich zu Boden wirft, als den verdienten Zurechtweisungen sich fügt“.281 In den Quellen werden die „Zöglinge“ denn auch oft als „unerzogen“, „trotzig“, „frech“ und „unwillig“ beschrieben.

278 Vgl. zum Handlungsspielraum der Betroffenen in der Fürsorge auch folgende teils zu verschiedenen Schlüssen kommende Untersuchungen: Lippuner, 2005, S. 226 – 261; Hauss, Eingriffe, 2012; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013; Wilhelm, Rationalisierung, 2005; Sutter, Polizisten, 2007; Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000. 279 Goffmann, Asyle, 1973, S. 65 – 68. 280 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 28. 11. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 281 23. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 6.

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Die häufigste Verhaltensweise der „Zöglinge“ war aber die Anpassung.282 Mehr als die Hälfte aller „Zöglinge“ ist in den Quellen nie wegen Rebellion oder unangepasstem Verhalten erwähnt. Rund 30 Prozent fielen demgegenüber einmal oder wiederholt negativ auf, leisteten jedoch keinen offenen Widerstand gegen ihren Heimaufenthalt. Jeder siebte „Zögling“ versuchte offensiv, den vorzeitigen Austritt aus dem Heim zu erreichen.283 In den Quellen sind zwei Handlungsweisen sichtbar, welche die „Zöglinge“ anwendeten, um das Heim frühzeitig verlassen zu können: die Flucht und das Beharren auf einen frühzeitigen Austritt. Die wohl offensichtlichste Verweigerung gegenüber dem Leben im Pilgerbrunnen war die Flucht.284 Trotz des herrschenden Überwachungssystems fanden die „Zöglinge“ immer wieder Schwachstellen, die einen Fluchtversuch ermöglichten: sei es bei einem ärztlichen Besuch, während des sonntäglichen Kirchganges (eine junge Frau beispielsweise sprang auf dem Weg zur Kirche beim Rigiplatz in Zürich auf die Straßenbahn und fuhr davon 285), während der Abwesenheit der Vorsteherin, oder – trotz angedrohter Kontrollgänge in den 282 Für die statistischen Angaben habe ich mich auf die Zeit zwischen 1900 und 1905 beschränkt. In diesem Zeitraum sind sowohl die Sitzungsprotokolle als auch die Besuchsbücher erhalten und ermöglichen ein möglichst umfassendes Bild. Von den „Zöglingen“, die in dieser Zeit im Heim waren, habe ich 48 ausgewertet. Die restlichen 29, die in den Quellen erwähnt sich, musste ich ausschließen, weil sie entweder kurz vor Beginn oder kurz vor Ende des untersuchten Zeitraumes ein- bzw. austraten, nur angemeldet waren, aber nie in den Pilgerbrunnen eintraten, oder nur eine kurze Zeit im Pilgerbrunnen verbrachten, bevor sie in eine andere Institution weiterverwiesen wurden. 283 Von den ausgewerteten 48 „Zöglingen“ sind 26 nie wegen Schwierigkeiten in den Quellen erwähnt, 15 fielen negativ auf, leisteten aber keinen offenen Widerstand, 7 bereiteten wiederholt Schwierigkeiten und versuchten offensiv, den Austritt aus der Anstalt zu erreichen. Linda Mahood hat in ihrer Arbeit über zwei Magdalenenheime für „gefallene Mädchen“ in Glasgow und Edinburgh ebenfalls das Verhalten der „Zöglinge“ untersucht und kommt zum Schluss, dass ca. 1/3 der „Zöglinge“ Schwierigkeiten machte, indem sie flüchteten, sich eigenwillig benahmen oder ihre Entlassung forderten (Mahood, Magdalenes, 1990, S. 99 f.). Bronwyn Dalley hat den Widerstand bei weiblichen Gefangenen in Neuseeland untersucht und festgestellt, dass offene Rebellion gegen die Disziplin die am wenigsten häufige Form des Widerstandes war. Die allermeisten reagierten mit Anpassung, Folgsamkeit und Einverständnis (Dalley, rules, 1993, S. 315). Heike Schmid hat für Deutschland 150 Lebensläufe von „Fürsorgezöglingen“ untersucht. 52 Prozent der jungen Frauen flüchteten während ihrer meist mehrere Heime umfassenden „Fürsorgekarrieren“ mindestens einmal aus einem Heim, 23 Prozent mehrmals und drei Prozent mehr als zehnmal (Schmidt, Mädchen, 2002, S. 312). 284 In den untersuchten sechs Jahren sind in den Quellen sieben Fluchtversuche vermerkt (von fünf „Zöglingen“ begangen). 285 5. Jahresbericht des Mädchenheims zum Tannenhof, Januar 1917–Dezember 1918, S. 3. ZBZ, LK 2149.

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Schlafzimmern – im Schutze der Dunkelheit, während die Vorsteherinnen oder Gehilfinnen schliefen. Auch nahmen sie die Hilfe von Personen außerhalb der Anstalt in Anspruch. Claudia Fuchs beispielsweise floh mit einem Italiener nach Belfort.286 Fluchtversuche verursachten eine große Aufregung im Heim und es wurde umgehend die Polizei alarmiert. Die meisten Flüchtigen wurden früher oder später wieder gefunden, von der Polizei unter Beschuldigung des „Vagabundierens“, Diebstahls oder anderer Delikte aufgegriffen,287 in den Pilgerbrunnen zurückgebracht oder der Heimatgemeinde übergeben. Weil die Flüchtenden wussten, dass ihnen die Polizei nachgeschickt wurde, waren sie gewarnt und verhielten sich dementsprechend. Zwei „Zöglinge“ beispielsweise, die gemeinsam die Flucht ergriffen, benutzten falsche Namen.288 Auf die Fluchtversuche reagierte der Frauenverein mit verschiedenen Gegenmaßßnahmen. Als Abschreckungsmittel diente die Drohung der Einzelhaft während einiger Tage bei schmaler Kost.289 Ob diese Strafe jedoch in jedem Fall Anwendung fand, ist unklar. Für die Isolierung wurden spezielle Zimmer eingerichtet. Einer der Beweggründe, das kleine Haus 1894 zu vergrößern, war die Schaffung von Einzelzimmern, um dort „Zöglinge“ zur Bestrafung absondern zu können: „Ein grosser Nachteil [des kleinen Hauses] bietet auch die mangelhafte Einteilung der Zimmer. Die Uebersicht ist eine sehr schwierige und geradezu ungenügende[,] wenn schlimme Elemente vorhanden sind, welche einer besonderen Ueberwachung und zeitweiser Absonderung bedürfen.“290 Zudem existierte ein spezielles Haftzimmer. Eines der Komiteemitglieder beschrieb 1916 im Besuchsbuch, wie ein solcher Raum aussah: Der Zementboden war mit Holz und einem alten Teppich belegt, die Einrichtung bestand aus einem Stuhl, der in einer Ecke stand.291 Auch Geldstrafen wurden verhängt. Marguerite Waser musste fünf Franken für den Baumschaden bezahlen, den sie während ihrer Flucht beim Herunterklettern verursacht hatte.292 Zudem wurde jeder geflüchtete „Zögling“ einer mahnenden Unterredung 286 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 17. 8. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 287 Vgl. z. B. Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 6. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 288 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 24. 10. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9. 289 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 24. 10. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9. 290 4. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1892, S. 10. 291 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 24. 10. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9. 292 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 17. 8. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9.

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mit der Vorsteherin oder einem Komiteemitglied unterzogen.293 Ob dabei auch mit Schlägen oder Scheren der Haare bestraft wurde, wie dies in vergleichbaren Heimen der Fall war, geht aus den Quellen nicht hervor. Hinweise, ob die „Zöglinge“ geschlagen wurden, fehlen grundsätzlich in den Quellen. Dieser Umstand könnte bedeuten, dass diese Strafform nicht praktiziert wurde. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Schläge und Ohrfeigen, eine in Schule, Familie, Waisenhäusern und Erziehungsanstalten übliche Strafe, als Erziehungsmittel Anwendung fanden.294 Im Mädchenheim Tannenhof jedenfalls erteilte die Hausmutter gemäß ihren eigenen Schilderungen eines Fluchtversuchs im Jahr 1941 einer Flüchtigen Ohrfeigen.295 Im Pilgerbrunnen existierte keine strikt einzuhaltende Straf- und Sanktionsordnung. In einer Protokollsitzung im Jahr 1900 wurde darüber beraten, ob eine solche eingeführt werden sollte.296 Man einigte sich, darauf zu verzichten, weil bei der Art der Bestrafung auf die Umstände und die Charakteranlagen der „Zöglinge“ Rücksicht genommen werden müsse. Der Hausmutter wurde es überlassen, nach ihrem Gutdünken zu strafen, womit sich der Leiterin ein großer Macht- und Handlungsspielraum eröffnete, dem vonseiten des Vereins kaum Grenzen gesetzt wurde. Das zweite offensive Vorgehen, um die Anstalt vor Ablauf der Aufenthaltsdauer verlassen zu können, war das beharrliche Bestehen auf einen frühzeitigen Austritt. Diese Strategie erwies sich dann als erfolgreich, wenn der „Zögling“ durch sein Verhalten erreichte, dass der Frauenverein ihn wegen negativen Einflusses auf die anderen Bewohnerinnen lieber entließ, als ihn durch weitere Bemühungen zum Bleiben zu veranlassen. Susanna Heinrich beispielsweise „zeigte sich anhaltend störrisch und verlangte beharrlich ihre Freiheit“.297 Da „keine Ermahnung mehr fruchten wollte“, wurde sie aus dem Pilgerbrunnen ausgewiesen. Der Frauenverein seinerseits versuchte, solche frühzeitigen Austritte wenn möglich zu verhindern. So schrieb beispielsweise Carolina Odermatt ihrem Vormund einen Brief, in dem sie ihn fragte, ob sie eine Stelle antreten dürfe.298 Die Hausmutter fügte 293 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 6. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 294 Zur herrschenden Strafpädagogik vgl. Hafeneger, Strafen, 2011; Hürlimann, Züchtigung, 2013; Akermann, Bericht, 2012. Das zur Zeit laufende Forschungsprojekt „Akermann, Schlussbericht“ untersucht diese Thematik ebenfalls. 295 Brief der Hausmutter des Tannenhofes an den Vorsteher des städt. Jugendamtes III, vom 15. April 1941. StadtA Zürich, Abt VJc 17:6/3. 296 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 2. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 297 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 5. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 298 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 2. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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jedoch dem Brief einen Kommentar bei, der über Carolinas Charakter und Betragen Auskunft erteilte. Ihr Urteil über Carolina, der sie einen Hang zum Lügen und Stehlen sowie fehlende Bußbereitschaft zuschrieb, sollte den Vormund dazu bewegen, die Bitte Carolinas abzuschlagen, was er auch tat.299 Die „Zöglinge“ im Pilgerbrunnen mussten sich zudem bei ihrem Eintritt schriftlich verpflichten, die drei bis sechs Wochen dauernde Probezeit 300 durchzumachen und sich der Hausordnung zu fügen.301 Abschreckend sollte auch die Bestimmung in der Hausordnung wirken, dass den gegen den Willen der Anstalt Austretenden Kleider, Aussteuer und Sparbuch sowie jede weitere Hilfe, sei es etwa bei der Suche nach einer Stelle oder Unterkunft, verweigert wurde.302 Gerade auf Frauen ohne Verwandte, zu denen sie nach der Entlassung aus dem Heim gehen konnten, mochte dies abschreckend wirken. Ohne Stelle und mit dem Stigma eines Heimaufenthaltes behaftet,303 rückten Armut und auch Prostitution näher. Zudem redeten die Hausmutter oder Komiteemitglieder wiederholt auf die Austrittswilligen ein und ermahnten sie, von diesem Vorhaben abzukommen. Bei diesen Unterredungen wurde vermutlich eindringlich auf die Gefahren hingewiesen, in die sich die Frau begebe, indem sie die „rettende Hand“ des Frauenvereins verweigere und vom „Weg der Busse“ abkomme. Die Kommentare in den Besuchsbüchern und Protokollen sagen den Austretenden jedenfalls immer ein schweres, trübseliges Leben und den erneuten „sittlichen Fall“ voraus.304 Beharrte die Betreffende trotz aller „Bemühungen sie andern Sinnes zu machen“305 auf ihrem Wunsch, und verlangten der Vormund, die einweisende Behörde oder bei Minderjährigen der Inhaber der elterlichen 299 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 2. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 300 Schmid, Zürich, S. 204. Die Probezeit variierte in der Länge, vermutlich wurde sie individuell angesetzt. Vgl. beispielsweise Sitzungsprotokolle des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 3. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 301 Wild, Veranstaltungen, 1910, S. 506; Wild, Handbuch, 1933, Bd. 1, S. 440. Auch in anderen privaten Asylen für Prostituierte wurden die Insassinnen wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen schriftlich zum Verbleiben verpflichtet. Finnegan hat ein solches Formular abgedruckt. Vgl. Finnegan, Poverty, 1979, S. 207. 302 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §15; Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1; Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 18. 2. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 303 Viele ehemalige „Heimzöglinge“ berichten in Interviews vom starken Stigma, das ihnen anhaftet(e) (vgl. Akermann, Kurzfassung, 2011. Vgl. auch die Hinweise bei Smith, Magdalen Laundries, 2008; Oberwittler, Strafe, 2000, S. 186; Schmidt, Mädchen, 2002). 304 Beispielsweise Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 2. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 305 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 6. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8.

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Gewalt nicht das Verbleiben der jungen Frau, blieb dem Frauenverein nichts anderes übrig, als dem Wunsch nachzugeben.306 Die Ansichten der Mitglieder der Sittlichkeitsvereine gingen jedoch teilweise ausein­ ander, wenn es um den Zwang zum Bleiben ging, wie eine Debatte im Vorstand ihres Dachverbandes aus dem Jahr 1903 zeigt.307 So setzte sich die damalige Präsidentin des Basler Frauen­vereins zur Hebung der Sittlichkeit dezidiert für die Errichtung eines Heims mit freiwilligem Austritt ein. Gerade diejenigen, die zuvor in einem Gefängnis waren, so ihre Argumentation, würden nur in einen Heimaufenthalt einwilligen, wenn sie keinem Zwang zum Bleiben unterzogen wären, sondern den Zeitpunkt ihres Austritts selbst bestimmten konnten. Auf diese Weise sollten also mehr Frauen zum freiwilligen Eintritt motiviert werden. Die zahlreichen Gegenstimmen aus anderen Deutschschweizer Frauenvereinen zur Hebung der Sittlichkeit stuften die dadurch entstehende „grosse Freiheit“ jedoch als „heikel“ und „bedenklich“ ein. Die „Freiheit des Fortgehens“ würde „den Betrieb sehr erschweren“.308 Zudem wurden Bedenken geäußert, die Frauen würden unter diesen Umständen nur ins Heim kommen, „um zu profitieren“, und dann wieder gehen.309 Trotz des Verfechtens des freiwilligen Austritts plädierte der Basler Frauenverein für Sanktionen, wenn eine Frau „ohne Erlaubnis“ fortlief, indem ihr kein Lohn ausbezahlt wurde.310 Zudem hatte gemäß Statuten ihres Zufluchtshauses die Präsidentin oder deren Stellvertreterin „das Recht, den Austritt um einige Tage zu verzögern, falls sie dies im Interesse der Insassin oder der Anstalt als richtig erachtet“.311 Ferner kam es auch im Zufluchtshaus zu Fluchtversuchen von Insassinnen, was das State­ment des freiwilligen Austritts doch in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt.312 306 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 6. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. Vgl. zur rechtlichen Situation auch Kap. 5.4 (Unterkapitel Der Sonderstatus der Privatheime). 307 Vgl. hierzu die ausführliche Debatte im Protokoll des Dachverbandes vom 5. März 1903. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. 308 Vgl. Protokoll des Dachverbandes vom 5. März 1903. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. 309 Vgl. Protokoll des Dachverbandes vom 5. März 1903. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. 310 Vgl. Protokoll des Dachverbandes vom 5. März 1903. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. §10 der Statuten des Zufluchtshauses besagte: Verrichteten die Insassinnen ihre Arbeit „befriedigend“, dann erhielten sie nach Ablauf „einiger Wochen“ einen „kleiner Lohn“. Zuerst in Form von Materialien, die sie zu Kleidern verarbeiten konnten. Blieben sie mehr als 2 – 3 Monate, kriegten sie den Lohn für „gutgeleistete Arbeit“ in Geldform in einem Sparkassenheft gutgeschrieben. Sie bekamen dieses Geld bei Austritt ausbezahlt, „jedoch nur dann, wenn die Insassin das Haus mit Bewilligung des Komitees verlässt. Entweicht sie oder verlässt sonst das Haus ohne Bewilligung, so geht sie des Lohnes in barem Geld verlustig.“ (vgl. Statuten des Zufluchtshauses für bedrängte Frauenspersonen, Holeestrasse 119. Undatiert. (ca. 1910) §10. StABS, PA 882, AA 1.1 a.). 311 Statuten des Zufluchtshauses für bedrängte Frauenspersonen, Holeestrasse 119. Undatiert. (ca. 1910) §10. StABS, PA 882, AA 1.1 a. 312 Vgl. z. B. 3. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1904, S. 3.

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Die Entlassung aus dem Heim bedeutete für den „Zögling“ nicht zwangsläufig die ersehnte Freiheit, sondern konnte mit der Einweisung in eine „strengere“ Institution (wie der Irrenanstalt, dem Gefängnis oder einer Zwangserziehungsanstalt) oder in einer anderen Fürsorgeeinrichtung enden, was vom Frauenverein gezielt als Drohmittel eingesetzt wurde.313 Eugenie Kunz beispielsweise wurde nach zweimaligem Fluchtversuch und anhaltend „tobsüchtigem“ Verhalten aus dem Pilgerbrunnen entlassen und sollte in ein anderes Erziehungsheim gebracht werden. Nachdem sie das betreffende Heim gesehen hatte, bat sie jedoch „flehentlich“ darum, wieder in den Pilgerbrunnen mitgehen zu dürfen.314 Der Schwester, die sie begleitet hatte, gelobte sie, „gewiss ein besseres Leben anfangen“ zu wollen.315 Auch Susanna Heinrich bat um Rückkehr in den Pilgerbrunnen, als sie nach Beharren auf ihren Austritt aufgrund der Anweisungen der Gemeindebehörde in die Zwangserziehungsanstalt Kalchrain gebracht werden sollte,316 und gab an, sie habe erkannt, der Aufenthalt im Pilgerbrunnen diene zu ihrem Besten.317 Die „Zöglinge“ im Pilgerbrunnen erfuhren von solchen Ereignissen durch die Rückkehr der Ausgewiesenen, was sicherlich eine abschreckende Wirkung auf manche ausübte und angepasstes Verhalten förderte. Das Beispiel von Rosa Biber verweist auch auf mögliche Konflikte zwischen Freiheitsdrang und Scheu vor der Außenwelt. Die Scheu vor der Außenwelt veranlasste Rosa Biber, die nach einem Gefängnisaufenthalt wegen Diebstahls in einer Dienststelle zum zweiten Mal in den Pilgerbrunnen eingewiesen wurde, längere Zeit im Heim zu bleiben. Als sie wegen ihrer guten Arbeitsleistung gebeten wurde, als Gehilfin in der Anstalt zu bleiben, nahm sie dieses Angebot „gerne“ an, mit der Begründung, es sei „ihr bange“, „sie sei noch nicht fest genug“ für den Austritt aus dem Pilgerbrunnen.318 Über ihren Gefängnisaufenthalt waren die „Zöglinge“ des Pilgerbrunnens informiert worden. Durch das Berichten über schlechte Erfahrungen Ehemaliger förderte der 313 21. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1909, S. 7; 3. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1891, S. 11; 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1910, S. 11 und 31. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 3; 2. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1890, S. 8. 314 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 29. 1. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 315 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 29. 1. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 316 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 5. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 317 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 5. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 318 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 7. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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Frauenverein gezielt die Angst vor der Außenwelt und stärkte das Bild vom heimat­ lichen Pilgerbrunnen, wo die „Zöglinge“ gut aufgehoben seien. Ferner zeigten sie den „Zöglingen“, wohin unangepasstes Verhalten führen konnte, und übten damit Druck aus. Auch konnten die im Heim vermittelten Bilder einer Charakterschwäche und von Unzulänglichkeit bei „Zöglingen“ Zweifel am eigenen Bestehen in der Außenwelt aufkommen lassen. Erzieherisch sollte auch das Beschäftigen von ehemaligen „Zöglingen“ als Gehilfinnen wirken, die sich während ihres Heimaufenthaltes „gut gehalten“ hatten. Sie mussten auf die „Zöglinge“ einen guten Einfluss ausüben und ihnen als Vorbild dienen, ansonsten wurden sie wieder entlassen. Neben Fluchtversuchen und Bestehen auf einen frühzeitigen Austritt gab es eine Palette von unangepassten Verhaltensweisen, wie „Ungehorsam“, „Rebellion“ und „Eigensinn“. Diese Handlungsweisen müssen des Öfteren vorgekommen sein, ­wurden sie doch in den Hausordnungen sanktioniert. Das Sichwidersetzen gegen die Anordnungen konnte sich beispielsweise durch Verweigerung des Bekenntnisses von angeblich begangenen Verfehlungen manifestieren, was in den Quellen wiederholt anzutreffen ist. Dass „Zöglinge“ gegen das Sündenbekenntnis im Heim rebellierten, weist auch auf konkurrierende Deutungen von „Sünde“ hin. Nicht alle „Zöglinge“ sahen sich als „Gefallene“ oder „sittlich Gefährdete“, denn Keuschheit hatte in der Unterschicht eine andere Bedeutung als in den bürgerlichen Kreisen. In den Quellen wird diese Problematik etwa dann sichtbar, wenn eine Insassin zu verstehen gab, dass sie fälschlicherweise oder zu Unrecht im Heim war und nicht wusste, worin ihre „Schuld“ bestand.319 Das Wissen über die Bedeutung des Bekenntnisses wurde von den „Zöglingen“ auch zu ihren Gunsten genutzt. Josephine Wild zum Beispiel, einer ehemaligen Insassin, die als Gehilfin im Pilgerbrunnen eingestellt war, wurde wegen Fehlverhaltens gekündigt. Im Besuchsbuch stand daraufhin Folgendes vermerkt: „Es hatte dies die gute Folge, dass [...] [ Josephine] Einiges bekannte gegen […] [die Hausmutter], was ihr schon lange auf dem Gewissen gelegen u sie offenbar auch so widerspenstig gestimmt hatte. Die Reue über ihr Benehmen folgte dem Bekümmernis nach u diesem auch die flehentliche Bitte, wieder bleiben zu dürfen.“320 Das Komitee beschloss daraufhin, dass Josephine Wild noch einige Zeit im Pilgerbrunnen bleiben dürfe, dann aber solle ihr eine Stelle gesucht werden. Gemäß Hausordnung wurde ebenso die Arbeitsverweigerung sanktioniert.321 Wie oft diese vorkam, wird in den Quellen nicht sichtbar. Möglicherweise verbirgt sich 319 Auch Linda Mahood hat in ihren Untersuchungen von Magdalenenheimen in Schottland auf diese unterschiedliche Wahrnehmung von Einweisenden/Heimleitung und „Zöglingen“ hingewiesen (vgl. dazu Mahood, Magdalenes, 1990, S. 100). 320 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 7. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 321 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §16. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1.

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hinter mancher Charakterisierung eines „Zöglings“ als „träge“, „arbeitsscheu“ und „faul“ ein Hinweis, dass sich der betreffende „Zögling“ bewusst und mehr oder weniger ausgeprägt der Arbeit widersetzte. Nur bei einem Vorfall zeigt sich eindeutig, dass ein „Zögling“ die Arbeit demonstrativ niederlegte und damit den Heimaustritt erzwang. Jenny Furrer stand nach ihrer missglückten Flucht am darauffolgenden Morgen nicht zur Arbeit auf und verlangte das Frühstück ans Bett. Dieses Aufbegehren endete für Jenny Furrer mit der Verlegung in die „Irrenheilanstalt“ Burghölzli, in die sie noch am selben Tag, versehen mit einem ärztlichen Zeugnis, eingewiesen wurde.322 Vereinzelt ist von Angriffen gegen die Schwestern die Rede. Es kam vor, dass „Zöglinge“ sich „bösartig“ oder „tobsüchtig“ gegenüber den Diakonissen verhielten. In den meisten Fällen handelte es sich um verbale Angriffe. Eugenie Kunz ist der einzige „Zögling“, über den vermutet werden kann, dass er die Vorsteherinnen auch tätlich angriff. Ihr „jähzorniges“ und „tobsüchtiges“ Verhalten ging so weit, dass der Frauenverein bei der Polizei anfragte, ob „in Fällen da der Zögling […] für die Anstalt gefährlich erscheint, polizeiliche Hülfe verlangt werden“ könne.323 Auch zwischen den „Zöglingen“ kamen Streit und Schlägereien vor.324 Ein weiteres unangepasstes Handeln von „Zöglingen“ war das Durchbrechen der Schranken, die das Leben im Heim von der Außenwelt abgrenzen sollten. Nicht nur fanden „Zöglinge“ Schwachstellen in der Überwachung, die sie zu Fluchtversuchen nutzten, sie schmuggelten auch Briefe hinaus und empfingen solche unbemerkt, obwohl die eingehende und ausgehende Briefpost kontrolliert wurde. Ein „Zögling“ überreichte nach seinem misslungenen Fluchtversuch den Vorsteherinnen einen Brief ihrer „alten Freunde“, die sie zur Flucht und zur Rückkehr in ihr früheres Leben animieren wollten.325 Der Brief war der restlichen Briefpost so beigelegt worden, dass er der Vorsteherin entging. Bei einem anderen „Zögling“, Flora Meier, wurde nach einem vereitelten Fluchtversuch ein Brief entdeckt, den sie ihrem früheren Liebhaber senden wollte.326 Auch der Kontakt zu ehemaligen Liebhabern oder Männern aus der Nachbarschaft konnte trotz Überwachung und Kontrolle nicht gänzlich 322 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 6. 3. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7; Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 31. 3. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 323 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 10. 1. 1902. Vgl. auch Protokolle des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 28. 11. 1901; 10. 1. 1902; 13. 2. 1902 (EFZ, Schachtel C.I. Heft 2) und Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 7. 11. 1901; 8. 1. 1902 (EFZ, Schachtel C.I. Heft 8). 324 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 2. 1905 und vom 26. 4. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 325 24. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1912, S. 7. 326 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 6. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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unterdrückt werden. Im Sommer 1904 bat der Frauenverein gar um Polizeischutz, weil „es bei Nacht sehr oft vorkomme, dass Männer ausserhalb des Gartenzauns sich aufhalten, ja dass einzelne sogar im Garten herum gehen“.327 Der Verein vermutete, es handle sich bei den Männern um „Anhänger“ einzelner „Zöglinge“.328 In einen anderen Vorfall waren drei Insassinnen verwickelt. Maja Widmer wurde von einem jungen Nachbarn zum Biertrinken verleitet und machte sich, zusammen mit Irma Wenger und Jolanda Prediger, durch Steinchenwerfen bemerkbar, vermutlich um zu weiterem Bier zu gelangen.329 Die Reaktion des Frauenvereins auf diese Episode ist nur im Fall von Maja Widmer bekannt. Ihr wurde angedroht, dass das Kostgeld für das dritte Anstaltsjahr nicht ermäßigt werde, falls sie ihr Verhalten nicht ändere. Das Kostgeld wurde von Maja Widmers nächsten Verwandten, vermutlich von der Schwester oder den Eltern, bezahlt. Gegenüber „Zöglingen“, die durch ihr Verhalten einen negativen Einfluss auf die anderen ausübten, reagierte der Frauenverein mit Separierung und Unterdrückung von Freundschaften. So wurde Carolina Odermatt nach ihrem Austritt „jegliche Verbindung, mündliche sowie als schriftliche, mit den Zöglingen des Vorasyls untersagt“, da ihr „Einfluss“ ein „durchaus verderblicher“ sei.330 Über Maria Seghers berieten die Komiteemitglieder, ob sie ausgewiesen werden solle, um sie von Flora Meier, mit der sie ein Freundschaftsverhältnis unterhielt, zu trennen.331 Beide Frauen waren in den Augen des Frauenvereins „in tiefer Sinneslust“ gefangen und übten nicht nur auf die anderen „Zöglinge“ einen „unmoralischen Einfluss“ aus, sondern beeinflussten sich auch wechselseitig im Negativen. Nach dem Austritt versuchten ehemalige „Zöglinge“ teilweise erfolgreich, sich dem Einflussbereich des Pilgerbrunnens zu entziehen. Beispielsweise mietete Rosa Biber ein Zimmer bei einer Familie, wo sie gemäß den Aussagen des Frauenvereins nicht unter der nötigen Kontrolle stand. Der Verein versuchte, Rosa Biber zu überzeugen, „im Mädchenheim an der Bäckerstrasse Aufnahme zu finden, da das Miethen eines Zimmers für sie mit Gefahren verbunden“ sei.332 Im Protokoll wurde vermerkt, 327 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 21. 6. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 328 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 7. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 329 Vgl. Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 22. 9. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 330 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 1. 11. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 331 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 17. 10. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 332 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 5. 12. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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Private Erziehungsheime für weibliche Jugendliche

dass „schwerlich noch ein Einfluss auf sie geltend gemacht“ werden könne, wenn Rosa Biber sich dem Wunsch des Pilgerbrunnens widersetzte.333 Ob sie dem Gebot des Frauenvereins nachging oder nicht, geht aus den Quellen nicht hervor. Anna Prüfer beispielsweise gelang es, sich dem Frauenverein zu entziehen. Statt die Stelle als Wäscherin im Krankenasyl Neumünster anzutreten, die ihr der Frauenverein vermittelt hatte, nahm sie Reißaus, „wohin, ist uns heute noch unbekannt, denn nun muss man sie gehen lassen“.334 Das Verheimlichen des Aufenthaltsortes scheint eine häufige Taktik nicht nur bei den „Zöglingen“ des Pilgerbrunnens gewesen zu sein. Bei der Polizeiassistentin, so beklagte sich der Stadtrat in seinem Geschäftsbericht von 1909, hatten sich von den insgesamt 30 Fürsorgefällen 13 „der Fürsorge und der Beeinflussung bald wieder durch Verheimlichung des Aufenthaltsortes entzogen“.335 Auch auf der Flucht vor vormundschaftlichen Eingriffen oder bei Zahlungsschwierigkeiten war dies eine beliebte Taktik.336 Sanktionsmittel waren ferner auch der Entzug von Vergünstigungen, Isolierung, Entlassung, Rechenschaftsablegung vor dem Heimkomitee, Essensentzug oder Ausschluss vom Gottesdienstbesuch und vom gemeinsamen sonntäglichen Spaziergang.337 In der Hausordnung von 1899 ist nach zehnjähriger Erfahrung mit den jungen Frauen eine Verschärfung der Regeln gegenüber der Hausordnung aus dem Gründungsjahr 1889 ersichtlich. Die in der neuen Hausordnung verbotenen Handlungen betrafen den Umgang mit den Vorsteherinnen, Arbeit und Essen sowie die Beziehungen zwischen den „Zöglingen“ und müssen im Heimalltag des Öfteren vorgekommen sein. Herumstehen und Plaudern in den Gängen und Schlafzimmern waren nun verboten und den Vorsteherinnen mussten „Ehrerbietung und Zuvorkommenheit“ entgegengebracht werden. Neu war auch die Anmerkung, dass die „Zöglinge“ am Morgen nach dem Wecken „sofort“ aufstehen mussten und ihre Arbeit willig und gründlich zu verrichten hatten; dies wohl als Reaktion auf Arbeitsverweigerung und „schlechte“ Arbeitsmoral. Auch das Essen scheint den Widerstand der „Zöglinge“ provoziert zu haben, denn in der neuen Hausordnung wurde erwähnt, dass die „Zöglinge“ bei den Mahlzeiten nicht wählerisch sein sollten. Die Vereinsfrauen erwähnten einen Vorfall mit einem „Zögling“, der sich nach seiner Flucht im Elternhaus über das Essen im Pilgerbrunnen beklagte, jedoch nicht über Mangel an Nahrung, sondern über gewisse 333 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 1. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 334 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 1. 9. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 335 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 93 f. 336 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 269. 337 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1889, §§14 und 16. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1.

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Speisen, die er offensichtlich nicht mochte. Die Eltern wollten daraufhin ihre Tochter nur unter der Bedingung ins „Asyl“ zurückgehen lassen, wenn sie „vom Essen der Suppe und der Krautstiele suspendiert werde“.338 Wie die Kost der „Zöglinge“ letztlich war, geht aus den überlieferten Quellen nicht hervor.339 Die neue Hausordnung forderte zudem die „Zöglinge“ zur Denunziation ihrer Mitinsassinnen auf. Es sei ihre Pflicht, „den Vorsteherinnen anzuzeigen, wo wirklich Verbotenes geschieht oder Verführung zu bösen Dingen vorhanden“ sei.340 Die Aufforderung zur Denunziation lässt eine große Solidarität zwischen den „Zöglingen“ vermuten. Deren solidarisches Schweigen begünstigte die Fluchtversuche und anderes Fehlverhalten. Auffallend ist, dass der überwiegende Teil der „Zöglinge“ als Einzelperson gegen die Disziplin rebellierte, gemeinsames Vorgehen war selten. Nur zwei Fluchtversuche wurden in den untersuchten Quellen von zwei „Zöglingen“ gemeinsam unternommen. Ebenso fehlen Hinweise auf gemeinsame Streiks oder Aufstände.341

Angepasstes Verhalten und das Vergünstigungssystem Ein angepasstes Verhalten kann auf eine positive Einstellung zum Heim, eine Akzeptanz der gebotenen Ordnung oder Identifikation mit den Deutungsmustern der Heimleitung hinweisen. Es kann sich aber auch um eine Handlungsstrategie handeln, um durch angepasstes Verhalten Vorteile zu erlangen. Wer sich gut benahm, konnte zwar keinen frühzeitigen Austritt erwirken, erhielt aber eher die Gelegenheit, das Heim nach zwei statt drei Jahren zu verlassen. Angepasste wurden weniger bestraft, erhielten gegenüber den Rebellischen Privilegien, bekamen eine großzügigere Aussteuer 342 338 12. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 6. 339 Vgl. zur Kost in Schweizer Heimen die Untersuchung von Ott, Daheim, 2008, S. 161 – 164; Akermann, Bericht, 2012. Das zur Zeit laufende Forschungsprojekt „Akermann, Schlussbericht“ untersucht diese Thematik ebenfalls. 340 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1. 341 Verschiedene Untersuchungen zu Widerstandsformen in Heimen und Gefängnissen haben gezeigt, dass bei männlichen Insassen häufiger Revolten stattfanden als bei weiblichen Insassinnen, die kaum gemeinsame Streiks veranstalteten. Dies deckt sich mit meinem Befund bezüglich des Pilgerbrunnens (vgl. dazu Peukert, Grenzen, 1986, S. 240 – 254; Dalley, rules, 1993, S. 311; Schmidt, Mädchen, 2002, S. 208). In einem anderen Mädchenheim, dem Heimgarten bei Bülach, kam es jedoch in den 1950er Jahren zu einem Streik und einem Massenausbruch – jedoch deutlich später als die hier erwähnten Untersuchungen (vgl. Die Stadtärztin, Stadtärztlicher Dienst Zürich, an den Vorsteher des Gesundheits- und Wirtschaftsamtes, 19. Oktober 1953. Archiv Schulinternat Heimgarten). 342 Hausordnung des Pilgerbrunnens, 1899. EFZ, Schachtel C.I. Heft 1.

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und konnten bei guter Arbeitsleistung Wünsche für ihre zukünftige Arbeitsstelle oder Berufsausbildung anbringen, die ihnen gewährt wurden, sofern eine solche als geeignet erachtete Stelle oder ein Ausbildungsplatz zur Verfügung standen. Der Frauen­ verein verfügte über ein großes Beziehungsnetz in der gesamten Deutschschweiz und vermittelte nicht nur Arbeitsstellen, sondern auch Ausbildungsplätze, etwa in Kinder­gärten, Schneiderwerkstätten, Pflegerinnenschulen oder Glättereien.343 Auch der Wunsch, Anerkennung oder Liebe und Geborgenheit zu erhalten, mochte zu einem angepassten Verhalten geführt haben. Das Beispiel von Marie Ober zeigt, welche Vorteile angepasstes Verhalten bringen konnte. Es verdeutlicht zudem, was von den Erziehenden als gute Verhaltensweise empfunden wurde und wie eng Schutz und Hilfe davon abhingen, ob das Verhalten des „Zöglings“ den Anforderungen des Vereins entsprach. Marie Ober war ein „Zögling“, wie er einer sein sollte, von Hausmutter und Komitee gerühmt und geliebt. Arbeitsam, fleißig, lieb, einen guten Einfluss auf die anderen „Zöglinge“ ausübend und „immer sehr aufmerksam in den Bibelstunden“, entsprach sie genau den Vorstellungen des Frauenvereins von einer erfolgreichen Resozialisierung. 344 Marie Ober arbeitete eine Weile als Gehilfin im Pilgerbrunnen und durfte nach dem Antritt einer Bürostelle in Zürich weiterhin im „Asyl“ zu einem günstigen Preis wohnen. Wegen ihrer schlechten Gesundheit ließ ihr der Frauenverein viel Pflege angedeihen: Sie durfte in ein Erholungshaus, ihr wurde spezielle Nahrung zubereitet und dem angehenden Dienstherrn wurden vom Frauenverein wegen der schwachen Konstitution der jungen Frau Bedingungen gestellt, die er akzeptieren musste.345 Die Bürostelle wurde vom Komitee jedoch als zu anstrengend für ihre schwache Kondition erachtet, und der Frauenverein entschied deshalb, ohne Marie Ober einzubeziehen, dass ein Klimawechsel für sie am besten sei, und „einigt[e] sich dahin“, dass sie zum Austritt veranlasst werden solle.346 Trotz mehrmaliger Unterredung weigerte sich Marie Ober jedoch, ihre Stelle aufzugeben.347 Die positive Einstellung zu diesem „Zögling“ kippte ins Gegenteil, als Marie Ober sich den Anweisungen des Frauenvereins beharrlich widersetzte. Sie wurde nun als „empfindliches, launenhaftes oft 343 Beispielsweise Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 3. 1. 1905; Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 6. 5. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 344 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 17. 11. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 345 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 9. 1903 und 13. 1. 1904 und 5. 12. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 346 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 13. 12. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 347 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 1. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2.

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unfreundliches & undankbares Wesen“348 beschrieben und die Hausmutter klagte, sie „entfremde sich dem Hause, lasse sich auch nichts mehr sagen“.349 Auch das Verhalten des Frauenvereins änderte sich, spezielle Hilfeleistungen wurden nunmehr verweigert. Das Komitee stellte ihr auf ihre Weigerung hin „die Bedingung sich besser zu nähren, nicht mehr über Arbeitsüberhäufung noch über ihre Gesundheit zu klagen, u bemerkte ihr, dass sie die event. Folgen ihres eigenwilligen Handelns auf sich zu nehmen habe & dass sich […] [die Hausmutter], sowie als das Komitee sich jeder weiteren Verantwortung entziehe“.350 Zudem durfte sie nicht mehr weiter im Pilgerbrunnen wohnen.351 Sonntägliche Besuche im „Asyl“ wurden ihr nur erlaubt, solange sie „sich dankbar darüber zeigt“, „sich freundl. aufführt“352 und „durch ihr Betragen keinen Anstoss gibt weder den Schwestern noch den Zöglingen“.353 Der Hausmutter wurde das Recht erteilt, ihr das Kommen zu bewilligen oder aber zu verweigern.354 Auf den Wunsch des ehemaligen „Zöglings“, erneut im Pilgerbrunnen in Miete genommen zu werden, trat das Komitee nicht ein, „da ihr launisches eigenwilliges & empfindliches Wesen noch immer vorherrsch[e]“.355 Die Berichte über Marie Ober enden, als sie sich entschloss, die Bürostelle in Zürich zu verlassen und die vom Frauenverein ursprünglich vorgeschlagene Stelle in Locarno anzutreten, und als dann von dort gute Berichte über sie eintrafen.356 Wie dieser enden viele Berichte in den Protokollen und Besuchsbüchern. Der ehemalige „Zögling“ hatte sich im Sinne des Frauenvereins im Leben etabliert und die guten Berichte über ihn erforderten keine weiteren Maßnahmen.

348 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 2. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 349 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 6. 5. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 350 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 1. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 351 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 1. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 352 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 2. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 353 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 18. 2. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 354 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 2. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 355 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 18. 2. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 356 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 6. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. Und Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom September 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8.

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Angepasstes Verhalten konnte auf eine Identifikation mit dem Heimleben und der Philosophie des Heims hindeuten, wie dies bei Marie Ober sichtbar wird. Es gab „Zöglinge“, die den Aufenthalt positiv erlebten und am Heim hingen. Dies zeigt sich insbesondere bei jenen „Zöglingen“, die im „Asyl“ als Gehilfinnen arbeiten wollten. Über einen ehemaligen „Zögling“, der seit über einem Jahr ausgetreten war, wird beispielsweise berichtet, er hänge „mit inniger Liebe an den lieben Schwestern im Vorasyl“ und drücke „oft den Wunsch aus, mitarbeiten zu dürfen an dem Rettungswerk im Vorasyl“.357 Auch von Besuchen und Ferien Ehemaliger ist in den Quellen immer wieder die Rede. Jeweils am Sonntagnachmittag, wie auch am 3. Januar, dem Bechtoldstag, durften Ehemalige zu Besuch in den Pilgerbrunnen kommen, ebenso durften sie ihre Ferien im Heim verbringen. Einige „Zöglinge“ blieben zudem in Briefkontakt mit der Hausmutter. In den Jahresberichten sind wiederholt solche Briefe zitiert, wobei es sich ausschließlich um solche handelt, die eine positive, anhängliche Beziehung zum „Asyl“ beschreiben. In einem Brief stand beispielsweise: „Ich möchte noch fragen, ob ich nach Neujahr in den Pilgerbrunnen kommen dürfte. Ich kann nichts dafür, aber es zieht mich so sehr. Nicht, dass ich etwa aufdringlich sein will, aber ich habe einfach Heimweh!“ Und ein anderer: „Nun möchte ich herzlich bitten, ob ich nicht heimkommen dürfte in den Pilgerbrunnen, bis ich ein Plätzchen gefunden, es zieht mich so sehr wieder einmal heimzukommen.“358 Wenn auch die Auswahl der Briefe selektiv gewesen sein mochte, so zeigen sie doch die Anhänglichkeit einiger „Zöglinge“ an das Heim. Manche dürften sich von solchen Briefen auch Vorteile erhofft haben. Es kam aber vor, dass „Zöglinge“ eine starke Zuneigung und Verbundenheit zur Hausmutter oder zu einer oder mehreren anderen Angestellten entwickelten. Über Eva Eberhard berichtet beispielsweise ein Mitglied des Komitees, sie habe sich „sehr an die erste Hausmutter angeschlossen“.359 Monika Gietzendanner, ein ehemaliger „Zögling“, schrieb einen Brief an das Komitee mit der Bitte, „man möchte sie doch wieder bei […] [der Hausmutter] lassen“.360 Die positive Einstellung gegenüber der Anstalt konnte auch zu einer gewissen Abhängigkeit führen. Ein ehemaliger „Zögling“ schrieb: „Bitte Sie herzlich, beten Sie für mich, schreiben Sie auch wieder einige Zeilen, reden Sie recht ernst mit mir; auch wenn es dem alten Menschen nicht passt.“361 Esther Weisshaupt, ein anderer „Zögling“, kehrte kurze Zeit nach dem Austritt in eine Stelle in den Pilgerbrunnen zurück mit 357 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 9. 358 23. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1911, S. 9. 359 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom November 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 360 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 12. 5. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7. 361 15. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1902, S. 15.

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der Bitte, als Gehilfin dienen zu dürfen, weil „[d]er Gedanke anders wo dienen zu müssen […] ihr so schwer“ falle.362 Das Beispiel von A. W. zeigt diese Anhänglichkeit und Verbundenheit dem Erziehungsheim gegenüber besonders deutlich. Unter dem Titel „Ein ehemaliges Obstgartenkind schreibt“ verfasste A. W. ein Zeugnis aus eigener Feder über ihre Zeit im Erziehungsheim Obstgarten in Rombach bei Aarau, das dem Aargauer Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit gehörte.363 Ich ziehe diese Quelle hier hinzu, obschon sie von einem anderen Erziehungsheim der Sittlichkeitsvereine handelt, weil sie eines der selten erhaltenen Selbstzeugnisse eines ehemaligen „Zöglings“ darstellt. Es handelt sich um ein Andenken an die verstorbene Präsidentin des Aargauer Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit und des Verbandes deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Emma Schmuziger. A. W.’s Schreiben (die verwendeten Initialen sind rein fiktiv) erschien zusammen mit anderen Gedenkschriften in einem Büchlein zum Leben von Emma Schmuziger. A. W. berichtet darin von ihrer Zeit im Erziehungsheim Obstgarten und ihren Begegnungen mit Frau Pfarrer Schmuziger, die in regem Kontakt mit den „Zöglingen“ stand. A. W. muss vom Frauen­verein und von Emma Schmuziger sehr geschätzt worden sein, denn sie durfte im Obstgarten als Gehilfin dienen und nach dem Antritt anderer Arbeitsstellen konnte sie weiterhin im Obstgarten nächtigen. Zudem wurde sie tageweise bei Frau Pfarrer Schmuziger eingestellt und schließlich für 2 ¼ Jahre ganz als Dienstmädchen engagiert. Danach diente sie ein Jahr bei der Tochter von Schmuziger. Zudem bezahlte Schmuziger A. W.’s Hochzeit. Mit vierzehn Jahren kam A. W. in den Obstgarten, einem „Mädchenheim für körperlich und sittlich geschädigte Schulmädchen“. Sie verspüre noch heute das „wohlige Gefühl“, das sie umfing, als sie „endlich einmal so recht daheim war im Obstgarten“.364 Von Vater und Mutter habe sie keine Liebe und Fürsorge erhalten. Im Obstgarten wurde dies anders. A. W. berichtet von im Heim empfangener Liebe und Geborgenheit. Die Hausmutter des Obstgartens, die alle „Zöglinge“ „Tante [...]“ nannten, sei ihnen „allen eine liebende Mutter“ gewesen. Jede Woche durften zwei „Zöglinge“ mit einer Vorgesetzten zu Schmuziger ins Pfarrhaus. A. W. war stolz darauf, wenn es „hie und da“ sie traf – offenbar ein Privileg, das nicht allen „Zöglingen“ gewährt wurde. A. W. erinnerte sich an ein Weihnachtsfest, an dem Schmuziger vorbeikam und versuchte, „mit ihrer ganzen Liebe“ die Insassinnen „zu ändern, was ihr auch so gut gelang“, dass die „Zöglinge“ nachher „immer sagten, das sei ja viel

362 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 15. 10. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 363 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14 f. 364 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14.

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schöner gewesen als andere Jahre“.365 Was das Weihnachtsfest so besonders schön machte, schreibt die Verfasserin nicht. Sie erwähnt einzig, dass Frau Schmuziger den „Zöglingen“ Porzellantassen statt der alten Blechtassen vorsetzte und dass sie dies tat, noch bevor sie ermahnende Worte an die versammelten „Zöglinge“ richtete, was A. W. besonders beeindruckt haben muss.366 A. W. erkennt dahinter den Beweis für die Liebe von Schmuziger für die Insassinnen. Das Weggehen vom Obstgarten fiel A. W. schwer. Es sei ihr „fast wie manchem Strafentlassenen“ ergangen, indem sie „nicht mehr fort vom Obstgarten wollte“.367 Ihre Zeit im Obstgarten beschreibt sie als weit erstrebenswerter als ihre Vergangenheit im von fehlender Liebe und Fürsorge geprägten Elternhaus und die Aussicht auf neue Wege in die Zukunft. Nach der Dienstzeit im Obstgarten, bei Schmuziger und deren Tochter kehrte sie zur Pflege ihrer Eltern nach Hause zurück. Ein Jahr später heiratete sie. Während ihrer Bekanntschaft mit ihrem späteren Mann vertraute sie Frau Schmuziger alles an. Der Gedanke an Schmuziger habe sie „vor mancher Versuchung“ bewahrt.368 A. W. wurde, wie sie schrieb, zu einer religiösen, glücklich verheirateten Hausfrau und Mutter – und wurde so auch zu einem Vorzeigebeispiel für den Erfolg der Anstalt. A. W. konnte sich offenbar mit den Erziehungsprämissen des Obstgartens identifizieren. Die „Zöglinge“ hätten es verdient, manchmal „ganz gehörig in den Senkel“ gestellt zu werden.369 Ihre eigene Schuldhaftigkeit sowie jene der anderen Insassinnen betonte sie wiederholt. So schrieb sie, dass sie nicht nur wegen der Pflege ihrer Eltern aus dem Dienst von Schmuziger und deren Tochter wegging, sondern auch durch „eigene grosse Schuld“.370 Offenbar sah sie sich selbst als Schuldbehaftete an, die Zurechtweisungen, mahnende Worte, Erziehungsmaßnahmen und Ratschläge zur Vermeidung weiterer Fehltritte nötig hatte. Auch wenn aus den Quellen wegen fehlender direkter Zeugnisse der Insassinnen nicht auszumachen ist, wie viele der „Zöglinge“ ihren Heimaufenthalt eher positiv erfuhren, sich etwa sicher, aufgehoben, beschützt oder gefördert fühlten, und wie viele den Aufenthalt eher negativ erlebten, indem sie etwa vorwiegend ausgrenzende, repressive, marginalisierende oder stigmatisierende Aspekte empfanden, wird dennoch deutlich, dass es beide Positionen gab.371 365 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14. 366 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14. 367 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14. 368 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 15. 369 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14. 370 In memoriam, Frau Pfarrer Schmuziger, S. 14. 371 Die Sicht der „Zöglinge“ auf ihre Zeit im Heim kann dank einer besseren Quellenlage sowie Interviews bei anderen ähnlichen Anstalten genauer erfasst werden (vgl. etwa Peukert, Grenzen,

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Die Rolle von außenstehenden Personen Im Pilgerbrunnen übten neben dem Frauenverein und den „Zöglingen“ auch Drittpersonen außerhalb der Anstalt Einfluss aus. Zu diesen Außenstehenden gehörten jene Personen, die mit dem „Zögling“ in Beziehung standen, sei es durch Verwandtschaft, Einweisung ins Heim oder Bezahlung des Kostgeldes für den Heimaufenthalt. Hierzu zählen unter anderem die Eltern, Verwandte, Ärzte, Vormünder, Armen- und Waisenbehörden, private Vereine und Pfarrämter. Der Frauenverein stand mit den Personen, die für den „Zögling“ das Kostgeld bezahlten oder ihn für einen Heimaufenthalt angemeldet hatten, in schriftlichem oder mündlichem Kontakt.372 In diesen Kontakten ging es unter anderem um Verhandlungen über die Kostgeldhöhe und die Aufenthaltsdauer. Die Höhe des Kostgeldes und die Länge des Aufenthalts waren zwar eigentlich genau festgelegt, trotzdem versuchten Drittpersonen immer wieder, diese Vorgaben zu umgehen. Insbesondere das Kostgeld war ein Punkt, der zu Konflikten führte. Es kam vor, dass die Kostgeldzahler um Reduktion des Betrages baten oder sich weigerten, den Unterhalt noch weiter zu bestreiten.373 Durch die Zahlungsverweigerung konnten sie den Austritt des „Zöglings“ oder eine Reduktion des Kostgeldes erreichen. Die Armenpflege von Kaltenbach schrieb beispielsweise, das Kostgeld für Susanna Heinrich nicht mehr bezahlen zu wollen.374 Ein Schreiben und eine mündliche Unterredung eines Vereinsmitgliedes mit dem zuständigen Pfarrer konnten den Austritt von Susanna Heinrich verhindern und die Armenbehörde zur Bezahlung eines reduzierten Kostgeldes bewegen. Waren die Eltern und Verwandten mittellos, so mussten die Armenbehörden des Heimatortes bezahlen, was diese jedoch angesichts der beträchtlichen Kosten eines Heimplatzes oft verweigerten.375 Auch von den Eltern, die nur bei Mittellosigkeit nicht zur Bezahlung verpflichtet wurden,376 kam Widerstand. Die Mutter von Leni Mann beispielsweise ersuchte, auf ihre große Armut verweisend, um Ermäßigung des verlangten Kostgeldes. Die Protokollführerin vermerkte daraufhin, sie habe sich 1986; Schmidt, Mädchen, 2002; Finnegan, Poverty, 1979, S. 191; Fontana, Fürsorge, 2007. Für die Schweiz vgl. Ott, Daheim, 2008; Akermann, Meerrohrstock, 2004; Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012; Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt). 372 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 2. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 373 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 16. 3. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 374 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 16. 3. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 375 Schreiber, Amtsvormundschaft, 1993, S. 264. 376 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom November 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7.

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schließlich, wahrscheinlich unseligerweise, „mit fcs 20 & 3 Säcken Kartoffeln zufrieden“ gegeben.377 Und Flora Meiers Mutter wollte das Kostgeld nicht bezahlen, weil ein so „grosses u starkes Mädchen“ wie sie so viel arbeite, dass „sie sich Kostfrei halten könne“.378 In diesen Beispielen zeigt sich, wie stark die Wahrnehmung der meist aus der Unterschicht stammenden Angehörigen und der bürgerlichen Frauen ausein­ anderklaffen konnte. Die Eltern betrachteten die Arbeitsleistung ihrer Tochter als vollumfängliche finanzielle Deckung ihres Aufenthaltes im Heim, für den Frauenverein war das Arbeiten primär ein Erziehungsmittel. Der Frauenverein reagierte auf die Konflikte wegen des Kostgeldes – die zahlreich gewesen sein müssen –, indem er Ende 1901 Verpflichtungsscheine für das Kostgeld einführte, welche die Bezahlenden unterschreiben mussten.379 Auch die Aufenthaltsdauer von zwei bis drei Jahren war ein Punkt, der von Drittpersonen beeinflusst wurde. Der Frauenverein vereinbarte mit der einweisenden Instanz nach der Probezeit des „Zöglings“ die genaue Aufenthaltsdauer desselben, um eine verkürzte Anstaltszeit zu verhindern,380 was jedoch nicht immer gelang. Von Behörden eingewiesene Frauen wurden teilweise auf ein Jahr oder weniger in den Pilgerbrunnen gebracht oder während ihres Aufenthaltes im „Asyl“ vorzeitig aus dem Heim geholt.381 Gegen behördliche Anweisungen konnte der Frauenverein nur vorgehen, indem er sich an die zuständige Person wandte und diese von der Notwendigkeit eines längeren Aufenthaltes zu überzeugen versuchte oder indem er die Anmeldung eines neuen „Zöglings“ abwies, wenn eine verkürzte Aufenthaltsdauer vorgesehen war. Ebenso mischten sich die Eltern ein und versuchten, ihre Tochter aus dem Heim herauszuholen. Teilweise kamen sie persönlich in die Anstalt und holten die Tochter gleich ab, wie beispielsweise der Vater von Eva Eberhard. Dem Frauenverein blieb keine Wahl: „Wir mussten sie gegen unsern Willen ziehen lassen.“382 Andere verlangten schriftlich ihre Rückkehr durch Briefe an die Vorsteherinnen oder an ihre Tochter persönlich. Als Grund nannten die Eltern jeweils die Notwendigkeit einer weiteren Arbeitskraft für die Familie, wobei sie auf ihre spezi377 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 16. 3. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 378 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 3. 2. 1905. EFZ, Schachtel C.I. Heft 8. 379 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 11. 7. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 380 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 24. 5. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 381 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 13. 2. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 382 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 4. 1891. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7.

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fische ­Lebenssituation verwiesen, die eine sofortige Rückkehr erfordere. Der Vater von Amalie Sommer beispielsweise verlangte seine Tochter zur Hilfe zurück, weil seine Frau wegen einer Operation im Krankenhaus lag.383 Andere Motive sind aus den Quellen nicht ersichtlich, zumindest blieben diese von den Vereinsfrauen unerwähnt.384 Auf die elterlichen Bitten gingen die Vereinsfrauen nicht ohne Widerstand ein. Sie versuchten im Gegenteil, den Austritt des „Zöglings“ zu verhindern, indem sie die für den „Zögling“ zuständige Behörde oder den Vormund des „Zöglings“ einschalteten, die Forderungen der Eltern einfach ignorierten oder die Eltern durch Briefe oder persönliche Gespräche von ihrem Begehren abzubringen suchten. Auf diese Weise ließ sich auch der Vater von Amalie Sommer „belehren“ und „wurde willig“, seine Tochter im Pilgerbrunnen zu lassen.385 Der Frauenverein versuchte, die Einmischung von außenstehenden Personen zu verhindern. Nach dem geglückten Fluchtversuch zweier „Zöglinge“ beschloss das Komitee, die beiden nur unter der Bedingung wieder aufzunehmen, dass „von Seiten der Eltern eine Erklärung die Tochter 2 Jahre in der Anstalt belassen zu wollen ohne sich in die Erziehung einzumischen unterschrieben werde“.386 Wegen der anhaltenden Konflikte mit den einweisenden Instanzen bezüglich vorzeitigen Herausholens von „Zöglingen“ führte der Vereine einen Vertrag ein, den die einweisenden Personen unterschreiben mussten.387 Der Vertrag hielt eine Konventionalstrafe von hundert Franken fest, sollte der Versorger die junge Frau vor der vereinbarten Zeit und gegen den Willen des Heimkomitees aus dem Heim holen, die junge Frau zum Verlassen des Heims animieren oder ihr dabei behilflich sein. Im Gegenzug versprach das Erziehungsheim, die Eingewiesene „gemäss seinen Grundsätzen zu Zucht, Arbeit und Frömmigkeit anzuhalten und mit Gottes Hilfe zu einem rechtschaffenen und arbeitsamen Leben zurückzuführen“.388 Diese Maßnahme verweist auf die fehlende gesetzliche Handhabe des Pilgerbrunnens gegenüber der elterlichen Gewalt und die Bemühungen des Frauenvereins, diese mit anderen Mitteln zu kompensieren.389 383 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 7. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 384 Briefe von Eltern sind keine überliefert. Die Argumentationen der Eltern sind nur indirekt aus den Protokollen und Berichten des Vereins herauslesbar. 385 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 9. 7. 1903. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 386 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 5. 1. 1900. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 387 Vertrag über die Aufnahme in das Mädchenasyl zum Pilgerbrunnen in Zürich 3, 9. Januar 1926. §5. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 6:1. Dossier Pilgerbrunnen Zürich. 388 Vertrag über die Aufnahme in das Mädchenasyl zum Pilgerbrunnen in Zürich 3, 9. Januar 1926. §1. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 6:1. Dossier Pilgerbrunnen Zürich. 389 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Der Sonderstatus der Privatheime).

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Private Erziehungsheime für weibliche Jugendliche

Auch gegenüber den einweisenden Behörden saß der Pilgerbrunnen am kürzeren Hebel, verfügten diese doch über die rechtlichen Zwangsmittel, Aufenthaltsort und -dauer zu bestimmen. Andere Handlungsweisen der Eltern, um die Tochter aus dem Heim herauszu­ holen oder die Einweisung zu verhindern, sind aus den Quellen nicht ersichtlich. Klar ist, dass es sowohl Eltern gab, die ihre Tochter gerne im „Asyl“ sahen, sie teilweise auch selbst dorthin einwiesen, und andere, die sich gegen den Aufenthalt der Tochter sträubten. Wie weit Letztere bei ihrem Einsatz für ihre Töchter gingen und wie oft sie dabei Erfolg hatten, kann anhand der Quellen nicht beantwortet werden. Drittpersonen wurden vom Frauenverein und den „Zöglingen“ auch zur Hilfe herangezogen. Verursachte ein „Zögling“ wiederholt Probleme oder forderte er hartnäckig den Austritt, schickte der Frauenverein nach der Person, die den „Zögling“ eingewiesen hatte, damit dieser dem „Zögling“ ins Gewissen rede. Maria Seghers beispielsweise wurde von einer Frau Pfarrer „ernstlich zum Schweigen ermahnt, da sie sonst entlassen werden“ müsse,390 und der Vormund von Flora Rechstein drohte ihr mit „Arbeitshaus“ bei der nächsten Klage, die über sie laut werde.391 Die „Zöglinge“ nahmen ihrerseits die Hilfe von Außenpersonen in Anspruch, etwa bei Fluchtversuchen oder zur Erreichung einer vorzeitigen Entlassung. Marguerite Waser zum Beispiel ging nach ihrer Flucht aus dem Pilgerbrunnen zum Vater einer Mitinsassin, berichtete ihm von „den erlittenen Behandlungen in der Anstalt“ und erhielt von ihm etwas zu essen und das Reisegeld nach Bern zu ihren Eltern.392 Marguerite Waser hatte ihn aufgesucht, weil sie von der Mitinsassin erfahren hatte, deren Vater sei „ein Guete“. Monika Gietzendanner sollte nach ihrem Austritt in ein anderes Heim gebracht werden, weigerte sich aber und wollte stattdessen eine Stelle annehmen.393 Ihre Abneigung gegen die protestantische Religion schien dabei entscheidend gewesen zu sein. Sie berief sich auf ihren katholischen Seelsorger, dem sie offensichtlich vertraute und von dem sie sich in dieser Situation Unterstützung erhoffte. Der Kaplan verhalf ihr denn auch zu einem Platz in einer katholischen Anstalt, womit sie sich einverstanden erklären konnte. Es gab „Zöglinge“, die sich an die einweisende Behörde wendeten, um eine vorzeitige Entlassung zu erreichen, was jedoch, soweit dies aus den Quellen ersichtlich wird, meist nicht zum Erfolg führte. 390 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 19. 11. 1904. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 391 Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 24. 10. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9. 392 Vgl. hierzu Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 3. 8. 1916 und vom 17. 8. 1916. EFZ, Schachtel C.I. Heft 9. 393 Vgl. hierzu Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 6. 3. 1890. EFZ, Schachtel C.I. Heft 7.

Handlungsstrategien der involvierten Akteure

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Den Außenstehenden kam eine vielfältige Rolle zu. Für den „Zögling“ waren sie Flucht- oder Austrittshelfer, aber auch Einweisende oder Gegenspieler. Für die Vereinsfrauen waren sie Vermittler von „Zöglingen“, Kostgeldgeber, Unterstützende und Informanten, jedoch auch Zahlungsverweigerer oder Widerpart durch ihre aktive Unterstützung von rebellischen „Zöglingen“.

Kräfteverhältnisse Eine wichtige Rolle in der Beziehung zwischen den Akteuren im Heim spielte ihr jeweiliges „Wissen“. Die Formierung und Anhäufung von neuem Wissen ermöglicht nach Michel Foucault eine Verfeinerung der Machtbeziehungen und eine Vervielfältigung der Machtwirkungen –394 wobei Macht nicht per se negativ sein muss, denn Macht unterdrückt nicht nur, sondern sie produziert auch, bringt hervor, kann „an eine Reihe positiver und nutzbringender Effekte geknüpft“ sein.395 Wissensformierung und Machtsteigerung verstärken sich gegenseitig. Zwischen den Akteuren ist ein gegenseitiges Reagieren auf das Verhalten der anderen Partei sichtbar. Das zeigt sich besonders deutlich in der Einführung von Verpflichtungsscheinen und einer Konventionalstrafe, um die Einweisenden zur Bezahlung des Kostgeldes zu verpflichten und ein vorzeitiges Herausholen der Eingewiesenen zu verhindern. Auch die Verschärfung und Verfeinerung der zweiten Hausordnung des Pilgerbrunnens von 1899 kann als Reaktion auf die zehnjährige Erfahrung mit den „Zöglingen“ verstanden werden. Bei den Verhaltensweisen der „Zöglinge“ war ihr Wissen über die Reaktionen und Erwartungen der Vereinsfrauen zentral, indem es ihnen ermöglichte, Handlungsstrategien zu entwickeln. Die Vereinsfrauen ihrerseits setzten ihr gesammeltes Wissen über Charakter und Handlungsweisen der Insassinnen zur Festigung und Stärkung der (Haus-)Ordnung und ihrer Position ein. Gewisse Insassinnen wiederum nutzten ihr Wissen, um die Kräfteverhältnisse zu beeinflussen zu versuchen oder sich gewisse Vorteile zu verschaffen. Beide Seiten versuchten, durch „Wissen“ ihre Position zu verbessern oder zu erhalten. Die Akteure waren demnach nicht in fixen Machtstrukturen gefangen. Viel eher ist ein gewisses gegenseitiges Agieren und Reagieren auf die Handlungen des anderen sichtbar, das ein Verschieben der Kräfteverhältnisse hervorrufen konnte. Dabei war aber die Position der Heimbetreiber und der einweisenden Behörden ungleich stärker als jene der „Zöglinge“ und es ist ein deutliches asymmetrisches setting auszumachen. Trotzdem verfügten die „Zöglinge“ über einen gewissen Handlungsspielraum. Dieser bewegte sich aber in einem sehr beschränkten und teilweise mit Risiken verbundenen 394 Zur Beziehung von Wissen und Macht vgl. Foucault, Überwachen, 1976, S. 287 f. 395 Foucault, Überwachen, 1976, S. 35.

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Private Erziehungsheime für weibliche Jugendliche

Rahmen. Auf Versuche etwa, das Heim vorzeitig verlassen zu können, reagierte die Heimleitung mit Strafen und Sanktionen. Zudem riskierte der „Zögling“ die Versetzung in eine Irren- oder Zwangserziehungsanstalt. Im Gegensatz dazu konnten „Zöglinge“, die sich mit einem „guten“ Verhalten auszeichneten, von Privilegien profitieren, etwa in Form eines größeren Sparbuches oder, indem sie Wünsche nach einer Stelle oder Ausbildung äußern konnten. Diese Vergünstigungen waren jedoch eng daran gekoppelt, ob das Verhalten des „Zöglings“ den Anforderungen des Vereins entsprach, und konnten entsprechend rasch wieder aufgehoben werden.

4.4 Die Ambivalenz der Heimerziehung Die Heime als Vorgänger der heutigen Frauenhäuser Die Sittlichkeitsvereine setzten sich in verschiedenen Belangen für das Wohl der von ihnen betreuten Frauen ein. Mit ihren Heimen wollten sie einen Ort schaffen, an dem junge Frauen in schwierigen finanziellen und persönlichen Lebenssituationen Schutz und Hilfe finden konnten. In diesem Sinn sind solche Heime als Vorgänger der heutigen Frauenhäuser zu sehen. Auch wenn die Hilfeleistungen der Sittlichkeitsvereine teilweise zwiespältig waren und von vielen Insassinnen nicht als solche empfunden wurden, so lässt sich mit den Schlagworten „Kontrolle“ und „Disziplinierung“ allein die Heimerziehung in ihrer Komplexität gleichwohl nicht fassen. So leiteten die Vereine beispielsweise für jene „Zöglinge“, die sexuell missbraucht worden waren, Gerichtsverfahren gegen die Angeschuldigten ein.396 In ihren Heimen erhielten die jungen Frauen zudem eine Chance, von der Straße wegzukommen und ein neues Leben zu beginnen. Für einige wird es eine Wohltat gewesen sein, regelmäßig Nahrung und neue saubere Kleidung zu erhalten. Für solche, die sexuell missbraucht worden waren, konnte das Heim ein geschützter Ort bedeuten, ebenso für Zwangsprostituierte und solche, die ohne fremde Hilfe nicht mehr aus der Prostitution herausgekommen wären. Auch Schwangere oder Frauen kurz nach der Geburt eines Kindes, die noch zu schwach waren, um auf Arbeitssuche zu gehen, fanden Unterschlupf in ihren Häusern. Schwangere Frauen verloren oft ihre Stelle und fanden bis nach der Geburt keine neue. In den Heimen bekamen die jungen Frauen zudem eine, wenn auch in den ersten Jahren noch geringe Schul- und Berufsausbildung. Im Pilgerbrunnen beispielsweise erteilte eine Lehrerin sporadisch einigen „Zöglingen“, die eine besonders große

396 Vgl. beispielsweise Besuchsbuch des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 4. 5. 1891.

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Wissenslücke aufwiesen, Unterricht in Lesen und Schreiben.397 Seit den 1920er Jahren wurde die Ausbildung weiter ausgebaut.398 Bei ihrem Austritt bekamen die Frauen bei gutem Betragen ferner eine kleine Aussteuer als Starthilfe mit, die aus Schuhen, Hemden, Blusen, Hosen und Röcken bestand.399 Die Sittlichkeitsvereine halfen bei guter Führung auch, wenn ein „Zögling“ für die Zeit nach dem Heimaustritt den Wunsch nach einer vom Verein goutierten Berufsausbildung oder speziellen Stelle äußerte. Auch erhielten die Insassinnen auf Kosten des Kostgeldzahlers eine medizinische Betreuung, die von Zahnarztbesuchen über ärztliche Behandlungen bis zu Aufenthalten in Sanatorien reichte.

Das Janusgesicht der Heimerziehung Die Vereinsfrauen stellten sich als barmherzige Wohltäterinnen dar, die ihre „rettende Hand“ den Hilfebedürftigen und „Verirrten“ entgegenstreckten. Indem sie sich der „Zöglinge“ annahmen, sahen sie sich im Auftrag Gottes und im Sinne der christlichen Nächstenliebe handeln: „Wir freuen uns, in unserm Teil dem königlichen Befehl unseres Herrn und Meisters nachkommen zu dürfen, der da spricht: ‚Gehet hinaus an die Strassen, Zäune und Wegscheiden und führet hinein, welche ihr findet, auf dass mein Haus voll werde.‘“400 Die Sittlichkeitsvereine zeigten sich überzeugt, dass sie den „Zöglingen“ Gutes taten und dass die „sündigen Seelen“ ohne fremde Hilfe für immer verloren wären. „[Wir nehmen] alle Verirrten auf, die ohne die entgegenkommende, erbarmende Liebe nie aus ihren misslichen Verhältnissen und aus ihrer verderblichen Umgebung herausgekommen wären und schliesslich darin zugrunde gehen müssten.“401 Die Sittlichkeitsvereine beschrieben ihre Anstalten in ihren Jahresberichten als „heimatlichen Herd“, als „sichere Bucht“, in der „die Stürme ruhen“, als Ort, an dem man die Insassinnen „liebt und lieb behält“.402 Der Name „Pilgerbrunnen“ deutet auf diese Wahrnehmung der Vereinsfrauen: das Heim als „Kraftort“ für reuige Pilger und 397 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 14. 3. 1902. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 398 Vgl. Kap. 6.2. 399 Protokoll des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen vom 8. 2. 1901. EFZ, Schachtel C.I. Heft 2. 400 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 7. 401 4. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1892, S. 7. 402 11. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1899, S. 11 (heimatlicher Herd); 18. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1906, S. 7 (Bucht); 13. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1901, S. 8 (liebt).

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Private Erziehungsheime für weibliche Jugendliche

als Ort, an dem „den durstigen Seelen Wasser des Lebens“ gegeben wird.403 Neben der Anstalt, so hieß es, habe ein Brunnen gestanden, der in früheren Zeiten den Pilgern auf dem Weg nach Einsiedeln zur Erquickung gedient habe und Pilgerbrunnen genannt worden sei.404 Nach außen wurde ein recht einseitiges Bild des Anstaltslebens gezeichnet. Die Einseitigkeit dieses Blickwinkels wird in einem anonymen zeitgenössischen Brief an ein Komiteemitglied eines „Asyls“ für Prostituierte in York (England) beschrieben: „Your Committee reports everything very bright, they say nothing of a dark side and a dark side I fell sure there is by so many of the inmates running away.“405 Unterzeichnet wurde der Brief mit „A lover of Truth and Justice“. Die „dark side“ schimmert in den Schriften der Sittlichkeitsvereine aber durchaus hervor, denn unter der Oberfläche, die von barmherziger Liebe und rettenden Händen berichtet, wird halb verborgen und teilweise ganz unverblümt eine Sprache der Verachtung und der Härte sichtbar. Die Hausordnungen ihrer Heime lassen erahnen, wie strikt das Leben im Heim gewesen sein muss und wie stark die Insassinnen in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt waren. Hinter den Hausordnungen wird ein „halbverschwiegenes Geschwätz“ sichtbar, das von möglichst lückenloser Kontrolle, Zwang zum Bleiben in der Anstalt, von Unterbindung von Freundschaften und Sexualität erzählt.406 Die Heimerziehung war von Ambivalenz gekennzeichnet. Sie ist geprägt von einer Ambivalenz zwischen Gewährung von Unterstützung und Verknüpfung an Verhaltensanforderungen, zwischen Schutz und Repression, zwischen Hilfe und Kontrolle, zwischen Einbezug der Bedürfnisse der Frauen und Normalisierungsansprüchen. So sind die Heime einerseits als Vorgänger der heutigen Frauenhäuser zu sehen. Sie boten Schutz und Hilfe in schwierigen Lebenssituationen, etwa für Zwangspros­ tituierte und von der Geburt geschwächte Frauen oder alleinerziehende Mütter. Andererseits zeigt sich eine disziplinierende und ausgrenzende Kehrseite. Die Hilfe­ leistung der Sittlichkeitsvereine war gepaart mit repressiven Erziehungsmethoden, möglichst lückenloser Überwachung und Kontrolle, harter Arbeit und einem harschen Erziehungs- und Normalisierungsanspruch. Detlev Peukert spricht im Zusammenhang mit der Heimerziehung im Deutschen Kaiserreich und in der Weima­rer Republik vom „Janusgesicht der Moderne“, das sich in der Ambivalenz der modernen Jugendfürsorge manifestiere.407 Der Wille zu helfen und zu fördern sei untrennbar mit 403 31. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 1 f. 404 31. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 1 f. 405 York Penitentiary Society Miscellaneous Correspondence. Zit. nach Finnegan, Poverty, 1979, S. 180. 406 Sarasin, Geschichtswissenschaft, 2003, S. 43. Zit. nach ebd., S. 43. 407 Peukert, Grenzen, 1986.

Die Ambivalenz der Heimerziehung

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Normalisierungsansprüchen und Kontrollmechanismen sowie mit ausgrenzenden Tendenzen verbunden gewesen. Auch die Hilfsangebote der Sittlichkeitsvereine beinhalteten von Beginn weg helfende, fördernde, unterstützende und integrierende Aspekte wie auch eine repressive, disziplinierende, kontrollierende, normalisierende und ausgrenzende Kehrseite. Förderung und Unterstützung waren dabei meist gekoppelt an eine Anpassungsleistung an gängige Rollenmuster sowie erwartete eng gefasste Verhaltensweisen. Sie blieb meist im engen Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung, die den jungen Frauen in erster Linie einen Platz in schlecht bezahlten weiblichen Unterschichtberufen oder als Hausfrau und Mutter zuwies. Im Namen von Wohltätigkeit und christlicher Nächstenliebe wurde eine möglichst umfassende Resozialisierung angestrebt. Auch die rigide Seite der Heim­erziehung deuteten die Vereinsfrauen jedoch als gut gemeinte Barmherzigkeit zur gottgewollten „Rettung der Verlorenen“.

5 Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik 1900 – 1940 5.1

Die Durchsetzung der Heimerziehung für weibliche Jugendliche

Nach der Jahrhundertwende erfreute sich die Idee der Nacherziehung „sittlich gefährdeter“ und „gefallener“ junger Frauen einer zunehmend breiten Akzeptanz. 1912 schrieb der Reglementarist und Arzt Hermann Müller: „Mit Genugtuung aber konstatiere ich, dass überall der Wille erwacht zu sein scheint, eine fürsorgerische Behandlung der Prostituierten zu eröffnen.“1 Und die Sittlichkeitsvereine stellten ein zunehmendes Bedürfnis nach Heimen für „gefallene und sittlich gefährdete Mädchen“ fest.2 Der Dachverband der Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine machte bereits 1908 auf einen Notstand an Heimbetten und eine beinahe chronische Überfüllung der Erziehungsheime in den Kantonen Zürich und Bern aufmerksam und forderte die kantonalen Sektionen der Sittlichkeitsvereine zur Gründung neuer Heime auf.3 In der Zwischenkriegszeit schließlich erreichte die Zahl der Heimeinweisungen ihren Höhepunkt.4 Die zunehmende Inanspruchnahme solcher Heime ist Ausdruck dafür, dass sie sich etabliert hatten. Auch auf politischer Ebene wurden solche Erziehungsheime als Notwendigkeit erkannt.5 Warum vermochte sich die Ansicht durchzusetzen, junge Prostituierte in Heimen nachzuerziehen, statt sie sittenpolizeilich zu verfolgen und mit Haft zu bestrafen, wie dies zuvor üblich war? Weshalb richtete sich das Augenmerk der Politiker verstärkt auf solche Frauen, die als „sittlich gefährdet“ eingestuft wurden? Die Etablierung der Heimerziehung für weibliche Jugendliche nach der Jahrhundertwende gründete auf einem vielfältigen und komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren und war eng mit den politischen, gesellschaftlichen und sozia­ len Zeitumständen verbunden. Hier einige zentrale Faktoren: 1 2 3 4 5

Müller, Behandlung, 1912, S. 393. 24. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1911, S. 5 f. Protokoll des Dachverbandes vom 18. November 1908. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. Vgl. Kap. 5.2 (Unterkapitel Höhepunkt der Heimeinweisungen). Vgl. beispielsweise Protokoll Konferenz vom 27. November 1908 (über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für Prostituierte). Sozialarchiv Zürich, 176/3 V2; Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 14. März 1908. StABS, Straf- und Polizei­ akten, T 4; auch in der Berner Grossratsdebatte zur Errichtung eines staatlichen Heims wurde die Notwendigkeit wiederholt konstatiert (vgl. Kap. 5.4, Unterkapitel Der (fast) abwesende Staat in der Heimlandschaft).

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

Die Entdeckung der Jugend Diese Entwicklung steht einmal im Zusammenhang mit der „Entdeckung der Jugend“ sowie der Jugendgerichts- und der Jugendfürsorgebewegung. Das Ende des 19. Jahrhunderts ist von der „Entdeckung“ der Jugend und ihrer „Schutzbedürftigkeit“ gekennzeichnet, die zu einer intensiven Beschäftigung mit der Jugendfrage führten.6 Der Gedanke verbreitete sich zunehmend, dass die Jugend ein Recht auf Erziehung hat und ihre Eltern eine Pflicht zur Erziehung. Um 1900 taucht in der Schweiz ein natio­ nalistisch aufgeladener Jugendbegriff in den Fürsorgedebatten auf und der Staat erhob Anspruch auf die Tüchtigkeit der Jugend.7 Jugendschutz wurde gleichzeitig zum Heimatschutz erklärt und die Sorge um die Zukunft des Landes wurde zum allgegenwärtigen Thema in den Schriften zur Jugendfürsorge. Während sich die staatliche Kinder- und Jugendfürsorge im ausgehenden 19. Jahrhundert weitgehend auf die Waisen und ausserehelichen Kinder beschränkte, begann sich nun der Staat zunehmend dafür zu interessieren, was mit den Jugendlichen außerhalb der Schulzeit geschah.8 Aber auch in wissenschaftlichen Kreisen und der privaten Wohlfahrt stieg das Interesse an der Jugendfürsorge beträchtlich. Es betätigten sich in zunehmender Zahl verschiedene Akteure in diesem Feld: Etwa Politiker, Psychiater, Kindergärtnerinnen, Sozial- und Rassenhygieniker, Gerichtsmediziner, Schul- und Kinderärztinnen, Krankenschwestern, Orthopäden, Richter, Jugend- und Staatsanwälte, Straf- und Zivilrechtsprofessoren, Polizeiassistentinnen, Kriminalisten, Ökonomen, Pfarrer, Psychologen, Lehrerinnen, Erzieher und „wohlfahrtssporttreibende Damen“9 wandten sich neu oder verstärkt der Jugendfürsorge zu.10 Auch neue Jugendfürsorgevereine, wie die 1912 gegründete einflussreiche Pro Juventute oder die katholischen Kinder- und Jugendschutzvereine, besetzten zunehmend das Feld. Im Vorfeld der Einführung des 1907 verabschiedeten eidgenössischen Zivilgesetz­ buches, das in der Schweiz eine neue Basis für die Institutionalisierung der Jugend­ fürsorge schaffte, fand schweizweit ein angeregter Diskurs in Fachkreisen der Jugend­ fürsorge statt.11 Die Diskussion war geprägt von der Anfang des Jahrhunderts entstandenen Jugendfürsorgebewegung. Am ersten schweizerischen Jugendfürsorgekongress von 6

Speitkamp, Jugend, 1998, S. 118 und 129; Ariès, Geschichte, 1975; Hermann, Pädagogisierung, 1986. 7 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 48 – 50. 8 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 29 f. und 48 f. 9 Feld, Wilhelm. Neue Strömungen in der Wohlfahrtspflege und Fürsorge. In: Zeitschrift für Kinderforschung, 1922, 27. Jg., H. 4, S. 161 – 180. Hier S. 167. Zit. nach Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 72. 10 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 72. 11 Vgl. dazu Hauss, Einrichtung, 2010, S. 117.

Die Durchsetzung der Heimerziehung

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1908 in Zürich wurde erstmals über fürsorgerische Bemühungen beraten, die über die Schulzeit hinausgingen.12 In der Folge fand die Fürsorge für verschiedene Lebensphasen Eingang in die Jugendfürsorgedebatten von Behörden und Wissenschaftlern. In den 1910er Jahren nahmen die negativen Wahrnehmungen einer zunehmenden „Verwahrlosung“ der Unterschichtjugend zu.13 Versagte die Erziehung der Eltern, sollte die Kinder- und Jugendfürsorge einschreiten. Während des Ersten Welt­krieges machten die Fürsorgereformer vermehrt darauf aufmerksam, dass sich bei den Unterschichtjugendlichen nach Schulabschluss durch ihren frühen Wegzug aus dem Elternhaus oder durch die Erwerbstätigkeit der Eltern eine Kontrolllücke auftat, die es zu schließen galt. Als Lösungsstrategien gegen die diagnostizierte „Jugendverwahrlosung” dienten in den 1920er Jahren vermehrt Heimeinweisungen und der Entzug der elterlichen Gewalt. Die Jugendgerichtsbewegung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von den USA und England ausgehend in Europa Verbreitung fand, wollte jugendstrafrechtliche Bestimmungen aus dem Erwachsenenstrafrecht herauslösen und gesonderte Maßnahmen einführen, die gezielt auf die Erziehungsbedürftigkeit der Jugendlichen eingingen.14 Sie führte in der Schweiz seit den 1910er Jahren zur Einführung von Jugendstrafgesetzen und Jugendgerichten.15 Das Jugendstrafrecht unterschied sich in wesentlichen Bereichen vom Erwachsenenstrafrecht. Wegen ihres noch jungen Alters galten Jugendliche als formbarer und als leichter erziehbar als Erwachsene. Der Erziehungs- und Besserungsgedanke nahm deshalb eine zentrale Stellung in der Jugendgesetzgebung ein. Für die jungen Straftäter und Straftäterinnen wurden in den

12 Vgl. dazu Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 162 f. 13 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 48 f.; Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 92. 14 Zur Jugendgerichtsbewegung vgl. ausführlich Stump, Adult time, 2003, S. 44 – 85; zudem ­Pfenninger, Jugendstrafrecht, 1928, S. 3 – 9; Winkler, Reformers, 1996; Criblez, Pädagogisierung, 1997; Hauss, Einrichtung, 2010, S. 129 f.; Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 40 und 79. 15 Nach dem Vorbild der USA entstanden seit den 1910er Jahren in der Schweiz die ersten kantonalen Jugendstrafgesetze und einige Kantone führten Kindergerichte ein. St. Gallen, Genf und Appenzell-Ausserrhoden hatten bereits zwischen 1912 und 1914 Kindergerichte eingeführt (Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 334). Ein gesondertes Jugendstrafrecht trat in Zürich 1919 in Kraft, in Bern 1930, in Basel 1941. Auf eidgenössischer Ebene wurde ein separates Jugendstrafrecht, integriert im Strafgesetzbuch, erst 1942 rechtswirksam. Im Gegensatz zu England und den USA, welche die Jugendfürsorge und das Jugendstrafrecht in einer umfassenden Jugendwohlfahrtsgesetzgebung verschmolzen, sowie zu Deutschland, das ein der Schweiz als Vorbild dienendes separates Jugendfürsorgegesetz einführte, nahm die Schweiz auf eidgenössischer Ebene die entsprechenden Fürsorgeartikel im Zivilgesetzbuch auf und integrierte das Jugendstrafgesetz in das allgemeine Strafgesetz (vgl. zur Schweiz Germann, Humanität, 2010, S. 241. Zum deutschen Fürsorgegesetz vgl. Günzel, Entwicklung, 2001; Malmede, Jugendkriminalität, 2002; Dörner, Erziehung, 1991; Schmidt, Mädchen, 2002).

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

neuen Jugendstrafgesetzen sichernde Maßnahmen in Form von erzieherischen Mitteln eingeführt. Ein zentrales Element im Jugendstrafrecht bildete die Einweisung in ein Erziehungsheim. Durch das steigende Interesse an der Jugendfürsorge und die zunehmende Zahl der Akteure, die sich damit beschäftigten, bildete sich ein immer differenzierteres, spezialisierteres, pluralisierteres Netz an Einrichtungen. Es entstanden neben zahlreichen neuen Jugendheimen 16 Berufsberatungen, Stellen- und Lehrstellenvermittlungen, Wohnheime, Sonntagsvereinigungen, Jugendstuben, Lesesäle für Jugendliche etc. Die Zunahme der Tätigkeit im Bereich der Jugendfürsorge lässt sich anhand der philanthropischen Register zur sozialen Arbeit in der Schweiz von Albert Wild feststellen. Zählte Wild 1910 total 3.697 Fürsorgeeinrichtungen und Vereine im Bereich der Jugend- und Erwachsenenfürsorge auf, sind es in der Ausgabe von 1919 bereits 5.924, 1933 dann 9.559.17 In der letzten Ausgabe sind allein 4.812 Einrichtungen und Vereine für Jugendfürsorge aufgelistet, also bedeutend mehr als noch 1910 für die Jugend- und Erwachsenenfürsorge zusammen. Diese Zahlen zeigen einerseits die unglaublich reiche Fülle an Fürsorgeeinrichtungen jener Zeit, andererseits die immense Zunahme derselben innerhalb der 1910er bis 1930er Jahre.

Sozialdemokratischer Ruf nach mehr Staat und Moral Die Jugendfürsorge wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Thema sozialdemokratischer Kräfte. Diese nahmen einen staatsinterventionistischen Kurs ein, wie er für die Sozialdemokratie charakteristisch war, und propagierten den Ausbau der staatlichen jugendfürsorgerischen Strukturen. 18 Die 16 Vgl. Anhang 8.1. 17 Wild, Veranstaltungen, 1910; Wild, Fürsorge, 1919; Wild, Handbuch, 1933. Einige Einrichtungen und Vereine sind doppelt gezählt, weil sie unter verschiedenen Abteilungen der sozia­len Arbeit fungieren (vgl. Wild, Veranstaltungen, 1910, Vorwort S. V). 18 Das Phänomen, dass sich die Sozialdemokratie ausgeprägt für die Zentralisierung und Verstaatlichung der Fürsorge einsetzte, ist in der Forschung schon mehrfach konstatiert worden. Für die Schweiz vgl. u. a. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 61 – 71; Schnegg, Fürsorge, 2007; Hauss, Einrichtung, 2010, S. 125. Für Deutschland vgl. Harvey, Youth, 1993, S. 19 f.; Peukert, Grenzen, 1986, S. 306; Dickinson, Politics, 1996, S. 187 – 193; Rauch, Ferienkoloniebewegung, 1992, S. 166. Die Sozialdemokraten strebten denn auch gemäß der Neuen Berner Zeitung eine „Ausschaltung der privaten zugunsten der staatlichen Fürsorge“ an (Private oder öffentliche Fürsorge? Neue Berner Zeitung, Nr. 261, 6. November 1929). In der Berner Tagwacht erschienen zudem kritische Artikel zu Leitungspersonen in der städtischen Fürsorge, weil diese die private Fürsorge als positiv einschätzten und in die staatliche Fürsorgearbeit einbauten (vgl. Private oder öffentliche Fürsorge? Neue Berner Zeitung, Nr. 261, 6. November 1929).

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Sozialdemokraten stellten die Heimerziehung für normabweichende Jugendliche in ihren Grundsätzen nicht infrage, sondern unterstützten sie im Gegenteil als sinnvolle erzieherische Maßnahme. Sie befürworteten die Errichtung staatlicher Erziehungsheime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen und plädierten gleich­zeitig für eine stärkere Verstaatlichung der privaten Heime, wie wir noch sehen werden.19 Aber auch den Aufbau anderer staatlicher Jugendfürsorgestrukturen, wie Jugendämter oder Amtsvormundschaften, sowie die damit verbundenen Bevormundungen und Kindswegnahmen förderten sie. Die Ausgestaltung der behördlichen Praxis der Vormundschaftsbehörde, die stark von sozialdemokratischen Vorstellungen geprägt war, stellten sie entsprechend (wie auch die Heimerziehung) nicht als proble­matische Einmischung in die Privatsphäre dar. Sie sahen sie vielmehr als moderne Wohlfahrtspflege, rationelle Vorsorge und als Hilfeleistung.20 Die Differenzen in der Fürsorgepolitik innerhalb der Sozialdemokratie waren jedoch bedeutend größer als diejenigen zwischen den vergleichsweise gemäßigten sozialdemokratischen Beamten und den bürgerlichen Parteien.21 Sozialreformerisch orientierte, gemäßigte Sozialdemokraten, wie etwa der im Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit engagierte Paul Pflüger, vertraten wie die bürgerlichen Politiker die Ansicht, die Großstadt und deren zahlreiche „Verlockungen“ schädige die Jugend.22 Einem Eingreifen des Staates bei „gefährdeten“ Jugendlichen waren sie nicht abgeneigt. Die Sozialdemokraten sagten denn auch in den 1920er Jahren dem Freizeitvergnügen den Kampf an.23 Sie waren gegen kommerzielle Unterhaltung, worin sie kapitalistische Ausbeutung sichteten. Der Kulturoptimismus der Sozialdemokraten suchte die sittlich-kulturelle Überlegenheit des Proletariats über die „dekadente“ bürgerliche Gesellschaft zu errichten und erblickte darin die entscheidende Kraft für einen sozialistischen Umbau des Staates. Die strebsame Arbeiterschaft sollte nicht trinken, nicht rauchen, nicht ins Kino oder ins Wirtshaus gehen. Tanz, Fasnacht und belanglose Feste mied sie. Der zu schaffende proletarische Mensch trug die Charakterzüge des Bildungsbürgers, seine Moral hieß ihn aber auf der Seite der Unterprivilegierten kämpfen. Im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist außerdem ein Wandel der Normvorstellungen im Arbeitermilieu zu konstatieren. So wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich die Kleidersitten „züchtiger“ (Nacktbaden etwa war nun 19 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Der (fast) abwesende Staat in der Heimlandschaft). 20 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 61, 64, 68 und 71. Nach Nadja Ramsauer legiti­ mierten sie ihre Fürsorgepolitik aus ihrem sozialdemokratischen Fortschrittsglauben und Reformoptimismus heraus (vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 71). 21 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 68. 22 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 68. 23 Vgl. die Untersuchung von Engel, Festseuche, 1990.

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verpönt) und die sexuelle Ehrbarkeit der Frau gewann an Bedeutung.24 Solche bürgerlichen Vorstellungen fanden weite Verbreitung, nicht nur in konservativen Teilen der Arbeiterschaft, sondern gerade bei den sozialdemokratisch engagierten Arbeitern.25 Moralische Erklärungsmuster eines „unmoralischen Lebenswandels“ dominierten seit den 1910er Jahren schließlich auch die Debatte der Sozialdemokraten in puncto „Verwahrlosung“ von Jugendlichen, während zuvor ökonomische Not als Ursache im Vordergrund gestanden hatte.26 Auf sich prostituierende Frauen reagierten Arbeiterinnen und Arbeiter mit Abneigung, gar mit Abscheu. Nicht nur die Verinnerlichung von bürgerlichen Moralvorstellungen war Grund für diese Abwehrhaltung, sondern auch eine deutliche Abgrenzung vom Lebensstil dieser Frauen und ein gewisses Klassenbewusstsein. „Ebenso derb und frei wie die Arbeiterinnen in der Liebe sind, zeigen sie tiefe und ernste Empörung für jede gewerbsmässig betriebene Unzucht, und ganz speziell für solche Mädchen, die sich an feine Herren vergeben“, schrieb eine Zeitgenossin 1893.27 Es ist nicht verwunderlich, dass Prostituierte aus der Unterschicht ihrem familiären Umfeld meist nichts von ihrer Tätigkeit erzählten und sich möglichst weit weg von ihrem vertrauten Umfeld prostituierten, um nicht Gefahr zu laufen, Bekannten und Verwandten zu begegnen. Prostitution war (und ist) nicht salonfähig – auch in den am meisten davon betroffenen Unterschichten. In den Augen der Sozialdemokraten stellte die Prostituierte eine Abweichung von der angestrebten Sittlichkeit dar. Sie musste deshalb zu schicklichem Verhalten resozialisiert werden.28 Die Prostitution symbolisierte für die Sozialdemokratie zudem Unordnung im Klassenkampf, indem die sich prostituierenden Frauen nicht auf diese Weise um ihr Überleben kämpften, wie sie es tun sollten, nämlich gegen den Kapitalismus.29 Die Sozialdemokratie sah die Prostituierte aber auch als Opfer reicher Ausbeuter aus der Oberschicht an. Dieses Stereotyp war weit verbreitet. Es bildete sich der Mythos vom „kollektiven Frauenraub unter kapitalistischen Bedingungen“30 heraus. Die Prostitution galt in der sozialistischen Theorie als Merkmal von Gesellschaften,

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Eder, Kultur, 2002, S. 177; Lipp, Innenseite, 1990, S. 223 und 249. Lipp, Innenseite, 1990, S. 244. Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 172 f. Zit. nach Wettstein-Adelt, Minna. 3 ½ Monate Fabrik-Arbeiterin. Eine practische Studie. Berlin 1893. S. 25. Die gelehrte Hutmacherin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Minna Wettstein-Adelt lebte eine Weile als Fabrikarbeiterin, um sich ein Bild vom Leben in der Fabrik zu machen. 28 Konieczka, Arten, 1986, S. 122. 29 Konieczka, Arten, 1986, S. 115. 30 Konieczka, Arten, 1986, S. 109.

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die auf Privateigentum und Unterdrückung der Frau beruhten.31 Sie symbolisierte die Schlechtigkeit der kapitalistischen Welt und den moralischen Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft.32 Die deutsche Sozialistin Johanna Loewenherz beschreibt die kapitalistische, sexuelle Ausbeutung der Frauen in markigen Worten: „… um dem Hungertode zu entgehen, steigt die Arbeiterin in die Strasse, und das Goldjüngelchen, das da ­flaniert, zahlt gerne für seine Lust, was sein Vater für ehrliche Arbeit zu zahlen vergass. Sie arbeiten sich nett in die Hände, Vater und Sohn, der ausbeutende Kapitalist und die jeunesse dorée. Sie haben die ganze Arbeiterin und teilen sich redliche die Beute: Dem Kapitalisten Vater des proletarischen Weibes Kraft, dem Kapitalisten Söhnlein des proletarischen Weibes Schönheit. Dem Einen Blut und Nerven, dem Andern ihre Glieder, ihre Umarmungen. Leib, Gehirn, Seele beiden – alles durch Beide zugrunde gerichtet.“33 Und in Zürich stemmten sich die Grütlianer 1904 mit deutlichen Worten gegen die Wiedereinführung der Bordelle, weil diese „nicht bloss Höhlen des Lasters, aller Ausschweifungen, Brutstätten der Vergiftung für die unerfahrene und schwache Jugend, Seuchen- und Ansteckungsherde geschlechtlicher Krankheiten [seien], sondern namentlich auch – und das ist für uns Sozialdemokraten das ausschlaggebende Moment – die Stätten schamlosester Ausbeutung unglücklicher, hülfloser Töchter des Volkes durch geldgierige Hyänen in Menschengestalt.“34 Mit ihrem Bild der geraubten und ausgebeuteten Frauen aus der Unterschicht zementierten die Sozialdemokraten das weitverbreitete Stereotyp der Prostituierten aus der Unterschicht, wie es auch die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit bedienten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Sozialdemokraten die Heim­ erziehung als patentes Rezept erachteten: Sie sollte „gefährdete“ junge Frauen vor dem Fall in die Prostitution und damit in die Ausbeutung durch Herren aus der Oberschicht bewahren. Zudem galt es, die Sittlichkeit der Arbeiterschaft herzustellen. Eine Frau, die ihren Körper gegen Geld verkaufte, war auch in den Augen der Sozialdemokraten eine „Gefallene“, selbst wenn sie sich der primären Ursachen der Prostitution (Armut, niedrige Frauenlöhne und saisonale Arbeitslosigkeit) bewusst war. Es wird auch ein Grund deutlich, warum in der Sozialdemokratie zahlreiche Stimmen auf eine stärkere Verstaatlichung der privaten Erziehungsheime pochten, waren die Träger der privaten Gemeinnützigkeit doch selbst Teil der Schicht der „kapitalistischen Ausbeuter“. 31 Corbin, filles, 1978, S. 344 – 353; Konieczka, Arten, 1986, S. 108. 32 Vgl. Konieczka, Arten, 1986, S. 107 und 113. 33 Loewenherz, Johanna. Prostitution oder Production, Eigentum oder Ehe? Studie zur Frauenbewegung. Neuwied 1895. S. 55. Zit. nach Konieczka, Arten, 1986, S. 109. Loewenherz wechselte von der bürgerlichen zur sozialistischen Frauenbewegung. Konieczka, Arten, 1986, S. 123, Anm. 1. 34 Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 111.

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Sorgen um den weiblichen Sex Der breite Konsens über die Erziehungsbedürftigkeit sexuell normabweichender junger Frauen lässt sich auch mit einem steigenden Normalisierungsdruck erklären. Nicht nur unangepasste Bevölkerungsgruppen waren mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft und dem Einsetzen der Industrialisierung einem zunehmenden Anpassungsdruck an die gesellschaftlichen Normen ausgesetzt. Ganz generell scheint sich in diesem Zeitraum, ganz ausgeprägt in der Zwischenkriegszeit, der Normalisierungsdruck schicht- und klassenübergreifend verstärkt zu haben, der im täglichen Leben für die gesamte Bevölkerung spürbar wurde.35 Europaweit kam es zu einer zunehmenden Staatsintervention in die Belange der Bevölkerung sowie zu faschistischen Tendenzen. In der Schweiz kam es zwar nie zur Etablierung einer diktatorischen Regierung. Die Demokratie und die liberale Wirtschaftsordnung blieben in weiten Strecken erhalten. Die Fürsorge jedoch war ausgeprägt von intervenierenden Tendenzen geprägt. Béatrice Ziegler hat den Normalisierungsdruck auf weibliche Personen in der Schweiz untersucht und insbesondere seit dem beginnenden 20. Jahrhundert, ganz ausgeprägt in der Zwischenkriegszeit, einen steigenden Zugriff auf den weiblichen Körper via Abtreibungs- und Verhütungsverbot, Zwangssterilisationen, Kampf gegen die Prostitution und Promiskuität sowie die Verdrängung der Frau aus dem Erwerbsprozess festgestellt.36 Ein immer dichter werdendes Netz an Institutionen, die ausgeprägt auf Frauen aus der Unterschicht ausgerichtet waren, diente der effektiven Durchsetzung bürgerlicher Normvorstellungen: Der Frau wurden reproduktive Aufgaben zugeteilt – Gebären und Erziehen von Kindern innerhalb einer Ehe. Erwerbstätigkeit sollte bei Müttern auf Sondersituationen beschränkt bleiben. Eine außereheliche Schwangerschaft hatte eine gesellschaftliche Diskriminierung und in zunehmendem Maße Sanktionen durch sozialfürsorgerische Maßnahmen zur Folge. Nach der Jahrhundertwende, im Zuge der Ausweitung der Säuglings- und Kinderwohlfahrt, entstanden denn auch viele Mütterheime für ledige Mütter und deren Kinder. Die Gründer waren meist Vereine, die erst nach der Jahrhundertwende entstanden und sich im Bereich weiblicher Jugendfürsorge engagierten.37 35 Vgl. Opitz, Einleitung, 2006, S. 10; Tanner, Ordnungsstörungen, 2007, S. 289; Ziegler, Arbeit, 2007; Engel, Festseuche, 1990, S. 14; Hauss, Einrichtung, 2010, S. 25. 36 Ziegler, Arbeit, 2007. Generell gelangte in weiten Teilen Europas im 20. Jahrhundert die Sexualität der städtischen Frauen aus der Unterschicht in den Fokus der Überwachung und Stereotypisierung (vgl. Davidson, Sex, 2001, S. 10). Ähnlich wie im gesamteuropäischen Umfeld nahmen zudem auch in der Schweiz die gesellschaftliche Stellung der Frau und die Zementierung der Geschlechterrollen einen erheblichen Platz in den Debatten der Zwischenkriegszeit ein (vgl. Ziegler, Mensch, 2005, S. 122). 37 Vgl. Anhang. Für Deutschland zeigt sich dasselbe Phänomen (vgl. Buske, Fräulein, 2004, S. 48).

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Ziegler zeigt diesen Mechanismus anhand der Vormundschaftsbehörde, an den städtischen Wohnungskontrollen, der Quartieraufsicht, den Armenfürsorgen, den Sozialfürsorgerinnen, dem Stadtarzt und den Schulärzten, welche „die Normierung der unteren Schichten ganz explizit betrieben“.38 Aber auch weit über diese u­ ntersten Schichten hinaus übte die Existenz solcher Kontrollmechanismen eine disziplinierende Funktion aus. Ziegler erklärt diesen erhöhten Normalisierungsdruck, der auch in weiten Teilen Europas zunahm,39 primär mit der seit der Jahrhundertwende stark sinkenden Geburtenrate und der Angst vor der erstarkenden Frauenemanzipation. In der Kriegs- und Nachkriegszeit hatten sich den Frauen mehr Handlungsräume eröffnet. In den 1920er Jahren verbreitete sich vor allem via Werbung und Film ein neues (weitgehend utopisches) Frauenbild, die „neue Frau“.40 Den Frauen stand in der Folge vermehrt das Vergnügungsangebot, wie Kino, Fahrradfahren, Skifahren, Tennis oder Hockeyspielen, offen. Ausdruck dieses größeren Bewegungsfreiraums war auch die Kleidung: Sie wurde kürzer und leichter. Der Bubikopf und „sich Schminken“ kam in Mode. Die „neue Frau“ knüpfte zudem zwangslose Bindungen mit Männern. Die 1920er Jahre waren ferner durch eine ansteigende Zahl berufstätiger Frauen und deren Eindringen in Männerberufe geprägt. Gerade im Sozial- und Wohlfahrtswesen sowie im Bildungsbereich taten sich den Frauen neue Berufsfelder auf. Die lockerere Sexualmoral der „neuen Frau“ und die zunehmend sichtbare weibliche Erwerbstätigkeit wurden nicht unbesehen hingenommen.41 Die Schweizer Öffentlichkeit reagierte mehrheitlich ablehnend, mitgetragen von einer konservativen Grundstimmung, die sich ausgeprägt in der Zwischenkriegszeit im beachtlichen Aufschwung einer neuen politischen Rechten manifestierte, welche sich starkmachte gegen den Zerfall von Sitte und Familie, sich eines moralisierenden und religiösen Tons bediente, ein traditionelles Frauenbild vertrat und die Rückkehr der Frauen zu Kindern, Küche und Kirche propagierte.42 Die Krisendiagnosen des angeblichen Zerfalls von Sitte und Moral wurden ein Signum der 1920er Jahre. Die „neue Frau” galt als unschweizerisch. Gegen Ende der 1920er Jahre wurde ihr die schlichte Trachtenfrau und Bäuerin gegenübergestellt, deren Platz geschlechterkonform als ­Hausfrau, 38 Ziegler, Arbeit, 2007, S. 388. 39 Vgl. Jackson, Sex, 2011, S. 89; Hering, Makel, 1998, S. 48 f.; Luddy, Prostitution, 2007, S. 16. 40 Vgl. zum neuen Frauenbild ausführlich bei Reinert, Frauen, 2000, S. 140 – 150; Weinbaum, Girl, 2009. 41 Vgl. zum folgenden Abschnitt Furrer, Schweiz, 2008, S. 58 f. und 64 – 69; Schumacher, Herzenssache, 2010, S. 280; Jost, Avantgarde, 1992; Jorio, Marco. Geistige Landesverteidigung. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (11. 10. 2011); Mooser, Landesvertei­ digung, 1997. 42 Vgl. Jost, Avantgarde, 1992, S. 35 f.; 75; 129; 134.

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Mutter und Ehefrau zu Hause war. Mit der Geistigen Landesverteidigung seit den 1930er Jahren, welche als schweizerisch definierte Werte stärken wollte und die Abwehr ausländischer totalitärer Strömungen anvisierte, verband sich ein Konformitätsdruck, der zwischen „schweizerischer“ und „unschweizerischer“ Lebensweise unterschied. Wer „unschweizerisch“ lebte, galt als Außenseiter. Der Ernährerlohn wurde propagiert, um die Geschlechterrollen durchsetzen zu können. Die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen sollte möglichst unterbunden werden. Die Kontrolle der weiblichen Sexualität und der sexuellen Beziehungen war in den krisenhaften Zwischenkriegsjahren – die von massiven sozialen Spannungen und Arbeiterunruhen, von verschärften politischen Auseinandersetzungen und strukturellen und konjunkturellen Problemen der Wirtschaft sowie von einem starken Wandel mit teilweise massiven Umorientierungen und Neudefinitionen geprägt waren –43 Gegenstand intensiver diskursiver Normierung. Die Benennung von Frauen als „Dirnen“ wurde nun weiter gesteckt, ja willkürlicher, ein Phänomen, das zeitgleich auch in anderen Ländern zu beobachten ist.44 Frauen, die vor- und außereheliche Beziehungen pflegten, wurden in die Nähe der Prostituierten gerückt, indem beide als gesundheitsgefährdende „Ansteckungsherde“ von Geschlechtskrankheiten diskreditiert wurden.45 Jegliche Form der „sexuellen Verwahrlosung“ wurde nun strenger geahndet als zuvor.46 Die sittliche Erziehung in einem Heim spielte dabei bei Unterschichtfrauen eine zunehmend wichtige Rolle. Hinter der Fixierung auf die Kontrolle der Sexualität und Reproduktion der Frauen steckten nicht nur moralische Überlegungen und eine patriarchal angehauchte Abneigung gegen autonom gelebte weibliche Sexualität, sondern ebenso handfeste finanzielle Interessen. Ein als „unsittlich” taxierter Lebenswandel galt bei Frauen als Ursache für Armut und Unterstützungsbedürftigkeit. Mit ihrer „liederlichen” Lebensweise würden sie die eigene ökonomische Grundlage gefährden und der Armenkasse zur Last fallen. Prostituierte etwa galten als stark gefährdet, eines Tages von der Armenfürsorge abhängig zu werden. „Sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen waren ferner potenzielle ledige Mütter, die von einem hohen Armutsrisiko betroffen waren und mit ihren potenziell „erblich belasteten“ Kindern rasch zu einer „Bürde“ für die Armenkasse werden konnten. Gerade die Phase der Pubertät, die erwachende Sexualität und beginnende Fortpflanzungsfähigkeit mit sich brachte, wurde als besonders schutzbedürftig und bedroht wahrgenommen. Die Folgen eines Fehltritts wurden bei jungen 43 Vgl. Ziegler, Arbeit, 2007, S. 9. Vgl. zur Zwischenkriegszeit in der Schweiz: Guex, Krisen, 1998; Furrer, Schweiz, 2008. 44 Vgl. für Deutschland Harris, Absence, 2008, S. 287; für Irland Luddy, Prostitution, 2007, S. 15; 194 – 203. Für die Schweiz vgl. auch Hauss, Norm, 2007, S. 63. 45 Ziegler, Arbeit, 2007, S. 380; Davidson, Sex, 2001. 46 Hering, Makel, 1998, S. 48 f.

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Frauen als ungleich größer erachtet als bei jungen Männern. Die Erziehung sexuell normabweichender junger Frauen in einem Heim sollte helfen, „armutsförderndes“ Verhalten und aussereheliche Kinder zu verhindern. Wie bereits im 19. Jahrhundert spielte bei der Gründung von Erziehungsanstalten die Bekämpfung „gewisse[r] fatale[r] Begleiterscheinungen der Armut“, die ihrerseits als geeignet schienen, „zu Ursachen des Pauperismus zu werden“47, auch im beginnenden 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Zu diesen unerwünschten „Begleiterscheinungen“ und potenziellen Armutsursachen zählte bei Frauen ausgeprägt ein „unsittlicher“ Lebenswandel.48 Versorgungsgesetze, wie sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, zeigen diese Parallele deutlich: Bezeichnenderweise war die Errichtung eines staatlichen Erziehungsheims für weibliche Jugendliche im Kanton Bern im dortigen Gesetz über die Armenpolizei und die Enthaltungs- und Arbeitsanstalten vom 1. Dezember 1912 vorgeschrieben. Das Gesetz ermöglichte u. a. die Heimeinweisung von „sittlich verdorbenen“ Minderjährigen und von Personen, die sich einem „unsittlichen Lebenswandel“ hingaben. Der Armendirektor Fritz Burren machte sich im Großen Rat für das Gesetz mit folgenden Argumenten stark: „Man kann gegen diese Leute einschreiten, bevor sie die Armenbehörden belästigen, sobald sie ihre ökonomische Zukunft und ihr sittliches Wohl und dasjenige ihrer Angehörigen gefährden. Die Armenbehörden haben sich schon oft darüber beklagt, dass man diese Leute gewähren lassen muss, bis es zu spät sei […].“49 Auch im Kanton Zürich ist ein ähnlicher Mechanismus festzustellen. Das Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925 wurde im gleichen Zeitraum erlassen wie der Wechsel von der Zuständigkeit der Heimatgemeinde zur Wohnsitzgemeinde in Sachen Armenwesen, der im Kanton Zürich 1927 stattfand.50 Personen, die „armengenössig“51 wurden, konnten nun nicht mehr an die Heimatgemeinde zurückgeschickt werden. Dafür erleichterte das Versorgungsgesetz die Anstaltseinweisung von „liederlichen“ Personen, die von der Armenkasse lebten, sowie von Personen, die aufgrund ihres „liederlichen“ Lebenswandels oder eines „Hanges zu Liederlichkeit“ bzw. einer „sittlichen Gefährdung“ „armengenössig“ zu werden drohten. Auch die Angst vor einer „Entartung“ des Schweizer Volkes trieb die Sorge um den weiblichen Sex voran. Eugenisches Gedankengut fand in der Zwischenkriegszeit in Europa und den USA, so auch in der Schweiz, rasch Verbreitung. Neben 47 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1910, S. 699. Dieses Votum fiel in der Debatte des Berner Grossrates zum neuen Armenpolizeigesetz, das 1912 in Kraft trat. 48 Vgl. Lippuner, Bessern, 2005, S. 154; Ludi, 1989, S. 31. 49 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1910, S. 700. 50 Vgl. Galle, Menschen, 2009, S. 44. 51 Armengenössigkeit ist ein zeitgenössischer, schweizerischer Ausdruck und steht heute für das Empfangen von Sozialhilfe.

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Eheverboten und Sterilisationen wurden auch Anstaltsversorgungen aus eugenischen Gründen vorgenommen. Die eugenisch motivierte Heimeinweisung zielte auf die Verhinderung von Geschlechtsverkehr und damit von unerwünschter Fortpflanzung. Zu einer ernsthaften Debatte über eine lebenslange Asylierung aus eugenischen Gründen oder über Zwangssterilisation von „unerziehbaren Fürsorgezöglingen“, wie dies in Deutschland bereits im Kaiserreich und während der Weimarer Republik geschah, kam es in der Schweiz aber nicht; ebenso wenig zur Errichtung einer strikt rassenhygienisch ausgerichteten Fürsorge, die Jugend-KZs, Zwangssterilisation und rassenhygienisch begründete Tötungen implizierten, wie dies unter dem Regime der Nationalsozialisten Deutschlands geschah.52 Nichtsdestotrotz kam es seit den 1920er Jahren vermehrt zu eugenisch indizierten Internierungen, wenn auch in den 1920er Jahren erst sehr zögerlich.53 Paul Pflüger, ehemaliger Pfarrer, Sozialdemokrat und Vorsteher des Armen- und Vormundschaftswesens in Zürich, ordnete bereits 1914 bei den Berufsvormündern an, diejenigen „Fürsorgezöglinge“, bei welchen infolge einer „pathologischen, psychisch, geistig oder physisch anormalen Veranlagung“ die öffentliche Erziehung erfolglos sei, und die sich „in der Gesellschaft als total haltlos oder asozial erweisen“, dauerhaft in eine Anstalt einzuweisen.54 Die Erziehungsbemühungen gegenüber „unsittlichen“ Frauen scheinen entsprechend auch eine Kompensation für die fehlenden gesetzlichen Ehebeschränkungen gewesen zu sein, indem Erziehungsheime durch zeitweiliges Wegsperren und Nach­erziehen unliebsame Heiraten, die wiederum die Armenkasse durch niedriges Einkommen und eine große, erblich womöglich „belastete“ Kinderschar zu beanspruchen drohten, verhindern sollten. Mit der Aufhebung von gesetzlichen Heiratsbeschränkungen durch die Bundesverfassung von 1874 ersetzte die Ehefreiheit die alten, ständischen Eherestriktionen.55 Jedoch traten regulative Gegenbewegungen auf, welche die liberale Bevölkerungspolitik durch neue Maßnahmen zu konterkarieren suchten, sodass konfessionelle, sittlich-moralische oder eugenische Eheschranken bis weit ins 20. Jahrhundert bestanden.

52 Vgl. zu Deutschland Kollmeier, Ordnung, 2007; Schmidt, Mädchen, 2002; Engbarth, Geschichte, 2003, S. 213; 227 – 242. 53 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 230. In der Schweiz spielte im heilpädagogischen Kontext der Eugenikdiskurs bis ca. 1930 eine untergeordnete Rolle. Erst die Einführung des eugenischen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1934 in Deutschland führte zu einer intensiveren heilpädagogischen Auseinandersetzung mit der negativen Eugenik (vgl. Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002). 54 Pflüger, Paul. Die Ziele der öffentlichen Erziehung. Zürich 1914. S. 10 und 14. Zitat nach Hürlimann, Kinder, 2000, S. 35. 55 Vgl. Lengwiler, Übervölkerungs- zum Überalterungsparadigma, 2007.

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Besoin d’ordre statt laissez faire Der erhöhte Normalisierungsdruck auf sexuell normabweichende Frauen fiel zusammen mit einem verstärkten Ruf nach Ordnung und Durchsetzung von Normen.56 Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Krisenanfälligkeit des liberalen Systems offenkundig und mündete in einer Krise des Liberalismus.57 Der Umbruch von der Epoche des Liberalismus, des Kapitalismus und der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zur Phase der Regression und des Zerfalls des politischen Liberalismus in der ­ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts artikulierte sich politisch in der sogenannten neuen Rechten.58 Die neue politische Rechte erlebte einen beachtlichen Aufschwung und beeinflusste die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders ausgeprägt die Zwischenkriegszeit. Auf politischer Ebene entstanden zahlreiche konservative Parteien und der Freisinn machte einen Rechtsrutsch. Mit der Krise des Liberalismus machten sich Zweifel am liberalen Fortschrittsglauben breit, an der Wirksamkeit liberaler Lösungskonzepte und an einem mit weitreichenden individuellen Freiheiten gepaarten liberalen Individualismus. Die soziale Frage rief nach einer Neuordnung der Gesellschaft. Der Ruf nach besoin d’ordre anstelle des liberalen laissez faire erklang von links bis rechts und fiel in die Zeit der Anfänge moderner Sozialstaatlichkeit.59 Innere Bedrohungen schienen die bürgerliche Gesellschaft zu gefährden. Einschränkungen der individuellen Freiheit zugunsten kollektiver Sicherheit wurden populär.60 Ordnungs- und Normprämissen bedrängten liberalstaatliche Prämissen zusehends.61 Eugen Huber, der als Redakteur des seit 1892 ausgearbeiteten eidgenössischen Zivilgesetzbuches als „helvetische Einmaligkeit“62 die Bevormundung von Personen mit einem „lasterhaften Lebenswandel“ einführte, prognostizierte das Verklingen der Ideen des Liberalismus und forderte mehr Ordnung und weniger individuelle Freiheit.63 Eine gewisse Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Bürgerinnen und Bürger wurde angestrebt; die Sicherheit der Gesellschaft avancierte dabei zu einem Leitgedanken des sich ausformenden Sozialstaates.64 Das dabei formulierte Ziel, durch Prävention die öffent­ liche Sicherheit zu garantieren, fand in der Schweiz Eingang in die Vorarbeiten zum 56 Vgl. hierzu Jost, Avantgarde, 1992; Bernet, Tod, 2007. 57 Jost, Avantgarde, 1992, S. 24. 58 Jost, Avantgarde, 1992. Hans-Ulrich Jost ortet die Anfänge der neuen Rechten bereits in den 1890er Jahren. 59 Jost, Avantgarde, 1992, S. 128 – 143. 60 Jost, Avantgarde, 1992, S. 128 – 143; Bernet, Tod, 2007, S. 150. 61 Vgl. ausführlich Bernet, Tod, 2007. 62 Horowitz, Stein, 1992, S. 35. 63 Bernet, Tod, 2007, S. 148. 64 Bernet, Tod, 2007, S. 151.

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eidgenössischen Strafgesetzbuch sowie in kantonale Versorgungsgesetze und das eid­genössische Zivilgesetzbuch.65 Ein deutscher Jurist und Zeitgenosse von Eugen Huber äußerte sich ausge­ sprochen kritisch zum Gewicht der öffentlichen Sicherheit im eidgenössischen Zivilgesetzbuch: „Die Grenzen möglicher Entmündigung sind im schweizerischen Recht sehr weit gezogen, erheblich weiter als im deutschen. Ausser gegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche, Verschwendung und Trunksucht, kann auch wegen lasterhaften Lebenswandels und sogar wegen blosser Misswirtschaft entmündigt werden. Als Entmündigungsgrund gilt in allen diesen Fällen nicht bloss die Befürchtung einer Beeinträchtigung des eigenen Wohls der Angehörigen, sondern auch die Gefährdung der Sicherheit anderer. […] Es könnte sich fragen, ob nicht nach unserer deutschen Auffassung hier in einzelnen Punkten des Guten zu viel geschehen ist. […] Interessant ist es, in dieser ganzen Materie zu beobachten, in welchem Umfang in dem demokratischen Gemeinwesen der Schweiz bei aller Betonung der persönlichen Freiheit des Staatsbürgers ein bevormundendes und erzieherisches Eingreifen der Staatsgewalt ertragen wird.“66 Der Schweizer Jurist Werner Kraft lobte hingegen in seiner Dissertation über die Sittenpolizei aus dem Jahr 1929 die neu erlassenen Fürsorgegesetze (kantonale Versorgungsgesetze und eidgenössisches Zivilgesetzbuch), mit denen „der Sicherungszweck und der Besserungszweck zugleich erreicht“ würden.67 Kraft benannte dabei die Heim­erziehung als optimale Verknüpfung von Sicherungs- und Besserungszweck. Der Ruf nach Disziplinar- und Sicherheitsmechanismen gegenüber gewissen Gruppen von Personen, die (potenziell) die Armenkasse belasteten und in ihrem Lebensstil herrschenden Moral- und Normvorstellungen widersprachen, übertönte die liberalen Bedenken bezüglich bevormundenden und erziehenden Eingreifens des Staates in die persönliche Freiheit seiner Bürger. Die forcierte Transformation von der individuellen Freiheit zur Durchsetzung von Normen und zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit war zwar von Protesten und Aushandlungsprozessen begleitet. Gegen die zunehmende Einschränkung der Freiheiten machte sich Kritik etwa von Kampagnen

65 Die im Rahmen der internationalen Strafrechtsreformbewegung eingeführten sichernden Maßnahmen bauten auf dem Gedanken des Sicherheitsbedürfnisses der Gesellschaft auf (Germann, Psychiatrie, 2004, S. 89). Zum Einfließen des Schutzgedankens in die Versorgungsgesetze und zum Strafgesetzbuch vgl. Germann, Psychiatrie, 2004, S. 324. Auch das eidgenössische Zivilgesetzbuch basierte auf dem Schutzgedanken, indem nicht nur der Schutz des Mündels, sondern, im Gegensatz zu älteren Vormundschaftsgesetzen, auch jener der Gesellschaft angestrebt wurde (vgl. Bernet, Tod, 2007, S. 133). 66 Rümelin, Max. Das neue schweizerische Zivilgesetzbuch und seine Bedeutung für uns. Tübingen 1908. S. 9 f. Zit. nach Horowitz, Stein, 1992, S. 38. 67 Kraft, Sittenpolizei, 1929, S. 77 f.

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gegen Erziehungsanstalten und vonseiten der Irrenhausbewegung breit.68 Angeprangert wurden unter anderem die erleichterte Bevormundung, die administrative Versorgung ohne richterliche Beurteilung, das fehlende oder mangelhafte Rekursrecht von Betroffenen, die undurchsichtigen Einweisungs- und Bevormundungsgründe und die Bedrohung für die bürgerliche Freiheit als Grundpfeiler des liberalen Rechtsstaates. Diese kritischen Stimmen vermochten jedoch ihre Forderungen (noch) nicht durchzusetzen gegenüber dem unüberhörbaren Ruf nach Ordnung, Anpassung und Beschneidung individueller Rechte.

Die Neoreglementaristen und ihr neues Fürsorgekonzept Der breiten Zustimmung zu den fürsorgerischen Maßnahmen für sexuell normabweichende junge Frauen verhalf ein weiterer Umstand zum Aufschwung: Seit Ende des 19. Jahrhunderts setzte unter den Reglementaristen – die sich primär aus Wissen­ schaftlern wie Ärzten, Sozialhygienikern und Strafrechtsreformern zusammensetzten – ein Paradigmenwechsel ein, als immer mehr unter ihnen das klassische Konzept der Reglementierung als unzureichend kritisierten und neue Maßnahmen im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten verlangten. Die sogenannten Neoreglementaristen hielten dabei weiterhin an der kontrollierten Duldung der Prostitution fest, wollten jedoch ergänzend u. a. fürsorgerische Maßnahmen einführen.69 Neu an den Vorschlägen dieser Neoreglementaristen war ein auf kriminalanthropologischen Theorien aufbauendes Fürsorgekonzept, das auch Gelegenheitsprostituierte und Frauen, die in die Prostitution abzugleiten drohten, fürsorgerischen Maßnahmen unterzog. Ein wichtiges Ziel dieser Fürsorge sollte die Reintegration von „Dirnen“ in die Gesellschaft sein. Noch besserungsfähige Prostituierte sollten nicht mit Haft bestraft, sondern einer Nacherziehung in Erziehungsheimen unterzogen werden. Die Neoreglementaristen sahen die Prostituierten nicht als „Täterinnen“, sondern in Anlehnung an zeitgenössische kriminalanthropologische Theorien, die soziale Devianz psychologisch zu erklären suchten, als „psychisch Kranke“, die sachkundiger 68 Vgl. zur Heimkritik Tanner, Erziehung, 1998, S. 191 – 194; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 87 – 105; Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 340 – 348; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 239 – 262; Schär, Erziehungsanstalten, 2006; Hafner, Heimkinder, 2011, S. 127 – 156; Wyss, Grundprobleme, 1971; Hürliman, Kinder, 2000, S. 114 – 124; Hauss, Indikationen, 2006, S. 35 – 37; Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012; Akermann, Meerrohrstock, 2004, S. 37 – 49; Spuhler, Anstaltsfeind, 2013. Die Irrenhausbewegung, die in den 1890er Jahren aufkam, prangte die „Irrenanstalten“ als Bedrohung für die individuelle Freiheit an (vgl. zur Irrenhausbewegung Bernet, Tod, 2007). 69 Vgl. ausführlich Puenzieux, Medizin, 1994, S. 186 – 201.

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Betreuung bedurften.70 Die Prostituierten sollten entsprechend einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen werden.71 Ergab die Untersuchung, dass die Frau „heilbar“ war, sollte sie unter kundiger Führung in einem Heim nacherzogen und therapiert werden.72 Erwies sie sich als „unheilbar“, sollte sie hingegen weiterhin als Prostituierte unter ärztlicher Aufsicht arbeiten. Neben all diesen hier genannten Faktoren war es auch der Einsatz der bürgerlichen Wohltätigkeit, nicht zuletzt der Sittlichkeitsbewegung, für die Etablierung und gesetzliche Verankerung der Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen, der zu einer verstärkten Tätigkeit in diesem Fürsorgefeld beitrug, wie wir noch sehen werden.73 Der Ruf nach solchen Erziehungsheimen durch die b­ eiden einflussreichen Mitstreiter in Sachen Prostitution, die Sittlichkeitsvereine und die Reglementaristen, beeinflusste die breite Akzeptanz von Fürsorgemaßnahmen gegenüber Prostituierten und „sittlich Gefährdeten“ mit.

5.2 Staatliche Intervention In der Schweiz fanden seit 1908, kurz nach der Verabschiedung des eidgenössischen Zivilgesetzbuches, das in der Schweiz eine neue Basis für die Institutionalisierung der Jugendfürsorge schaffte, mehrere Jugendfürsorgekongresse statt, an denen auch Fragen nach der zukünftigen Rolle der staatlichen und der privaten Jugendfürsorge aufgeworfen wurden. Diese Diskussionen stehen im Zusammenhang mit den auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern geführten Auseinandersetzungen, wie die Arbeitsteilung und die Beziehung zwischen privaten und staatlichen Akteuren mit der Formierung des Sozialstaates in Zukunft aussehen sollten. An den Schweizer Jugendfürsorgekongressen wurde für die Zusammenarbeit der öffentlichen und priva­ten Fürsorge sowie gleichzeitig für die Zentralisierung der Fürsorge in Jugendämtern plädiert.74 Die in der Folge in verschiedenen Schweizer Kantonen entstehenden kantonalen und städtischen Jugendämter, die nach dem Vorbild der deutschen 70 Zur Kriminalanthropologie und ihren Ansichten über Prostituierte vgl. Gibson, Female Offender, 1982; Puenzieux, Medizin, 1994, S. 192 – 201. Diese Theorien entwickelten die Ansichten des Turiner Psychiaters Cesare Lombroso weiter, der die Prostituierte als Verbrecherin beschrieb. Vgl. zum Diskurs über die Prostituierte, wie ihn Cesare Lombroso und andere Ärzte und Psychiater im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert führten, Gilman, Rasse, 1992, S. 120 – 148; Sabisch, Prostituierte, 2010. Zur Rezeption Lombrosos bei den Schweizer Reglementaristen und deren kriminalanthropologischen Ansichten vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 192 – 201. 71 Müller, Kenntnis, 1911, S. 23. 72 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 196 f. 73 Vgl. Kap. 5.3. 74 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 161 – 207.

Staatliche Intervention

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Jugendämter gegründet wurden,75 waren als Zentralstellen für sämtliche privaten und öffentlichen Jugendfürsorgeeinrichtungen konzipiert. Diese auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern zu beobachtende Zentralisierung,76 die eine lückenlosere Erfassung der Normabweichenden garantieren sollte und auf eine Rationalisierung der Jugendfürsorge zielte, bedeutete aber nicht, dass die private Fürsorge überflüssig geworden wäre, vielmehr sollte die Zusammenarbeit und Koordination zwischen den vielen bestehenden Einzelinitiativen verbessert werden. Gleichzeitig wurde die private Fürsorge verstärkt in die Ziele der öffentlichen Fürsorge eingebunden und konnte in der Folge weniger unabhängig agieren. Um die Rollen, welche die private und staatliche Fürsorge fortan übernahmen, um die Art der vom Staat an Private delegierten Aufgaben, um das Maß an Vollmacht und Autorität der beiden Sektoren sowie um die Aushandlungsprozesse und Auseinandersetzungen, die den Prozess der Neudefinition von Arbeitsteilung und Zusammenarbeit staatlicher und privater Fürsorge begleiteten, drehen sich die folgenden Kapitel 5.2 bis 5.4.

Staatliche Institutionalisierung Mit dem erwachenden Interesse des Staates an der Fürsorge für nachschulpflichtige Jugendliche setzte sich kurz nach der Jahrhundertwende ein Prozess der zunehmenden Verrechtlichung und teilweisen Verstaatlichung der Jugendfürsorge in Gang 77 – ein Phänomen, wie es in weiten Teilen Europas und in den USA zu beobachten ist.78 Es entstanden in den hier näher untersuchten Kantonen Bern, Basel-Stadt und Zürich primär in den 1910er bis 1930er Jahren eine Vielzahl neuer staatlicher Einrichtungen und Gesetze.79 Das eidgenössische Zivilgesetzbuch von 1907, das 1912 in Kraft trat, 75 Vgl. Hauss, Jugendschutzkommissionen, 2010, S. 137. In Deutschland wurde bereits 1922 mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz die Schaffung von Jugendämtern gesetzlich vorgeschrieben. 76 Cox, Becoming, 2002, S. 1 f. 77 Jürg Schoch, Heinrich Tuggener und Daniel Wehrli, die die außerfamiliäre Erziehung in der deutschsprachigen Schweiz untersucht haben, bezeichnen die Verrechtlichung der sozialen Arbeit als „herausragendes Merkmal des Sozialwesens des 20. Jahrhunderts“ (vgl. Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 32). 78 In den USA und in England setzte dieser Prozess bereits vor der Jahrhundertwende ein, in Deutschland wurde die Jugendfürsorge seit dem Ersten Weltkrieg von der Regierung zur wichtigsten Aufgabe erklärt (vgl. Harris, Absence, 2008, S. 283). 79 In den drei großen Deutschschweizer Kantonen Zürich, Bern und Basel-Stadt entstanden folgende staatliche Einrichtungen, Stellen und Gesetze: Erziehungsheime: Zürich 1912 (Heimgarten), 1929 (Tannenhof, zuvor ein Privatheim); Bern 1935 (Loryheim). Polizeiassistentinnen und Fürsorgerinnen: Zürich 1913 Polizeiassistentin und 1917 Fürsorgerin; Basel

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mit dem die Jugendfürsorge auf eine neue institutionelle Basis gestellt wurde, bildete den Ausgangspunkt für die Errichtung professionalisierter Amtsvormundschaften, die dem Ruf nach Rationalisierung der Jugendfürsorge Vorschub leisteten.80 Die Amtsvormundschaften wurden zum Ausgangspunkt für die Gründung von Jugendämtern.81 Zudem entstanden die ersten staatlichen Heime für weibliche Jugendliche und es wurden Fürsorgestellen eingerichtet, wie jene für „sittlich gefährdete Mädchen“ oder die Stelle der Fürsorgerin für Geschlechtskranke und jene der Polizeiassistentin. Der Umfang der Institutionalisierung variierte jedoch von Kanton zu Kanton beträchtlich, mit einem ausgeprägten Stadt-Land-Gefälle. Während es in den Großstädten zu einem staatlichen Ausbau und einer Zentralisierung der Fürsorge kam, blieb die Fürsorge in ländlichen Gebieten weit weniger zentralisiert und staatlich institutionalisiert.82

Gesetzliche Intervention Auf gesetzlicher Ebene intervenierte der Staat durch eine Vielzahl neuer Gesetze, welche die Heimerziehung von weiblichen Jugendlichen auf ein neues Fundament stellte. Das 1912 in Kraft getretene eidgenössische Zivilgesetzbuch regelte die Erziehung von „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen in Heimen erstmals schweizweit. Zudem wurde die Bevormundung von mündigen Personen, die sich einem „lasterhaften

1931 Polizeiassistentin; Bern 1928 Polizeiassistentin. Versorgungsgesetze: 1912 das eidgenössische Zivilgesetzbuch; Zürich: Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925; Bern: Gesetz über die Armenpolizei und die Enthaltungs- und Arbeitsanstalten vom 1. Dezember 1912; Basel: Gesetz betreffend Versorgung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten vom 21. Februar 1901/27. April 1911, sowie Gesetz betreffend die kantonalen Versorgungs- und Erziehungsanstalten für Jugendliche vom 27. April 1911. Jugendämter: Zürich 1919 (kantonales Jugendamt) und 1929 (vier städtische Jugendämter); Bern 1920 das städtische, 1930 das kantonale Jugendamt; Basel: 1912 entstand mit dem Einführungsgesetz zum ZGB in Basel die Vormundschaftsbehörde. Sie bildete fortan die „Zentralstelle für Jugendfürsorge und Kinderschutz“. Kantonale Jugendstrafgesetze: Basel 1941; Bern 1930; Zürich 1919. Basel revidierte 1911 die betreffenden Bestimmungen ihrer St GB oder StPO „in fortschrittlichem Sinne“, wie Theodor Kady in seiner Dissertation 1939 feststellt (Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 6). Amtsvormundschaften: in Zürich 1908 gegründet (Zürich war damit die erste Stadt der Schweiz, die die Institution der Amtsvormundschaft einrichtete), in Basel 1912, in Bern 1912. 80 Vgl. zu den Amtsvormundschaften Hauss, Einrichtung, 2010; Schreiber, Amtsvormundschaft, 1993; Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000. 81 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 41; Hauss, Einrichtung, 2010, S. 15. 82 Vgl. hierzu die Untersuchungen von Gisela Hauss für St. Gallen. Hauss, Jugendschutzkommissionen, 2010, insbesondere S. 137.

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Lebenswandel“ hingaben, erstmals gesetzlich verankert.83 Damit war die gesetzliche Basis geschaffen, mündige Prostituierte oder „sittlich Gefährdete“ aufgrund von „laster­haftem Lebenswandel“ zu entmündigen. Dieser Gesetzesartikel war konzipiert für einen einfacheren gesetzlichen Zugriff auf die Prostituierten. Er betraf aber ebenso volljährige Frauen, die in ihrer Lebensweise von der sexuellen Norm abwichen, ohne sich prostituiert zu haben. Dem Vormund stand das Recht zu, mit Zustimmung der Vormundschaftsbehörde „nötigenfalls“ eine vormundschaftliche Versorgung der Entmündigten anzuordnen.84 Seit den 1910er Jahren entstanden in der Schweiz zudem kantonale Jugendstrafgesetze, welche die Heimerziehung als wichtige Maßnahme verankerten.85 Und das eidgenössische Strafgesetzbuch von 1942, das ein separates Jugendstrafrecht beinhaltete, hielt fest, dass „sittlich verdorbene“ oder „gefährdete“ Jugendliche in eine Erziehungsanstalt eingewiesen werden sollten und erst als zweite Option die Familienerziehung folgte.86 Zudem erleichterten neue kantonale Versorgungsgesetze, die in vielen Schweizer Kantonen in den 1920er und 1930er Jahren ältere Versorgungsgesetze ablösten, die administrative Anstaltsversorgung von normabweichenden weiblichen Personen gegenüber den Vorgängergesetzen erheblich:87 So schuf etwa das 1912 in Bern in Kraft getretene Gesetz über die Armenpolizei und die Enthaltungs- und Arbeitsanstalten die Möglichkeit des präventiven Eingreifens unter anderem bei „sittlich verdorbenen“ Minderjährigen und Personen mit einem „liederlichen Lebenswandel“.88 Die „Armengenössigkeit“ oder das „Erregen öffentlichen Ärgernisses“ war keine Voraussetzung mehr, um armenpolizeilich eingreifen zu können, wie dies zuvor der Fall gewesen war.89 Das Gesetz erweiterte die Eingriffsbefugnisse der Behörden entsprechend erheblich. 83 Bucher, Zivilgesetzbuch, 1909, § 370 des Familienrechts. 84 Bucher, Zivilgesetzbuch, 1909, § 406 des Familienrechts. Der Vormund musste die Zustimmung der Vormundschaftsbehörde einholen, wollte er sein Mündel in einer Erziehungs-, Versorgungs- oder Heilanstalt versorgen (Bucher, Zivilgesetzbuch, 1909, § 421.13 des Familienrechts). 85 Ein gesondertes Jugendstrafrecht trat in Zürich 1919 in Kraft, in Bern 1930, in Basel 1941. 86 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 68. Bei Kindern war es gerade umgekehrt. Dort wurde der Familienerziehung der Vorrang vor der Heimerziehung gegeben (vgl. Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 68). 87 Vgl. Bossart, Freiheit, 1965, S. 12 – 14. Zur exakten Begriffsdefinition der administrativen Versorgung vgl. die Einleitung in Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 88 Gesetz über die Armenpolizei und die Enthaltungs- und Arbeitsanstalten vom 1. Dezember 1912. Vgl. zum Gesetz und seinen Folgen ausführlich Rietmann, Einweisung, 2004, S. 21 – 29; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 105 – 126. 89 Das Gesetz von 1912 löste das Gesetz über die Armenpolizei vom 14. April 1858, die Verordnung vom 11. August 1858 betreffend die Ausführung des Gesetzes über die Armenpolizei,

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In Basel erweiterten die Versorgungsgesetze von 1901/1911 die Einweisungsgründe von Personen ab dem vollendeten 16. Lebensjahr bzw. ab dem vollendeten 18. Lebensjahr an.90 Das „Erregen öffentlichen Ärgernisses“ und die „Gefährdung der öffent­ lichen Sicherheit“ wurden neu aufgenommen. Ebenfalls wurde das Augenmerk verstärkt auf eine mögliche unrechtmäßige Beanspruchung der privaten und öffentlichen Wohltätigkeit gerichtet. Ein präventives Eingreifen allein bei einer „Gefährdung“ war aber nicht möglich. Anders bei den Jugendlichen: Das Gesetz betreffend die kantonalen Versorgungsund Erziehungsanstalten für Jugendliche von 1911 erlaubte das Eingreifen bereits bei „Gefährdung“ des Jugendlichen und verlängerte die Einweisung bis spätestens zum vollendeten 18. Lebensjahr.91 Im Kanton Zürich ermöglichte das 1897 in Kraft getretene Strafgesetzbuch im Wiederholungsfall die Einweisung von sich prostituierenden Kantonsbürgerinnen in eine „Korrektionsanstalt“.92 Die Einweisung konnte dabei auch dann erfolgen, wenn die betreffende Frau nicht „armengenössig“ oder bevormundet war und auch wenn sie nicht zuvor verwarnt wurde, was eine gegenüber bisherigen Gesetzen raschere und leichtere Versorgung erlaubte.93 Eine weitere Erleichterung der Zwangseinweisung bedeutete das Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925, indem ein „Hang zu Vergehen, Liederlichkeit oder Arbeitsscheu“ nunmehr für sich allein genügte 94 und indem nicht mehr nur die „verwahrlosten“ und „sittlich verkommenen“ Minderjährigen eingewiesen werden konnten, sondern auch jene, bei denen erst eine „Gefährdung“ vorlag.95

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das Gesetz betreffend Errichtung kantonaler Arbeitsanstalten vom 11. Mai 1884 und § 62 des Gesetzes über das Armen- und Niederlassungswesen vom 28. November 1897 ab. Das Gesetz betreffend Versorgung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten vom 21. Februar 1901 und dessen revidierte Fassung vom 27. April 1911 löste das Gesetz über Versorgung in Arbeitsoder Besserungsanstalten vom 7. Februar 1854 ab. Eingewiesen werden konnten Kinder und Jugendliche, die „in ihrem leiblichen oder geistigen Wohl dauernd gefährdet“ oder „verwahrlost“ oder „wegen einer Handlung“ als versorgungsbedürftig erklärt wurden (Gesetz betreffend die kantonalen Versorgungs- und Erziehungsanstalten für Jugendliche vom 27. April 1911, in Kraft seit 1. Januar 1912, § 2). Das Gesetz löste das Gesetz betreffend die Errichtung einer kantonalen Erziehungsanstalt für Mädchen vom 28. Januar 1904 sowie das Gesetz betreffend die Versorgung verwahrloster Kinder und jugendlicher Bestrafter und die Errichtung einer kantonalen Rettungsanstalt auf Klosterfichten vom 9. März 1893 ab. Zürcher Strafgesetzbuch, 1898, § 128 der Sittlichkeitsvergehen. Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 91. Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1925, S. 378. Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern, § 1; Verordnung betreffend die Einweisung von Minderjährigen in „Besserungsanstalten“, § 1. Außerdem bestand die Möglichkeit, Gewohnheitstrinker zwangsweise in Trinkerheilanstalten

Staatliche Intervention

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Solche Straf-, Versorgungs- und Vormundschaftsgesetze bildeten machtvolle Instrumente für die zuständigen Instanzen, um gegen „Normabweichende“ vorgehen zu können. Sie erleichterten die Versorgung von „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ Frauen ganz erheblich. Auch Frauen, die nie auf den illegalen Strich gegangen und bislang nicht „armengenössig“ geworden waren, gelangten verstärkt ins Visier. Wer als „gefährdet“ galt, eines Tages als Prostituierte zu arbeiten oder ledig schwanger zu werden, konnte nun einfacher in ein Erziehungsheim eingewiesen werden.

Höhepunkt der Heimeinweisungen Dieser erleichterte gesetzliche Zugriff schlug sich direkt auf die Versorgungs­ zahlen nieder: Die Zahl der Heimeinweisungen erreichte in der Schweiz in der Zwischen­kriegszeit ihren Höhepunkt.96 So bewirkte etwa das Berner Armengesetz von 1912 einen deutlichen Anstieg der administrativen Versorgungen.97 Auch die Einführung des eidgenössischen Zivilgesetzbuches führte zu einer Zunahme der Heimeinweisungen.98 Bereits vor dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches kam es deshalb auf kantonaler Ebene zu behördeninternen Debatten, wie die zusätzlich erforder­lichen Heimplätze beschafft werden könnten.99 Auch im Kanton Zürich ist dasselbe Phänomen festzustellen. Nach Inkrafttreten des Versorgungsgesetzes des Kantons Zürich im Jahr 1925 gelangten „erheblich mehr solche Personen zur geeigneten Versorgung“.100 Im Regierungsratsbericht über das Jahr 1928 heißt es, dass nun „eine grosse Masse“ von „Verwahrlosten“ in „Verwahrungsanstalten“ eingewiesen würde.101 Unter dem neuen Gesetz vermehrten sich insbesondere auch die einzuweisen (Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern, § 11 – 13). 96 Zwischen 1910 und 1940 erreichte im Kanton Bern die administrative Versorgung einen Höhepunkt (Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 129 – 135). Vgl. auch Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 251: Ramsauer hat 1914 und 1934 als Stichjahre miteinander verglichen und festgestellt, dass in den 1930er Jahren sehr viel häufiger als zuvor Kinder und Jugendliche in Erziehungsheime eingewiesen wurden. 97 Vgl. Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 98 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 251. 99 Vgl. beispielsweise Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat! August 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4. 100 Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1926, S. 302.. 101 Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1928, S. 340. Im Jahr 1927 befasste sich die Justizdirektion in mehr als 500 Fällen mit der Handhabe des Verwahrungsgesetzes, „namentlich gegenüber erwachsenen Verwahrlosten“, davon 197 Fälle wegen Neuaufnahme in Anstalten (Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

Einweisungen wegen „Liederlichkeit“.102 Im Berner Staatsverwaltungsbericht von 1960 hieß es schließlich: „Was an Versorgungen in den Dreissiger Jahren möglich war, ist heute nicht mehr denkbar.“103 Ganz allgemein ist im Bereich der Fürsorge in der Zwischenkriegszeit, insbesondere in den 1930er Jahren, ein Höhepunkt der Interventionen festzustellen. Auch der Entzug der elterlichen Gewalt und die Entmündigung von Eltern erreichten in dieser Phase Spitzenwerte.104 Dasselbe lässt sich bei den Kindswegnahmen bei jenischen Familien feststellen,105 und auch die Sterilisationen erreichten in den 1930er Jahren einen Höhepunkt.106 Mit dem wachsenden Interesse des Staates an der weiblichen Jugendfürsorge nach der Jahrhundertwende ging im von mir untersuchten Zeitraum – so lässt sich schlussfolgern – ein steigender Zugriff auf als sexuell deviant erachtete junge Frauen einher, der ganz ausgeprägt in den 1910er bis 1930er Jahren durch die neuen Gesetze und staatlichen Fürsorgeinstitutionen zunahm.107 Dadurch konnten größere Teile der weiblichen Bevölkerung einer Nacherziehung und Kontrolle unterzogen werden. Das Fürsorgenetzwerk wurde zunehmend engmaschiger.

5.3 Einflussnahme der Sittlichkeitsvereine auf die staatliche Fürsorge Die Sittlichkeitsvereine versuchten, die Ausrichtung der beginnenden staatlichen Sozial­arbeit für weibliche Jugendliche zu beeinflussen. Sie engagierten sich für Gesetze, welche die Fürsorge für diese jungen Frauen verankerten, für die Errichtung von Erziehungsheimen und spezifischer staatlicher Fürsorgestellen. Wie und weshalb sie dies taten und inwieweit sie damit Erfolg hatten, ist Thema dieses Kapitels.

Kantonsrat, 1927, S. 325). In den folgenden Jahren lag diese Zahl um 500, stieg teilweise auch bis auf knapp 700 Fälle an. 102 Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1928, S. 341. 103 Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1960, S. 38. Zit. nach Rietmann, Einweisung, 2004, S. 32. 104 Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 60 und 87. 105 Galle, Menschen, 2009, S. 66 f. 106 Tanner, Ordnungsstörungen, 2007, S. 284. 107 Dass sich der Zugriff auf sexuell normabweichende Frauen nach der Jahrhundertwende verstärkte, ist auch in Deutschland zu beobachten (vgl. Harris, Sex, 2010, S. 174; Harris, Absence, 2008, S. 287).

Einflussnahme der Sittlichkeitsvereine auf die staatliche Fürsorge

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Abb 37 Anhand einer erfolgreichen Intervention des Zürcher Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit wegen einer nackten Brunnenstatue karikiert die Satirezeitschrift Scheinwerfer im Jahr 1914 den Einfluss des Frauenvereins auf den als unterwürfig dargestellten Zürcher Stadtrat.

Gesetzliche Forderungen Die Sittlichkeitsvereine forderten seit Beginn ihres Bestehens hartnäckig neue Gesetze, um Prostituierte statt der üblichen Bußen oder kurzen Haftstrafen zur Nacherziehung in staatliche wie auch in private Erziehungsheime einweisen zu können. Aber auch die ledigen Mütter und die „sittlich Gefährdeten“ sollten rasch in einem Erziehungsheim versorgt werden können. Die rechtliche Legitimierung der Heimeinweisung war ein zentrales Anliegen der Sittlichkeitsvereine und nahm in ihren Aktivitäten einen wichtigen Platz ein. Sie versuchten, ihre Forderungen mittels politischer Eingaben nicht nur auf kantonaler Ebene durchzusetzen, sondern auch schweizweit gesetzlich zu verankern. In Zürich sah das Strafgesetzbuch bei Prostitution Haftstrafe oder Buße vor, jedoch keine Einweisung in eine „Korrektionsanstalt“. Dagegen wehrten sich die Sittlichkeitsvereine mit zwei Eingaben. 1895 forderte der Zürcher Frauenverein in einer Eingabe an den Kantonsrat betreffend das zürcherische Strafgesetzbuch, dass die „moralisch verkommenen Mädchen“ durch Gerichtsbeschluss in einer „Korrektionsanstalt“ untergebracht werden können.108 Auch der Zürcher Männerverein 108 An den Zürcher Kantonsrat. ZBZ, LK 152.

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

verlangte die Unterbringung von Prostituierten in einer „Korrektionsanstalt“, jedoch im Gegensatz zum Frauenverein erst im Wiederholungsfall.109 Das 1897 in Kraft getretene neue zürcherische Strafgesetzbuch berücksichtigte im Wesentlichen den alternativen Vorschlag des Männervereins, was für die Sittlichkeitsvereine einen durchschlagenden Erfolg bedeutete.110 Auch der Basler Frauenverein engagierte sich politisch für eine erleichterte Heim­ einweisung. Im Gegensatz zu Zürich war die Versorgung einer Prostituierten in einer „Arbeits- oder Besserungsanstalt“ gesetzlich bereits möglich.111 Jedoch wiesen die Gesetze eine Lücke bei den weiblichen Jugendlichen im nachschulpflichtigen Alter auf, die nicht als Prostituierte gearbeitet hatten: Die Versorgung in einem Heim war nur bis zum vollendeten 16. Lebensjahr möglich.112 Versorgte Jugendliche mussten nach Erreichung des 16. Lebensjahres entlassen werden.113 Der Basler Frauenverein forderte in einer Eingabe 1908 deshalb die Versorgung auch über das schulpflichtige Alter hinaus.114 Das Polizeidepartement unterstützte die Ideen des Frauenvereins in seinem Bericht und empfahl deren Umsetzung.115 Das Erziehungsdepartement schloss sich dem Polizeidepartement an und postulierte eine Gesetzesänderung, wonach eine Heimversorgung bis zum 18. Lebensjahr, eventuell gar bis zur Volljährigkeit mit zwanzig Jahren möglich wäre.116 Die Vorschläge des Basler Frauenvereins wurden schließlich auch umgesetzt: Sie flossen ins Einführungsgesetz zum kantonalen Zivilgesetzbuch und ins Gesetz betreffend die kantonalen Versorgungs- und Erziehungsanstalten für

109 Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 91. 110 Einzig die Forderung des Männervereins, dass die Versorgung dieser Frauen in Korrektionsanstalten stets auf Staatskosten erfolgen müsse, wurde im neuen Strafgesetz nicht verankert (Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 91). 111 Das Gesetz über die Versorgung in Arbeits- und Besserungsanstalten vom 7. Februar 1854 ermöglichte die administrative Versorgung von „Dirnen“ in einer „Arbeits- und Besserungsanstalt“. 112 Gemäß dem Gesetz über die Versorgung verwahrloster Kinder und jugendlich Bestrafter Basel von 1893 sowie dem Gesetz über Versorgung in Arbeits- und Besserungsanstalten vom 7. Februar 1954 (Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat! August 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten T 4; Das Justiz-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 27. Juni 1910. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4). 113 Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat! August 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4. 114 An den hohen Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, 28. Januar 1908. III. a. StABS, PA 882, C 3.2. Die Eingabe wurde auch vom Bund abstinenter Frauen, vom Arbeiterinnenverein und vom Stauffacherinnenverein unterschrieben. 115 Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat! August 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4. 116 Das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat! August 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4.

Einflussnahme der Sittlichkeitsvereine auf die staatliche Fürsorge

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Jugendliche vom 27. April 1911 ein.117 Jugendliche konnten nun bis zu einem Alter von 18 in einem Erziehungsheim untergebracht werden. Die Berner Sittlichkeitsvereine engagierten sich in diesem Bereich nur auf eidgenössischer Ebene. Die Heimeinweisung von als sexuell deviant erachteten Mädchen und Frauen war bereits gesetzlich verankert.118 Auf eidgenössischer Ebene gelangte 1893 eine Eingabe des Zürcher Frauenvereins betreffend das eidgenössische Strafgesetzbuch an den Bundesrat, der sich 364 Frauenvereine aus der Deutschschweiz und der französischsprachigen Schweiz anschlossen, so auch der Berner und Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit. Die Frauen­ vereine verlangten unter anderem, dass „Mädchen mit lasterhaften Anlagen und solche Minorenne [Minderjährige], welche (im Einverständnis mit Kupplern) sich gewerbsmässiger Unzucht hingeben, […] einer Erziehungs- oder Korrektionsanstalt übergeben werden dürfen“119 und dass die Einweisung erfolgen könne, „ohne das[s] die Möglichkeit hiezu so sehr erschwert wird“.120 Der Vorentwurf vom April 1908 sah für „besserungsfähige“ Prostituierte eine Fürsorgebehandlung in einem Erziehungsheim oder einer Pflegefamilie vor.121 Ob die Eingabe der Frauenvereine einen Einfluss auf diesen Vorentwurf hatte, ist meines Wissens nicht überliefert. Das eidgenössische Strafgesetzbuch ließ lange auf sich warten und trat schließlich erst 1942 in Kraft. Der § 208 hielt fest, dass unmündige Prostituierte in eine „Arbeitserziehungsanstalt“ eingewiesen, der Vormundschaftsbehörde oder einer „freiwilligen Vereinigung zur Besserung verdorbener Unmündiger“ überantwortet werden konnten.122 Ich habe keine Hinweise gefunden, dass sich die Sittlichkeitsvereine auch für die Verankerung des Vormundschaftsartikels bei „lasterhaftem Lebenswandel“ im eidgenössischen Zivilgesetzbuch einsetzten. Liz Horowitz, die „lasterhaften Lebenswandel“ als Entmündigungsgrund untersucht hat,123 stieß ebenfalls auf keinerlei diesbezügliche Hinweise. Horowitz vermutet trotzdem einen „ursächlichen Zusammenhang“ zwischen der Aufnahme von „lasterhaftem Lebenswandel“ als Entmündigungsgrund und der Wirkung der Sittlichkeitsbewegung.124 In der Diskussion zum Zivilgesetzbuch zog 117 Das Justiz-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 27. Juni 1910 (Notiz am Ende des Berichts vom 11. Januar 1911). StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4; Gesetz betreffend die kantonalen Versorgungs- und Erziehungsanstalten für Jugendliche vom 27. April 1911, in Kraft seit 1. Januar 1912. § 2. 118 Vgl. Strafgesetzbuch vom 30. Januar 1866, Art. 164 und 168; Gesetz betreffend Errichtung kantonaler Arbeitsanstalten, 11. Mai 1884; Weiss, Prostitutionsfrage, 1906, S. 133. 119 An den hohen Bundesrat in Bern. ZBZ, LK 152. 120 Erklärungen und Begründungen zu unseren Wünschen. ZBZ, LK 152. 121 Vgl. Puenzieux, Medizin, 1994, S. 196 f. 122 Germann, Strafgesetzbuch, 1944. 123 Horowitz, Stein, 1992. 124 Horowitz, Stein, 1992, S. 44.

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der „lasterhafte Lebenswandel“ keine größeren Auseinandersetzungen nach sich. Er wurde – so die These von Horowitz – deshalb als Entmündigungsgrund so problemlos ins eidgenössische Zivilgesetzbuch aufgenommen, „weil das Terrain für einen solchen Schritt schon weitgehend geebnet“ gewesen sei.125 Die Vorarbeit habe einerseits die neue politische Rechte, andererseits die Sittlichkeitsbewegung durch ihre breit angelegte Offensive und in die Öffentlichkeit getragene Debatte zur Hebung der Moral geleistet. Es kann – so meine Einschätzung – vermutet werden, dass die Sittlichkeitsvereine über ein informelles Netz auf den Entmündigungsartikel Einfluss nahmen. Klar ist, dass sie regen Austausch mit Eugen Huber hatten, dem Chefredakteur des schon in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Angriff genommenen eidgenössischen Zivilgesetzbuches. So besprachen sie ihre Petition zum Zivilgesetzbuch mehrmals mit Huber.126 In ihrem Gesamtbericht von 1914 äußerten sie ihre Dankbarkeit „für die beratende Mithilfe von Prof. Dr. Eugen Huber“.127

Staatliche Erziehungsheime Bern Die Sittlichkeitsvereine forderten vom Staat mit Nachdruck die Errichtung staatlicher Erziehungsheime für „gefallene Mädchen“. In Bern drängte der Berner Frauenverein, gemeinsam mit anderen Berner Frauenvereinen, wiederholt auf die Gründung eines staatlichen Erziehungsheims für weibliche Jugendliche. An einer Tagung der „Bernerfrauen zu Stadt und Land“ am 20. Februar 1931, an der auch der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit teilnahm, verabschiedeten die Frauen einstimmig eine Resolution betreffend die Errichtung einer „staatlichen Erziehungsanstalt für schulentlassene Mädchen“.128 Die Frauen stießen sich am langsamen Vorgehen der Politiker, wurde doch die Gründung eines staatlichen Heims zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechzehn Jahren in der Kantonsregierung debattiert – eine Debatte, auf die ich noch näher eingehen und dabei die Gründe für das lange Herauszögern einer solchen Heimgründung aufzeigen werde.129 Die zuständigen politischen Organe würden sich – so die Resolution – auf „die sprichwörtliche bernische Langmut verlassen“, sei 125 Horowitz, Stein, 1992, S. 39. 126 Bracher, Geschichte, 1986, S. 46. 127 Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1914, S. 8, Anm. 2. 128 Bei Anlass der Tagung der Bernerfrauen zu Stadt und Land am 20. Februar 1931 einstimmig angenommene Resolution betreffend Errichtung einer staatlichen Erziehungsanstalt für schulentlassene Mädchen. Gosteliarchiv SEF-Sektion Bern, B 26:3. 129 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Der (fast) abwesende Staat in der Heimlandschaft).

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die Gründung eines Heims doch „seit langem“ schon gefordert worden. Die Frauen beließen es nicht bei solchen Aufrufen und Aufforderungen, sie anerboten sich auch wiederholt, bei der Errichtung dieses geplanten staatlichen Heims aktiv mitzuwirken.130 So beteiligten sich die Vereine aktiv an der Suche nach einem geeigneten Haus für das geplante Heim. Im Sommer 1931 machte „une personne qui s’occupe d’œuvres de relèvement pour jeunes filles“131 die Regierung auf die zum Verkauf stehende Lorybesitzung in Münsingen aufmerksam, die schließlich auch vom Staat für diesen Zweck gekauft wurde.132 Die Berner Frauenvereine erklärten sich auch bereit, das Mobiliar für das Heim zu finanzieren, was auch schließlich umgesetzt wurde.133 Im Vorfeld der Eröffnung des kantonalen Mädchenheims Loryheim im Jahr 1935 wurden die Betreiber von Privatheimen als Experten hinzugezogen und die Heime der Sittlichkeitsbewegung galten als eine wichtige Referenzgröße. So plante der Regierungsrat, eine „Konferenz von Vertretern und namentlich Vertreterinnen von Vereinen, welche an dieser Frage ein grosses Interesse haben, einzuberufen und die Angelegenheit dort zu besprechen“.134 Einige Politiker von links und rechts nahmen Kontakt zu Sittlichkeitsvereinen auf, um ihre Erfahrungen in Sachen Heimerziehung einzuholen sowie ihre Meinung zur Problematik des fehlenden Erziehungsheims für weibliche Jugendliche und der Einweisung von jungen Frauen ins Frauengefängnis Hindelbank mangels geeigneter Heimplätze, die von verschiedenen Seiten, so auch von den Sittlichkeitsvereinen und anderen privaten Vereinigungen, kritisiert wurde, zu hören.135 Ihre „langjährige Erfahrung in den privaten Anstalten“ wurde auch hinzugezogen, um die optimale Größe eines Erziehungsheims für junge Frauen zu eruieren.136 Auch der Generalprokurator hatte sich Privatheime „angesehen und mehrfach mit Damen, die ihr Leben diesen Aufgaben widmen, oder wenigstens als Aufsichtsperson einen Einblick in sie haben, diese Frage [der Heimgröße] durchgesprochen“. 137 Er 130 Bei Anlass der Tagung der Bernerfrauen zu Stadt und Land am 20. Februar 1931 einstimmig angenommene Resolution betreffend Errichtung einer staatlichen Erziehungsanstalt für schulentlassene Mädchen. Gosteliarchiv SEF-Sektion Bern, B 26:3. 131 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 9. September 1931, S. 529. 132 Die Besitzung erwies sich als ideal für den geplanten Zweck (vgl. Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1931, S. 529). 133 Vgl. Brief des Bernischen Frauenvereines an die Frauenvereine des Kantons Bern, April 1934. Gosteliarchiv SEF-Sektion Bern, B 13:1; Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1935, S. 21. 134 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1917, S. 318. 135 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1921, S. 423; Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1930, S. 67. 136 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 392. 137 Bericht des Generalprokurators des Kantons Bern an die Polizeidirektion des Kantons Bern, betreffend Motion Bühler und Errichtung einer Mädchenerziehungsanstalt. Ohne Jahr. S. 3.

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zog als Vorbilder für sein Konzept für das zu errichtende Erziehungsheim Anstalten der Sittlichkeitsbewegung und der Heilsarmee sowie das städtische Mädchenheim Heimgarten bei Bülach hinzu.138 Der Regierungsrat plädierte schließlich 1930 dafür, das zu gründende Heim im Stil der zwei St. Galler Erziehungsheime der Freundinnen junger Mädchen zu errichten, nachdem er diese Heime besucht hatte.139 Basel-Stadt

Auch der Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit engagierte sich für die Errichtung eines staatlichen Heims auf dem Kantonsgebiet. Er reichte 1905 eine Eingabe an den Regierungsrat ein,140 worin er die Gründung eines staatlichen Erziehungsheims für weibliche Jugendliche forderte. Es sollte als Ersatz für die industrielle Richter-Linder’sche Anstalt, auch Schorenanstalt genannt, dienen, deren kürzliche Schließung einen spürbaren Mangel an Heimplätzen für nicht mehr schulpflichtige junge Frauen im Kanton Basel-Stadt entstehen ließ. Das kantonale Polizeidepartement prüfte daraufhin die Errichtung eines solchen Heims und berief 1908 eine „Sachverständigenkommission“ ein. Die Präsidentin des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, Lily Zellweger, wurde in diese Sachverständigenkommission als Mitglied aufgenommen.141 In der Kommission saßen Politiker sowie Behördenvertreter und Personen der privaten Wohltätigkeit, die in der Versorgung und Erziehung weiblicher Jugendlicher tätig waren. Neben Zellweger nahmen zwei Kantonspolitiker (davon einer ein Jurist) und drei Mitglieder der staatlichen Versorgungskommission des Kantons Basel-Stadt (ein Pfarrer und Vorsteher der privaten Kommission zur Versorgung verwahrloster Kinder Basel, ein Schulinspektor und ehemaliger Lehrer einer Mädchenschule sowie der ehemalige Direktor und Leiter der privaten Schorenanstalt) teil.142 In einem Brief an Lily Zellweger vermerkte das Polizeidepartement des Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 13:1. 138 Bericht des Generalprokurators des Kantons Bern an die Polizeidirektion des Kantons Bern, betreffend Motion Bühler und Errichtung einer Mädchenerziehungsanstalt. Ohne Jahr. S. 3 f. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 13:1. Es handelte sich bei den Heimen neben dem Heimgarten um das Asyl der Heilsarmee „Le Phare“ in Vevey und das Asyl für schutzbedürftige Mädchen auf dem Wienerberg in St. Gallen des Vereins Freundinnen junger Mädchen. 139 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1930, S. 354. 140 Eingabe des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 17. November 1905. St ABS, Straf- und Polizeiakten, T 4. 141 Vgl. Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 14. März 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4; Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an Frau Pfarrer Zellweger, 21. Juni 1906. StABS, PA 882, C 3.1. 142 Neben Lily Zellweger saßen in der Kommission der freisinnige Regierungsrat und Jurist ­Heinrich David, dem der Vorsitz zukam, der Grossrat (1900 – 1906) und Bandfabrikant Hans Linder-Preiswerk, der nach einer dreijährigen Banklehre, einer technischen Ausbildung in einer

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Kantons Basel-Stadt, dass die Errichtung des geplanten staatlichen Erziehungsheims einige Probleme bereite. Deshalb sei es auf „sachverständigen Rat[…]“ angewiesen und es bitte deshalb die Präsidentin des Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, Mitglied einer zur Erörterung dieser Frage gegründeten „Sachverständigenkommission“ zu werden.143 Die einberufene Kommission stellte schließlich Vorschläge zusammen bezüglich Größe des Heims, Gestaltung der Räume, Überwachung der „Zöglinge“, Art der Arbeitserziehung usw. Sie machte ebenso konkrete Vorschläge, welche Gebäude für die Gründung eines solchen Heims infrage kämen.144 Ihre Vorschläge wurden aber aus finanziellen Gründen schließlich doch nicht umgesetzt. 1911 erhielt der Basler Frauenverein eine offizielle Antwort auf seine Eingabe von 1905.145 Die Errichtung eines Heims sei zurzeit nicht möglich. Das neue Webschule und mehreren Auslandaufenthalten die Fabrik seines Vaters übernommen hatte, sowie drei Mitglieder der staatlichen Versorgungskommission des Kantons Basel-Stadt, die im Auftrag des Regierungsrates Zwangsversorgungen und Schulausweisungen vornahm und der die Ausführung und Überwachung des Versorgungswesens sowie die Aufsicht und Oberleitung der Anstalten Klosterfichten und zur guten Herberge in Riehen oblagen (Pfarrer Hans Fichter, der auch Vorsteher der privaten Kommission zur Versorgung verwahrloster Kinder Basel war, die eine Kommission der Gemeinnützigen Gesellschaft war; Albert Tuchschmid-Warth, der Schulinspektor der Mädchenprimarschule, ehemalige Lehrer der Mädchensekundarschule und langjährige Präsident der Pestalozzi-Gesellschaft, sowie Friedrich Ruoff-Krimmel (1851 – 1932), Fabrikdirektor, langjähriger Direktor und Leiter der zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossenen Schorenanstalt und amtierender Präsident der staatlichen Versorgungskommission sowie Direktor der Industrie-Gesellschaft für Schappe. Den Kommissionssitzungen wohnte zudem der sozialdemokratische Regierungsrat Eugen Wullschleger als Vertreter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft bei, er gehörte aber nicht zur Kommission dazu. Der Hauspfarrer der Schorenanstalt, Herr Pettermand, hatte sich 1905 an die Gemeinnützige Gesellschaft gewandt und diese um Hilfe gebeten, als die Schließung der Schorenanstalt beschlossene Sache war. Deshalb ließ sich die Zentralkommission der Gemeinnützigen Gesellschaft durch ihr Mitglied Regierungsrat Wullschleger über die Vorarbeiten zum geplanten Heim auf dem Laufenden halten (zur Versorgungskommission vgl. Fäh, Franz. Das Versorgungswesen im Kanton Basel-Stadt. Eine Übersicht. In: Bericht und Rechnung der Versorgungs-Kommission Basel-Stadt, 1902. S. 17 – 29. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 12,1. Zu den Mitgliedern der Kommission vgl. das Basler Stadtbuch, Onlineausgabe, www.basler-stadtbuch.ch/stadtbuch/ chronik; Biogr. Ruoff, Friedrich. Basel WWZ/SWA Magazin SWA; Zur Erinnerung an Hans Linder-Preiswerk, geboren 20. Juni 1862, gestorben 9. August 1945. O. O. 1945. Jahresbericht der Versorgungs-Kommission Basel-Stadt. StABS, Straf- und Polizeiakten T 12,2). 143 Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an Frau Pfarrer Zellweger, 21. Juni 1906. StABS, PA 882, C 3.1. 144 Vgl. Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 14. März 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4. 145 An den Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, 11. Januar 1911. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4.

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eidgenössische Zivilgesetzbuch erweitere die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung durch die Vorschriften zur Jugendfürsorge in einem solchen Ausmaß, dass zunächst abgewartet werden müsse, wie diese neuen Aufgaben bewältigt werden können. Zürich Im Kanton Zürich führte die Direktion des Innern 1906 eine Erhebung unter den Armenpflegen des Kantons durch, um herauszufinden, ob eine „Besserungsanstalt für verwahrloste Mädchen“ von 14 bis 18 Jahren ein Bedürfnis sei.146 Die Enquete ergab, dass die meisten Armenpflegen keinen Bedarf für eine solche Anstalt sahen. Deshalb war die Mithilfe des Kantons Zürich nicht mehr zu erwarten. Die Stadt Zürich hingegen stellte eine Nachfrage nach einem solchen Heim fest.147 Zu diesem Zeitpunkt schaltete sich der Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit ein. Er war vom kantonsweiten Bedarf nach einem zusätzlichen Heim überzeugt und startete eine eigene Umfrage, die er über die Armenpflegen hinaus bei verschiedenen anderen Behörden des Kantons durchführte. Der Männerverein plante daraufhin aufgrund der positiven Rückmeldungen die Errichtung eines Heims unter Beteiligung von Stadt und Kanton Zürich sowie anderer Vereine, 148 was bei Vertretern von kantonalen und städtischen Behörden auf großen Anklang stieß.149 Aus den Bestrebungen zur Gründung eines Privatheims wurde aber vorläufig nichts, weil die Privaten schließlich doch keine Hilfe boten.150 Die Stadt Zürich musste deshalb selbst Abhilfe schaffen und eröffnete 1912 das städtische Mädchenheim Heimgarten bei Bülach.151 146 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1907, S. 135. 147 Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich. Sitzung vom 22./30. November 1911. S. 135. 148 Zu den Teilnehmern vgl. Aus dem Protokoll Konferenz vom 27. November 1908 (über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für Prostituierte). Sozarch, 176/3: V2. Zu den Konferenzen vgl. auch Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1908, S. 294; Geschäftsbericht des Stadt­ rates der Stadt Zürich, 1909, S. 307 f. An die Vorstandsmitglieder des Kant. Männervereins zur Hebung der öffentl. Sittlichkeit. Sozarch, 176/3: V2). 149 Vgl. Aus dem Protokoll Konferenz vom 27. November 1908 (über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für Prostituierte). Sozarch, 176/3: V2. Zu den Konferenzen vgl. auch Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1908, S. 294; Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 307 f. An die Vorstandsmitglieder des Kant. Männervereins zur Hebung der öffentl. Sittlichkeit. Sozarch, 176/3: V2. An den Konferenzen nahmen die Stadträte Nägeli, Vogelsanger und Welti, der Armeninspektor Hinder sowie die Regierungsräte Nägeli und Lutz teil. 150 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 307 f. Vgl. Näheres Kap. 5.4 (Unterkapitel Staatliche Lückenfüller). 151 Vgl. Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 309; Weisung des Vorstandes des Vormundschafts- und Armenwesens betreffend Errichtung eines Mädchenasyles im „Heimgarten“, Bülach. 13. November 1911. S. 1. StABE, BB XII C 117. Dossier „Ausserkantonales, Kanton Zürich, Mädchenasyl Bülach, 1911 – 1913“.

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Auch für das städtische Mädchenheim Heimgarten bei Bülach hatten, wie beim Berner Loryheim, Heime der Sittlichkeitsbewegung als Vorbild gedient und die Sittlichkeitsvereine waren maßgeblich an der Konzeption der Anstalt beteiligt. Der Heimgarten baute auf einem Konzept auf, das für die Errichtung des ursprünglich geplanten Privatheims verfasst worden war. Es enthielt Vorschläge für die Art der Arbeitserziehung, die aus „nutzbringenden“ Tätigkeiten bestehen sollte, über die Religion, die trotz geplanter Konfessionslosigkeit des Heims als Erziehungsmittel Bestand haben sollte, über das Personal, die Aufenthaltsdauer sowie die Zielgruppe. Das Konzept war vom Zürcher Frauen- und Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit ausgearbeitet worden und wurde in gemeinsamen Sitzungen mit Behörden, Politikern sowie anderen Vereinen besprochen und ergänzt.152 Als Vorbilder für das geplante Privatheim und entsprechend als Grundlage für das Konzept dienten der Wienerberg in St. Gallen der Freundinnen junger Mädchen, der Pilgerbrunnen in Zürich des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit sowie das „Refuge“ an der Eidmattstraße in Zürich, das von der großbürgerlichen Mathilde Escher nach dem Gedankengut der englischen Abolitionistin Josephine Butler gegründet worden war.153 Das Konzept wurde von den Behörden übernommen und im Heimgarten in weiten Teilen umgesetzt.154 Einzig bei der Zielgruppe wurde eine Einschränkung vorgenommen, indem – vermutlich bedarfsabhängig, aus finanziellen Gründen und zur Vermeidung eines Zusammentreffens der „sittlich gefährdeten“ Insassinnen mit Prostituierten – keine Prostituierten aufgenommen wurden und die Altersgrenze auf unter 22-Jährige eingeschränkt wurde. 152 Die Stadt habe „nunmehr in Folge von gemeinsamen Vorbesprechungen, die zwischen Behörden und Vereinen stattfanden, bei Bülach ein Heim angekauft, das für jugendliche weib­liche Personen dienen soll“ (Zur Prostitutionsfrage in Zürich, 1912; Verhandlungs-Protokoll, dritte Sitzung. Besprechung zur Prostitutionslage in Zürich 1912. Montag, den 1. April 1912. S. 2. Sozarch, 176/11: Z2). Zur Ausarbeitung des Konzepts durch die Sittlichkeitsvereine vgl. An die Vorstandsmitglieder des Kant. Männervereins zur Hebung der öffentl. Sittlichkeit. Sozarch, 176/3: V2; Diskussionsprogramm über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für gefallene Mädchen. Sozarch, 176/3: V2; Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1907, S. 212; Fünfter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. September 1904 bis 30. September 1907. Zürich 1907. S. 6. Sozarch, 176/3: V1. 153 Aus dem Protokoll Konferenz vom 27. November 1908 (über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für Prostituierte). Sozarch, 176/3: V2. 154 Vgl. zum Konzept und zur schließlichen Umsetzung: Aus dem Protokoll Konferenz vom 27. November 1908 (über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für Prostituierte). Sozarch, 176/3 V2; An die Vorstandsmitglieder des Kant. Männervereins zur Hebung der öffentl. Sittlichkeit. Sozarch, 176/3 V2; Diskussionsprogramm über eine zu schaffende Arbeitsanstalt für gefallene Mädchen. Sozarch, 176/3 V2; „Arbeitsordnung“ des Mädchenheims Heimgarten bei Bülach, undatiert. StABE. BB XII C 117; Reglement für das stadtzürcherische Mädchenasyl Heimgarten/Bülach. Ohne Jahr. StABE. BB XII C 117.

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Polizeiassistentinnen und Fürsorgerinnen Die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit – die Männervereine betätigten sich nicht in diesem Bereich – forderten vom Staat auch die Einstellung von Polizei­ assistentinnen, die sich um von der Polizei aufgegriffene Prostituierte kümmern, und von Fürsorgerinnen, die sich geschlechtskranker Frauen annehmen sollten. Dass sich nur die Frauenvereine in diesem Bereich engagierten, die Männervereine jedoch nicht, deutet auf den Wunsch der Frauen hin, neue, bezahlte Arbeitsgebiete für bürgerliche Frauen zu eröffnen. Die Einstellung von Polizeiassistentinnen war denn auch ein Anliegen breiter Kreise der Frauenbewegung. Polizeiassistentinnen wurden auch in anderen Ländern engagiert, so in Deutschland, Großbritannien, Finnland, Polen und Australien.155 Als Vorbild für die geschaffenen Posten in der Schweiz diente Deutschland, wo bereits 1903 in Stuttgart die erste Polizeiassistentin eingestellt worden war.156 In der Schweiz wurden in allen großen Städten Posten für Polizeiassistentinnen eingerichtet, wobei die Aufgaben der Polizeiassistentinnen zum Teil zwischen den verschiedenen Kantonen variierten: In Genf entstanden zwei, in Lausanne, Bern, Zürich und Basel je eine solche Stelle. Zürich schuf 1909 die erste solche Stelle der Schweiz. Basel folgte als Schlusslicht der großen Schweizer Städte erst 1931. Zürich In Zürich initiierte der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit zwei neue staatliche Amtsstellen, die sich spezifisch um Prostituierte kümmerten. 1907 stellte der Verein ein Gesuch an das Justizdepartement des Kantons Zürich und an den städtischen Polizeivorstand für die Schaffung der Amtsstelle einer Polizeiassistentin.157 Der Stadtrat, der nach Angaben des Frauenvereins von der Notwendigkeit einer solchen Stelle überzeugt war,158 stimmte 1909 dem Begehren versuchsweise zu.159 Die Aufgabe der daraufhin eingestellten Polizeiassistentin war es, sich um die von der Polizei aufgegriffenen Prostituierten zu kümmern und einen bleibenden Gesinnungswandel der Frauen anzustreben. Die Polizeiassistentin half unter anderem bei der Suche nach einer Unterkunft und einer Stelle oder vermittelte Heimplätze. 155 Schweizerische Bundesanwaltschaft an die obersten Polizeibehörden der Kantone, 21. Juni 1929. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 156 Zur Stelle der Polizeiassistentin in England vgl. etwa Jackson, Care, 2003. Für Deutschland vgl. Götting, Kritik, 2009; Harris, Sex, 2010, S. 155 – 167; Harris, Absence, 2008. 157 20. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1907, S. 4. 158 21. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1908, S. 5. 159 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 20; Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1928, S. 353.

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Die Kosten für die Stelle hatte zu Beginn der Frauenverein zu begleichen. Seit 1913 wurde sie von der Stadt bezahlt,160 1918 definitiv in das Polizeiwesen integriert und aus dem Provisorium die „Fürsorgestelle für sittlich gefährdete Frauen und Mädchen“ geschaffen.161 Neben der Stelle einer Polizeiassistentin entstand 1905 ein freiwilliges Hilfskomitee aus Mitgliedern des Zürcher Frauenvereins, das sich geschlechtskranker Frauen im Krankenhaus annahm.162 1914 forderte ein aus Mitgliedern des Zürcher Frauenvereins und „gleichgesinnten Männern und Frauen“ zusammengesetztes „Kampfkomitee gegen die Unsittlichkeit“ die Schaffung einer „Fürsorgestelle für schutzbedürftige Frauen“ mithilfe der Stadt, jedoch erfolglos.163 Die freiwillige und unentgeltliche Arbeit des Hilfskomitees übernahm im Februar 1917 eine vom Zürcher Frauenverein eingestellte Fürsorgerin.164 In ihrer Position besuchte die Fürsorgerin regelmäßig die geschlechtskranken Frauen in der Dermatologischen Klinik und sorgte nach deren Entlassung für Arbeit oder Versorgung in einem Erziehungsheim, leitete eine Bevormundung ein oder suchte nach einem Kostort oder nach Adop­ tionseltern für die ausserehelichen Kinder.165 Erst im Jahr 1928 stellte das kantonale Gesundheitsamt des Kantons Zürich die erste Fürsorgerin für geschlechtskranke Frauen ein, welche die Fürsorgerin des Frauenvereins ersetzte. Im Jahr 1930 schrieb das Gesundheitsamt eine zweite Stelle für die allgemeine medizinische Abteilung aus, deren Aufgabe es war, die unbemittelten Kranken und deren Angehörigen zu besuchen.166 Damit dehnte sich der Aufgabenbereich der Fürsorgerinnen von den „sittlich gefallenen“ Geschlechtskranken auf Frauen aus der Unterschicht generell aus, die als besonders gefährdet galten, in die Prostitution abzugleiten. Die Haupttätigkeit der neu geschaffenen offiziellen „Fürsorgestelle“ blieb die Fürsorge für Geschlechtskranke im Krankenhaus.

160 25. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 11. 161 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1928, S. 356. Im Jahr 1925 wurde das Amt ins Vormundschaftsamt eingegliedert und erhielt den Namen „Fürsorgestelle für schutzbedürftige Mädchen“ (Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1928, S. 356; Müller, Geschichte, 1996, S. 7). 1925 wurde der Fürsorgestelle der „vorbeugende Kinderschutz für die schwererziehbare oder sittlich gefährdete Jugend“, die zuvor dem Kinderfürsorgeamt angegliedert war, zugeteilt (Ramsauer, „Verwahrlost“, 2000, S. 59). 162 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 17. 163 Vorschläge zur Fürsorge für schutzbedürftige Frauen. ZBZ, LK 653. 164 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 17; 32. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 2. 165 Wie wird in ihrem Kanton die Heimschaffung der Dirnen gehandhabt? Interview. EFZ Hist. Dok. Mappe 10. 166 Turrian, Prostituierte, 2005, S. 48 f.

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Bern Auch in Bern war der dortige Frauenverein aktiv an der Einführung von Stellen für Polizeiassistentinnen und Fürsorgerinnen beteiligt. In Bern dauerte es jedoch noch Jahre, bis der Staat diese Fürsorgestellen schuf. Bevor im Jahr 1928 in Bern durch die Polizeidirektion eine Polizeiassistentin eingestellt wurde, setzten sich seit 1912 verschiedene Frauenvereine mit mehreren Eingaben für die Schaffung eines entsprechenden Postens ein, darunter auch der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, der gemeinsam mit dem Stimmrechtsverein und den Freundinnen junger Mädchen eine Eingabe verfasste.167 1928 entschloss sich der damalige Polizeidirektor, der freisinnige Regierungsrat Alfred Stauffer, die Stelle einer Polizeiassistentin zu schaffen. Stauffer besetzte diese neue Stelle jedoch ohne offiziellen Anstoß von außen, auch nicht durch eine erneute Eingabe von Frauenvereinen.168 Inwiefern die Eingaben der verschiedenen Frauenvereine Stauffer beeinflusst haben, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob er informell von außen zu diesem Schritt bewegt wurde. Der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit war dann bei der Anstellung der zukünftigen Polizeiassistentin jedoch aktiv beteiligt. Marie Schlachter-Jakob, die damalige Präsidentin des Berner Frauenvereins, nahm an einer „vorberatende[n] Zusammenkunft“ mit dem Polizeidepartement teil, an der die Wahl der zukünftigen Polizeiassistentin besprochen wurde und an der Frau Schlachter-Jakob eine Kandidatin für die Stelle vorschlug.169 Der Frauenverein hatte sich ein Mitspracherecht bei der Wahl der Kandidatinnen ausgehandelt.170 Das letzte Wort hatte aber der Polizeihauptmann Stucki.171 Der Berner Frauenverein erklärte sich ferner bereits vor der definitiven Wahl der Polizeiassistentin bereit, zusammen mit den Freundinnen junger Mädchen der neu eingestellten Polizeiassistentin einen Kurs an der Berliner Polizeiassistentinnen-Schule zu finanzieren.172 167 Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher. 18. Januar 1931. S. 3. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902; An den Herr Polizeidirektor Schneeberger zu Handen des Gemeinderates der Stadt Bern. Undatiert. Gosteliarchiv B 26:6, Dossier „Frauen­ stimmrechtsverein Bern, 1924 – 1928“. 168 Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher. 18. Januar 1931. S. 3. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 169 Protokoll des Vorstandes des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 7. März 1927. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 5:7. 170 Protokoll des Vorstandes des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 7. März 1927. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 5:7, sowie Protokoll des Vorstandes des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 27. Oktober 1927. Gosteliarchiv, SEF- Sektion Bern, B 5:7. 171 Protokoll des Vorstandes des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 27. Oktober 1927. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 5:7. 172 Protokoll des Vorstandes des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 27. Oktober 1927. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 5:7.

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Für die Fürsorge von geschlechtskranken Frauen engagierte sich der Berner Frauen­ verein bereits früh. Seit 1892 suchten Mitglieder des Vereins die Syphiliskranken im Inselspital auf.173 Ab Juli 1935 stellte der Berner Frauenverein schließlich eine bezahlte Fürsorgerin für geschlechtskranke Frauen ein.174 Der akute Platzmangel in den dermatologischen Kliniken der Berner Krankenhäuser hatte den Ausschlag für das Handeln des Sittlichkeitsvereins gegeben. Er hatte bereits 1930 eine Konferenz mit Behördenvertretern, Politikern und Exponenten der dermatologischen Kliniken einberufen, um über die Platzprobleme zu diskutieren und Lösungen zu suchen.175 Weil in der Folge nichts geschah, entschied sich der Verein, eigenhändig etwas gegen die missliche Lage in den Krankenhäusern zu unternehmen, und stellte auf eigene Faust eine Fürsorgerin ein.176 Der Frauenverein bat 1935 (unterstützt durch die derma­ tologischen Kliniken) die Sanitätsdirektion um einen finanziellen Beitrag zur Subventionierung des Projektes.177 Die Erfahrungen der ersten Monate hätten gezeigt, dass die Aufgabe übergroß sei für die angestellte Fürsorgerin und finanziell für den Frauenverein alleine nicht tragbar. Ab 1940 wurde die Fürsorgerin des Berner Frauen­ vereins ganz von Kanton und Gemeinde Bern entlohnt.178 Basel-Stadt In Basel engagierte sich der dortige Frauenverein meines Wissens nicht für die Anstellung einer Fürsorgerin durch die Stadt oder den Kanton. Er beschäftigte jedoch ehrenamtlich eine Fürsorgerin, welche die geschlechtskranken Frauen im Krankenhaus aufsuchte.179 Der Frauenverein hatte vorgängig den Kontakt mit den 173 Bracher, Geschichte, 1986, S. 85; Daten und Inhaltsangaben für Produktion DV. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 4:2. Dossier „Medienarbeit 1985 – 1986“, Unterdossier „Daten und Texte zur Vereinsgeschichte“. 174 Bracher, Geschichte, 1986, S. 85. 175 Brief der Sektion Bern des Schweiz. Verbandes Frauenhilfe an Herrn Reg. Rat. Dr. Mouttet, Direktor des Sanitätswesens des Kantons Bern vom 30. Oktober 1930. Gosteliarchiv, SEFSektion Bern, B 23:14. Dort sind auch die Teilnehmer vermerkt. 176 Brief des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit an Herrn Regierungsrat Dr. Mouttet, Direktor der kantonalen Sanitätsdirektion, Bern vom 20. August 1935. Gosteliarchiv, SEFSektion Bern, B 23:16. 177 Brief des Berner Frauenvereins z. H. d. S. an Herrn Regierungsrat Dr. Mouttet, Direktor der kantonalen Sanitätsdirektion Bern vom 20. August 1935. Gosteliarchiv SEF-Sektion Bern, B 23:16. 178 Bracher, Geschichte, 1986, S. 85. 179 Vgl. Protokoll des Vorstandes des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit vom 28. Juni 1900. StABS, PA 882, E 1.1.; 30. Jahresbericht des Basler Frauenvereins, 1930, S. 2; Handzettel „Sehr geehrter Herr“. StABS, PA 882 C 5.6., Dossier „Bürgerspital 1905 – 1910“; Brief des Bürgerspitals Basel an Frau Lüscher-Streckeisen, Secretärin des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit, 20. Februar 1905. StABS, PA 882 C 5.6., Dossier „Bürgerspital 1905 – 1910“; Janner, Frauen, 1992, S. 126.

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Krankenhäusern gesucht und um Erlaubnis gebeten, die Frauen besuchen zu dürfen, was ihm auch zugestanden wurde.180 Umso mehr engagierte sich der Basler Frauenverein für die Schaffung einer staatlichen Polizeiassistentinnenstelle. Er machte zwischen 1906 und 1918 drei diesbezügliche politische Eingaben, zwei davon gemeinsam mit anderen Frauenvereinen.181 Auch der Bund Schweizerischer Frauenvereine, die Schweizerische Bundesanwaltschaft, Pro Juventute und verschiedene Frauenvereine wurden in gemeinsamen oder eigenen Eingaben politisch aktiv.182 Am 8. Januar 1920 wurde im Polizeidepartement die Schaffung einer Stelle der Polizeiassistentin beschlossen – und zwar, wie der Vorsteher des Polizeidepartements schrieb, durch den Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit initiiert.183 Offenbar hatten die Eingaben des Basler Frauenvereins gefruchtet. Jedoch war von Beginn weg klar, dass die Stelle nicht unmittelbar besetzt werden sollte.184 Erst im März 1931, mehr als zehn Jahre später, wurde eine Polizeiassistentin befristet eingestellt.185 Als wichtigster Grund für das lange Ausbleiben einer Anstellung wurde genannt, dass viele Aufgaben der Polizeiassistentin bereits von weiblichen Angestellten der Vormundschaftsbehörde ausgeübt würden und deshalb die Einstellung einer zusätzlichen Mitarbeiterin nicht nötig sei.186 Der befristeten Anstellung einer Polizeiassistentin voran ging ein kurz nach der Jahrhundertwende einsetzender zäher Kampf zwischen den engagierten Kreisen und den politischen Verantwortlichen. Die zuständigen Behörden reagierten lange Zeit abwehrend gegenüber den Forderungen nach der Schaffung einer solchen Stelle. Auf die Eingabe des Bundes Schweizerischer Frauenvereine beispielsweise folgte eine 180 Brief des Bürgerspitals Basel an Frau Lüscher-Streckeisen, Präsidentin des Vereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1. Februar 1905. StABS, PA 882 C 5.6., Dossier „Bürgerspital 1905 – 1910“. Noch 1931 besuchte eine Pfarrersfrau im Auftrag des Frauenvereins ehrenamtlich „die Mädchen in der Hautabteilung des Spitals“ (Vgl. 31. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1931, S. 2). 181 Janner, Frauen, 1992, S. 101; An den Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt, 22. Januar 1918. StABS, PA 882, C 3.3. 182 Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher, 18. Januar 1931. S. 1. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 183 Der Vorsteher des Polizeidepartements des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat, 13. Februar 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 184 Der Vorsteher des Polizeidepartements des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat, 13. Februar 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 185 Beschluss des Regierungsrates des Kantons Basel-Stadt vom 10. März 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 186 Der Vorsteher des Polizeidepartements des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat, 13. Februar 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902.

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deutliche Abfuhr: In Basel sei es noch nicht so weit, „dass wir stillschweigend irgend eine Modetorheit oder sonst ein unbrauchbares Steckenpferd hoffähig erklären, nur um aufdringliche Wichtigtuer zu beschwichtigen“.187 Der Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit wurde gar wegen Rufmordes gerichtlich verurteilt und angeschwärzt, mit unlauteren Methoden die Einstellung einer Polizeiassistentin erzwingen zu wollen. Die Ursache für diese gerichtliche Verurteilung bildete der Jahresbericht des Basler Frauenvereins von 1927, worin er den Umgang der Polizeidetektive mit Opfern von sexuellen Übergriffen beanstandete, die „oft über sehr wenig Takt verfügen“ würden.188 Stattdessen forderte er die Einstellung von Polizeiassistentinnen oder Polizeiärztinnen, die sich dieser Opfer annehmen sollten. Ihre verbale Attacke gegen die Detektive hatte unangenehme Folgen: Der Verein wurde von Detektiven des Basler Polizeidepartements wegen Amtsehrbeleidigung angeklagt. Das Straf­gericht verurteilte den Frauenverein wegen übler Nachrede zu 100 Franken Buße. Das Appellationsgericht bestätigte dieses Urteil. Als Reaktion auf das Urteil schrieb der Verein: „Es liegt uns daran, festzustellen, dass es uns natürlich ferne gelegen hatte, Männer beleidigen zu wollen, die nur ihre Pflicht zu tun glaubten. Wir wollten mit unseren Bemerkungen nur auf gewisse Missstände aufmerksam machen, und scheinen uns dabei in weiblicher Unerfahrenheit im Ausdruck vergriffen zu haben. Die Verurteilung zeigte wohl, dass wir juristisch anfechtbar gehandelt und Einzelne angegriffen hatten, wo das System anfechtbar ist; sie konnte uns aber nicht überzeugen, dass wir sachlich im Unrecht waren. Auch hatten wir stark das Gefühl, es sollte durch die Klage dem Frauenverein klar gemacht werden, dass er nicht das Recht habe, die Amtsführung von Beamten zu kritisieren; das ging auch aus den Ausführungen des Staatsanwaltes hervor. […] Wir werden uns natürlich in Zukunft hüten, Ausdrücke zu gebrauchen, die als Beleidigung aufgefasst werden können; aber wir werden es uns nicht nehmen lassen, eine Kontrolle auszuüben, wo wir es für notwendig ansehen, und wir werden weiter auf Missstände aufmerksam machen. Der Prozess hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass wir eintreten müssen für Frauenrechte […].“189 Die Frauen schrieben weiter, sie hätten eigentlich vor allem darauf aufmerksam machen wollen, dass die Anstellung von Frauen bei der Polizei eine Notwendigkeit sei. Dass sich die Detektive ob einer Bemerkung eines Frauenvereins in dessen Jahresbericht angegriffen fühlten und erfolgreich den Gang vor das Gericht antraten, macht deutlich, wie sehr sich die Frauen vor einer öffentlichen Kritik der Männer und deren Arbeit hüten mussten und welcher Maulkorb ihnen auferlegt war. Indem sie ö­ ffentlich männliche Detektive 187 Brief des Polizeiinspektorats Basel-Stadt an das Polizeidepartement, 3. Mai 1929. StABS, PDREG 1a 1950 – 1902. 188 27. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1927, S. 5. 189 28. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1928, S. 1 f. Hervorhebung im Original.

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diskreditierten, deren Fachkompetenz anzweifelten und wiederholt die Einstellung von Polizeiassistentinnen, aber auch von Richterinnen, Gerichts- und Polizeiärztinnen sowie weiblichen Detektiven forderten, überstiegen sie offenbar das Maß an Kritik, das Frauen gegenüber Männern und deren Berufskompetenzen ­äußern durften. Ferner bedeutete die Einstellung von Frauen in solch typischen Männer­bereichen direkte Konkurrenz für die Männer. Auf die Verurteilung des Basler Frauenvereins hin gab es eine Welle an Solidarität und Sympathiebekundungen. Der Frauenverein erhielt von vielen Seiten Gaben, speziell zur Deckung der Gerichtskosten und der Buße. Sie berichteten, sie hätten sogar noch „viel mehr“ Geld bekommen, als der Prozess verschlungen habe.190 Die unschöne Episode habe sie keinen Rappen gekostet. Das Ganze hatte dennoch Auswirkungen. Dem Frauenverein haftete offenbar fortan der Verdacht an, mit teils unlauteren Mitteln alles zu tun, um ihr Ziel zu erreichen. Als im Dezember 1928 Pro Juventute eine Eingabe an den Regierungsrat einreichte und darin die Anstellung einer Polizeiassistentin forderte,191 schrieb der Vorsteher der Abteilung Strafsachen mit einem deutlichen Seitenhieb gegen den Basler Frauenverein: „Nachdem also der Frauenverein bis jetzt mit derselben Forderung nicht hat durchdringen können und die schliesslich zu ihrer Unterstützung angewandten nicht einwandfreien ­Mittel versagten, glaubt nun die Basler Bezirkskommission ‚Pro Juventute‘ unter dem Deckmantel des Fortschrittes das alte Postulat wieder in Fluss zu bringen.“192 Die Verurteilung des Frauenvereins in erster und zweiter Instanz habe eindeutig erwiesen, so der Vorsteher der Abteilung Strafsachen, dass die Anschuldigungen gegenstandslos gewesen seien. Seiner Meinung nach war die Kritik des Frauenvereins darauf ausgerichtet, die Detektive in der Öffentlichkeit schlecht zu machen und so die Anstellung einer Frau zu erzwingen. Hilfe kam schließlich von anderer Seite. Der freisinnige Nationalrat V. E. Scherer hatte in der Sitzung des Großen Rates vom 24. Januar 1929 den Antrag gestellt, es möge eine Polizeiassistentin eingestellt werden.193 Der Antrag von Scherer wurde mit großer Mehrheit angenommen und eine befristete Einstellung für ein Jahr beschlossen.194 190 28. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1928, S. 2. 191 An den Hohen Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt in Basel, 6. Dezember 1928. StABS, PA 882, C 3.3. 192 Polizei-Departement Basel, Abteilung für Strafsachen, an den Herrn Departementsvorsteher, 12. Dezember 1928. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 193 Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher, 18. Januar 1931. S. 1. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 194 Beschluss des Regierungsrates des Kantons Basel-Stadt vom 25. Januar 1930. StABS, PA 882, C 4.1; Vorsteher des Polizeidepartements des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat, 13.

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Zu diesem Zeitpunkt schaltete sich der Basler Frauenverein erneut ein und versuchte, Einfluss auf die Wahl der zukünftigen Polizeiassistentin zu nehmen und eine Frau aus ihrem Umfeld in diese Position zu hieven. Dieser Umstand kam über Umwege ans Licht. Der Direktor der Strafanstalt Basel-Stadt gelangte in einem Brief an den konservativen Regierungsrat und damaligen Vorsteher des Polizeidepartements Karl Ludwig. Er erkundigte sich darin, ob für den Posten der Polizeiassistentin schon jemand vorgesehen sei, oder ob seine Tochter sich melden dürfe. Wie die Vize-Präsidentin des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit seiner Tochter gesagt habe, habe „der hiesige Frauenverein schon seit langem 2 Kandidatinnen im Salz für diesen Posten“, und entsprechend sei eine Bewerbung aussichtslos.195 Die Antwort des Regierungsrates Karl Ludwig fiel harsch aus. Er teilte mit, dass seine Tochter sich „selbstverständlich um den Posten der Polizeiassistentin bewerben“ könne. Von der Vize-Präsidentin des Frauenvereins sei „es eine Anmassung sondergleichen, wenn sie Interessentinnen von der Anmeldung abzuhalten sucht mit der Begründung, dass der Basler Frauenverein bereits über die nötigen Kandidatinnen verfüge.“ Und er fügte an: „Soweit sind wir denn doch noch nicht, dass wir den Frauenverein als Neben­ regierung anerkennen.“196

Dynamisierung, Vorstrukturierung und Prägung der staatlichen Fürsorge An der Schnittstelle zwischen privater und staatlicher Fürsorge für „sittlich Gefährdete“ und „Gefallene“ wird sichtbar, dass sich die Sittlichkeitsvereine nicht gegen den Ausbau der staatlichen Fürsorge stemmten, im Gegenteil. Sie förderten das staatliche Engagement geradezu und trugen auf diese Weise den Weg des Ausbaus eines staatlichen Fürsorgeapparates mit. Es wird sogar deutlich, dass der Staat im Bereich der Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen wesentlich „von Aussen“ zum Handeln aktiviert wurde – nicht allein durch die Sittlichkeitsvereine natürlich, aber diese spielten doch eine Rolle dabei. Der Aufbau der staatlichen Fürsorge wurde von privaten Organisationen dynamisiert und wesentlich in Bewegung gesetzt.

Februar 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902; Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher. 18. Januar 1931. S. 1. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 195 Direktor der Strafanstalt Basel-Stadt an Herr Regierungsrat Dr. K. Ludwig, 12. März 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 196 Der Vorsteher des Polizeidepartements an Herrn Strafanstaltsdirektor, 13. März 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902.

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Die Sittlichkeitsvereine engagierten sich für den Ausbau der staatlichen Fürsorge primär aus drei Gründen. Erstens reichten ihre Finanzen nicht aus, um ein flächendeckendes, koordiniertes und entsprechend kostenintensives Fürsorgenetz aufzubauen. Sie waren hierzu auf den finanziell potenten Staat angewiesen. Es war denn auch so, dass nur die mitgliederstärkeren Sektionen sich überhaupt das Errichten und Betreiben eines Erziehungsheims leisten konnten, geschweige denn mehrerer Heime. Zweitens brachte die staatliche Institutionalisierung und gesetzliche Verankerung ein Mehr an gesetzlicher und institutioneller Macht gegenüber den anvisierten Frauen, das der privaten Fürsorge fehlte.197 Drittens gab es, wie wir noch sehen werden, eine gewisse Klientel, welche die private Wohlfahrt wegen deren „Verdorbenheit“ und „Schwererziehbarkeit“ nicht in ihren Heimen aufnehmen wollte. 198 Für diese Klientel sollte der Staat sorgen. Die Sittlichkeitsvereine trugen zwar einen gewissen staatlichen Ausbau der Fürsorge dezidiert mit, gleichzeitig bestanden sie aber auf Mitbestimmung und Mitarbeit. Sie wollten ihre Position in der Fürsorge erhalten und stärken. Ihr Ziel war nicht die Verstaatlichung ihrer eigenen Fürsorge, sondern sie strebten eine Kooperation mit dem Staat an, in der sie eine möglichst starke und eigenständige Stellung einnehmen wollten, und die ihnen den Zugriff auf „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Frauen erleichtern sollte. So konnte etwa mit der Schaffung der Stelle der Polizeiassistentin die Fürsorge auch auf jene Prostituierten ausgeweitet werden, die bis dahin außerhalb der Reichweite und der Einflussnahme der Sittlichkeitsvereine lagen: jene Frauen, die von der Polizei aufgegriffen wurden, und bisher ins Krankenhaus, Gefängnis oder sogleich wieder in die Freiheit gekommen waren. Die Versuche der Sittlichkeitsvereine, Anpassungen im gesetzlichen Bereich zu erlangen sowie staatliche Fürsorgestellen und Erziehungsheime zu initiieren, waren trotz Widerstand und Verzögerungen auch immer wieder mit Erfolg gekrönt. Sie bewirkten den Erlass neuer Gesetze, die den Zugriff auf „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen erleichterten, sowie die Errichtung neuer staatlicher Fürsorgestellen für diese Klientel, wie von Heimen, Polizeiassistentinnen und Fürsorgerinnen für Geschlechtskranke. Die Sittlichkeitsvereine waren dadurch aktiv am Prozess der Verrechtlichung und teilweisen Verstaatlichung der Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen beteiligt und trugen damit zur Ausbreitung der weiblichen Jugendfürsorge bei. Sie trugen zudem auf diese Weise zum Einfließen von ihnen propagierter Lösungsstrategien in die staatliche Fürsorge und Gesetzgebung bei und bestimmten das agenda setting im Ausbau des Sozialstaates mit. So leisteten beispielsweise die Polizeiassistentinnen- und Fürsorgerinnenstellen der Etablierung der Anstaltserziehung von „Gefallenen“ und „sittlich Gefährdeten“ 197 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Der Sonderstatus der Privatheime). 198 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Staatliche Lückenfüller).

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Vorschub, indem sie bei den zuständigen Behörden Einweisungen in Anstalten beantragen konnten. Und das Amt der Stadtzürcher Polizeiassistentin war eine der ersten staatlichen Fürsorgetätigkeiten im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge der Stadt Zürich.199 Der Stellenwert dieses Amtes scheint bedeutend gewesen zu sein, denn in den Geschäftsberichten des Jugendamtes fungierte es bis 1938 an zweiter Stelle.200 Auch die Fürsorgestelle in Zürich leistete einen wichtigen Beitrag für die Institu­ tionalisierung der weiblichen Fürsorgearbeit. Sie war gesamtschweizerisch die erste Fürsorgestelle dieser Art.201 Der privaten Wohltätigkeit, die schon seit Längerem Erfahrungen in der Heimerziehung sexuell normabweichender Frauen gesammelt hatte, kam zudem ein gewisser Expertenstatus 202 in der Fürsorgepraxis für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen zu. Die Frauenvereine der Sittlichkeitsbewegung sowie die Vorsteherinnen ihrer Heime wurden neben anderen in diesem Bereich tätigen Akteuren bei der Errichtung staatlicher Heime als Fachexperten hinzugezogen und ihre Heime dienten als Vorbilder für staatliche Anstalten. Einige Fürsorgestellen übernahm der Staat von den Sittlichkeitsvereinen, die bereits früher solche eigenen Stellen geschaffen hatten. Die öffentliche Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen war entsprechend – natürlich nicht allein, aber doch wesentlich – von privaten Akteuren vorstrukturiert. Indem der Staat private Fürsorgeeinrichtungen als Vorbilder hinzuzog und teilweise Fürsorgefelder der Privaten übernahm und weiterführte, flossen Konzepte der privaten Gemeinnützigkeit in die staatliche Fürsorge mit ein. Die private Wohlfahrt definierte auf diese Weise mit, wie ein Mensch zu erziehen sei, nach welchen Erziehungsgrundsätzen und zu welcher Persönlichkeit er geformt werden sollte. Dadurch kam es zu einer „Potenzierung“ (Urs Germann), statt zu einer Abschwächung gemeinnütziger Handlungsstrategien durch staatliches Engagement.203 Am erfolgreichsten waren die Bemühungen der Zürcher Sektionen, die gerade in der besonders stark von Prostitution und deren Begleiterscheinungen betroffenen Stadt Zürich auf fruchtbaren Boden fielen. Diese Erfolge dürften nicht zuletzt 199 Müller, Geschichte, 1996, S. 7. 200 Müller, Geschichte, 1996, S. 23. 201 50 Jahre Zürcher Frauenbund, S. 17. 202 Lutz Raphael definiert Experten in seinem Aufsatz zu den Experten im Sozialstaat als „Wissenschaftler oder akademisch ausgebildete Praktiker ( Juristen, Mediziner, Ökonomen) des Sozialwesens“ (Raphael, Experten, 1998, S. 232). Den Wissenschaftlern bzw. akademischen Experten setzt er die Praktiker, Sachverständigen gegenüber. Ich benutze in dieser Arbeit jedoch einen Expertenbegriff, der auch nicht akademisch Ausgebildete einschließt. Denn auch Praktiker konnten einen Expertenstatus erlangen. 203 Diese „Potenzierung“ hat Urs Germann für die Anstalten für Kinder und Jugendliche festgestellt (Germann, Humanität, 2010, S. 234).

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damit zusammenhängen, dass in Zürich im Vorstand des Männervereins eine wissenschaftliche und politische Elite saß, die den Anliegen des Vereins zusätzlich Vorschub leisten konnten, während diese im Berner Männerverein weniger präsent war. Dieser Umstand dürfte zum Erfolg der Zürcher Sektionen beigetragen haben. Der Berner Männerverein selbst beteiligte sich im Gegensatz zum dortigen Frauen­ verein meines Wissens nicht an den Bemühungen, neue Gesetze oder staatliche Fürsorgestellen zu initiieren. Die wenigen erhaltenen Quellen lassen hier aber keine definitive Aussage zu. Das erhaltene Material deutet aber darauf hin, dass der relativ kleine Berner Männer­verein sein Augenmerk und seine Energie auf andere Themen richtete: nämlich Prostitution, „unsittliche“ Literatur, Kunst und Freizeitvergnügen sowie generell Kampf gegen andere „unsittliche“ Einflüsse. Nicht immer aber waren die Forderungen der Sittlichkeitsvereine erfolgreich und manchmal vergingen Jahre, bis der Staat dem Begehren nachkam. Wie ich am Beispiel der Errichtung staatlicher Heime noch zeigen werde, spielten finanzielle Aspekte bei einem Entscheid, keine staatliche Stelle und Institution zu errichten, eine wesentliche Rolle, ebenso der Umstand, dass die private Fürsorge bereits selbst sehr aktiv in diesem Fürsorgebereich tätig war und zu weiterem Engagement bewegt werden konnte und dass der Staat entsprechend häufig erst dann Hilfe bot, wenn die private Vereinigung finanziell nicht mehr dafür aufkommen konnte.204 Es war aber auch so, dass das teils forsche Vorgehen und das hartnäckige Bemühen um Einflussnahme durch die Sittlichkeitsvereine nicht von allen Beteiligten goutiert wurden und teilweise auf Widerstand stieß. Die Auseinandersetzungen um die Einstellung einer Polizeiassistentin in Basel zeigen dies beispielhaft auf. Besonders viel Widerstand von Behördenseite scheint dem Basler Frauenverein entgegengeweht zu sein, dessen zunächst gute Beziehungen zu wichtigen Behörden sich seit dem Beginn der 1910er Jahre mit Inkrafttreten des eidgenössischen Zivilgesetzbuches und dem damit verbundenen weiteren Ausbau der staatlichen Sozialpolitik zusehends verschlechterten, wie Sara Janner aufgezeigt hat.205 Ich sehe zwei Hauptgründe dafür, dass der Basler Frauenverein stärker angegriffen wurde. Einerseits stand dem Basler Frauenverein – anders als dem Zürcher und dem Berner – kein Männerverein zur Seite, der ihn gestützt, seine Arbeit durch männliche Autorität legitimiert und ihm zusätzliches politisches Gewicht verliehen hätte. Andererseits hatte sich der Frauenverein zum einflussreichsten und größten Frauenverein Basels entwickelt, vereinte unter seinem Dach eine Vielzahl an Fürsorgezweigen und eine beeindruckende Schar von bezahlten Sekretärinnen, Fürsorgerinnen und Aufsichtsdamen und nahm durch seine vielfäl­ tigen und weitverzweigten Fürsorgetätigkeiten ein bedeutendes Gewicht im Bereich der Basler Fürsorge ein. Der Basler Frauenverein war in der ­Fürsorgetätigkeit weit 204 Vgl. Kap. 5.4. 205 Janner, Frauen, 1992.

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am aktivsten von allen Deutschschweizer Sittlichkeitsvereinen und zudem emanzipatorischer ausgerichtet als seine beiden konservativeren Schwestern in Bern und Zürich. Hinter dem Widerstand gegen den Frauenverein vermute ich deshalb auch einen Geschlechterkampf, da der Frauenverein in den Augen mancher Politiker zu eigenständig agierte und eine zu machtvolle Frauen-„Nebenregierung“ bildete. Es scheint zudem, dass die Sittlichkeitsvereine vor allem bis zu Beginn der 1910er Jahre Erfolge in ihren Versuchen erzielten, aktiv Einfluss auf Gesetze zu nehmen und die Errichtung staatlicher Fürsorgestellen zu fordern. Danach hingegen fruchteten ihre Bemühungen weniger und ihre Forderungen scheinen auf mehr Widerstand gestoßen zu sein, wenn sie auch weiterhin gewisse Erfolge bei der Gründung staat­ licher Stellen und Institutionen vermelden konnten. 1913 schrieb der Berner Frauen­ verein zur Hebung der Sittlichkeit, der Schwerpunkt seiner Arbeit habe sich in den letzten 30 Jahren durch die veränderten Verhältnisse verschoben. „Damals stand der Kampf gegen das staatlich geduldete Laster, der Mädchenhandel, der Rechtsschutz und die Fürsorge für die gefallenen Mädchen im Vordergrund der Arbeit, die in der Hauptsache nur von den Sittlichkeitsvereinen getan wurde. Seither haben sich grosse Kreise und gesetzgebende Behörden mit diesen Fragen beschäftigt und ist namentlich die Fürsorge für die weibliche Jugend zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit und sozialer Liebestätigkeit geworden. Das verringert in nichts unsere besondere Aufgabe jenen Entgleisten und Unglücklichen gegenüber, die darin besteht, ihnen nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich zu helfen, sie mit Gottes Hülfe sittlich zu heben und einem guten, geordneten Leben zurückzugeben. Aber es zwingt uns, unser Hauptaugenmerk intensiver und zielbewusster als früher […] [der] ‚Hebung der sittlichen Begriffe im Volk‘ [zuzuwenden].“206 Die Sittlichkeitsvereine wurden offenbar mit der seit der Zeit um die Jahrhundertwende steigenden Zahl an Akteuren im Bereich der weiblichen Jugendfürsorge zunehmend marginalisiert und erachteten entsprechend eine Akzentverschiebung in ihrer Tätigkeit als notwendig. Es waren nicht zuletzt vorwiegend männliche wissenschaftliche Experten, die verstärkt Einfluss auf die Ausgestaltung der Gesetze und der Fürsorge für weibliche Jugendliche nahmen, wie wir noch sehen werden.207 Aber auch neue, gerade auch von Männern dominierte private Vereinigungen drängten auf das Feld der Fürsorge und strebten nach Deutungshoheit, etwa die Pro Juventute, die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege oder die Armenpflegerkonferenz, die rasch an Einfluss gewannen.208 Zudem nahmen mit dem verstärkten 206 11. Jahresbericht des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 12. 207 Vgl. Kap. 6. 208 Zur 1898 gegründeten Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer wichtigen Institution in der Kinder- und Jugendfürsorge entwickelte, vgl. Ramsauer, S. 164 f. und S. 281. Zur 1912 gegründeten Pro Juventute vgl. Galle, Bekämpfung,

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staatlichen Engagement im Bereich der Jugendfürsorge, gerade seit Inkrafttreten des eidgenös­sischen Zivilgesetzbuches, die entstehenden staatlichen Fürsorgestellen eine zunehmend dominante, einen Führungsanspruch bekundende Stellung ein. Das ZGB vergrößerte die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung in der Jugendfürsorge zudem erheblich und erhöhte entsprechend den finanziellen und personellen Aufwand, sodass nur mit zusätzlicher Vorsicht weitere neue Fürsorgeinstitutionen und -stellen geschaffen oder von der privaten Wohlfahrt übernommen wurden, wie das Beispiel des geplanten Basler Erziehungsheims zeigt. Die durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise verursachten wirtschaftlichen Krisen dürften diese Vorsicht zusätzlich verstärkt haben. Meiner Ansicht nach ist es kein Zufall, dass die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit in den 1910er Jahren erstmals öffentlich für das Frauenstimmrecht eintraten, nachdem sie es zuvor strikt abgelehnt hatten. Die Besetzung des Feldes der Jugendfürsorge durch eine Vielzahl neuer, gerade männlicher Akteure seit der Jahrhundertwende bedrängte und marginalisierte die Vorreiterinnen zunehmend in ihrem angestammten Bereich. Nicht nur wurden die überwiegend männlichen Wissenschaftler und neue, gerade von Männern dominierte private Organisationen zunehmend einflussreicher, auch die entstehenden staatlichen Fürsorgestellen waren überwiegend von männlichen Angestellten besetzt. Frauen waren von Leitungspositionen in der öffentlichen Fürsorge ausgeschlossen.209 So herrschte etwa in der einflussreichen Schweizerischen Armenpflegerkonferenz, die bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg von Männern dominiert war und als wichtiges Expertengremium im Bereich der Fürsorge fungierte, Einigkeit: Die Frauen sollten in der öffentlichen Fürsorge als „Hilfskräfte“ tätig sein, jedoch nicht in Führungspositionen.210 Frauen wurden zusehends aus leitenden Stellen in unbedeutende Hilfsfunktionen oder ganz aus gewissen Tätigkeitsfeldern verdrängt, sobald ein Tätigkeitsbereich höhere soziale Anerkennung erlangte oder näher an den Zuständigkeitsbereich klassischer Professionen, wie Medizin oder

voraussichtliches Erscheinungsdatum 2014; Galle, Menschen, 2009; Leimgruber, Hilfswerk, 1998. Zur 1905 gegründeten Armenpflegerkonferenz, die versuchte, für sich eigene Expertenpositionen und Arbeitsfelder abzustecken sowie die Armenfürsorge gegen die Einflussnahme der Frauen zu verteidigen, vgl. ausführlich Matter, Armut, 2011. Dies gelang ihr auch in einigen zentralen Punkten, indem Frauen kaum in Schlüsselpositionen der öffentlichen Fürsorge gelangten. Die Armenpflegerkonfererenz entwickelte sich ferner rasch zu einer staatsnahen Kommunikationsplattform, die unter weitgehendem Ausschluss der Frauen der Vernetzung von Fürsorgebehörden und -politikern diente und den politischen Diskurs zur Professionalisierung der sozialen Arbeit zu dominieren vermochte. 209 Sutter, Polizisten, 2007, S. 273; Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 280 f.; Matter, Armut, 2011. 210 Zur spannungsreichen Auseinandersetzung zwischen der Armenpflegerkonferenz und den Exponentinnen sozialer Frauenschulen vgl. ausführlich Matter, Armut, 2011.

Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge

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Jura, rückte.211 Leitende Funktionen vermochten sie sich vor allem in karitativen und religiösen Vereinen zu sichern.212 Um ihren Platz in der zunehmend verstaatlichten Fürsorge verteidigen und in diesem Bereich mitbestimmen zu können, begannen sie, das Frauenstimmrecht einzufordern.213 Nichtsdestotrotz spielten die Sittlichkeitsvereine, die schon seit Längerem Erfahrungen in der Heimerziehung normabweichender junger Frauen gesammelt hatten, in der Ausgestaltung der konkreten Fürsorgepraxis für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen weiterhin eine wichtige Rolle. So behielten sie einen gewissen Expertenstatus, wenn es um die praktische Tätigkeit in Erziehungsheimen ging, sodass sie auch noch zu Beginn der 1930er Jahre zur Konzeption von staatlichen Heimen hinzugezogen wurden und ihre Heime als Vorbilder dienten, wie das Beispiel des Berner Loryheims zeigt. Zudem wurden sie vom Staat mit gewissen Fürsorge- und Erziehungsaufgaben betraut und ihre Erziehungsheime spielten in der Nacherziehung junger Mädchen eine wichtige Rolle, wie ich im Folgenden aufzeigen werde.

5.4 Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge Der privaten Fürsorge wurden im entstehenden Sozialstaat gewisse Aufgaben übertragen. Dieses Kapitel fragt danach, welche Aufgaben und welche damit verbundenen Kompetenzen dies waren und welche Rolle und Position private Vereinigungen und deren Heime fortan in diesem zunehmend dichteren Fürsorgenetz einnahmen. Zur Beantwortung dieser Fragen ziehe ich Überlegungen der social network analysis bei, die einerseits Beziehungsstrukturen aufzeigen möchte, welche Akteure pflegen und aufbauen, andererseits die Position und den Grad der Vernetzung von Akteuren innerhalb des Netzwerkes eruieren will, die auf ihren Einfluss auf Informations-, Wissensund Ressourcentransfer sowie auf ihre gesellschaftliche und politische Machtstellung verweisen.214 Via Netzwerke werden Informationen, materielle und personelle Ressourcen transportiert. Die Menge und Vorteilhaftigkeit von Verbindungslinien (Kanten) eines Akteurs zu anderen Akteuren (Knoten) geben Aufschluss über seine Position im Netzwerk und seine Möglichkeiten, die im Netzwerk vorhandenen ­Ressourcen 211 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 280 – 283. 212 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 283. 213 Vgl. auch Janner, Frauen, 1992, die zum selben Schluss kommt. Sara Janner hat den Verdrängungsprozess spezifisch des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit und dessen Reaktionen darauf ausführlich dargestellt. 214 Vgl. zu den folgenden Ausführungen zur Netzwerkforschung die Überlegungen von Boyer, Netzwerk, 2008; Boyer, Ausblick, 2008.

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

und Informationen zu nutzen. Neben der Anordnung und Verbindung der Knoten in der Netzstruktur gilt das Augenmerk auch dem Grad der Verfestigung des Netzwerks. Netzwerke beruhen in der Regel auf formellen Abmachungen und sind schwach abgesichert. Durch den Einbezug neuer Knoten und die effektivere Zusammenarbeit der Akteure lässt sich das Netzwerk stabilisieren, erweitern und verdichten.

Parastaatliches Milizsystem Eine Statistik des Büros des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit für den Zeitraum Mai 1919 bis Mai 1920 zeigt beispielhaft einige zentrale vom Staat delegierte Bereiche.215 In diesem einen Jahr beschäftigte sich das Büro des Zürcher Frauenvereins mit 326 Fürsorgefällen.216 Davon wurden dem Sittlichkeitsverein 87 von staatlichen Stellen übergeben: 40 von der Amtsvormundschaft, 22 von der Jugendanwaltschaft, 13 von Waisenämtern und 12 von Armenpflegen. Von den städtischen sowie den Landgemeindearmenpflegen und vom kantonalen Armenwesen wurde der Frauenverein dabei um Beiträge zu den Versorgungskosten angehalten oder als Begleitung bei behördlich verfügten Krankenhauseinweisungen, Abschiebungen über die Kantons- oder Landesgrenze und Versorgungen in Anstalten engagiert. Aber auch die Aufsicht über von den Behörden betreute junge Frauen wurde dem Sittlichkeitsverein übergeben. Zudem übertrug die Vormundschaftsbehörde den Angestellten des Büros Vormundschaften oder Beistandschaften. Mit diesen Ämtern erhielten die Vormundinnen weitreichende gesetzliche Macht, konnten sie etwa den Aufenthaltsort des Mündels bestimmen,217 seine Finanzen verwalten,218 das Mündel umfassend beaufsichtigen 219 und über die berufliche Ausbildung und die religiöse Erziehung entscheiden.220 Für die 215 17. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 3 – 5. 216 17. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 3. 217 Diese Bestimmungsgewalt des Vormunds über den Aufenthaltsort des Mündels war nur in zwei Fällen durch das eidgenössische Zivilgesetzbuch von 1907 eingeschränkt: Der Vormund musste bei der Unterbringung in eine Anstalt (Art. 421, Abs. 13) und bei einem Wechsel des Wohnsitzes (Art. 421, Abs. 14 und Art. 377, Abs. 1) die Zustimmung der Vormundschaftsbehörde einholen. Vgl. die Dissertation der Juristin Hedwig Oettli: Oettli, Fürsorge, 1941, S. 58 f. 218 Vgl. Oettli, Fürsorge, 1941, S. 65 – 67. 219 Die Aufsicht erstreckte sich „über den ganzen Lebenskreis des Mündels“, auf „alle seine Handlungen, auf jede Äusserung seines Wesens“, seine Freundschaften, seine Gestaltung der Freizeit, seine Korrespondenz. Der Vormund konnte den Umgang mit bestimmten Personen verbieten und den Austritt aus einem Verein erzwingen (Oettli, Fürsorge, 1941, S. 69 f., Zit. S. 70). 220 Zu den Rechten und zu den Einschränkungen der Verfügungsmacht des Vormundes im Bereich der Bildung und religiösen Erziehung durch das eidgenössische Zivilgesetz vgl. Oettli, Fürsorge, 1941, S. 70 – 79.

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Armenpflegen suchte das Büro des Frauenvereins „gute“ Pflege- oder Adoptiveltern für Waisenkinder.221 Auch zur Informationsbeschaffung über weibliche Jugendliche und deren Vergangenheit und Lebensstil nutzten die Behörden die Sittlichkeitsvereine. Das Büro des Sittlichkeitsvereins leistete etwa Detektivdienste für den Jugendanwalt Herrn Dr. Spöndlin.222 Auch ihre Fürsorgerin in der dermatologischen Klinik wurde von Behörden angegangen, Erkundigungen über bestimmte Frauen einzuholen.223 Grob gesagt lassen sich demnach drei Bereiche unterscheiden, in denen die Sittlichkeitsvereine vom Staat (neben der Heimerziehung) hinzugezogen wurden: Fürsorge, Detektivdienste und Finanzen. Drei Beispiele aus je einem Bereich sollen etwas vertiefter Einblick in die jeweils konkrete Aufgabe der Vereine geben. Dabei handelt es sich lediglich um einen groben Einblick, der keine Aussagen über das genaue Ausmaß der an sie delegierten Aufgaben oder über Veränderungen im Laufe der Jahre gewährt, denn das Augenmerk soll danach wieder auf die in dieser Untersuchung im Zentrum stehende Heimerziehung gerichtet werden. Die Delegation von Fürsorgetätigkeiten zeigt sich exemplarisch bei der Zürcher Polizeiassistentin. In ihrer Tätigkeit arbeitete diese eng mit den Sittlichkeitsvereinen zusammen. Sie hatte auf Anweisung des Zürcher Stadtrates die Hilfe der bestehenden privaten Vereinigungen und Hilfstätigkeiten für die Unterbringung und Beschäftigung der ihr zugewiesenen Frauen in Anspruch zu nehmen.224 Kurz nach der Schaffung der Amtsstelle trat der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit mit der Polizeiassistentin „in enge Verbindung“ und die Polizeiassistentin übergab dem Frauenverein die von der Polizei zugeführten Frauen zur Unterbringung und weiteren Fürsorge.225 Der Frauenverein suchte nach einer passenden Wohnung, Stelle oder – gestützt auf einen behördlichen Versorgungsentscheid – nach einem Heimplatz. Für die aus diesem Engagement entstehenden Kosten erhielt der Frauenverein auf ein Gesuch an das Polizeidepartement hin einen staatlichen Beitrag.226 Das von der Zürcher Sittlichkeitsbewegung betriebene Übergangsheim „Tannenhof “ diente der Polizeiassistentin zudem maßgeblich zur Platzierung von polizeilich aufgegriffenen Frauen. Die meisten „Zöglinge“ im Tannenhof wurden von ihr eingewiesen.227

221 17. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 6. 222 17. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 5. 223 17. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1919, S. 6. 224 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 93. 225 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1909, S. 4. 226 22. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1909, S. 3. 227 Puenzieux, Medizin, 1994, S. 181; Turrian, Prostituierte, 2005, S. 58.

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Auch die 1931 engagierte Basler Polizeiassistentin griff in ihrer praktischen Tätigkeit auf die Mithilfe des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit zurück, dem sie – wie die Basler Polizeiassistentin – die erzieherische Fürsorge für die polizeilich aufgegriffenen „Dirnen“ übergab.228 Die Polizeiassistentinnen bildeten einen zentralen Knoten im Fürsorgenetzwerk. Durch die enge Zusammenarbeit der Sittlichkeitsvereine mit ihnen verstärkte sich die Position der Vereine im Fürsorgenetzwerk. Die Zürcher Polizeiassistentin beispielsweise war in das Polizeiwesen integriert und stand in engem Kontakt mit den Polizeistellen und den Gerichten. Sie arbeitete mit zahlreichen Behördenstellen und privaten Institutionen zusammen, wie der Vormundschaftsbehörde, den Jugendämtern, der Pflegekinderaufsicht, dem Waisenamt, der Lehrlingsfürsorge, der Berufsberatung, dem Armenwesen, der Wohnungsfürsorge sowie den verschiedenen privaten und staatlichen Erziehungs- und Durchgangsheimen für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Frauen.229 Die Polizeiassistentin war ein „wertvolles Bindeglied zwischen den Behörden und den wohltätigen Gesellschaften“, da sie „alle Anstalten, alle Werke für Schutz, Bewahrung oder Rettung“ kannte.230 Sie bildete also ein wichtiges Scharnier zwischen der privaten Wohlfahrt und dem Staat. Auch wenn sie nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügte (Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Befragungen von Personen und Heimeinweisungen gehörten nicht zu ihren Befugnissen)231, war sie Vormundin von ihr zugewiesenen Frauen, was ihr einiges an Entscheidungs- und Handlungskompetenz gewährte, und saß im Vorstand des Lindenbachgutes, einem Erholungs- und Erziehungsheim für geschlechtskranke Frauen. Durch ihre Mandate als Polizeiassistentin, Vormundin und Vorstandsmitglied des Lindenbachgutes 228 Vgl. Schweizerisches Nationalkomitee gegen den Frauen- und Kinderhandel. Protokoll der Studientagung über die Prostitution und ihre Bekämpfung. Bern, 1. Dezember 1934. S. 22 f. Sozarch, 176/11:33. 229 Auch die Berner Polizeiassistentin arbeitete mit vielen anderen Abteilungen zusammen. Vgl. Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher, 18. Januar 1931. S. 6. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 230 Aufgeschaut! Gott vertraut! Monatsschrift für Werke sozialer und christlicher Frauentätigkeit. Offizielles Organ des schweizerischen Nationalvereins der Freundinnen junger Mädchen und des Verbandes deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Nr. 6 (1913). S. 4. Zit. nach Puenzieux, Medizin, 1994, S. 181. 231 Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher, 18. Januar 1931. S. 8. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902; Kraft, Sittenpolizei, 1929, S. 62. Die Berner Polizeiassistentin verfügte hingegen über kriminalpolizeiliche Befugnisse und war als Polizistin vereidigt. Sie durfte entsprechend bei Sittlichkeitsdelikten und Abtreibungen Frauen und Kinder befragen sowie „Haussuchungen“ tätigen (Der Departementssekretär des Polizeidepartements an den Herrn Departementsvorsteher, 18. Januar 1931. S. 7 f. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902).

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konnte sie Informationen über ihrer Obhut übergebene Frauen austauschen und auf verschiedenen Ebenen Einfluss auf die Maßnahmen gegen diese ausüben. Die Übergabe von Detektivdiensten an die Sittlichkeitsvereine lässt sich exemplarisch am Beispiel der Aktivitäten des Sekretärs des Zürcher Männervereins während des eidgenössischen Schützenfestes vom 6. bis zum 18. Juli 1907 in Zürich verdeutlichen.232 Der damalige Sekretär blieb während der Festzeit jede Nacht bis ein oder zwei Uhr morgens in den Straßen und Vergnügungslokalen unterwegs, um sich „des Treibens mit ziemlicher Bestimmtheit überzeugen zu können“.233 Konkret war er auf der Suche nach Prostituierten sowie „unsittlichen“ Vergnügungen, beispielsweise Obszönitäten zeigende Kinematografen. Er arbeitete dabei Hand in Hand mit der Sittenpolizei und übernahm Aufgaben, die gewöhnlich der Sittenpolizei oblagen. Einmal patrouillierte er mit zwei Detektiven der Sittenpolizei im Kreis I. auf der Suche nach Prostituierten. Oder er führte „Beobachtungstouren“, wie er sie nannte, in den nächstliegenden Wäldern durch – wie dies auch vom Polizeibüro eigens dafür gesandte Polizeidetektive taten. Beobachtetes Vergehen meldete er umgehend der Polizei und überreichte dieser gesammeltes Beweismaterial und Hinweise über den Verbleib der beschuldigten Person. Die Sittenpolizei verhaftete danach bei genügenden Beweisen die Prostituierte. Der Sekretär selbst verfügte nicht über die polizei­ liche Befugnis, Personen zu verhaften.234 Sicherlich standen ihm auch keine weiteren kriminalpolizeilichen Kompetenzen zu, wie Hausdurchsuchungen vorzunehmen oder verdächtige Personen zu befragen. Ihm gelang es jedoch auf sein Ersuchen hin, vom „Polizeicomité“ ein Passepartout ausgestellt zu bekommen.235 Damit hatte er die polizeiliche Befugnis, auf dem Festplatz und in den Vergnügungsstätten überall zu passieren und Eintritt zu erhalten. Obwohl sich der Sekretär innerhalb des gesetzlich Erlaubten bewegte, ist es doch bemerkenswert, dass dem Sekretär eines privaten Vereins ein so weitgehender Handlungsspielraum vonseiten der staatlichen Behörden zugestanden und ihm die Ausübung sittenpolizeilicher Aufgaben zuerkannt wurde. Die Anstellung des damaligen Sekretärs, der vor seiner Tätigkeit als Sekretär 18 Jahre lang für die Kantonspolizei gearbeitet hatte,236 ist durchaus als bewusster Schachzug

232 Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. Sozarch, 176/3: V2. 233 Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. S. 4. Sozarch, 176/3: V2. 234 Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. S. 3 f. Sozarch, 176/3:V2. 235 Bericht des Sekretärs über seine Tätigkeit vom 13. Mai–21. August 1907. Zürich, 27. August 1907. S. 1 f. Sozarch, 176/3:V2. 236 An die Mitglieder des kant. Zürcherischen zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit. Zürich, den 10. November 1906. ZBZ, LK 653.

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der Sittlichkeitsvereine zu verstehen. Sie suchten ganz explizit einen Polizisten.237 Seine Anstellung unterstreicht das Bemühen der Sittlichkeitsvereine, sich als enge Mitarbeiter der Polizei zu positionieren. Auch der Finanztransfer spielte eine wichtige Rolle im Beziehungsnetz zwischen staatlichen und privaten Fürsorgestellen. Auffallend oft wurden die Sittlichkeitsvereine von Behörden um Beiträge für die Versorgung von jungen Frauen in Erziehungsheimen angegangen, wie der Briefverkehr des Berner Frauenvereins aus den 1920er und 1930er Jahren verdeutlicht.238 Die Sittlichkeitsvereine leisteten auch Beträge an staatliche Fürsorgestellen.239 Phasenweise zahlten sie zudem Prämien an Landjäger und Polizisten aus. Der Berner Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit tat dies zwischen 1888 und 1890. Eine Prämie erhielt, wer in Sittlichkeitssachen eine Anzeige erstattet hatte, die schließlich eine gerichtliche Verurteilung nach sich zog.240 Prämien für Polizisten waren nichts Außergewöhnliches. Die Basler Polizei etwa zahlte ebenfalls eine Provision, wenn ein Polizist einen Bettler, Verbrecher oder eine Prostituierte gefasst hatte.241 In diesem Berner Fall aber erhielten die Polizisten ihre Provision durch eine private Vereinigung. Die Prämienzahlungen geschahen mit Erlaubnis der Polizeibehörden, ja sogar aufgrund ausdrücklichen Wunschs derselben – sicherlich nicht zuletzt zur Aufbesserung des Gehalts der Angestellten. Als der Männerverein an das Landjäger-Kommando gelangte und seine Idee der Prämienvergabe vortrug, war das Kommando für das Vorhaben des Vereins zu begeistern.242 Und nicht nur das Landjäger-Kommando war von der Prämienvergabe angetan. Kurze Zeit nach der Einführung der Prämien erhielt der Männerverein einen Brief von der städtischen Polizeidirektion, worin diese dieselben Prämien auch für städtische „Polizeidiener“ verlangte.243 Die Polizeidirektion legte dem Brief 237 Protokoll des Dachverbandes vom 9. Mai 1906. Gosteliarchiv, SEF, A 6:1; An die Mitglieder des kant. Zürcherischen zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit. Zürich, den 10. November 1906. ZBZ, LK 653; Protokoll des Dachverbandes vom 14. November 1906. Gosteliarchiv, SEF, A 6:1. 238 Vgl. die Korrespondenz zwischen Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit und Behördenstellen: Marie Schlachter-Jakob, Korrespondenz 1924 – 1939. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 6:1–B 6:9. 239 Die Fürsorgerin der staatlichen Patronatskommission von Hindelbank ist ein solches Beispiel. Vgl. Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1928, S. 37. 240 Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 29. März 1889 (ohne Druckdatum). S. 4. NB, V BE 5545. 241 StABS, Straf und Polizei, N3f. 242 Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 29. März 1889 (ohne Druckdatum). S. 4. NB, V BE 5545. 243 Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 29. März 1889 (ohne Druckdatum). S. 5. NB, V BE 5545.

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eine Liste mit 207 Anzeigen bei, die alle eine gerichtliche Verurteilung zur Folge gehabt hatten. Der Berner Männerverein zeigte sich erfreut „über diesen Eifer der Stadtpolizei“ und beschloss, auch die Organe der Stadtpolizei zu prämieren, „mit Ausnahme doch der Strichfälle, die, wegen ihrer grossen Zahl unsere Kräfte übersteigen würden“.244 Er begründete die Prämien damit, dass „nun einmal in dieser Welt der Mammon das mächtigste Triebrad zu treuer Pflichterfüllung“ sei, und erhoffte sich durch diese Prämien „den Dirnen und Kupplerinnen das Leben einigermassen sauer zu machen“.245 Die Vereine knüpften ihre finanziellen Zuschüsse teilweise an Gegenforderungen, ganz nach dem Motto: Wer zahlt, befiehlt. So übernahm beispielsweise der Berner Frauenverein einen Teil des Kostgeldes für die Versorgung eines jungen Mädchens in einem Waisenasyl „nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass das Mädchen nach beendigter Schulzeit weder zu der Grossmutter, noch zu der Mutter gehen darf “.246 Der Frauenverein rechtfertigte seine Forderung damit, dass ihnen beide Frauen bekannt seien und sie wüssten, dass „das Kind verloren“ sei, wenn sich der Einfluss von Mutter und Großmutter geltend machen könne.247 Die Sittlichkeitsvereine entwickelten sich im entstehenden Sozialstaat – so lässt sich schlussfolgern – zu einem parastaatlichen Milizsystem, das eng mit dem Staat gekoppelt war und dem die Erfüllung staatlicher Aufgaben übertragen wurde. Die vielen Verbindungslinien zwischen den Sittlichkeitsvereinen und wichtigen Behördenstellen stärkten die Position der Vereine zur Hebung der Sittlichkeit und ihrer

244 Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 29. März 1889 (ohne Druckdatum). S. 5 f. NB, V BE 5545. Der Männerverein zahlte Prämien zwischen 3 und 20 Franken aus, „je nach Wichtigkeit des Falles“ (ebd., S. 6). 245 Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites an die Hauptversammlung vom 29. März 1889 (ohne Druckdatum). S. 6. NB, V BE 5545. Der Berner Männerverein fuhr mit den Prämienzahlungen bis Mitte 1890 fort. Ab diesem Zeitpunkt reichte die Polizeibehörde keine Verzeichnisse mit den zu prämierenden Beamten mehr an den Verein weiter. Der Grund dafür war dem Männerverein „nicht genau bekannt“. Er äußerte sein Erstaunen über dieses Verhalten: „Etwas Unstatthaftes können diese Belohnungen doch nicht sein, da ja je und je Privatleute an Polizeiorgane für die Entdeckung von Schuldigen aller Art Prämien ausbezahlen durften.“ (vgl. Verein für öffentliche Sittlichkeit. Bericht des Komites für seine Thätigkeit während der Jahre 1889 und 1890. Aufgelegt auf Juni 1891. S. 6. NB, V BE 5545). 246 Bernischer Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit an die Hausmutter des Asyls für schutzbedürftige Mädchen, Wienerberg, St. Gallen, 20. Juli 1925. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 6:8. Dossier „Amtsvormundschaft Bern“. Hervorhebung im Original. 247 Bernischer Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit an die Hausmutter des Asyls für schutzbedürftige Mädchen, Wienerberg, St. Gallen, 20. Juli 1925. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 6:8. Dossier „Amtsvormundschaft Bern“.

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Fürsorgeeinrichtungen im Fürsorgenetzwerk für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen. Ihre Vernetzung mit einflussreichen, wissenschaftlichen und politischen Eliten, privaten Fürsorgeorganisationen und Vereinen sowie ihr eigener Pool an einflussreichen Mitgliedern trugen ebenfalls dazu bei. Sicherlich nicht zuletzt dank ihrer guten Vernetzung vermochten die Sittlichkeitsvereine im entstehenden Sozialstaat einen Part im Bereich der Fürsorge für weibliche Jugendliche zu übernehmen. Die Vereinsmitglieder waren nicht selten selbst gleichzeitig Privatpersonen wie öffentliche Personen, die sich in verschiedenen Systemen bewegten: Sie waren Politiker, Behördenmitglieder, Vormünder und Vormundinnen sowie Mitglieder staatlicher Patronatskommissionen.248 Eine klare Trennung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren ist deshalb im Grundsatz nicht möglich. Diese personellen Verbindungen und Doppelmandate, die häufig aktiviert wurden, intensivierten und erleichterten die Zusammenarbeit zwischen privaten und öffentlichen Institutionen, führten zu engen personellen Verflechtungen innerhalb des Netzwerks und machten die Kompetenzen und Abhängigkeiten im Netzwerk ein Stück unübersichtlicher. Die engen Verbindungen zwischen den Akteuren im Netz verstärken den Transfer von Informationen über einzelne Frauen und förderten deren Fürsorgekarriere, die nur durch die enge Zusammenarbeit diverser Akteure möglich wurde – etwa Erziehungsheime, Entlassenenfürsorgestellen, Vormünder, dermatologische Kliniken, Strafanstalten, Vormundschaftsbehörden, Vereine und die Polizei (Akteure, die auch bei der Heimeinweisung junger Frauen eine zentrale Rolle spielten). Das Netz wurde dadurch engmaschiger für die einmal darin gelandeten Frauen. Durch den Einbezug neuer Akteure und die Verstärkung der Verbindungen, durch den Transport von Ressourcen (Geld und Mitarbeiter) sowie durch die Verbesserung der Kommunikation im Netzwerk durch gezielte Zusammenarbeit konnte das Netz, das um die tatsächlichen, vermeintlichen und potenziellen „Dirnen“ gewoben wurde, erweitert, stabilisiert und in seiner Wirkung potenziert werden. Das durch verschiedenste Akteure und Verbindungslinien sowie durch Doppelmandate der Akteure geprägte Netzwerk beinhaltete für die Betroffenen teils undurchsichtige Zuständigkeiten und Kompetenzen. Seine Stärke gewann das Netz durch zunehmende Ausbreitung und 248 Ein Beispiel hierfür ist die staatliche Patronatskommission für das „Weiberarbeitshaus Hindelbank“. Die Präsidentin des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit war gleichzeitig auch Präsidentin der Patronatskommission. Es bestand zwischen den beiden Stellen eine enge Zusammenarbeit. Entlassene wurden von der Patronatskommission oft im Sulgenhof, dem Durchgangsheim des Berner Frauenvereins, eingewiesen. Die 1928 engagierte Fürsorgerin der Patronatskommission wurde vom Berner Verein sowie dem Berner Schutzaufsichtsverein bezahlt (vgl. Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1928, S. 37). Der Sittlichkeitsverein erhielt als Gegenleistung eine Vertretung in der Patronatskommission (vgl. Bracher, Geschichte, 1986, S. 85).

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enge personelle Verflechtungen zwischen den Akteuren, durch die Heterogenität der Akteure, durch dezentrale und diffuse Machtstrukturen sowie durch vielfältige und undurchsichtige Verbindungen und Kommunikationswege.249 Die Behörden delegierten Fürsorge-, Erziehungs-, Kontroll-, Überwachungs- und Detektivaufgaben an die Sittlichkeitsvereine und bedienten sich der personellen sowie finanziellen Ressourcen der Vereine. Der Staat zeigte ein deutliches Interesse daran, dass Private mitarbeiteten und mitfinanzierten. Aber auch die Privaten hatten ein Interesse daran. Auf diese Weise wollten sie im entstehenden Sozialstaat eine gewichtige Position einnehmen, ihre bisherige Fürsorgetätigkeit möglichst eigenständig weiterführen sowie ihre Anliegen und ihr Wissen wirkungsvoll einbringen. Als Gegenleistung für ihre geleistete Arbeit und ihre finanziellen Aufwendungen forderten die Vereine denn auch Mitsprache und Kompetenzen. So proklamierte etwa Emma Hess, Vorstandsmitglied des Zürcher Frauenvereins, die maßgeblich an der Ausarbeitung von Gesetzeseingaben der Sittlichkeitsvereine beteiligt war, im Jahr 1909: „Gestützt auf unsere Tätigkeit & die aufgewendeten Geldmittel, dürfen wir verlangen, bei der Gesetzgebung berücksichtigt zu werden.“250 Und der Zürcher Frauenverein schrieb 1913: „Um aber wirksam diese Hilfe [an den jungen Frauen] ausüben zu können, ist es nicht genug, dass wir nur letzte Instanz sind, die machtlos sich des Falles anzunehmen hat, wir sollten beratende und beurteilende Stimme haben […].“251 Mit dieser Forderung tangierte der Frauenverein die Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen privater und staatlicher Fürsorge. Durch die Delegation staatlicher Aufgaben wurden die Sittlichkeitsvereine quasi zum verlängerten Arm des Staates, indem sie zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols hinzugezogen wurden. Das Gewaltmonopol besagt, „dass alle Zwangsgewalt im Staatsgebiet nur vom Staat selbst oder mit seiner Erlaubnis ausgeübt werden darf “.252 Gewisse den Sittlichkeitsvereinen delegierte Aufgaben tangierten die individuellen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger: die übertragenen Detektivdienste, die sittenpolizeilichen Aufgaben, die Aufsichtsbefugnisse, 249 Bruno Latour formuliert die Ursachen für die Dichte von Netzwerken im Zusammenhang mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie folgendermaßen: „Strength does not come from concen­ tration, purity and unity, but from dissemination, heterogeneity, and the careful plaiting of weak ties.“ Latour, Actor-network Theory, 1996, S. 370. Latours Akteur-Netzwerk-Theorie untersucht zwar andere Netzwerke, nämlich jene zwischen Technik/Natur und dem Sozialen, und er unterscheidet klar zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. „Dinge“ werden dabei als handelnde Akteure verstanden. Zusammen mit menschlichen Akteuren verschmelzen sie in netzwerkartigen Handlungszusammenhängen zu Aktanden. Latours Schlussfolgerungen sind deshalb für meine Untersuchung fruchtbar, weil sie Aussagen über Qualität und Eigenheiten eines Netzwerks beinhalten. 250 Protokoll des Dachverbandes vom 17. November 1909. Gosteliarchiv, SEF, A 6:1. 251 26. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1913, S. 11. 252 Pernthaler, Staatslehre, 1996, S. 128.

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die Vormundschaften und Beistandschaften sowie die Erziehungs- und Fürsorgeaufgaben. Durch die Delegation dieser Aufgaben an die Sittlichkeitsvereine erteilte der Staat ihnen die Befugnis zur Ausübung gewisser Zwangsmittel. Damit einher gingen aber politische Auseinandersetzungen, wieweit und unter welchen Bedingungen der privaten Fürsorge Zwangsmittel übertragen werden durften. Während die private Fürsorge umfangreiche Vollmachten beanspruchte, ist in der Politik in dieser Frage ein harter Aushandlungsprozess auszumachen. Auf diese Auseinandersetzungen werde ich am Beispiel der Privatheime noch ausführlich eingehen.253 In den folgenden zwei Kapiteln werde ich die Gründe für die Übertragung staatlicher Aufgaben und Kompetenzen an private Akteure sowie die mit der Delegation verbundenen Problematiken anhand der Heimerziehung detailliert aufzeigen. Es geht auch um die Frage nach der Funktion und Position der Privatheime im Versorgungssystem.

Der (fast) abwesende Staat in der Heimlandschaft So sehr in den Kantonen Bern, Basel-Stadt und Zürich die staatliche Institutionalisierung, Zentralisierung und Verrechtlichung der weiblichen Jugendfürsorge vorangetrieben wurden, so bescheiden blieb das Engagement des Staates in der praktischen Heimerziehung dieser Jugendlichen, obwohl die verschärften Gesetze nach mehr Heimen verlangten. Die meisten nach der Jahrhundertwende neu errichteten Heime waren private Gründungen.254 Um 1940, am Ende meines untersuchten Zeitraums, ist die Heimerziehung für weibliche Jugendliche in der deutschsprachigen Schweiz weiterhin überwiegend von privaten, mehrheitlich konfessionellen Heimen getragen. Der privaten, konfessionellen Heimerziehung kam im gesamten Untersuchungszeitraum folglich eine herausragende Bedeutung zu. So entstanden in der deutschsprachigen Schweiz in meinem Untersuchungszeitraum lediglich vier staatliche Heime spezifisch für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche, dafür über 40 Privatheime. Bei den Privat­heimen überwogen konfessionelle Heime. Interkonfessionelle Privatheime bildeten lediglich einen kleinen Teil in der Heimlandschaft. Insgesamt betrachtet dominierten Heime reformierter und freikirchlicher Richtung gegenüber katho­ lischen und interkonfessionellen. Die evangelische Sittlichkeitsbewegung war in dieser Heimlandschaft stark präsent. Die aus ihr hervorgegangenen oder ihr nahestehenden Heime bildeten neben den katholischen Erziehungsheimen, die insbesondere seit den 1910er Jahren entstanden, die größte Gruppe in der Heimlandschaft.255 253 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Der Sonderstatus der Privatheime). 254 Vgl. zur Heimlandschaft den Anhang. 255 Vgl. Anhang.

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Bis um 1940 entpuppten sich in der Deutschschweiz nur Bern und Zürich als aktiv in der Gründung staatlicher Heime für weibliche Jugendliche im nachschulpflichtigen Alter.256 Die Stadt Zürich errichtete 1912 das Mädchenheim Heimgarten bei Bülach. 1935 öffnete im Kanton Bern das Loryheim in Münsingen seine Pforten, errichtet durch den Kanton Bern. Im Kanton Basel-Stadt kam es hingegen trotz mehrma­ liger politischer Vorstöße nicht zur Gründung eines staatlichen Erziehungsheims für weibliche Jugendliche. Ein zunächst gutgeheißener Vorstoß des Basler Frauenvereins aus dem Jahr 1908 wurde schließlich aus finanziellen Gründen wieder fallen gelassen.257 Neben diesen beiden Heimgründungen kam es auch zur Übernahme privater Heime. So übernahm die Stadt Zürich 1929 den Tannenhof, der bis dahin ein Heim der Sittlichkeitskreise gewesen war.258 Weshalb delegierte die öffentliche Hand die Heimerziehung an Private und weshalb blieb ihr eigenes Engagement in der Errichtung und Betreibung staatlicher Heime so bescheiden oder gänzlich aus? Anhand einer politischen Debatte im Kanton Bern soll dieser Frage nachgegangen werden. Die Heimerziehung für weibliche Jugendliche als Politikum Der Gründung des staatlichen Mädchenheims Loryheim in Münsingen im Jahr 1935 ging eine zwanzig Jahre währende Debatte im Berner Grossrat voran, in der über Sinn und Unsinn der Errichtung eines staatlichen Heims für weibliche Jugendliche gestritten wurde. Auch in den Kantonen Zürich und Basel-Stadt wurde auf poli­ tischer Ebene über eine solche Gründung debattiert.259 Anhand der ausgesprochen 256 Vgl. auch die Heimliste aus dem Jahr 1943, die in der Deutschschweiz zwei (Heimgarten bei Bülach und Loryheim Münsingen), in der Westschweiz ein staatliches Heim (Les Majoresses, Lausanne) spezifisch für nachschulpflichtige Jugendliche bis zu 22 Jahren auflistet (Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. IV). 257 Vgl. Kap. 5.3. 258 Der Tannenhof war ursprünglich im Grundbuch auf die Schweizerische Kommission zur Bekämpfung der Unsittlichkeit eingetragen. Am 12. Dezember 1927 übernahm der Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit das Heim „aus finanziellen und anderen Gründen“. Seit 1917 wurde der Tannenhof mit einem jährlichen Beitrag von der Stadt Zürich mitfinanziert (vgl. Protokoll des Stadtrates von Zürich vom 29. Dezember 1928, S. 999). Am 1. Januar 1929 übernahm die Stadt Zürich das Heim, das fortan interkonfessionell geführt wurde. 259 In Zürich setzte die politische Debatte 1897 ein und endete 1912 mit der Gründung des Erziehungsheims Heimgarten. Die Einführung des kantonalen Strafgesetzbuches von 1897 sah die Errichtung einer „Korrektionsanstalt“ für Prostituierte vor. In Basel wurde die Debatte 1906 lanciert und dauerte über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Eine Eingabe des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit initiierte die Debatte. Daraufhin deklarierte die kantonale Polizei­direktion die Errichtung eines Erziehungsheims für nicht mehr schulpflichtige weibliche Jugendliche als „sehr wünschenswert“ (vgl. Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt

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gut dokumentierten Debatte im Kanton Bern werde ich im Folgenden die Argumente der politischen Befürworter und Gegner sowie die möglichen Gründe für das Hinaus­zögern einer Heimgründung thematisieren. Die Debatte im Berner Grossrat setzte 1915 ein, wurde in den 1920er Jahren intensiv geführt und endete 1935 mit der Eröffnung des Loryheim für „verwahrloste“ und „gefährdete“ schulentlassene junge Frauen zwischen 15 und 20 Jahren. Den Anstoß für die Debatte lieferten Berichte der Armendirektion sowie der Staatswirtschaftskommission, die ein solches Heim als „absolute Notwendigkeit“ bezeichneten und darauf hinwiesen, dass das 1912 in Kraft getretene Berner Armenpolizeigesetz die Errichtung einer solchen Anstalt erneut (wie bereits das Vorgängergesetz von 1884) vorschrieb.260 Als Folge des Gesetzes betreffend Errichtung kantonaler Arbeitsanstalten von 1884, das eine Trennung nach Alter und Geschlecht und die Errichtung entsprechender Anstalten vorschrieb, war zwar zunächst in der Strafanstalt Thorberg eine Abteilung für volljährige Frauen errichtet worden, ab 1896 diente statt Torberg Hindelbank, eine ehemalige „Armen- und Verpflegungsanstalt für Weiber“, als „Korrektionshaus“ für volljährige Frauen. Die im Gesetz geforderte Trennung nach Geschlecht war damit zwar vollzogen, nicht aber die Trennung nach Alter. In den folgenden Jahren trieben vier Motionen 261 von Mitgliedern des Grossen Rates in den Jahren 1921, 1923, 1928 und 1929 die Debatte im Grossen Rat voran, die vom Regierungsrat die Prüfung der Frage forderten, ob für die weibliche Jugend ein staat­ liches Heim errichtet werden solle.262 Die Befürworter eines staatlichen Heims stammten primär aus dem Lager der kurz nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten konservativen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), die Teil der neuen Rechten waren,263 sowie – insbesondere – der Sozialdemokratischen Partei. Die S­ ozialdemokraten und die BGB, ansonsten meist politische Gegenspieler, waren es denn auch, welche die vier Motionen einreichten: Drei stammten aus der Ecke der Sozialdemokraten, eine an Frau Pfarrer Zellweger, 21. Juni 1906. StABS, PA 882, C 3.1. Vgl. auch den Bericht des Polizeidepartements bezüglich der Eingabe des Frauenvereins: Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 14. März 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4). 260 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1915, S. 133. 261 Eine Motion ist ein gängiges Instrument in der Schweizer Politik. Sie ermöglicht es einem Parla­ mentsmitglied, von der Regierung eine Gesetzesänderung, die Ausarbeitung eines Beschlusses oder das Ergreifen einer Maßnahme zu verlangen. Stimmt das Parlament der Motion zu, ist der Auftrag für die Regierung verbindlich. 262 Die erste Motion wurde vom Sozialdemokraten Albert Hurni am 16. Mai 1921 eingereicht, die zweite vom Sozialdemokraten Karl Zingg am 14. Mai 1923, die dritte von Gottlieb Bühler der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei am 20. November 1928, die vierte Motion vom Sozialdemokraten Ludwig Schmid am 19. September 1929. 263 Vgl. zur BGB Junker, Geschichte, Bd. 3, 1996, S. 191; Jost, Avantgarde, 1992; Junker, Ende, 1996, S. 174 – 183.

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von der BGB. Die Gegner eines staatlichen Heims stammten primär aus dem Lager der Freisinnigen, die neben der BGB und der Sozialdemokratischen Partei zu den drei größten, den Grossen Rat dominierenden Parteien gehörten.264 Wichtiger Gegner der Heimerrichtung war auch der Regierungsrat, der bis 1938 ausschließlich aus Vertretern des Freisinns und der BGB zusammengesetzt war.265 Es waren letztlich die Sozialdemokraten, welche die Debatte in Gang hielten. Politiker der Sozialdemokratischen Partei reichten nicht nur die meisten Motionen ein, sie waren es auch, die in den Grossratsdebatten wiederholt nachhakten, die Motionen in Erinnerung riefen, den Regierungsrat zum Handeln aufforderten und auf die Umsetzung der als dringlich erklärten Motionen insistierten. Offenkundig bestand vonseiten der Sozialdemokraten das größte Interesse an der Gründung eines staatlichen Erziehungsheims. Alle vier im Berner Grossrat eingereichten Motionen wurden von einer Ratsmehrheit als dringlich erklärt. Aber erst nach der dritten Motion von 1928 wurde der Generalprokurator vom Regierungsrat beauftragt, einen Bericht über Finanzierbarkeit, Größe, Ausstattung und Organisation eines solchen Heims zu verfassen.266 Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade bei dieser Motion der Regierungsrat aktiv wurde. Mit ihr schaltete sich die BGB mit Nachdruck in die Debatte ein. Zwar hatten sich einige Politiker aus der BGB bereits vorher für die Errichtung dieses Heims ausgesprochen, mit der Motion erhöhte sie aber den Druck ihrerseits auf den Regierungsrat und trat mit einer neuen Geschlossenheit gemeinsam mit den Sozialdemokraten für die Errichtung eines Heims ein. Ferner war die BGB im Regierungsrat vertreten und konnte deshalb in den Regierungsratsdebatten Einfluss nehmen – im Gegensatz zu den Sozialdemokraten, die bis 1938 keinen Regierungsratssitz innehatten. Der entscheidende Streitpunkt in der zwanzig Jahre dauernden Debatte war nicht die Frage, ob Erziehungsheime für weibliche Jugendliche überhaupt nötig seien, denn in diesem Punkt waren sich alle Parteien einig. Auch die Heimerziehung als solche wurde nicht infrage gestellt. Entsprechend blieb das Votum eines Sozialdemokraten, der mit Verweis auf den Heimkritiker und ehemaligen „Heimzögling“ Carl Albert Loosli und seine seit den 1920er Jahren publizierte Kritik des Heimalltags eine 264 Die drei großen Parteien, der Freisinn, die BGB und die Sozialdemokratische Partei, hatten den weitaus größten Teil der Grossratssitze inne (vgl. Junker, Geschichte, Bd. 3, 1996, S. 190). In der Grossratsdebatte zur Errichtung eines Erziehungsheims für weibliche Jugendliche meldeten sich nur Vertreter dieser drei großen Parteien zu Wort. 265 Junker, Geschichte, Bd. 3, 1996, S. 191 – 193. 266 Bericht des Generalprokurators des Kantons Bern an die Polizeidirektion des Kantons Bern, betreffend Motion Bühler und Errichtung einer Mädchenerziehungsanstalt. Ohne Jahr. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 13:1.

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Grundsatzdiskussion über die Missstände in der Heimerziehung vom Zaun b­ rechen wollte, ohne jegliche Resonanz.267 Es wurde auch nicht über die Frage gestritten, welchen primären Zweck ein solches Erziehungsheim erfüllen sollte. Ein wichtiges Ziel bestand in der sittlich-moralischen Nacherziehung von „sittlich gestrauchelten“ oder „gefährdeten“ jungen Frauen. Die Frage, wer genau als „sittlich gefährdet“ oder „gefallen“ galt und ob diese jungen Frauen aufgrund ihres Verhaltens und ihrer Lebensweise einer sittlichen Nacherziehung bedurften, wurde in den langjährigen Debatten nie aufgeworfen. Während der Debatte wurde auch nicht infrage gestellt, dass eine Trennung der jungen Frauen von den Erwachsenen nötig sei. Es wurde immer wieder auf den Missstand hingewiesen, dass aus Mangel an geeigneten Heimplätzen junge Frauen in die Frauenstrafanstalt Hindelbank eingewiesen würden, wo sie dem „verderblichen Einfluss“ der erwachsenen „Verbrecherinnen“ und langjährigen „Dirnen“ ausgeliefert seien. Während vonseiten des Regierungsrates im Laufe der Debatten Änderungen in Hindelbank angestrebt wurden, um eine bessere Trennung nach Alter zu erreichen, pochten gerade die Sozialdemokraten, aber auch Einzelne aus der BGB auf die Errichtung eines separaten Heims. In Hindelbank sahen sie zu wenig Möglichkeiten, um eine Trennung tatsächlich wirkungsvoll durchzuführen. Zudem verwiesen diese Stimmen auf das Stigma, das den jungen Frauen nach einem Aufenthalt in der Strafanstalt anhafte. Die entscheidende Frage der langjährigen Debatten war, wer ein solches Erziehungsheim für weibliche Jugendliche führen sollte. Der Freisinn wollte die Heim­ erziehung weiterhin möglichst gänzlich der privaten Fürsorge überlassen und nur notfalls mit staatlicher finanzieller Unterstützung aufwarten oder eigene staatliche Anstalten errichten. Sein Motto lautete: „[N]’attendons pas toujours tout de l’Etat, on s’en trouve beaucoup mieux.“268 Aus der Ecke der BGB erklangen zahlreiche Stimmen, die eine staatliche Lösung propagierten, einige äußerten finanzielle Bedenken und bevorzugten eine private, staatlich mitfinanzierte Anstalt. Die Sozialdemokraten sprachen sich klar gegen ein staatlich mitfinanziertes Privatheim aus und bestanden auf einem staatlichen Heim. Es sei Pflicht und Aufgabe des Staates, auch für die Jugend zu sorgen und staatliche Heime zu errichten. Ganz im Sinne ihres staatsinterventionistischen Kurses setzten sie sich grundsätzlich für eine stärkere 267 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1927, S. 397 f. Es gab nur zwei Grossräte, die sich klar gegen diese Heime aussprachen. Neben dem erwähnten Grossrat und Sozialdemokraten Hermann Hulliger war dies der freisinnige Grossrat Fritz Zürcher. Beide sprachen sich grundsätzlich gegen Heimerziehung aus und plädierten stattdessen für die Familienerziehung. Zürcher kritisierte in seinen Ausführungen den Massenbetrieb in den Heimen. 268 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 395. Der Freisinn beteiligte sich grundsätzlich weniger an der Diskussion als die Sozialdemokraten und die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei.

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Verstaatlichung der Heimerziehung ein. Bereits 1893 forderte der Grütliverein die Übernahme sämtlicher „Straf- und Besserungsanstalten“ durch den Bund.269 Dass in der Sozialdemokratie zahlreiche Stimmen auf eine stärkere Verstaatlichung der privaten Erziehungsheime pochten, hing, wie bereits erwähnt, auch damit zusammen, dass die Träger der privaten Gemeinnützigkeit in ihren Augen Teil der Schicht der „kapitalistischen Ausbeuter“ war. Die Verfechter von wenig Staat vermochten die Gründung eines staatlichen Heims lange Zeit zu verhindern. Gerade der Regierungsrat suchte die Heimgründung herauszuzögern, indem er an der Notwendigkeit und Finanzierbarkeit einer solchen Gründung zweifelte und nur nach mehrmaligem Nachhacken einen Bericht zur Thematik in Auftrag gab. Selbst aus der Ecke des Freisinns kam schließlich der Verdacht auf, der Regierungsrat versuche, die Angelegenheit zu verschleppen.270 Zwei Punkte standen während der Grossratsdebatten im Vordergrund, weshalb die Errichtung eines staatlichen Heims herausgezögert wurde und die praktische Fürsorge weiterhin maßgeblich den Privaten überlassen wurde: erstens der finanzielle Aspekt, denn die Heimerziehung war (und ist) teuer. Ein Grossrat sah denn auch den Grund für die Verschiebetaktik bei den Finanzen.271 Der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und die damit verbundenen beschränkten Staatsfinanzen dürften diesen hemmenden Stimmen Vorschub geleistet haben. Die Nutzung von Privatheimen war für den Staat günstiger, als eigene staatliche Heime zu betreiben.272 So wurde auch im Kanton Zürich zur Umsetzung des Versorgungsgesetzes von 1925 gemäß Weisung des Regierungsrates auf verschiedene Privatanstalten zurückgegriffen,273 da diese Variante wesentlich günstiger als die Errichtung „lauter teure[r] Staatsanstalten“ sei.274 Noch 1950 betonte der Bundesrat in einem Subventionsbeschluss die hohe Wirtschaftlichkeit privater Anstalten.275 Denn die Privat­ heime waren finanziell durch bedeutende private Mittel gestützt. Für den Staat hingegen beschränkten sich die finanziellen Aufwendungen auf Kostgelder für die eingewiesenen „Zöglinge“ und allenfalls Subventionen oder einmalige Zuschüsse 269 Wullschleger, Strafrechtspflege, 1893, S. 86. 270 Vgl. Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1932, S. 355. 271 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1932, S. 355. 272 Auch der Ruf nach Errichtung von staatlichen „Korrektionshäusern“ wurde durch die Kostenfrage torpediert. Politische Ablehnung entsprechender Projekte beruhte nicht selten ausschlaggebend auf der Kostenfrage (vgl. Bossart, Freiheit, 1965, S. 12 f.). 273 Weisung des Regierungsrates vom 30. April 1919, S. 16. StAZH, III Cd6. 274 Referat von Dr. jur. H. Naegeli, Sekretär der Justizdirektion, Zürich. Das Zürcher Gesetz vom 24. Mai 1925 über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern. StAZH, P 402:17:262. 275 Vgl. Germann, SGG, 2010, S. 240. Ebenso hob er den familiäreren Charakter und die Flexibilität der Privatheime hervor.

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an die privaten Heime.276 Bei der Wahl des Einweisungsortes spielte die Höhe des Kostgeldes denn auch einen wesentlichen Faktor. Gerade für ärmere Gemeinden bedeutete die Heimversorgung einen großen finanziellen Aufwand. Bereits die Versorgungskosten für eine Person konnten die Gemeindekasse soweit belasten, dass Steuererhöhungen nötig wurden.277 Zweitens war da noch der bequeme Umstand, dass bereits zahlreiche Privatheime die Erziehung weiblicher Jugendlicher wahrnahmen. Das bestehende breite Netzwerk an Privatheimen ließ die Errichtung von staatlichen Heimen unattraktiv erscheinen, zumal die Behörden sich vielfach zufrieden mit den existierenden privaten Anstalten zeigten und zumal die Alternative bestand, Private zur Errichtung weiterer Heime ermuntern zu können. Während der Grossratsdebatten brachte denn auch der Regierungsrat wiederholt den Vorschlag ein, statt der Errichtung eines staatlichen Heims sich an einer privaten, gemeinnützigen Gründung zu beteiligen. 1932 schrieb Albert Wild, Zentralsekretär der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft: „Man überlässt es überhaupt in der Schweiz gern der Privatinitiative, allerhand Fürsorgewerke ins Leben zu rufen, subventioniert sie angemessen und übernimmt sie erst, wenn es nicht mehr anders geht“.278 Der Motionär der dritten Motion im Berner Grossrat, Gottlieb Bühler 279, vermutete denn auch als Ursache „dieser zögernden Haltung der Staatsbehörden“ die Stärke und Präsenz der privaten Fürsorge in der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher. Der Grund für das lange Herauszögern der Heimgründung liege „wohl in erster Linie darin, dass die private Fürsorge sich schon lange und in sehr weitgehendem Masse der gefähr­ deten weiblichen Jugend angenommen hat, und dass die freiwillige Liebestätigkeit gerade auf diesem Gebiet sehr viel geleistet hat und heute noch leistet“.280 In den Grossratsdebatten ist denn auch eine große Akzeptanz der bestehenden privaten Heime auszumachen.281 Die Privatheime wurden vonseiten des Freisinns sowie der BGB hoch gelobt. Sie seien sehr gut geführt und würden die Insassinnen wieder auf den „richtigen Weg“ führen.282 Lediglich die Sozialdemokraten äußerten keine lobenden Worte und schwiegen sich stattdessen über die Privatheime weitgehend 276 Zur Finanzierung der Privatheime vgl. Kap. 4.2. 277 Vgl. Hürlimann, Schule, 2007, S. 290. Werner Hürlimann zitiert darin einen Fall in der Gemeinde Bauma aus dem Jahr 1924. 278 Wild, Abriss, 1932, S. 41. 279 Gottlieb Bühler war Mitglied der BGB und Notar. 280 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 390. 281 Eine Ausnahme bildeten die bereits erwähnten zwei kritischen Äußerungen, die sich grundsätzlich gegen jegliche Heimerziehung stemmten, sowie kritische Bemerkungen zu den priva­ ten industriellen Heimen (Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 390). 282 Beispielsweise Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1923, S. 163; Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1917, S. 318; Tagblatt des Grossen Rates des Kantons

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aus. In den seltenen Fällen, in denen sie Privatheime erwähnten, äußerten sie sich weder ablehnend noch zustimmend – vielleicht aus taktischen Gründen, um die beiden bürgerlichen Parteien BGB und Freisinn als Verfechter der privaten Heime nicht zu brüskieren. Durch ihr breites Netzwerk an Heimen – so lässt sich schlussfolgern – behinderte und verhinderte die private Wohlfahrt den Ausbau der staatlichen Fürsorge mit und behielt durch die zögerliche Gründung staatlicher Heime ihre zentrale Rolle in diesem Bereich der Fürsorge bei. Die Abhängigkeit der Behörden von den Privatheimen blieb in einem hohen Grad erhalten.283 Diese beiden zentralen Punkte, die Finanzen und das breite Netz privater Akteure, waren auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass im Kanton Basel-Stadt kein staatliches Erziehungsheim gegründet wurde. Die Finanzen spielten eine wichtige Rolle, wie der erwähnte Entscheid gegen die Errichtung eines staatlichen Heims im Jahr 1911 zeigt,284 gestützt durch den Umstand, dass ein traditionell ausgesprochen wohltätig engagiertes Bürgertum sich in der Heimerziehung betätigte. Staatliche Lückenfüller „… wo keine Privatanstalten sich vorfinden“ Nun stellt sich natürlich die Frage, wann der Staat schließlich doch zu einer Heimgründung schritt. Ein Bericht aus dem Jahr 1943, der sämtliche „Nacherziehungs-, Zwangsarbeits- und Verwahrungsanstalten für die Unterbringung von weiblichen Zöglingen vom 18. Lebensjahr an“ auflistet,285 gibt Hinweise darauf, unter welchen Umständen sich der Staat als Heimgründer oder -betreiber betätigte. Während nämlich gemäß dieser Auflistung die offenen und halboffenen Heime, die eine „leichter erziehbare“, meist jüngere Klientel aufnahmen, vorwiegend als Privatheime geführt wurden, waren die geschlossenen Anstalten, die für eine „gefährlichere“, „­ schwerer erziehbare“ und oft ältere Klientel konzipiert waren, mit wenigen Ausnahmen vom Staat betrieben.286 Wie der Jurist Theodor Kady 1939 ausführte, bedeutete das BetreiBern, 1923, S. 164. Der Sulgenhof des Berner Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit fand mehrfach wohlwollende Worte. 283 Noch 1954 galt bezeichnenderweise das private Erziehungsheim Sulgenhof im Kanton Bern als „unentbehrlich“ (vgl. Vortrag des Gemeinderates an den Stadtrat betreffend die Gewährung eines Darlehens und den Verkauf einer Gemeindeparzelle für den Neubau des Alyls „Heimgarten“ und des Töchterheims „Lindenheim“ an der Muristrasse Nrn. 27 und 29. 16. Dezember 1954. StABE. 200751, Heimgarten, Baudossier). 284 Vgl. Kap. 5.3. 285 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943. 286 Die offenen Heime waren für „leicht Lenkbare und nicht Fluchtgefährliche“ konzipiert, die halboffenen für „schwerer Erziehbare und der Aufsicht Bedürftige“, die geschlossenen für „Fluchtgefährliche“ sowie Klosterbetriebe (vgl. Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIX).

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ben einer Anstalt für „besonders verdorbene oder gefährliche Jugendliche“ eine große finanzielle Belastung, die nur der Staat aufbringen könne.287 Zudem schreckten die Privaten vor dieser spezifischen Klientel zurück, wie die Zürcher Debatten zwischen Politikern und Vereinen im Vorfeld der Errichtung eines neuen städtischen Heims, dem Mädchenheim Heimgarten, zeigen. Die zu Beginn noch als private Gründung geplante Zürcher Anstalt sollte, so erwies sich während eines Gesprächs im Jahr 1909, den Charakter einer „Korrektionsanstalt“ für besonders „schwererziehbare“ junge Frauen erhalten.288 Die privaten Kreise scheuten sich jedoch vor dieser Klientel, weil die Erfahrung in ihren Heimen sie gelehrt habe, dass „Personen, die sich einer unsittlichen Lebensführung ergeben haben und dabei geschlechtskrank geworden sind“, sowie solche, „die zwar noch gesund sind, aber einstweilen keinerlei Einsicht in die Verwerflichkeit ihres Wandels bekunden, geschweige denn guten Willen zur Umkehr zeigen“, kaum mehr „erziehbar“ seien.289 Es sei bei diesen zwei Gruppen von Frauen „fast unmöglich“, „zweckentsprechende Fürsorge teils zur meist sehr langwierigen Heilung ihrer Krankheit, teils zu ihrer sittlichen Hebung und Besserung eintreten zu lassen“.290 Die meisten Privatheime waren entsprechend für Geschlechtskranke sowie für die „schwer lenkbaren weiblichen Personen“ verschlossen, indem sie diese entweder gar nicht aufnahmen oder nach kurzer Zeit wieder auswiesen.291 Diese Frauen wurden stattdessen – als Notlösung quasi – auf ihren Geisteszustand hin untersucht, „und nachdem moralischer Schwachsinn festgestellt worden war, einstweilen in der Anstalt Rheinau untergebracht […], obwohl sie ihrer ganzen übrigen geistigen Veranlagung nach keineswegs unter die Schar der Geisteskranken im gewöhnlichen Sinne gehören“.292 Um hier Abhilfe zu schaffen, musste die Stadt Zürich deshalb schließlich selbst ein Heim errichten.293 Der Staat sprang also dort in die Bresche, wo private Anbieter fehlten. Neben dem Heimgarten im Kanton Zürich war auch das Loryheim im Kanton Bern als Lückenfüller konzipiert. Die Gründung des Loryheim erfolgte mit Blick auf jene Klientel, die „nach den Bestimmungen der meisten privaten Anstalten wegen zu grosser 287 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 70. 288 Wer diese Ausrichtung propagierte, wird aus dem Quellenmaterial nicht klar. Das detaillierte Sitzungsprotokoll ist nicht erhalten. Dem Geschäftsbericht des Stadtrates ist jedoch zu entnehmen, dass „die vorwiegende Meinung eher dahinging“, das geplante Heim solle den Charakter einer „Korrektionsanstalt“ aufweisen (Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 308). Demnach scheint eine Mehrheit der Anwesenden – Vertreter der Privatwohlfahrt wie der städtischen Behörden – für diese Ausrichtung plädiert zu haben. 289 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 308. 290 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 308. 291 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 308 f. 292 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 309. 293 Geschäftsbericht des Stadtrates der Stadt Zürich, 1909, S. 309.

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Verdorbenheit nicht aufgenommen werden“.294 In den Berner Grossratsdebatten, die der Gründung vorangingen, wurden als Klientel wiederholt die Delinquentinnen und Verbrecherinnen genannt. Verschiedene Frauenvereine hatten im Vorfeld betont, es sei „eine dringende und unabweisbare Pflicht des Staates“, endlich eine „Erziehungsanstalt für gerichtlich verurteilte oder sonst schwer gefährdete schulentlassene Mädchen“ zu errichten.295 Sowohl das Loryheim als auch der Heimgarten wurden in der Praxis zu Anstalten für „Schwererziehbare“. Der Jurist Robert Lengweiler schrieb 1895 in seiner Dissertation zur Zwangserziehung für Jugendliche, dass private und staatliche Heime „in der Weise ergänzend zusammenwirken, dass da, wo keine Privatanstalten sich vorfinden, der Staat durch Gründung zweckentsprechender Anstalten hilft; letzteres wird auch dann besonders von Bedeutung sein, wenn eine der Zwangserziehung zu unterstellende Person aus bestimmten Gründen in einer Anstalt des Staates untergebracht werden soll (namentlich Verbrecher und ganz verkommene Kinder) oder in einer privaten Anstalt keine Aufnahme findet. So weigern sich Privatanstalten häufig, jugend­ liche Delinquenten, und besonders bös geartete Kinder aufzunehmen, um nicht hieraus eine Gefahr für die übrigen Zöglinge erwachsen zu sehen […].“296 Deshalb gebe es das Bedürfnis einer gewissen Zahl von „Staatsanstalten“ für „gewisse Kreise jugendlicher Personen“.297 Neben eigenen staatlichen Gründungen kam es auch vor, dass Privatheime, die finanzielle Probleme hatten, vom Staat übernommen wurden, wie dies im Fall des Tannenhofes (wenn auch gegen den Willen der Besitzer) geschah.298 Um hier noch einmal die Aussage von Albert Wild aus dem Jahr 1932 zu bemühen, die diesen 294 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 391. 295 Bei Anlass der Einstimmig der Tagung der Berner Frauen zu Stadt und Land am 20. Februar 1931 einstimmig angenommene Resolution betreffend Errichtung einer staatlichen Erziehungsanstalt für schulentlassene Mädchen. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 26:3. 296 Lengweiler, Zwangserziehung, 1895, S. 25 f. 297 Lengweiler, Zwangserziehung, 1895, S. 26. 298 Die finanzielle Lage verunmöglichte es dem Männerverein, einen dringend anstehenden Umund Neubau des Tannenhofs ohne Hilfe der Stadt zu finanzieren. Die zuständigen Behörden unter Federführung des Sozialdemokraten, Zürcher Stadtrats und Vorstehers des Vormundschafts- und Armenwesens Jakob Gschwend verweigerten jedoch die Finanzspritze – weshalb, bleibt unklar – und forderte stattdessen die Abtretung des Heims an die Stadt. Dem Männerverein waren finanziell die Hände gebunden und ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf einzugehen (vgl. Protokoll des Stadtrates von Zürich vom 29. Dezember 1928, S. 999; Protokoll der Sitzung der Finanzkommission vom 21. April 1928. StAZH, W I 56:2; Protokoll der Sitzung der Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl vom 1. Juni 1928. StAZH, W I 56:2; Protokoll der Sitzung der Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl vom 29. Juni 1928. StAZH, W I 56:2).

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Umstand erwähnt: „Man überlässt es überhaupt in der Schweiz gern der Privat­ initiative, allerhand Fürsorgewerke ins Leben zu rufen, subventioniert sie angemessen und übernimmt sie erst, wenn es nicht mehr anders geht […].“299 Gender in der Heimlandschaft Der Staat wurde früher und weit intensiver aktiv in der Heimerziehung für männ­liche als für weibliche Jugendliche. Seit den 1880er Jahren entstanden in verschiedenen Kantonen eigene geschlossene, staatliche Zwangserziehungsanstalten für die männliche Jugend.300 Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden der Mangel an Korrektionsanstalten für „Taugenichtse und jugendliche Rechtsbrecher“ thematisiert und die Gründung einer staatlichen Zwangserziehungsanstalt anvisiert.301 Die Debatte um die Errichtung von Zwangserziehungsanstalten für jugendliche Delinquenten zielte dabei auf die männliche Jugend; eine Fokussierung, welche die Schweizer Debatte zur Zwangserziehung lange prägen sollte.302 Eine geschlossene Zwangserziehungsanstalt spezifisch für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche wurde im untersuchten Zeitraum in der Schweiz dagegen weder vonseiten des Staates noch von privater Seite errichtet. So waren denn auch die staatlichen Heime Loryheim und Heimgarten trotz ihrer „schwererziehbaren“ Klientel offene bzw. halb offene, jedoch nicht geschlossene Anstalten. Der Bedarf an einer eigenen geschlossenen Anstalt für weibliche Jugendliche wurde als zu gering eingeschätzt, weil der Anteil der Mädchen unter den „Schwererziehbaren“ klein sei.303 Zudem gab es Stimmen, die der Erziehung von delinquenten männlichen Jugendlichen größere Erfolgschancen zusprachen als jener von Delinquentinnen.304 Der Generalprokurator des Kantons Bern sah den Grund für die schwierigere Handhabung von jungen Frauen als von jungen Männern in der angeblich aufwühlenderen Pubertät, in der die Mädchen „grossen Störungen, physischen und psychischen Verwirrungen unterworfen sind, die sich bis

299 Wild, Abriss, 1932, S. 41. 300 1881 kantonale Korrektionsanstalt Ringwil, 1892 Zwangserziehungsanstalt Trachselwald, 1893 Zwangserziehungsanstalt Aarburg, 1926 Arbeitserziehungsanstalt Uitikon für männliche Jugendliche (vormalige Korrektionsanstalt für volljährige Personen). 301 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 57; Knabenhans, Erziehungs- und Besserungsanstalten, 1912, S. 192. Auch das Projekt einer interkantonalen „Verwahrungsanstalt“ für männliche Jugendliche wurde viel diskutiert, trotz wiederholter Bemühungen kam es aber nie zu einer solchen Gründung (vgl. zu diesem Projekt Germann, Verbrechensbekämpfung, 2007). 302 Germann, Humanität, 2010, S. 229. 303 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 88 f. 304 Vgl. Mahood, Ärger, 1999, S. 154; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 146; Germann, Humanität, 2010, S. 228.

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zum Irrsinn steigern können“.305 Diese „schwererziehbaren“ weiblichen Jugendlichen kamen aus Mangel an einer eigenen geschlossenen „Zwangserziehungsanstalt“ in die offenen oder halb offenen Erziehungsanstalten für weibliche Jugendliche, in die Strafanstalt oder in „Zwangserziehungsanstalten“ für Erwachsene.306 Einen wichtigen Grund, warum der Staat in der Heimerziehung für männliche Jugendliche früher aktiv wurde als in jener für die weibliche Jugend, vermute ich im Umstand, dass sich kaum private Vereinigungen in diesem Feld betätigten. Vor der Jahrhundertwende wurden lediglich drei private Anstalten für männliche Jugendliche gegründet,307 demgegenüber standen 22 Erziehungsanstalten für weibliche Jugendliche.308 Erst nach der Jahrhundertwende wurden vermehrt Heime für männliche Jugendliche im nachschulpflichtigen Alter eröffnet.309 Insgesamt überwogen aber im gesamten hier untersuchten Zeitraum in der deutschsprachigen Schweiz die Heimplätze für die weibliche Jugend gegenüber jenen für die männliche Jugend deutlich (im Gegensatz zu den Heimen für vorschul- und schulpflichtige Kinder, wo die Verhältnisse gerade umgekehrt waren).310 Zwei Drittel bis drei Viertel der meist privaten Heimplätze waren für die weibliche Jugend reserviert.311 Während der residual tätige 305 Bericht des Generalprokurators des Kantons Bern an die Polizeidirektion des Kantons Bern, betreffend Motion Bühler und Errichtung einer Mädchenerziehungsanstalt. Ohne Jahr. S. 3. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 13:1. 306 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 89; Knabenhans, Erziehungs- und Besserungsanstalten, 1912, S. 192. 307 Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 30 f. Zudem entstanden zwei gemischtgeschlechtliche Anstalten. 308 Vgl. Anhang. 309 Dasselbe Phänomen ist auch in Deutschland zu beobachten, wo etwas früher als in der Schweiz, seit den 1890er Jahren, Anstalten für männliche Jugendliche in nennenswertem Umfang gegründet wurden. Aber auch noch um 1900 überwogen Anstalten für weibliche Jugendliche bei Weitem (vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 48f. und Tabelle 2 im Anhang). 310 Im 19. Jahrhundert waren rund zwei Drittel der Heimplätze für Knaben, um 1930 waren es rund drei Fünftel (Hochuli Freund, Heimerziehung, 1999, S. 30 und 34). Carl Knabenhans erklärte 1912 das geringere „Bedürfnis zur Gründung von Mädchenanstalten“ für Schulpflichtige damit, „dass es den Versorgern weniger Mühe machte, die verwahrlosten Mädchen in geeigneten Familien unterzubringen und dass überhaupt die Verwahrlosung der Mädchen sich nicht in dem Grade zeigte wie die der Knaben“ (Knabenhans, Erziehungs- und Besserungsanstalten, 1912, S. 101). Auch Alfred Siegfried, Leiter des Hilfswerks Kinder der Landstraße, betonte wiederholt, dass die Unterbringung von Mädchen in Pflegefamilien leichter sei als jene von Knaben (vgl. Galle, Bekämpfung, Voraussichtliches Erscheinungsjahr: 2014). Die Mädchen wurden als fleißiger und angepasster wahrgenommen als die Knaben und waren deshalb bei Pflege- und Kostfamilien beliebter. 311 Im 19. Jahrhundert waren es 77 % (Hochuli, Heimerziehung, 1999, S. 31), 1930 knapp zwei Drittel der totalen Anzahl an Heimplätzen für Jugendliche (Hochuli, Heimerziehung, 1999, S. 34 f.). Dieses Verhältnis kippte im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich. In den von

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Staat ob der Fülle an privatem Engagement im Bereich der weiblichen Heimerziehung kaum selbst eingreifen musste, um den herrschenden Grundsatz „Erziehung statt Strafe“ und die Trennung nach Altersgruppen in separaten Heimen umsetzen zu können, musste er dies in der Heimfürsorge für männliche Jugendliche mangels privater Alternativen hingegen schon. Die zögerliche und nur teilweise Verstaatlichung der Heimerziehung ist bezeichnend für die Geschichte des schweizerischen Sozialstaates. Das Modell eines residualen Sozialstaates, der in kompensatorischer Weise dort aktiv wird, wo die private Wohlfahrt nicht ausreicht, war von nachhaltigem Einfluss auf die schweizerische Sozialstaatsgeschichte. Wir haben es in diesem Bereich der sozialen Fürsorge mit einem ausgeprägten private-public mix zu tun, einer mixed economy of welfare, in der die private Wohltätigkeit weiterhin stark blieb und mit staatlichen Institutionen des entstehenden Sozialstaates eng zusammenarbeitete. Das Prinzip des „delegierten Sozialstaatssystems“312, in dem der Staat sozialstaatliche Aufgaben an die Privaten delegiert, ist in der Heimerziehung deutlich erkennbar. Die im 19. Jahrhundert für Kinder und Jugendliche geschaffenen Anstalten übernahmen zunehmend staatliche Aufgaben im Bereich des Straf- und Maßnahmenvollzugs und wurden Bestandteil des staatlichen Strafsystems.313

Der Sonderstatus der Privatheime In diesem Kapitel gehe ich auf die Stellung der Privatheime ein, die diese innerhalb des Versorgungssystems einnahmen. Ich möchte aufzeigen, dass und aus welchen Gründen sie eine Art Sonderstatus gegenüber den staatlichen Institutionen innehatten, der sich in einem diffusen gesetzlichen Graubereich bewegte und auf vier Eigenheiten aufbaute: minimale Regulierung, gewährter Spielraum, erzwungene Freiwilligkeit und informelle Vereinbarungen.

Hochuli untersuchten Stichjahren 1979 und 1994 gab es fast doppelt so viele Heimplätze für männliche wie für weibliche Jugendliche im nachschulpflichtigen Alter (Hochuli, Heim­ erziehung, 1999, S. 37 und 39). 312 Leimgruber, Umbruch, 2009. 313 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 320; Germann, Humanität, 2010, S. 230. Mit dem eidgenössischen Strafgesetzbuch von 1942 setzte sich das bereits vorher existierende „Modell staatlich-privater Kooperation“ der vertraglich geregelten und finanziell entschädigten Verwendung privater Heime für den Jugendstrafvollzug schließlich definitiv durch (vgl. Germann, Humanität, 2010, S. 230).

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Minimale Regulierung Netzwerke, wie das private Fürsorgenetz, dem die Institutionen der Sittlichkeitsvereine angehörten, können gemäß der social network analysis „unbehelligt in quasi-­ autonomen Räumen, in Grauzonen und ‚Löchern‘ im System“ agieren, oder sie unterliegen „der Instrumentalisierung und der regulierenden Intervention seitens des Bürokraten“.314 Dies sind die zwei Enden auf einer Skala. Die Position der privaten Erziehungsheime in diesem Spektrum war, durch politische Kontroversen begleitet, Bewegungen unterworfen. Im Untersuchungszeitraum ist auf der Ebene der Gesetzgebung eine allmähliche Verschiebung in Richtung des regulierten Pols auszumachen. Die Privatheime wurden stärker in die Zielsetzungen der staatlichen Fürsorge eingebunden, verschärften Bewilligungspflichten unterworfen und durch Verordnungen sowie Gesetze einer vermehrten staatlichen Aufsicht unterstellt. In der Praxis blieb die Regulierung der Privatheime trotz Kritik und Kontroversen jedoch stärker in der Nähe des autonomen Pols. Mit dem steigenden Zugriff des im Entstehen begriffenen Sozialstaates auf norm­ abweichende Personen stieg auch der Bedarf an entsprechenden Anstalten. Der Staat war zunehmend auf die Privatheime angewiesen, waren doch trotz gesetzlichen Auftrags zu wenig staatliche Anstalten vorhanden. Gleichzeitig ist eine Debatte auszumachen, wie autonom oder wie beaufsichtigt und in ihrer Ausrichtung reglementiert die Privatheime sein sollten. Diese Debatten und Aushandlungsprozesse fanden sowohl auf politischer Ebene als auch zwischen Betreibern von Privatheimen und den politischen Entscheidungsträgern und Behördenstellen statt. Der Ansatz der möglichst geringen Regulierung wurde immer wieder kritisiert und auf politischer Ebene durch neue Gesetze abzuschwächen versucht. Die langjährigen und ausgesprochen gut dokumentierten Debatten im Kanton Zürich legen die gegenläufigen Diskurse deutlich offen. Die Zürcher Aushandlungen stehen hier deshalb im Zentrum, untermauert mit zusätzlichem Material aus den Kantonen Basel-Stadt und Bern, wo die stärkere Beaufsichtigung der Privatanstalten durch den Staat und deren Maß an Autonomie und Vollmacht ebenfalls ein politisches Thema waren und entsprechend auch dort neue gesetzliche Regelungen eingeführt wurden. Die Debatte steht im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen zwischen Repräsentanten des Staates und der privaten Fürsorge sowie wissenschaftlichen Experten um Zuständigkeiten, Verantwortungen und Aufgaben des privaten und des staatlichen Sektors, wie sie in zahlreichen europäischen Ländern, so auch in der Schweiz, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stattfanden. Unter anderem wurde die Frage nach dem Ausmaß an Vollmacht und Autorität der beiden Sektoren virulent, wobei der Staat aber letztlich die Regeln festlegte. Auch die Frage, welche Amtsgewalt öffentlichen Repräsentanten zugestanden werden sollte, 314 Vgl. Boyer, Ausblick, 2008, S. 221.

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um private Organisationen und Institutionen zu regulieren, zu beaufsichtigen und zu überwachen, wurde debattiert.315 Zumindest bis in die 1930er Jahre tauchten in den internationalen Debatten keine klaren Antworten auf. Die Beziehung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor blieb kontrovers, die Grenzziehung umstritten und entsprechenden Veränderungen unterworfen.316 Diese international debattierten Fragen bildeten auch das Fundament der im Kanton Zürich geführten Diskussionen. Umrisse einer Debatte zur Beaufsichtigung der Privatheime Kurz vor der Jahrhundertwende setzte im Kanton Zürich eine von Behörden, Politikern und extern beauftragten Gutachtern geführte Debatte ein, welche die gesetzliche Regulierung und staatliche Kontrolle der privaten Anstalten zum Thema hatte. Diese Debatte, die schleppend und mit wenigen konkreten Folgen für die Praxis verlief, drehte sich um die Frage, ob oder unter welchen Bedingungen Private das Recht haben sollten, Heime zu führen, in denen Freiheitsbeschränkung und Zwangsmittel zur Anwendung kamen, und wenn ja, wie stark der Staat diese Privatanstalten beaufsichtigen sollte. Dabei werden zwei gegenläufige Diskurse sichtbar. Der eine erachtete die durch Private ausgeübten, in die persönlichen Rechte eingreifenden Maßregeln als problematisch. Die Vollmacht, die seit den 1830er Jahren verfassungsmäßig garantierten individuellen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken, sollte gemäß dieser Ansicht allein bei staatlichen Heimen liegen oder dann sollten die Privatheime zumindest einer umfassenderen staatlichen Kontrolle unterstellt werden. Der andere Diskurs versuchte stärkere staatliche Kontrollen und Regulierungen zu verhindern, die als hemmend für die private Wohlfahrt wahrgenommen wurden. Er plädierte stattdessen dafür, den grundsätzlich als vertrauenswürdig erachteten Privatanstalten möglichst viel Gestaltungsspielraum zu gewähren und sah eine gewisse Beschränkung der Freiheit und Anwendung von Zwang schon der Hausordnung wegen als unerlässlich an. Anstoß der Debatte – missliche Zustände in der Anstalt Pfrundweid Wesentlich vorangetrieben wurde die Zürcher Debatte durch die aufgedeckten Missstände in der Pfrundweid, einer privaten Anstalt für weibliche „Irre“ und „Korrek­ tionsbedürftige“ in Wetzikon im Kanton Zürich.317 1886 trafen bei den Behörden zwei Beschwerden über die Anstalt ein.318 Eine der beiden beklagte, dass dort die Insassinnen, 315 Katz, Introduction, 1996, S. 11 f. 316 Katz, Introduction, 1996, S. 12. 317 Die Pfrundweid wurde auch als Pfrundweid-Wetzikon, Walder’sche Anstalt in der Pfrundweid Wetzikon oder Pfrundweid-Anstalt Walder bezeichnet. 318 Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, 2. Oktober 1886, Nr. 1722. St AZH, MM 2.254.

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meist Prostituierte, „gefangen gehalten“ würden.319 Diese zwei Beschwerden hatten zur Folge, dass der Besitzer der Pfrundweid über Zweck, Erziehungsmittel und Einrichtung der Anstalt befragt wurde.320 Ein besonderer Fokus der Befragung lag darauf, welche Disziplinarmittel Anwendung fanden. Die Anstalt wurde ferner von zwei Untersuchungskommissionen aufgesucht.321 Die daraus entstandenen Berichte erzählen von permanent abgeschlossenen Türen, vom Einsperren im Waschraum und von Haftzimmern, in denen nur durch einen Dachziegel aus Glas Licht einzudringen vermochte. Der Zürcher Regierungsrat beschloss daraufhin, den Empfehlungen der beiden Kommissionen zu folgen und die Aufsicht über die Pfrundweid zu verstärken:322 Das Statthalteramt Hinwil musste in der Folge jedes Vierteljahr eine Inspektion vornehmen oder veranlassen sowie der Direktion der Justiz & Polizei Bericht erstatten. Ferner musste neben dieser polizeilichen jeweils auch eine vom Sanitätsdepartement veranlasste „sanitarische“ (gesundheitspolizeiliche) Untersuchung stattfinden.323 Vor diesem regierungsrätlichen Beschluss hatte die Pfrundweid bereits unter der Kontrolle von Bezirksärzten gestanden, wie es die kantonalen gesundheitsgesetzlichen Bestimmungen vorsahen. So bestimmte das seuchenpolizeilich motivierte Gesetz betreffend die öffentliche Gesundheitspflege und die Lebensmittelpolizei vom 10. Dezember 1876, dass sämtliche „Privatanstalten“ des Kantons Zürich als potenzielle Seuchenherde unter der „sanitarischen“ Kontrolle durch die Bezirksärzte zu stehen hatten.324 Die Bezirksärzte besuchten jährlich verschiedene Privatanstalten und untersuchten diese bezüglich Lüftung der Räume, Qualität des Trinkwassers, Beleuchtung, Zustand der Badezimmer und der Schlafzimmer, Sauberkeit der Kleidung und Wäsche sowie Ernährung und Behandlung der „Zöglinge“.325 Wichtig waren vor allem die hygienischen Zustände, die mit der aufkommenden 319 Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, 2. Oktober 1886, Nr. 1722. StAZH, MM 2.254. 320 Vgl. Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, 18. September 1886, Nr. 1655. StAZH, MM 2.253. 321 Zu den Ergebnissen der beiden Untersuchungen vgl. Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, 2. Oktober 1886, Nr. 1722. StAZH, MM 2.254. 322 Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, 2. Oktober 1886, Nr. 1722. StAZH, MM 2.254. 323 Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, 2. Oktober 1886, Nr. 1722. StAZH, MM 2.254. 324 An die Tit. Direktion der Justiz & Polizei, Zürich den 30. Juli 1901. StAZH, P 302:2:1. Die §§ 2e und 2l des Gesetzes betreffend die öffentliche Gesundheitspflege und die Lebensmittelpolizei regelten die Aufsicht über die Privatheime. Die Verordnung betreffend die örtlichen Gesundheitsbehörden vom 24. Februar 1877 regelte die Kompetenzen der Gesundheitsbehörden. 325 Vgl. die Geschäftsberichte des Regierungsrates des Kantons Zürich, in denen die Bezirksärzte Rechenschaft über ihre Tätigkeit und die von ihnen besuchten Anstalten ablegen mussten.

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Hygienebewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend ins Blickfeld rückten und die als Ursachen für Seuchen, wie Cholera und Typhus, erkannt wurden. Die zuständige Gesundheitsbehörde musste Anstalten vor deren Bezug für bewohnbar erklären und die Zahl der Bewohner durfte nicht die vom Regierungsrat festgelegte Höchstgrenze übersteigen.326 Es konnte jedoch sein, dass eine Privatanstalt über Jahre hinweg kein einziges Mal von der zuständigen Behörde besucht wurde. Das Mädchenheim Pilgerbrunnen des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit etwa wurde seit seiner Gründung 1889 bis 1912, also über zwanzig Jahre lang, nie kontrolliert. Erst 1914 taucht das Heim in den Rechenschaftsberichten des Regierungsrates des Kantons Zürich erstmals in den Listen der vom Bezirks­arzt „sanitarisch“ kontrollierten Anstalten auf.327 Die betreffende Verordnung ließ denn auch die Häufigkeit von Kontrollbesuchen in Anstalten offen und eröffnete der zuständigen Gesundheitsbehörde einen gewaltigen Spielraum in der Umsetzung. Sie hielt lediglich fest, dass „[j]e nach Bedürfnis […] die Nachschau in öftern, unregelmässigen Fristen, sowie in verschiedener Reihenfolge der Lokale und ihrer Inhaber unangemeldet“ stattzufinden hatte.328 Zusätzlich zu dieser „sanitarischen“ Kontrolle von Privatheimen, die auch in anderen Kantonen sowie auf eidgenössischer Ebene zur Bekämpfung von Seuchen festgeschrieben war, gab es andere Instanzen, die von Gesetzes wegen eine (teils wenig konkret formulierte) Aufsicht über Privatheime ausüben mussten. Diese Aufsichtspflichten waren in unterschiedlichen rechtlichen Erlassen geregelt. Es gab eidgenös­ sische Bestimmungen sowie kantonale Gesetze und Verordnungen, wobei die meisten Bestimmungen erst nach der Jahrhundertwende eingeführt wurden. Aufgrund der Vielzahl an Erlassen und der kantonalen Unterschiede können hier die Bestimmungen nur angetönt und nicht abschliessend aufgeführt werden.329 Beispielsweise regelten Armengesetze solche Aufsichtspflichten. Im Kanton Zürich war der Bezirksrat, der die Armenpflege des Bezirks bildete, verpflichtet, „periodische oder nöthigenfalls auch ausserordentliche Untersuchungen […] über die Versorgung der Armen […] und über den Zustand allfällig vorhandener Armenanstalten oder sonst den Zweck

326 Verordnung betreffend die örtlichen Gesundheitsbehörden vom 24. Februar 1877. § 13. 327 Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1914, S. 333. 328 Verordnung betreffend die örtlichen Gesundheitsbehörden vom 24. Februar 1877, § 22. Wo Verstöße gegen die Vorgaben registriert wurden, musste die Kontrolle häufiger durchgeführt werden. Ebenso waren die privaten „Kranken-, Irren- und Kinderanstalten“ (zu denen also auch die Pfrundweid, nicht aber der Pilgerbrunnen gehörte) durch „regelmässige Beaufsichtigung zu sichern“, sofern kein eigenes staatliches Aufsichtsorgan vorhanden war (§ 18). Was genau mit „regelmässig“ gemeint war, blieb aber auch in diesem Fall offen. 329 Zur Aufsicht von Privatheimen im Kanton Luzern vgl. Akermann, Bericht, 2012; zum Kanton Thurgau vgl. Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt.

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des Armenwesens gewidmeter Lokalitäten“ vorzunehmen.330 Anstalten, die wie die Pfrundweid der Armenpflege zur Versorgung dienten, unterstanden demnach deren Aufsicht. Ferner enthielten Verordnungen und Gesetze über die seit den 1910er Jahren entstehenden städtischen und kantonalen Jugendämter solche Bestimmungen.331 Teilweise war die Aufsicht von Privatheimen in Verordnungen über die Pflegekinderaufsicht,332 über Schlaf- und Kostgänger,333 oder über die Einrichtung von Jugendschutzkommissionen geregelt.334 Zudem regelten Schulgesetze und -verordnungen die Aufsicht über heiminterne Privatschulen für schulpflichtige Kinder.335 Das 1942 in Kraft getretene eidgenössische Strafgesetzbuch, das die Organisation des Strafund Maßnahmenvollzugs regelte, legte die Aufsicht all jener Privatheime, die für den Vollzug von erzieherischen und sichernden Massnahmen bestimmt waren, auf gesamtschweizerischer Ebene fest.336 330 Vgl. Gesetz betreffend das Armenwesen vom 28. Brachmonat 1853, § 5. Vgl. zur in den Armengesetzen festgelegten Aufsichtspflicht im Kanton Bern Leuenberger, Behörde, 2011, S. 56 – 58. 331 Beispielsweise Verordnung über das Jugendamt des Kantons Zürich vom 10. Februar 1919, § 3, und § 12; Gesetz über die Jugendrechtspflege des Kantons Bern vom 11. Mai 1930 § 5, Ziffer 3; Gesetz über die Vormundschaftsbehörde und den behördlichen Jugendschutz des Kantons Baselstadt vom 13. April 1944, § 1, Art. 4. 332 Z. B. in den Kantonen Luzern oder Thurgau. Vgl. für den Kanton Luzern Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern vom 15. September 1949; für den Kanton Thurgau Verordnung des Regierungsrates betr. Aufsicht über die Pflegekinder, vom 26. 3. 46. 333 Beispielsweise im Kanton Basel-Stadt. Vgl. Verordnung über das Halten von Schlaf- und Kostgängern vom 22. Juni 1934. Heime wie das Zufluchtshaus des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit unterstanden seit 1934 einer Bewilligungspflicht des Polizeidepartements. 334 So etwa im Kanton Luzern (Verordnung über die Jugendschutzkommissionen vom 26. 1. 1942). Mit dieser Verordnung ging die bisher von Amtsgehilfen ausgeübte und im Armengesetz festgeschriebene Aufsicht an 19 zu errichtende Jugendschutzkommissionen über. Zu den Jugendschutzkommissionen und deren Aufsichtsfunktionen vgl. Leuenberger, Leben, laufende Dissertation, voraussichtliches Erscheinungsjahr 2014 (Kap. Gesetzliche Bestimmungen und Entwicklung zur Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen im Untersuchungszeitraum im interkantonalen Vergleich). 335 Vgl. bspw. die Erziehungsgesetze bzw. Unterrichtsgesetze der Kantone Luzern und Thurgau. 336 Art. 391 besagt, dass die Kantone die Privatanstalten, die für den Vollzug von erzieherischen und sichernden Massnahmen bestimmt waren, einer „sachgemäßen, insbesondere auch ärztlichen Aufsicht“ zu unterstellen haben. Mit der Revision des Familienrechts im eidgenössischen Zivilgesetzbuch 1978 kam es, nicht zuletzt auch im Nachklang an die Heimkampagne, gesamtschweizerisch zu einer Neuregelung der Aufsicht über Heime für minderjährige Kinder und Jugendliche. Die Aufsicht über all jene Heime, die Unmündige aufnahmen, wurde zusammen mit der Aufsicht über die Pflegefamilien in der Verordnung über die Aufnahme von Pflegekindern vom 19. Oktober 1977 geregelt (§§ 13 – 20). Vgl. hierzu Tuor, Zivilgesetzbuch, 1989, S. 318 f. und 330 f.; Bättig, Pflegekinderaufsicht, 1984; Leuenberger, Leben, laufende Dissertation, voraussichtliches Erscheinungsjahr 2014 (Kap. Gesetzliche Bestimmungen und

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Während staatliche Heime überdies eigens dafür eingesetzten staatlichen Aufsichtskommissionen unterstanden, 337 war dies bei Privatheimen nur selten der Fall. Üblicherweise waren die privaten Anstalten eigenen Aufsichtskommissionen unterstellt, die je nach Organisationsform einen Stiftungsrat oder die private Vereinigung selbst darstellen konnte.338 Katholische Heime unterstanden zudem einer kirchlichen Aufsicht durch regelmässige klösterliche und bischöfliche Visitationen.339 Wurde der Betrieb eines Privatheims staatlich subventioniert, forderten die Behörden jedoch in der Regel die Mitgliedschaft in der heiminternen Aufsichtskommission. Dieser Umstand verweist neben den hygienischen Verhältnissen auf ein weiteres dominierendes Interesse der Behörden, das hinter ihrer verübten Aufsicht steckte: die Kontrolle, wohin Steuergelder flossen. Es galt, die Verschwendung öffentlicher Gelder zu verhindern. Private, nicht staatlich subventionierte Heime interessierten dagegen weit weniger, weil in weit geringerem Ausmaß öffentliche Gelder hineinflossen. Ein zweiter Untersuchungsbericht und seine Folgen Bereits im November 1887 kam es zu einem weiteren negativen Befund über die Pfrundweid und darauf folgenden politischen Auseinandersetzungen im Kantonsrat, welche die im Vergleich zu staatlichen Heimen meist geringere Aufsicht der Privatheime erneut zum Thema hatten.340 Die regierungsrätlich verordnete regelmäßige Inspektion der Pfrundweid hatte im November des Jahres 1887 gravierende Mängel festgestellt: schlechte Nahrung, mangelnde Hygiene, Personalmangel (auf rund hundert „Detinierte“ kamen zwei „Aufseherinnen“) und fehlende sachkundige Abklärung des Zustands neu Eintretender.341 Ferner würden Private oder Behörden Personen auf unabsehbare Zeit in die Anstalt bringen, die dann gewöhnlich so lange darin eingeschlosEntwicklung zur Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen im Untersuchungszeitraum im interkantonalen Vergleich). 337 Die Aufgabe dieser Aufsichtskommissionen waren: Aufstellung von Direktiven für den Betrieb, Kontrolle des Gesamtbetriebes, evtl. Wahl der Beamten, Begutachtung von Entlassungsgesuchen, Erledigung von Disziplinarfragen (vgl. Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 155). 338 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 155. 339 Vgl. hierzu Ries, Kirche, 2013, S. 215 – 240. 340 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 11. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1. 341 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 11. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1. Aufgrund des Berichts der Kommission wurde eine besondere Begutachtung der Anstalt durch einen Arzt des Burghölzli vorgenommen, die zu denselben Schlüssen kam (ebd., S. 11).

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sen seien, bis kein Kostgeld mehr bezahlt werde.342 Auch die Behandlung der Frauen ließe zu wünschen übrig: „Übereinstimmende Aussagen von Zeugen haben nämlich ergeben, dass eine Detinirte tagelang mit Ketten und Stricken gebunden, andere am Halse gewürgt, geschlagen, an den Haaren geschleift, und dass ihnen, um sie still zu machen, etwa Schürzen oder Lumpen in den Mund gestopft wurden. Unreinliche wurden über Nacht mit Stricken an einen besonders soliden Nachtstuhl gebunden und ihrem Schicksal überlassen. […] Ein Arzt wird nach übereinstimmenden Aussagen jeweilig erst beigezogen, ‚wenn die Kranken verloren sind‘.“343 Die Inspektion kam zum Schluss, der Regierungsrat habe zwar aufgrund der zwei Beschwerden im Jahr 1886 gewisse Änderungen in der Anstalt vornehmen lassen, jedoch würden diese zu wenig weit gehen. Daher erscheine „eine Kontrolle von Seite des Staates [des Kantons] als in hohem Grade wünschbar“.344 Die Kommission stellte das Postulat an den Regierungsrat, ein Gesetz über die Beaufsichtigung sämtlicher nicht staatlicher „Kranken- und Detentionsanstalten“345 vorzulegen und „einstweilen bis nach Inkrafttreten desselben eine besondere Aufsichtskommission zu bestellen, bei welcher das fachmännische Element vertreten sein soll“.346 Die Aufsicht sollte also durch eine eigens dafür bestellte kantonale Aufsichtskommission geschehen, die mit fachspezifisch geschulten Personen bestückt sein und dabei sämt­liche Privatheime umfassen sollte. Im August 1888 beschloss der Regierungsrat, dem Postulat zu folgen. Die Erfahrungen ließen es als „eine immer dringendere Aufgabe des Staates“ erscheinen, „auch die Privat- und Gemeindeversorgungsanstalten gehörig zu beaufsichtigen“.347 In einem besonders schlechten Licht erschienen in der folgenden von Behörden, Politikern und als Gutachter beauftragten Medizinern geführten Auseinandersetzung die Bezirk342 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 12. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1. 343 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 12. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1. 344 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 13. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1. 345 Mit „Detentionsanstalten“ waren allgemein Anstalten gemeint, in denen Personen eingesperrt waren. 346 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 13. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1. 347 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1887 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 20. StAZH, MM 24.41. Beilage 268 d 1.

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

särzte. Diese hätten teilweise die vorhandenen Übelstände mit einer „wohlwollenden Behaglichkeit entschuldigt“ und durch ihr „allzu laues Auftreten“ Missstände begünstigt.348 So ging der für die Pfrundweid zuständige Bezirksarzt in seinem Bericht an die Behörden in keiner Weise auf die dortigen Verhältnisse ein, obwohl die Pfrundweid zu diesem Zeitpunkt bereits wegen unhaltbarer Zustände Gegenstand von Untersuchungen der Behörden und politischer Debatten war.349 Die Aufsicht der Privatheime durch einen Bezirksarzt wurde auch deshalb kritisiert, weil er kein Fachspezialist für die Heim­erziehung sei und „anderweitig zu sehr beschäftigt […], um diesem wichtigen Gebiete seine ganze Aufmerksamkeit schenken zu können“.350 Die meist unzureichende Entlohnung des Bezirksarztes durch die Anstaltsbesitzer und der Umstand, dass der beaufsichtigende Arzt mitunter auch als Anstaltsarzt figuriere, würden ferner „ein gewisses Abhängigkeitsverhältniss zwischen Bezirksarzt und Anstaltsbesitzer [bedingen], welches der Autorität des Erstern nothwendig Abbruch thun muss“.351 Zu Beginn des Jahres 1889 beauftragte der Kantonsrat schließlich den Regierungsrat, „sämtliche nicht staatliche Korrektions- und Detentionsanstalten“ unter eine „besondere staatliche Aufsicht“ zu stellen und zu prüfen, „ob nicht die Bedingungen der zwangsweisen Unterbringung in Privatkranken- und Detentions-­Anstalten gesetzlich zu normiren seien“.352 Der Regierungsrat seinerseits erteilte den Direktionen des Sanitätswesens und des Justiz- und Polizeiwesens den Auftrag, die Frage prüfen zu lassen, „welche Anforderungen an Privatanstalten, die sich mit der Versorgung moralisch verkommener, sowie geistig schwacher oder kranker Personen befassen wollen, zu stellen und in welcher Weise solche Anstalten zu beaufsichtigen seien“.353 Daraufhin wurden die bekannten Mediziner und Zürcher Universitätsprofessoren Ulrich Krönlein 354, Hermann Eichhorst 355 und Auguste Forel 356 bevollmächtigt, die 348 Bericht der Kommission für Prüfung des Rechenschaftsberichtes des Regierungsrathes und des Jahresberichtes des Kirchenrathes für das Jahr 1888 an den Kantonsrath. Zürich 1890. S. 22 f. StAZH, MM 24.41. Beilage 368 n 1. 349 Rechenschaftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1889, S. 375. 350 Rechenschaftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1889, S. 404. Diese Kritik wurde in einem Untersuchungsbericht dreier bekannter Ärzte (der Professoren Ulrich Krönlein, Hermann Eichhorst und Auguste Forel) geäußert. 351 Rechenschaftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1889, S. 404. 352 Regierungsratsprotokoll des Kantons Zürich vom 2. März 1889, Nr. 434. StAZH, MM 3.3. 353 Regierungsratsprotokoll des Kantons Zürich vom 7. November 1889, Nr. 2021. StAZH, MM 3.3. 354 Professor der Chirurgie am Universitätsspital in Zürich und Direktor der Chirurgischen Klinik und Poliklinik am Kantonsspital in Zürich. 355 Professor der speziellen Pathologie und Therapie und Direktor an der Medizinischen Klinik in Zürich. 356 Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich und Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

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„verschiedenen Gemeinde- und Privat-Kranken- und Versorgungsanstalten zum Zwecke der Berichterstattung über deren bauliche und sanitarische Zustände, sowie die Verhältnisse der Insassen, zu besuchen“.357 Im Mai 1889 verfassten die drei Professoren einen Expertenbericht, nachdem sie verschiedene Privatanstalten inspiziert hatten.358 Bezüglich der besuchten „Privat-Heil- und Pflegeanstalten“ – darunter auch die Pfrundweid – kritisierten sie den Mangel an staatlicher Aufsicht und fachmän­ nischer Leitung, die sie als Ursachen für die existierenden Missstände benannten. Die Heimleiter seien alles Laien, die sich zum Teil „ohne jegliche staatliche Konzession“ dieser „Art von ‚Krankenindustrie‘ zugewandt“ hätten.359 Diesen Laien seien „die irrenärztliche Behandlung, die Beurtheilung und Beaufsichtigung, die Bestrafung und Einsperrung der Geisteskranken, sogar unter Anwendung von Zwangsmitteln, anstandslos gestattet“.360 Bei der Versorgung von Geisteskranken stünden die möglichst geringen Kosten im Vordergrund und nicht die Qualität der Pflege. Die drei Professoren forderten unter anderem eine „einheitliche staatliche Organisation des ganzen Irrenwesens mit einheitlicher Aufsicht“, die Aufhebung oder „totale Umgestaltung und Sanirung“ der Pfrundweid sowie die „Schaffung von passenden Anstalten für moralisch defekte Subjekte“.361 Aufgrund der Auftragserteilung des Kantonsrates an den Regierungsrat und des Berichts der drei Professoren wurden zwei Verordnungen erlassen: zunächst die Ver­ ordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten vom 21. Oktober 1889, zehn Jahre später erst die Verordnung betreffend die private Verpflegung von Irren vom 19. Juni 1899.362 Die Pfrundweid fiel unter beide Verordnungen, war sie doch neben „Irren-“ auch „Korrektionsanstalt“ für Prostituierte. Ich werde zunächst auf die Verord­ nung betreffend die private Verpflegung von Irren näher eingehen. Basierend auf dieser Verordnung wurde die Pfrundweid von einer staatlichen Aufsichtskommission besucht. Diese deckte im November 1900 erneut skandalöse Zustände auf – die Beanstandungen der vorangehenden Untersuchungen hatten offensichtlich nicht zu einer dauerhaften Behebung der Missstände geführt. Sie fand überfüllte Arbeits- und Schlafsäle vor, übel riechende Toiletten, eine schlechte Lüftung, stark verschmutzte Wände und Böden in der Küche und den Toiletten, „die Cementbadewanne mit undefinirbarem Schmutz 357 Protokoll des Regierungsrats des Kantons Zürich vom 7. November 1889, Nr. 2021. StAZH, MM 3.3. 358 Zum Inhalt ihres Berichts vgl. Rechenschaftsbericht des Regierungsrathes an den Zürcherischen Kantonsrath 1889. Zürich 1890. S. 400 – 405. 359 Rechenschaftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1889, S. 404. 360 Rechenschaftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1889, S. 404. 361 Rechenschaftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1889, S. 405. 362 An die Tit. Direktion der Justiz & Polizei, Zürich den 30. Juli 1901. StAZH, P 302:2:1; Verordnung betreffend die private Verpflegung von Irren vom 19. Juni 1899.

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in reichlicher Menge versehen“, „massenhafte“ Flohsekremente in den Betten, das „Bettzeug sozusagen nur aus Flicken zusammengesetzt“, die Schlafflächen „eckelhaft“, die Nahrung mangelhaft.363 Die Insassinnen, die mit Industriearbeit (Seidenwinden) beschäftigt wurden, waren in der Anstalt eingeschlossen und konnten das ganze Jahr hindurch nie hinaus.364 Die Oberaufsicht hatte die „Directrice“ der Anstalt, die den Hausschlüssel in ihrer Tasche bei sich trug.365 Die vorgefundenen Übelstände in der Pfrundweid führten – jedoch erst im Dezember 1904, also Jahre später – erneut zum Einsetzen einer Untersuchungskommission. Diese sollte die Anstalt begutachten und Vorschläge zur Beseitigung der nach wie vor vorhandenen Mängel machen.366 Im Bericht der eingesetzten Untersuchungskommission aus dem Jahr 1905 kamen auch rechtliche Fragen ins Spiel. Die Kommission stellte unter anderem kritische Fragen in den Raum, die die Existenzberechtigung gewisser Privatheime grundsätzlich hinterfragten und dabei auch den ungenügenden Rechtsschutz der Versorgten hervorhoben: „Ob es Privaten gestattet ist, Detentionsanstalten zu führen, ob Behörden (Armenpflegen, Vormünder) und Private ein Recht haben, Prostituierte zwangsweise in solche einzuweisen auf zwei oder mehr Jahre, ohne dass solchen Personen ein Rekursrecht an eine Oberbehörde eingeräumt wird, ohne dass diese Personen unter Kuratel [Vormundschaft] gestellt werden, das sind Fragen, die nicht wir zu entscheiden haben.“367 Dieser Bericht bewirkte, dass der Pfrundweid verboten wurde, als geschlossene „Korrektionsanstalt“ betrieben zu werden.368 Ferner durfte sie keine „Geisteskranken“ mehr aufnehmen, die einer spezifischen Pflege bedurften. Es wurde festgehalten, dass die Weiterbetreibung der Pfrundweid „nur als private Armenanstalt gestattet werden“ könne und dass die Umwandlung bis spätestens 1. Januar 1906 vollzogen sein musste.369 Es vergingen seit der ersten Untersuchung im Jahr 1886, die bereits skandalöse Zustände 363 Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, S. 6. StAZH, P 302.2.2.1; sowie An die Tit. Direktion der Justiz & Polizei, Zürich den 30. Juli 1901. StAZH, P 302:2:1. 364 An die Tit. Direktion der Justiz & Polizei, Zürich den 30. Juli 1901. StAZH, P 302:2:1. 365 Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, S. 6 f. StAZH, P 302.2.2.1. 366 Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, Antrag vom 1. August 1905, S. 1. StAZH, P 302.2.2.1. In der Kommission saßen der Sekretär der Direktion des Gesundheitswesens, der Sekretär der Direktion des Innern, ein Direktor sowie ein Bezirks­ arzt (ebd., S. 1). 367 Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, Antrag vom 1. August 1905, S. 8. StAZH, P 302.2.2.1. 368 Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, Antrag vom 1. August 1905, S. 2. StAZH, P 302.2.2.1. 369 Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, S. 1. StAZH, P 302.2.2.1.

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offengelegt hatte, also zwanzig lange Jahre, bis die Pfrundweid zumindest nicht mehr als geschlossene „Korrektions- und Irrenanstalt“ weiterbetrieben werden durfte. Dass die Pfrundweid trotz massiver Missstände über Jahre weiterwirken konnte, ohne dass dauerhafte Verbesserungen eintraten, und dies, obwohl die staatliche Aufsicht über die Pfrundweid in diesem Zeitraum sukzessive ausgebaut wurde, deutet auf eine in der Praxis wenig wirkungsvolle Aufsicht seitens des Staates. Die Verordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten vom 21. Oktober 1889, die neben der Verordnung betreffend die private Verpflegung von Irren zur Aufsicht von Privatheimen erlassen wurde, betraf die privaten Anstalten zur Versorgung „liederlicher“ oder „verwahrloster“, aber gesunder Personen. Unter diesen regierungs­ rätlichen Erlass fielen auch die Heime für die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen Mädchen“. Diese Anstalten bedurften nun der Genehmigung des Regierungsrates, sofern in ihnen „Zwang zur Arbeit und Beschränkung der persönlichen Freiheit als ordentliche Hülfsmittel zur Anwendung kommen sollen“.370 Die betreffenden Anstalten mussten ihre Statuten und Reglements dem Regierungsrat vorlegen und wurden einer staat­ lichen Aufsichtskommission unterstellt, die „von Zeit zu Zeit Besuche vornehmen lässt, und wenn Übelstände zutage treten, deren Abhilfe veranlasst“.371 Die Verordnung blieb damit extrem unverbindlich, indem die Aufsichtskommission nicht in regelmäßigen, klar definierten Abständen, sondern lediglich „von Zeit zu Zeit“, nach ihrem Gutdünken also, Besuche abstatten konnte. Die Verstärkung des Aufsichtsrechts des Kantons, wie es diese Verordnung vorsah, begründete der Regierungsrat damit, dass alle privaten Anstalten, die Zwangsmittel anwenden wollten, auch unter dieselben Vorschriften gestellt werden sollten wie die staatlichen.372 „Wir glauben, es liege eine zureichende Begründung […] in der Freiheitsbeschränkung und in der Anwendung aussergewöhnlicher Zwangsmittel, also in tief in die persönlichen Rechte eingreifender Maassregeln, die dem Privatunternehmer nicht zukommen, vielmehr an ihm zu ahnden wären. Um ungebührlichen Eingriffen entgegen treten zu können, bedarf es demnach neuer gesetzlicher Vorschriften.“373 Trotz Vorbehalten gegenüber Freiheitsbeschränkungen durch Private sprach sich der Regierungsrat nicht prinzipiell gegen die Zwangsmittel aus, die in Privatheimen angewendet wurden. Im Allgemeinen könne wohl nicht in Abrede gestellt werden, „dass es ohne einen gewissen Grad von Zwang schon der Hausordnung wegen […] nicht abgehen kann; so wird namentlich das Entweichen aus den Anstalten nirgends gleichgültig hingenommen werden können“.374 370 Verordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten, § 1. 371 Verordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten, § 3. Der Regierungsrat konnte aufgrund des Antrags der Gefängnisdirektion die Schließung einer Anstalt verfügen (§ 4). 372 Weisung des Regierungsrates vom 21. Oktober 1889, S. 3. StAZH, III Cd6 (c). 373 Weisung des Regierungsrates vom 21. Oktober 1889, S. 3. StAZH, III Cd6 (c). 374 Regierungsratsprotokoll vom 13. Februar 1890, Nr. 316. StAZH, MM 3.4.

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Eine verzögerte Untersuchung der Privatheime ohne Folgen: „Die Gesetze sind da, dass sie mit Weisheit umgangen werden“

Das Mädchenheim Pilgerbrunnen des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit war im Jahr 1889, kurz vor Erlass der Verordnung betreffend die Beaufsich­tigung von Privatdetentionsanstalten von 1889, eröffnet worden und musste nun, wie viele andere Anstalten des Kantons, darunter auch die Pfrundweid, einen Rapport einreichen,375 denn auch im Pilgerbrunnen waren die Insassinnen eingesperrt und durften das Erziehungsheim nur in Begleitung einer Aufseherin verlassen.376 Aufgrund des Rapports, den der Frauenverein dem Regierungsrat eingereicht hatte, wurde der Pilgerbrunnen am 13. Februar 1890 vorläufig, zusammen mit sechs weiteren Anstalten, der Aufsichtskommission für die staatlichen Anstalten Uitikon und Ringwil unterstellt, die definitive Beschlussfassung sollte noch folgen.377 Dieser provisorische Entscheid wurde jedoch bereits einen Tag später wieder aufgehoben und Karl Felix Walder, Regierungsrat und Demokrat, wurde beauftragt, die Heime „zu besuchen und dann, gestützt auf diese Wahrnehmungen, einen Antrag einzubringen“.378 Wenig später übernahm der liberale Regierungsrat Johannes Eschmann, der neue Direktor des Gefängniswesens, den Auftrag, ließ diesen aber liegen.379 Fünfzehn Jahre später, im Jahr 1905, hatte die angekündigte Untersuchung der Privatanstalten immer noch nicht stattgefunden.380 Erst im September 1905 wurden erneut Schritte unternommen, um die Privatanstalten zu begutachten, und die Justiz- und Polizeidirektion beauftragt, eine Untersuchung einzuleiten sowie einen Bericht vorzulegen.381 Das Hauptaugenmerk bei der Inspektion der Anstalten sollte darauf gerichtet werden, „ob die Versorgten 375 Vgl. Regierungsratsprotokoll vom 13. Februar 1890, Nr. 316. StAZ MM 3.4. 376 Brief des Polizeisoldaten an das Polizeikommando vom 17. Oktober 1905. StAZH, P 302.2.2.1. 377 Regierungsratsprotokoll vom 13. Februar 1890, Nr. 316. StAZH, MM 3.4. Neben dem Pilgerbrunnen waren dies die Walder’sche Anstalt in der Pfrundweid Wetzikon, die Appenzeller’schen Anstalten in Tagelswangen, Wangen und Brüttisellen, der Magdalenenstift in Hottingen, die Anstalt für katholische minderjährige Mädchen in Richterswil (Regierungsratsprotokoll vom 13. Februar 1890, Nr. 316. StAZH, MM 3.4). 378 Regierungsratsprotokoll des Kantons Zürich vom 14. Februar 1890, Nr. 342. StAZH, MM 3.4. Walder hatte den Auftrag, neben dem Pilgerbrunnen die Anstalten Magdalenenstift in Hottingen, Anstalt für katholische Mädchen in Richtersweil, Appenzeller’sche Anstalten, die Pfrundweid, Anstalten in Wädensweil, Ellikon, Kilchberg, Uetikon, Männedorf, Oetweil am See und Hinteregg zu besuchen. 379 Regierungsratsprotokoll des Kantons Zürich vom 5. Juni 1890, Nr. 1090. StAZH, MM 3.4. 380 Die Direktion des Gesundheitswesens bemängelte 1906: „Im Frühling [1890] fand in Folge der Neuwahlen ein Direktionswechsel statt und es scheint der Auftrag vom 14. Februar 1890 in Vergessenheit geraten zu sein.“ (Tit. Direktion des Gesundheitswesens des Kantons Zürich, an den Regierungsrat, 18. Juni 1906. StAZH, P 302.2.2.1). 381 Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 28. September 1905, Nr. 1545. St AZH, MM 3.19.

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eingeschlossen sind oder sich in und ausser der Anstalt frei bewegen können“.382 Am 14. Oktober 1905 forderte das Polizeikommando mit einem „Spezialdienstbefehl“ die Polizeistationen des Kantons Zürich auf, sofortige Nachforschungen anzustellen.383 Einer der daraufhin losgeschickten Polizeisoldaten machte Erkundigungen über den Pilgerbrunnen und rapportierte dem Polizeikommando, dass die Versorgten im Heim eingeschlossen seien und sich außerhalb der Anstalt „nicht frei bewegen“ können.384 Während eineinhalb Jahren wurden sie von einer Schwester begleitet und beaufsichtigt. Danach wurden die Insassinnen als Probe für allerlei Aufträge ohne Begleitung in die Stadt geschickt. Von den verschiedenen Polizeistationen des Kantons Zürich trafen insgesamt 24 Rapporte über 36 Anstalten ein. Davon fielen 27 Anstalten für eine zweite, nähere Untersuchung außer Betracht, weil es sich um „Armen- und Waisenhäuser“, „Alters­ asyle“ oder „Pflegeanstalten“ handelte, „deren Verhältnisse als genügend bekannt anzusehen sind, so dass die [zweite, nähere] Untersuchung nur an 9 Orten vorzunehmen war“.385 Die neun übrig gebliebenen Anstalten wurden Anfang des Jahres 1906 von Mitgliedern der Aufsichtskommission für die staatliche „Korrektionsanstalt“ Uitikon am Albis besucht, um die „Verhältnisse durch den Augenschein und geeignete Fragen kennen zu lernen“.386 Die Direktion der Justiz und Polizei verfasste aufgrund der Untersuchungsergebnisse einen Antrag an den Regierungsrat.387 Sie teilte in ihrem Antrag die neun Anstalten in drei Gruppen: Als erste Gruppe die „Pflegeanstalten“ (darunter fielen die Anstalten Rusterholz in Uetikon, Ruh in Uerikon, Hinderer in Oetwil, Jucker in Hinteregg, Dr. Vetter in Stammheim), als zweite Gruppe die Anstalt in Redlikon für arme, verwaiste Mädchen, die nebenbei die öffentliche Schule besuchten, und als dritte Gruppe die drei Anstalten zur „Rettung gefallener oder verwahrloster und gefährdeter Mädchen“ (der Pilgerbrunnen, das Rettungshaus der Heilsarmee 382 Weisung der Direktion der Justiz und Polizei an das Polizeikommando zur Erhebung der privaten Versorgungsanstalten. StAZH, P 302.2.2.1. 383 Spezialdienstbefehl des Polizeikommandos vom 14. Oktober 1905. StAZH, P 302.2.2.1. 384 Brief des Polizeisoldaten an das Polizeikommando vom 17. Oktober 1905. StAZH, P 302.2.2.1. Hervorhebung im Original. 385 Antrag der Direktion der Justiz und Polizei an den h. Regierungsrat, StAZH, P 302.2.2.1. 386 Brief der Direktion der Justiz und Polizei an Frau Rahn-Bärlocher, Präsidentin der Schweiz. Frauenbunds, Stockerstrasse 27, Zürich II. 20. März 1906. StAZH, P 302.2.2.1. Der Pilgerbrunnen wurde vom Kantonsrat Welti-Hausheer sowie dem Sekretär der Aufsichtskommission besucht. Die beiden Herren kündigten sich zuvor brieflich an (Brief der Direktion der Justiz und Polizei an Frau Rahn-Bärlocher, Präsidentin der Schweiz. Frauenbunds, Stockerstrasse 27, Zürich II. 20. März 1906. StAZH, P 302.2.2.1). 387 Vgl. Antrag der Direktion der Justiz und Polizei an den h. Regierungsrat betreffend Versorgungsanstalten, StAZH, P 302.2.2.1.

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und das Refuge, ehem. Schirmegg). Das Urteil der Direktion der Justiz und Polizei über den „allgemeinen Eindruck“ der letzteren drei Anstalten lautete: Pilgerbrunnen „sehr gut“, Rettungshaus der Heilsarmee und Refuge „gut“.388 Die Untersuchung kam zum Schluss, dass die Anstalten der ersten und zweiten Gruppe, bei denen eher Betreuung und Prävention im Vordergrund standen, nicht als „Privatdetentionsanstalten“ gelten konnten. Bei der dritten Gruppe jedoch, bei der eher Resozialisierung und Sanktion im Zentrum standen, bestanden gemäß der Untersuchung Zweifel, ob diese nicht doch zu den „Privatdetentionsanstalten“ zählten.389 Als „Privatdetentionsanstalten“ galten jene Anstalten, die „liederliche“ oder „verwahrloste“, aber gesunde Personen aufnahmen und in welchen „Zwang zur Arbeit und Beschränkung der persönlichen Freiheit als ordentliche Hülfsmittel zur Anwendung“ kamen.390 Der Untersuchungsbericht kam demnach nicht zu einem definitiven Ergebnis, ob die Anstalten für „gefallene Mädchen“ Zwang zur Arbeit anwendeten und die persönliche Freiheit einschränkten und entsprechend nach § 1 der Verord­ nung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten der Bewilligung des Regierungsrates bedurften und einer staatlichen Aufsichtskommission unterstellt werden mussten. Schließlich blieb auch dieser zweite Vorstoß ohne definitive Beschlussfassung des Regierungsrates und der Vorsatz einer Kontrolle der privaten „Korrektionsanstalten“ durch eine staatliche Aufsichtskommission versandete erneut.391 Ein letzter Hinweis, dass Behörden und Politiker über einen definitiven Beschluss über die Anstalten der dritten Gruppe diskutierten, ist ein Brief, den Frau Dr. Ernst, die den privaten Fürsorgekreisen nahegestanden haben muss und bei der es sich vermutlich um die Gattin des Zürcher Regierungsrates Dr. h. c. Heinrich Ernst handelte, einem nicht namentlich genannten Behördenvertreter im Juni 1906 schrieb, und der möglicherweise den Entscheid beeinflusste, die Angelegenheit erneut auf sich beruhen zu lassen: „Sehr geehrter Herr! Nach meiner Überzeugung gehören die drei heute Vormittag von Ihnen genannten Anstalten dem Sinn und Geist nach nicht unter § 1. In jeder geordneten Haushaltung stehen Minderjährige wie auch Dienstboten unter einer gewissen Beschränkung der persönlichen Freiheit. Diese 388 Antrag der Direktion der Justiz und Polizei an den h. Regierungsrat betreffend Versorgungsanstalten, StAZH, P 302.2.2.1. 389 Antrag der Direktion der Justiz und Polizei an den h. Regierungsrat betreffend Ver­sor­g ungs­ anstalten. StAZH, P 302.2.2.1. 390 § 1 der Verordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten. 391 Der Antrag der Justiz- und Polizeidirektion, ohne Datum und Stempel, scheint jedenfalls beim Regierungsrat nie offiziell eingereicht worden zu sein. Weder in den Regierungsratsprotokollen noch in den Protokollen der Justiz- oder Polizeidirektion finden sich Hinweise auf eine Antragstellung vonseiten der Justiz- und Polizeidirektion oder auf eine Beschlussfassung vonseiten des Regierungsrates.

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Anstalten stehen so wie so unter gewisser Controlle durch die jeden Bau begutach­ tende Gesundheitspflege und durch staatlich geprüfte Ärzte, welche bei Krankheitsfällen beraten werden.[ 392] Eine regelmässige Kontrolle mag bei Anstalten am Platz sein die wie z. B. die Pfrundweid durch die Arbeitsleistung der Insassen erhalten wird, nicht aber bei solchen, die durch Privatwohltätigkeit gehalten werden. Letztern wird durch amtliche Einmischung eher gehemmt als gefördert […]. […][D]ie Anstallten wollen den Insassen ein Heim sein, ein Ersatz für‘s Elternhaus. In diesem Falle will die ‚Verordnung‘ vom 21. Okt. 1889 einen andern Massstab anlegen. Man lasse diese Häuser wo man gewissenhaft arbeitet ihren ruhigen, stillen Weg gehen. Mit freundlichen Grüssen Fr. Dr. Ernst.“393 Am Ende des Briefs zitierte Frau Ernst einen Heidelberger Professor: „… die Gesetze sind da, dass sie mit Weisheit umgangen werden“.394 Sie stellte offenbar die „Weisheit“, den gesunden Menschenverstand, der in ihren Augen klar gegen eine stärkere Kontrolle dieser Heime sprach, über das Gesetz. Ihre unmissverständliche Aufforderung an die Behörden, die Gesetze im Falle der Anstalten für die „gefährdeten“ und „gefallenen Mädchen“ zu umgehen und auf eine zusätzliche staatliche Aufsicht zu verzichten, rechtfertigte sie mit der Autoritätsperson eines Professors. Offenbar widerstrebte der privaten Wohlfahrt eine verstärkte Kontrolle durch den Staat, weil eine solche ihren Gestaltungsspielraum eingeschränkt hätte. Ob der Brief von Frau Ernst einen Einfluss hatte, muss offenbleiben. Jedenfalls wurde dem Motto des Heidelberger Professors nachgelebt. Die Verordnung betref­ fend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten von 1889 scheint nicht in die Praxis umgesetzt worden zu sein. Der regierungsrätliche Beschluss zur Aufsicht über private „Detentionsanstalten“ war auch leicht umgehbar, weil er schwammig genug formuliert war, sodass schließlich alle Privatheime durch die weiten Maschen zu fallen vermochten. Wann genau ein ausreichend großer Zwang zur Arbeit bestand und wann die Beschränkung der persönlichen Freiheit weit genug ging, um eine verstärkte staatliche Kontrolle zu rechtfertigen, ließ sich je nach Bedarf anders definieren. Gewährter Spielraum Mit Einführung des kantonalen Jugendamtes 1919 wurde die Aufsicht über die private Fürsorge gesetzlich erneut verstärkt. Das neugegründete Jugendamt stand unter der Leitung von Robert Briner, der sich für eine weiterhin starke Privatwohlfahrt sowie für eine enge Zusammenarbeit zwischen der privaten und der in der 392 Seit 1876 standen, wie bereits erwähnt, laut dem Gesetz betreffend die öffentliche Gesundheitspflege und die Lebensmittelpolizei vom 10. Dezember 1876, §§ 2e und 2l, sämtliche Privat­ anstalten des Kantons Zürich unter der Aufsicht von Bezirksärzten. 393 Brief von Frau Dr. Ernst vom 20. Juni 1906. StAZH, P 302.2.2.1. 394 Brief von Frau Dr. Ernst vom 20. Juni 1906. StAZH, P 302.2.2.1.

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Leitungsposition stehenden öffentlichen Fürsorge einsetzte.395 Dadurch stünde der öffentlichen Verwaltung – finanziell lukrativ – „ein gewaltiges Heer freiwilliger, opferbereiter Helfer zur Verfügung, die zugleich in der Lage wären, das staatliche Wirken vor Erstarrung zu bewahren“.396 Das Jugendamt übte die staatliche Aufsicht aus über alle privaten und staatlichen „Anstalten und besonderen Einrichtungen für körperliche, geistig und sittliche schwache, gebrechliche, verwahrloste und gefährdete Kinder und Jugendliche, mit Einschluss der jugendlichen Verbrecher“.397 Mindestens einmal jährlich besuchte das Amt „die sämtlichen, den Fürsorgebestrebungen dienenden Erziehungs- und Pflegeanstalten für Kinder und Jugendliche auf dem Gebiete des Kantons“ und kontrollierte unter anderem die Erziehungsmaßnahmen, Verpflegung, Wohn- und Schlafräume sowie die Arbeit der Hauseltern.398 Was genau bezüglich Erziehungsmaßnahmen oder Arbeit der Hauseltern kontrolliert werden sollte, blieb jedoch offen. Zudem wurde 1925 die Verordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privat­ detentionsanstalten von 1889 aufgehoben und mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern im selben Jahr sämtliche vom Staat zur Versorgung verwendeten Privatheime unter eine staatliche Aufsichtskommission gestellt.399 Das Gesetz von 1925, das bis zum Ende meines Untersuchungszeitraums in Kraft blieb, legitimierte die Einweisung von „sittlich verdorbenen“ und „gefährdeten“ Jugendlichen sowie „arbeitsscheuen“ und „liederlichen Frauenpersonen“ in private Erziehungsanstalten, sofern diese durch den Regierungsrat anerkannt waren und gewisse näher festgelegte Vorschriften beim Betrieb der Anstalt einhielten. So waren die Trennung nach Geschlecht vorgeschrieben, ebenso das Betreiben von den „Bedürfnissen der Anstalt“ erforderlichen Handwerken zur Ausbildung der Eingewiesenen, das Verbot geistiger Getränke für Insassen, der Umgang mit Entweichungen von Insassen und mit externen Fluchthelfern sowie Bestimmungen über die Kostgelder und die Anstaltsreglements, die gewisse näher definierte Bestimmungen über den Heimbetrieb beinhalten mussten und beim Regierungsrat bewilligungspflichtig waren.400 Auch 395 Briner, Jugendhilfe, 1923, S. 303 – 310. 396 Briner, Jugendhilfe, 1923, S. 307. 397 Verordnung über das Jugendamt des Kantons Zürich vom 10. Februar 1919, § 3a. 398 Verordnung über das Jugendamt des Kantons Zürich vom 10. Februar 1919, § 12. 399 Weisung des Regierungsrates vom 30. April 1919, S. 16. StAZH, III Cd6. Das Gesetz von 1925 löste folgende früheren Bestimmungen ab: das Gesetz betreffend die Errichtung staatlicher Korrektionsanstalten vom 21. Oktober 1889, die Verordnung betreffend die Einweisung von Minderjährigen in Besserungsanstalten vom 21. Oktober 1889 sowie die Verordnung betreffend die Beaufsichtigung von Privatdetentionsanstalten vom 21. Oktober 1889. 400 Zu den Vorschriften vgl. Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925, § 28 und §§ 30 – 35.

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der Pilgerbrunnen wurde eines dieser Heime.401 Er wurde der Aufsichtskommission der staatlichen Anstalt Uitikon unterstellt und musste sich den Vorschriften für den Betrieb unterwerfen.402 Die Aufsicht über die Privatheime blieb aber trotz klaren gesetzlichen Auftrags in der Praxis weiterhin begrenzt. Zwar wurde jede dieser Anstalten jedes Semester einmal von einem Mitglied der zuständigen staatlichen Aufsichtskommission besucht und dabei „den Zürcher Insassen besondere Aufmerksamkeit geschenkt“. 403 Der Regierungsrat hätte jedoch gemäß dem Versorgungsgesetz von 1925 bezüglich der „Aufsicht des Staates“ über nicht staatliche Anstalten nähere Bestimmungen erlassen müssen, was er aber zumindest bis zum Ende meines Untersuchungszeitraums unterließ.404 Die Aufsicht über die privaten Anstalten gestaltete sich stattdessen nach dem vom Regierungsrat in einem Bericht über den Vollzug des Gesetzes formulierten Grundsatz, „sich in ihre inneren Angelegen­heiten möglichst wenig einzumischen“.405 So sollten sich „[d]ie aus privater Initiative hervorgegangenen Anstalten […], wenn sie gut geleitet und gut eingerichtet sind, möglichst frei entwickeln können, denn sie füllen manche Lücke im System der staatlichen Anstalten aus“.406 Der Regierungsrat unterlief damit klar den Auftrag der Legislative, indem er sich am Grundsatz des Nichteinmischens orientierte und keine näheren Bestimmungen zum Vollzug der Aufsicht über die Privatanstalten formu­lierte. Für eine Stärkung und Förderung der Privatheime durch Gewährung von Gestaltungsspielraum sprach sich auch der Jurist Carl Stooss, Verfasser des Vorentwurfs für das eidgenössische Strafgesetzbuch, aus. Es sei nicht geraten, so

401 Vgl. hierzu die detaillierte Auflistung sämtlicher vom Staat benutzter privater Anstalten bei Bollag, Massnahmen, 1940, S. 52 – 58. Vgl. auch Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1925, S. 379. Neben dem Pilgerbrunnen dienten der Versorgung „besserungsfähiger“ junger Frauen „hauptsächlich“ die Frauenkolonie Ottenbach und das Magdalenenheim Refuge sowie das stadtzürcherische Mädchenheim Heimgarten bei Bülach (Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1926, S. 303.) „Unverbesserliche Verwahrloste“ kamen in Strafanstalten, in Verwahrungsabteilungen von Arbeitserziehungsanstalten oder in Zwangsarbeitsanstalten. Konkret dienten die Strafanstalt Regensdorf und die Verwahrungsabteilung der Anstalt Kappel a. A. als solche Verwahrungsanstalten für „Unverbesserliche“ (Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1925, S. 379). 402 Vgl. Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1928, S. 342. 403 Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1928, S. 342.. 404 Bollag, Massnahmen, 1940, S. 51. 405 Bericht über den Vollzug des Zürcher Gesetzes vom 24. Mai 1925 betreffend die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern. S. 34. StAZH, P 402:17:262. 406 Bericht über den Vollzug des Zürcher Gesetzes vom 24. Mai 1925 betreffend die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern. S. 34. StAZH, P 402:17:262.

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Stooss, „staatliche Anstalten an die Stelle der privaten zu setzen oder die freiwillige Liebestätigkeit durch Reglemente und Kontrolle einzuschüchtern und zu schwächen“.407 Die Tätigkeit des Bundes solle viel eher ergänzend und unterstützend sein. Die Privatheime scheinen bewusst (noch) weniger stark beaufsichtigt worden zu sein als staatliche Anstalten – auch wenn auch bei Letzteren Mängel bei der Aufsicht bestanden. Die verstärkte Unterstellung von Privatheimen unter staatliche Vorschriften, wie es die neuen Gesetze und Verordnungen zur Bewilligung und Aufsicht der Privat­ heime dokumentieren, ist Teil des Prozesses der zunehmenden Verstaatlichung und Verrechtlichung der Anstaltserziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damit einher ging auch eine steigende Anzahl Akteure, die für die Aufsicht zuständig waren. Jedoch zeigen sich erst zögerliche Schritte, die Aufsicht über die Privatheime in der Praxis zu verstärken, und die Umsetzung neuer diesbezüglicher Vorschriften war mangelhaft. Auch eine Untersuchung zu den Luzerner Kinderheimen zeigt diese Vollzugsdefizite.408 Die Aufsicht durch die zahlreichen zuständigen Instanzen scheint zumindest noch bis Ende der 1940er Jahre nur beschränkt wirksam gewesen zu sein, indem die (teils schwammig formulierten) gesetzlichen Anforderungen nur unzureichend erfüllt wurden und Kritik von Aufsichtsinstanzen in der Praxis kaum zu Änderungen führten. Zudem fokussierten die bis zu Beginn der 1950er Jahre stark von Mitgliedern mit ökonomischem, juristischem und geist­ lichem Hintergrund dominierten heiminternen Aufsichtskommissionen ausgeprägt auf verwaltungstechnische und finanzielle Aspekte: Das psychische Befinden und das individuelle Wohl der Insassen waren von sekundärem Interesse. Kamen Missstände ans Tageslicht, galten „Heimzöglinge“ als wenig glaubwürdige Zeugen.409 Enge personelle Verflechtungen im Bereich des Heimwesens erschwerten zudem eine unabhängige Beurteilung erheblich.410 Die „fragmentierte Aufsicht“ 411 durch eine Vielzahl an zuständigen Akteuren, so die Untersuchung, könne zudem dazu geführt haben, dass sich niemand wirklich zuständig fühlte.

407 Stooss, Carl. Der Kampf gegen das Verbrechen. Bern 1894. S. 19. Zit. nach Germann, Humanität, 2010, S. 238. 408 Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012. 409 Vgl. hierzu auch Ries, Kirche, 2013. 410 Zu ähnlichen Schlüssen gelangt auch eine Untersuchung zur kirchlichen Aufsicht von katholischen Kinderheimen im Kanton Luzern. Die regelmäßigen klösterlichen und bischöflichen Visitationen beschränkten sich auf Erhebungen zur Infrastruktur der Anstalten und von Zahlen über die Heimkinder sowie zu Fragen der Administration. Hinweise auf Kritik an der Heimerziehung fehlen (vgl. Ries, Kirche, 2013, S. 215 – 240). 411 Vgl. Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt. Diese Studie wird ebenfalls Aufschlüsse über die Aufsicht über Privatheime liefern.

Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge

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Auch eine Untersuchung zur Pflegekinderaufsicht im Kanton Bern deutet auf eine mangelhafte Umsetzung von teils unverbindlich formulierten Aufsichtspflichten hin, die bis heute nicht gänzlich behoben ist.412 Die Aufsicht fokussierte zudem bis in die 1950er Jahre stark auf materielle Aspekte. Eine andere Untersuchung zur Pflegekinderaufsicht in der Zwischenkriegszeit durch einen staatlich beauftragten Verein verweist auf die fast ausschließliche Fokussierung auf hygienische Aspekte sowie das Bemühen von staatlicher Seite, die Kosten der Aufsicht zu minimieren.413 Während der hier untersuchten Kantonalzürcher Debatte zur Aufsicht von Privat­heimen flammte zwar der Diskurs, der sich kritisch über Eingriffe von Priva­ ten in die persönlichen Freiheitsrechte des Einzelnen äußerte, immer wieder auf und vermochte die Regulierung sowie Aufsicht der Privatheime gesetzlich stärker zu verankern. Die Stimmen, welche die Arbeit der Privatheime wohlwollend beurteilten und sie ihren „stillen, ruhigen Weg“ gehen lassen wollten, ohne sie durch zu starke Regulierungen zu hemmen, vermochten aber den Lauf der Dinge lange zu dominieren und die Umsetzung der Gesetze zu torpedieren. Deshalb blieb die Reglementierung der Privatheime – oder in den Worten des Zürcher Regierungsrats die Einmischung in deren „innere Angelegenheiten“ – im untersuchten Zeitraum trotz verschärfter Gesetze und verstärkter Kontrollen letztlich auf bescheidenem Niveau. Die Tatsache, dass viele der existierenden Heime von Privaten geführt wurden, scheint ein wichtiger Grund gewesen zu sein, warum die Privatheime quasi einen Sonderstatus genossen. Der (erfolgreiche) Ruf nach möglichst wenig Staat bezweckte primär zwei Dinge: Erstens wollte er Gestaltungsfreiräume für Privatheime schaffen, um die privaten Betreiber „bei Laune zu halten“; zweitens wollte er die hohen Kosten einer flächendeckenden und regelmäßigen Kontrolle möglichst vermeiden oder zumindest gering halten. Wie bei der Gründung staatlicher Jugendheime spielte sicherlich auch bei der staatlichen Aufsicht der Kostenfaktor eine entscheidende Rolle. Die große Zahl der existierenden Privatheime, die diejenige der Staatsanstalten bei Weitem übertraf, hätte eine Aufsicht umso aufwendiger und kostenintensiver gemacht.

412 Leuenberger, Behörde, 2011, S. 28 – 99; Leuenberger, Leben, Kap. Gesetzliche Bestimmungen. Voraussichtliches Erscheinungsdatum: 2014. 413 Guggisberg, Armenerziehungsverein, 2009, S. 168 f.; 175 – 179. Vgl. auch Guggisberg, Armenerziehungsvereine, laufende Dissertation, voraussichtliches Erscheinungsjahr 2015.

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

Erzwungene Freiwilligkeit und informelle Vereinbarungen

Staatliches Gewaltmonopol In den Statuten der hier untersuchten Heime der Sittlichkeitsvereine wurde auf die Freiwilligkeit des Heimeintritts verwiesen. Der Berner Sulgenhof nahm junge Frauen auf, die „freiwillig in die Anstalt eintreten wollen“.414 Im Zürcher Pilgerbrunnen fanden jene Jugendlichen Aufnahme, die „sich zu bessern wünschen und willig sind, in eine Anstalt zu kommen“.415 Das Basler Zufluchtshaus ging noch einen Schritt weiter. Dort war gemäß den Statuten auch der Zeitpunkt des Austritts zumindest relativ frei wählbar.416 Teilweise mussten die neu Eintretenden eine Erklärung unterschreiben, dass sie freiwillig ins Heim kamen.417 Dieses Prinzip der Freiwilligkeit galt nicht nur für die Heime der Sittlichkeitsvereine, sondern generell für die privaten Erziehungsheime für weibliche Jugendliche.418 Diese offizielle Freiwilligkeit war jedoch meist eine reine Fiktion. In der Tat wurden viele junge Frauen von Behörden oder ihren Eltern faktisch eingewiesen und kamen nicht freiwillig ins Heim, auch wenn sie eine Freiwilligkeitserklärung unterschrieben. Die Privatheime verfügten selbst über keine gesetzlichen Zwangsmittel gegenüber den „Zöglingen“ und mussten das Prinzip der Freiwilligkeit daher vorschieben. So vermerkte Robert Briner, Jurist und Leiter des kantonalen Jugendamtes Zürich, der augenfälligste Unterschied zwischen der privaten und der staatlichen Fürsorge liege darin, „dass die öffentliche Jugendhilfe ihren Mitteln besondern Nachdruck durch die rechtliche Erzwingbarkeit verschaffen“ könne.419 Die private Jugendhilfe hingegen 414 Bedingungen des Asyls für (erst)gefallene Mädchen an der Reufeldstrasse 31, Bern. § 1. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 14:2. 415 Prospekt vom Mädchenasyl z. Pilgerbrunnen Zürich, § 1. Undatiert (nach September 1916). EFZ, Schachtel C.I. Heft 3. 416 § 10 der Statuten des Zufluchtshauses für bedrängte Frauenspersonen, Holeestrasse 119. Undatiert (ca. 1910). StABS, PA 882, AA 1.1 a. Die Präsidentin oder deren Stellvertreterin hatten jedoch „das Recht, den Austritt um einige Tage zu verzögern, falls sie dies im Interesse der Insassin oder der Anstalt als richtig erachtet“ (§ 10). Vgl. ausführlicher Kap. 4.3. 417 Dies war beispielsweise beim Basler Zufluchtshaus und im Berner Mädchenheim Brunnadern der Fall. Zum Zufluchtshaus vgl. Statuten des Zufluchtshauses für bedrängte Frauenspersonen, Holeestrasse 119. Undatiert (ca. 1910). StABS, PA 882, AA 1.1 a.; zum Brunnadern vgl. Demme, Bestrebungen, 1904, S. 113. 418 Zum Asyl für weibliche Obdachlose am Nonnenweg in Basel vgl. Statuten des Asyls für weibliche Obdachlose, Nr. 61 Nonnenweg, Basel. § 2. O. O. u. J.; zur katholischen Erziehungsanstalt zum Guten Hirten Altstätten Knabenhans, Erziehungs- und Besserungsanstalten, 1912, S. 118; zum Berner Mädchenheim Brunnadern 100 Jahre evangelisches Mädchenheim Brunnadern in Bern, 1854 – 1954. o. O. und J. S. 18. NB, V BE 5509, sowie Demme, Bestrebungen, 1904, S. 113. 419 Briner, Jugendhilfe, 1923, S. 308. Hervorhebung im Original.

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könne „ihre besten Absichten nur verwirklichen, solange die Träger der elterlichen Gewalt diese Hilfe dulden, oder soweit der Staat mit seinen gesetzlichen Zwangsmitteln im Einzelfall die freiwillige Liebestätigkeit ausdrücklich schützt“.420 Es brauche die öffentliche Jugendhilfe „zur Überwindung von Hindernissen irgendwelcher (auch organisatorischer) Art durch die erzwingbaren Mittel des Rechts“.421 Die private Fürsorge verfügte demnach selbst über keine rechtlichen Zwangsmittel, Personen gegen deren Willen in einer Anstalt eingesperrt zu halten. Hingegen war es der Staat mit seinem verfassungsmäßigen Gewaltmonopol, der darüber verfügte und der den Privaten zugestehen konnte, Machtmittel anzuwenden.422 Dies tat er etwa, indem Behörden einzelne Personen in Privatheime einwiesen, gegenüber denen dann das Freiwilligkeitsprinzip nicht mehr galt, da der Staat den Privat­anstalten für diese Person rechtliche Kompetenzen übermittelt hat. Folgendes Beispiel verdeutlicht dies: So berichtete der Basler Frauenverein, dass junge Frauen, die von der Vormundschaftsbehörde im Zufluchtshaus eingewiesen wurden, die Anstalt gemäß Vorgaben der Vormundschaftsbehörde nicht verlassen durften. 423 Die Anerkennung der privaten Anstalten als von staatlichen Stellen verwendeter Einweisungsort erfolgte in der Praxis meist nicht formell, sondern gewohnheitsrechtlich.424 Durch die Einweisung von Personen durch offizielle Behörden mit den entsprechenden Vollmachten erfolgte implizit die Anerkennung der betreffenden Anstalt.425 Teilweise wurden auch schriftliche Verträge zwischen Privatanstalt und dem Kanton ausgehandelt, welche die Anstalt zur Aufnahme einer bestimmten, durch kantonale Behörden eingewiesenen Klientel verpflichtete.426

420 Briner, Jugendhilfe, 1923, S. 308. Auch bei der Versorgung von Minderjährigen in „Rettungsanstalten“ oder „Erziehungsheimen“ besaß die private Fürsorge keinerlei gesetzliche Macht, sondern war auf die Einwilligung der Inhaber der elterlichen Gewalt angewiesen oder, falls diese ausblieb oder das Kind unter Vormundschaft gestellt worden war, auf die staatliche Fürsorge, die „mit den nötigen Befugnissen ausgerüstet[…]“ war (Das Versorgungswesen im Kanton Basel-Stadt. Eine Übersicht von Dr. Franz Fäh. Beilage im Jahresbericht der Versorgungs-Kommission Basel-Stadt über das Jahr 1902. Basel 1903. S. 17 – 29. Hier S. 21 f. und 28. StABS, Straf- und Polizeiakten T 12,2). 421 Briner, Jugendhilfe, 1923, S. 310. 422 Das Gewaltmonopol ist das Prinzip, „dass alle Zwangsgewalt im Staatsgebiet nur vom Staat selbst oder mit seiner Erlaubnis ausgeübt werden darf “. Pernthaler, Staatslehre, 1996, S. 128. Vgl. zum Gewaltmonopol auch die Ausführungen bei Gschwend, Gewalt, 2009, S. 134. 423 27. Jahresbericht des Basler Frauenvereins, 1927, S. 4. 424 Bollag, Massnahmen, 1940, S. 51. 425 Bollag, Massnahmen, 1940, S. 51. 426 Vgl. etwa den Vertrag zwischen Kanton Zürich und der Privatanstalt Kappel am Albis betreffend die Versorgung von Personen nach Kappel aus dem Jahr 1882 (Bollag, Massnahmen, 1940, S. 11).

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Es gab eidgenössische, kantonale und kommunale Gesetze, welche die rechtliche Grundlage für die Einweisungen in die Privatheime bildeten.427 Anstaltsversorgungen waren je nach Fall in Armen-, Straf-, Versorgungs- und Vormundschaftsgesetzen geregelt. Die Insassinnen der Pfrundweid etwa waren „mit ganz wenigen Ausnahmen […] von den Armenpflegen [basierend auf dem Armengesetz] in der Anstalt interniert“.428 Einzelne dieser Gesetze sahen die behördliche Einweisung in Privatheime explizit vor. Andere ermöglichten die Einweisung implizit, indem sie Privatheime nicht ausschlossen und keine Eingrenzung auf staatliche Heime machten. Gewisse Gesetze bestimmten, dass Privatheime zeitlich befristet benutzt werden konnten, solange keine 427 Zwar existieren verschiedene Zusammenstellungen von Juristen über die gesetzlichen Grundlagen für die Anstaltsunterbringung (Bossart, Freiheit, 1965, Dubs, Grundlagen, 1955, Zbinden, Reform, 1942). Doch diese Zusammenstellungen gehen nicht systematisch auf den Aspekt ein, inwiefern diese Gesetze Einweisungen in Privatheime ermöglichten. Ich habe hier für die Kantone Bern, Basel und Zürich einen ersten (keine Vollständigkeit beanspruchenden) Überblick über die Gesetze zusammengestellt, mit denen Einweisungen in Privatheime möglich waren. Gesamtschweizerisch: Eidgenössisches Zivilgesetzbuch von 1907, Art. 421 (vgl. Bucher, Zivilgesetzbuch, 1909; Oettli, Fürsorge, 1941, S. 58 f.); Eidgenössisches Strafgesetzbuch von 1937, Art. 84 und Art. 91. Bern: Reglement für die Organisation und Besorgung der örtlichen Armenpflege (Verpflegungsreglement) der Einwohnergemeinde der Stadt Bern vom 30. September 1868, § 24. Gesetz über das Armen- und Niederlassungswesen vom 28. November 1897, § 12. Gesetz über die Armenpolizei und die Enthaltungs- und Armenanstalten vom 1. Dezember 1912 (vgl. Sicherheits- und Kriminalpolizei der Stadt Bern an das Polizei­ departement des Kantons Basel-Stadt, Administrativabteilung, 19. 12. 1934. StABS, PD-REG 2,32.05). Gesetz über die Jugendrechtspflege des Kantons Bern vom 11. Mai 1930, § 10. Verordnung über die Versorgung Gemüts- und Geisteskranker in Privatanstalten vom 18. Mai 1937. Zürich: Gesetz betreffend das Armenwesen vom 28. Brachmonat 1853, § 13. Verordnung betreffend die Einweisung von Minderjährigen in Besserungsanstalten vom 18. November 1889, § 2. Gesetz betreffend die Errichtung staatlicher Korrektionsanstalten vom 4. Mai 1879 (vgl. Lengweiler, Zwangserziehung, 1895, S. 77 f.; Bollag, Massnahmen, 1940, S. 11). Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925 (vgl. Weisung des Regierungsrates vom 30. April 1919, S. 16. StAZH, III Cd6; zur Liste der verwendeten Privatanstalten vgl. Bollag, Massnahmen, 1940, S. 51 – 56; Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1926, S. 303; Geschäftsbericht des Regierungsrates an den Zürcherischen Kantonsrat, 1925, S. 379.). Basel: Gesetz betreffend die kantonalen Versorgungs- und Erziehungsanstalten für Jugendliche vom 27. April 1911, § 2. Gesetz über Versorgung in Arbeits- oder Besserungsanstalten vom 7. Februar 1854, § 2. Gesetz betreffend Versorgung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten vom 21. Februar 1901, § 9. Gesetz betreffend das Armenwesen vom 25. November 1897, § 17.1. Gesetz betreffend die Versorgung verwahrloster Kinder und jugendlicher Bestrafter und die Errichtung einer kantonalen Rettungsanstalt auf Klosterfichten vom 9. März 1893, Art. 1. 428 Vgl. Die Direktion des Gesundheitswesens und des Innern an den h. Regierungsrat, Antrag vom 1. August 1905, S. 1. StAZH, P 302.2.2.1.

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oder zu wenige entsprechende staatliche Heime bestanden. Die Privatheime mussten den Anforderungen dieser Gesetze entsprechen, um als Versorgungsort verwendet zu werden. Bei Minderjährigen konnten auch die Inhaber der elterlichen Gewalt die Einweisung in ein Privatheim verordnen. Die Eltern übergaben in jenen Fällen die elterliche Gewalt dem Heim. Mit dem Manko an eigener rechtlicher Erzwingbarkeit wurden die Privatheime immer wieder konfrontiert. Teilweise kamen die Eltern von Eingewiesenen unerwartet ins „Asyl“ und nahmen ihre Tochter gleich mit. Den Vorsteherinnen blieb in diesen Fällen nichts anderes übrig, als die Insassin gehen zu lassen, sofern der Aufenthalt im Heim nicht von einer Behörde verfügt und gesetzlich abgestützt war. Dasselbe galt, wenn ein „Zögling“ aus Eigeninitiative beharrlich den Austritt forderte. Wieder andere wurden von der einweisenden Behörde vorzeitig aus dem Heim geholt. Die Sittlichkeitsvereine beschwerten sich wiederholt darüber, dass ihre Heime zu wenig rechtliche Kompetenzen gegenüber jungen Frauen besäßen und forderten, dass Privatheime gleich den Staatsanstalten mit mehr staatlichen Kompetenzen ausgestattet werden sollten.429 Sie setzten sich dafür ein, dass neu zu errichtende private Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen mit dem „Recht der zwangsweisen Internierungen“ ausgestattet werden.430 Auch forderten sie, dass sich die Insassinnen „auch in Privatanstalten unter dem wachsamen Auge der Polizei fühlen müssten, damit sie der Versuchung zur Flucht weniger ausgesetzt wären“.431 Die Polizei musste bei der Festnahme einer Geflüchteten, die offiziell auf freiwilliger Basis im Heim war, auf strafbare Delikte zurückgreifen (etwa Diebstahl oder „Vagabundieren“), weil die Flucht aus Privatheimen als solche nicht das Eingreifen der Polizei rechtfertigte.432 Ferner beklagten die Sittlichkeitsvereine, dass sie keine „Mittel in der Hand hätten“, Frauen zu beeinflussen, die sich ihrer Fürsorge entzogen.433 Sie seien „machtlos und die Behörden […] [seien] sehr schwer zu Zwangsmassnahmen zu bewegen“.434 Als Reaktion führten die Sittlichkeitsvereine in ihren Heimen Sanktionen gegenüber den „Zöglingen“ und der einweisenden Instanz ein, um einen vorzeitigen Austritt zu verhindern.435 429 Die Prostitutionsfrage in der Schweiz, 1913, S. 47; Siebenter Bericht des kantonalen zürcherischen Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, umfassend den Zeitraum zwischen 1. April 1909 bis 1. Oktober 1910. Zürich 1910. S. 8. Sozarch, 176/3: V1. 430 Vorschläge zur Fürsorge für schutzbedürftige Frauen. ZBZ, LK 653. 431 Erklärungen und Begründungen zu unseren Wünschen. ZBZ, LK 152. 432 Vgl. Kap. 4.3. 433 28. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1928, S. 1. 434 28. Jahresbericht des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1928, S. 1. 435 Vgl. Kap. 4.3.

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Informelle Vereinbarungen Ein guter Draht zur jeweils zuständigen amtlichen Person konnte den privaten Heimbetreibern helfen, ihre Position zu stärken und Vorteile für ihre Arbeit auszuhandeln. Die Privaten waren entsprechend bemüht, auf informellem Weg mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Deutlich wird dies an zwei Beispielen, die sich im Kanton Basel-Stadt kurz nach der Jahrhundertwende abspielten und bei denen der freisinnige Regierungsrat und Jurist Richard Zutt eng und auf freundschaftlicher und informeller Basis mit dem Frauenverein und dem Verband deutsch-schweizerischer Sittlichkeitsvereine zusammenarbeitete.436 Zutt erlaubte dem Basler Frauenverein etwa, Personen, „die Stadtverweis haben [die also wegen eines Vergehens aus Basel ausgewiesen wurden und gegen die ein Aufenthaltsverbot verhängt worden war], ohne weitere Anzeige“ an die Polizeidirektion in seinem Zufluchtshaus aufzunehmen.437 Und Austritte aus dem Zufluchtshaus sollten Zutt „direkt angezeigt werden, ohne jedesmal das Kontrollbüro zu benachrichtigen“.438 Zutt war offenbar bemüht, dem Frauenverein die Arbeit möglichst unbürokratisch zu gestalten. Der Verband deutsch-schweizerischer Sittlichkeitsvereine gelangte ferner mit der Bitte an Zutt, dass die Gerichte bei Verurteilungen junger Mädchen zu einer Zuchthausstrafe an die Sittlichkeitsvereine gelangen sollten, damit diese für die Verurteilte stattdessen eine Unterbringung in einem ihrer Erziehungsheime organisieren konnten.439 Zutt nahm die Bitte des Verbandes auf und veranlasste kurze Zeit später in einem Brief deren Umsetzung.440 Der Verband wünsche, so der Brief, „dass bei Versorgung von jungen Weibspersonen ihrem Verein Gelegenheit gegeben werde, die Versorgung in einem seiner Anstalten durchzuführen“. Zutt, der die Arbeit der Sittlichkeitsvereine offensichtlich unterstützte und eine Nacherziehung in ihren Heimen besser fand als einen Gefängnisaufenthalt, wies kurze Zeit später die erste junge Frau dem Basler Frauenverein zu.441 Unter dem Nachfolger von Zutt wurde die stark auf einer informellen Basis und auf dem Wohlwollen von Einzelpersonen beruhende Zusammenarbeit mit den Behörden für den Basler Frauen­verein hingegen schwieriger und angespannt.442 436 Vgl. zu Zutt und seiner Zusammenarbeit mit dem Basler Frauenverein auch Janner, Frauen, 1992, S. 100; 119 – 122; 127. 437 Protokoll des Basler Comitee zur Hebung der Sittlichkeit vom 1. Oktober 1903. StABS, PA 882, E 1.1. 438 Protokoll des Basler Comitee zur Hebung der Sittlichkeit vom 1. Oktober 1903. StABS, PA 882, E 1.1. 439 Protokoll des Basler Comitee zur Hebung der Sittlichkeit vom 24. Juni 1902. StABS, PA 882, E 1.1. 440 Brief „Frl. Clara Burckhardt, 47 Münchensteinerstrasse …“, 27. Juni 1902. StABS, Straf- und Polizeiakten T 1. 441 Protokoll des Comitee zur Hebung der Sittlichkeit vom 19. September 1902. StABS, PA 882, E 1.1. 442 Vgl. Janner, Frauen, 1992, S. 122 f.

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Willkommene Freiräume und erzwungene Freiwilligkeit Der Zentralsekretär der Pro Juventute und spätere Zürcher Professor für Heilpädagogik Heinrich Hanselmann formulierte 1923 einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen der privaten und der staatlichen Fürsorge, die den Spielraum der Privaten erheblich erhöhe: „Die staatliche Fürsorge ist in ihrem Wirken gebunden an das Gesetz, an die Verordnung. Die private Fürsorge dagegen kennt eine derartige Grenze nicht, sie ist unmittelbar und für ihr Eingreifen entscheidet allein das festgestellte Fürsorgebedürfnis.“443 Damit meinte Hanselmann nicht etwa, dass die private Fürsorge keinerlei gesetzlichen Regeln unterworfen war. Keinesfalls, jedoch konnte sie zu handeln beginnen, so Hanselmann, sobald sie ein „Fürsorgebedürfnis“, einen unmittelbaren Grund für das fürsorgerische Engagement erkannte. Die private Wohlfahrt müsse „nicht warten, bis ein bestimmter, im Gesetz vorgesehener Tatbestand vorlieg[e]“.444 Hingegen könne die staatliche Fürsorge nur handeln, wenn der gesetzliche Auftrag dies erlaube.445 Dieser Freiraum der Privatheime wurde von den Behörden teilweise bewusst für ihre Zwecke genutzt, indem sie Personen dorthin einwiesen, obwohl die Gesetze dies nicht stützten. Der Sozialdemokrat Albert Hurni berichtete 1921 während einer Grossratsdebatte in Bern von einer jungen Frau, die sich „eines Vergehens schuldig gemacht“ habe, indem sie ausserehelich schwanger wurde und nicht wusste, wer der Vater des Kindes war.446 Die Behörden suchten nach einer Unterbringungsmöglichkeit für die Bernerin. Sie kam aus Mangel an einem geeigneten Berner Heim in ein Privatheim im Kanton Solothurn, entwich jedoch von dort. Weil sie inzwischen schon mündig geworden war, konnte sie von den Behörden „nicht unter allen Umständen“ in das Solothurner Heim eingeliefert werden, wie Hurni berichtete. Die Armendirektion stellte sie daraufhin vor die „Wahl“: entweder „freiwillig“ in das Privatheim oder zwangsversetzt in die Berner Frauenstrafanstalt Hindelbank. Diese „Wahlmöglichkeit“ lässt das Prinzip der Freiwilligkeit der Privatheime auch seitens des Staates in einem zwiespältigen Licht erscheinen, was übrigens vom Sozial­ demokraten Albert Hurni im Falle der Bernerin nicht hinterfragt wurde. Ein anderes Beispiel betrifft das private Frauenheim Wolfbrunnen bei Lausen im Kanton Basel-Landschaft. Die Insassinnen waren offiziell nicht im Heim eingesperrt. Jedoch musste die Heimleitung bei der Polizei Anzeige erstatten, wenn polizeilich in den Wolfbrunnen Verbrachte aus dem Heim fortliefen.447 Die Geflüchteten wurden dann 443 Hanselmann, Wesen, 1923, S. 296. 444 Hanselmann, Wesen, 1923, S. 297. 445 Hanselmann, Wesen, 1923, S. 293 – 297. 446 Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1921, S. 373. 447 Vgl. hierzu Protokoll des Dachverbandes vom 28. Mai 1909. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1.

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polizeilich gesucht. „Fast alle“ dieser Geflüchteten kehrten offiziell „freiwillig“ ins Heim zurück.448 Diese Freiwilligkeit war jedoch auch hier nur eine scheinbare, wurden doch die Frauen nach ihrem missglückten Fluchtversuch von den Behörden vor die scheinbare Alternative gestellt, zwischen Wolfbrunnen und dem Gefängnis zu wählen: „Den polizeilich Versorgten bleibt meist nur die Alternative zwischen uns [dem Wolfbrunnen] & dem Gefängnis.“449 Dass sich „fast alle“ für den Wolfbrunnen entschieden, ist nicht verwunderlich. Weitere ähnliche Beispiele finden sich auch im Zusammenhang mit der Thurgauer „Zwangserziehungsanstalt“ Kalchrain. Fehlende gesetzliche Grundlagen zur Einweisung in ein Privatheim wurden von den Behörden kompensiert, indem sie mündigen Personen die Zwangseinweisung nach Kalchrain androhten, sollten sie nicht „freiwillig“ in eine private „Trinkerheilanstalt“, ein Erziehungsheim für „gefallene Mädchen“ oder eine private „Arbeiterkolonie“ eintreten.450 Die Behörden schufen sich auf diese Weise einen Handlungsspielraum über die gesetzlich festgelegten Grenzen hinaus. Sie vermochten durch diesen geschaffenen Graubereich auf Personen zuzugreifen, die sie ansonsten gar nicht oder nur in eine für diese Personen gemäß ihrem Alter oder dem Einweisungsgrund ungeeignete Anstalt einweisen konnten. Der Zürcher Regierungsrat verwies 1908 auf die Schwierigkeit, Frauen in Heimen unterzubringen: „Die geeignete Unterbringung von heruntergekommenen Frauenspersonen ist, selbst wenn diese den guten Willen zur Besserung zeigen, stets mit grossen Schwierigkeiten verbunden. […] Die Verbringung in die Straf- und Korrektionsanstalten kann nur unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen stattfinden, welche aber in sehr vielen Fällen nicht gegeben sind, wo es doch wünschenswert erscheint, dass etwas geschehe.“451 Mit diesen Worten rechtfertigte der Regierungsrat einen Kredit für die privaten Rettungshäuser der Heilsarmee mit der Begründung, ihre Anstalten könnten „einem bestehenden öffentlichen Bedürfnis bis zu einem gewissen Grade“ abhelfen.452 Erlaubten die Gesetze keine Zwangseinweisung in eine Anstalt, setzten die Behörden auf die Einwilligung der betreffenden Frau in einen freiwilligen Eintritt in ein Privatheim. Verweigerte die Frau diese, griffen die Behörden offenbar teilweise auf Zwangsmittel zurück, wie die Androhung einer Einweisung in ein Gefängnis oder eine „Zwangsarbeitsanstalt“ mit dem Ziel, die Einwilligung doch noch zu erlangen. Roswitha Dubach bezeichnet diese institutionalisierte 448 Vgl. hierzu Protokoll des Dachverbandes vom 28. Mai 1909. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. 449 Vgl. hierzu Protokoll des Dachverbandes vom 28. Mai 1909. Gosteliarchiv, Dachverband SEF, A 6:1. 450 Vgl. hierzu Lippuner Bessern, 2005, S. 186; Bollag, Massnahmen, 1940, S. 11 f. 451 Regierungsratsprotokoll des Kantons Zürich vom 16. Januar 1908, Nr. 107. StAZH, MM 3.22. 452 Regierungsratsprotokoll des Kantons Zürich vom 16. Januar 1908, Nr. 107. StAZH, MM 3.22.

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Machtasymmetrie, in der Personen in eine Zwangslage versetzt wurden, als „Zwang auf systemischer Ebene“.453 Der Zwang ist in diesem Fall bereits im System angelegt. Nicht immer vermochten die angewendeten Drohmittel zu fruchten. Wenn die Betroffene oder der Inhaber der elterlichen Gewalt nicht zur Einwilligung in die Versorgung bewegt werden konnten, waren den Behörden die Hände gebunden. In Basel wurde 1926 ein 16-jähriges Mädchen aus „sehr ungünstigen Verhältnissen“, das in Gefahr stand, „auf schlechte Wege zu kommen“, in das Privatheim Sonnenbühl in Bruggen (St. Gallen) eingewiesen. Die Einweisung der 16-Jährigen musste jedoch aufgrund des Widerstandes der jungen Frau und von deren Vater nach einem Monat abgebrochen werden. Die Vormundschaftsbehörde und der Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, der die Versorgung durchgeführt hatte, hatten vergebens versucht, den Vater, der offenbar über die elterliche Gewalt über seine minderjährige Tochter verfügte, zur Einwilligung in die Einweisung zu zwingen: „Es gefiel aber dem Mädchen in dem Heime nicht, und da der Vater weder von uns noch von der Vormundschaftsbehörde zur Unterzeichnung des Vertrages gezwungen werden konnte, kam es nach dem Probemonat wieder zurück.“454 Ob, und wenn ja, welche Drohmittel die Behörden anwendeten, um den Vater zur Einwilligung zu bewegen, bleibt unerwähnt. Eine problematische Anwendung von Zwang zur Durchsetzung von Norm- und Ordnungsprämissen ist in verschiedenen Fürsorgebereichen anzutreffen.455 Eine aktuelle Untersuchung zur Fürsorge und Eugenik in Bern und St. Gallen zwischen 1920 und 1950 zeigt anhand der Vormundschaftsbehörden, der Jugendfürsorge und der Sterilisationspraxis das Machtgefälle zwischen Fachleuten aus Psychiatrie sowie Fürsorge und den von ihnen Behandelten, das Situationen schuf, in denen die „formale Freiwilligkeit“ ausgehebelt werden konnte.456 Die „freiwillige“ Zustimmung in einen Eingriff sei „wohl in der Mehrheit der Fälle in einer Situation von diffusem insti­tutionellem und prozeduralem Zwang in mehrfach hierarchisierten Verhältnissen zustande […] [gekommen], in der zudem eine Weigerung von der Androhung gravierender Konsequenzen begleitet war“.457 Auch andere Untersuchungen zur Sterilisation zeigen ein ähnliches Bild.458 Sterilisation war in der Schweiz nur mit Einwilligung der betroffenen Frau möglich. Diese gesetz­ lichen Schranken wurden umgangen, indem Frauen vor scheinbare Wahlmöglichkeiten 453 Dubach, Abtreibungspolitik, 2007, S. 59 f. 454 Quartalsbericht der Frauenfürsorge I über das III. Quartal 1926. StABS, PA 882, B 2.1. 455 So haben etwa Forschungen zu psychiatrischen Anstalten diesen Zusammenhang aufgezeigt. Vgl. zu den Zwangsmaßnahmen und deren (Be-)Deutung im Bereich der psychiatrischen Anstalten bei Meier, Zwang, 2007. 456 Hauss, Eingriffe, 2012. 457 Hauss, Eingriffe, 2012, S. 187. 458 Wecker, Eugenik, 1998; Wecker, Eugenik, 2013; Dubach, Abtreibungspolitik, 2007; Dubach, Verhütungspolitik, 2013; Gossenreiter, Sterilisation, 1995, S. 236 f.

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gestellt wurden, wie die Alternative zwischen Sterilisation und „Arbeitserziehungs­anstalt“ oder die Ausführung einer Abtreibung nur mit einer gleichzeitigen Sterilisation. Der spezifische Zwangsmoment der „erzwungenen Freiwilligkeit“, der kein schweizspezi­ fisches Phänomen war,459 ist auch im Bereich der Kindswegnahme zu konstatieren. ­Basler Behörden drohten Eltern mit dem Entzug der Niederlassungsbewilligung, wenn sie keine gesetzlichen Mittel zur Durchsetzung der Versorgung besaßen und die Eltern sich gegen eine Einweisung ihres Kindes in ein Heim stemmten.460 Der Sonderstatus der Privatanstalten, der in einem diffusen gesetzlichen Graubereich anzusiedeln ist und geprägt war von gewährtem Spielraum, von erzwungener Freiwilligkeit, von einer gewissen informellen Zusammenarbeit und von einer geringen staatlichen Kontrolltätigkeit, eröffnete, so lässt sich schlussfolgern, den Privaten und den Behörden gleichermaßen einen willkommenen Gestaltungsspielraum in ihrer Fürsorgetätigkeit, den beide Seiten zu nutzen wussten. Es ging auch darum, die Staatsausgaben für das Fürsorgesystem durch marginale Kontrollen der unzähligen und zahlenmäßig dominierenden Privatheime und einen informellen Umgang mit geringeren administrativen Schranken zu begrenzen. Ebenso galt es, die Betreiber von Privatheimen, denen ein gewisses Vertrauen entgegengebracht wurde, in ihrer Tätigkeit möglichst wenig einzuschränken und ihnen die Arbeit so unbürokratisch wie möglich zu gestalten. Da die Privatheime komplementär zu kaum existierenden staatlichen Heimen waren, mussten die Behörden ein Stück weit Konzessionen an Private machen. Gestützt wurde der Sonderstatus der Privatheime durch einen gewissen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit des Eingriffs gegenüber bestimmten Gruppen von Personen und gegenüber den herrschenden Erziehungsprinzipien in der Heimerziehung. Für die Betroffenen wurde das Fürsorgesystem durch diesen Sonderstatus undurchsichtiger, unberechenbarer und willkürlicher. Vonseiten der privaten Fürsorge wird ein deutliches Interesse an minimaler Regulierung, möglichst großem Handlungsspielraum und weitreichenden Zwangsmitteln sichtbar. Beim Staat hingegen war das Maß an Vollmacht, das der privaten Fürsorge gewährt werden sollte, umstritten. Letztlich wurden den Privaten jedoch weitreichende Kompetenzen zugestanden, welche die Freiheitsrechte der Betroffenen stark beschnitten. Zugleich ist ein Bemühen um stärkere staatliche Kontrollen der privaten Fürsorge auszumachen, um Missbräuche verhindern zu können. Auf Gesetzesebene kam es allmählich, wenn auch immer wieder verzögert, zu vermehrten Regulierungen und einer deutlichen Verstärkung der staatlichen Aufsicht und es wurden neue Aufsichtsorgane bestimmt, die eine Kontrolle der Privatheime zur Aufgabe hatten. Die erlassenen Vorschriften 459 Für Deutschland vgl. Hitzer, Netz, 2006, S. 356 – 358; Harris, Absence, 2008, S. 285 f. 460 Jahresbericht der Versorgungs-Kommission Basel-Stadt über das Jahr 1904. Basel 1905. S. 13. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 12,2.

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waren aber teils äußerst schwammig formuliert und ließen einen entsprechenden Spielraum in der Umsetzung offen. Zudem blieb die Umsetzung der gesetzlich verankerten Aufsichtspflichten in der Praxis mangelhaft. Die Aufsicht über die privaten Anstalten gestaltete sich nach dem Grundsatz, dass sich der Staat möglichst wenig in deren innere Angelegenheiten einmischen sollte, sodass sich diese möglichst frei entwickeln konnten, füllten sie doch manche Lücke im System der staatlichen Anstalten aus. Die Auslagerung von staatlicher Gewalt an Dritte barg ein besonderes Gefahren­ potenzial, da gleichzeitig kaum wirksame und unabhängige Kontrollmechanismen eingeführt wurden.461 Obwohl Privatheime teils erhebliche Beschränkungen der persönlichen Freiheit vornahmen, blieb die Aufsicht seitens des Staates bescheiden. Der Fokus der marginalen staatlichen Aufsicht lag zudem auf den hygienischen Verhältnissen im Heim, nicht zuletzt zur Verhinderung von Seuchen, sowie auf der Vermeidung von „verschwenderischem“ Einsatz von Steuergeldern. Entsprechend forderte der Staat üblicherweise bei staatlich subventionierten Privatheimen die Mitgliedschaft in der heiminternen Aufsichtskommission, während die nicht staatlich subventionierten Heime weit weniger interessierten, weil in weit geringerem Ausmaß öffentliche Gelder hineinflossen. Das persönliche Wohlergehen der Menschen im Heim interessierte die Aufsichtsinstanzen hingegen kaum, sicherlich nicht zuletzt aufgrund eines gewissen Konsenses gegenüber den herrschenden Erziehungsprinzipien in der Heimerziehung,462 und rückte erst durch aufgedeckte massive Missstände ins Zentrum von behördlichen Unter­suchungen. Wie der Fall Pfrundweid zeigt, führten aber auch eingeleitete Untersuchungen lange nicht immer zur Beseitigung der Missstände. Sechs Untersuchungsberichte, die über zwanzig Jahre hinweg entstanden, legten immer wieder von Neuem massive Missstände in Erziehungs- und Strafpraxis sowie den hygienischen Verhältnissen offen. Obwohl die staatliche Aufsicht über die Pfrundweid in diesem Zeitraum aufgrund der Missstände ausgebaut wurde, blieb es offenbar bei punktuellen Reformen, oder eingeleitete Reformen wurden nach kurzer Zeit von der Pfrundweid wieder rückgängig gemacht.463 Auch gingen Änderungen, die vom Regierungsrat aufgrund der Missstände angeordnet wurden, zu wenig weit, wie dies einer der Untersuchungsberichte bemängelte. Die eingeleiteten Reformen veränderten den Heimalltag jedenfalls offenbar nur beschränkt oder nur für kurze Zeit, stellten doch Untersuchungsbehörden und Aufsichtsinstanzen in regelmäßigen Abständen erneut gravierende Mängel fest. Dieser Umstand verdeutlicht, 461 Gschwend, Gewalt, 2009, S. 134 f. 462 Vgl. Akermann, Bericht, 2012. 463 Das Beschränken auf punktuelle Reformen haben auch zwei weitere Untersuchungen festgestellt: Wyss, Grundprobleme, 1971 (Wyss zeigt auf, dass nach Heimskandalen meist nur punktuell Veränderungen eintraten oder Änderungen nach kurzer Zeit wieder rückgängig gemacht wurden); sowie Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012. Vgl. auch Kap. 6.3.

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Private Fürsorge und staatliche Sozialpolitik

dass die Aufsicht in der Praxis wenig wirkungsvoll war, und er verweist darauf, dass die Privatheime kaum Sanktionen zu fürchten hatten. Die Erzwingung einer Einwilligung zum Eintritt in ein Privatheim bei fehlenden gesetzlichen Grundlagen bedeutete zudem eine Verletzung der verfassungsmäßig garantierten rechtsstaatlichen Prinzipien. Staatliches Handeln musste (und muss) auf das Recht ausgerichtet sein (Gesetzmäßigkeits- oder Legalitätsprinzip). Die Herrschaft des Gesetzes setzte sich im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts als Garant für Rechtssicherheit durch.464 Die persönliche Freiheit durfte nur aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise. Der Grundsatz der persönlichen Freiheit war seit der Regeneration der 1830er Jahre, mit der Einführung liberaler Verfassungen, in den meisten Kantonen der Schweiz festgeschrieben.465 Gegenüber sexuell normabweichenden Frauen waren Behörden offenbar bereit, gestützt auf einen gewissen gesellschaftlichen und politischen Konsens, die in ihren Augen notwendige Fürsorgeerziehung auch ohne gesetzliche Legitimation zu erzwingen. Ein Leitziel des Liberalismus, die Freiheit des Individuums gegenüber staatlicher (willkürlicher) Gewalt durch bindende Gesetze zu schützen, wurde damit umgangen. Die Freiheitsrechte wurden für normabweichende Frauen teilweise außer Kraft gesetzt. Der Sicherung der Gesellschaft vor „gesellschaftsgefährdenden“ Personen wurde ein größeres Gewicht beigemessen als der Einhaltung grundlegender Rechte. Ein vergleichbarer Mechanismus zeigt sich auch bei der administrativen Versorgung, die rechtsstaatliche Prinzipien verletzte, indem sie Anstaltsversorgungen ohne Gerichtsurteil ermöglichte, die Gewaltenteilung missachtete und mit einem ungenügenden Rechtsschutz der Betroffenen ausgestattet war:466 Mit der Einführung und Aufrechterhaltung der administrativen Versorgung kamen die Befürworter in einen legitimatorischen Zugzwang, um diese Maßnahme innerhalb des liberalen Rechtsstaates zu rechtfertigen, wie Tanja Rietmann sowie Sabine Lippuner aufgezeigt haben.467 Die Anhänger der administrativen Versorgung, die bis in die 1960er Jahre zumindest im von Rietmann untersuchten Berner Grossrat die Mehrzahl bilde­ten, degradierten die verfassungsmäßigen Grundsätze zu Floskeln, denen kein allzu großes Gewicht beigemessen werden sollte.468 – Ganz offensichtlich waren die Freiheitsrechte für die „vollwertigen“ Bürger bestimmt, jedoch nicht für norm­ abweichende Personen, wie „Trunksüchtige“, „Vaganten“ oder „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Frauen. 464 Kley, Andreas. Rechtsstaat. In: Historisches Lexikon der Schweiz, http://www.hls.ch (22. April 2011). 465 Vgl. Spoendlin, Garantie, 1945, S. 25 f. 466 Vgl. Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 467 Lippuner, Bessern, 2005; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 468 Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 46 – 59.

6 Heimerziehung weiblicher Jugendlicher bis 1970 – ein kurzer Ausblick Das letzte Kapitel dieser Arbeit gibt einen kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Heimerziehung nach der Jahrhundertwende. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern sich die Heimerziehung für weibliche Jugendliche mit der verstärkten Aktivität des Staates und dem wachsenden Interesse an der Jugendfürsorge durch eine Vielzahl an Akteuren, allen voran vonseiten der Wissenschaft, nach der Jahrhundertwende bis zum Ende meines Untersuchungszeitraums veränderte. Es werden einige wichtige Entwicklungslinien aufgezeigt, die jedoch durch weitere Forschungen vertieft und präzisiert werden müssen.

6.1

Der Einfluss wissenschaftlicher Konzepte auf die Heimerziehung

Zwischen 1908 und 1937 fanden in der Schweiz sechs Kurse und Kongresse zum Thema Jugendfürsorge statt.1 Durch diese Kurse und Kongresse entstand in der Schweiz ein breites Forum für Jugendfürsorgedebatten, das zwischen Wissenschaftlern, Behörden und Vereinen einen verstärkten Austausch förderte.2 Die Debatten wurden durch einige wenige große private Organisationen vorangetrieben, die Tagungen organisierten und so den kontinuierlichen Austausch zwischen wissenschaftlicher Forschung und Fürsorgepraxis ermöglichten – allen voran waren dies die einflussreichen, nach Deutungshoheit strebenden Organisationen Pro Juventute und die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege (SGS).3 Nach Nadja Ramsauer entwickelte sich die Kinder- und Jugendfürsorge in der Schweiz mithilfe dieser Veranstaltungen zu einem eigenständigen Fürsorgebereich.4 Die Konstituierungsphase nach 1900 zeigte sich als Ausdifferenzierungs- und Verwissenschaftlichungsprozess. In den Kongressen fanden pädagogische, hygienische und medizinisch-psychiatrische Konzepte 1

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Vgl. zu diesen Kursen und Kongressen detailliert bei Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 291 – 309 und Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 161 – 207. Vgl. zudem Die Jugendfürsorge im Kanton Bern. Bericht über den 1. kantonal-bernischen Informationskurs für Jugendfürsorge vom 21.–23. September 1925 in Bern. Bern 1926. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 161 f. Vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 281. Vgl. zu diesen Vereinigungen und ihrem Einfluss auch Näheres im Kap. 5.3. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 161. Vgl. zum folgenden Abschnitt Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 161 – 163.

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Heimerziehung weiblicher Jugendlicher bis 1970

Eingang in die Diskussion um die Jugendfürsorge. Fürsorgebemühungen, die über die Schule hinausgingen, wurden erst seit den Fürsorgekongressen 1908 beraten. Die Fürsorge nach der Schulzeit fand nun Eingang in den Diskurs von Behördenvertretern und Wissenschaftlern. Die Bandbreite der Referenten, die an diesen Kursen und Kongressen für Jugendfürsorge Vorträge hielten, war beeindruckend. So tummelten sich auch im Referentenfeld über die schulentlassene weibliche Jugend Personen mit verschiedenem Hinter­ grund. Diese Diversität an Referentinnen und Referenten zeigt nicht nur deutlich, dass die Jugendfürsorge das Interesse breiter Kreise geweckt und sich zu einem viel diskutierten Thema entwickelt hatte, es verweist auch auf eine Verwissenschaft­ lichung des Jugendfürsorgediskurses. Die meisten Referate an den sechs Kursen und Kongressen wurden von Fachleuten aus Medizin, Recht und Pädagogik gehalten.5 Diese Fachrichtungen vermochten sich als Hauptinstanzen im Jugendfürsorgediskurs zu positionieren.6 Pädagogen und Pädagoginnen waren dabei mit knapp über 18 % als Referentinnen und Referenten innerhalb dieser Wissenschaftsgruppe deutlich untervertreten.7 Demgegenüber waren die Bereiche Recht und Medizin mit fast 60 % der Vortragenden sehr stark vertreten und deren Themenbereiche dominierten die Tagungen. Die Erzieherinnen und Erzieher, Anstaltsleiterinnen und -leiter (die Praktiker also) machten lediglich 2,4 % aus. Über 80 % der Redner waren Männer.8 Bei den Frauen waren Juristinnen, Lehrerinnen und Krankenschwestern am meisten vertreten. Auch Ärztinnen, Kindergärtnerinnen, Krippen- und Hortleiterinnen sowie Mitglieder von Frauenvereinen hielten Vorträge. Rednerinnen von Frauenvereinen machten nur gerade 9 % der Gruppe der weiblichen Rednerinnen aus. Wie Nadja Ramsauer aufgezeigt hat, vermochten sich in den Diskussionen über die Jugendfürsorge Psychiater und Hygieniker in den 1920er Jahren mit ihren wissen­ schaftlichen Analysen als Experten für Diagnostizierung von „Verwahrlosten“ durchzusetzen.9 Die Heilpädagogik hingegen verlor an Einfluss gegenüber diesen beiden dominierenden Wissenschaftszweigen.10 Die private, weibliche Wohltätigkeit war durchaus vertreten, wenn es um die weib­ liche schulentlassene Jugend ging, so auch weibliche Mitglieder der Sittlichkeitsvereine.11 5 6 7

Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 308. Vgl. Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 72; Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 161 – 207. Genau waren es 18,2 %. Vgl. die statistischen Angaben zu den Referentengruppen bei Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 139 und 308 f. 8 17,8 % Frauen, 82,2 % Männer (Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 308). 9 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 192 – 201. 10 Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 192 und 201. 11 Vgl. Erster Schweizerischer Informationskurs in Jugendfürsorge in Zürich 1908, Schweizerische Jugendfürsorgewoche 1914, zweiter Zürcher Jugendhilfekurs 1924.

Der Einfluss wissenschaftlicher Konzepte auf die Heimerziehung

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Jedoch kamen die Sittlichkeitsvereine im Fachdiskurs betreffend Jugendfürsorge nur dann zu Wort, wenn es um ihre praktische Tätigkeit ging. Über diese durften sie berichten, über deren Ziele, Aufgaben und Inhalte. Ging es jedoch über die konkrete Fürsorgetätigkeit hinaus, wurde den Mitgliedern der Sittlichkeitsvereine keine Plattform zur Darlegung ihrer Ansichten geboten. Die Untervertretung von Vertreterinnen privater Vereine (und generell von Frauen) als Rednerinnen ist sicherlich auch damit erklärbar, dass Frauen eine aktive Partizipation an wissenschaftlichen Themen und am Fachdiskurs sowie das Belegen von einflussreichen Führungsposi­tionen in der Fürsorge erschwert und ihnen hingegen vorwiegend die konkrete Fürsorgetätigkeit als typisch weibliche Aufgabe zuerkannt wurde. Zudem zeigt sich darin der zunehmende Erfolg wissenschaftlicher Akteure in ihrem Bestreben, mit ihren Lösungsvorschlägen und Erklärungsmustern in der Diskussion um die Lösung der anstehenden sozialen Probleme als Experten eine dominante Stellung einzunehmen, ein Prozess, den Lutz Raphael als Verwissenschaftlichung des Sozialen beschrieben hat.12 Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen vermochten sich in der Diskussion um sozialstaatliche Konzepte und Lösungswege im Bereich der sozialen Fürsorge als Experten zu positio­ nieren und ihr Fachwissen einzubringen. Mit der zunehmenden Bedeutung wissenschaftlicher Experten im Jugendfürsorgediskurs gewannen deren Deutungsmuster und Konzepte auch an Einfluss auf die Heimerziehung. So vermochten psychiatrische Gutachten bei fürsorgerischen Maßßnahmen, wie Heimeinweisungen, an Bedeutung zu gewinnen.13 In den 1930er und 1940er Jahren nahm die Zahl dieser Gutachten deutlich zu. Die Rechtfertigungen von Heimeinweisungen, wie sie in wissenschaftlichen Gutachten oder Einweisungsbegründungen von Behörden Eingang fanden, bestanden aus einem Potpourri aus psychiatrischen, eugenischen und moralisierenden Argumentationsmustern. Moralisierende Bezeichnungen, wie „Unsittlichkeit“, „Liederlichkeit“, „sexuelle Haltlosigkeit“, „sexuelle Enthemmtheit“ oder „sexuelle Triebhaftigkeit“, wurden in Kombination mit psychiatrischen Diagnosen, wie „Psychopathie“, „Schizophrenie“, „Schwachsinn“, „Debilität“, „Imbezillität“ und „Epilepsie“, benutzt.14 So gewann etwa das Psychopathiekonzept, das „kriminelles Verhalten zum blossen Epiphänomen einer vererbten ‚abnormen Konstitution‘ machte“ und das sich bis zur Jahrhundertwende in der 12 Raphael, Verwissenschaftlichung, 1996. 13 Vgl. Hauss, Norm, 2007, S. 65 – 67; Hauss, Eingriffe, 2012; Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 230. Die Bedeutung von Gutachten bei der Heimplatzierung nach dem 2. Weltkrieg untersucht auch das im Januar 2014 startende Synergia-Projekt zur Heimerziehung „Placing Children in Care: Child welfare in Switzerland (1940 – 1990)“. Zur Psychiatrisierung des Jugendfürsorgediskurses im Bereich der Heimerziehung in Deutschland vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 122 – 141. 14 Hauss, Norm, 2007, S. 70.

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Heimerziehung weiblicher Jugendlicher bis 1970

forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis weitgehend durchsetzen konnte,15 in den 1930er Jahren in der Schweiz als Konzept an Breitenwirkung.16 „Psychopathische Minderwertigkeit“ wurde definiert als „Abweichung von der Norm (vom Durchschnitt), in Bezug auf Eigenschaften, die allen Menschen eigen sind“.17 „Dirnen“ sowie „Anstaltszöglinge“ wurden zunehmend als „Psychopathen“ deklariert.18 Auch eugenisches Gedankengut, das in der Zwischenkriegszeit auch in der Schweiz rasch Verbreitung fand und hierzulande über den Zweiten Weltkrieg virulent blieb, floss insbesondere in den 1930er und 1940er Jahren in die Bewertungspraxis ein. Eugenische Konzepte, die oft ihre Umsetzung an Personen fanden, die auf die Fürsorge angewiesen waren, flossen denn auch neben moralischen und psychiatrischen Kategorisierungen in die politischen Debatten des Berner Grossrates der Jahre 1915 bis 1935 zur Errichtung eines staatlichen Erziehungsheims.19 Verweise auf eugenische Maßnahmen wie auch psychiatrische Kategorisierungen der „Heim­zöglinge“ bilden in der zwanzig Jahre dauernden Debatte des Grossen Rates aber Ausnahmen und tauchen erst Ende der 1920er Jahre vermehrt auf. In der Berner Grossratsdebatte überwogen die moralisierenden Argumentationsmuster deutlich.20 Auf die Vermischung von moralisch-pädagogischen, eugenischen und psychiatrischen Argumenten und finanziellen Erwägungen haben verschiedene Untersuchungen zur Psychiatriegeschichte und zur Fürsorge in der Schweiz hingewiesen.21 15 Vgl. die Untersuchung von Germann, Psychiatrie, 2004. Zit. nach ebd., S. 471. 16 Hauss, Norm, 2007, S. 67. 17 Engbarth, Geschichte, 2003, S. 209. Die Eigenschaften wurden jedoch nicht in einem Katalog verbindlich definiert. (ebd.). 18 In Deutschland kam es in den 1910er Jahren zu ersten umfangreichen Untersuchungen in Fürsorgeanstalten. Die erste von 1912 kam zum Schluss, dass über die Hälfte der „Fürsorgezöglinge“ als „psychopathisch“ eingeschätzt werden mussten. Eine weitere breit angelegte Untersuchung aus dem Jahr 1918, die erstmals auch bei weiblichen „Fürsorgezöglingen“ durchgeführt wurde, konstatierte ebenfalls einen hohen Anteil an „psychopathologisch auffälligen“ Jugendlichen (vgl. Engbarth, Geschichte, 2003, S. 210.). 19 Vgl. z. B. Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1927, S. 397 f.; Bericht des Generalprokurators des Kantons Bern an die Polizeidirektion des Kantons Bern, betreffend Motion Bühler und Errichtung einer Mädchenerziehungsanstalt. Ohne Jahr. Gosteliarchiv, SEFSektion, B 13:1. 20 Dieses Potpourri und die Dominanz moralischer Argumentationsmuster zeigen sich etwa in den Geschäftsberichten des Züricher Stadtrates über das Mädchenheim Heimgarten. Vgl. beispielsweise Geschäftsbericht des Stadtrates von Zürich 1913. Zürich 1914. S. 332; Geschäftsbericht des Stadtrates von Zürich 1915. Zürich 1916. S. 305. 21 Vgl. Hauss, Eingriffe, 2012; Hauss, Norm, 2007; Hauss, Sterilisation, 2009; Wecker, Eugenik, 2013; Imboden, Abtreibung, 2007; Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 42 f.; 199 – 234; Dubach, Abtreibungspolitik, 2007; Dubach, Verhütungspolitik, 2012; Wecker, Eugenik, 1998. Lippuner hingegen, welche die administrative Versorgung von „Liederlichen“ und „Arbeitsscheuen“ in

Der Einfluss wissenschaftlicher Konzepte auf die Heimerziehung

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Medizinische, moralische und biologische Erklärungsmuster arbeiteten dabei „mit schwer abgrenzbaren und wenig differenzierten Kategorien“.22 Maßnahmen und Eingriffe waren dabei selten einzig eugenisch begründet, sondern basierten auf einem Bündel an Argumenten. Offenbar bedienten sich auch die wissenschaft­ lichen Experten und der Staat ausgeprägt des moralischen Diskurses und die Moral verschwand nicht mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Fürsorge. Das moralisch-pädagogische Denkmodell zum sozialen Milieu erwies sich als erstaunlich anschlussfähig.23 Mit der internationalen Strafrechtsreformbewegung seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die seit den 1880er Jahren auch in der Schweiz diskutiert wurde,24 ging zudem eine „Pluralisierung der Delinquentenbilder“ und „Auffächerung der Sanktionskonzepte“ einher.25 Dieser Reformdiskurs, in dem sich die Juristen als Experten zu etablieren vermochten und auch die Psychiater zunehmend an Einfluss gewannen,26 fand Eingang in die Vorarbeiten zum eidgenössischen Strafgesetzbuch sowie in die kantonalen Strafgesetzrevisionen und wirkte sich direkt auf die Heimlandschaft aus. „Besserungsfähigkeit“ wurde nun neu in das Strafmaß einbezogen.27 Wer „besserungsfähig“ war, erhielt eine andere Strafe als ein „Unverbesserlicher“, vor dem die Gesellschaft geschützt werden sollte. Es wurden sichernde Maßnahmen eingeführt, die zum Schutz der Gesellschaft die Verwahrung und „Unschädlichmachung“ von „unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern“ und „verbrecherischen Geisteskranken“ vorsah sowie die Besserung und Heilung von „Erziehbaren“. Im Zentrum stand die Besserung, wurde diese nicht erreicht, galt es, die Person „unschädlich“ zu machen. Sabine Lippuner hat in ihrer Untersuchung zur „Zwangsarbeitsanstalt“

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die thurgauische „Zwangsarbeitsanstalt“ Kalchrain im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert untersucht hat, macht in den Anträgen der Armenbehörden und den Akten der „Zwangsarbeitsanstalt“ Kalchrain kaum biologistische Deutungen des abweichenden Verhaltens aus. Sie führt dies auf ein Stadt-Land-Gefälle zurück (Lippuner, Bessern, 2005, S. S. 139 – 183 und 279 und 292). Zu den Argumentationsmustern in der Fürsorgeerziehung in Deutschland vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 80 – 141. Hauss, Praxis, 2012, S. 60. Hauss, Praxis, 2012, S. 60. Vgl. Germann, Psychiatrie, 2004; Germann, Strafrechtsreform, 2003. Vgl. zur internationalen Strafrechtsreformbewegung ausführlich German, Psychiatrie, 2004, S. 88 – 101; Müller, Verbrechensbekämpfung, 2004, S. 126 und 159 f.; Wetzell, Inventing, 2000, S. 33 f.; Schauz, Strafen, 2008; Malmede, Jugendkriminalität, 2002, S. 138 – 146; Bollag, Massnahmen, 1940, S. 13; Stump, Adult time, 2003. Germann, Strafrechtsreform, 2003, S. 267. Vgl. Germann, Psychiatrie, 2004; Germann, Humanität, 2010, S. 216. Vgl. hierzu Germann, Psychiatrie, 2004, S. 197 und S. 472; Germann, Strafrechtsreform, 2003, S. 267 und S. 287; Lippuner, Bessern, 2005, S. 184 f., 263 – 285.

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Kalchrain im Kanton Thurgau festgestellt, dass Kalchrain zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr als „Besserungsanstalt“ verwendet wurde.28 Solange eine einzuweisende Person als „besserungs- und erziehungsfähig“ erachtet wurde, kam sie nicht in die „Zwangserziehungsanstalt“, sondern in private „Trinkerheilanstalten“, „Arbeiterkolonien“ oder Heime für „gefallene Mädchen“. Den „Zöglingen“ wurde jedoch bei erzieherischem Misserfolg angedroht, nach Kalchrain versetzt zu werden. Die „Besserungsfähigkeit“ als Aufnahmebedingung wurde etwa im Falle des Mädchenerziehungsheims Loryheim bei Münsingen und des Mädchenheims Pilger­ brunnen festgelegt.29 Die psychiatrischen Erklärungsmuster der „Unverbesserlichkeit“ ermöglichten es der Fürsorge, Erziehungsmisserfolge zu erklären und die eigene Arbeit nicht zu hinterfragen. Die Trennung nach „Besserungsfähigkeit“ bedingte die Spezifikation der Anstalten sowie die Abklärung der Heilchancen durch Experten.30 Beobachtungsheime oder -abteilungen für Kinder und Jugendliche sollten diese Aufgabe unter der Regie von Psychiatern oder Pädagogen übernehmen, die eine systematische Beobachtung und Kategorisierung der „Zöglinge“ vornahmen.31 Es waren an den neuen Theorien interessierte Fürsorger, Psychiater und Heilpädagogen, welche die Errichtung solcher spezialisierter Beobachtungsstationen forderten und die prägend für die Interdisziplinarität der entstehenden Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden.32 Als Vorbild dienten die USA, die in der Errichtung von Beobachtungsstationen als „bahn­ brechend“ galten.33 In Deutschland wurde die Beobachtung und Kategorisierung in entsprechenden Abteilungen bereits kurz nach der Jahrhundertwende eingeführt.34 In der Schweiz dauerte es etwas länger. Insbesondere zwischen 1920 und 1940 gab es in der Schweiz einen großen Zuwachs an Beobachtungsinstitutionen für Kinder und Jugendliche.35 Albert Wild listete 1933 in seinem Handbuch der sozialen Arbeit in der Schweiz 15 Beobachtungsstationen für Jugendliche auf.36 Auch einige Heime 28 Lippuner, Bessern, 2005, S. 185 f. 29 Im Loryheim sollten nur jene aufgenommen werden, für die es „noch einige Hoffnung auf Besserung“ gebe (Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 391). Der Pilgerbrunnen diente seit 1926 als „Arbeitserziehungsanstalt“ für weibliche, „besserungsfähige Verwahrloste“ im Alter von 18 bis 30 Jahren, nachdem 1925 im Kanton Zürich gesetzlich die Trennung von Personen nach dem Grad ihrer „Erziehungsfähigkeit“ und den Ursachen ihrer „Verwahrlosung“ festgesetzt worden war. 30 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 92. 31 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 20. 32 Zürrer-Simmen, Wege, 1994, S. 11. 33 Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 21. 34 Schmidt, Elend, 1999, S. 200 f. 35 Huonker, Anstaltseinweisungen, 2002, S. 36. 36 Vgl. dazu bei Wild, Handbuch, 1933, Bd. 1, S. 527 – 529.

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und ehemalige Heime der Sittlichkeitsbewegung wurden in Beobachtungsstationen umgewandelt. In der Folge wurde vermehrt fachspezifisch geschultes Personal mit psychologischem und heilpädagogischem Background eingestellt sowie externe Erziehungs- und Berufsberater, Psychologen und Psychiater konsultiert; so in den 1930er Jahren das Mädchenheim Tannenhof, 1941 der Sulgenhof (nun Heimgarten) und 1950 das Basler Zufluchtshaus (nun Mädchen- und Mütterheim Rankhof ).37 Die Aufgabe dieser Einrichtungen war es, die „Persönlichkeit“ des „zugewiesenen Jugendlichen zu erforschen, also eine Diagnose und Prognose zu stellen, aus der die zu ergreifenden erzieherischen oder therapeutischen Massnahmen abgeleitet werden“.38 Psychiatrische und medizinische Gutachten bestimmten „Charakter­ defekte“ sowie „Erziehungs- und Bildungsfähigkeit“ und entschieden über die weitere Zukunft der „Zöglinge“.39 Die Einführung von Beobachtungsstationen vergrößerte das Einflussgebiet vor allem der Psychiatrie und der Pädagogik, aber auch der Psychologie in der sozialen Fürsorge. Im Kanton Zürich beispielsweise wurde 1925 gesetzlich vorgeschrieben, dass der Einweisung von Jugendlichen in Erziehungsheime eine „gründliche ärztliche und pädagogische Untersuchung“ voranzugehen hatte.40 Das 1942 in Kraft getretene eidgenössische Strafgesetzbuch verankerte die Beobachtung von Jugendlichen schweizweit.41

37 Zum Tannenhof vgl. Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 20 und S. 20 Anm. 5; Meyer, Massnahmen, 1956, S. 23. Zum Heimgarten vgl. Bracher, Geschichte, 1986, S. 84; Besuch und Besprechungen im Heimgarten, 12. November 1969. StABE. 200 751 I. Zum Rankhof vgl. Zuflucht in ein behagliches Heim. Artikel in den Basler Nachrichten, 1. Dezember 1950. 2. Beilage zur Nr. 514; Brief des Basler Frauenvereins an den Regierungsrat Dr. Peter, Justizdepartement, vom 12. Oktober 1950. StABS, JD-REG 1. 8 – 1 – 4; Das Mädchen- und Mütterheim Rankhof, Basel oder Was ist der Rankhof ? Undatiert. StABS, PA 882, F 1.16a. 38 Müller, E. Abgrenzung der Zusammenarbeit im Erziehungsheim zwischen Psychiater, Psychologe und Pädagoge. Referat am Weiterbildungskurs der Erzieher nicht angepasster Jugendlicher. Freiburg in Breisgau 1953. In: Verein für Jugendfürsorge Basel (Hg.). 1984. S. 45 – 54. Hier S. 46. Zitat nach Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 338. Vgl. auch Engbarth, Geschichte, 2003, S. 211 f. 39 Engbarth, Geschichte, 2003, S. 209 – 214; Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 20. 40 Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern, § 18. Zur Entstehungsgeschichte von Beobachtungsstationen in Zürich vgl. Ramsauer, Kindswegnahmen, 2000, S. 240 f. 41 Nach Art. 90 sollten Jugendliche beobachtet werden, wenn der Jugendanwalt in der Voruntersuchung die Persönlichkeit des Jugendlichen nicht genügend abklären konnte. In der Praxis fand Art. 90 immer häufiger seine Anwendung (vgl. Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 338).

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Heimerziehung weiblicher Jugendlicher bis 1970

6.2 Die Heimerziehung für weibliche Jugendliche um 1940 Wie wir gesehen haben, hatten wissenschaftliche Deutungsmuster und Konzepte Auswirkungen auf die Heimerziehung und die gesetzlichen Bestimmungen dahinter, etwa durch die Errichtung von Beobachtungsstationen, in denen pädagogisch und psychiatrisch geschulte Experten die Klassifikation der Delinquenten vornahmen, durch die zunehmende Bedeutung psychiatrischer Gutachten und durch die Ausdifferenzierung der Heimlandschaft nach Alter und „Besserungsfähigkeit“. In diesem Kapitel gehe ich nun der Frage nach, wie die konkrete Erziehungspraxis bzw. der Alltag in jenen Heimen, die nach einer vorangehenden Beobachtung und Beurteilung zur Nacherziehung weiblicher Jugendlicher dienten, am Ende meines Untersuchungszeitraums aussahen und inwieweit sie sich im Vergleich zur Heimerziehung des 19. Jahrhunderts verändert hatten. Nach der Jahrhundertwende mehrten sich zunehmend die Stimmen, die nach Veränderungen in den bestehenden Heimen, die der Nacherziehung von Jugendlichen dienten, riefen. Die fachspezifische Bildung des Personals sollte verbessert und die Erziehung der „Zöglinge“ auf einer genauen Diagnose und einer darauf abgestimmten individualisierten Heilmethode basieren.42 Die Heilerziehung sollte dabei eine individualisierende, auf die jeweilige diagnostizierte seelische Verfassung und „psycho­pathische“ Prägung des Jugendlichen abgestimmte, gezielte heilpädagogische Beeinflussung des „Zöglings“ umfassen. Dabei kristallisierte sich allmählich eine Arbeitsteilung zwischen Psychiatern und Pädagogen in der Heimerziehung heraus, die dem Psychiater die Untersuchung und Zuweisung in ein entsprechendes Heim zusprach, dem Heilpädagogen die Übernahme der erzieherischen Aufgabe und die Festlegung der hierfür verwendeten Methode. Die Behandlungsmethoden sollten vom Heilpädagogen, der in Psychologie, Psychopathologie, Pädagogik sowie Physiologie gebildet sein sollte, aufgrund der psychiatrischen Diagnose über die „Erziehungs- und Bildungsfähigkeit“ sowie spezifische „Störungen“ individuell auf den „Zögling“ abgestimmt werden. Wurde jedoch befunden, dass es sich bei einem „Zögling“ um einen besonders „schweren Fall“ handle, waren psychiatrisch geleitete Heil- und Pflegeanstalten für die Behandlung zuständig. Auch spezifisch in Bezug auf die Erziehung von Prostituierten verlangten in der Schweiz seit den 1910er Jahren Wissenschaftler die Übertragung der Fürsorge in den Heimen auf die „professionelle Führung“ eines Heilpädagogen und eines psychiatrisch ausgebildeten Mediziners.43 Die Prostituierten sollten zudem einer psychiatrischen 42 Vgl. zum folgenden Abschnitt Engbarth, Geschichte, 2003, S. 210 – 220. 43 Müller, Kenntnis, 1911, S. 25. Vgl. zum dahinterstehenden Fürsorgekonzept, das auf kriminalanthropologischen Theorien aufbaute, Kap. 5.1 (Unterkapitel Die Neoreglementaristen und ihr neues Fürsorgekonzept).

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Untersuchung unterzogen werden, um ihre „Erziehungsfähigkeit“ festzustellen.44 Befand der Untersuchende, dass die Frau „heilbar“ sei, sollte sie unter kundiger Führung in einem Heim erzogen und therapiert werden. Inwiefern vermochten diese Forderungen in die Heimerziehung der hier untersuchten Heime Eingang zu finden? In einem Bericht der Polizeiassistentin von Basel aus dem Jahr 1943, der im Auftrag des Polizeidepartements des Kantons Basel-Stadt Informationen über die staatlichen und privaten „Nacherziehungs-, Zwangsarbeits- und Verwahrungsanstalten“ auflistet,45 in denen administrativ verurteilte Frauen ab 17 Jahren versorgt werden konnten,46 finden sich detaillierte Angaben über den Heimbetrieb, die verwendeten Erziehungsmethoden, die Räumlichkeiten und das Personal.47 Die Polizeiassistentin Elsa Bäumle besuchte im Vorfeld des Berichts 52 solche Heime in der ganzen Schweiz, überwiegend in der deutschsprachigen Schweiz (acht davon in der französischsprachigen Schweiz). Ziel der Besuche war es, den Behörden einen Bericht über den Erziehungserfolg und die Eignung der einzelnen bestehenden Anstalten zu liefern, damit Einweisungen gezielt in die Erfolg Versprechendsten ihrer Art erfolgen konnten. Das Austrittsalter musste bei 20 Jahren oder höher liegen, ansonsten berücksichtigte Bäumle die Anstalt nicht. Ebenso wenig besuchte sie Beobachtungs- und Durchgangsheime, weil diese nur zur vorübergehenden Aufnahme und Beobachtung konzipiert waren. Sie fokussierte bei ihren Heimbesuchen auf die Helligkeit und Freundlichkeit der Räume, auf die hygienischen Verhältnisse und das Vorhandensein von sanitären Anlagen, auf die Arbeitsmöglichkeiten für die Insassinnen, die verwendeten Erziehungsmethoden, die Freizeitgestaltung, die Seelsorge sowie die Fürsorge für die Entlassenen. Sie interessierte sich bei ihren Besuchen aber auch ausführlich für die Frage, ob externe Psychia­ ter hinzugezogen wurden, ob heilpädagogische Behandlungsmethoden Verwendung fanden und über welche fachspezifische Aus- und Weiterbildung das Anstaltspersonal 44 Müller, Kenntnis, 1911, S. 23. 45 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. III. Bäumle unterteilte die Anstalten in die nicht strikt voneinander trennbaren Untergruppen der Erziehungsanstalten, der „Heilstätte[n] für Alkoholkranke“, der „Arbeitserziehungsanstalten“, der „Verwahrungsanstalten“ und der „Zufluchtshäuser“. Viele Anstalten vollzogen zu diesem Zeitpunkt die Trennung nach verschiedenen Zielgruppen und nach Geschlecht noch nicht, obwohl dies im eben erst in Kraft getretenen eidgenössischen Strafgesetzbuch und in zahlreichen kantonalen Versorgungsgesetzen gefordert war (vgl. Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. VI f.). 46 „Sehr geehrte Frau!“ Brief der Polizeiassistentin des Polizeidepartements des Kantons BaselStadt. 14. November 1934. StABS, PD-REG 2,32.05. 47 Folgende Kategorien listet der Bericht auf: Schlafräume, Waschgelegenheit, Arbeitsräume, Freizeiträume, Personal, Vorbildung des Personals, Arbeitsbetrieb, Erziehungsmethoden, Seelsorge, Heilpädagogik, Freizeitgestaltung, Entlassenenfürsorge. Es sind auch allgemeine Informationen, wie Höhe des Kostgeldes, Anzahl Plätze, Aufnahmealter, Adresse, Inhaber und Leitung, für jedes Heim enthalten.

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verfügte.48 Dies deutet darauf hin, dass der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Heim­erziehung eine zunehmend große Bedeutung beigemessen wurde und dass sich insbesondere Psychiatrie und Heilpädagogik als wichtige Wissenschaften in diesem Feld zu etablieren vermochten. Elsa Bäumles Bericht führt konfessionelle und interkonfessionelle, ländliche und städtische Heime in ihrer Liste auf. Die Auflistung erlaubt aber nur beschränkt Rückschlüsse auf etwaige heimspezifische, regionale und konfessionelle Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Anstalten. Hierzu müsste ergänzend weiteres Quellenmaterial hinzugezogen werden. Bäumles Bericht zeigt zudem die Sicht einer Besucherin, die aus bürgerlichem Milieu stammte und die in ihrer Funktion als Polizei­assistentin täglich mit der Klientel der von ihr besuchten Anstalten zu tun hatte. Während ihrer Besuche in den Heimen befragte Elsa Bäumle die Anstaltsleitung und verließ sich überdies auf ihre persönlichen Beobachtungen.49 Insassinnen und das rest­liche Heimperso­nal scheint sie nicht befragt zu haben. Deren Sicht auf das Leben in den Anstalten bleibt unberücksichtigt. Die inhärenten Grenzen d ­ ieser Quelle sind offensichtlich: Aufschluss über das Leben im Heim gibt sie nur in beschränktem Umfang und mit einem „einseitigen“ Blick – zur Ergänzung wäre die Hinzuziehung weiterer schriftlicher Quellen sowie von Interviews mit ehemaligen Heimangestellten oder „Zöglingen“ nötig. Sinnigerweise erkundigte sich Elsa Bäumle, die selbst in ihrem Bericht die Versorgung von Frauen ohne entsprechende Kontrolle durch den Versorger kritisierte und darin die Gründe für das Vorhandensein einiger schlecht geführter Heime sah,50 nicht über die Nahrung in den von ihr besuchten Anstalten – eventuell auch wegen der kriegs­bedingten Ratio­nierung der Nahrungsmittel. Sie schreibt im Bericht lediglich, sie nehme an, in der Regel würden die Heime einfache, aber nahrhafte Kost servieren. Zudem fügt sie an, die Insassinnen würden „sich schnell beschweren, wenn es an Nahrung mangeln würde“.51 Auch über die Strafpraxis der von ihr besuchten Heime schweigt sich Bäumle aus. Ein negatives Schlaglicht auf die von Bäumle nicht näher erforschte Strafpraxis und das Essen werfen drei Beschwerden von geflüchteten „Zöglingen“ des städtischen Mädchenheims Tannenhof oder von deren Angehörigen aus den 1940er Jahren, im Zeitraum des Erscheinens von Bäumles Bericht.52 Die Beschwerden betrafen den Essens­entzug und die 48 Sie selbst war vor ihrer Tätigkeit als Polizeiassistentin jeweils ein Dreivierteljahr Schülerin im Säuglingsheim und Schülerin in der Gynäkologie im Frauenspital Basel (Frauenkrankenhaus) gewesen. Zu ihrem Lebenslauf vgl. „Sehr geehrte Frau Dr. Riggenbach“, 23. März 1931. StABS, PD-REG 1a 1950 – 1902. 49 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. IV. 50 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XVIII. 51 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XV. 52 Städt. Mädchenheim Tannenhof an das Zentralsekretariat des Wohlfahrtsamtes der Stadt Zürich, 5. Oktober 1945. StadtA Zürich, Abt VJc 17:6/3; Brief der Hausmutter des Tannenhofes an den Vorsteher des städt. Jugendamtes III, vom 15. April 1941. StadtA Zürich, Abt VJc 17:6/3;

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Strafaufgaben, das mangelhafte, eintönige Essen, Hunger, aber auch Parteilichkeit der Leiterin und Unwissen über den Grund der Einweisung. Die Vorsteherin reagierte auf die Flucht und Anprangerung mit Ohrfeigen sowie Einsperren bei Brot und Suppe – so jedenfalls die Aussage der Vorsteherin selbst. Bäumles Bericht erschien kurze Zeit vor den Heimskandalen Mitte der 1940er Jahre, die mehrere Anstalten betrafen. Unter den angeprangerten Heimen waren auch solche, die Elsa Bäumle besucht hatte; etwa das evangelische Landheim Siloah in Oberglatt bei Zürich. Dieses private Erziehungsheim bewertete Elsa Bäumle als eine der „Anstalten mit vorbildlicher Führung“. Es könne „sehr für Arbeitserziehung empfohlen werden“.53 Die Erziehung sei „eine mustergültige“ und die Insassinnen seien „sehr gut gehalten“. Die Leiterin sei eine „mütterliche Frau, die von verschiedenen Seiten als die vorbildliche Erzieherin bezeichnet“ werde. Das war 1942. Im Jahr 1944 stand ausgerechnet eben diese Heimleiterin vor Gericht.54 Angeprangert wurden ihre Erziehungsmethoden: Fesseln und den Mund mit Kissen oder Tüchern Zubinden bei unruhigen oder lärmenden Insassinnen sowie religiöse Suggestion der Insassinnen. Die Heimleiterin gab vor, ihre Weisungen direkt von Gott erhalten zu haben.55 Diese Beispiele deuten auf einen „einseitigen“ Blick der Polizeiassistentin während ihrer im Voraus angekündigten Anstaltsbesuche hin.

Zögerlicher Einbezug von Psychiatern und der Heilpädagogik als Heilmethode Von den 52 von Bäumle besuchten Anstalten beanspruchten elf (vier staatliche, sieben private) die Hilfe von psychiatrisch Geschulten zur Beobachtung, Beurteilung oder Behandlung. In vier davon wurden die als „psychisch krank“ eingestuften oder die zu Beobachtenden dabei in Heil- und Pflegeanstalten zur Unterbringung „psychisch Kranker“ versetzt, in den Heimen selbst wurde keine psychiatrisch geschulte Person konsultiert. Die restlichen sieben holten Psychiater ins Heim zur Beobachtung oder Behandlung jener „Zöglinge“, die als besonders „schwierig“ erachtet wurden oder bei denen eine „psychische Erkrankung“ vermutet wurde. Die restlichen 41 Anstalten verzichteten auf jegliche Mithilfe von Psychiaterinnen und Psychiatern. Noch zu Beginn der „Es erscheint aus eigenem Antrieb auf der kant. Polizeistation 2, Zürich 4: … 20. Februar 1945.“ StadtA Zürich, Abt VJc 17:6/3; Städt. Mädchenheim „Tannenhof “ an den Vorsteher des städt. Jugendamtes III, vom 26. März 1945. StadtA Zürich, Abt VJc 17:6/3. 53 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. 47. 54 Vgl. Scheinwerfer, Nr. 14, 30. Jg., 1. August 1944. S. 2 f. ZBZ, AY 316 i. 55 Die Heimleiterin wurde schließlich zu einer bedingten Strafe verurteilt. Das milde Urteil erregte Aufsehen. Vgl. Scheinwerfer, Nr. 20, 30. Jg., 24. Oktober 1944. S. 2 f. ZBZ, AY 316 i.

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1940er Jahre war demnach die Hinzuziehung von Psychiatern im Erziehungsalltag noch recht wenig verbreitet. Lediglich in einigen Heimen wurden bei als speziell „schwierig“ deklarierten Frauen Psychiater zur Beobachtung, Diagnose und Behandlung hinzugezogen. Das 1942 in Kraft getretene eidgenössische Strafgesetzbuch führte jedoch zu einem stärkeren Einbezug der Psychiatrie in die Anstalten. Aufgrund des Strafgesetzbuches wurde etwa im Kanton Bern in sämtlichen staatlichen „Korrektionsanstalten“ die psychiatrische Betreuung der Insassinnen und Insassen eingeführt.56 Das Loryheim als eine dieser Anstalten wurde fortan einmal pro Monat von einer Ärztin oder einem Arzt vom psychiatrischen Dienst der Heil- und Pflegeanstalt Münsingen besucht.57 Die Heimleiterin übergab Insassinnen bei „erzieherischen Schwierigkeiten“ oder „auffälligem psychischem Verhalten“ der Psychiaterin bzw. dem Psychiater zur Begutachtung und holte deren Rat zur weiteren Behandlung ein. Eine Therapie wurde in diesen Sprechstunden jedoch nicht durchgeführt, sondern lediglich eine diagnostische Abklärung vorgenommen. Bei „schwerwiegenden Charakteranomalien und fraglichen beginnenden Geisteskrankheiten sowie bei moralischen Defekten“ wurden die Insassinnen auch zur Beobachtung nach Münsingen eingewiesen. Bäumle fokussierte auch auf die Frage, ob in den 16 staatlichen und 36 privaten Heimen Heilpädagogik (die heutige Sonderpädagogik) als Heilmethode verwendet wurde. Sie bezeichnete die Heilpädagogik als „wichtige[s] Hilfsmittel“ in der Heim­ erziehung „Schwererziehbarer“. Die Heilpädagogik beschäftigte „sich mit der Bildung, Erziehung, Fürsorge (und Vorsorge) bei Kindern, Jugendlichen (und Erwachsenen) […], die nach damaligem Verständnis als anormal galten“.58 Im Gegensatz zu den psychopathologischen Erklärungen der Psychiatrie betonte die Heilpädagogik die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung eines Kindes stärker als die Anlagen.59 In den 1920er Jahren begann sie sich mit der Vergabe eines Lehrauftrags an der Universität Zürich als pädagogische Profession zwischen Medizin und Psychologie zu verorten, mit einer großen Gewichtung der Praxis.60 56 Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1944, S. 24. Folgende Heime waren bis Ende 1943 mit einer psychiatrischen Betreuung ausgestattet: Witzwil, Tessenberg, Hindelbank, Lindenhof, Torberg, Loryheim. Einzig in St. Johannsen war der psychiatrische Dienst zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeführt. 57 Vgl. Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1944, S. 49; Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1945, S. 51. Seit 1950 wurden alle neu Eintretenden dem psychiatrischen Dienst vorgestellt (vgl. Bericht über die Staatsverwaltung des Kantons Bern, 1950, S. 54). 58 Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 15 f. Hervorhebung im Original. 59 Wolfisberg, Abhängigkeit, 2003, S. 55. 60 Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 100 f. Anders als die Disziplinen Hygiene und Psychiatrie, für die es seit Längerem Lehrstühle gab, wurde die Heilpädagogik erst ab 1924 zu einem akademischen Fach, 1931 wurde schließlich der erste universitäre Lehrstuhl – an der Universität Zürich – eingerichtet (vgl. Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 101 – 107; Ramsauer,

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Es verwendeten aber nur gerade zwei der insgesamt 52 Anstalten die Heilpädagogik als Hilfsmittel in ihrer Erziehungsarbeit, wie Bäumle kritisch feststellt.61 Die Heilpädagogik steckte in den 1930er und 1940er Jahren noch in der Anfangsphase als Wissenschaft oder Disziplin,62 ihre Vorgeschichte reicht aber in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück.63 Gegenüber der Psychiatrie erlangte sie jedoch wesentlich weniger Prestige und Autorität.64 Wie der Bericht von Bäumle zeigt, fand die Heilpädagogik zu Beginn der 1940er Jahre in der konkreten Erziehungspraxis der Anstalten noch kaum Anwendung.

Bildungshintergrund des Heimpersonals Elsa Bäumle kritisierte das zu niedrige Ausbildungsniveau des Personals sowie dessen Unterdotierung. Sie forderte in ihrem Bericht entsprechend die Einstellung von zahlenmäßig mehr und fachspezifisch besser geschultem Personal. In ihrem Bericht vermerkte sie bei jedem Heim, welchen Bildungshintergrund die Angestellten aufwiesen. Den größten Teil, nämlich in 26 Anstalten,65 machten Angestellte mit einer praktischen Ausbildung aus, etwa als Näherin, Glätterin oder Wäscherin. In den Privatheimen folgten mit 21 Heimen an zweiter Stelle das geistliche Personal (in elf davon katholischer und in sieben reformierter Richtung, in drei arbeiteten Heilsarmee­offizierinnen).66 In staatlichen Heimen hingegen spielte solches Personal kaum eine Rolle, waren doch einzig zwei mit geistlichem Personal reformierter Richtung bestückt. Nach Bäumle absolvierten Schwestern von vier Heimen eine vierjährige heilpädagogische Ausbildung als Erzieherinnen für „Schwererziehbare“ des katholischen St. Katharinawerkes. In den restlichen Heimen hatte das geist­ liche Personal intern die Klosterschule, Diakonissenschule oder Heilsarmeeschule besucht. Bäumles Bericht deutet darauf hin, dass dieses überwiegend keine (heil) pädagogische oder psychologische Aus- oder Weiterbildung besass. Lediglich bei einem dieser Heime vermerkte sie, dass die Schwestern pädagogisch geschult seien,

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Kindswegnahmen, 2000, S. 190). Gesuche an Universitäten um Aufnahme von Vorlesungen im Bereich der Fürsorge in den Jahren 1908 und 1922 scheiterten am Widerstand der Universitäten (Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 144 f.). Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIV. Es handelte sich um das Theresiahaus Solothurn und das Katharinaheim Basel. Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 36 und 41 und 61. Carlo Wolfisberg hat die Entwicklung der Heilpädagogik in seiner Dissertation untersucht (vgl. Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, insbesondere Kap. 3 und 4). Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 41. Davon 19 Privatheime und 6 staatliche. In 15 Privatheimen war geistliches Personal eingestellt (gegenüber zwei staatlichen Heimen).

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bei einem anderen, dass eine der Schwestern an der Universität Freiburg Heilpäda­ gogik und Psychologie studiert habe. Das Diakonissenhaus Riehen beispielsweise, dessen Diakonissen in verschiedenen Anstalten für junge Frauen arbeiteten, bot keine eigene Ausbildung für die Heimerziehung an, sondern nur im Pflegebereich, was Bäumle auch kritisierte.67 1943 äusserte sich auch der Bischof von Basel und Lugano kritisch zur fachspezifischen Qualifikation von Ordensleuten und forderte eine pädagogische Schulung für alle in Anstalten tätigen Schwestern, was offenbar bislang nicht der Fall war.68 Die drittgrößte Gruppe bildeten die Lehrpersonen (in zwölf Anstalten), wie ehemalige Primarlehrerinnen oder Hauswirtschaftslehrerinnen, die eine pädagogische Ausbildung zur Wissensvermittlung, jedoch keine fachspezifische für die Erziehungsaufgabe in Heimen aufwiesen. Die viertgrößte Gruppe bildete mit neun Heimen das nichtgeistliche Fachpersonal, das eine spezifische Ausbildung in Anstaltserziehung genossen hatte. Diese fachspezifische Bildung reichte von einem Kurs für Heimleiterinnen bis zum Besuch eines heilpädagogischen Seminars, von einer heilpädagogischen Vorbildung bis zur Ausbildung an einer sozialen Frauenschule. Absolventinnen von sozialen Frauenschulen waren kaum vertreten. Nur gerade eine Anstalt beschäftigte eine solche, in einer anderen arbeitete eine Schülerin der sozialen Frauenschule als Praktikantin. Der größte Teil dieses Fachpersonals in sozialer Arbeit war in einer privaten Anstalt tätig. Sieben Privatheime beschäftigten solches Personal, demgegenüber hatten nur zwei staatliche Anstalten solches Fachpersonal engagiert.69 An vierter Stelle (in sechs Anstalten) fungierte eine Heimleitung, die ohne praktische oder fachspezifische Ausbildung lediglich eine langjährige Berufserfahrung aufweisen konnte oder als Sohn bzw. Tochter eines Heimleiters die Erziehungspraxis von Kindesbeinen an mitbekommen hatte.70 Berufserfahrung allein scheint weiterhin akzeptiert worden zu sein, wenn diese Gruppe auch verglichen mit den anderen Berufsgruppen klein war. Sie erhält aber deshalb Gewicht, weil es sich dabei jeweils um den einflussreichen Posten der Heimleitung handelte. Elsa Bäumle schreibt denn auch in ihrem Bericht, neben erzieherisch geschultem Personal (dem sie den deutlichen Vorrang vor ungeschultem gab) zeitigten auch die „besonders befähigten Leiterinnen“ ohne fachspezifische Ausbildung Erfolg. „Charakterfestes“, am Erziehungserfolg 67 Vgl. zur Ausbildung der Riehener Diakonissen Hoch, Diakonissenanstalt, 1963. 68 Vgl. Ries, Kirche, 2013, S. 206. Die Thematik des Ausbildungsstandes von katholischem Ordenspersonal untersucht auch ein zur Zeit laufendes Forschungsprojekt (Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt). 69 Bei den staatlichen Anstalten handelt es sich um das Loryheim in Münsingen und den Heimgarten bei Bülach. 70 In vier Privatheimen und zwei staatlichen war dies der Fall.

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interessiertes, pädagogisch fähiges Personal vermöge „aus moralisch Defekten und Gesetzesübertreterinnen brauchbares Menschenmaterial zu schaffen“.71 Die staatlichen Heime setzten demnach stark auf klassische nichtgeistliche Heim­ erzieherberufe, namentlich Lehrpersonen und praktische Berufsleute, und verzichteten weitgehend auf geistliches Personal oder Absolventinnen neuer Ausbildungsgänge in Sozialer Arbeit. Der Fokus auf Lehrpersonen und praktische Berufsleute, wie Glätterinnen, Wäscherinnen und Näherinnen, dürfte nicht zuletzt mit der Bedeutung der hauswirtschaftlichen Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen sowie mit dem Lehrerüberfluss, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte und erst mit der Hochkonjunktur nach dem 2. Weltkrieg in einen Lehrermangel überging,72 zusammenhängen. Dass die staatlichen Heime kaum geistliches Personal beschäftigten, könnte auf den interkonfessionellen Charakter vieler staatlicher Anstalten, aber auch auf Nachwuchsprobleme der Orden seit den 1940er Jahren zurückzuführen sein. Das weitgehende Fehlen von fachspezifisch ausgebildetem Personal dürfte nicht zuletzt finanzielle Beweggründe gehabt haben, denn dieses Personal war teurer als rudimentär oder gar nicht ausgebildete Hilfskräfte. Elsa Bäumle erwähnt zudem die Schwierigkeiten gerade ländlich gelegener Anstalten, Fachpersonal zu finden, weil dieses lieber in andere Berufe gehe, die anziehender seien und überdies besser bezahlt würden.73 Sie fordert denn in ihrem Bericht auch eine bessere Entlohnung des Personals, um mehr Fachpersonal anziehen zu können. Die Privatheime demgegenüber beschäftigten häufiger Fachpersonen als die staatlichen Heime. Dies dürfte unter anderem damit zusammenhängen, dass viele Privatheime für weibliche Jugendliche und erwachsene Frauen von Frauenvereinen gegründet wurden, die sich als Teil der Frauenbewegung für neue Erwerbsmöglichkeiten für Frauen starkmachten und deshalb soziale Frauenberufe förderten. Aber auch die Privatheime griffen weit häufiger auf günstiges Personal zurück, namentlich Angestellte mit einer praktischen Ausbildung sowie konfessionell gebildetes, geist­ liches Personal, das quasi für „Gottes Lohn“ arbeitete. Der Bildungshintergrund des Heimpersonals verweist auf das Bestehen gewisser fachspezifischer Ausbildungen und Kurse. Die Professionalisierung 74 der Fürsorgearbeit ging langsam vonstatten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sie mit der Ausbildung von speziellen (ausschließlich männlichen) Armenlehrern und Erziehern für Armenschulen und „Besserungsanstalten“ ein.75 Die Armenlehrerausbildung wurde 71 72 73 74

Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. III. Tuggener, Armenerzieher, 1985, S. 12 f. Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XI. Vgl. die Definition von Professionalisierung bei Matter, Armut, 2012, S. 18 – 22, die ich meinen Ausführungen zugrunde lege. 75 Germann, Humanität, 2010, S. 224; Tuggener, Armenerzieher, 1985, S. 1 – 11.

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jedoch in der Schweiz in den 1870er Jahren aufgehoben. Nach der Jahrhundertwende folgten erste Kurse für Jugendfürsorge, die den Grundstein für die seit 1918 entstehenden sozia­len Frauenschulen bildeten.76 In diesen Frauenschulen, die erstmals eine mehrjährige Berufsausbildung für professionelle Sozialarbeiterinnen anboten, war von Beginn an die Heimerziehung Teil der Ausbildung, wenn auch bis in die 1950er Jahre noch kaum differenziert nach Berufsbild.77 Fächer wie Psychologie und Päda­ gogik standen neben Fächern wie Recht, Hygiene, Sozialhygiene, Volkswirtschaft und Armenfürsorge als zentrale Wissensgebiete auf dem Stundenplan der sozialen Frauenschulen.78 Neben den sozialen Frauenschulen entstanden seit 1914 Ausbildungsgänge für Anstaltsgehilfinnen, die in der Regel sehr praxisnah und pragmatisch konzipiert waren.79 Zudem führte die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 1925 und 1937 erste Fortbildungskurse in sozialer Arbeit für Männer durch, nachdem Versuche gescheitert waren, an Universitäten Vorlesungen anzubieten.80 Mehrjährige und regelmäßige Berufsausbildungen, wie sie die sozialen Frauenschulen anboten, wurden jedoch für Männer weiterhin nicht eingeführt. Die sozialen Frauenschulen behielten das Ausbildungsmonopol.81 Erst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch Männer in den sozialen Frauenschulen zur Ausbildung zugelassen wurden, sowie mit der Einführung von Fortbildungskursen für Männer seit 1943 und der Gründung der Berner Fürsorgeschule 1955 erhielten Männer Zugang zu einer fundierteren, mehrjährigen Ausbildung in sozialer Arbeit.82 Auch heilpädagogische Aus- und Weiterbildungen kamen seit den 1920er Jahren zunehmend hinzu. Etwa der 1924 eingeführte einjährige heilpädagogische Ausbildungsgang an der Universität Zürich, der einen jeweils einsemestrigen theoretischen und praktischen Teil beinhaltete. Im Theorieteil wurden die Fächer Allgemeine Psychologie, Spezielle Psychologie, Psychopathologie, Allgemeine Pädagogik und Spezielle Pädagogik (Heilerziehung und Fürsorge), Anatomie und Physiologie (beide mit besonderer Berücksichtigung der Heilerziehung) sowie Hygiene (Sozial- und Anstaltshygiene) 76 Vgl. zur Gründung von Kursen für Jugendfürsorge und sozialen Frauenschulen ausführlich Matter, Armut, 2011, S. 49 – 94. 1918 erfolgte die erste Gründung in Luzern, die katho­lische, sozial-caritative Frauenschule Luzern; wenig später und im selben Jahr folgte Genf, 1919 Fribourg und 1920 Zürich. 77 Vgl. Egli, Frauenbild, S. 44 – 48; Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 320; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 33 f.; Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XII. 78 Zu den Lehrplänen sozialer Frauenschulen vgl. Matter, Armut, 2011, S. 204 – 217. 79 Tuggener, Armenerzieher, 1985, S. 13. 80 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 144 f. Zu den bis weit ins 20. Jahrhundert erfolglosen Bemühungen zur Akademisierung der sozialen Arbeit vgl. ausführlich Matter, Armut, 2011. 81 Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 144 f. 82 Matter, Armut, 2011, S. 345; 347 – 353.

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unterrichtet.83 Seit Beginn der 1930er Jahre gab es auch katholische heilpädagogische Angebote,84 die in Ablehnung der interkonfessionellen Heilpädagogik von einem spezifisch katholischen Zugang geprägt waren, in dem die Medizin, Psychiatrie, ­Psychologie und die Naturwissenschaften primär einen hilfswissenschaftlichen Charak­ter hatten und demgegenüber die Theologie im Zentrum stand.85 Speziell für geistliches Personal wurden ebenfalls neue Ausbildungsgänge initiiert, die unter anderem für die Tätigkeit in Erziehungsheimen konzipiert waren. Beispielsweise führten die Ingenbohlerinnen im Pensionat Theresianum seit 1927 eine Fürsorgerinnenschule. Diese Schule war konzipiert zur Ausbildung von angehenden Schwestern im Einsatz in Kinderheimen und für die Tätigkeiten in der Jugendfürsorge.86 Schwerpunkte dieser Ausbildungen waren religiös geprägte erzieherische Fragen, haushälterische und pflegerische Themen sowie Werken/Gestalten, Musik und Spiel/Turnen.87 Auch Lektionen zur pädagogischen Psychologie wurden erteilt, seit 1933 zudem zu Psychologie, Pädagogik, Heilpädagogik und Jugendwohlfahrtskunde, die etwa die „Ursachen der Jugendnot“ behandelte.88 Vor der Einführung dieser Kurse fand eine gewisse Grundschulung im Rahmen des Noviziates statt, die eine Grundschulung theologischer Art beinhaltete.89 Auch das St. Katharinawerk führte 1934 ein Schwesternseminar ein, das die Schwestern, die in Erziehungsheimen arbeiteten, ausbilden sollte. Nach einem 3- bis 6-monatigen Grundkurs vorwiegend in Religion, Philosophie und Pädagogik folgte ein einjähriges Praktikum in einer Institution für „schwer erziehbare“ Jugendliche, gefolgt von einem einjährigen Theoriekurs mit Schwerpunkt Kirchengeschichte, Pädagogik und Psychologie mit anschließender Prüfung.90 Wie eine Untersuchung zu den Lehrinhalten der Innerschweizer Lehrschwesterninstitute Ingenbohl, Baldegg, Cham und Menzingen zeigt, war die „Vermittlung von katholisch-konfessionellen Strukturen, Denkansätzen sowie Glaubens- und Frömmigkeits­praktiken zentral“ und die Moraltheologie spielte eine übergeordnete Bedeutung.91 83 Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 100. 84 Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 114 – 116. 85 Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002, S. 209 – 225. Vgl. auch Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012. 86 Vgl. Lehrpläne Kinderpflegerinnenschule/Sozial-pädagogisches Schwesternseminar im Pensionat Theresianum. Archiv Ingenbohl. 87 Vgl. Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen, 2013, S. 74 f. 88 Vgl. Lehrpläne Kinderpflegerinnenschule/Sozial-pädagogisches Schwesternseminar im Pensionat Theresianum. Archiv Ingenbohl. 89 Vgl. Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen, 2013, S. 74 f. 90 Keller, Anstalt, 1988, S. 117. 91 Vgl. Vorburger-Bossart, Bedürfnis, 2008, S. 163 – 184, Zit. S. 165. Seit den 1950er Jahren, vereinzelt bereits in den 1940er Jahren, wird in den verwendeten pädagogischen Werken eine

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Die neuen Lehrgänge und Kurse, die auch oder ausschließlich für Heimpersonal konzipiert waren, aber auch das Erscheinen von neuen Zeitschriften für Heimerzie­ hung und die Gründung von spezifischen Fachverbänden in der Schweiz, wie sie insbesondere in den 1920er und 1930er Jahren zu beobachten sind,92 spiegeln das Bemühen um Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Heimerziehung wider. Welches Wissen in diesen Aus- und Weiterbildungen jedoch genau vermittelt wurde und welchen Einfluss diese Bildungsinhalte auf die Erziehungspraxis der Heime hatten, ist bislang noch wenig erforscht worden.93 Kurz vor dem Erscheinen von Bäumles Bericht trat das eidgenössische Strafgesetzbuch in Kraft, das finanzielle Unterstützung von Aus- und Fortbildung des Anstaltspersonals vorschrieb.94 Der fachspezifischen Bildung der Heimangestellten wurde ganz offenbar auch seitens des Gesetzgebers verstärkt Gewicht beigemessen. Bäumles Fokussierung auf den Bildungshintergrund des Personals passt in dieses Bild. Das Inkrafttreten dieses Gesetzes bewirkte nach und nach einen stärkeren Einbezug von fachspezifisch geschultem Personal in den Erziehungsheimen. Im staatlichen Mädchenheim Loryheim ist der Wandel deutlich sichtbar. Während bis 1941 keine Rede von Weiterbildungskursen für die Angestellten war, wird nun jährlich von solchen Fortbildungen berichtet.95 In den ersten Jahren beschränkten sich diese Kurse allerdings auf praktische Kurse, etwa Wäscheschneidereikurse, Nähkurse oder Geflügelzuchtkurse. Seit 1944 kamen zu den praktischen Fachkursen auch theoretische Weiterbildungskurse im Bereich Psychiatrie, Psychologie und Heilpädagogik hinzu, bei denen es etwa um die „Entwicklung des Kindes“ oder das Thema „Psychiater und

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gewisse Neuausrichtung sichtbar, indem u.a. die Sündenlehre und moralische Aspekte der Sittenlehre zurücktraten (vgl. ebd., S. 180). Etwa das seit 1930 publizierte „Fachblatt für Heimerziehung und Anstaltsleitung“ oder die seit 1944 erschienene „Zeitschrift für Anstaltserziehung“, der „Schweizerische Verein für Heimerziehung und Anstaltsleitung“ (Sverha), der sich 1932 aus dem 1844 gegründeten „Schweizerischen Armenerzieherverein“ konsolidierte, oder die 1932 von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft gegründete „Studienkommission für die Anstaltsfürsorge“, ein Organ der Schweizerischen Landeskonferenz für soziale Arbeit. Vgl. zu den sozialen Frauenschulen Matter, Armut, 2011; zu katholischen Ausbildungsgängen vgl. Vorburger-Bossart, Bedürfnis, 2008, S. 163 – 184; Ingenbohler Schwestern in Kinderheimen, 2013; Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt. Zu den Lehrinhalten der Heilpädagogik vgl. Wolfisberg, Heilpädagogik, 2002. Das im Januar 2014 startende Synergia-Projekt zur Heimerziehung (Placing Children in Care: Child welfare in Switzerland (1940 – 1990) wird diese Thematik für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg detailliert untersuchen. Art. 390 des eidgenössischen Strafgesetzbuches besagte: „Der Bund fördert und unterstützt die Heranbildung und Fortbildung von Anstaltsbeamten.“ Aus diesem Artikel leitete sich eine gesetzliche Pflicht zur finanziellen Unterstützung von Aus- und Weiterbildungen ab, die sich auch auf die Unterstützung von Ausbildungskursen bezog (Thormann, Strafgesetzbuch, 1941, S. 569). Berichte über die Staatsverwaltung des Kantons Bern.

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Erzieher“ ging. Diese Kurse wurden von verschiedenen Vereinen und Verbänden organisiert, die sich im Bereich der Fortbildung für Heimpersonal zu positionieren begannen. Zu ihnen gehörte der Schweizerische Hilfsverband für Schwererziehbare, der Verein für Schweizerisches Anstaltswesen und der Schweizerische Verein für Straf-, Gefängniswesen und Schutzaufsicht. Aber auch die kantonale Fürsorgedirektion und die kantonale Armenpflege organisierten Weiterbildungen. Noch am Ende des Zweiten Weltkrieges war jedoch eine fachspezifische Ausbildung in Heimerziehung – sei es der Besuch eines Kurses oder einer sozialen Frauenschule – für die Heimleitung und das Heimpersonal in der Schweiz nicht obligatorisch.96 Dieser Umstand hing sicherlich auch damit zusammen, dass es in der Schweiz bis dahin außer sporadischen Fortbildungskursen keine fundierten, mehrjährigen Ausbildungsgänge für männliche Heimleiter und männliches Hilfspersonal gab. Neben der fehlenden Verpflichtung zu einer fachspezifischen Ausbildung musste das Heimpersonal auch keine Praktika in Heimen vorweisen.97 Zudem zogen die Ausbildungen in sozialer Arbeit bis Mitte des 20. Jahrhunderts zwar Ansätze anderer Wissenschaften hinzu, integrierten diese jedoch nicht in eine eigene Methode der sozialen Arbeit.98 In der schweizerischen Sozialarbeit entfaltete sich bis dahin keine fundierte Methodendiskussion. Dies gelang erst mit der Rezeption der aus den USA stammenden Methode des social casework, die Ansätze der Psychoanalyse und der Psychotherapie integrierte und auf die ich noch näher eingehen werde.99

Erziehungsmittel und -ziele Erziehungsziele der von Elsa Bäumle besuchten Heime waren „die Neuordnung der Lebensführung und der sittlichen Begriffe des Zöglings“, die Erziehung „zu einem geordneten Tageswerk und zu gesetzmässigem Verhalten“.100 Als Erziehungsmittel, die Verwendung fanden, nennt sie die Beaufsichtigung,101 Arbeit und Seelsorge, 96 Siegfried, Gedanken, o. J., S. 49. 97 Siegfried, Gedanken, o. J., S. 49. 98 Vgl. zu Folgendem Matter, Armut, 2011. 99 Vgl. Kap. 6.3. 100 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. III. 101 Die panoptischen Züge der Überwachung, wie sie auch in staatlichen Heimen anzutreffen sind, zeigen sich etwa anhand eines Grundrisses einer exemplarischen staatlichen Anstalt, wie er für den Vollzug des in Planung stehenden eidgenössischen Strafgesetzbuches skizziert wurde. Die Aufseher waren so positioniert, dass sie Sicht auf jeden einzelnen Schlafplatz hatten (Vorschläge und Formulierungen zur Ausführung der Art. 416 und 417 des Vorentwurfs zum schweiz. Strafgesetzbuch, 18. Februar 1916. StABS, PD-REG 2,32.02). Auch in der 1908 projektierten (aber nicht verwirklichten) staatlichen Anstalt in Basel sollte die

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Aussprachen, Vergünstigungen (Belohnungssystem), Turnen, Vorträge, Androhung von härteren Maßnahmen, Anpassung an die Hausordnung, Strafen wie Arrest und Redeverbot, Erteilen von Schulunterricht und Lebenskunde, Berufsausbildung, Versetzen in ein „gutes Milieu“, Beobachtung, individuelle Erfassung und Behandlung der einzelnen „Zöglinge“, „guten“ Einfluss des Personals, „gute“ Freizeitbeschäftigung, Vorbereiten auf den Ehestand, Ausbildung in Kindererziehung sowie „Geduld, Liebe und Erbarmen“ vonseiten der Erzieherinnen.102 Am weitaus häufigsten wurde von den von Bäumle besuchten Heimen die Arbeitserziehung als Erziehungsmittel genannt. Die anderen Erziehungsmittel folgen alle weit abgeschlagen. In den „Nacherziehungsanstalten“, die lediglich weibliche Jugendliche aufnahmen, wurde ferner nach Bäumle die Erziehung ergänzt durch Anstandslehre, Lebenskunde, Fortbildungsschule sowie durch die „gehobene Atmosphäre des Schönen“.103 Bäumle geht auf einige dieser Erziehungsmittel näher ein, denen sie besonderes Gewicht zusprach. Der individuellen Erfassung und Behandlung des einzelnen Zöglings, wie es nach der Jahrhundertwende gerade aus der Ecke der Heilpädagogik und Psychiatrie vermehrt gefordert wurde, maß Bäumle eine zentrale Bedeutung zu. Jene Heime, die dieses Hilfsmittel anwendeten, hebt sie als besonders gute Anstalten hervor.104 In den von ihr besuchten Heimen ist eine allmähliche Individualisierung der Erziehung festzustellen, die jedoch erst in Ansätzen in einigen Heimen anzutreffen ist. Lediglich 14 Heime verwendeten dieses Erziehungsmittel. Es handelt sich dabei um Bemühungen des Personals, den Charakter des „Zöglings“ zu erfassen und anschließend „individuell“ auf ihn einzuwirken, etwa durch gezielte „Aussprachen“ durch das Personal (Hausmutter, Schwestern, Oberin, Pfarrer etc.), durch individuelle Behandlung und Beobachtung der „Zöglinge“ oder durch Eingehen auf individuelle Probleme. Es wurde dabei versucht, die angestrebten Erziehungsziele durch möglichst individuelles Eingehen auf jeden einzelnen „Zögling“, seine spezifischen „Probleme“, „Anlagen“ und „Verhaltensauffälligkeiten“ zu erreichen. So vermerkt Bäumle etwa beim Erziehungsheim für katholische Mädchen Richterswil: „Bei jedem Kabine für die Aufseherin direkt neben den zwei Schlafsälen mit 28 Betten stehen (Das Polizei-Departement des Kantons Basel-Stadt an den Tit. Regierungsrat. 14. März 1908. StABS, Straf- und Polizeiakten, T 4). 102 Auch der Jurist Theodor Kady listet in seiner Dissertation aus dem Jahr 1937 zum Freiheitsentzug im eidgenössischen Strafgesetzbuch dieselben Erziehungsmittel auf wie Bäumle, die in den Anstalten Verwendung fanden: Arbeit, Unterricht in Allgemeinwissen, Seelsorge durch einen Anstaltspfarrer, Gottesdienste und religiöser Unterricht, persönliche Beeinflussung, physische Ertüchtigung, Disziplinierung sowie die Erziehung zur „guten“ Freizeitgestaltung, sprich das Lesen „guter“ Bücher, das Hören von Vorträgen, Musizieren und Feste Feiern in einem „geschmacksbildenden“ Rahmen (vgl. Kady, Freiheitsentziehung, 1939, S. 122 und S. 133). 103 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIV. 104 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIV.

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Zögling wird versucht, Charakterfehler durch Besprechungen und ständige Hinweise zu beheben. Es wird besonders Willensschulung geübt. Durch die langjährige Erziehung und Beobachtung kann kein Mädchen seine wahre Veranlagung so verbergen, dass sie nicht von den Schwestern gesehen und beeinflusst werden könnte.“105 Die individuelle Erfassung und „Führung“ der „Zöglinge“ beruhte im Erziehungsheim Richterswil zunächst auf einem auf Erfahrung beruhenden Wissen, das erst später durch Hinzuziehung von pädagogischer und psychologischer, insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren tiefenpsychologischer Literatur ergänzt wurde.106 Wie diese individuellen Behandlungen in den einzelnen Heimen jeweils genau ausfielen und was für Methoden angewendet wurden, ist im Bericht von Bäumle nicht vermerkt und wird stark von den jeweiligen Personen, welche die Behandlung vornahmen, sowie deren Bildungshintergrund abhängig gewesen sein. Demgegenüber wurde Seelsorge in sämtlichen von Elsa Bäumle besuchten staatlichen und privaten Anstalten durchgeführt.107 Während die privaten Anstalten überwiegend konfessionell geführt wurden,108 waren die staatlichen Heime interkonfessionell, nahmen also junge Frauen verschiedener Glaubensrichtungen auf. Seelsorge spielte aber auch in allen interkonfessionellen Heimen eine wichtige Rolle. Diese starke religiöse Note der Heime, wie sie nicht nur in der Schweiz anzutreffen war, offenbart eine recht erstaunliche Vermischung von Religion und Staat in einem säkularen Staatssystem. Die Säkularisierung von Politik und Gesellschaft machte vor den Toren der staatlichen Erziehungsheime und der vom Staat genutzten Privatheime offenbar halt.109 Im Bereich der Heimerziehungspraxis kann von einer Abschwächung von Religion durch den zunehmenden Einfluss der Wissenschaft auf die soziale Arbeit entsprechend kaum die Rede sein. Den frauenspezifischen Arbeitsmöglichkeiten maß Bäumle einen großen Stellenwert bei.110 In einem „geordneten Haushalt“ sollten die Insassinnen zu „richtigem Haushalten“ und Handarbeit erzogen werden. Diese Präferenz sah sie vor allem in privaten Heimen erfüllt, während staatliche meist nur über wenig variierte Arbeitsmöglichkeiten im 105 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. 46. 106 Keller, Anstalt, 1988, S. 120. 107 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIV und S. 41. 108 Vier interkonfessionelle, jedoch mit protestantischer Führung, zudem drei Heilsarmeeheime, 12 katholische und 15 protestantische (Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. V). 109 In der Forschung wird die Säkularisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert kontrovers diskutiert, ob die Säkularisierungsthese haltbar ist oder – am anderen Ende der Skala – ob gerade eine Rekonfessionalisierung bzw. eine Rückkehr der Religionen stattfand. Vgl. Brown, Secularisation, 2010; Pollack, Säkularisierung, 2003; Lehmann, Säkularisierung, 2004; Blaschke, Konfessionen, 2002; Borutta, Genealogie, 2010; McLeod, Secularisation, 2000; sowie die Beiträge im Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011). 110 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XII–XIV.

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Haushaltsbereich und in typischen Frauenberufen verfügten. Die staatlichen Anstalten würden sich meist auf Putzen der Anstaltsböden, Waschen, Flicken der Anstaltswäsche oder von Militärkleidern, Mithilfe in der Küche und teilweise bei der Feldarbeit beschränken. Daneben würden kaum „differenzierte Haus- oder sonstige weibliche Berufsarbeiten ausgeführt“, die den Insassinnen umfassendes Erlernen einer „geordneten“ Haushaltsführung ermöglicht hätten.111 Die meisten privaten Heime hingegen betrieben eine Weißnäherei und Damenschneiderei und beschäftigten die Insassinnen mit Waschen, Bügeln und Flicken für private Kundschaft. Im Gegensatz zu den Heimen für ältere Frauen boten zudem sämtliche staatlichen und privaten Heime für weibliche Jugendliche Lehren oder Anlehren in frauenspezifischen Berufen mit Lehrabschlussprüfung an – auch wenn lange nicht alle Insassinnen als befähigt oder angepasst genug erachtet wurden, für eine solche Berufslehre infrage zu kommen.112 Die Ausbildungsmöglichkeiten in den Heimen wurden beispielsweise im Kanton Zürich seit den 1920er Jahren ausgebaut. Das kantonalzürcherische Gesetz über die Versorgung von Jugendlichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern vom 24. Mai 1925 schrieb den Anstalten vor, dass sie die „Möglichkeit einer geeigneten Erziehung“ mit der „Möglichkeit der Vermittlung einer Berufs- und Schulausbildung verbinden“ mussten.113 1927 vermerkte der Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit: „Weil nun die heutige Zeit mit ihrer andern Geistesverfassung durch unsere Fenster hereinschaut und mit jedem Mädchen einzieht, stellen Erziehung und Ausbildung andere Anforderungen an unser Haus als früher.“114 In ihrem Erziehungsheim Pilgerbrunnen fand seit 1923 einmal pro Woche ein Schulnachmittag für alle „Zöglinge“ statt, der neben Lesen und Schreiben durch Geografie und Rechnen ergänzt wurde.115 Seit 1927 kam von Mitgliedern des Komitees erteilter Unterricht in Lebenskunde hinzu. Der Lebensunterricht war für Austretende gedacht und beinhaltete Themen wie Lohn, Sparen, Vor- und Nachteile verschiedener Berufe, Einstellung zum Leben sowie das Zivilrecht, speziell Verlobung, Heirat, Eheund Kinderrecht.116 Seit 1930 konnten „Zöglinge“ des Pilgerbrunnens an der Gewerbeschule ein Berufsexamen in Glätten ablegen, was jedoch lange nicht allen ermöglicht wurde.117 Mit der Einführung des obligatorischen Haushaltsunterrichts im Jahr 1933 111 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIII. 112 Vgl. die detaillierte Auflistung bei Hauser, Berufsausbildung, 1945, S. 119 – 128; 132 – 134. Es gab von Heim zu Heim große Unterschiede in den Wahlmöglichkeiten für eine solche Lehre, die einen boten verschiedene (An-)Lehren an, andere beschränkten sich auf eine (An-)Lehre für den Haushalt. 113 Bollag-Winizki, die sichernden Massnahmen, 1940, S. 55. 114 40. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1927, S. 10. 115 40. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1927, S. 10. 116 40. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1927, S. 10 f. 117 50 Jahre Zürcher Frauenbund, 37 f.; Mädchenasyl z. Pilgerbrunnen, 1932, EFZ, Schachtel C.I. Heft 1.

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wurden zudem Kochkurse in der ausgebauten Küche eingeführt, die zum erweiterten Erziehungsprogramm der hauswirtschaftlichen Ausbildung der Töchter gehörten. Die spärliche Freizeit wurde in den meisten staatlichen Anstalten mit Gottesdiensten sowie gelegentlich mit Lesen und Schreiben, Vorträgen, Lichtbildern und Musik angereichert. Die privaten Heime unternahmen nach Bäumle mehr, um den „Zöglingen“ eine „gute“ Freizeitkultur beizubringen, etwa Spiele, Handarbeiten, Vorlesen, Singen, Spaziergänge, Ausflüge, Radiohören, Lesen und Schreiben.118 Hier werde den Insassinnen die Freude an der Natur und an „schönen Spielen“ beigebracht, statt an Wirtshaus- und Kinobesuch, so Bäumle.119

Langlebigkeit traditioneller Erziehungskonzepte Die in den privaten wie staatlichen Heimen für weibliche Jugendliche Anfang der 1940er Jahre angewandten Erziehungsmethoden und -ziele – so zeigt der Bericht von Elsa Bäumle – waren praktisch dieselben, wie sie auch in den von religiösen, wohltätigen Organisationen gegründeten Jugendheimen für die „gefährdeten“ und „gefallenen Mädchen“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Anwendung kamen. Sie basierten demnach nicht ausschließlich, aber doch wesentlich auf Erziehungskonzepten, die auch im 19. Jahrhundert die Heimerziehung geprägt hatten und die sich als langlebig und auch in Wissenschaftskreisen und seitens des Staates als konsensfähig herausstellten. So gehörten Seelsorge und Arbeitserziehung zu diesen traditionellen Erziehungsmethoden, ebenso das System von Strafen und Vergünstigungen, das Überwachungs- und Kontrollsystem, das Fernhalten vom alten Milieu, die Disziplinierungsbemühungen wie auch die Erziehung zu „gutem“ Freizeitverhalten. Untersuchungen zeigen, dass die angewandten Erziehungsmethoden in den Heimen, auch mit dem verstärkten Einbezug von fachspezifisch geschultem Personal, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein kaum pädagogisch reflektiert blieben und dass generell in der sozialpädagogischen Praxis lange Zeit eine pädagogische Reflexion fehlte.120 118 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XV. Die beiden staatlichen Nacherziehungsheime Heimgarten und Loryheim boten ähnlich den Privatheimen umfangreichere Aktivitäten. In den Statuten des Berner Mädchenheims Loryheim steht vermerkt, die Freizeit der „Zöglinge“ sollte neben Geselligkeit, Handarbeit, Ausflügen und Theateraufführungen durch Lesen „guter Lektüre und Zeitschriften“ ausgefüllt sein (Statuten des Loryheims Münsingen, 12. Oktober 1931 (Statuten/Organisation). S. 2. Gosteliarchiv, SEF-Sektion Bern, B 13:1). Vgl. auch für den Heimgarten den Tagesablauf: „Arbeitsordnung“ des Mädchenheims Heimgarten bei Bülach, undatiert. StABE. BB XII C 117. 119 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XV. 120 Vgl. Wilhelm, Rationalisierung, 2005, S. 41 f. und 141; Hochuli, Heimerziehung, 1999, S. 238 – 259. Dies zeigt sich auch in Deutschland, das bezüglich Heimerziehung als wichtiges Vorbild für die

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Auch die Erziehungsziele der Heime erwiesen sich als langlebig, wie der Bericht von Bäumle zeigt. Erziehung zu frauenspezifischen Arbeiten, zu „ordentlichem“ Haushalten, sexueller Reinheit, „gutem“ Freizeitverhalten und religiöser Festigkeit blieben wichtige Ziele. Die hauptsächliche Klientel der Erziehungsheime für weibliche Jugendliche waren auch in den staatlichen Anstalten als sexuell gestrauchelt oder sittlich gefährdet erachtete junge Frauen.121 Der moralische Impetus blieb in der Heimerziehung junger Frauen erhalten. Diese Kontinuität traditioneller Erziehungskonzepte wurde nicht zuletzt durch den Umstand gefördert, dass die staatlichen Heime seit Langem in diesem Bereich tätige private, auf diesen Konzepten aufbauende Anstalten als Vorbilder hinzuzogen und der privaten Wohlfahrt ein gewisser Expertenstatus in Sachen Erziehung „sittlich gefährdeter“ und „gefallener“ junger Frauen zukam. Neben Kontinuitäten gab es aber auch Änderungen in der Heimerziehungspraxis. Seit der Jahrhundertwende, insbesondere seit den 1920er und 1930er Jahren, ist ein deutliches Bestreben nach verstärkter Verwissenschaftlichung und Professio­nalisierung der Heimerziehung auszumachen. Ganz im Sinne der gerade aus Wissen­schaftskreisen ertönenden Stimmen, die nach einem stärkeren Einbezug von Heilpädagogen und Psychiatern in die Begutachtung und Therapie von „Zöglingen“ riefen, nach einer Verbesserung der fachspezifischen Bildung des Heimpersonals sowie nach der Anwendung einer auf die jeweilige diagnostizierte spezifische „Störung“ und „Erziehungs- und Bildungsfähigkeit“ des einzelnen Jugendlichen abgestimmten individualisierten „Heilmethode“, wurden in einigen Heimen Psychiater in die Behandlung und Begutachtung von als besonders „schwierig“ oder als „psychisch auffällig“ erachteten „Fällen“ einbezogen. Zudem wurde, insbesondere mit der Einführung des eidgenössischen Strafgesetzbuches 1942 und der damit einhergehenden staatlichen finanziellen Unterstützung der Aus- und Fortbildungen im Heimerziehungsbereich, vermehrt auf die fachspezifische Aus- und Weiterbildung des Personals geachtet. In verschiedenen Heimen zeigt sich zudem Schweiz diente. Vgl. Schmidt, Mädchen, 2002, S. 155 – 224; S. 288 – 291; Kuhlmann, Erziehungsvorstellungen, 2010; Frings, Gehorsam, 2012. 121 So wurde im staatlichen Erziehungsheim Heimgarten bei Bülach im Jahr 1913 in 18 von ins­ gesamt 23 Fällen „sexuelle Verwahrlosung“ als Ursache der Einweisung bezeichnet (Geschäftsbericht des Stadtrates von Zürich, 1913, S. 332). Als Hauptmerkmal der „Zöglinge“ galt ihr angeblicher „Hang zur Unsittlichkeit“ (Geschäftsbericht des Stadtrates von Zürich, 1914, S. 326). Der primäre Zweck des staatlichen Erziehungsheims Loryheim war die sittlich-moralische Hebung von „gestrauchelten“ jungen Frauen (Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1929, S. 395; Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, 1923, S. 162). Diesen bleibenden Fokus auf die Sexualität zeigen auch Forschungen zur Heimerziehung von Frauen: Lippuner, Bessern, 2005, S. 154; Ludi, Frauenarmut, 1989, S. 31; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 192 – 199; Puenzieux, Schwachen, S. 22 und 221.

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eine gewisse Individualisierung der Erziehung, indem Beobachtung, Aussprachen des Personals mit dem „Zögling“, individuelle Erfassung, Behandlung und Beeinflussung der „Zöglinge“ verstärkt Eingang fanden, jedoch erst in einigen Heimen. Möglichst jeder „Zögling“ sollte dabei individuell nach seinem „Charakter“, seinen „Anlagen“ und seinem „Verhalten“ erzieherisch beeinflusst werden. Diese angestrebte Verwissenschaftlichung und Professionalisierung fand aber erst in Ansätzen Eingang in die hier interessierenden Nacherziehungsheime (im Gegensatz zu den seit den 1920er Jahren entstehenden Beobachtungsstationen), indem bis zum Ende des untersuchten Zeitraums nicht fachspezifisch ausgebildetes Personal weiterhin überwog und erst wenige Heime auf Psychiater und erst zwei Heime auf heilpädagogische Heilmethoden zurückgriffen. Trotzdem trugen diese Änderungen seit den 1920er Jahren, insbesondere seit den 1940er Jahren dazu bei, dass Deutungsmuster und Konzepte aus Psychiatrie, Pädagogik und aus Psychologie in der Heimerziehungspraxis an Bedeutung gewannen.122 Neu hinzugekommen sind überdies die Turnstunden, die circa seit den 1920er Jahren vermehrt in den Tagesablauf integriert wurden.123 Ebenso wurde der schulischen Bildung und der Berufsbildung der jungen Frauen seit den 1920er Jahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Der Bericht von Bäumle zeigt, dass sich die Erziehungsmittel und –ziele in den Heimen trotz dieser Änderungen aber nur in recht geringem Ausmaß veränderten. Die traditionellen Erziehungskonzepte blieben offensichtlich weiterhin konsensund anschlussfähig.

122 Es ist zurzeit ein Forschungsprojekt in Gang, das den Einbezug von Psychiatern und Heilpäda­ gogen bei Kinderheimen bis in die 1970er Jahre näher untersucht: Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt. In jüngster Zeit ist auch, ausgelöst durch Vorwürfe von in den 1950er bis 1970er Jahren von Fremdplatzierungen Betroffenen, die medikamentöse Behandlung sowie die Durchführung von Medikamentenversuchen bei Heim- und Verdingkindern in den Fokus der Schweizer Öffentlichkeit und der Forschung geraten. Erste Erkenntnisse hierzu wird Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt, liefern. Auf Bundes­ ebene (Runder Tisch, http://www.fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch/index.html) und im Kanton Thurgau (zur Psychiatrischen Klinik Münsterlingen) sind Bestrebungen in Gang, diese Problematik aufzuarbeiten. 123 Im Mädchenheim Pilgerbrunnen etwa wurden 1927 Gymnastik- und Rhythmikstunden eingeführt (40. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1927, ­S. 10 f.). 1934 wurde ferner ein Turnsaal eingerichtet (50 Jahre Zürcher Frauenbund, 37 f.; Mädchenasyl z. Pilgerbrunnen, 1932, EFZ, Schachtel C.I. Heft 1).

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Vorzüge der Privatheime Elsa Bäumle kritisiert in ihrem Bericht einige Privatheime deutlich und spricht ihnen die Fähigkeit zur erfolgreichen Erziehung von „Zöglingen“ ab. Über alle Anstalten hinweg attestiert sie jedoch den Privatheimen bessere Noten als den staatlichen. Bei ihren Besuchen stellt sie ein deutliches Gefälle zwischen den privaten und staat­lichen Anstalten in puncto Qualität der Erziehung fest und macht diese Qualitätsunterschiede an verschiedenen Merkmalen fest. Sie vermerkt, die staatlichen stünden „in Bezug auf Einrichtung und Erziehungsmöglichkeiten weit hinter den privaten Anstalten zurück“.124 Sie würden mehr Fachpersonal verwenden, ermöglichten den „Zöglingen“ häufiger Berufsausbildungen und verfügten über variiertere Arbeitsmöglichkeiten und Freizeitprogramme. Die privaten Anstalten sollten in ihren Augen in diesen Bereichen als Vorbild für die staatlichen gelten. Als „[g]leichwertig den besten privaten Anstalten“ sah Bäumle nur ganz wenige staatliche Anstalten, darun­ ter die beiden staatlichen Erziehungsheime für weibliche Jugendliche Loryheim bei Münsingen und Heimgarten bei Bülach.125 Dass diese beiden Heime nach den Vorbildern bereits bestehender Privatheime für weibliche Jugendliche entstanden waren,126 mochte nicht unwesentlich zu diesem Umstand beigetragen haben. Die Privatheime arbeiteten in den Augen Bäumles differenzierter und professioneller als staatliche Heime, was ihre Existenzberechtigung gegenüber staatlichen und verstaatlichten Heimen stärkte. Markus Gräser stellt in seiner Untersuchung zur bürgerlichen Sozialreform und dem welfare state building zwischen 1880 und 1940 die These auf, dass eine schwächer ausgebaute und weniger zentralisierte staatliche Fürsorge der privaten Wohlfahrt mehr Entfaltungsmöglichkeiten gewährte und dass es dank dieses größeren Freiraumes zu einer stärkeren Professionalisierung der sozialen Arbeit durch die privat organisierte Fürsorge kommen konnte.127 Es wäre möglich, dass der relativ große Gestaltungsfreiraum der Privatheime in der Schweiz auch hier Auswirkungen auf dessen Ausgestaltung hatte.

124 Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. IV. Unter „Einrichtung“ verstand Bäumle die Sauberkeit, die vorhandenen Möglichkeiten, Haushaltsarbeiten und Handarbeiten zu verrichten, sowie die Inneneinrichtung, die zwar einfach, aber hell und freundlich sein sollte (vgl. Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. XIII). 125 Des Weiteren erachtete Bäumle die Anstalten Les Majoresses sowie Rolle und Lenzburg als gleichwertig, die Letzteren beiden „hauptsächlich punkto Führung und Erziehung“ (vgl. Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. IV). 126 Vgl. Kap. 5.4 (Unterkapitel Parastaatliches Milizsystem). 127 Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft, 2009.

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6.3 Das Ende der Magdalenenheime nach 1968 Im Erziehungsheim Pilgerbrunnen gingen nach dem Zweiten Weltkrieg die Anmeldungen zurück.128 1951 waren gerade noch zwölf „Zöglinge“ im Heim. Die Betreiberinnen des Heims beobachteten dieselbe Entwicklung bei anderen ähnlichen Anstalten und erklärten sich diesen Rückgang damit, dass „eine vorgefasste Meinung gegenüber den Anstalten und Heimen [herrsche], die mancher Amtsstelle, manchem Versorger eine Unterbringung in eine Familie ratsamer erscheinen lässt“.129 1952 reagierten die Betreiberinnen auf die veränderte Situation, schlossen am 1. März das Erziehungsheim und eröffneten stattdessen ein „Wohnheim für erwerbstätige Töchter“.130 Auch im Erziehungsheim Richterswil waren die „Zöglingszahlen“ Mitte der 1950er Jahre stark rückläufig.131 Ebenso klagten das Mädchenheim Heimgarten bei Bülach und das Mädchenheim Riesbach in den 1950er Jahren über Unterbesetzung.132 Als Erklärung wurde neben Umbauarbeiten die „allgemeine Zeiterscheinung“ genannt, unter der auch andere ähnliche Heime, etwa das Mädchenheim Stäfa und das Frauenheim Ulmenhof in Ottenbach, zu leiden hätten.133 Mit dieser „Zeiterscheinung“ war die nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend kritische Einstellung gegenüber der administrativen Anstaltsversorgung sowie der Heim­erziehung, ihren Erziehungsansätzen und Erfolgsaussichten, gemeint. Diese Kritik erklang zunächst verstärkt aus journalistischen (einmündend in einer „Anstaltskrise“ in den 1940er Jahren)134 und aus rechtswissenschaftlichen Kreisen, seit den 128 65. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1953, S. 9. 129 65. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1953, S. 11. 130 65. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, 1953, S. 8 und 10. Das Heim bot 25 jungen Frauen, die in Zürich die Schule besuchten, eine Lehre machten oder arbeiteten, zu günstigen Mietpreisen ein Zimmer (65. Jahresbericht des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, S. 11. Vgl. auch die Hausordnung des Wohnheims für Töchter, EFZ Schachtel C.II. Heft 4). 131 Keller, Anstalt, 1988, S. 40. 132 Fürsorgeamt der Stadt Zürich an Herrn Dr. C. Karrer, Zentralsekretär des Wohlfahrtsamtes der Stadt Zürich, 12. Februar 1954. Heimgartenarchiv, Ordner Chronik Heimgarten, unter Konzepte/Organisation. Vgl. zum Heimgarten auch Protokoll des Stadtrates von Zürich, 4. Mai 1962, Nr. 1263. 133 Fürsorgeamt der Stadt Zürich an Herrn Dr. C. Karrer, Zentralsekretär des Wohlfahrtsamtes der Stadt Zürich, 12. Februar 1954. Heimgartenarchiv, Ordner Chronik Heimgarten, unter Konzepte/Organisation. Vgl. zum Heimgarten auch Protokoll des Stadtrates von Zürich, 4. Mai 1962, Nr. 1263. 134 Zur Heimkritik, die auch schon vorher immer wieder aufflammte, vgl. Tanner, Erziehung, 1998, S. 191 – 194; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 87 – 105; Criblez, Pädagogisierung, 1997, S. 340 – 348; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 239 – 262; Schär, Erziehungsanstalten, 2006; Hafner, Heimkinder, 2011, S. 127 – 156; Wyss, Grundprobleme, 1971; Hürliman, Kinder, 2000, S. 114 – 124;

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1960er Jahren auch zunehmend aus den bislang der Heimkritik überwiegend ablehnend gegenüberstehenden fürsorgerischen Fachkreisen.135 Seit den 1950er Jahren wurde in fürsorgerischen Kreisen die aus den USA stammende Methode des social casework rezipiert, die einen allmählichen Wandel in der sozialen Arbeit einleitete. Sie inte­grierte Ansätze der Psychoanalyse und der Psychotherapie, um die individuellen, psycho­logischen Probleme der Unterstützungsbedürftigen erfassen zu können.136 Dieser Ansatz – der jedoch in der Schweiz erst allmählich Eingang in die Praxis der sozialen Arbeit fand – strebte eine Abkehr von der traditionellen, paternalistischen Mildtätigkeit sowie den repressiven, autoritären und moralisierenden Zügen der Sozialarbeit an. Er propagierte ein gleichberechtigteres Verhältnis zwischen den Betreuten und den Betreuern, die Berücksichtigung der grundlegenden Menschenrechte sowie eine individuell zugeschnittene Behandlung aufgrund der jeweiligen Situation und Person. Dieser zunehmend kritische Diskurs gegenüber der herrschenden Heimerziehung führte – zusammen mit der wirtschaftlichen Prosperität der Nachkriegsjahrzehnte verbunden mit einem Ausbau der Sozialversicherungen – zu einer rapiden Abnahme der Zahl der administrativen Anstaltsversorgungen nach dem Zweiten Weltkrieg.137 Trotz einer kritischeren Einstellung dauerte es aber noch bis 1981, bis die adminis­trative Versorgung aufgehoben wurde,138 und auch grundlegende Reformen im Heim­alltag wurden erst nach der Heimkampagne in den 1970er Jahren durchgeführt.139 Die Einweisungsgründe blieben bis dahin stark auf das Sexualverhalten der jungen Frauen fokussiert,140 und die Erziehungsmittel veränderten sich in den Heimen für weibliche Jugendliche nur beschränkt.141 Repressive Vorstellungen blieben in der Erziehungspraxis dominant. Hauss, Indikationen, 2006, S. 35 – 37; Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012; Akermann, Meerrohrstock, 2004, S. 37 – 49; Spuhler, Anstaltsfeind, 2013. 135 Vgl. Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 239 – 262. 136 Vgl. zu den folgenden Ausführungen zum Social Casework Matter, Armut, 2011, S. 297 – 331. 137 Vgl. ausführlich Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 138 Vgl. Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013. 139 Peter Wyss konstatiert in einer Studie zu den Grundproblemen der Heimerziehung eine „bemerkenswerte Übereinstimmung“ in den Kritikpunkten, die die Heimkritik im 20. Jahrhundert kennzeichne. Auf die medial aufgeworfenen Fälle reagierte die Politik zwar jeweils rasch, jedoch fanden die Veränderungen nur in den öffentlichkeitswirksam angegriffenen Heimen durch punktuelle Reformen statt, die später wieder aufgehoben werden konnten (vgl. Wyss, Grundprobleme, 1971). Vgl. auch Akermann, Bericht, 2012. 140 Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 109; Rietmann, Anstaltsversorgung, 2013, S. 192 – 203. Für Deutschland vgl. Gehltomholt, Mädchen, 2006; Lützke, Erziehung, 2002; Frings, Gehorsam, 2012, S. 46 und 4021B))))am in der Heimerziehung bildet)in Garant für eine qualitativ rbrunnen,(Aus Wertes Fräulein, S. 162. . 141 Vgl. Hochuli, Heimerziehung, 1999, S. 257; Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 107 – 128; Keller, Anstalt, 1988. Impulse aus der Reformpädagogik, die eine Reform im Erziehungswesen anstrebten und neue pädagogische Werte, wie Selbstbestimmung der Schüler und „Zöglinge“, einführen wollte,

Das Ende der Magdalenenheime nach 1968

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Fernhalten vom „alten“ Umfeld und vom anderen Geschlecht, Beschäftigung mit „frauentypischer“ Arbeit, religiöse Erziehung sowie Kontrolle und Durchsetzen von Autorität und Gehorsam blieben bis dahin die tragenden Säulen der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher. Die Freizeit war durch „sinnvolle“ Beschäftigungen geprägt. Erziehung zu Ordnung, Disziplin, Fleiß, rechtschaffener Arbeit, Sittsamkeit, Reinlichkeit, Anpassung und Unterordnung kennzeichneten die Heimerziehung noch in den 1960er Jahren. Gewisse Veränderungen waren aber schon vor der Heimkampagne angelegt und geschahen auch nicht von einem Tag auf den anderen.142 Von einem „Stillstand“ bis zur Heimkampagne und einem abrupten Bruch danach kann also nicht die Rede sein. So verlor etwa die Religion als Erziehungsmittel und -ziel bereits in den 1960er Jahren deutlich an Bedeutung.143 Wie diese Untersuchung zeigt, waren beispielsweise auch schon zuvor Bemühungen um das Einstellen von mehr und besser ausgebil­ detem Heimpersonal (wobei der höhere Ausbildungsgrad des Personals keine Neuausrichtung der Erziehung bedeuten musste), individuellerer Betreuung und mehr (Aus-)Bildungsmöglichkeiten für die „Zöglinge“ in Gang. Auf der anderen Seite gibt es auch heute gewisse Heime für Jugendliche, die in problematischen Aspekten an Tradi­tionen der Heimerziehung vor der Heimkampagne anknüpfen, wie eine kürzlich erschienene Studie zeigt.144 vermochten in der Schweiz vorwiegend in den Landerziehungsheimen, den heutigen Internaten, die für Kinder und Jugendliche wohlhabender Eltern eine kostspielige Elitebildung anboten, Einzug zu halten. In den Erziehungsheimen für Kinder und Jugendliche aus prekären Fami­lienverhältnissen hingegen fanden sie – zumindest soweit heute bekannt – kaum Niederschlag (vgl. Grunder, Landerziehungsheim, 1987; Hafner, Heimkinder, 2011, S. 144 f.). Die Anwendung von Reformpädagogik war jedoch keine Garantie für „gute“ Zustände in diesen Internaten (vgl. Oelkers, Eros, 2011; Hafeneger, Strafen, 2011, S. 69 – 85). Zur Reformpädagogik vgl. O ­ elkers, Reformpädagogik, 2010. Zu den reformpädagogischen Anstalten vgl. Oelkers, Eros, 2011; ­Oelkers, Reformpäda­gogik, 2010; Schmidt, Mädchen, 2002, S. 201 – 204; Peukert, Grenzen, 1986, S. 197 – 206; Gräser, Wohlfahrtsstaat, 1995, S. 60 – 63; Wolffensdorf, Reformdiskussion, 1997. 142 Vgl. Damberg, Mutter, 2010; Frings, Gehorsam, 2012; Gehltomholt, Mädchen, 2006; Lützke, Erziehung, 2002; Akermann, Kurzfassung, 2011; Akermann, Bericht, 2012; Ott, Daheim, 2008; Ries, Mauern, 2013. Das Synergia-Projekt zur Heimerziehung in der Schweiz zwischen 1940 und 1990, das im Januar 2014 startet, wird diesen Aspekt für die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg detailliert untersuchen (Placing Children in Care: Child welfare in Switzerland (1940 – 1990). Auch der Schlussbericht zum Kinderheim St. Iddazell in Fischingen, der den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre umfasst, wird einige Erkenntnisse dazu liefern, u. a. zu Änderungen in Erziehungsdiskurs- und praxis sowie zum Einbezug von Psychiatern und Heilpädagogen in Kinderheimen (Akermann, Schlussbericht, laufendes Forschungsprojekt). 143 Vgl. Schoch, Aufwachsen, 1989, S. 116; Hochuli, Heimerziehung, 1999, S. 271. 144 Etwa durch ihre Wahrnehmung der Jugendlichen als verlorene Seelen, die einzig durch eine höhere Macht „gerettet“ werden können; durch eine moralisierende Haltung gegenüber dem

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Trotz bereits vorher angelegter Veränderungen wurden die Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen jedoch erst mit der sexuellen Revolution und dem antiautoritären und emanzipatorischen Protest der 68er-Bewegung und der zunehmenden Frauenemanzipation sowie im Zuge der Heimkampagne der 1970er Jahre gänzlich obsolet. Das dahinterstehende Moralkonzept und Frauenbild wurde (zumindest in weiten Teilen) über Bord geworfen und die Wertmaßstäbe wandelten sich zwar nicht über Nacht, aber doch allmählich. Im Zuge dieses Wandels erhielten Selbstentfaltungswerte gegenüber bislang dominierenden Pflicht- und Akzeptanzwerten verstärkt Gewicht. Erst im Zuge dieser Entwicklungen wurden solche Magdalenenheime schließlich ad acta gelegt.

Herkunftsmilieu; durch die Orientierung an einem Modell von Tugendhaftigkeit, Disziplin und Unterordnung; oder durch die Erziehung zu einem subordinativen und konformistischen Verhalten. Auch orientieren sich einige Heime, besonders Heime für männliche Jugendliche, an gängigen Geschlechterstereotypen. In diesen Heimen wird den (häufig als lethargisch und verweichlicht eingestuften) Jugendlichen ein Bild von Männlichkeit vermittelt, das Aktivität, Realitätssinn, Geradlinigkeit, Wachheit, Härte, Fleiß, Tüchtigkeit, Selbstdisziplin und Unterordnungsfähigkeit beinhaltet. Vgl. Schallberger, Hilfe, 2010, http://www.nfp58.ch/­d_projekte_ institutionen.cfm?projekt=89 (12. 7. 2011). Das Forschungsprojekt „Hilfe für die Schwachen aus dem Geist des Göttlichen? Die Bedeutung von Religion bei der Professionalisierung der Sozialen Arbeit“ entstand im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms „Religions­ gemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ (NFP 58) unter Peter Schallberger.

7 Schluss Das Fürsorgesystem für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche, die als normabweichend galten, war im hier untersuchten Zeitraum zwischen den 1870er und 1930er Jahren in der deutschsprachigen Schweiz von einer starken privaten Wohlfahrt und einem zunehmenden Ausbau des Staates bzw. seiner Verwaltung geprägt. Vor der Jahrhundertwende lag die Fürsorge für weibliche Jugendliche überwiegend in den Händen der privaten Wohltätigkeit. Einen wichtigen Part spielten die seit den 1870er Jahren aus der Sittlichkeitsbewegung hervorgegangenen evangelischen Männer- und Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit der deutschsprachigen Schweiz, deren Basler, Berner und insbesondere Zürcher Sektionen hier beispielhaft für die private Fürsorge näher untersucht wurden. Der Fokus dieser Untersuchung liegt denn auch seitens der privaten Fürsorge auf evangelischen Erziehungsheimen. Diese bürgerlichen, konfessionell geprägten Vereine gründeten zahlreiche Erziehungsheime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen und erschlossen neue Fürsorgefelder in diesem Fürsorgebereich. Vor allem die Frauenvereine, die der gemäßigten Frauenbewegung zuzurechnen sind, waren aktiv in diesem Feld tätig. Mit ihren Heimen wollten sie (vermeintlichen oder tatsächlichen) Prostituierten und solchen, die bedroht schienen, es zu werden, aus dem Sexmilieu heraushelfen bzw. diese davor bewahren. Die vor dem Hintergrund des rasanten gesellschaftlichen Wandels des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts entstandenen Sittlichkeitsvereine sahen im von wachsenden Städten, hoher Mobilität und hohem Anonymitätsgrad begleiteten Wandel zur modernen, industriellen Gesellschaft eine Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung und den Verlust alter Werte und setzten sich für eine sittliche Reform ein. Sie orientierten sich stark an einer protestantischen Ethik von Disziplin, Bescheidenheit, Selbstverantwortung, Sparsamkeit und Arbeitsamkeit, die auch in ihre Fürsorgetätigkeit einfloss. Sie vertraten damit eine Soziallehre, wie sie in der Schweiz und anderen Ländern mit starkem reformiertem und freikirchlichem Einfluss verbreitet war und wie sie sich nachhaltig auf das Leistungsniveau des Sozialstaates auswirkte (Philip Manow). Ein wichtiger Fokus der vielfältigen Aktivitäten der hier untersuchten Sittlichkeitsvereine lag auf dem Bemühen, ihre bürgerlichen und religiösen Familien- und Sexualitätsstandards in der Unterschicht zu verankern, die sich an der konfessionellen, monogamen Ehe sowie an einem traditionellen Familienbild orientierten. Wie zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger der frühen Frauenbewegung und der Sozialreform des ausgehenden 19. Jahrhunderts vertraten die Sittlichkeitsvereine die Ansicht, dass die soziale Frage nicht zuletzt durch die Unterweisung von Frauen aus der Unterschicht in bürgerlichen Moral- und Familienvorstellungen sowie Hygienevorschriften zu lösen sei. Auch wenn sie in ihren hier näher untersuchten Anfängen

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um 1900 Armut als Ursache von Prostitution und „Verwahrlosung“ betonten und sich für soziale Reformen einsetzten, um die Lebenshaltung der Unterschichten zu verbessern, beteiligten sie sich nicht am politischen Kampf für existenzsichernde Löhne, soziale Absicherung bei Erwerbsausfall oder gegen die langen Arbeitszeiten. Ihre auf christlicher Nächstenliebe aufbauende Wohltätigkeit gegenüber sozial Benachteiligten sowie ihr politisches Engagement waren nicht auf eine grundlegende Veränderung der herrschenden gesellschaftlichen Hierarchien ausgerichtet. Die Sittlichkeitsvereine, deren Vereinsvorstände der Gründergeneration von Angehörigen des evangelischen, gut situierten, gebildeten, philanthropisch tätigen Bürgertums dominiert waren, vermochten mit ihren Tätigkeiten und ihren Forderungen Personen verschiedener politischer und religiöser Richtungen anzusprechen. Zu ihren Mitgliedern zählten solche, die der Inneren Mission angehörten, andere standen den Ideen eines religiösen oder christlichen Sozialismus nahe. Viele schätze ich in ihrer politischen Ausrichtung als evangelisch-konservativ ein, es gab zudem Mitglieder, die den Ideen der sozialreformerisch orientierten, gemäßigten Sozialdemokratie nahestanden. Während die Basler Sektion sich in ihren Anfängen dem egalitären Flügel der Sittlichkeitsbewegung annäherte und sich verstärkt an den Ideen des religiösen Sozialismus orientierte, standen die Berner und Zürcher Sektionen dem konfessionellen, konservativeren Flügel der Bewegung und den Ideen der Inneren Mission näher. Nach der Jahrhundertwende nahm der Staat die Jugendfürsorge zunehmend als eigene Aufgabe wahr. In der Folge ist in den hier untersuchten evangelischen Kantonen Zürich, Bern und Basel-Stadt eine zunehmende Verrechtlichung, Zentralisierung und Institutionalisierung der weiblichen Jugendfürsorge auszumachen. Insbesondere in den 1910er bis 1930er Jahren (die von einer verstärkten Staatsintervention in das Leben der Bevölkerung geprägt waren sowie von Wirtschaftskrisen und sozialer Misere verbunden mit einer geringen sozialstaatlichen Absicherung vor Armutsrisiken, von sozialen Spannungen und Arbeiterunruhen, von Furcht der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Kommunismus, von Angst vor einer physischen und psychischen „Entartung“ des Schweizer Volkes sowie einem ausgeprägten Konformitätsdruck) kam es zum Erlass einer Vielzahl neuer Gesetze, zum Aufbau staatlicher Fürsorgeinstitutio­ nen sowie einer verstärkten Zentralisierung und Koordination der disparaten Einzelinitiativen durch den Staat. Nicht nur seitens des Staates ist nach der Jahrhundertwende ein steigendes Interesse an der Jugendfürsorge auszumachen; auch Wissenschaftsvertreter und neu gegründete private Vereinigungen betätigten sich verstärkt in diesem Feld und versuchten an Einfluss zu gewinnen. Auch im Bereich der Heimerziehung für weibliche Jugendliche ist eine zunehmende Zahl an Akteuren auszumachen. Die verstärkte Tätigkeit in der Fürsorge für weibliche Jugendliche ist auf ein vielfältiges und komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren zurückzuführen

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und war eng mit den politischen, gesellschaftlichen und sozialen Zeitumständen verbunden. Zentrale Faktoren waren: die Entdeckung der Jugend und ihrer „Schutzbedürftigkeit“ am Ende des 19. Jahrhunderts verbunden mit einer nach der Jahrhundertwende steigenden Sorge um ihre Tüchtigkeit und um ihre zunehmende „Verwahrlosung“; die Sorge um die wachsende Zahl nachschulpflichtiger junger Frauen, die fernab ihrer Familie allein und ohne Aufsicht in den entstehenden Großstädten Arbeit suchten und „gefährdet“ schienen, „sittlich“ zu „fallen“; die verstärkte Sensibilität gegenüber der Prostitution und ihren Begleiterscheinungen; der zunehmende Normalisierungs- und Anpassungsdruck auf Personengruppen, die (potenziell) die Armenkasse belasteten und in ihrem Lebensstil herrschenden Moral- und Normvorstellungen widersprachen, der sich insbesondere in der Zwischenkriegszeit in einer verstärkten fürsorgerischen Intervention manifestierte; der verstärkte Ruf nach Ordnung und Sicherheit; ein gewisser gesellschaftlicher Konsens über die Erziehungsbedürftigkeit sexuell normabweichender Frauen und über die Grundprinzipien der fürsorgerischen Intervention gegenüber diesen Frauen, der sich politisch von links bis rechts erstreckte, von Wissenschaftskreisen mitgetragen wurde und der sich lange als stabil erwies; das starke Engagement der privaten Wohltätigkeit im Bereich der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher, nicht zuletzt der Sittlichkeitsbewegung, welche die bürgerlichen Bedrohungsängste aufnahm und die Sensibilisierung für das Thema Prostitution vorantrieb und welche sich neben zahlreichen eigenen Heimgründungen für die Etablierung und gesetzliche Verankerung der Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen einsetzte. Wie Perlen auf einer Kette reihen sich immer wiederkehrende Themen auf, die wichtige Kennzeichen für die hier interessierende Ausprägung des Fürsorgesystems für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen sowie für das Zusammenspiel der privaten und staatlichen Akteure darin waren: Charakteristisch war ein steigender Zugriff auf die Sexualität der Unterschichtfrauen; eine zunehmende Engmaschigkeit des Fürsorgenetzes; die Stigmatisierung der „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen; eine starke Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge, eine marginale staatliche Kontrolle der Privatheime; die Geringhaltung der finanziellen Aufwendungen; die Missachtung verfassungsmäßiger Grundrechte des liberalen Rechtsstaates; eine Dynamisierung, Vorstrukturierung und Prägung der staatlichen Fürsorge durch die private Wohlfahrt; die Langlebigkeit traditioneller Erziehungskonzepte sowie die Ambivalenz zwischen Hilfe und Zwang.

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Steigender Zugriff auf die Sexualität der Unterschichtfrauen Mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft und dem Einsetzen der Industrialisierung ist in den meisten Lebensbereichen sowie klassen- und schichtübergreifend ein verstärkter Normalisierungsdruck auszumachen und die Unterscheidung zwischen „normal“ und „anormal“ wurde konstitutiv für das gesellschaftliche Selbstverständnis. Insbesondere in der von einer konservativen Grundstimmung erfassten und einem verstärkten Konformitätsdruck geprägten Zwischenkriegszeit, ganz ausgeprägt seit den 1930er Jahren mit der Geistigen Landesverteidigung, wurden abweichende, nichtkonsensfähige Lebensformen, Normen und Werthaltungen immer stärker margina­lisiert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Zwischenkriegszeit, ist gegenüber Frauen gerade im Bereich Körper, Reproduktion und Sexualität ein zunehmender Normalisierungsdruck auszumachen, der sich ganz ausgeprägt auf Frauen aus der Unterschicht richtete. Der Besserung, Resozialisierung und Kontrolle normabweichender Frauen wurde vermehrt Gewicht beigemessen. Neue Gesetze und Fürsorgeeinrichtungen zielten zunehmend auf die effektive Durchsetzung eng gefasster Normvorstellungen sowie des bürgerlichen Familienideals in der Unterschicht, das der Lebensrealität vieler Unterschichtfrauen widersprach. Die auf weibliche Unterschichtjugendliche ausgerichtete Heimerziehung bildete lediglich eine von zahlreichen fürsorgerischen Maßnahmen. Begründet wurden die Eingriffe mit moralisch-pädagogischen, psychiatrischen, eugenischen und finanziellen Argumenten. Verstärkt in den Fokus gerieten bei Frauen etwa Prostitution, Konkubinat, außereheliche Schwangerschaft, Abtreibung und Erwerbstätigkeit von Müttern. Die Sorge um die weibliche Sexualität prägte denn auch die neben einem ausgeprägten Klassen- auch einen starken Geschlechterbias aufweisende weibliche Jugendfürsorge. In der Heimerziehung für junge Frauen zeigt sich diese etwa darin, dass ein wichtiges Ziel in der sittlich-moralischen Nacherziehung bestand und eine Heimeinweisung oftmals mit einer Abweichung von den sexuellen Normen zusammenhing, die als typisch weibliche Devianz galt. Auch Verhaltensweisen gerieten in den Blick, die auf eine „sittliche Gefährdung“ hinzudeuten schienen, etwa das Herausputzen mit Schminke, Kleidern und Schmuck oder der häufige Besuch von Tanzveranstaltungen. Das „moralische“ bzw. „unmoralische“ Verhalten war nicht nur in der privaten Wohltätigkeit wichtiger Gradmesser. Neben Vertretern aus der Wissenschaft fokussierte auch der Staat im Sinne einer „biopolitischen Regulierung“ (Michel Foucault) bei jungen Frauen in zunehmendem Maße, ganz ausgeprägt in der Zwischenkriegszeit, auf die Einhaltung der bürgerlichen sexuellen Normen. Durch den Erlass neuer Gesetze, den Aufbau staatlicher Fürsorgeinstitutionen und eine zunehmende Zentralisierung und Koordination der bestehenden Einzelinitiativen verstärkte der im Entstehen begriffene schweizerische Sozialstaat seine Zugriffsmöglichkeiten gegenüber den als „sittlich gefährdet“ und „gefallen“ eingestuften Frauen erheblich. Bereits eine

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diagnostizierte „Gefährdung“ reichte nun für eine Einweisung in ein Heim aus. Der Prävention wurde damit vermehrt Gewicht gegeben. Die verstärkten Zugriffsmöglichkeiten wirkten sich direkt auf die Versorgungszahlen aus. In der Zwischenkriegszeit kam es denn auch zu einem Höhepunkt bei den Heimeinweisungen. Einweisungen fanden auch in andere Anstalten als in die hier untersuchten Jugendheime statt. Aus finanziellen Überlegungen oder aus Mangel an freien Heimplätzen kam es dabei immer wieder vor, dass eine Einweisung dorthin auch dann erfolgte, wenn die Anstalt nicht für die Eingewiesene konzipiert war – etwa in die Frauenstrafanstalt Hindelbank oder in Irrenanstalten. Dieser Missstand wurde zwar sowohl von Politikern als auch vonseiten privater Vereinigungen immer wieder thematisiert und kritisiert, eine Behebung des Problems fand aber nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nur unzureichend statt. Die herrschenden sexuellen Normvorgaben waren für Frauen äußerst eng gesteckt. Heute würden die meisten Frauen der westlichen Welt gemäß diesem Raster als sexuell deviant und entsprechend erziehungsbedürftig gelten. Sex als Ausschlussgrund wurde dabei kaum hinterfragt und problematisiert – zu sehr waren die herrschenden gesellschaftlichen Normen anerkannt und Abweichungen davon mit Ängsten und Abwehr behaftet. Die Fixierung auf die weibliche Sexualität ging so weit, dass auch Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung geworden waren, in Gefahr laufen konnten, zur Nacherziehung in ein Erziehungsheim eingewiesen zu werden. Dahinter steckte die verbreitete Ansicht, dass bei vergewaltigten Frauen oftmals durch die Tat die sexuellen Triebe geweckt worden seien und dass manche dieser Vergewaltigten, denen häufig eine Mitschuld am Übergriff attestiert wurde, in der Folge eine sittliche Gefahr für die Gesellschaft und entsprechend nacherziehungsbedürftig sei. Gleichzeitig blieben die Sanktionen gegen die Vergewaltiger auf einem äußerst bescheidenen Niveau. Während die vermeintlichen und tatsächlichen Prostituierten und solche, die es in den Augen von Zeitgenossen zu werden drohten, verstärkt in den Fokus von Erziehungs- und Normalisierungsmaßnahmen gerieten, blieben die Freier (als maßgebliche Mitverursacher der Prostitution und als meist stillschweigend Goutierende des Systems von Frauenhandel und sexueller Ausbeutung) von solchen Maßnahmen verschont. Lediglich bei homosexueller Prostitution, die als abnormal galt, wurden Freier strafrechtlich verfolgt. Auch die Sittlichkeitsvereine, die dezidiert gegen den Frauenhandel, die sexuelle Ausbeutung von Frauen sowie die herrschende Doppelmoral kämpften, verzichteten auf Forderungen nach Erziehungsmaßnahmen oder härteren Sanktionen gegenüber Freiern. Hinter diesem zunehmenden Normalisierungsdruck auf den weiblichen Körper verbarg sich eine Angst vor den grassierenden Geschlechtskrankheiten, der erstarkenden Frauenemanzipation, der sinkenden Geburtenrate, dem Zerfall von Sitte und Familie, der Verbreitung „schlechten“ Erbguts und einer „Entartung“ des Schweizer Volkes sowie eine Abwehrhaltung gegen autonom gelebte weibliche Sexualität. Auch

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finanzielle Überlegungen spielten eine entscheidende Rolle. So galt eine „liederliche“ Lebensweise als Gefährdung der eigenen ökonomischen Existenz. Durch erzieherische Maßnahmen bei einem als armutsfördernd erachteten „liederlichen Lebenswandel“ sollten entsprechend Armenkosten vermieden und aussereheliche Geburten verhindert werden, die zur Belastung der Armenkasse zu werden drohten. Während die soziale Sicherheit durch Einführung erster staatlicher Sicherungssysteme allmählich ausgeweitet wurde, baute der Sozialstaat gleichzeitig auch disziplinierende Elemente aus, um Verhaltensweisen zu sanktionieren, die als „gesellschaftsgefährdend“ und armutsfördernd erachtet wurden.

Zunehmende Engmaschigkeit des Fürsorgenetzes Das Fürsorgenetz, das um die normabweichenden weiblichen Jugendlichen gesponnen wurde, war gekennzeichnet von einer zunehmenden Dichte, von dezentralen Machtstrukturen und vielfältigen Verflechtungen und Kommunikationswegen zwischen den zunehmend zahlreicher werdenden involvierten Akteuren. Die enge Verflechtung von einer Vielzahl an staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren zu einem Netzwerk war ein wichtiger Motor für den Ausbau der weiblichen Jugendfürsorge. Die betroffenen jungen Frauen waren in diesem Netzwerk konfrontiert mit teils undurchsichtigen Zuständigkeiten und Kompetenzen dieser heterogenen Akteure. Durch die zunehmende Dichte involvierter Akteure, die engen personellen Verflechtungen und die Doppelmandate der Akteure sowie die verstärkte Koordination und Zusammenarbeit dieser Akteure konnte das Netz, das um die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen gewoben wurde, erweitert, stabilisiert und in seiner Wirkung potenziert werden. Das Netz wurde engmaschiger für die einmal darin gelandeten Frauen und förderte deren „Fürsorgekarrieren“, die nur durch die enge Zusammenarbeit diverser Akteure möglich wurde. Im Fürsorgenetz nahmen die Sittlichkeitsvereine durch ihre zahlreichen Fürsorge­ institutionen für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen eine wichtige Position ein. Sie wiesen zudem einen hohen Vernetzungsgrad mit zahlreichen anderen staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren auf und vereinten Mitglieder, die in verschiedenen privaten Organisationen oder politischen Behörden tätig waren. Sie vermochten dadurch einen gewissen Einfluss auf den Wissens-, Informations- und Ressourcentransfer im Netz zu nehmen. Das Fürsorgenetz war von einem deutlich asymmetrischen setting zwischen den normabweichenden Jugendlichen und den Fürsorgeinstitutionen geprägt. In den hier näher untersuchten Heimen der Sittlichkeitsvereine war die Position der Heimbetreiber und der einweisenden Behörden ungleich stärker als jene der „Zöglinge“. Gleichzeitig ist ein gewisser Handlungsspielraum vonseiten der „Zöglinge“ auszumachen.

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Fluchtversuche aus Heimen bilden dabei lediglich eine von verschiedenen Handlungsstrategien. Der Handlungsspielraum bewegte sich aber in einem sehr beschränkten und teilweise mit Risiken verbundenen Rahmen. So reagierte die Heimleitung etwa auf Fluchtversuche mit Strafen und Sanktionen und der „Zögling“ riskierte die Versetzung in eine Irren- oder Zwangserziehungsanstalt.

Stigmatisierung der „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ jungen Frauen Über die jungen Frauen in der Fürsorge wurde emsig diskutiert und eine Fülle an Akten angelegt. Informationen zirkulierten zwischen Behörden, Pfarrämtern, Medizinern, Personen aus dem Umfeld der jungen Frau, Vereinen, Vormündern, ehemaligen Arbeitgebern, Fürsorgestellen, Krankenhäusern, Beobachtungsstationen, Erziehungsheimen etc. Informationsbeschaffung wurde aktiv betrieben. So zogen die Behörden etwa die Sittlichkeitsvereine für Erkundigungen über Vergangenheit und Lebensstil von jungen Frauen hinzu. Die Sittlichkeitsvereine ihrerseits holten über eine im Heim Angemeldete bei den einweisenden Personen oder Instanzen und bei Personen aus dem Umfeld der jungen Frau Informationen ein. Sie wollten Auskunft erhalten über die Vergangenheit der Angemeldeten, deren Charakter, deren körperliche und geistige Gesundheit sowie über die Gründe für die Einweisung. Auch über den Lebensstil von deren Eltern bzw. Verwandten erkundigten sie sich. Auf diese Weise machten sich die Sittlichkeitsvereine – bereits bevor sie einem „Zögling“ überhaupt begegnet waren – durch kaum überprüfte Informationen und Gerüchte von Drittpersonen ein Bild von ihm, das meist negativ konnotiert war. Während des anschließenden Heim­ aufenthalts klassifizierten und bewerteten sie den „Zögling“ ihrerseits und gaben bei Anfragen ihre Urteile über die Frau weiter. In ihren Schriften konstruierten die diesbezüglich näher untersuchten Zürcher Sittlichkeitsvereine ein stark von Stereotypen geprägtes Bild einer faulen, vergnügungs- und putzsüchtigen, verführbaren und verführerischen, mangelhaft erzogenen und beaufsichtigten, häufig erblich belasteten „Anderen“. Diesem Bild der vermeintlichen, tatsächlichen oder potenziellen „Dirne“ stellten sie das Bild der „Bürgerin“ gegenüber: Die aus dem „unmoralischen“ Unterschichtmilieu stammende „sittlich Gefährdete“ oder „Gefallene“ steht im Gegensatz zu ihrem gezeichneten Bild der sittsamen, wohlerzogenen und häuslichen bürgerlichen Tochter, aus der eine tüchtige Gattin und Mutter wird, die dem Ehemann und den Kindern ein idyllisches Heim bietet. Bei neu Eintretenden, die sich nicht in dieses stereotype Bild der „Anderen“ einfügen ließen, vermuteten die Sittlichkeitsvereine, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann ihr „wahres Gesicht“ zeigen würden. Während sie einerseits die „Gefallenen“ als ihre Schwestern bezeichneten, zahlreiche wohltätige Hilfsangebote für diese schufen und sich dezidiert für härtere

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Gesetze gegen Frauenhändler, Kuppler, Vergewaltiger und Alimente verweigernde Väter einsetzten, zeigt sich andererseits auch eine deutliche Hierarchisierung zwischen den bürgerlichen Frauen und ihren Geschlechtsgenossinnen aus der Unterschicht. Die oft stigmatisierenden Urteile der unzähligen, meist aus bürgerlichen Kreisen stammenden Akteure im Fürsorgenetzwerk fanden Niederschlag in Akten, die über die junge Frau angelegt wurden. Die Zirkulation dieser Urteile hatte weitreichende Konsequenzen für die Zukunft der jungen Frauen, beeinflussten sie doch den Blick auf die junge Frau und die weitere Vorgehens- und Verhaltensweise ihr gegenüber. Durch den regen Informationsaustausch eilte der jungen Frau ihr Ruf voraus und haftete ihr auch in Zukunft als Makel an (Galle/Meier).

Starke Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge Die Sittlichkeitsvereine entwickelten sich im untersuchten Zeitraum von privaten Organisationen, die im zunächst noch wenig reglementierten Fürsorgenetz auch ohne staatlichen Auftrag agierten, zu einem parastaatlichen Milizsystem, dem vom entstehenden Sozialstaat unter Einbezug ihrer personellen und finanziellen Ressourcen gewisse Fürsorge-, Erziehungs-, Detektiv- und Überwachungsaufgaben im Bereich der Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Frauen übertragen wurden. Die Sittlichkeitsvereine wurden zudem zur Finanzierung von staatlichen Fürsorgestellen und von Kostgeldern hinzugezogen. Insbesondere in der hier näher untersuchten Heimerziehung weiblicher Jugend­ licher setzte sich eine starke Delegation von Aufgaben an private Akteure durch, da kaum staatliche Heime entstanden. So kam es in der deutschsprachigen Schweiz bis 1940 lediglich zur Gründung von zwei staatlichen Heimen speziell für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche (1912 Heimgarten bei Bülach und 1935 Loryheim Münsingen). Zudem kam es zur Übernahme von zumindest einem privaten Heim, des Tannenhofes in Zürich. Demgegenüber entstanden seit der Gründung von spezifischen Heimen für nachschulpflichtige weibliche Jugendliche, wie sie in der deutschsprachigen Schweiz seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzte, mehr als 50 meist konfessionelle Privatheime. Der privaten, konfessionellen Heimerziehung kam folglich eine heraus­ ragende Bedeutung zu. In meinem Untersuchungszeitraum dominierten Heime reformierter und freikirchlicher Richtung gegenüber katholischen und interkonfes­ sionellen. Einen zahlenmäßig wichtigen Part spielten Heime, die aus der evangelischen Sittlichkeitsbewegung hervorgegangen waren oder ihr nahestanden. Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass seitens des Staates kaum Erziehungsheime entstanden. Neben handfesten finanziellen Überlegungen (die ich unten als

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separaten Punkt ausführlicher aufführe) verhinderte nicht zuletzt die Existenz eines breiten Netzwerks an Privatheimen, die lange Erfahrung der privaten Wohltätigkeit in der Heimerziehung, ihre private und berufliche Vernetzung mit einflussreichen politischen und wissenschaftlichen Eliten sowie wichtigen Behördenstellen wie auch eine breite politische und gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Erziehungsheime den Ausbau staatlicher Fürsorgeinstitutionen mit. Auch der starke reformierte und freikirchliche Einfluss in der Schweiz, der sich in einer Bevorzugung lokaler Organisationen vor staatlichen Interventionen manifestierte, begünstigte den geringen Ausbau der staatlichen Heimerziehung (Philip Manow). Es waren im Bereich der Heimerziehung weiblicher Jugendlicher sicherlich nicht zuletzt auch die Einflussnahme und das Engagement der evangelischen Philanthropie als bedeutender Trägerschaft von Privatheimen, die eine starke Delegation der Heimerziehung an private Organisationen förderten. Der residual tätige Sozialstaat gründete in kompensatorischer Weise dann eigene Erziehungsheime für weibliche Jugendliche, wenn die private Wohlfahrt nicht ausreichte. Dieses Modell eines residualen Sozialstaates war von nachhaltigem Einfluss auf die schweizerische Sozialstaatsgeschichte und zeigt sich auch in der Heimerziehung. Wir haben es in diesem Bereich der sozialen Fürsorge mit einem ausgeprägten private-­ public mix zu tun, einer mixed economy of welfare, in der die private Wohltätigkeit weiterhin stark blieb und mit staatlichen Institutionen des entstehenden Sozialstaates eng zusammenarbeitete. Es setzte sich die Idee einer Zusammenarbeit zwischen privater und staatlicher Initiative mit einer starken Delegation von Aufgaben an die private Fürsorge durch, wobei letztlich der Staat trotz Kompromissen und Entgegenkommens die Regeln festlegte. Die private Fürsorge wurde verstärkt in die Ziele der öffentlichen Fürsorge eingebunden und verschärften Regulierungen unterworfen. Einige der an die Sittlichkeitsvereine delegierten Aufgaben tangierten die individuellen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, etwa die übertragenen Detektiv­ dienste, um Informationen über bestimmte Frauen einzuholen, die an Vereinsmitglieder übertragenen Vormundschaften und Beistandschaften oder das Delegieren der Nacherziehung junger Frauen an ihre Erziehungsanstalten. Durch die Delegation dieser Aufgaben wurden die Sittlichkeitsvereine zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols hinzugezogen. Der Staat erteilte ihnen die Befugnis zur Ausübung gewisser Zwangsmittel.

Eine marginale staatliche Kontrolle der Privatheime Die Delegation von Aufgaben und Kompetenzen an die private Fürsorge war aber nicht unumstritten. Wie ich am Beispiel der Heimerziehung aufgezeigt habe, ging mit der vermehrten Präsenz des Staates als Akteur in diesem Fürsorgefeld ein konfliktreicher Aushandlungsprozess um Rolle und Machtposition der beteiligten staatlichen und

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privaten Akteure einher. In den Auseinandersetzungen zwischen den Frauen- und Männervereinen zur Hebung der Sittlichkeit und dem Staat forderten Erstere Freiräume, Kompetenzen, Mitbestimmung und die Übertragung staatlicher Aufgaben verbunden mit weitreichenden Zwangsmitteln. Sie forderten dies nicht zuletzt als Gegenleistung für ihre finanziellen Aufwendungen und ihre geleistete Arbeit, die sie auf diese Weise auch als Druckmittel einsetzten. Sie strebten eine Kooperation mit der im Ausbau begriffenen staatlichen Jugendfürsorge an, in der sie eine möglichst starke und eigenständige Stellung einnehmen und ihre Anliegen und ihr Wissen wirkungsvoll einbringen wollten und die ihnen durch staatliche Anerkennung den Zugriff auf „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ Frauen erleichtern sollte. Auf politischer Ebene war das Maß an Vollmacht, das der privaten Fürsorge gewährt werden sollte, jedoch umstritten. Es fanden politische Auseinandersetzungen statt, wieweit und unter welchen Bedingungen der privaten Fürsorge Zwangsmittel übertragen werden durften. Im Bereich der hier diesbezüglich näher untersuchten Heimerziehung setzte kurz vor der Jahrhundertwende eine von Behörden, Politikern und extern beauftragten Gutachtern geführte Debatte ein. Diese Debatte drehte sich um die Frage, ob oder unter welchen Bedingungen Private das Recht haben sollten, Heime zu führen, in denen Freiheitsbeschränkung und Zwangsmittel zur Anwendung kamen, und wenn ja, wie autonom oder wie beaufsichtigt und in ihrer Ausrichtung reglementiert die Privatheime sein sollten. Dabei werden zwei gegenläufige Diskurse sichtbar. Der eine erachtete die durch Private ausgeübten, in die persönlichen Rechte eingreifenden Maßregeln als problematisch. Die Vollmacht, die seit den 1830er Jahren verfassungsmäßig garantierten individuellen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken, sollte gemäß dieser Ansicht allein bei staatlichen Heimen liegen (diese Forderung wurde insbesondere aus dem sozialdemokratischen Lager laut), oder dann sollten die Privatheime zumindest einer umfassenderen staatlichen Kontrolle unterstellt werden. Der andere Diskurs versuchte stärkere staatliche Kontrollen und Regulierungen zu verhindern, die als hemmend für die private Wohlfahrt wahrgenommen wurden. Er plädierte stattdessen dafür, den grundsätzlich als vertrauenswürdig erachteten Privatanstalten möglichst viel Gestaltungsspielraum zu gewähren und sah eine gewisse Beschränkung der Freiheit und Anwendung von Zwang schon der Haus­ ordnung wegen als unerlässlich an. Im hier untersuchten Zeitraum vermochten jene politischen Entscheidungsträger, die den privaten Heimen weiterhin einen gewichtigen Stellenwert und einen weitreichenden Handlungsfreiraum gewähren wollten, letztlich trotz Widerstand die Oberhand zu behalten. Der Staat zeigte ein deutliches Interesse daran, dass Private mitarbeiteten und mitfinanzierten. In diesem „delegierten Sozialstaatssystem“ (Leimgruber/Lengwiler), in dem die private Wohlfahrt eine zentrale Position behielt, blieb der Staat in einem hohen Grad abhängig von den Privatheimen. Der Staat genehmigte den Privatanstalten – wie ich am Beispiel des vergleichsweise gut dokumentierten Kantons Zürich aufgezeigt

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habe – in der Praxis Konzessionen bzw. einen „Sonderstatus“, nicht zuletzt um Kosten zu sparen, um den privaten Heimen und deren Geldgebern entgegenzukommen, und weil den Privatheimen ein gewisses Vertrauen und eine grundsätzliche Zustimmung ihrer Tätigkeit gegenüber entgegengebracht wurden. Dieser Sonderstatus, der sich in einem diffusen gesetzlichen Graubereich bewegte, beinhaltete die Gewährung von Gestaltungsspielraum und das Treffen informeller Vereinbarungen (die jedoch stark vom Wohlwollen der zuständigen Einzelpersonen abhingen) sowie eine minimale Regulierung. Mit dem Ausbau der staatlichen Fürsorge seit der Jahrhundertwende wurden die privaten Heime zwar zunehmend in die staatliche Versorgungspraxis eingebunden und vermehrt Regulierungen und Vorschriften unterworfen. Die kritischen Stimmen, die immer wieder nach verstärkter Kontrolle und Regulierung der privaten Fürsorge riefen, um Missbräuche zu verhindern, bewirkten in der Folge auf der Ebene der Gesetze allmählich, wenn auch immer wieder verzögert, eine deutliche Verstärkung der staatlichen Aufsicht über die Privatheime und es wurden neue Aufsichtsorgane bestimmt, die eine Kontrolle der Privatheime zur Aufgabe hatten. Die erlassenen Vorschriften waren aber teils äußerst schwammig formuliert und ließen einen entsprechenden Spielraum in der Umsetzung offen. In der Praxis blieb die Umsetzung der gesetzlich verankerten Aufsichtspflichten zudem mangelhaft, obwohl die Privatheime teils erhebliche Einschränkungen der persönlichen Freiheit vornahmen. Die Aufsicht über die privaten Anstalten gestaltete sich in der Praxis weiterhin nach dem Grundsatz, dass sich der Staat möglichst wenig in deren innere Angelegenheiten einmischen sollte, sodass sich diese möglichst frei entwickeln konnten, füllten sie doch manche Lücke im System der staatlichen Anstalten aus. Die Privatheime scheinen bewusst (noch) weniger stark beaufsichtigt worden zu sein als staatliche Anstalten – auch wenn auch bei Letzteren Mängel bei der Aufsicht bestanden. Problematisch war die Auslagerung von staatlichen Gewaltmitteln an Private, weil gleichzeitig kaum wirksame Kontrollmechanismen eingeführt wurden (Lukas Gschwend). Im Fokus der marginalen staatlichen Kontrollen lagen zudem die hygienischen und finanziellen Verhältnisse der Heime, um Seuchen und „Verschwendung“ von Steuergeldern vorzubeugen. Das Wohlergehen der einzelnen Heiminsassen interessierte die Aufsichtsinstanzen hingegen oftmals wenig, sicherlich nicht zuletzt aufgrund eines gewissen gesellschaftlichen Konsenses gegenüber den Grundprinzipien der fürsorgerischen Intervention und den herrschenden Erziehungsprinzipien in der Heimerziehung, und rückte erst durch aufgedeckte massive Missstände ins Zentrum von behördlichen Untersuchungen. Aber auch eingeleitete Untersuchungen führten lange nicht immer zur Beseitigung der Missstände.

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Geringhaltung der finanziellen Aufwendungen Dass der Staat die Aufsicht über die Privatheime letztlich gering hielt, hing wesentlich mit finanziellen Überlegungen zusammen. Die Kosten für die Aufsicht der Heime sollten möglichst gering gehalten werden – heute noch ein wunder Punkt, der bei publik gewordenen Missständen gerne zutage tritt.1 Eine flächendeckende und intensive Kontrolle gerade der unzähligen, die Zahl der staatlichen Anstalten bei Weitem übertreffenden Privatheime hätte einen großen finanziellen Aufwand bedeutet, der gescheut wurde. Ein gewisser informeller Umgang mit privaten Heimbetreibern durch geringere administrative Schranken entlastete das Staatsbudget zusätzlich. Auch dass kaum staatliche Anstalten für weibliche Jugendliche entstanden, hing wesentlich mit finanziellen Überlegungen zusammen. Die maßgeblich von privaten Geldern und ehrenamtlicher Arbeit getragenen Privatheime bildeten eine attraktive Alternative zu den vergleichsweise teureren staatlichen Pendants. Das reichliche Vorhandensein von Privatheimen ließ ein (in verschiedenen Gesetzen eigentlich vorgeschriebenes) Errichten staatlicher Heime wenig dringlich erscheinen. In den politischen Debatten zur Errichtung staatlicher Heime spielten denn auch finanziel­le Überlegungen eine zentrale Rolle, weshalb solche staatlichen Heimgründungen herausgezögert oder gänzlich abgelehnt wurden. Staatliche Subventionen wurden in den von mir untersuchten Privatheimen lange nicht immer gewährt und beschränkten sich oft auf einmalige Zuschüsse für Um- und Neubauten. Der Grad der Selbsterhaltung durch die Arbeitskraft der „Zöglinge“ war eines der Argumente für oder gegen die Subventionierung eines Heims. Die Arbeit der Insassinnen war entsprechend wichtig für die Finanzierung der Heime, wenn auch die Quellenlage der hier untersuchten Heime keine genaueren Aufschlüsse über den Anteil an den Gesamteinnahmen erlaubt. In den Heimen wurden entsprechend durch Auftragsarbeiten etwa in einer eigenen Lohnwäscherei, Weißnäherei oder Schneiderei Einnahmen generiert sowie durch Gemüseanbau eine größtmögliche Selbstversorgung angestrebt. Die Privatheime waren zudem auf Jahresbeiträge, Kapitalerträge, Spenden, 1

Vgl. beispielsweise die Diskussionen um die jahrelangen sexuellen Übergriffe in zahlreichen Heimen für geistig Behinderte durch einen Sozialarbeiter, die auch Fragen zur heutigen Aufsicht der Heime aufwarfen. Im Februar 2011 reichte der Berner Grossrat Thomas Fuchs (SVP) eine Interpellation ein: „Ist der Regierungsrat der Auffassung, dass es überzeugend ist, mangelnde Kontrollen im Heimbereich mit dem Verweis auf die Kostensituation zu begründen [...]?“ Vgl. www.fuchs.tv/grossrat/110203.pdf. (6. 4. 2011). Zu den Übergriffen vgl. etwa http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/schwerer_missbrauchsfall_mit_ueber_100_behinderten_opfern_1.9315648.html (6. 4. 2011). Auch 2006 kam aufgrund publik gewordener Missstände in einem Jugendheim in Spanien, in dem Schweizer Jugendliche untergebracht waren, die Rede auf die mangelhafte Aufsicht durch die Schweizer Behörden. Vgl. http://sc. tagesanzeiger.ch/dyn/news/zuerich/611816.html (6. 4. 2011).

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Hinterlassenschaften und Kostgelder angewiesen. Letztlich vermochte der Staat durch das Delegieren der Heimerziehung an private Akteure seine finanziellen Aufwendungen und seinen personellen sowie administrativen Aufwand in einem begrenzten Rahmen zu halten. Wie viel Geld zur Verfügung stand, bestimmte auch die Ausgestaltung der Heim­ erziehung entscheidend mit. Die Geldfrage hatte direkte Auswirkungen auf die Höhe der Kostgelder, mussten diese doch möglichst gering gehalten werden, damit Gemeinden überhaupt junge Frauen einwiesen. Für Gemeinden bedeutete die Zahlung von Kostgeldern oft einen hohen finanziellen Aufwand. Die Höhe der zur Verfügung stehenden Geldmittel hatte wiederum direkte Auswirkungen auf die Qualität der Heimerziehung sowie die Anzahl, den Ausbildungsgrad und die Zusammensetzung der Angestellten. Geistliches Personal war nicht zuletzt wegen seines „Arbeiten[s] für Gottes Lohn“ verbreitet und als Arbeitskraft beliebt.

Missachtung verfassungsmäßiger Grundrechte des liberalen Rechtsstaates Das liberale laissez faire, das nach größtmöglicher Freiheit der Bürger und kleinstmöglicher Intervention des Staates in die Privatsphäre des Bürgers verlangt, wurde mit der Krise des Liberalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts und ausgeprägt in der Zwischenkriegszeit zusehends zugunsten der kollektiven Sicherheit bedrängt. Der Ruf nach mehr Ordnung, nach besoin d’ordre, erklang von links bis rechts und prägte auch die Ausgestaltung der Fürsorge und der Gesetze. Die Sicherheit der Gesellschaft, die zu einem Leitmotiv des entstehenden Sozialstaates wurde, sollte durch Prävention und eine möglichst effektive Durchsetzung von Norm- und Ordnungsprämissen gewährleistet werden. Liberale Bestrebungen, wie etwa mehr Freiheiten in den sexuellen Beziehungen auch für das weibliche Geschlecht einzufordern oder Prostituierten eine möglichst „freie“, von gewalttätigen Freiern und Frauenhändlern geschützte Ausübung ihrer Tätigkeit zu ermöglichen, setzten sich nicht durch. Zur Durchsetzung dieser Norm- und Ordnungsprämissen wurden teilweise rechtsstaatliche Prinzipien verletzt. So wurden normabweichende Frauen von gewissen verfassungsmäßigen Grundrechten des liberalen Rechtsstaates, die eigentlich für alle Bürgerinnen und Bürger gelten sollten, ausgeschlossen bzw. exkludiert, indem diese ohne Gerichtsurteil und mit einem ungenügenden Rechtsschutz ausgestattet administrativ in ein Heim eingewiesen werden konnten, oder indem sie – basierend auf einer „erzwungenen Freiwilligkeit“ – von Behördenstellen unter Androhung einer härteren Sanktion dazu gedrängt wurden, ihre Einwilligung in den Eintritt in ein Privatheim zu geben, wenn für eine Zwangseinweisung die gesetzlichen Grundlagen fehlten. Diese „erzwungene Freiwilligkeit“, wie sie in dieser Arbeit als ein weiteres Element des „Sonderstatus“ der Privatheime näher dargelegt wurde, das den Behörden einen

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Gestaltungsspielraum in ihrer Fürsorgetätigkeit eröffnete, verweist auf eine proble­ matische Anwendung von Zwang zur Durchsetzung von Norm- und Ordnungsprämissen, wie sie auch in anderen Fürsorgebereichen anzutreffen ist, etwa bei der Zwangssterilisation oder im Bereich der Kindswegnahmen. Mit dieser „erzwungenen Freiwilligkeit“ verletzten die Behörden verfassungsmäßig garantierte rechtsstaatliche Prinzipien. Staatliches Handeln musste (und muss) auf das Recht ausgerichtet sein (Gesetzmäßigkeits- oder Legalitätsprinzip). Die Herrschaft des Gesetzes setzte sich im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts als Garant für Rechtssicherheit durch. Die persönliche Freiheit durfte nur aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise. Gegenüber sexuell normabweichenden Frauen waren Behörden offenbar bereit, gestützt auf einen gewissen gesellschaftlichen und politischen Konsens, die in ihren Augen notwendige Fürsorgeerziehung auch ohne gesetzliche Legitimation zu erzwingen. Ein Leitziel des Liberalismus, die Freiheit des Individuums gegenüber staatlicher (willkürlicher) Gewalt durch bindende Gesetze zu schützen, wurde damit umgangen. Die Freiheitsrechte wurden für normabweichende Frauen teilweise außer Kraft gesetzt. Der Sicherung der Gesellschaft vor „gesellschaftsgefährdenden“ Personen wurde ein größeres Gewicht beigemessen als der Einhaltung grundlegender Rechte. Stimmen, die das Grundrecht der persönlichen Freiheit in gewissen Maßnahmen gegenüber diesen Frauen gefährdet sahen und das bevormundende Eingreifen des Staates kritisierten, hatten im untersuchten Zeitraum wenig Einfluss. Auch die Sittlichkeitsvereine bewerteten das „Wohl“ der Gesellschaft und die öffentliche Ordnung und Sicherheit höher als die Freiheit des Einzelnen. Wer ihren weit gefassten, stark religiös gefärbten Begriffen der „Sittlichkeit“ nicht genügte und die Gesellschaft und die öffentliche Ordnung mit seinem Verhalten „gefährdete“, geriet in ihren Fokus. Es gab Stimmen, die einige ihrer Aktivitäten im Kampf für die Hebung der Moral der Bevölkerung als im Widerspruch zum bürgerrechtlichen Freiheitsdenken sahen. Gerade aus den sexuell liberaleren Kreisen der Befürworter der Reglementierung der Prostitution kam Widerstand, der sich vor allem gegen ihren Kampf gegen Prostitution und „unsittliche“ Literatur und Kunst richtete. Dieses Engagement der Sittlichkeitsvereine kritisierten sie als „schnüfflerisch“ und bevormundend sowie als Beschneidung der Freiheit des Einzelnen. In den hier näher untersuchten Karikaturzeitschriften Nebelspalter und Scheinwerfer, welche die Sittlichkeitsvereine mit Vorliebe karikierten, galt die Forderung nach individueller Freiheit aber vor allem für die Freier und Konsumenten von Pornografie. Der Einsatz der Sittlichkeitsvereine gegen Frauenhandel und sexuelle Ausbeutung fand denn auch keine Beachtung. Auffallend ist zudem, dass sich gegen die Erziehungsheime der Sittlichkeitsvereine unter diesen kritischen Stimmen kein Widerstand regte – offenbar galt ihre Forderung nach Respektierung des freien Willens nicht für alle, jedenfalls nicht für die „sittlich gefährdeten“ und „gefallenen“ Mädchen und Frauen aus der Unterschicht.

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Dynamisierung, Vorstrukturierung und Prägung der staatlichen Fürsorge durch die private Wohlfahrt Der Staat wurde in seinem Engagement im Bereich der weiblichen Jugendfürsorge wesentlich von „aussen“ zum Handeln aktiviert. Eine Dynamisierung des Ausbaus der staatlichen Fürsorge ging dabei unter anderem von der privaten Wohlfahrt aus. So forderten und förderten die Sittlichkeitsvereine, begleitet von politischem Widerstand und Verzögerungen, aber auch immer wieder mit Erfolg, den Erlass neuer Gesetze, die den Zugriff auf „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen erleichtern sollten, sowie die Errichtung neuer staatlicher Fürsorgestellen für diese Klientel, wie von Heimen, Polizeiassistentinnen und Fürsorgerinnen für Geschlechtskranke. Sie trugen damit zum Einfließen von ihnen propagierter Lösungsstrategien in die staatliche Fürsorge und Gesetzgebung bei und bestimmten damit das agenda setting im Ausbau des Sozialstaates mit. Die Gemeinnützigkeit behielt zudem im Bereich der Nacherziehung weiblicher Jugendlicher einen gewissen Expertenstatus. So wurden die Frauenvereine der Sittlichkeitsbewegung – neben anderen in der Fürsorge und Erziehung weiblicher Jugend­ licher tätigen Akteuren – zur Konzeption staatlicher Heime für weibliche Jugendliche hinzugezogen. Ihre Heime dienten ferner als Vorbilder für diese geplanten und ausgeführten staatlichen Gründungen. Die staatlichen Heime für weibliche Jugendliche basierten entsprechend wesentlich auf einem von der privaten Fürsorge gegründeten Tätigkeitsfeld. Auch durch die Einstellung von Fürsorgerinnen für geschlechtskranke Frauen übernahm der Staat von Privaten gegründete Tätigkeitsfelder. Die öffentliche Fürsorge für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen war entsprechend – natürlich nicht allein, aber doch wesentlich – von privaten Akteuren vorstrukturiert. Durch die Übernahme von Tätigkeitsfeldern der privaten Fürsorge und deren Einbeziehung als Experten flossen Konzepte der privaten Gemeinnützigkeit in die staatliche Fürsorge ein. Es war entsprechend nicht zuletzt die private Wohlfahrt, die auf diese Weise die staatliche Fürsorge und Gesetzgebung mitprägte und die mitdefinierte, nach welchen Grundsätzen ein Mensch erzogen und zu welcher Persönlichkeit er geformt werden sollte. Durch die Übernahme gemeinnütziger Konzepte kam es zu einer „Potenzierung“ (Urs Germann) statt zu einer Abschwächung gemeinnütziger Handlungsstrategien durch staatliches Engagement. Die Sittlichkeitsvereine waren demnach aktiv am Prozess der Verrechtlichung und teilweisen Verstaatlichung der Fürsorge für normabweichende weibliche Jugendliche beteiligt. Sie stemmten sich nicht gegen den Ausbau der staatlichen Fürsorge, sondern sie förderten ein gewisses staatliches Engagement geradezu, das jedoch ihr privates Engagement nicht verdrängen oder ihm Konkurrenz machen sollte. Sie taten dies primär aus folgenden drei Gründen: Erstens waren sie beim Aufbau eines von ihnen angestrebten flächendeckenden Fürsorgenetzes auf den finanziell potenteren Staat

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angewiesen. Zweitens hofften sie durch das verstärkte staatliche Engagement auf ein Mehr an gesetzlicher und institutioneller Macht gegenüber den anvisierten Frauen. Drittens wollten sie eine gewisse Klientel, nämlich die besonders „Schwererziehbaren“ und „Verdorbenen“, die sie als Gefahr für die übrigen „Zöglinge“ ansahen und die sie für kaum mehr erziehbar erachteten, nicht in ihren Heimen aufnehmen, sondern dem Staat die Verantwortung überlassen (dies war ein wesentlicher Punkt, warum die Privaten überwiegend Heime für eine „leichter erziehbare“ und meist auch jüngere Klientel betrieben, während Anstalten für eine „gefährlichere“, „schwerer erziehbare“ und oft ältere Klientel häufig vom Staat betrieben wurden). Die Sittlichkeitsvereine scheinen insbesondere bis zu Beginn der 1910er Jahre Erfolge in ihren Versuchen erzielt zu haben, aktiv Einfluss auf die gesetzliche und fürsorgerische Ausgestaltung und den Ausbau der staatlichen Fürsorge zu nehmen. Danach fruchteten ihre Bemühungen weniger, nicht zuletzt, weil eine Vielzahl neuer, gerade auch männlicher Akteure in den entstehenden staatlichen Stellen, seitens der Wissenschaft und einflussreicher privater Organisationen verstärkt das Jugendfürsorgefeld besetzten und die vormals vorwiegend von bürgerlichen Frauen getragene soziale Arbeit als eigenes Arbeitsfeld beanspruchten. Nichtsdestotrotz spielten die Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit in der Ausgestaltung der konkreten Fürsorgepraxis für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen auch weiterhin eine wichtige Rolle, indem der Staat die Erziehung dieser Frauen an sie delegierte und indem sie einen gewissen Expertenstatus behielten, wenn es um die praktische Tätigkeit in Erziehungsheimen ging. Sie wurden weiterhin zur Konzeption von staatlichen Heimen hinzugezogen und ihre Heime dienten auch fortan als Vorbilder.

Langlebigkeit traditioneller Erziehungskonzepte In den im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhundert gegründeten Heimen der evangelischen Sittlichkeitsbewegung – hier näher untersucht anhand eines gut dokumentierten Heims des Zürcher Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit – war der durchstrukturierte Alltag von Arbeit und Religion, Überwachung und Disziplin geprägt. Wichtiges Ziel war die Erziehung zu sittlich und religiös gefestigten, fleißigen, von der Armenfürsorge unabhängigen Frauen. Den jungen „Zöglingen“ sollten Tugendhaftigkeit und Sauberkeit, Anpassungs- und Unterordnungsfähigkeit, Fleiß und Ordnung, Sparsamkeit und Wahrheitsliebe, Häuslichkeit und Disziplin beigebracht werden. Erziehungsmittel waren Arbeit und Religion, strikter Tagesablauf, „sinnvolle“ Freizeitbeschäftigung, (in den Anfängen spora­dische) Schulbildung und Berufsausbildung in frauenspezifischen Berufen, ein Überwachungs­ system, Strafen und Vergünstigungen, Unterbindung von Freundschaften sowie Bruch mit dem alten Milieu und der „unrühmlichen“ Vergangenheit.

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Die Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ weibliche Jugendliche, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden, wurzelten auf den „Zucht-, Arbeits- und Waisenhäusern“ des 17. und 18. Jahrhunderts, den pietistisch geprägten „Rettungsanstalten“ und philanthropisch orientierten „Armenerziehungsanstalten“ für Kinder und den katholischen Kinderheimen des 19. Jahrhunderts sowie auf den seit dem Mittelalter existierenden evangelischen „Magdalenien“ und katholischen Klöstern, die reuige Prostituierte aufnahmen. Es bestand zudem ein nationaler und transnationaler Austausch zwischen den Akteuren der Heimerziehung, der sich in ausgeprägten, auch länderübergreifenden Parallelen in der Ausrichtung und Organisation der Heime für weibliche Jugendliche manifestierte. Die hier näher untersuchten Deutschschweizer Sittlichkeitsvereine orientierten sich international besonders an Deutschland. Wie in dieser Untersuchung in einem kurzen Ausblick behandelt wurde, ohne dabei näher auf regionale und konfessionelle Ausprägungen eingehen zu können, zeigt sich eine Langlebigkeit traditioneller Erziehungskonzepte. Nach der Jahrhundertwende, auch mit der zunehmenden Zahl der Akteure auf dem Feld der Heimerziehung, blieben in den Erziehungsheimen für weibliche Jugendliche Erziehungskonzepte dominant, die auch die konfessionelle Heimerziehung für „sittlich gefährdete“ und „gefallene“ junge Frauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts geprägt hatten. Auch die staatlichen Heime bauten wesentlich auf traditionellen Konzepten auf, die sich als langlebig und auch seitens der staatlichen Handlungsträger als konsensfähig herausstellten. Auch die Religion war trotz säkularisierten Staatssystems in den staatlichen Heimen zentral (und scheint sich in gewissen heutigen Heimen wieder auszubreiten)2. Diese Kontinuität wurde unter anderem durch den Umstand gefördert, dass die staatlichen Heime private, auf diesen Konzepten aufbauende Anstalten als Vorbilder heranzogen und der seit Längerem in diesem Bereich tätigen privaten Wohlfahrt ein gewisser Expertenstatus in Sachen Erziehung „sittlich gefährdeter“ und „gefallener“ junger Frauen zukam. Neben Kontinuitäten in der Heimerziehung sind im untersuchten Zeitraum aber auch verschiedene Veränderungen auszumachen, die hier jedoch lediglich in groben Zügen skizziert werden konnten. Seit der Jahrhundertwende, insbesondere seit den 1920er und 1930er Jahren, ist ein deutliches Bestreben nach verstärkter Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Heimerziehung auszumachen; durch die gerade aus Wissenschaftskreisen geäußerte Forderung nach Einbezug von Psychiatern in die Behandlung und Begutachtung von als besonders „schwierig“ oder „psychisch auffällig“ erachteten „Zöglingen“, nach Anwendung einer auf die jeweilige diagnostizierte spezifische „Störung“ und „Erziehungs- und Bildungsfähigkeit“ des einzelnen Jugendlichen abgestimmten, von einem Heilpädagogen festgelegten individualisierten 2

Vgl. Schallberger, Hilfe, 2010, S. 5, http://www.nfp58.ch/d_projekte_institutionen.­ cfm?projekt­=89 (12. 7. 2011).

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„Heilmethode“, nach einer Individualisierung der Erziehung durch individuelleres Erfassen, Beobachten und Behandeln der „Zöglinge“ sowie nach Hebung des Ausbildungsniveaus des Heimpersonals. Diese Bestrebungen nach Verwissenschaftlichung und Professionalisierung wurden in den Nacherziehungsheimen, im Gegensatz zu den seit den 1920er Jahren entstehenden Beobachtungsstationen, jedoch bis zum Ende des untersuchten Zeitraums erst in Ansätzen umgesetzt, indem nicht fachspezifisch ausgebildetes Personal weiterhin überwog und erst wenige Heime auf Psychiater und erst zwei Heime auf heilpädagogische Heilmethoden zurückgriffen. Diese, wenn auch noch zögerlichen Änderungen ­trugen aber dazu bei, dass allmählich vermehrt Deutungsmuster und Konzepte aus der Psychiatrie, der Pädagogik und aus der Psycho­ logie in der Heimerziehungs­praxis an Bedeutung gewannen. Neu waren bis zum Ende des untersuchten Zeitraums auch eine stärkere Gewichtung von Turnstunden sowie die zunehmende Bedeutung der schulischen Bildung und der Berufsausbildung der jungen Frauen. Gemäß einer zeitgenössischen Untersuchung der Schweizer Heime für weibliche Personen aus dem Jahr 1943 waren es gerade die Privatheime, die den „Zöglingen“ häufiger Berufsausbildungen ermöglichten und über variiertere Erziehungsmethoden, Arbeitsmöglichkeiten und Freizeitprogramme als die staatlichen verfügten. Zudem beschäftigten sie häufiger Fachpersonal. Diese Unterschiede zeichneten sie in den Augen von Zeitgenossen gegenüber den staatlichen Heimen aus und stärkten entsprechend auch weiterhin ihre Existenzberechtigung. Die Erziehungsprämissen und -methoden wandelten sich aber bis zum Ende des untersuchten Zeitraums nur in einem beschränkten Umfang. Die traditionellen Erziehungskonzepte blieben in der Heimerziehungspraxis weiterhin konsensund anschlussfähig. In den 1950er Jahren klagten verschiedene Heime für „sittlich gefährdete“ und „gefallene Mädchen“ über Unterbesetzung und es kam zu Heimschliessungen oder Umnutzungen, die u. a. mit einer „vorgefassten Meinung“ gegenüber den Anstalten erklärt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg, mit einer zunehmend kritischeren Einstellung gegenüber der herrschenden Heimerziehung und der administrativen Versorgung sowie mit der wirtschaftlichen Prosperität der Nachkriegsjahrzehnte, verbunden mit einem Ausbau der Sozialversicherungen, zeichnete sich ganz allmählich der Niedergang der Magdalenenheime ab. Aber erst im Zuge der sexuellen Revolution und des antiautoritären und emanzipatorischen Protests der 68er-­Bewegung sowie im Zuge der Heimkampagne der 1970er Jahre wurden das hinter den Magdalenen­heimen stehende Moralkonzept und Frauenbild – zumindest in weiten Teilen – obsolet und die autoritären, repressiven Erziehungsprämissen wurden nicht abrupt, aber allmählich durch stärker auf Autonomie, Selbstentfaltung und individuelle Förderung setzende Konzepte ersetzt. Trotz bereits vorher angelegter Veränderungen wurden die Magdalenenheime erst im Zuge dieser Entwicklungen schließlich ad acta gelegt.

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Die Ambivalenz zwischen Hilfe und Zwang Das Fürsorgesystem für normabweichende weibliche Jugendliche war von Ambivalenz geprägt: Mit den fürsorgerischen Interventionen war einerseits ein Wille zu helfen, zu unterstützen, zu fördern und zu schützen verbunden. Zum Beispiel boten die Heime für weibliche Jugendliche Schutz sowie Hilfeleistungen für Frauen in schwierigen Lebenssituationen, etwa für Zwangsprostituierte, Obdachlose oder von der Geburt geschwächte Frauen. Diese Heime sind in diesem Sinn als Vorgänger der heutigen Frauenhäuser zu sehen. Auch das Engagement der Sittlichkeitsvereine etwa gegen Frauenhandel und sexuelle Ausbeutung, ihre aktive Suche nach vermissten Frauen und von Menschenhändlern Verschleppten, ihre Hilfeleistungen, um Frauen aus dem Sexmilieu herauszuhelfen, ihr Einsatz für soziale Reformen oder die von ihnen getätigten Vaterschaftsklagen sowie Anklagen bei Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch wiesen solche Aspekte der Hilfe und des Schutzes auf. Andererseits ist eine kontrollierende, moralisierende, normierende, stigmatisierende und disziplinierende Kehrseite auszumachen: die Heimerziehung weiblicher Jugendlicher war unter anderem geprägt von repressiven, autoritären Erziehungsmethoden, einer moralisierenden Sicht auf die „Zöglinge“, möglichst lückenloser Überwachung und Kontrolle, harter Arbeit und einem harschen Erziehungs- und Normalisierungsanspruch. Förderung und Unterstützung war meist gekoppelt an eine Anpassungsleistung an gängige Rollenmuster sowie erwartete eng gefasste Verhaltensweisen und blieb meist im engen Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung, die den jungen Frauen in erster Linie einen Platz in schlecht bezahlten weiblichen Unterschichtberufen oder als Hausfrau und Mutter zuwies. Wie die „Zöglinge“ ihre Zeit in der Erziehungsanstalt erlebten und welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Heimen und den einzelnen Erziehungspersonen bestanden, ist aus den schriftlichen Quellen der untersuchten Heime nur beschränkt herauszulesen. Deutlich wird, dass es „Zöglinge“ gab, die den Heimaufenthalt vorwiegend positiv erlebten, andere vorwiegend negativ. Oral history würde nähere Aufschlüsse zur Sicht der Heimbewohnerinnen sowie zum Heimalltag in den verschiedenen Heimen liefern. Das oft konstatierte Spannungsverhältnis in der sozialen Arbeit zwischen individueller Freiheit, Hilfeleistung und Unterstützung einerseits und den gesellschaftlichen Sicherheits-, Ordnungs-, Anpassungs- und Kontrollinteressen andererseits ist letztlich nicht gänzlich auflösbar. Damit eine Gesellschaft und Gemeinschaft funktioniert, braucht es bestimmte Regeln des Zusammenlebens und eine gewisse Anpassungsleistung jedes Einzelnen. Ein Sozialstaat kommt nicht ohne einen gewissen Zwang aus, um bestimmte Spielregeln durchzusetzen. Die Frage stellt sich jedoch, wann wie viel und welche Art von Zwang vertretbar und überhaupt produktiv und pädagogisch

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Schluss

sinnvoll ist. Genauso zentral sind die Fragen, welches Verhalten überhaupt sanktioniert und als normabweichend deklariert wird, welche Maßnahmen eingeleitet und welche Methoden dabei angewendet werden, wie diese Maßnahmen beaufsichtigt werden sowie welche finanziellen Mittel wo eingesetzt werden. Die maßgeblich in der Fürsorge beteiligten Instanzen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes sollten sich diese Fragen immer w ­ ieder kritisch stellen. Wenn sich auch die Heimerziehung grundlegend gewandelt hat, so können doch problematische Aspekte weiter bestehen oder neue hinzukommen. Eine kritische Reflexion nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart ist zentral, um vergangene Fehler nicht zu wiederholen und heutige Probleme zu gewärtigen. Einweisungen von jungen Frauen in ein Heim aufgrund eines als auffällig erachteten sexuellen Verhaltens, wie wechselnde Partnerschaften, aussereheliche Sexualität oder Schwangerschaft, sind in unserer heutigen westlichen Gesellschaft nicht mehr denkbar. Wir leben in anderen Normgefügen, die aber morgen ebenso für Unverständnis, Kritik oder auch Schmunzeln sorgen können. Über welche Normen und Regeln, die in unserer heutigen Gesellschaft unhinterfragt akzeptiert sind, aber auch über welche Maßnahmen zur Ahndung von als normabweichend deklariertem Verhalten werden wohl dereinst die Historikerinnen und Historiker schreiben?

8 Anhang 8.1

Die Heimlandschaft für weibliche Jugendliche in der deutschsprachigen Schweiz im 19. Jahrhundert bis 19401

Vorbemerkungen Die Entwicklung der Heimlandschaft für weibliche Jugendliche zu skizzieren, birgt zwei Schwierigkeiten. Erstens erschwert die Lückenhaftigkeit des Quellenmaterials die Untersuchung. Eine systematische Zusammenstellung der Erziehungsheime für weibliche Jugendliche in der Deutschschweiz fehlt in meinem Untersuchungszeitraum bislang. Eine Basis, auf der ich aufbauen konnte, bildete die Dissertation der Erziehungswissenschaftlerin Ursula Hochuli Freund zur Heimlandschaft für Kinder und Jugendliche in der deutschsprachigen Schweiz.2 Ich stützte mich zudem auf die historische Untersuchung zur Heimerziehung von Schoch 1989. Des Weiteren ziehe ich die umfangreichen zeitgenössischen philanthropischen Register hinzu, welche in meinem Untersuchungszeitraum über die Schweizer Wohltätigkeit angelegt wurden (Niedermann 1896, Wild 1910, Wild 1919 und Wild 1933). Schließlich stütze ich mich auf das Heimverzeichnis des Schweizerischen Verbandes für Schwererziehbare von 1933, die Liste der katholischen Anstalten der Schweiz von Wilhelm Kissling aus dem Jahr 1931, eine Liste aus dem Jahr 1943, die Heime für über 18-jährige Frauen aufführt,3 sowie auf die Gesamtberichte des Verbandes deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit von 1914, 1922 und 1927. Die Quellenlage zu den Heimen ist für das 19. Jahrhundert lückenhaft, für die Zeit um die Jahrhundertwende 1 2

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Hier werden jene Heime berücksichtigt, welche in einem Kanton mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung standen. Ursula Hochuli Freund hat mir freundlicherweise ihre Unterlagen zur Verfügung gestellt, welche sie zur Heimlandschaft im 19. Jahrhundert zusammengetragen hat. Sie stützte sich hierbei auf Chmelik, Armenerziehungs- und Rettungsanstalten, 1986; Alzinger, Erziehungsheime, 1987 (welche sich beide auf die Heime für schulpflichtige Kinder beschränken); Schoch, Aufwachsen, 1989; Wild, Veranstaltungen, 1910 sowie vor allem auf die ausführliche Zusammenstellung von Christa Stahel. (Stahel, Christa. Armen- und Waisenhäuser und Erziehungsanstalten in der deutschen Schweiz im 19. Jahrhundert. Unvollendete Lizentiatsarbeit, 1993. Stahel hat für ihre leider unvollendet gebliebene Lizenziatsarbeit Armen- und Waisenhäuser sowie andere Erziehungsinstitutionen in der deutschsprachigen Schweiz im 19. Jahrhundert in einer Liste zusammengetragen. Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943.

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und für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts jedoch vorwiegend dank der Arbeiten von Wilhelm Niedermann und Albert Wild vollständiger, wenn auch deren Register der philanthropischen Arbeit ob der großen Fülle an Vereinen, Organisationen und Institutionen keine Vollständigkeit aufweisen. Wild schreibt dazu in seinem Vorwort der Ausgabe von 1919: „Auch die II. Auflage masst sich nicht an, eine Darstellung der gesamten sozialen Fürsorge in der Schweiz zu geben; sie möchte lediglich einen das Wichtigste aus diesem reichhaltigen Gebiet beschlagenden Ausschnitt darbieten.“4 Die Lückenhaftigkeit wird begünstigt durch den Umstand, dass im 19. Jahrhundert (aufgrund der großen Zahl an Gründungen auch als „Anstaltsjahrhundert“ bezeichnet), wie auch nach der Jahrhundertwende viele Heime gegründet und teilweise bald wieder geschlossen wurden. Die existierenden zeitgenössischen Darstellungen zur sozialen Fürsorge in der Schweiz sind zudem meist auf einzelne Kantone oder auf bestimmte Gruppen von Institutionen und Heimen beschränkt. Von manchen Heimen sind ferner kaum oder gar keine Quellen überliefert. Eine zweite Schwierigkeit liegt in den fließenden Grenzen zwischen verschiedenen Heimtypen und den unklaren Begrifflichkeiten. Es existierte eine große Palette an Bezeichnungen für Anstalten, wie „Besserungs-“, „Korrektions-“, Zwangserziehungs-“, „Arbeitserziehungs-“, „Arbeits-“, „Erziehungsanstalt“ oder „Arbeiterkolo­ nie“, wobei die Unterschiede zwischen den einzelnen Benennungen nicht genau festgelegt waren. Der Mangel an genügend Heimplätzen schuf zudem „Zwitterwesen“, welche diverse Zielgruppen aufnahmen. Die Arbeits- und Strafanstalt Hindelbank des Kantons Bern ist ein solches Beispiel. Sie nahm sowohl erwachsene Frauen wie auch weibliche Minderjährige auf. Weibliche Jugendliche wurden häufig aus Mangel an Heimplätzen in Anstalten eingewiesen, die eigentlich nicht auf ihre Zielgruppe ausgerichtet waren. In meiner Zusammenstellung fokussiere ich auf jene Anstalten, die primär zur Nacherziehung weiblicher, nachschulpflichtiger Jugendlicher konzipiert oder in denen vorwiegend junge Frauen untergebracht waren, obwohl keine Altersgrenze festgelegt war. Dazugezählt habe ich sowohl Erziehungsheime, welche der mehrjährigen Erziehung dienten, als auch Durchgangs- und Zufluchtshäuser, welche der vorübergehenden Aufnahme und weiteren Platzierung der Insassinnen dienten. Zu Letzteren zählen auch die Mütterheime, die schwangere Frauen und junge Mütter mit ihren Kindern aufnahmen. In allen diesen Anstalten fanden primär junge Frauen Aufnahme. In einigen davon, vorwiegend in den Zufluchtshäusern, wurden auch ältere Frauen aufgenommen, die jedoch gewöhnlich deutlich in der Unterzahl blieben. Deshalb zähle ich diese Anstalten ebenfalls zu den Jugendheimen. Nicht mitgerechnet habe ich die Wohnheime für junge Frauen, die als sichere Unterkünfte für Arbeit suchende oder arbeitende Frauen dienten und keine Erziehungsanstalten 4

Wild, Fürsorge, 1919, Vorwort S. IV. Hervorhebung im Original.

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waren; zudem jene Anstalten, die gemischtgeschlechtlich waren;5 sowie Kinderheime, die jedoch trotzdem „Zöglinge“ auch einige Zeit über das schulpflichtige Alter hinaus behielten;6 ebenso Anstalten, welche wie Hindelbank vorwiegend auf eine andere Zielgruppe ausgerichtet waren, aber trotzdem einige weibliche, nachschulpflichtige Jugendliche aufnahmen.7 Aufgrund der fließenden Grenzen, welche eine klare Abgrenzung zwischen Heim­typen verunmöglichen, sowie der lückenhaften Überlieferungslage kann meine folgende Skizzierung der Heimlandschaft bis um 1940 nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. In den verschiedenen von mir hinzugezogenen Quellen finden sich ferner teilweise unterschiedliche Angaben zu den Heimen, etwa zu deren Gründungsdatum – Abweichungen sind daher möglich.

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7

Eine solche gemischtgeschlechtliche „Anstalt“ war etwa die kantonale Korrektionsanstalt Realta im Kanton Graubünden, welche „korrektionelle“ Männer und Frauen aufnahm. Viele Kinderheime waren zudem gemischtgeschlechtlich, ebenfalls einige Jugendheime. Eine solche „Kinderanstalt“ war beispielsweise das katholische, gemischtgeschlechtliche Erziehungsheim für Waise und arme Kinder St. Iddaheim Lütisburg (St. Gallen), welches Kinder von 3 – 17 Jahren aufnahm. Oder das katholische, gemischtgeschlechtliche Kinderheim Paradies, Ingenbohl, welches in einer Abteilung der Primarschule entlassene „Töchter“ aufnahm, welche zur weiteren Ausbildung das Institut Theresianum besuchten (beide Heime bei Wild, Handbuch, 1933, Bd. 1, S. 436 f.). Neben Hindelbank beispielsweise die kommunale Verpflegungsanstalt Bärau Langnau für Arme, welche seit 1924 auch „gefährdete“ Jugendliche, speziell Mädchen, zu vorübergehendem Aufenthalt aufnahm (vgl. Wild, Handbuch, 1933, Bd. 2, S. 168). Oder das 1924 in Betrieb genommene städtische Jugendheim Artergut in Zürich, welches neben vorschulpflichtigen Kindern auch sieben weibliche Jugendliche von 14 bis 18 Jahren aufnahm (Heime für die Schwererziehbare und verlassene Jugend in der Schweiz, 1933, S. 77). Die vom Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit gegründete Frauenkolonie Ottenbach im Kanton Zürich sollte die bestehende Lücke bei der Fürsorge für ältere „Dirnen“ füllen, nahm aber auch Jugendliche auf, die trotz Fürsorge mehrmals in die Prostitution zurückgefallen waren. Das Heim verstand sich als Auffangnetz „für sittenschwache Frauen, die anderweitig keine Aufnahme mehr finden können“, weil sie „ein gewisses Alter erreicht haben, oder schon mehrfach rückfällig geworden sind“ (1. Jahresbericht der Frauenkolonie Ottenbach, 1918, S. 5 f.). 1943 nahm der Ottenbach jedoch nur noch junge Frauen zwischen 18 und 32 Jahren auf (Bäumle, Erziehungsanstalten, 1943, S. 43).

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Industrielle Heime

•• 1853, Richter-Linder’sche Anstalt auf Schoren (Basel-Stadt). •• 1857, Arbeitsanstalt Wangen, Wangen (Zürich). •• 1858, Pfrundweid, Wetzikon (Zürich). •• 1869, Arbeitsanstalt Annagut, Tagelswangen (Zürich), gegr. durch Caspar Appen•• •• •• •• ••

zeller. 1876, Versorgungsanstalt Siebnen, Siebnen (Schwyz). 1879, Mädchenasyl Sitterthal-Bruggen, später Mädchen- und Erziehungsheim Son­ nenbühl. 1881, Erziehungsanstalt Richterswil, Richterswil (Zürich), gegr. durch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. 1894, Versorgungsanstalt Galgenen, Galgenen (Schwyz). 1897, Mädchenasyl Emmenhof, Derendingen (Solothurn).

Heime der evangelischen Sittlichkeitsbewegung Die mit * gekennzeichneten Heime bezeichneten die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit als „[v]erwandte Anstalten, welche unsern Bestrebungen dienen“8.

•• 1854*, Brunnadern, bei Bern, aus den Ideen der Gefängnisreformbewegung her••

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vorgegangen. 1872, Magdalenenheim Schirmeck, später Réfuge genannt, Zürich, gegr. von Mathilde Escher, stark vom Gedankengut der englischen Abolitionistin Josephine Butler und der Gefängnisreformerin Elisabeth Fry geprägt. Es war das erste Heim der Deutschschweiz, das unter dem Einfluss der sich ausbreitenden Sittlichkeitsbewegung gegründet wurde. 1881, Zoar, Bern, gegr. von Frau Pfarrer L. Krieg-Chopard, der Leiterin des Frauenkomitees in Bern, aus dem der Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit hervorging. 1883*, Mädchenasyl am Nonnenweg, gegr. von Maria Kober-Gobat, späteres Gründungsmitglied des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit und Mitglied der Freundinnen junger Mädchen. 1888, Asyl für schutzbedürftige Mädchen Wienerberg, St. Gallen, von den Freundinnen junger Mädchen.

Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit, Gesamtbericht, 1922, S. 46; Siebenundzwanzig Jahre Verbandsarbeit, 1928, S. 22 f.

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•• 1889, Vorasyl zum Pilgerbrunnen, Zürich, vom Zürcher Frauenverein zur Hebung •• •• •• •• •• •• •• ••

der Sittlichkeit. 1890, Versorgungshaus zum Pilgerbrunnen, später Maternité, Zürich, vom Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit. Die Maternité war das erste Heim für Schwangere und ledige Mütter mit ihren Kindern in der Schweiz. 1892*, Entbindungsanstalt Bethesda, Basel. 1893, Sulgenhof (später Schattenhof/Heimgarten), Bern, anfänglich mitfinanziert vom Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit und 1903 ganz von diesem übernommen. 1903, Zufluchtshaus, Basel, vom Basler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit. 1903*, Frauenheim Wolfbrunnen bei Laufen (Basel-Landschaft), von Lily Zellweger, der Präsidentin des Basler Frauenvereins zur Hebung der Sittlichkeit, initiiert. Diese saß fortan im Vorstand des Heimkomitees. 1913, Mädchenheim zum Tannenhof, Zürich, auf Initiative und unter finanzieller Mithilfe verschiedener in Zürich bestehender Sittlichkeitsvereine – allen voran der Männer- und der Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit – gegründet. 1923, Mütterheim, St. Gallen, vom St. Galler Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit. 1935, Zufluchtsheim, Frauenfeld (Thurgau), gegr. vom Thurgauer Verein zur Hebung der Sittlichkeit und Moral.

Heime der Heilsarmee

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1894, Mädchenheim Ottenweg, Zürich. 1900, Mädchenheim, Basel. 1906, Zufluchtshaus an der Molkenstrasse, Zürich. 1910, Mütter- und Kinderheim Luisenstift, Zürich. 1924, Hospiz für junge Mädchen und Durchreisende, Bern.

Katholische Heime

•• 1865, Rettungsanstalt zum Guten Hirten, in Schüpfheim, brannte ein Jahr nach ••

der Gründung nieder und wurde fortan als Amtsarmenanstalt geführt, die weiterhin „gefallene Mädchen“ aufnahm. 1868, Heim zum Guten Hirten in Altstätten, St. Gallen, gegr. von Johann Baptist Rist, von Schwestern des Ordens „Unsere Frau von der Liebe des Guten Hirten“ geführt.

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•• 1881, Erziehungsheim für katholische Mädchen, Richterswil, gegr. von der Schwei-

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zerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, welches ursprünglich ein industrielles Heim war, 1926 jedoch umgewandelt wurde. Es wurde zu einem von St. Katharinaschwestern geleiteten Heim. 1913, St. Katharinaheim in Basel, gegr. von Frl. Maria Frieda Albiez, später Eigentum der St. Katharinaschwestern. 1913, Aufnahme- und Durchgangsheim „Sonnenblick“, Basel, von St. Katharinaschwestern geleitet, gehörte zusammen mit dem St. Katharinaheim Basel. 1913, Fürsorgeheim Waldburg, St. Gallen-Rotmonten, gegr. vom katholischen Mädchenschutzverein und dem katholischen Fürsorgeverein. 1920, Mütter- und Kinderheim Alpenblick, in Hergiswil (Nidwalden), eine Institution des Schweizerischen Katholischen Fürsorgevereins für Frauen und Kinder. 1927, Marthaheim, Luzern, gegr. von der Sektion Luzern des Schweizerischen katholischen Fürsorgevereins. 1927, St. Theresiahaus Steingruben, Solothurn, gegr. vom Seraphischen Liebeswerk Solothurn. 1929, Mädchenheim Sonnhalde, in Hergiswil (Nidwalden), eine Institution des Schweizerischen Katholischen Fürsorgevereins für Frauen, Mädchen und Kinder. 1929, Mütter- und Säuglingsheim „Auf Berg“, Seltisberg (Basel-Landschaft), gegr. durch den Schweizerischen Katholischen Fürsorgeverein für Frauen, Mädchen und Kinder. 1930, Zufluchtshaus Monikaheim, Zürich, vom katholischen Fürsorgeverein Zürich. Nach 1932, Haushaltungsschule und Erziehungsheim Lützelhof, Lucell (Bern), gegründet vom Katharinawerk, von St. Katharinaschwestern geleitet, zugleich Fürsorgerinnenschule für die Katharinaschwestern. 1933, St. Verenahof Basel, ein Mütter- und Säuglingsheim, gegr. durch den katholischen Fürsorgeverein Basel-Stadt.

Weitere private Heime

•• 1900, Mütter- und Säuglingsheim Inselhof, Zürich, interkonfessionell, gegr. durch den Verein Mütter- und Säuglingsheim Zürich.

•• 1915, Kantonal-bernisches Säuglings- und Mütterheim, Bern, interkonfessionell, eine

••

private Stiftung des kantonal-bernischen Vereins für Kinder- und Frauenschutz, des Vereins für Säuglingsfürsorge sowie des Vereins für ein Mütter- und Kinderheim der Sektion Bern des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins. 1918, protestantisches Mädchenheim Seeblick, Stäfa, gegr. von der Kommission für Versorgung hilfsbedürftiger Kinder im Bezirk Zürich.

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•• 1923, Mütter- und Kinderheim Hohmaad, Thun, interkonfessionell, gegr. durch •• •• •• •• •• ••

eine Privatperson. 1926, Heim für alleinstehende Mütter, Basel, gegr. durch Private. 1926, protestantisches Zufluchtshaus St. Gallen O., gegr. von der Frauenzentrale des Kantons St. Gallen. 1932, Heimstätte Sonnegg, Belp (Bern), protestantisch, gegr. durch die Initiative von Einzelpersonen unter Einbeziehung des Vereins für kirchliche Liebestätigkeit. Nach 1932, Landheim Siloah, Oberglatt (Zürich), protestantisch, gegr. und geleitet durch eine Privatperson. 1933, Mädchenheim Lochmatte, Därstetten, protestantisches Heim, gegr. von Dr. Werner Ninck-Koch und dessen Frau. 1939, Pestalozziheim Bolligen, interkonfessionell, gegr. von Rosa Neuenschwander, der damaligen Präsidentin des Bernischen Frauen­bundes (heutige Frauenzentrale des Kantons Bern).

Kantonale und kommunale Heime

•• 1912, städtisches Mädchenheim Heimgarten bei Bülach (Zürich). •• 1929, städtisches Mädchenheim Tannenhof, Zürich, zuvor ein Heim der Sittlichkeitsbewegung.

•• 1935, kantonales Mädchenheim Loryheim, Münsingen (Bern).

9 Abkürzungsverzeichnis EFZ NB SEF Sozarch StABE StABS StAZH StadtA Bern StadtA Zürich ZBZ

Archiv Evangelischer Frauenbund Zürich Schweizerische Nationalbibliothek Schweizerische Evangelische Frauenhilfe Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich Staatsarchiv Bern Staatsarchiv Basel-Stadt Staatsarchiv Zürich Stadtarchiv Bern Stadtarchiv Zürich Zentralbibliothek

10 Quellen- und Literaturverzeichnis 10.1 Nicht publizierte Quellen Archiv Schulinternat Heimgarten (an der Geschäftsstelle der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime) Chronik Heimgarten. Bericht über einen Massenausbruch am 11. Oktober 1953 und nachfolgenden Streik der Schülerinnen am 15. Oktober 1953 des Mädchenheims Heimgarten.

Archiv Ingenbohl Lehrpläne Kinderpflegerinnenschule/Sozial-pädagogisches Schwesternseminar im Pensionat Theresianum

Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS) PA 882 Basler Frauenverein am Heuberg. Straf- und Polizeiakten T1 Gefängniswesen, Versorgungswesen überhaupt. 1906 – 1920. Straf- und Polizeiakten T4 Versorgung von Liederlichen und Verwahrlosten überhaupt. Gesetz über Versorgungen. Jugendliche Verbrecher und Besserungsanstalten überhaupt. 1891 – 1933. Straf- und Polizeiakten T12,1 Versorgungskommission. Allgemeines und Einzelnes. 1893 – 1916. Straf- und Polizeiakten T12,2 Versorgungskommission. Jahresberichte. 1901 – 1908. Straf- und Polizeiakten T14 Rettungsheim Holeestrasse, Zufluchtshaus des Basler Frauenvereins, 1914 – 1935. PD-REG 1a 1950 – 1902 Polizeiassistentin. Schaffung einer Stelle. Allgemeines. 1922 – 1951. PD-REG 2,32.05 Frauenversorgungs-Anstalten. Allgemeines und Einzelnes. 1934 – 1943. Straf und Polizei, N3f Prämienlisten über Entdeckung und Unterbringung von Verbrechern, Bettlern, Dirnen usw., 1851 – 1886. PD-REG 2,32.02 Versorgungsanstalten. Beilagen (Gutachten, Vorträge etc.) 1914 – 1916. JD-REG 1. 8 – 1 – 4 Zufluchtshaus Rankhof. 1948 – 1959. JD-REG 1c-8 – 1 – 4. Staatarchiv Bern (StABE) 200.751 Heimgarten, Baudossier. 200 751 I Heimgarten und Lindenheim. BB III b 3360 Gemeinnütziges, 1833 – 1932. BB XII C 117 Armenwesen, Anstalten, District de Porrentruy, Anstalten nach 1897.

Mappe Evangelische Gesellschaft Bern

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Stadtarchiv Bern (StadtA Bern) Stadtpolizei, Mappe 4, Dirnenwesen 1943 – 1952. Dossier 9. Mappe „Prostitution“.

Archiv Evangelischer Frauenbund Zürich (ehem. Zürcher Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit, EFZ) Schachtel A. I Verein Zürcher Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit, Sitzungs­ protokolle des Vorstandes. Schachtel C. I. Heft 1 Hausordnungen und Statuten für die Vorsteherinnen des Vorasyls zum Pilgerbrunnen. Schachtel C. I. Heft 2 Sitzungsprotokolle des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen 1900 – 1905 (Protokoll). Schachtel C. I. Heft 3 Sitzungsprotokolle des Komitees des Vorasyls zum Pilgerbrunnen 1916 – 1926. Schachtel C. I. Heft 7, 8, 9 Berichte der Hausbesucherinnen 1889 – 1895 und 1901 – 1912 und 1912 – 1920 (Besuchsbuch). Schachtel C.II. Heft 4 Hausordnung des Wohnheims für Töchter. Hist. Dok. Buch 1 Buch über die Magdalenenheime des Verbandes deutschschweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit mit Ehrendiplom 1911. Hist. Dok. Mappe 3 Subventionen der Stadt Zürich 1919. Hist. Dok. Mappe 10 Geschlechtskrankheiten.

Archiv Diakonissenhaus Riehen Lebenslauf der ersten Diakonissin im Mädchenheim Pilgerbrunnen. Burgdorf, o. J. Rückblick nach 5 Jahren, vor der Einsegnung. 18. Oktober 1899. Rückblick 25-Jahr-Jubiläum. 11. November 1919. Beerdigungsansprache für die erste Diakonissin im Mädchenheim Pilgerbrunnen. O. O. u. J. Kondolenzbrief der Präsidentin des Komitees des Pilgerbrunnens, Zürich den 27. Juni 1933.

Nicht publizierte Quellen

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Gosteliarchiv B1:1 – B 30:1 SEF-Sektion Bern (Evangelische Frauenhilfe Bern, ehem. Berner Frauenverein zur Hebung der Sittlichkeit) Schweizerischer Evangelischer Verband Frauenhilfe (SEF), ehem. Verband deutsch-schweizerischer Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit: A 2:2 Biographische Materialien, gedruckt. A 2:1 Artikel, Texte und Zusammenstellungen zur Verbandsgeschichte, Verbandsportraits. A 4.1 Gesamtberichte. A 5 Protokollhefte aus der Zeit vor der Verbandsgründung. 1886 – 1901. A 6:1-A 6:9 Protokolle Verbandssitzungen, Delegierten- und Generalversammlungen. 1901 – 1949. A 25:2 Eingaben zum Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches. A 26 Frauenheim Ulmenhof, Ottenbach.

Schweizerische Nationalbibliothek (NB) V BE 5545 Jahresberichte des Berner Männervereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, 1886 – 1926, und Diverses. V BE 4874 Statuten, Diverses, Berichte des Berner Männervereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit.

Staatsarchiv Zürich (StAZH) III Ca 13 Kanton Zürich. Justiz und Polizei. Strafrecht, Verschiedenes, 1609– P 302.2.2 – 4 Akten des Gefängniswesens betreffend Korrektionsanstalten, ­All­gemeines, Gesetze, Reglemente, Verordnungen etc. 1878 – 1925. MM 2 – MM 3. Protokolle des Regierungsrates des Kantons Zürich. MM 24.35 – 60 Protokolle des Kantonsrates des Kantons Zürich. III Cd 6 Justiz und Polizei, Strafvollzug, Zwangsarbeits- und Korrektionsan­ stalten (Durchgangsheime) im Allgemeinen. (a) Gesetze 1879– (c) Verordnungen und Beschlüsse 1880– X 177:2 Eidgenössischer Verein, Sektion Zürich, 1866 – 1916. W I 56 Kantonal Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl (Zürcher ­Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit).

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Stadtarchiv Zürich (StadtA Zürich) V. J. b. 301 – 309 Mädchenheim Tannenhof. Rn 51 Evangelische Gesellschaft, Jahresberichte.

Sozialarchiv Zürich (Sozarch) 176/3 Sexuelle Frage: Allgemeines, Vereine. 176/3:V1 Kantonale Zürcher Vereinigung für sittliches Volkswohl (Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit). Jahresberichte, Statuten, Vorträge. 176/3:V2 Sekretariat der Zürcher kantonalen Sittlichkeitsvereine. Berichte, ­Protokolle, Briefe, 1907 – 1908. 176/11 Sexuelle Frage, Prostitution: Schweiz

Zentralbibliothek Zürich (ZBZ) LK 152 Zürcherischer Frauenbund zur Hebung der Sittlichkeit. LK 653 Kantonal Zürcher Männerverein zur Hebung der Sittlichkeit. LK 2149 Mädchenheim zum Tannenhof. LK 931 Gemeindeverein für das vereinigte Zürich (ursprünglich LK 274). LK 1617 Gesellschaft vom Alten Zürich (Drucksachen). Ms. Z III 217 – 221, 364 – 383 Gesellschaft vom Alten Zürich (Archivalien). Ms. Z III 369 Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft vom Alten Zürich. XXN 12 Der Nebelspalter. AY 316 Der Scheinwerfer.

Publizierte Quellen

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10.2 Publizierte Quellen Bäumle, Elsa. Erziehungsanstalten für Frauen. Basel 1943. (Bibliothek der Universitären Psychiatrischen Klinik Basel (UPK). Signatur 2012). Benz, Emilie. Zur Geschichte der Frauenbewegung in der Schweiz. In: Zur Geschichte der Frauenbewegung in der Schweiz. Sechs Vorträge. Veranstaltet durch die Pestalozzigesellschaft. Zürich 1902. S. 1 – 33. Bollag-Winizki, Lore. Die sichernden Massnahmen für Jugendliche, Verwahrloste und Gewohnheitstrinker im Kanton Zürich. Dissertation, Zürich 1940. Bossart, Peter. Persönliche Freiheit und administrative Versorgung. Winterthur 1965. Bosshard, G. Die Winkelwirtschaften in der Stadt Zürich. Zürich o. J. Braun, Lily. Der internationale Frauenkongress in London. In: Schweizerische Blätter für Wirtschaftsund Socialpolitik, VII. Jg., Heft 13, 1899. S. 484 – 499. Briner, Robert. Von den Anfängen des kantonalen Jugendamtes. In: Jugendamt und Bezirksjugendsekretariate des Kantons Zürich 1919 – 1969. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des kantonalen Jugendamtes. Zürich 1969. S. 9 – 11. Briner, Robert. Die öffentlich-rechtliche Jugendhilfe und ihre Zusammenarbeit mit der privaten Jugendhilfe. In: Schweizerische Zeitschrift für Gesundheitspflege, III. Jg., Heft 1 (1923), S. 303 – 310. Bucher, J. J. Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907, erlassen von der Bundesversammlung der Schweizer. Eidgenossenschaft. Zürich 1909. Das Schweizerische Anstaltswesen für die Jugend. Herausgegeben vom Zentralsekretariat Pro Juventute. Basel 1945. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in seinen wichtigsten Neuerungen gegenüber dem bisherigen eidgenössischen und zürcherischen Privatrecht. Regierungsrat des Kantons Zürich (Hg.). Zürich 1911. Das Versorgungswesen im Kanton Basel-Stadt. Eine Übersicht von Dr. Franz Fäh. Beilage im Jahresbericht der Versorgungs-Kommission Basel-Stadt über das Jahr 1902. Basel 1903. Demme, Kurt. Die humanitären und gemeinnützigen Bestrebungen und Anstalten im Kanton Bern. Bern 1904. Die Jugendfürsorge im Kanton Bern. Bericht über den 1. kantonal-bernischen Informationskurs für Jugendfürsorge vom 21.–23. September 1925 in Bern. Bern 1926. Die Prostitutionsfrage in der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Zürich. Herausgegeben vom Aktionskomitee des kantonalen zürcherischen Männervereins zur Bekämpfung der Unsittlichkeit. Zürich 1913. Dubs, Hans. Die rechtlichen Grundlagen der Anstaltsversorgung in der Schweiz. Unter besonderer Berücksichtigung des gegenseitigen Verhältnisses gleichartiger Versorgungsnormen. Basel 1955. Eingabe des Zürch. Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit an den h. Regierungsrat des Kantons in Beantwortung des Gutachtens des Sanitätsrates. Zürich 1892. Emma Hess (1842 – 1928), E. Boos-Jegher (1855 – 1928). In: Mitteilungen des Schweiz. Bundes gegen die unsittliche Literatur, Nr. 4 (1928). Fankhauser, Werner. Basels Massnahmen gegen die Syphilis in den verflossenen Jahrhunderten. Dissertation, Universität Basel 1931. Frau Elise Rahn-Bärlocher. In: 38. Jahresbericht des Zürcher Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit, 1928, S. 5 – 7.

414

Quellen- und Literaturverzeichnis

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11 Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Der neue Postillon, Nr. 6, Juni 1901. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 2. Der neue Postillon, Nr. 1, Januar 1908. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 3. Der neue Postillon, Nr. 2, Januar 1909. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 4. Nebelspalter, Nr. 17, 28. April 1900. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 5. Nebelspalter, Nr. 15, 14. April 1900. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 6. Nebelspalter Nr. 47, 20. November 1897. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 7. Der neue Postillon, Nr. 12, Dezember 1904. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 8. Der neue Postillon, Nr. 3, März 1900. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 9. Scheinwerfer Nr. 15, 30. Juli 1914. S. 5. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 10. Der neue Postillon, Nr. 7, Juli 1900. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 11. Der neue Postillon, Nr. 9, September 1897. Schweizerisches Sozialarchiv. Abb. 12. Zentralbibliothek Zürich. LK 152. Abb. 13. Zentralbibliothek Zürich. LK 653. Abb. 14. Zentralbibliothek Zürich. LK 152. Abb. 15. Archiv Evangelischer Frauenbund Zürich. Abb. 16. Scheinwerfer, Nr. 16, 13. August 1929. S. 5. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 17. Nebelspalter, Nr. 50, 11. Dezember 1897. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 18. Scheinwerfer, Nr. 23, 23. November 1911. S. 5. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 19. Nebelspalter, Nr. 36, 7. September 1901. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 20. Nebelspalter, Nr. 40, 6. Oktober 1900. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 21. Nebelspalter, Nr. 41, 13. Oktober 1894. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 22. Nebelspalter, Nr. 44, 1. November 1919. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 23. Scheinwerfer, Nr. 11, 4. Juni 1929. S. 5. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 24. Nebelspalter, 13. Juli 1901, Nr. 28. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 25. Nebelspalter, Nr. 34, 25. August 1900. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 26. Scheinwerfer, Nr. 1, 2. Januar 1930. S. 4. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 27. Scheinwerfer, Nr. 5, 7. März 1939. S. 5. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 28. Nebelspalter Nr. 3, 19. Januar 1900. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 29. 24. Jahresbericht des Zürcherischen Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit 1911. S. 6. Zentral­bibliothek Zürich. LK 152/1. Abb. 30. Scheinwerfer, Nr. 15, 21. Juli 1931. S. 5. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 31. Nebelspalter, Nr. 1, 1. Januar 1888. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 32. 23. Jahresbericht des Zürcherischen Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit 1910. S. 6. Zentral­bibliothek Zürich. LK 152/1. Abb. 33. Archiv Evangelischer Frauenbund Zürich. Abb. 34. Archiv Evangelischer Frauenbund Zürich. Abb. 35. 24. Jahresbericht des Zürcherischen Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit 1911. S. 8. Zentral­bibliothek Zürich. LK 152/1. Abb. 36. Scheinwerfer, Nr. 21, 8. Oktober 1920. S. 4. Zentralbibliothek Zürich. Abb. 37. Scheinwerfer, Nr. 8, 23. April 1914. S. 5. Zentralbibliothek Zürich.

Rol and Zingg

die BRiefsammlungen deR eRZBischöfe von canteRBuRy, 1070–1170 KommuniK ation und aRgumen tation im ZeitalteR deR investituRKonfliK te (ZüRcheR BeitR äge ZuR geschichts­ wissenschaft, Band 1)

Nach der Eroberung Englands durch Wilhelm I. liegen von vier der zwischen 1070 und 1170 regierenden Erzbischöfe Briefsammlungen vor. Da selbst die päpstlichen Register erst ab 1198 eine geschlossene Überlieferung zeigen, ist es für England deshalb früher als anderswo möglich, Details aus der Amtsführung der ranghöchsten Geistlichen zu betrachten. Im Mittelpunkt der Studie steht die Untersuchung dieser faszinierenden Quellengattung des Mittelalters. Diese verknüpft dabei, eingebettet in die Ära des sozialen und politischen Umbruchs in Europa, die Frage nach dem Korrespondentenkreis mit einer Analyse der Argumentationsmuster, die den unterschiedlichen Empfängern gegenüber zur Anwendung kamen. 2012. 343 S. Gb. 155 x 230 mm. ISbN 978-3-412-20846-2

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SILVAN FREDDI

ST. URSUS IN SOLOTHURN VOM KÖNIGLICHEN CHORHERRENSTIFT ZUM STADTSTIFT (870–1527) (ZÜRCHER BEITRÄGE ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT BAND 2)

Über ein Jahrtausend (870–1874) übte St. Ursus als eines der ältesten Stifte der burgundischen Schweiz einen prägenden Einfluss auf die religiösen, politischen und kulturellen Geschicke der Stadt Solothurn aus. Die vorliegende Monografie untersucht den Wandel vom unabhängigen königlichen Chorherrenstift zum Stadtstift unter der Kontrolle des Rates, ein Prozess, der um 1527 seinen Abschluss fand. Solothurn verhielt sich damit wie andere eidgenössische Stadtstaaten, aber konträr zu deutschen Reichsstädten. Neben verwaltungs- und verfassungsgeschichtlichen Fragestellungen analysiert der Autor die Folgen dieser Entwicklung für die Zusammensetzung des Stiftsklerus. Als Grundlage dienen 421 Lebensläufe von Chorherren, Kaplänen und Anwärtern, die gesellschaftlichen Status, Bildungsstand und Karriere der Geistlichen minuziös nachzeichnen. 2014. 788 S. 13 S/W UND 4 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21112-7

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