Die Chance des Unbehagens. 3 Essais zur Situation der klassischen Studien


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german Pages [96] Year 1965

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Die Chance des Unbehagens. 3 Essais zur Situation der klassischen Studien

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HÖLSCHER

Die Chance des Unbehagens Drei Essais zur Situation der klassischen Studien

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VAINDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

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Uvo Hölscher geboren 1914, Studium an den Universitäten Tübingen, München und Frankfurt, Doctor-Promotion dort 1937, zum Doctor habil. 1944 in Hamburg. 1946 Privatdozent in München. 1954 ord. Professor an der Freien Universität in Berlin, seit 1962 in Heidelberg. Herausgeber des postumen Werks von Karl Reinhardt „Die llias und ihr Dichter". Veröffentlichungen: Untersuchungen zur Form der Odyssee (1939), Anaximander und die Anfänge der Philosophie (1953), Weltzeiten und Lebenszyklus (1965) und andere Arbeiten zu den Vorsokratikern, Das Schweigen der Arete (1960), Empedokles und Hölderlin (1965).

Kleine Vandenhoeck-Reihe 2221222a Umschlag: Irmgard Suckstorff. — (H) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1965. — Printed in Germany. — Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. 8447

VORWORT Die hier vereinigten drei Aufsätze sind jeder für sich als Vorträge aus besonderem Anlaß entstanden, ihre Beziehung aufeinander war nicht beabsichtigt. Sie hängen aber zusammen durch die dahinterstehende Frage nach der Wirkung des Altertums in der Gegenwart — deren Fragwürdigkeit nicht nur das interne Problem einer Wissenschaft, sondern Teil einer allgemeineren Krise ist: unserer Entfremdung von der Überlieferung. Was sich erst ergab, war das Bild eines wachsenden Unbehagens, worin der moderne Humanismus seit dem Ende der Romantik sich befindet. Die hier hervorgehobenen Momente sind Phasen dieses Bildes, wie es im Licht zweier außerordentlicher Gelehrtengestalten der jüngsten Vergangenheit, und nun im Dunkel der noch unentschiedenen Gegenwart sich zeigt. Gemeinsam ist diesen Vorträgen, daß sie sich zuerst und vor allem an Studenten wendeten, um etwas mitzuteilen, wovon die Jüngeren bereits durch einen Hiat der Geschichte getrennt sind. Getrennt sind sie vielleicht schon von dem Leiden, von dem hier die Rede ist — wir kennen die Jüngeren nicht, und sie kennen sich selber nicht, wie wir uns selber nicht gekannt haben. Dies ist der Versuch einer Verständigung. Was in allem leitend war: daß die Krise eine Chance ist, daß nur in der Vertiefung der Krise unsere Möglichkeiten liegen, mag im ganzen mehr unausgesprochen geblieben sein; wie denn auch die reine Anschauung des Altertums und seine unveränderte Größe hinter der Kritik seiner Rezeption im Hintergrund geblieben ist. Sollte in der Wahl des Titels etwas von dieser Verlegenheit erkannt werden, würde ich nicht widersprechen.

INHALT

1. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff . . . .

7

2. Karl Reinhardt

31

3. Selbstgespräch über den Humanismus . . .

53

Was allein kann uns wiederherstellen? Der Anblick des Vollkommenen. (Nietzsche)

ULRICH VON

WILAMOWITZ-MOELLENDORFF I

Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ist von 1897 bis 1931, von seinem neunundvierzigsten Lebensjahr an bis zu seinem Tode im dreiundachtzigsten, an der Berliner Universität Professor der klassischen Philologie gewesen. Er hat in diesen Jahrzehnten Rang und Ruhm erlangt wie kein zweiter in der Altertumswissenschaft unseres Landes: In- und Ausland hörten auf sein Wort, und seine Wirkung reichte weit über die Grenzen der Universität hinaus. Seine allwöchentlichen, zweistündigen öffentlichen Vorlesungen waren Berliner Stadtereignisse: der größte Hörsaal der Universität war bis an die Stufen des Katheders hin gefüllt von einem bunten Publikum, und ein minutenlanges Trampeln begrüßte ihn von weit her, wenn er mit schnellen Schritten, in seinen engen, dunklen Röhrenhosen, durch die sich die hohen Zugstiefel abzeichneten, und im altmodischen hochgeschlossenen Rock, von dem Pulte Besitz ergriff wie von einer Bastion ein friderizianischer General. Da stand er, keine elegante, aber eine noble Gestalt, mit hellen blauen Augen und glattgescheiteltem, schlohweißem Haar, und seine feste Stimme, gelegentlich zu hellem Befehlston sich erhebend, füllte den Saal. Die wissenschaftliche Schaffenskraft dieses Mannes ist mit wenigem zu vergleichen. Selbst wenn man nur die umfangreicheren Werke nennt, bleibt kaum ein Gebiet der griechischen Literatur ausgelassen. Den Vorrang hat die Dichtung. Da ist sein Iliasbuch, zwei Bücher über die Odyssee, die kommentierte Ausgabe der Erga Hesiods, die Textgeschichte der Lyriker, Sappho und Simonides, das Pindarbuch, die Griechische Verskunst, die große Aischylos-Ausgabe und dieAischylosInterpretationen, Euripides Herakles mit der Einleitung in die griechische Tragödie in zwei Bänden, Euripides Hippolytos, der Ion, und vier Bände Übersetzungen griechischer Tragödien; die 7

Ausgabe der Lysistrata des Aristophanes, der neuentdeckte Menander-Papyrus Das Schiedsgericht, die Hellenistische Dichtung in zwei Bänden, die Textgeschichte der Bukoliker, die Kallimachos- und Theokrit-Ausgaben. Sodann zur Philosophie und Geschichte: das zweibändige Piatonbuch, Antigonos von Karystos, Aristoteles und Athen und der neue AristotelesPapyrus Der Staat der Athener; schließlich die allgemeineren Werke Staat und Gesellschaft der Griechen, die Griechische Literaturgeschichte, die Geschichte der Philologie, und sein großes zweibändiges Alterswerk Der Glaube der Hellenen, an dem er noch auf dem Sterbebett gearbeitet hat. Dies ist nur das Allersichtbarste; seine Bibliographie zählt mehr als 650 Titel. Eine ungewöhnliche Energie und Schnelligkeit des Arbeitens. Die Schnelligkeit merkt man seinen Büchern an, ihrem sprunghaften, gerade in seiner Lässigkeit oft gar nicht leicht verständlichen Stil. Sein stupendes Gedächtnis arbeitete ohne Zettelkasten, immer aus dem Vollen. Und man kann sagen, daß jedes einzelne Werk unsre Wissenschaft auf eine neue Grundlage gestellt hat. Wollte man seine Hauptleistung in der Geschichte der Philologie bezeichnen, so ist es wohl dies, daß er die Geschichte der Texte im Altertum aufgeklärt hat; auch das war ihm nur möglich durch die Fülle seiner geschichtlichen Anschauung. Doch seine Bedeutung geht darüber weit hinaus. Ich habe heute nur die Wahl, sein Werk zu skizzieren oder seine Person, und wähle das letztere. Man wird nicht leicht einen nennen, der als Gelehrter so sehr dazu herausgefordert hat, zu seiner Person Stellung zu nehmen. Selbst die, die in seinen Bann gerieten, hörten nicht auf, sich über ihn zu wundern. Wer ihn nicht selber mehr erlebt hat, wird seine Gestalt nicht hervorrufen können, ohne ihn mit anderen zu konfrontieren. So soll er im folgenden in einigen bedeutenden Begegnungen oder Beziehungen gezeigt werden. Als Wilamowitz starb, herrschte das Gefühl, daß eine Epoche der deutschen Altertumswissenschaft zu Ende gegangen sei. „Mit Wilamowitz' Tod ist die Dämmerung angebrochen", schreibt Eduard Schwartz 1931; „wer weiß, wann und ob ein Morgen von dauernder Helle k o m m t " ' . In der Tat, seine Überlegenheit war so groß, daß keiner um ihn herumgekommen ist. Karl Reinhardt, sein Schüler, schreibt im Vorwort 8

seines Aischylos-Buches mit dem ihm eigenen Understatement: „Vielleicht wird man sich wundern, daß ich mich so oft mit Wilamowitz auseinandersetze. Aber damit teile ich als Philologe nur das Schicksal meiner Generation. Was alles von uns lebt nicht in der Selbstbehauptung gegen ihn, wo dieser Selbstbehauptung doch die so viel größere Fülle dessen, was man ihm verdankt, zugrunde liegt! Unser Gedankenmangel ist so groß, daß wir nicht von ihm absehen können. Ich selbst fröne munter mit." Wilamowitzens Schüler, an Berlins Gymnasien und allenthalben an den deutschen Universitäten, sind die Lehrer unserer Generation. Seine Wirkung aber, in Bewunderung oder Widerspruch, insbesondere bei unseren Studenten, ist unsicher geworden. Zwischen ihn und uns hat sich doch, auch in der Wissenschaft, so manches gestellt, was uns die eingetretene Verfinsterung, das Ende des Humanismus, zwar spüren, aber das, was vorausging, doch auch nicht mehr in eindeutigem Lichte erscheinen läßt. Wilamowitz, in all seiner großartigen Einfachheit, gehört zu den widersprüchlichsten Erscheinungen auf deutschen Lehrstühlen, und sein Biograph kommt nicht darum herum, sich auch dieses Fragwürdigen, das in seiner Gestalt liegt, anzunehmen. Sollte also im folgenden Versuch, von Größe und Grenze dieses Gewaltigen zu sprechen, auch ein kritischer Ton gehört werden, so kann solche Kritik, mit Goethes Worten, billigerweise nicht anders geschehen als auf den Knien. II Wilamowitz stammt aus einem preußischen Soldatengeschlecht. Der Feldmarschall Moellendorff, der dem Alten Fritz die Schlacht bei Leuthen gewonnen, hatte den Großvater Wilamowitz, das heißt Wilhelmssohn, adoptiert, der bei Eylau den Pour-le-merite erwarb. Der Vater gehörte zu den ersten Siedlern, die unter der Verwaltung des Oberpräsidenten von Flottwell seit 1836 zwischen Posen und Thorn, in der Landschaft Kujawien, sich Güter erwarben und die bislang vernachlässigte Provinz in wenigen Jahrzehnten in ein gesegnetes Land verwandelten. Die Brüder wurden Offiziere und Reserveoffiziere, 9

der älteste später Oberpräsident von Westpreußen. Alle, wie es sich in der Familie gehörte, große Reiter. Daß Ulrich Wilamowitz kein Kavallerist geworden ist, „wo er doch einen besseren Schenkelschluß hätte als seine Brüder", ist dem Vater ein dauernder Kummer geblieben. Als Kujawiake hat er sich immer gefühlt — Cujavus nennt er sich auf seiner Doktordissertation. Der preußische Patriotismus der Familie war frei von der chauvinistischen Engstirnigkeit der späteren sogenannten Hakatisten, er fühlt sich mit seinen polnischen Landsleuten „verbunden durch die Geburt, durch die Natur, also" — so drückt er sich hellenisch aus — „durch di gemeinsamen heimischen Götter, die uns alle genährt haben". Ebenso spricht er von „unseren jüdischen Landsleuten"; der Ausgleich schien schwieriger, aber er „war im Gange und mußte erreicht werden". „Jetzt freilich ist alles verschoben" — fügt der Achtzigjährige, mit bitterem Groll gegen die „Novembermänner", hinzu und schließt ahnungsvoll: „Wie das werden soll, in der Welt und bei uns, nur ein Prophet könnte es künden, und glauben würde ihm niemand." Die Ergebenheit gegen das Königshaus war unbedingt. Aber das hieß nicht, daß die herrschende Reaktion gebilligt ward. Im Grunde war man fritzisch, also liberal und aufgeklärt, und bei aller Eingeschränktheit des Lebenskreises gab es etwas Weltmännisches. Es bedeutete doch etwas, daß die Eltern, auf Anraten des Latein-Hauslehrers, den Knaben auf die klösterliche Landesschule Pforte schickten, die Schule Klopstocks, Fichtes, Thierschs und Rankes. Wilamowitz war kein Frühreifer. Dennoch hat er, was auf dei Schule an privater, selbsterwählter Lektüre von den „Knaben" (so hießen sie in der ganzen Umgebung) erwartet wurde, sc weit übertroffen, daß seine Lehrer Mühe hatten, Schritt zu halten. Als er mit knapp neunzehn Jahren die Schule verließ, überreichte er seine Valedikrionsarbeit über die griechische Tragödie mit einem Motto aus Euripides, das er noch zweimal, auf der Höhe und gegen Ende seines Lebens, wiederholen und erneuern wird: Nie will ich aufhören, Musen und Chariten zu verbinden zu freundlichstem Gespann — 10

(er würde das ganz anders übersetzen; aber davon sogleich) Oü 7raücro^ai xa? Xapirac, Mouffat.? auyxaTajietY7^? äStcTTav auQjyia» „Es war und ist ein Gelübde fürs Leben", erläutert er später: „den Musen und auch der alten Schule werde ich die Treue halten." 2 Treue bleibt ein Leitmotiv seines Lebens. Wer aber kann so noch als Fünfzig- und Siebzigjähriger sich selbst zitieren! Es gibt in diesem Leben keine Wandlungen. Daß der preußische Junkerssohn am Ende zum Studium der Geschichte, der Germanistik und der klassischen Philologie sich entschloß, fiel denn doch etwas aus dem Rahmen. Da war es die kluge und musische Mutter, die ihn gegen die Widerstände des viel eingeschränkteren Vaters unterstützte. Am Geiste Schulpfortas hat es wohl gelegen, daß er als Universität nicht Berlin, sondern Bonn wählte. Was das bedeutete, möge eine kurze Erinnerung der Geschichte der klassischen Philologie erläutern. Sie wird uns zugleich den Platz zeigen, den Wilamowitz in ihr einnimmt. Die klassische Philologie als historische Wissenschaft ist in Deutschland seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus dem großen Aufschwung hervorgegangen, mit dem in der zweiten Hälfte des achtzehnten das Altertum, und das heißt durchaus das Griechentum, im Klassizismiis angeeignet worden ist. Die Aneignung geschah dichterisch und gelehrt. Wie sich beide Weisen zueinander verhielten, fragen wir nicht; genug, daß beides von derselben Wurzel war (wie uns der Gedanke an Winckelmann etwa lehren kann). Lnd selbst was an der Philologie „historisches Bewußtsein" ist, sieht Friedrich Meinecke als treibende Kraft auch bei den schöpferischen Geistern der deutschen Klassik wirksam: an Stelle des allgemeinen, ästhetischen oder moralisierenden Umgangs mit den alten Autoren der Sinn für das Einmalige, Wirkliche und Individuelle. Hierin kommt aber vielleicht ein spezifisches Dilemma unserer Wissenschaft nicht zu Wort: Wie verhalten sich Goethes Achilleis, dies Weiterdichten an der Ilias in homerischem Geist, und Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum, dieser Anfang kritisch-historischer Textanalyse — beide gleichzeitig, in 11

den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts, entstanden — wie verhalten sie sich zueinander? Die beiden Autoren, der Dichter und der Philologe, schätzten einander hoch . . . Oder, um das Extremere zu nennen, wie verhält sich Hölderlins ,Eremit in Griechenland' — auch dieser eine Verwirklichung, ein ,Ins-Leben-Ziehen' des Vergangenen — zu der nur wenige Jahre später begonnenen riesenhaften Sammlung der griechischen Inschriften im Corpus Inscriptionum durch August Boeckh an der Berliner Akademie? Das hat bereits nichts mehr miteinander zu tun. Wohl fühlten diese Gelehrten alles andere als einen Gegensatz zur zeitgenössischen idealistischen Dichtung; und doch konnte es nicht ausbleiben, daß die realistischen und methodischen Interessen der neuen Altertumswissenschaft auf die Länge ihre eigenen Wege gingen. Der ungeheure Aufschwung der klassischen Philologie als umfassender Wissenschaft von der Totalität des antiken Lebens ist mit der Gründung der Berliner Universität unmittelbar verbunden: Wolf und Boeckh waren ihre ersten Professoren. Humboldt selber ist als Person eine Gestalt des Übergangs, in der sich klassizistisches Ideal und methodische Forschung, Dilettant und Fachmann, Staatsmann und Gelehrter verbinden. Das wird es fortan nicht wieder geben. Um die weitere Entwicklung der klassischen Philologie nur im allergröbsten zu skizzieren: auf diese erste Etablierung der Philologie als umfassender Altertumswissenschaft folgte um die Jahrhundertmitte in Berlin eine Verengung auf§ Methodische: Studium der Grammatik, Herstellung richtiger Texte. Vorausgegangen in der Richtung der Textphilologie waren hier Immanuel Bekker und Karl Lachmann; jetzt aber, bei den Nachfolgenden, Moritz Haupt und Adolf Kirchhoff, trat die Interpretation der Texte, als etwas der strengen Methode sich Entziehendes, das inhaltliche Interesse an den Gegenständen und an der Gesamtheit des antiken Lebens zurück, und damit zugleich der ursprüngliche humanistische Impuls der Philologie. Den lebendigen Kontakt mit der Klassik und Romantik spürte man dagegen in der kultivierten Gestalt von Ernst Curtius; aber der war nicht Philologe, sondern Historiker. Der Berliner Graeca gehörten, außer Curtius, Droysen und Mommsen, der 12

Philosophiehistoriker Zeller und der Archäologe Schöne an; die Philologen hielten sich fern. Wie gesagt, Wilamowitz ging nicht nach Berlin, sondern nach Bonn. Bonn stand im Ruf einer universaleren Auffassung der Altertumsstudien. Der junge Wilamowitz fühlte sich von dem lauten rheinischen Wesen (das noch dazu katholisch war) nicht angezogen. Sie müssen sich ihn vorstellen mit kräftigem, niedersächsischem Schädel, das blonde Haar glatt gescheitelt, soldatisch-ernst, nicht liebenswürdig, Mund und Kinn energisch, beinah rücksichtslos. Die unbedingte Selbstsicherheit, im Jüngling fast etwas forciert, wird mehr und mehr sein Charakter: „Daß ich in kein Corps eintreten würde" (obwohl „eine andere Art von Studentenleben gar nicht denkbar schien") „stand mir fest." 3 Von den Professoren fesselt ihn keiner. Am ehesten noch Otto Jahn mit seinen geschichtlichen und sachlichen Erklärungen der Texte und Denkmäler. Der große romantische Gelehrte Friedrich Gottlieb Welcker, dessen griechische Götterlehre ihn entzündet, lebt noch dreiundachtzigjährig und stirbt im folgenden Jahr. Als auch Otto Jahn stirbt, wechselt er nach dem vierten Semester nach Berlin über, entschlossen, nur möglichst bald fertig zu werden. Seine Professoren bedeuten ihm auch hier wenig: „Kirchhoffs Art ertrug ich nicht . . . Curtius enttäuschte. Er hat in den Vorlesungen in demselben Tone die klassizistische Begeisterung vorgetragen wie in den Festreden. Sie war berechtigt, als er mit Otfried Müller in Griechenland war, sie war auch noch echt, aber schon darin sprach sich aus, daß er keine innere Fortentwicklung genommen hatte. Dafür konnte der gewinnende Reiz eines Mannes, der eine vergangene Zeit wundervoll repräsentierte, nicht entschädigen." — So also hatte der Klassizismus für ihn ausgespielt. — Bei Moritz Haupt, durch die Überzeugungskraft der methodischen Textbehandlung, wurde er zum gläubigen Lachmannianer — daß das mit seiner Verehrung für Welcker nicht zusammenging, kam ihm erst später zum Bewußtsein. Nach einem Studium von fünf Semestern war die Dissertation fertig. Die Ausnahme, schon im sechsten promoviert zu werden, wird gestattet, dann zieht er als Grenadier zu Fuß in den Krieg gegen Frankreich. 13

III In denselben Krieg zog aber auch ein anderer Portenser Schüler, der die Pforte zwei Jahre vorher verlassen hatte, auch ein klassischer Philologe, auch er mit der griechischen Tragödie beschäftigt, auch er unerhört früh fertig und nun bereits auf dem ordentlichen Lehrstuhl in Basel. „Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggingen" — so schreibt dieser in seinem späten /Versuch einer Selbstkritik' 4 — „saß der Grübler und Rätselfreund . . . irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verrätselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen n i e d e r . . . Einige Wochen darauf: und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz, immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur vorgeblichen ,Heiterkeit' der Griechen. . . gesetzt hatte; bis er endlich,. . . langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die ,Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' letztgültig bei sich feststellte." Nietzsches Buch erschien im Januar 1872. Er, zusammen mit seinem Studien- und Herzensfreunde Erwin Rohde, erwartet nichts anderes als die Entrüstung der Philologenschaft. Die Antwort ist jedoch zunächst ein tiefes Schweigen. Endlich, Ende Mai 72, erscheint ein eigens gedrucktes Pamphlet: ,Zukunftsphilologie! Eine Erwiderung auf Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie, von Ulrich von Wilamowitz-Möllgltdorff, dr. phil.' Der Ton dieser Broschüre übertrifft so ziemlich alles, was man an Polemik aus dem neunzehnten Jahrhundert kennt, und wäre in unseren milden akademischen Zeiten überhaupt undenkbar. Indem Wilamowitz ihm elementarste Unwissenheit und Mangel an Wahrheitsliebe vorwirft, hält er ihm die Regeln der historisch-kritischen Methode vor und beruft sich auf den Winckelmannschen Schönheitsbegriff, auf die „ewig heitre, harmonische Liebenswürdigkeit des Sophokles". Nietzsche darf wohl an Rohde schreiben: „Er hat mich schlecht gelesen, denn er versteht mich weder im ganzen noch im einzelnen. Er muß noch sehr unreif sein — offenbar hat man ihn benutzt, stimuliert, aufgehetzt — alles atmet Berlin." 5 14

Nietzsche hat nicht geantwortet, an seiner Stelle sprang der Freund in die Bresche: im Herbst erschien Rohdes „Afterphilologie — Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner'. Das Pamphlet ist in dem hochgestimmten, edlen Stile des jungen Nietzsche gehalten, im übrigen aber seines Titels würdig. Rohde weist Wilamowitz seine groben Mißverständnisse nach und verteidigt Nietzsche auf der kritisch-historischen Ebene mit mehr oder weniger Glück. Wilamowitz hat noch einmal mit einer zweiten Broschüre entgegnet, deren Korrekturbögen er aber bereits in Rom liest, wo neue Eindrücke und Aufgaben ihn fesseln. Damit war der Streit zu Ende; auch Nietzsche war über die Tragödie längst weit hinaus bei neuen Fragen — als schwer für sein Leben Angeschlagener blieb der feine und verletzlichere Rohde auf dem Kampfplatz zurück. Nur mit quälendem Gefühl kann man heute diesen Streit nachlesen, in dem zwei so heterogene Bemühungen aneinander gemessen wurden: keiner von uns kann sich heute mit gutem Gewissen auf eine der beiden Seiten schlagen. Es kam darin doch auch etwas von jenem Dilemma zutage, in dem sich die klassische Philologie als historische Wissenschaft befindet: von Nietzsche auf das quälendste empfunden, dem „der Gesamtcharakter der jetzigen klassischen Philologie als etwas durchaus Fragwürdiges" erscheint. Von solchem Dilemma spürt man allerdings in den damaligen Äußerungen von Wilamowitz nichts: in seinen Briefen aus Italien 6 ist ihm die Wissenschaft das einfache und unbefragte Medium, durch das er die Welt erfährt, „die Wissenschaft, die mein Leben füllt". Mit Vorliebe beschreibt er seinen Dienst in der Wissenschaft als einen Waffendienst, im Bewußtsein, „auf meinem Posten zu stehen so gut wie vor den Wällen von Paris". — Man bemerkt, wie das eigentümlich unkritische Pathos solcher Sätze, verbunden mit der kritischen Schärfe auf der anderen Seite, sich bei Wilamowitz genau umgekehrt verteilt wie bei Nietzsche. Beide, Nietzsche und Wilamowitz, haben sich später von ihren Jugendprodukten distanziert. Nietzsche nennt das seinige ein „unmögliches Buch", weder Dichtung noch Philologie 7 . . . Auf der anderen Seite Wilamowitz, rückblickend mit achtzig Jahren: „Nietzsches Vergewaltigung der historischen Tatsachen und aller philologischen Methode lag offen zutage und trieb mich 15

zum Kampfe für meine bedrohte Wissenschaft. Das war verzweifelt naiv . . . Ich war ein tumber Knabe, der sich seines anmaßlichen Auftretens garnicht bewußt war. Aber zur Reue habe ich keine Veranlassung, denn ich folgte meinem Dämon: ehrlich und mutig führte ich ,im Myrtenreise das Schwert', wie unser Bonner Vereinsspruch gefordert hatte . . . " 8 Wilamowitzens Freimut, frühere Irrtümer einzugestehen, gehört zu den bezwingenden Eigenschaften, die seine Größe ausmachen. Naiv aber, in einem höheren Sinne, als er es hier meint, mutet uns nicht nur die Berufimg auf den eigenen Dämon — im selben Atem mit der Berufung auf den Bonner Vereinsspruch — an; naiv, im reinen Wortsinn, ist das ungebrochene Verhältnis zur Wissenschaft. — Man vergleiche wiederum Nietzsche, der in seinem späteren Rückblick von der Aufgabe redet, an die sich „jenes verwegene Buch zum ersten Mal gewagt" habe: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens". Bald, in den Unzeitgemäßen Betrachtungen, wird er es formulieren: „Nur so weit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen." 9 Unter diesem Aspekt ist ihm nicht nur seine Wissenschaft fragwürdig geworden, sondern die zeitgenössische deutsche Kultur als eine „historische" Kultur überhaupt. Die romantischen Erneuerungshoffnungen, die er an das Wagnerische Musikdrama geknüpft hatte, wandelten sich ihm bald nach dem französischen Kriege und der deutschen Reichsgründung in dunkle Sorge: er teilt nicht den Optimismus der Gründerjahre, er befürchtet von ihm „die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,Deutschen Reiches' " I 0 . — Sehr anders Wilamowitz, den zeitlebens eine tiefe Ergebenheit gegen seinen Preußenkönig und Verehrung für Bismarck als den Reichsgründer erfüllt. Leben und Wissenschaft sind nun allerdings auch für Wilamowitz stark empfundene Mächte. Aber sie stehen zueinander in einem unproblematischen Verhältnis. Eines durchdringt das andere. In der Tat, die Wissenschaft füllt sein Leben. Seine Lebenserinnerungen sind Wissenschaftserinnerungen. Wenn er erlebt, ist ihm seine Wissenschaft gegenwärtig. Wenn er etwa erzählt, wie einem gestorbenen Freunde von der frommen 16

Tante ein Neues Testament in den Sarg gelegt wird, fügt er hinzu: So haben es die ägyptischen Christen auch getan; „wir verdanken dem die Reste des Petrusevangeliums". Aber ebenso umgekehrt: was er erkannte, wird ihm wirklich aus dem eigenen Leben. Penelopes Bericht in der Odyssee über den Abschied ihres Mannes weiß er aus eigenem soldatischem Empfinden zu interpretieren: „Wird ein Held, der in den Krieg zieht, davon reden, daß das etwas lebensgefährlich ist? Der sagt vielmehr ,wisch ab dein Gesicht, eine jede Kugel die trifft ja nicht'." 11 Ein anderes Beispiel aus dem Iliasbuch, wo er sich über die Philologen ärgert, die eine Schilderung vom Auszug in die Schlacht nicht verstehen wollen: „Eine bessere Vorbereitung für das Verständnis ist es, eine Parade auf dem Tempelhofer Felde mitgemacht zu haben. Da vollzieht sich alles ganz ähnlich, und die Gleichnisse werden lebendig . . . " Lebendig sollte ihm alles werden; unter diesem einen Tenor dürfte man sein ganzes wissenschaftliches Werk begreifen. Er hatte sich 1874 in Berlin habilitiert und anderthalb Jahre später das Ordinariat in Greifswald erhalten. Seine Universitätsfestrede, dort zum achtzigsten Geburtstag des Kaisers gehalten, handelt ,Von des attischen Reiches Herrlichkeit'. Der poetische Stil, in der das Thema formuliert ist, ist ebenso charakteristisch wie die bewußte Analogie zum ,Deutschen Reich': der ganze Wilamowitz steckt darin, mit seiner feurigen Energie und seinem Realismus. Es fällt nicht schwer, noch heute das aufregend Aktuelle dieses Vortrags zu empfinden, das er für die Zeitgenossen hatte: eine neue Stimme redete da von deutschen Kathedern, um die sich bald eine jüngere Generation sammelte. Die zu moralischen Typen erstarrten großen Gestalten der klassischen Überlieferung, Aristides, Perikles, Demosthenes, werden vom Tische gefegt, jetzt hört man von südrussischen Verpflegungsbasen, von kommerziellen Rücksichten, Infanterie, zweijähriger Dienstzeit und Entlassung der Reservisten, von Religionsgemeinschaften und Staatskontrolle über den Metallmarkt, von Staats- und Kirchenäckern, und von der Politik des Erreichbaren; und alles darin gipfelnd, daß, mit der Reichsgründung, Athen dem hellenischen Volke „seinen Glauben und seine Ehre wieder lebendig gemacht" h a t . . . n 17

IV Die Wirkung von Wilamowitz beruhte nun keineswegs nur auf diesem zeitgemäßen Zug seiner Wissenschaft und der radikalen Absage an den Klassizismus; bei ihm wurde, in einem ganz anderen Ausmaß, als je von der klassizistischen Philologie erträumt, die Gesamtheit des antiken Lebens zum Gegenstand der Wissenschaft. Dichtung, Religionsgeschichte, Staatsrecht, Philosophie, Inschriften, Topographie und Archäologie werden zu Elementen einer einzigen Wissenschaft, der Altertumskunde. Hier möchte einem doch der Mann einfallen, der es wie kein anderer vermocht hat, die historischen Einzelwissenschaften zu einer begründeten Gesamtanschauung vom Altertum, zu einer „Gesamtbilanz des griechischen Lebens" auszumünzen: der wenig ältere Zeitgenosse Jacob Burckhardt. Es ist bemerkenswert, daß Wilamowitz ihm nie begegnet ist. In seinen Erinnerungen fehlt sein Name. War nicht in Burckhardts Kulturgeschichte die Idee der Altertumskunde realisiert? Hatte nicht auch sie, als ein Produkt des neuen historischen Realismus, der klassizistischen Beschönigung den Krieg erklärt? Aber in Wirklichkeit sind sie wohl unvereinbar. Schon das traditionelle Material, das Burckhardt zu seiner Darstellung verwendete, mußte Wilamowitz dilettantisch erscheinen. In ihm meldete sich eine ganz neue Generation zu Wort, um aus dem Altertum das Aktuelle hervorzuziehen, ein Geist der sich in Übereinstimmung mit der erfolgreichen deutschen Gegenwart fühlte, der Zeitgenosse des Naturalismus. Burckhardt nimmt an den Veränderungen des Jahrhunderts zwar leidenschaftlich, aber als Leidender teil. Er gehört einer Welt zu, die mit der Reichsgründung endgültig untergeht, der „Bildung Alteuropas" 13 . Sein Bild des Griechentums färbt sich mit den pessimistischen Tönen der eigenen Lebenserfahrung, und ist doch von tieferer geschichtlicher Wahrheit. Auf wen von beiden der Name eines Humanisten eher zutrifft, kann nicht zweifelhaft sein. Auf die weitere Entwicklung der Altertumswissenschaft aber hat Burckhardt nicht entscheidend gewirkt. Die Wirkung von Wilamowitz hat sich allerdings auch erst allmählich durchgesetzt. Daß er in seinen frühen Mannes18

jahren erhebliche Widerstände zu überwinden hatte, lag gewiß zum Teil am Persönlichen: seinem ungewöhnlichen Selbstbewußtsein, seiner Geradheit und Unbekümmertheit um die Meinung der anderen und die Gunst der Herrschenden (bewiesen zum Beispiel gegen den dritten Kaiser — was freilich nicht aus liberaler Unabhängigkeit geschah, sondern gerade aus altpreußischem Pflichtgefühl). Aber mehr noch lagen die Schwierigkeiten daran, daß eine solche Wissenschaft weder bei den Klassizisten Curtiusscher Prägung noch bei den „Handwerkernaturen wie Kirchhoff" (ein Ausdruck Mommsens) auf Sympathie rechnen konnte. Tatsächlich war ja Wilamowitz auch ohne eigentlichen philologischen Lehrer groß geworden — worin sich die Selbständigkeit seines wissenschaftlichen Genies bekundet. Die einzige bildende Begegnung aber war die mit Mommsen. So stark wie die Abstoßung gegen Nietzsche, so war hier die Anziehung. Übrigens nicht sogleich: in den Berliner Studienjahren war er ihm noch fast entgangen. Aber auf der ersten Italienreise geschieht es; er schreibt: „Gegen Ende Februar 1873 erschien Mommsen; damit ging eine Sonne auf, um die alles kreisen mußte." 14 Und er unterstellt sich ihm wie ein Fähnrich seinem General. Das Verhältnis der beiden ist durch die Ehe mit Mommsens Tochter noch besiegelt worden. Ihr Briefwechsel ist dennoch das Zeugnis einer Gelehrtenfreundschaft. Das für Wilamowitz Faszinierende an Mommsen ist leicht zu benennen: es war die Ersetzung der überlieferten klassischen Geschichtsschreibung durch die Erforschung der Tatsachen aus den primären Quellen, vor allem den Inschriften. Wenn Mommsen sagt: „Es gilt doch vor allem, die Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen; sie in die reale Welt, wo gehaßt und geliebt, gesägt und gezimmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen" 15 — so könnte das beinah ebensowohl Wilamowitz gesagt haben. Auch umgekehrt werden die Vorzüge, bei verwandten Bestrebungen, gespürt: Kurz nach der Verlobung der Tochter, Mommsen an seine Frau: „. . . dieser Wilamowitz, der sich zu mir verhält wie die zweite verbesserte Auflage meiner Geschichte zu der ersten; der eine ganze Menge vorzüglicher Eigenschaften hat, die ich nicht besitze." u 19

Aber daneben gibt es tiefe Gegensätze. Am handgreiflichsten und bekanntesten sind sie im Politischen. Wilamowitz vermeidet dieses Thema, aber man kann sich vorstellen, was er über Mommsens hartnäckigen Kampf gegen Bismarck gedacht hat. Mommsen schreibt über ihn: „Mein sonst höchst vortrefflicher Schwiegersohn Prof. v. Wilamowitz gehört zwar nicht zu der agrarischen Gaunerbande, die jetzt auf Raub auszieht, aber ist keineswegs mit mir gleicher politischer Gesinnung." 17 Und freilich: die enttäuschten Hoffnungen, die der einstige Achtundvierziger-Demokrat einmal an die Zukunft eines geeinigten Deutschlands geknüpft hatte, konnte Wilamowitz in der Bismarckschen Reichsgründung kaum anders als aufs herrlichste erfüllt sehen. Aber auch der Wissenschaft gegenüber verdüstern sich für Mommsen die Aspekte. Er, der selber die unermeßliche Materialsammlung der lateinischen Inschriften in der Berliner Akademie begonnen und das meiste darin selber geleistet hat, spricht am Leibniztage der Akademie 1896: „Die Wissenschaft schreitet unaufhaltsam und gewaltig vorwärts; aber dem emporsteigenden Riesenbau gegenüber erscheint der einzelne Arbeiter immer kleiner und geringer. Wenn Leibnizens Akademie als Fortführerin seiner Arbeiten betrachtet werden darf, so können wir eines doch nicht verbergen und müssen uns damit abfinden, daß diese Fortführung, in ihrer Zersplitterung auf mehrere Klassen, und innerhalb dieser Klassen auf zahlreiche engere Kreise, ein Surrogat ist, unentbehrlich und wirksam, aber nicht unbedingt gesund und nicht unbedingt erfreulich. Unser Werk lobt keinen Meister, und keines Meisters Auge erfreut sich an ihm; denn es hat keinen Meister, und wir sind alle nur Gesellen . . . Wir klagen nicht und beklagen uns nicht; die Blume verblüht, die Frucht muß treiben. Aber die Besten von uns empfinden es, daß wir Fachmänner geworden sind." Das hätte nun allerdings Wilamowitz nicht sagen können. Mommsens Zeitbewußtsein ist im Grunde demjenigen Nietzsches näher. Wie anders klingt dagegen, was Wilamowitz zur Feier des Jahrhundertwechsels in der Berliner Universität spricht: „Das Wesentliche ist die Erstarkung der Wissenschaft selbst. Denn wenn eines den Glauben an den Bestand und den 20

Fortgang der Gesittung überhaupt rechtfertigen kann, so ist es dies" . . . Deshalb „muß dieser Rückblick auf den Erfolg des Jahrhunderts in dem Preise der Wissenschaft gipfeln". Und noch der Zweiundachtzigjährige in seinem Vorwort zum Glauben der Hellenen schreibt einfach und zuversichtlich: „Der Fortschritt in unserem Wissen geschieht durch die analytische Kritik der Überlieferung, die zur Feststellung einer Wahrheit führt. Die Vermehrung des Materials ändert das Ergebnis, nicht die Methode. Die Synthese nimmt die gewonnenen Einzelergebnisse zusammen und gelangt so zu einem Vollbilde. Aber sie reizt zu neuer Forschung, und je stärker sie es tut, um so eher genügt sie nicht mehr. Eine neue wird nötig, und so geht es weiter, solange Leben in der Wissenschaft ist." Als ob es das Mommsensche Problem nicht gäbe. Es gibt es nicht für ihn, dem es gelungen ist, kraft ungewöhnlicher Aufnahmefähigkeit und eines lang aushaltenden Lebens den sich mehrenden Stoff noch einmal in seiner Person zusammenzufassen. Ihn ängstigt nicht die Unendlichkeit der Aufgabe, sondern erhebt ihn: „Wenn der Philologe von seiner kleinlichen Werkeltagsarbeit das Auge aufschlägt zu der Majestät der Wissenschaft, dann wird ihm zumute wie in der heiligen Stille sternheller Nacht. Demütig muß er sich sagen: ,Du armselig Menschenkind, was bist du? Was kannst du?' Aber wenn tönend dann der junge Tag geboren wird, ruft der ihm zu: ,Steh auf, du Menschenkind, steh auf und wirke, was dein Tag von dir verlangt, wozu Gott in deine Seele die lebendige Schaffenskraft gelegt hat: erwirb dir durch Arbeit einen Anteil am Ewigen und Unendlichen.'" I8 Dieses Bekenntnis, das sein Pathos aus den verschiedensten Elementen: aus Christlichem, Goethischem, Kantischem und Preußischem bezieht, erhebt sich zu einem geradezu religiösen Gefühl; nur gilt das Gefühl jetzt der „Majestät der Wissenschaft". Wilamowitzens sonst so saloppe Sprache wird nirgends poetischer, als wo sie von diesem Wissenschaftsethos getragen ist. Aber das Eigenartige an dem Wilamowitzschen Wissenschaftsethos ist, daß sich die Erhabenheit jenes Gefühls auch wieder auf den Gegenstand der Wissenschaft überträgt, eines ins andre übergeht. Was sollen wir dazu sagen, wenn 21

er zum Beispiel nach der Frage, ob der Odysseusmythos vielleicht einmal ein Göttermythos gewesen sei, fortfährt: „Das führt uns weiter und weiter, weg von Ithaka und den Abenteuern des Meeres, von dem Irdischen und Heroischen weg, hinauf, hinauf zu den Göttern. Aber ich wage die Wolkenfahrt nicht, der Held entschwindet meinen Blicken, den Gott kann ich nur ahnen . . ." 1 9 Es dürfte klar sein, daß das Numinose, das sich hier scheinbar an die Erfahrung des Göttlichen knüpft, in Wahrheit im Bereich der analytischen Philologie erfahren wird. Denn der fromme Schauder, mit dem hier das Unerforschliche verehrt wird, ist ja tatsächlich nichts andres als die dem Gelehrten gebotene Zurückhaltung vor einer unbeweisbaren Hypothese. So sehen wir in ihm gleichsam zwei Seelen — nicht so sehr miteinander streiten, als vielmehr die eine die andere tragend: die eine will nichts als erkennen, erkennen wie das antike Leben wirklich war, selbst um den Preis der Desillusion; die andere will erhoben sein. Das Vermittelnde ist das Ethos, mit dem er etwa auf seine Homeranalyse zurückblicken kann: „Menschliches Verständnis bleibt am Ende Stückwerk, und Menschenwerk, also Stückwerk bleibt auch das Verstandene. Aber am Ende ist das Verstehen mehr wert als der Wunderglaube, weil" — und nun erwarten Sie, mit welchem Weil er das begründen wird —: „weil es Arbeit kostet!" 2 0 An einer anderen, ähnlichen Stelle heißt die Begründung etwas anders: „Denn den Wahn machen sich die Menschen, die Wahrheit aber ist Gottes." 2 1 Und beide Begründungen sind für ihn identisch: die eine biblisch ausgedrückt, die andere preußisch. Das sind nun für ihn keine Phrasen, er hat damit gelebt. Als er 1897 von Göttingen dem Ruf nach Berlin folgt, macht er sich „keine Illusionen darüber, daß die glücklichste Zeit seines Lebens vorüber war. Aber der Mensch ist ja nicht dazu da, glücklich zu sein, sondern der Pflicht zu gehorchen." 22 Werfen wir wieder einen vergleichenden Blick voraus auf seinen Schüler Reinhardt, der im vollen nach-mommsenschen Zeitbewußtsein einmal sagen wird: „Das Leben, auch in der Wissenschaft, ist nicht darum dem Menschen gegeben, damit er es möglichst darin aushalte" . . . 2 3 22

V Gleichwohl wird die Berliner Zeit die Erfüllung seiner Lebensaufgabe. Gegen die passive Renitenz der Senioren Kirchhoff und Vahlen ist von ihm das alte klassische Seminar umgewandelt worden in ein Institut für Altertumskunde, das heißt eine Lern- und Forschungsstätte, in der die Philologie mit der Alten Geschichte und der Archäologie an einem Orte vereinigt ist und in dieser Vereinigung als Wissenschaft vom ganzen Altertum arbeiten kann. — Daß wir diese bedeutende, nicht nur organisatorische, Errungenschaft durch Wilamowitz in Berlin noch nicht wieder hergestellt haben, ist ein sehr schmerzlicher Mangel unserer jungen Universität. Bald hat Wilamowitz Diels, dann Norden nachgezogen, und damit begann die große Zeit des Instituts. Damals ist das Seminar in zwei Stufen gegliedert worden, über denen eine dritte als Doktorandenseminar eingerichtet wurde: was erst eigentliche wissenschaftliche Arbeit möglich machte. Die Organisation ist bald von den anderen deutschen Seminaren, bald auch von den anderen Philologien übernommen worden. Dekan ist Wilamowitz nie gewesen, er wollte, wie er sagte, nicht ein Jahr diesen Geschäften opfern. Im Kriege einmal war er Rektor, pflichtgemäß; als solcher hat er die junge Selbstverwaltung der Studenten sehr begünstigt. Auch den Magistergrad hat er bereits empfohlen. Aufs dringlichste hat er vor der Überfüllung der Universitäten und der planlosen Vermehrung der Professoren gewarnt: „Heißt es zu schwarz sehen, wenn uns die Furcht ankommt, die Universitäten könnten auf einen ähnlichen Zustand herabsinken wie vor 1810? Erzeugt unser Volk wirklich so viele Talente? Es ist ein abschüssiger Weg . . . Wenn die Qualität sinkt, wohin soll es führen? Gebe Gott, daß ich ein Schwarzseher bin." 24 Auch zur Schulreform hat er sich mehrmals geäußert, nachdem auf der ersten Schulkonferenz von 1890 „mit dem Kampf gegen die Grammatik der Abbau der ernsten Bildung eingeleitet" war; noch heute lesenswert, nach der „langen Reihe blamabler Schulexperimente, mit denen man das deutsche Gymnasium so planvoll unterhöhlt hat" (das letzte ein Satz von 23

E. R. Curtius) 25. Auf der anderen Seite hat er höchst bemerkenswerte Vorschläge für eine Reform der Lehr- und Lesepläne der Gymnasien gemacht — aber ohne damit durchzudringen. Zum Wichtigsten seiner Berliner Wirksamkeit gehören aber die anfangs erwähnten öffentlichen Vorlesungen. Seine ganze Philologie war ja Interpretation, das heißt aber für ihn zugleich: Vermittlung an die Nichtfachleute. „Die Philologie für die Philologen; das Hellenentum, das, was daran unsterblich ist, für jedermann, der kommen, sehen, erfassen will." 26 Als Interpret für die Nichtphilologen wurde er zum Übersetzer. Auch das sieht er als eine Pflicht an, ja als nationale Pflicht: „um dem sittlichen und geistigen Verfalle zu steuern, dem unser Volk immer rascher entgegengeht. Wir Philologen müssen das unsere tun als Deutsche." Aber was ist Übersetzen? Mit der ganzen klassizistischen Nachahmerei wird radikal aufgeräumt. Statt dessen zwei Prinzipien, erstens: „Meine Übersetzung will mindestens so verständlich sein wie den Athenern das Original war, womöglich noch leichter verständlich." 27 Zweites Prinzip: Da das Original in geprägtem Stil vorliegt, heißt übersetzen: wiederum in einen geprägten Stil übersetzen, also in Sprache und Stil unserer eigenen Literatur. Daran ist nun viel Richtiges. Man begreift zum Beispiel, wenn er Aischylos in Trimetern, Euripides in Blankversen übersetzt; auch wohl, wenn er sich von den traditionellen Chorliedern „im Versmaß der Urschrift" lossagt. Aber es gibt doch Merkwürdiges 28 : Schaut, ihr gewaltigen Flüche der Sterbenden herrschend im Geisterreich . . . oder: Erbteil des Fluches,

Schmerzen, wer trüge sie?

häßlicher Sünde

Qualen, wer stillte sie?

blutige Wunde.

Wehe, weh! 24

(Vgl. Faust, letzte Szene: Waldung, sie schwankt heran, Felsen, sie lasten dran, Wurzeln, sie klammern an . . .) Mehr poetische Scheidemünze ist solches: Das beherzge für und für . . . Die Hoffart treibt ihr grausam Spiel Mit fremdem Leide fort und fort . . . Früh oder spat kommt ihr der Tag . . . Aber dann wieder: Doch wo ein Haus von Golde gleißt Und Sündenschuld die Hände sdiwärzt, Da hebt sie sich abegewendeten Blicks . . . (Vgl. Pandora: Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, Fliehe mit abgewendetem Blick.) Von Sündenschmutz, Sündenrausch, Höllengast und dergleichen noch öfter; einmal: „Die Hölle lacht des Menschentrotzes." Aus einer Barockpassion scheint zu stammen: Laßt rinnen die Zähren, zerrinnen im Staub. Staub ward der Herr,

ihm rinne die Zähre, sein Grab ist uns Zuflucht in Freud und Leid.

Und immer wieder Faust: Weh, ihr habt es zertreten, mein altes Recht. (Vgl. Weh, weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt.) Wohl haben wir heute ein Ohr für die ironische und gleichsam zitierende Benutzung historischer Stile. Aber Wilamowitz' Stilverwendung ist ohne Ironie. Wenn er „Befiehl du deine Wege" in Hexameter übersetzt 29 , so geschieht das nicht nur aus Spielerei, es geschieht auch in dem Glauben, daß die Essenz des einen mit der Sprache des anderen übereintrifft. Das kann ganz erfrischend sein: Hurrah, hurrah! — oder: Hallo, du Dieb! Aber es kann auch banal werden: Das kann ich nicht glauben, ich bleibe dabei: . . . oder: Unmöglich, doch verzeih, ich hörte wohl nicht recht. 25

Wie aus einem Prozeßplädoyer hört sich an: Wer des Rechtes Schranken bricht, Die Ordnung unterwühlend . . . Begriffe wie „Rechtsbelehrung" und „Urteilsfindung" müssen sich dem tragischen Vers fügen. Schließlich: Gut bekommt Mäßigung auch aus Angst. Wer von nichts mehr in der Brust sich das Herz erschüttern läßt, der verlernt bald auch Ehrfurcht vor dem Recht, Einzelmensch und Staat. (Sie würden sicher gern wissen, wie das letzte auf griechisch heißt!) Es gibt Partien, da schreiten wir, mit den beiden Prinzipien Geprägter Stil und Verständlichkeit, durch wechselnde Travestierungen von Faust II über Edda und Paul Gerhard zur wilhelminischen Amtssprache und zum schnoddrigen Jargon: Wir machen ihn kalt — (singen die Erinyen) oder: Mach ich ihn zur Leiche — das letzte übrigens wörtlich äschyleisch. — Und doch fragt man sich hier: stimmt das noch? Es stimmt nicht insofern, als die äschyleische Sprache eine ursprünglich dichterische Sprache ist, die Übersetzung dagegen eine geborgte Sprache. Auch die Wilamowitzschen Übersetzungen, wie sein wissenschaftliches Werk, sind Protest gegen den Klassizismus. Aber das Zeitbedingte, Spätbürgerliche an ihnen ist deutlich: ihre Mischung aus hergebrachtem Bildungsgut und Naturalismus. In Wilamowitz nahm die Philologie teil an dem allgemeinen Abbau des Idealismus in der Zeit des preußischen Kaiserreichs. Sie nahm zugleich teil an der Unreinheit, mit der das Bürgertum diesen Abbau vollzog: indem es die unglaubwürdig gewordenen Ideale des Klassizismus in einen neuen Ideenhimmel des Nationalstaats und des gesellschaftlichen Fortschritts hinübertrug. Gegen die Stillosigkeit solcher Modernität empörte sich das neue Stilgefühl, das in der Dichtung um die Jahrhundertwende auch aus der Begegnung mit der Antike sich nährte 26

und besonders im Kreise um Stefan George einen neuen Sinn für ästhetische Strenge und Würde entwickelte. ,Hellas und Wilamowitz' hieß eine Streitschrift, die damals Staub aufwirbelte und Wilamowitzens Interpretation des Altertums Banalität und Spießbürgerei vorwarf 30 . Friedrich Gundolf nannte im Kreise das Wilamowitzsche Piatonbuch einen „Piaton für Dienstmädchen", und Rudolf Borchardt schrieb verächtlich von der „Instinktlosigkeit dieses großen Technikers": „Man versteht, was man liebt und was man haßt; was man gönnert, hat man nie verstanden." Aber auch die schärferen Geister auf der modernen Seite konnte Wilamowitz nicht überzeugen: Theodor Haecker, Zeitkritiker von Nietzschischer Klarsicht, schüttelte den Kopf über den „Feldwebel als Apollon", der in einer seiner Kriegsreden verkündet hatte, dieser Krieg werde der letzte sein: „Wie soll ich einen Mann verstehn, der sich der Sprache nicht unterwirft und nicht meint was sie sagt, oder sie sagen läßt was er nicht wissen kann? Ein Mann kann die Wahrheit sagen, und er kann auch lügen, gewiß, aber er darf doch nicht faseln!" 31 VI Dies alles muß man mitbedenken, um schließlich die Begegnung Karl Reinhardts mit Wilamowitz richtig einzuschätzen. Mit Nietzsche von frühauf vertraut, von einem ähnlichen Antrieb zum klassischen Altertum geführt, gezeichnet aber auch mit denselben Fragezeichen, die Nietzsche zur klassischen Philologie und zum Historismus gesetzt hatte, an den geistigen Bewegungen um George und Hofmannsthal aus dichterischer Affinität teilnehmend, nach kurzem philologischem Studium in Bonn an seiner Wissenschaft verzweifelnd: kommt er 1907 nach Berlin und hört Wilamowitz. „Bei dem ersten Kolleg gingen mir die Augen auf. Die Bonner Opposition, Rohdes Kritik, sein Wort vom ,näselnden Predigerton', die Angriffe der Georgianer dienten nur als Widerstand, durch den die Anziehung an Kraft gewann." 3 2 Nichts kann von der Macht und — was man zunächst nicht denken würde — dem Charme seiner Person mehr überzeugen als diese Unbedingtheit, mit der sich Reinhardt, bei solchen Voraussetzungen, Wilamowitz als seinem Meister ergab. Was weder Nietzsche und seine 27

Freunde, noch die Georgianer, noch die Kritiker des endenden Kaiserreichs wahrnehmen konnten, darüber kann doch ein einziger Blick zum Beispiel in seine Geschichte der Philologie belehren: daß hier ein wahrhaft souveräner Mann mit einer Welt von Vergangenheit und Gegenwart umging wie kaum ein zweiter und mit einer ganz seltenen Unabhängigkeit des Urteils. Allem was er schreibt, ist das Gepräge seiner Person aufgedrückt, und noch wo er beschränkt scheint, ist er groß. Allerdings hat Reinhardt auch sein Fragwürdiges erfahren. 1908 ist die Feier seines 60. Geburtstages: „Er dankte acht Tage später mit einem Gedicht, das er ergriffen vom Katheder vortrug und gedruckt verteilen ließ" — (Wilamowitz hat die Schlußstrophe als Abschluß einer seiner berühmten Universitätsreden 1916 wiederholt, die lautet:) Wohl schlägt uns das Leben in seinen Bann, Wir fronden und schwitzen und schmoren, Und manchmal mögen das himmlische Licht D e Dünste des Tages umfloren. Doch der Adel der Arbeit um Gottes Lohn Bleibt immer uns unverloren: Drum bleiben wir frei und bleiben uns treu, Studenten und Professoren. Reinhardt fragt sich: „Was war das? Ein freundlicher Scherz? Dazu klang es aus seinem Munde zu ernst. Ironisierte er uns? Nein. Sollte das ein Gedicht sein? Um ,Studenten und Professoren' auf alles Erbauliche zu reimen, bedurfte es dazu eines Wilamowitz?" Es war nicht nur ein Mangel an Gesdimack, der solche Kommersbuchreimerei suspekt erscheinen ließ, nicht nur das fadenscheinige Arbeitsethos, dessen neuer Idealismus doch so viel weniger glaubwürdig war als der alte; es war auch ein Mangel an Unterscheidungsvermögen. Und zwar nicht nur in jenem Punkt, wo die Georgianer empfindlich waren, in der Vermischung des Ehrwürdigen mit dem Banalen; das ließe sich verschmerzen. Bedenklicher war — so vermessen das klingen mag — ein Mangel an geschichtlichem Sinn. Wenn Hektor ihm der Mann ist „mit Ehre im Leib", wenn der Titanensturz 28

ihm den historischen Vorgang der Überwindimg vorgriechischer Götter durch die einwandernden Griechen zu repräsentieren scheint, so wird dort nicht nur das Poetische, hier nicht nur das Religiöse verfehlt: sondern in beiden Fällen das wirklich Geschichtliche. Indem Wilamowitz das Geschichtliche in seinen wirklichen Bedingungen zu erkennen sucht, das Wirkliche aber sich nach seinen eigenen Erfahrungen, und das heißt, nach dem ihm Zugänglichen bemißt, wird er sich des Zeitbedingten und zuweilen absurd Persönlichen seiner Historisierung nicht bewußt. Wie dem auch sei, Reinhardt der Nietzsche-Adept ist von dem Zauber des großen Nietzsche-Antipoden nicht mehr losgekommen. Seine Philologie ist Auseinandersetzung mit Wilamowitz. Keiner der Schüler hat ihn so angegriffen, wenige so geliebt. Für ihn ist er „die letzte große Gestalt des endenden Historismus" — zu dessen Überwindung aus dem Nietzschischen Impuls und Aufhebung in einer höheren Einheit er selber am meisten beigetragen hat. Verpflichtet ist er ihm nicht nur durch die Fülle des Gelernten, er verdankt ihm ein großes Beispiel von Philologie. Denn als philologischer Leser war Wilamowitz völlig unmittelbar, nie im Schlendrian befangen, fühlte sich immer direkt vor den Text gestellt: daher seine Entdekkungen! Es ist dies eine seltene Eigenschaft unter Gelehrten, und schon die Hälfte des Genies. Es ist Wilamowitz nicht erspart geblieben, den Untergang seiner Welt noch zu erleben. Den Tod seines Sohnes, der auch Philologe war, des klugen und feinen Mommsenenkels Tycho, am Anfang des Krieges hat er mit wahrhaft römischer Haltung getragen; der Zusammenbruch des Reiches 1918 hat ihm fast den Tod gebracht. Im Nachwort seines Piatonbuches heißt es: „Ich habe die Selbstzerstörung meines Volkes erleben müssen. In der Ochlokratie . . . ist für einen alten Mann, der sich seine Preußenehre von keinem Gott und keinem Menschen aus dem Herzen reißen läßt, kein Platz mehr. Er hat nur abzusterben. — Aber das Reich der ewigen Formen, das Piaton erschlossen hat, ist unzerstörbar, und ihm dienen wir mit unserer Wissenschaft: in seinen reinen Äther dringen die Miasmen der Verwesung nicht. Auch Haß und Neid soll 29

e^co &etou x°P°ü bleiben. Unter dem Zeichen Piatons werde ich fechten, solange ich atme." Er hat aus diesem Vortod mit Selbstüberwindung und Pflichterfüllung sich wieder aufgerafft zu weiteren dreizehn Lebensjahren, in denen noch bedeutendste Werke entstanden. Vor dem Anblick der zweiten und eigentUchen Selbstzerstörung seines Volkes, in der so manche seiner Ideale ins Teuflische verzeichnet wieder propagiert wurden, hat ihn der Tod bewahrt. Seine Asche ist, seinem Wunsche gemäß, in seine — schon damals nicht mehr deutsche — kujawische Heimat überbracht worden. Sein Geburtshaus in Markowitz wurde im letzten Kriege zerstört, der Familienfriedhof aber ist unversehrt, und über sein Grab hat die Universität Warschau die Schirmherrschaft übernommen. Wir haben Abstand genug, um durch all das Bedingte Wilamowitzens Größe wieder wahrzunehmen. Einstmals so allzu zeitgemäß, ragt er doch zuletzt in unsere Jahrzehnte als ein großer Unzeitgemäßer, mit seiner Kargheit und Bedürfnislosigkeit, seinem Feuer und seinem unbestechlichen Wahrheitssinn, mit seinem Charme und seinem Adel. Und das Widersprüchliche in seiner Gestalt lehrt uns und fordert, die Tugend in uns zu üben, die die höchste des Gelehrten wie des Menschen überhaupt ist, Gerechtigkeit.

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KARL R E I N H A R D T I Als Karl Reinhardt einmal am Grab eines befreundeten Mannes sprach und mit wenigen Sätzen das lebendige Bild seiner Person hervorgerufen hatte, endete er — und legte die ganze Sympathie eines langen Umgangs in den einen Satz: „Er war so reizend." Von dem verdienten Manne wären ganz andre Ehren zu rühmen gewesen; etwas Menschlicheres konnte kaum gesagt werden. Wer Reinhardt gekannt hat, würde überdies aus dem einen Wort die ganze Person wiedererkennen, so frei und heiter, so unpathetisch, unprätentiös, so souverän-milde war er, so bescheiden und so reich. Über ihn reden ist schwer; man müßte den Charme seiner Gegenwart wiedergeben, die Einheit von Geist und Geste reproduzieren können, man müßte, wo die Nuance, das Hintergründige der Aussage in einer Handbewegung, im Zögern der Rede oder im entschlossenen Abbrechen für den verständigen Zuhörer unmißverständlich offenbar wurde, selbst noch sein Verschweigen zu Wort bringen. Sein Geist war Person, seine Wirkung war Leben. Bei dem Versuch, ihn zu beschreiben, wird man gewahr, daß keine entschiedene Aussage auf ihn zutrifft, man ist immer versucht, sie sogleich durch ihren Gegensatz zu ergänzen. Er war ein großer Mann, von schwerer, rechtwinkliger Gestalt. Die Hand, die man ihm reichte, versank in seiner großen, weichen Tatze. Die leichte Verkürzung des einen Beines, die ihm von einem Unfall der Kinderzeit geblieben war, wurde ausgeglichen durch eine schwere Sohle, was seiner hohen Gestalt die leicht gebückte Haltung und seinem Gang etwas Hephästisches gab. Dieser mächtige Mann saß, beim Schreiben oder im Gespräch, gern auf einem schmalen Biedermeierstühlchen, und auch als Schreibtisch genügte ihm, anders als manchem Gelehrten, ein Barocktischchen kleinsten Ausmaßes. Überhaupt hatte er eine Vorliebe für die Diminutive: die behut31

sam-umgängliche Sprache . . ., die winzigen, aber mannigfaltigen Portiönchen des Frühstücks, das ihm gewöhnlich die Mittagsmahlzeit ersetzte, und das er gelegentlich, in lieber Gesellschaft, lang ausdehnte. Bei Reinhardts zu Gast sein, war einfach ein Glück. Das Glück des Produktiven ging von ihm aus. Er erzählte und ließ sich erzählen, und die Fülle seiner Welterfahrung war gegenwärtig, die ihm gern ins Anekdotische und Bedeutende geriet. Nicht leicht findet man — vielleicht bei Hofmannsthal — einen vergleichbaren Sinn für das Geistige im Komischen. Dann konnte er hingerissen und hinreißend lachen, daß ihm die Tränen über seine hängenden Backen liefen. Und noch sein Lachen hatte Gründe, von denen man nicht wußte, ob man sie ermaß: Geschmack und Urteil schienen hier nicht nur über feinere Nuancen, sondern über einige Dimensionen mehr zu verfügen. Bei allem war er nichts weniger als ein Causeur, und seine Rede rang sich manchmal fast mühsam aus nachdenklichem Schweigen hervor. Er schien immer Zeit zu haben. Aber plötzlich konnte er aufstehn und sich mit knapper Verabschiedung in sein Zimmer zurückziehn. Und überm Arbeiten vergaß er Zeit und Umwelt. Für seine Arbeitsweise ist es bezeichnend, daß er sich beim Lesen eines Dichters nicht mit gelehrter Literatur umgab, wiewohl er die Fülle derselben kannte; er liebte es vielmehr, sich in seinen Sessel zu setzen, nichts in der Hand als seinen Autor, den er wieder und wieder las. Sein Arbeiten war nicht gelehrte Auseinandersetzung, sondern Lesen und Gewahrwerden. Es war, trotz seiner Intensität, nicht nach dem Stundenplan geregelt. Das Gesellige aber gehörte dazu wie das Einzum Ausatmen. Konnte er Zeit vertun? In den Nächten arbeitete er bis in die Morgenstunden, noch zuletzt in der schweren Krankheit. Wohl nur die nächste Gefährtin seines Lebens wußte, wie kurz er seine Zeit bemessen sah, gemessen an dem, was er zu sagen hatte; daß ihn manchmal Angst ankam, er könnte nicht fertig werden . . . Die Welt, die Wirklichkeit übte auf ihn einen unwiderstehlichen Reiz aus, ihm war nicht die blinde Beschränktheit gegeben, die sonst den Gelehrten auszeichnet. Soll man es beklagen, im Gedanken an die ungeschriebenen Bücher? Ohne seine Weltverliebtheit wäre Rein32

hardt nicht gewesen der er war, trüge seine Wissenschaft nicht das Stigma des Lebens. II In der Jugend mochte man ihn für träumerisch gehalten haben; aber er nahm aufs genaueste wahr. Gern hielt er sich im Hintergrund und beobachtete. Er war ein Augenmensch. Die letzte Stunde des Tags, vor der späten Nachtruhe, pflegte er nicht mehr zu lesen, sondern Bilder anzuschaun. In der Malerei war er ein Connaisseur. An den Wänden der Reinhardtschen Wohnung, deren Einrichtung das heitere und geistige Gepräge des frühen vorigen Jahrhunderts trug, zwischen den Regalen, in denen man die Weltliteratur beisammen fand, hingen Gemälde, vorwiegend der niederländischen Schule, deren jedes eine Reinhardtsche Geschichte hatte. Auf Auktionen kannte er sich aus . . . Einmal wurden ein paar Freunde eingeladen. Man wurde, überraschenderweise, im Zimmer auf Stuhlreihen placiert. Reinhardt trat vornhin und erzählte eine Geschichte: wie er in seiner Bonner Studienzeit an einer großen Einladung des Archäologen Kekule teilnahm, bei der sie wie im Theater Platz genommen hatten. Vorn stand eine verhüllte Statue. Kekule erzählte die Geschichte seiner neuesten Entdeckung, einer bislang nur aus Münzdarstellungen bekannten Venus. Die Statue wurde enthüllt, man staunte. Leider enthüllte sie sich bald darauf noch einmal, als Fälschung. Der große Gelehrte war einer Täuschung zum Opfer gefallen. Auf der Folie dieser Geschichte fing Reinhardt seine Geschichte an. Auf einer Frankfurter Auktion war ihm ein Bild aufgefallen, ein lebensgroßer geneigter Frauenkopf im Halbprofil. Die rohe Übermalung hatte so viel übriggelassen, daß es ihm Tizianische Schule zu verraten schien. Reinhardt steigerte, er gewann. Nun begann er in seinen Kunstgeschichten zu blättern. In Madrid hatte im 16. Jahrhundert eine Kirche gestanden, für die Tizian das große Altarbild geschaffen hatte, eine Annunziazione, rechts die Jungfrau, links der Engel der Verkündigung, über welchem schwebend ein zweiter, die Menge der himmlischen Heerscharen anführend, sein lockiges Haupt zur Gebenedeiten neigt. Im 33

18. Jahrhundert war die Kirche abgebrannt. Eine handwerkliche Zeichnung der Zeit gibt uns einen Schimmer des großen Werks. Reinhardt studiert die winzige Reproduktion davon im Buch: der Engelskopf hat denselben Umriß. Aber wo sind die Flügel? die Locken, die Wölkchen? Er versucht sich als Restaurator, eine Schulter kommt zum Vorschein . . . Aber nun öffnete er — ein zweiter Kekule — die Tür: auf einem Stuhl stand der Engel der Annunziazione, im herrlichen Pastoso der Locken, den starken Arm und Flügel hochgereckt, mit dem andern hinuntergreifend, und unter ihm das Gewölk des Himmels. Es war der herausgeschnittene Kopf des verbrannten Madrider Altarbildes. — Oder hatte auch er sich geirrt? Der Jüngere, der zu ihm kam, um sich Rat oder Aufgaben zu holen, durfte nicht unbedingt auf seine Bereitwilligkeit rechnen. Dann konnte es langes Schweigen geben, kaum zu sagen, für wen von beiden qualvoller: seine hellen, denkenden Augen unter den struppigen Brauen irrten unruhig hin und her, als ob er entrinnen wollte. Aber kaum sprach man nur ein Wort, so sprach er selber, als hätte ihm das die Zunge gelöst; und zwar völlig versammelt auf die Sache des Anderen. Er war ein Schwieriger, ein Zögernder. Er war wie Proteus unter den Robben: am meisten Glück konnten bei ihm die Naiven haben, die sich wißbegierig auf ihn stürzten, vielleicht Frauen und Mädchen: da gab er wohl überraschend sein Wissen preis. Hatte er eine Neigung, sich zu entziehen? Einen Schüler zu gewinnen, war ihm nicht erstrebenswert, er gehörte nicht zu denen, die Schule machen. Es gibt repräsentative Gelehrte, erfolgreiche Institutsleiter, Studentenväter . . . — niemand war bereiter als Reinhardt, statt seiner einen anderen zu empfehlen. Seine Wirkung war exklusiv, und es gab, selbst in seinen späteren Jahren, selten einen Studenten, der um seinetwillen nach Frankfurt ging: so wie man nach Berlin gegangen war, um Wilamowitz, oder nach München, um Eduard Schwartz noch einmal zu hören! So unvermeidlich es war, daß er auffiel: aber er haßte es, aufzufallen, er liebte es gar nicht, von sich reden zu machen, von seinem Ansehen Gebrauch zu machen . . . Plötzlich aber wurde er dann ganz unbedingt: wo es um Sittliches ging. Für vier tapfere Studenten, die 1933 von der Frankfurter Universität relegiert werden 34

sollten, hat er Amt und Existenz eingesetzt, ohne jedes Zögern, ohne die sonst ihm eigene Schonung der Mitmenschen. In seiner Rede vor der Fakultät muß er fürchterlich gewesen sein. III Im Nachruf auf Gilbert Murray 1 zitiert Reinhardt aus dessen Essay »Griechenland und England' die Geschichte, wie einmal „ein liebenswürdiger, unglaublich gelehrter Österreicher", der in Oxford ein paar Vorträge gehalten hatte, auch als Gast in den Undergraduate Classical Club geladen wurde. „Ein Student las ein paper über die Dichter der griechischen Anthologie. Daran schloß sich die lebhafteste Diskussion. Unser gelehrter Gast war paff. Hinterher sagte er, er glaube nicht, daß eine solche Szene an einer anderen Universität Europas möglich sei. Our boys were all philokaloi, they cared for beauty. For a German professional scholar they all were ,Amateurs', ,unmethodisch', almost unwissenschaftlich' —" — die Worte scheint man im Englischen nur auf Deutsch in der richtigen Nuance sagen zu können — und Murray schließt: „So they are, as we seem to like them — (,So haben wir sie gern!')" Einem jungen Deutschen, der sich anschickt, klassische Philologie zu studieren, wird es nicht leicht gemacht. Er hat auf der Universität zu lernen, daß der Zugang, den er sich zum Gegenstand seines Studiums denkt, dilettantisch ist; daß es mit dem Lieben nicht getan ist, ja daß es darauf nicht einmal ankommt. Es geht ihm ähnlich wie dem Rekruten auf dem Exerzierplatz, der zu lernen hat, daß er bisher weder richtig gehen noch stehen konnte. So muß der Proseminarist von neuem zu lesen lernen. Er muß ,Methode' lernen. Ich gestehe, ich verstand nicht, was Methode war. Die Prozeduren, denen wir den Text unterwarfen, erschienen mir, wie man ein Mineral unter die Wirkung verschiedener Säuren und Laugen bringt. Die Texte hörten mir auf zu reden. Daß hinter den Prozeduren Ernsthafteres steckte, entging mir. Da geriet ich an Walter Ottos Buch über die Götter Griechenlands. Bald an den ,Dionysos'. Das war es, was ich suchte: der Geist Nietzsches schien mir daraus zu reden, der provozierende Anspruch des ,Unzeitgemäßen' an die Gegenwart! So war 35

also doch, trotz Wilamowitz, auf dem Wege der Wissenschaft jene Offenbarung zu erschließen! Ich beschloß, nach Frankfurt zu gehen. In Frankfurt sollte auch Reinhardt sein. Ich erkundigte mich. Man riet mir vorsichtig ab. Bei Reinhardt lerne man keine Methode . . . In Frankfurt war alles neu. War es der Frühling, die Freundschaften . . .? Wir saßen in Ottos Kolleg über die Tragödie, im Hörsaal R, da stand der Verehrungswürdige, im schwarzen Haar, die großen staunenden Augen eindringlich auf uns gerichtet, appellierend, ein Bild des Griechentums beschwörend, das er gelegentlich aggressiv gegen Moderne und Christentum stellte. Die Kluft, die er aufriß, wurde übertönt von einer größeren Harmonie, in der sich das Griechische von Homer bis Plotin zur Einheit verband und in die von deutscher Seite sowohl Goethe und Hölderlin wie Nietzsche und Burckhardt ohne Dissonanz einstimmten. Das Staunen war überhaupt die Geste seines Denkens und forderte — hierin doch anders als Nietzsche — zu einer Haltung der Frömmigkeit auf. Sehr anders Reinhardt. Da gab es keine Beschwörungen abendländischen Geistes, keine Deutungen aufs Allgemeine, keine Anwendungen auf die Gegenwart, und die Antike wurde nicht gefeiert. Das Wort ,Humanismus' hörte man nicht aus seinem Munde. Man blieb beim Einzelnen, beim Besonderen. An Exkursen und Vergleichungen fehlte es nicht: sie dienten immer der Unterscheidung, der Hervorhebung des Besonderen. Dabei schien er sich nicht festlegen zu wollen: es wurde verglichen, gegenübergestellt, und wenn man die entscheidende Formulierung, die Formel erwartete, so gab es einen Hiat, ein beredtes Schweigen, bestenfalls eine hindeutende Handbewegung . . . Früher soll er minutenlang in der Vorlesung geschwiegen haben! Das habe ich nicht mehr erlebt . . . Was zuerst frappierte, war die mimische Kraft: eine ganz unrhetorische Gestik, das Darstellen in Ton und Gebärde, das was die Engländer realizing nennen. Aber wie rätselhaft wurde er, wenn sich das mimische Spiel an die Stelle der Aussage setzte! Wie hintergründig, wenn er sich ins Faktische, Vordergründige zurückzog! Das findet man noch in seinen Büchern: Zu dem heimkehrenden Agamemnon, wie er der Aufforderung 36

seiner betrügerischen Gattin widersteht, heißt es: „Weshalb gibt er plötzlich nach? Weil ihm das Stehen und Warten unerträglich wird? Oder weil sie an seine Großmut appelliert? Der Sieger unterliegt." Und doch bereitet sich in der bloßen Konstatierung des Faktischen die Antwort vor. Ein anderes Beispiel, Pandora mit dem Pithos: „Wie kommt der Zaubertopf in ihre Hände? Wo hat sie ihn her? Genug, alle Übel entfahren ihm wie der fürchterliche Geist der Flasche des Fischers in Tausendundeiner Nacht." Das war schon ein sonderbarer Lehrer, der, statt seine Lehrmeinungen zu dozieren, nur fragte oder mit einem unentschiedenen „Vielleicht — vielleicht anders" verwirrte. Bald schienen wir es herauszuhaben: dann schmunzelten wir, sobald er eine fremde Meinung zu zitieren anfing, Wilamowitz oder wen auch immer. Aber was er dagegen setzte, schien er unversehens wieder aufzuheben, und unter den verschiedenen Brechungen und Spiegelungen, Blickpunkten und Perspektiven blieb nichts übrig, was man ins Kollegheft schreiben konnte. In der Tat ein Schwieriger. Die Einfältigeren verloren die Geduld: der meinte ja doch nur alles ironisch . . . Wie es auch sei, der »Schwierige' nahm uns ganz gefangen. Denn freilich war seine Schwierigkeit nicht alles. Er ging aufs Einzelne, auf das Besondere eines Werks und eines Autors, auf das Individuelle und Signifikante, er erfaßte es durch Vergleich und Unterscheidung, und einmal hierhin unterschieden und dorthin verglichen, schoß das Zerstreute zur Gestalt zusammen, und der bisher verworrene Gegenstand lag einfach da als ein offenbares Geheimnis, als hätte man nur die Augen aufzumachen brauchen. Mit einemmal wurde uns Heraklit wichtig, die Odyssee, Piaton . . . Ich sage ausdrücklich: die Einzelnen, nicht das Hellenentum, nicht die Antike, nicht eine Idee . . . Diese Philologie bedurfte keines Programms, keines Bekennertums oder pädagogisch-politischen Anspruchs. Sie war nichts als Interpretation. Warum uns das mehr gefangen nahm — ich kann es nur von mir aus erläutern. Was ergreift, ist niemals das Allgemeine oder Ideelle, es ist immer das Besondere, das Einmalige, das Persönliche und Wirkliche; am Einzigen entzündet sich der Eros. Darüber vergaßen wir alles Problematische der klassischen Philologie. 37

IV Wir vergaßen nicht nur das. Wir sahen auch darüber hinweg, daß das Frankfurt jener Jahre, es war 1934, nur noch ein zerstörtes Überbleibsel des einstigen war. Tillich, Gelb, der noble Kantorowicz, Kurt Riezler, der höchst ungewöhnliche Kurator der Universität, waren von Studentenhorden von ihren Kathedern gezerrt worden, obskure Typen machten sich in der Dozentenschaft geltend. Noch aber war Langlotz da, Kommerell, der Anglist Glunz. Aber der Mittelpunkt war für uns das Reinhardtsche Haus, die reizend-vornehme Mansardenwohnung in der Hans-Sachs-Straße. Alle Sonnabende stand es für Freunde und Schüler offen, manchmal kam Otto dazu, dann wurde gern musiziert, Reinhardt spielte prächtig musikalisch Cello; fast immer war Kommerell dabei, der dichterische, mit gewagten Reden Lachen und Widerspruch erregend, auch beide Schuchardts, gelegentlich Langlotz oder der kühne Philosoph Hans Lipps. Einmal auch Heidegger: ich weiß noch, wie er, nach langem Streitgespräch mit Kommerell über Schillers Ästhetik, am Ende sich zu uns Jüngeren wendete mit der Mahnung, uns sei aufgegeben, „übrigzubleiben" . . . Auch das hat es gegeben. Man mag heute schwer ermessen, was diese Sonnabende für uns bedeuteten. Das Jahr 1933 war für Reinhardt ein Einsturz ohnegleichen gewesen. In völliger Klarheit über das Kommende hatte er sogleich im Mai 1933 sein Lehramt niedergelegt. Seine Schüler verdanken ihm Unendlidies, daß er dann doch geblieben ist: die unbeirrbare Gegenwart eines höchsten Maßstabes. Er hat seitdem seinen Studenten noch etwas anderes zu überliefern gehabt als Wissenschaft. Die Samstagnachmittage im Reinhardtschen Hause waren übrigbleibende Oasen, voll Geist und Leben, in einer wachsenden Wüste. Es konnte nicht ausbleiben, daß sie das Mißtrauen der Clique auf sich zogen: sie waren provozierend unpolitisch. Sie wurden, während des Krieges, noch unzeitgemäßer und der Ort plötzlich sich herstellender Verständigung, für manchen der einzige Trost. „So sinnvoll wie damals habe ich meine Lehrtätigkeit niemals mehr empfunden und werde sie auch nie wieder so empfinden." 2 — So haben wir ein paar Jahre in der 38

Nähe des Außerordentlichen gelebt. Es ist das Höchste, was man dem Jüngling wünschen kann: daß er einmal dem schlechthin Meisterhaften begegnet, das ihn in Bann schlägt, das ihn in seinen Dienst zwingt. Nicht anders haben wir am Genius teil. V Er war aufgewachsen im Frankfurt der Jahrhundertwende. Sein Elternhaus, das des Gymnasialdirektors Karl Reinhardt, des späteren Mitgründers der Salemer Schule, war bürgerlich, in dem eigentlichen Sinne, wie es die Jüngeren mangels Anschauung nicht mehr kennen. Es gab noch eine Gesellschaft, in der sich Woh'stand, Bildung und Freiheit, Tradition und Aufgeschlossenheit aufs glücklichste mischten. Es war eine kultivierte Gesellschaft, sie hatte in Deutschland, selbst damals, kaum ihresgleichen. Mit der reizenden Mutter, einer schönen und gebildeten Frau, verband ihn ein zärtliches Einverständnis. Die Wahl des Studiums war nichts Außerordentliches, schon der Vater war Altphilologe. Also ein Fall, wo das Außerordentliche mehr aus der langen Übung des Normalen, durch stetige Steigerung, hervorgeht, als plötzlich und eruptiv. Die Namen Nietzsche, Burckhardt, Deußen, Usener wurden ihm zuerst im familiären Gespräch, zum Teil durch Logierbesuche vertraut. Schopenhauer, Goethe, sie waren schließlich auch Frankfurter, die Gesellschaft war noch da, in der sie, vor nicht allzu langer Zeit, gelebt hatten. Am Gontardschen Landhaus ging man vorüber. Man kannte das alles sozusagen schon von Haus aus. Und womit immer sich Karl Reinhardt dann später in seinem Leben befaßt hat, er schien dazu einen intimeren und ursprünglicheren Zugang zu haben als bloß den der Wissenschaft. Der Gelehrtenberuf war ihm nicht vorgeschrieben. Er hätte auch Schullehrer werden können; auch Kunsthistoriker, auch Schriftsteller, auch Schauspieler, auch Globetrotter. In der Tat, solche Möglichkeiten dachte man sich kaum ferner von seinem Wesen als den Universitätsprofessor. War er ein Künstler? Er hätte es vielleicht sein können. Die Möglichkeit dazu, die Versuchung des Künstlertums, hat ihn, sozusagen als Privatmann, dauernd beunruhigt. Was ihn denn doch, als „berufsmäßigen 39

klassischen Philologen", auf den anderen Weg führte, ist nur zu erraten. Er selber, in seiner Art, das Eigene zu unterbenennen, schreibt: „Generationsbedingt als Jahrgang 1886, standortsgebunden als Beamtensohn, . . . zum klassischen Philologen geworden nicht zuletzt als Sohn meines Vaters . . . " 3 Aber da war das Exempel Nietzsches. Der junge Wilamowitz hatte ihm seine „Geburt der Tragödie" mit dem Pamphlet „Zukunftsphilologie" beantwortet. Am Ende seines Lebens schreibt er, auf den Philologenstreit mit Nietzsche zurückblickend: „Er hat getan, wozu ich ihn aufforderte, hat Lehramt und Wissenschaft aufgegeben und ist Prophet geworden . . ." — „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden!" schrieb rückblickend Nietzsche selber 4 . Das also, als erprobte Möglichkeit, auch als Möglichkeit der Lebensführung, stand vor Augen. Konnte man noch einmal die Rolle des Abtrünnigen spielen? Das Unbehagen des Humanisten an der Universitätsphilologie hat Reinhardt kaum weniger radikal erfahren als Nietzsche, bis zur gänzlichen Verzweiflung an dem Studium. Da kam die unerwartete Faszination durch eben denselben Wilamowitz . . . Kein Zweifel, sie hat die Entscheidung für die Philologie gebracht. So stehen die beiden gegnerischen Namen wie Daimon und Tyche über seinem Leben. Philologie — als die nüchterne und objektive Interpretation von Texten — hat für Reinhardt Entsagung bedeutet: die Selbstbeschränkung vor dem „Sirenengesang" der Kunst. „Etwas anderes wäre, sich ins andere versetzen, mimisch, belletristisch, essayistisch, künderisch, artistisch, dialektisch, philosophisch, dichterisch oder wie immer", — ebenso viele eigene Möglichkeiten, die man sich verbietet. Zuletzt war Philologie das Schwerere. In der engeren Fachwissenschaft wurde das kaum verstanden: daß hier die strengere Philologie getrieben wurde. Reinhardts gelegentlicher Spott über „die dichtenden Philologen" drang nicht bis dorthin.

VI Den „reichsten Geist seit Hofmannsthal" hat einmal Max Kommerell ihn genannt. Über den Abstand — weniger der Zeit (denn Reinhardt war ja, erstaunlich zu sagen, eigentlich noch 40

Zeitgenosse Hofmannsthals) als der gelehrten Zeitgenossenschaft hinweg, ordnete er ihn einem Namen zu, der den höchsten geistigen Rang unseres Jahrhunderts, wenigstens im deutschen Bereich, repräsentiert. Daß Reinhardt mit solchem Maß zu messen sei: man möchte zweifeln, ob das Bewußtsein davon in Deutschland sehr verbreitet war. Zögernd haben sich die Gelehrten seines Faches daran gewöhnt; und als ihm, gegen Ende seines Lebens, mit der Aufnahme in den Orden pour le merite sein Rang sozusagen attestiert wurde, ist wohl mancher eher überrascht gewesen — wenn auch keiner so wie er selber —; mancher horchte vielleicht zum erstenmal auf. Dabei war die neue Stimme, die hier redete, von Anfang an nicht zu überhören, fast schon aus dem souveränen Latein der Dissertation von 1910 ,De Graecorum Theologia', spätestens aus dem ,Parmenides', 1916. Was aber daran neu, unkonventionell klang, erregte mehr den Eindruck des Outsiders, des Literaten und Dilettanten. Und schien nicht gerade auch jenes Wort von Kommerell die Bewertung des Gelehrten auszuschließen und Reinhardt vielmehr als Schriftsteller neben den Schriftsteller zu placieren? Als dann 1921 der ,Poseidonios' erschien, fiel von seinem Rezensenten, für solche Art Philologie, das böse Wort »expressionistisch'. Es braucht nicht verschwiegen zu werden, daß ihm die ausbleibende Resonanz von Seiten des Faches nicht gleichgültig war. Er hat Konzessionen gemacht. Man weiß nicht, ob man dafür dankbar sein soll, daß er für einen großen Handbuchartikel — den freilich kein anderer schreiben konnte — drei seiner letzten Jahre geopfert hat. Es hat fast etwas Beklemmendes, zu sehen, wie dieser Mann eigentlich beständig um das Hausrecht in der Philologie rang, deren heimlicher König er war. Die äußere Selbstbeschränkung als »Philologe' wird fast zur Lebensgeste, um so bemühter, um so beteuernder, je mehr er innerlich ihre Grenzen überwuchs. Immer wieder begegnen Sätze wie die Versicherung, daß sein Standort der „notwendigerweise einseitige des berufsmäßigen klassischen Philologen" sei; daß er sich nicht berufen fühle, den Übersetzer und Dichter Gilbert Murray zu würdigen, „doch zu gedenken hätte ich des Philologen und Editors". In der Bescheidenheit solcher Sätze will ich den großen, herausfordernden Stolz nicht überhören. Aber die Bescheidenheit ist 41

von anderer Art als diejenige, mit der etwa Friedrich August Wolf sich beschränkt, wenn er die ästhetische Seite der homerischen Frage als ihm nicht zukommend von sich abweist, als Aufgabe der Dichter, „Klopstockiorum, Wielandorum, Vossiorum". Zum Bewußtsein der Grenze des Philologischen gehört bei Reinhardt die Einsicht in den transzendierenden Charakter der Philologie. Oder um es einfacher zu sagen: der Philologe kann gar nicht anders, als beständig mit Dingen zu tun zu haben, die nicht mehr Philologie sind. Und die Reinhardtsche Geste der Selbstbeschränkung rührt allerdings daher, daß er sehr wohl und eigentlich zu Hause war jenseits der Grenze des Philologischen. Das Zögern, das sein Wesen durchdrang, war etwas Geistiges. Sein Sinn für Mißverhältnisse war außerordentlich. Das war für ihn ein Quell des Komischen; aber andererseits erwuchs ihm daraus eine Leidensfähigkeit, die einfältigeren Naturen erspart bleibt. Zu erster Verwunderung über Wilamowitz, den bewunderten Lehrer, scheint Anlaß gewesen zu sein ein Mißverhältnis, die Wahrnehmung eines Mißtons von unrein sidi mischenden Sphären. Und insofern sein Gewerbe Erkennen war, so war ihm das Mißverhältnis zwischen der Sache und den Mitteln der Wissenschaft oft schmerzlich bewußt. Das rubrizierende Denken, das weithin für das wissenschaftliche gehalten wird, war ihm fremd. Es gibt weniges, was vor ihm nicht plump erscheint. Sein historischer Blick durchschaute die „Standpunkte": der Quell der ihm eigenen Ironie. Sein Denken vollzog sich in beständigen Durchblicken, Unterscheidungen, Spiegelungen. Das Diskrete seines Denkens war vernehmbar bis in den zögernden Nachdruck eines Wortes. Die Sache war ihm im Grunde unaussprechlich. Andererseits war diese Spannung zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren dasMovens seiner Schriftstellerei. Obwohl sich ihm der Gedanke von selbst in Sprache prägte, war er kein leichter Schreiber: Entworfenes wurde wieder und wieder durchdacht, um und um formuliert, und wenn es nicht bestand, verworfen. Man raunte sich zu, daß Manuskripte ganzer Werke, denen nur das Letzte fehlte, beiseite gelegt oder vernichtet seien. Und noch sein letztes Buch über Aischylos wäre, wenn man ihm glauben soll, ohne das Drängen des Freundes „zwar angefangen, aber wer weiß, ob 42

jemals beendet worden". Und doch gibt es wenig Vergleichbares für die Kraft, die Geistigkeit und den Nuancenreichtum dieser Sprache. Sie hat ihre großen Impulse von Nietzsche erfahren, hat sich zeitweilig mit George berührt und erinnert im Alter gelegentlich an die souveräne Schreibweise von Wilamowitz, ohne doch ins Saloppe zu verfallen. Trotz ihren Wandlungen hat sie einen unverwechselbaren großen Stil, durch den sich seine Schriften neben das Beste stellen, was das Jahrhundert an Prosa hervorgebracht hat. Sie sind, abgesehen von ihrem Rang als Literarhistorie, auch selber Literatur. VII Man kann versuchen, Reinhardts Platz in der Geschichte der Philologie wenigstens negativ zu bestimmen. Die klassische Philologie, in dem großen Fluß des Historismus, war ein Stück der allesumfassenden Geschichtswissenschaft geworden. Die Ideale des Klassizismus mußten einer neuen, auf ihre Weise faszinierenden, historischen Wirklichkeit Platz machen. Während die Masse des geschichtlichen Stoffes ins Unübersehbare wuchs, verlor das Einzelne seine Vorbildlichkeit für den Einzelnen, seine bildende Kraft. „Als Editor zu bekennen, daß man den Autor, den man edierte, wenig schätze, gehörte fast schon zur wissenschaftlichen Selbstachtung." 5 Während Nietzsche mit bestürzender Klarheit die Fragwürdigkeit dieser immer noch klassisch genannten Philologie sah, erfuhr sie in Wilamowitz, auf den Anspruch der Klassizität verzichtend, ihre Vollendung als sogenannte Altertumswissenschaft. Der Verzicht wurde gleichsam kompensiert durch ein neues philologisches Selbstgefühl, eine erst jetzt und fast nur in Wilamowitz selber erreichte Universalität der historischen Disziplinen. Der humanistische Protest ist nicht von der Wissenschaft ausgegangen. Er kam aus dem George-Kreis. Der Versuch wurde gemacht — nicht ohne starke Anregungen von Nietzsche, jedoch statt im Gedanken nun im Leben —, den modernen Nihilismus zu überwinden: der hohe Anspruch an Zucht und Lebensführung trug mit Bedacht die Geste des Unzeitgemäßen und Exklusiven. Der dichterische Sinn für das Mythische und Vorbildliche sah statt der chaotischen Historie einen mit Leit43

bildern umstellten geschichtlichen Horizont, dessen größten Raum die großen Namen des Altertums einnahmen. In ihrem Ursprung eher wissenschaftsfeindlich, hat die neue Betrachtungsweise doch stark und fruchtbar auf die Wissenschaft zurückgewirkt. Auch Reinhardt mußten die Tendenzen des Kreises stark entgegenkommen. Daß er trotzdem nicht einer der Ihren wurde — es steht fest, daß es nicht am Kreise gelegen hat 6 . Indessen entwickelte auch die Philologie eine humanistische Reaktion aus sich selbst. Die Klassizität des klassischen Altertums wurde jetzt aus dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang des Abendlands abgeleitet. Das konnte also historisch bewiesen werden. Der neue Humanismus trat mit Anspruch, polemisch, programmatisch auf, mit pädagogischen oder politischen Schattierungen. Der ins öffentliche übergreifende Schwung der Bewegung hat sich in den politischen Katastrophen der dreißiger Jahre totgelaufen; nebenher, oder mittendrin, lebt, mit den technischen Mitteln wachsend, der alte Historismus, und er scheint den längeren Atem zu haben. Reinhardt steht zwischen all diesen Bewegungen, nicht unberührt, aber das Bedingte des so unbedingt sich Gebenden durchschauend. Im Vorwort seines Sophoklesbuches, 1933 erschienen, schreibt er: Sophokles solle hier „von keinem Programm-Humanisten gefeiert werden". Seine Philologie ist weder feiernd noch sezierend. Aber wie war sie eigentlich? Ich habe erst spät vermocht, mir über Reinhardts besondere Art Rechenschaft zu geben, in der äußeren Form seiner Rede und Schriftstellerei — wenn ich das von ihm hervorgezogene Wort gebrauchen darf — die innere Form zu erkennen. Denn was zuerst wirkte, war ja ein gewisser Stil: die Ersetzung der definiten Aussage bald durch die Frage, bald durch Ausrufesätze, das Offenlassen, In-der-Schwebe-Lassen, das Abbrechen, das Hindeuten; sodann das Reden in Entgegensetzungen, in der Form der Umkehrung, bis zum Paradox. Zum Stil rechne ich auch das Mimetische: die Nuancierung durch die Geste, die Ersetzung der Aussage durch die Geste; und das hinweisende Darstellen in Ton und Gebärde, das ans Schauspielerische grenzte. Ist er ein Schauspieler gewesen? Das Schauspielerische bedeutet zu viel für seine Denkweise, als daß man die Frage 44

einfach abweisen könnte — ganz abgesehen von seiner Leidenschaft fürs Theater, seiner Kennerschaft auf der Bühne. Es begegnet ihm als psychologisches und ontologisches Problem in „Nietzsches Klage der Ariadne". Mit dem Schauspielerischen hat nicht nur seine Einfühlungsgabe zu tun; sein Denken in Perspektiven, Brechungen, Spiegelungen, das Eins im anderen Sehen, das Ersetzen des unzulänglichen Wortes durch die hindeutende Geste, der Stil des unausgesprochenen Zitierens, seine ganze Art der Ironie scheint daher zu kommen und bezeichnet ihn als Modernen. Und doch war er eher das Gegenteil einer Schauspielernatur. Es fehlte ihm jede Attitüde, das Auftreten, Sich-in-Szene-Setzen. Das Pathetische wurde fast ängstlich gemieden. Das Bekennertum lag ihm nicht. Aber mit einemmal geschah es doch — und dann mit dem Gewicht des lange Verschwiegenen —, daß er bekannte: „Und um es gleich vorweg zu bekennen: es liegt mir auch gar nicht so viel an einer neuen historischen Einreihung, als vielmehr daran, daß Parmenides einmal zu Wort komme, daß ich ihn zum Reden bringe. Ich gestehe, eine Vorliebe für ihn zu haben . . ." So im Vorwort zum Parmenides. Wo durfte ein Gelehrter so subjektiv von seinem Autor reden? Das Recht dazu ist kaum zu begründen. Immerhin, was hier bekennend hervorbricht, ist nichts Willkürliches, sondern die Person in ihrer Affinität zu ihrem Gegenstande. Reinhardt hat schwerlich je einen Autor interpretiert, dem er nicht auf eine Weise verwandt war. Das möchte bedenklich klingen, wäre der Erkennende hier nicht so einzig objekt-gemäß beschaffen gewesen. Manche Stelle liest man heute wie einen Schlüssel zu seiner Person: so über Poseidonios: „. . . kein Enzyklopädist; kein Lehrtemperament, das über Fächer und Fächer sich verbreitet; kein repräsentativer Geist, in dem ein Zeitalter sich spiegelt; eher ein Geist, der sich an jeden Stoff verliert, um sich in jedem Stoff zu finden . . . Seine Geistigkeit läßt sich vielleicht am klarsten und im gröbsten in ein Schema bringen, wenn man sie bestimmt als die Koinzidenz zweier Gegensätze. Der eine dieser beiden Gegensätze wäre: seine Richtung auf das Einzelne, das Mannigfaltige, Besondere, Charakteristische, Individuelle . . . sein geschärftes Auge für das Signifikante, und was weiter damit zusammenhängt: die Kraft der Phantasie, 45

die Kraft des Künstlers, das Besondere zu e r f a s s e n . . . Der andere der beiden Gegensätze wäre: der Trieb zum Ganzen, das Zusammenschauen . . . Poseidonios ist vielleicht der größte Augendenker der Antike . . . Sein System . . . ist die reinste Philosophie des Auges." 7 Oder von Piaton: „Die Charis dieser Gesellschaft (des alten aristokratischen Athens) übernimmt er in sein geistiges Reich, zugleich ihren Sinn fürs Komische und mit beidem zugleich die Nötigung zur Ironie." 8 Aus solcher Individualität, einer zugleich zögernden und leidenschaftlichen Natur, einer ähnlich augenhaften Begabung, der Lust am genauen Beobachten des Einzelnen, auch aus dem Geselligen, mit dem auch bei Reinhardt seine besondere Art der Ironie zusammenhängt, kam der Stil seines Vortrags. — Daß dahinter etwas Methodisches sich verbarg, war erst zu entdecken. VIII Seine Methode war, grob gesagt, die des Vergleichens. Die vergleichende Methode hat er nicht entdeckt. Man kann in seinem zweiten Poseidoniosbuch ungeduldige Sätze darüber nachlesen 9 : „Was vor allen Dingen fernzuhalten ist, ist die Ideenflucht, die Jagd nach dem Motiv, der Stammbaumwahn, die Suche nach dem Topos, die Vergleicherei, die in das Ufer- und Wesenlose steuert, das Erahnen welthistorischer Zusammenhänge, das Herumwerfen mit Hymnik, Mystik, Orient und Okzident." Was hier mit der großen Geste eines Kehraus fortgefegt wird, ist, genau besehen, nicht weniger als eine ganze Geschichte der Philologie. War nicht Erkenntnis der Motive, der Topoi, die Reihung des Vergleichbaren, das Schließen auf die Quelle sowohl Weg wie Ziel unserer Wissenschaft, seitdem sie überhaupt Wissenschaft ist? Bleibt nicht das Klassifizieren, sei es nach Hymnik und Mystik oder nach anderen Abstraktionen, überhaupt das Tun der Wissenschaft? Ja ist nicht Reinhardt selber immer wieder so verfahren? Daß wissenschaftliche Erkenntnis nicht ohne Methode stattfindet, gehört zu den leitenden Prinzipien, nicht nur der Philologie, des 19. Jahrhunderts. Die Geisteswissenschaften haben das Methodische, wie es seither zum Begriff der Wissenschaft gehört, nach dem Vorbild der Naturwissenschaften entwickelt. 46

Wieweit das Prinzip etwa dort auf gewisse Grenzen stößt, weiß ich nicht. In der Philologie jedenfalls ist es eine Erfahrung wohl erst dieses Jahrhunderts, daß umgekehrt Methode nicht ohne Erkenntnis gefunden wird. Logisch läuft das auf ein Paradox hinaus, schlimmer: fast auf einen circulus vitiosus. Denn wie soll man die richtige Methode der Erkenntnis finden, wenn dazu bereits die Erkenntnis des Gegenstandes nötig ist? Und wozu denn überhaupt Methode, wenn, wie es scheint, die Erkenntnis aller Methode, allem logischen Hinführen vorauseilt? Wenn sie gleichsam mit einem Sprunge sich in den Gegenstand versetzt? Wird Erkenntnis nicht zur Intuition? Und also etwas höchst Bedenkliches? Beim Poseidonios liegt es etwa so. Die altbewährte Methode besteht im Sammeln der Zeugnisse, Rekonstruktion einmal nach dem Muster der Fragmentsammlungen, zum anderen der Handschriftenrecensio: Erschließung des Archetyps. Nun ist es aber im Bereich der Zitate und Testimonia anders als bei den Handschriften: jede Quelle verwandelt ihre Quelle. Reinhardt hat das Prinzip zum erstenmal im ,Parmenides' eingeführt: es gibt einen stoischen Heraklit, einen Heraklit der Biographen, einen Heraklit der Gnomologien usw. Eine Rückverwandlung ist nötig. Aber worein? In welche Form? Es gilt, das Individuelle, den Denkstil Heraklits zu erkennen, die einzigartige, so niemals wiederkehrende schöpferische Form: die ,innere Form'. So ergibt sich beim Poseidonios das scheinbar widersprüchliche Gebot: die innere Form aus den Zeugnissen zu gewinnen, aber die Einsicht, was überhaupt Zeugnis für Poseidonios ist, aus der inneren Form! Das also steckte hinter Reinhardts Vorliebe für das Einzelne, Besondere, seiner Aversion gegen allgemeine Urteile: letzten Endes etwas Methodisches. „Bei Reinhardt lernt man keine Methode?" Man kann, seit den Methodologen des vorigen Jahrhunderts, bei keinem Philologen soviel über Methode lesen wie bei Reinhardt. Wenn wir's nicht verstehen, ist das unsere Sache. In ,Poseidonios über Ursprung und Entartung' 1 0 heißt es: „Hier nun stehen sich zwei Betrachtungsweisen, zwei Methoden gegenüber, unvereinbar: die eine erschafft sich ihr organisches 47

Ganze, die andere spinnt sich ihre historischen Fäden" (d.h.: etwas gilt als erkannt, wenn man seine Herkunft oder seinen Topos erkannt hat). „Aber die Rechtfertigung einer Methode kann immer nur aus ihrer Leistung kommen." Und weiter in ,Kosmos und Sympathie' 1 1 (in der Form jener paradoxen Umkehr): „Das Wesen bestätigt sich, indem es den handwerklichen Griff gestattet, wie sich der handwerkliche Griff bestätigt, indem er das Wesen — nicht erreicht, jedoch auch seinerseits gestattet." „Das Wesen nicht erreicht": darin liegt das zweite, was wir an seinem Stil bemerkten: das Off enlassen, das Abbrechen vor der festlegenden Aussage, das Hindeuten. Denn das Wesen, die innere Form, oder wie immer wir es nennen, ist an sich mit den Mitteln der Wissenschaft, und das heißt der Analyse, nicht erreichbar. Das Problem, das sich hier der Philologie stellt, ist im Grunde dasselbe, an das auch Piaton geriet: der Idee und des Unsagbaren. Kein Wunder, daß eine Philologie, die sich dessen bewußt wird, auch ähnlich negative Formen der Rede entwickelt: das Unterscheiden und Off enlassen, In-der-SchwebeLassen, das Abbrechen und Übergehn ins Konkretere, Geheimnisvollere — lauter Formen des Nichtwissens, die ein tieferes Wissen zugleich verhüllen und enthüllen. Dahin gehört auch die Reinhardtsche Ironie — die wahre Ironie, die sich ja nicht nach außen, sondern nach innen richtet. Auch sie ist eine Kraft der Unterscheidung: sie schafft eine Spannung zwischen einem Vordergrund und einem Hintergrund. Indem die Ironie etwas Vcrdergründliches, als das allein Erreichbare, so scharf nachzeichnet und gleichsam strapaziert, daß es aufbricht und sich selber aufhebt, gewährt sie einen Einblick. Erst durch die Ironie wird die andere Dimension gewonnen. Bei Heraklit gibt es das Denken in der Form der Umkehrung, oder in der Form des Paradox, nicht als rhetorischer Form, sondern als der notwendigen Form der Anschauung der Harmonie im Widerspruch; es gibt das Denken in Polaritäten, die Vorliebe für die Rätselform, die Geste des Hindeutens — lauter zugleich Reinhardtsche Motive, die seine Form des Denkens mitgeprägt haben, oder ihr ursprünglich entgegenkommen. Es sind alles im Grunde Formen des Transzendierens der Rede auf ihren Gegenstand hin. 48

Allerdings verfügt die Philologie auch über eine positive Methode: die einfache Deskription. Richtig gehandhabt ist sie die halbe Interpretation. Reinhardt hat ja zuweilen ganze Kollegstunden lang nur übersetzt und dargestellt: für das Auditorium höchst unterhaltsam. Auch das hat man erst später erkannt, daß das Mimische bei Reinhardt im Dienste der Interpretation stand und insofern zur Methode gehörte. Es gibt Erscheinungen, insbesondere im Bereich des Dichterischen, welche, mit dem Begriff erfaßt, alsbald ihr spezifisches Wesen, welches dichterisch ist, verlieren. Die angemessene Methode wäre die interpretierende Paraphrase. Im Hinblick auf die begriffliche Erkenntnis eine Kunst des Indirekten. Im EuripidesAuf satz 1 2 hat er sich ihrer besonders eindringlich bedient. Das Reinhardtsche Oeuvre teilt sich zeitlich mit verblüffender Genauigkeit in zwei Hälften. Die erste Lebenshälfte gilt ausschließlich den Philosophen. Die zweite fast ebenso ausschließlich der Dichtung. Schon daraus sieht man, mit welcher biographischen Notwendigkeit hier produziert wurde. So zufällig es oft aussah, wie er sich von Vortrags- und Verlegerwünschen leiten ließ, er folgte immer nur seinem Dämon. Es darf bemerkt werden — obschon man dies zu allerletzt mit seiner Gestalt verbände — daß allen seinen Schriften gemeinsam etwas Theologisches ist. In der Mitte steht, und nicht nur zeitlich, das Buch über Piatons Mythen. Er scheint sich darin erst tastend der Methode zu versichern, wie philologisch über das Schöpferische zu reden sei. Das Buch stieß auf mannigfache Ablehnung. Es gehörte auch später nicht zu denen, die Reinhardt als wohlgelungen betrachtete: der hymnische Ton, die Gebärde, der Verzicht auf Erklärung; an die Stelle der Erklärung tritt das Bild, im Bild feiert sich mehr ein Einverständnis mit dem Gegenstand, als daß es den Uneingeweihten einführte. Ein exklusives Buch. Immerhin hat er noch zwanzig Jahre später darauf hingewiesen, daß es ihm auch dort um etwas Methodisches ging. Das Methodische scheint mir im folgenden zu bestehen: Bei einem Autor hohen Ranges erklärt man ein literarisches Phänomen wie die platonischen Mythen nicht damit, daß hier eine durch Sokrates verdrängte poetische Neigung sich wieder geltend mache — also biographisch-psychologisch; auch nicht mit dem Hinweis, daß schon die Sophisten Mythen in ihre 49

Vorträge einzulegen liebten — also historisch. Die Vergleichung des Vergleichbaren führt vielmehr zur Erfassung der Form und die Unterscheidung des Besonderen zur Erfassung des Individuellen. Erst so zeigt sich, vom platonischen Philosophieren her, der platonische Mythos als notwendige Form. Immer wieder hat Reinhardt fortan das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen, Überlieferten und Übertragbaren und dem Besonderen, Einmaligen und Unwiederholbaren aufgesucht, zwischen Formen und Werken, zwischen Tradition und Geist, zwischen dem Literarischen und Schöpferischen. Er war ein Kenner des Typischen, der Topoi, der Motive, der literarischen Formen und Gattungen wie nur einer; aber er suchte diese in jenem Schnittpunkt mit dem Schöpferischen auf, wo das Außerordentliche entsteht. Seine zwie- und dreifältige Natur, des Künstlers, des Weltmannes und Gelehrten, das Fehlen jener Einseitigkeit, die die meisten wohltätig beschränkt, hat er selber mehr als Mangel empfunden, ein Gefühl übrigens, das er mit Wilamowitz teilte. Wenn es aber „zum philologischen Bewußtsein gehört, mit Erscheinungen zu tun zu haben, die es transzendieren", so war er gerade dank dieses Mangels, was die Besten nur halb sind, ein ganzer Philologe. Das Verhältnis zur Antike, gerade wo es sich humanistisch weiß, entringt sich nur selten dem historischen Bewußtsein, es bleibt geistesgeschichtlich orientiert. Reinhardts war spontan. Spontan verhielt sich auch Wilamowitz; aber sein Verhältnis zur Antike blieb mehr die Treue seines Primanergelöbnisses, es fehlte ihm nicht eine gewisse preußische Stilisierung. Reinhardts war unmittelbar wie das unserer Klassik. Humanismus und Philologie, die beiden seit ihrem Ursprung im 18. Jahrhundert so geschwisterlich Entzweiten, erfahren in ihm ihre seltene Vereinigung, fast möchte ich sagen: zum ersten und zum letzten Mal.

IX Denn was für Hoffnungen etwa Reinhardt an die Zukunft der klassischen Studien geknüpft hat, ist schwer zu sagen. In sein spätes Werk mischen sich hier und da dunkle Töne. Das Persönliche, sonst streng verhalten, spricht vernehmlicher, schmerz50

lieh reagierend auf die Veränderungen der Zeit. Wie die Produktion Reinhardts von Anfang an eine strenge Beziehung zwischen Person und Werk aufweist, alles beiseite bleibt, was ihn nicht ansprach, so sprechen auch die Erfahrungen der Zeit aus seinem Werk. Mag sein, daß spätere Jahrzehnte darin eine Zeitgebundenheit erkennen, wie wir sie bei Wilamowitz sehen. Reinhardt, der Philologie aus seiner ganzen Person trieb, ist durch Erfahrungen der Zeit empfänglich geworden für Erscheinungen, die uns ohne sie stumm bleiben. Ein Kapitel wie das ,Vom Wesen des Sieges' im ,Aischylos' ist wie mit dem Blut der Wirklichkeit genährt. An anderer Stelle, nach seiner Übersetzung des Zeushymnos im Agamemnon: („Durch Leiden lernen — Statt Schlafes träuft aufs Herze Erinnerns wache Pein") spricht das Erlebte aus einer eingefügten Parenthese: „Entstanden ist dieses Gebet — sehr anders als dieser Versuch der Übersetzung aus dem Frühjahr 1945 — nicht in Zeiten des Zusammenbruchs, sondern des unerhörten, fast beängstigenden Aufstiegs." Und schließlich gegen Ende: „Wer über blühende Felder geht, in Kriegs-, Hunger- und Seuchezeiten, der lese den Schluß der Eumeniden: Was sing ich segnend auf mein Volk herab? Was eines reinen Friedens Hut bedeute" usw. Das ist wie das Vermächtnis eines Segens, der noch uns Nachkommenden aus dem Werk des attischen Dichters zuströmen möge. Es mischt sich aber hinein ein Ton der Sorge, wie man ihn auch am Ende eines Aufsatzes über die Odyssee Homers verspürt: welche „auch noch uns leuchtet auf dem Weg in unsere dunkle Zukunft" 13. Daß der Verfasser des ,Sophokles', er, der offenbar über nichts schrieb, als was er liebte, jemals ein Euripidesbuch schreiben würde, war nicht zu erwarten. Da kam, allen überraschend, der Aufsatz über die ,Sinneskrise bei Euripides', der seine letzte Veröffentlichung wurde. Er steht nun an Stelle des nicht mehr geschriebenen Buches. Alles ist darin gesagt. Es bedürfte nicht der Einleitung über den modernen Nihilismus, um zu sehen, daß die Erfahrung der Zerstörung hier einen ganz persönlichen und doch gültigen Zugang zu Euripides eröffnet hat. 51

Verwirrung maßlos wohnt im Göttlichen wie Menschlichen. So wird Reinhardt zuletzt noch mit erschreckender Aktualität zum Interpreten jener attischen Stimme des Sinn-losen, das eben als verborgenes Antlitz der Zukunft im Gegenwärtigen sich ankündigt. Der Riß durch die deutsche Geschichte, der in Reinhardts Lebenszeit fällt, das rapide Ende der bürgerlichen Kultur mit allem, was daranhängt, war Reinhardt schmerzlich bewußt. In seinen letzten Essais fallen Apostrophen auf „an die Jüngeren unter uns" — einfach-belehrende, erinnernde, gelegentlich fast entschuldigende — in denen er einer Generation, die in der Verwirrung des Tages sich des geschichtlichen Bewußtseins entledigt hat, begreiflich zu machen sucht, wovon noch soeben in Deutschland die Rede war.

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SELBSTGESPRÄCH I Aufgefordert, über die Lage des Humanismus in der Gegenwart zu sprechen, nehme ich die Gelegenheit wahr, mir von der Beunruhigung Redienschaft zu geben, die den am Altertum Erzogenen heute ergreift, wenn er auf die Gegenwart blickt. Obschon ich annehme, daß ich diese Beunruhigung mit vielen von Ihnen teile, rechne ich nicht auf Ihre Zustimmung; vielmehr ist das Folgende zunächst mir selber zugesprochen, um mir Klarheit zu schaffen in der Dunkelheit des Augenblicks. Und da wir Philologen hier unter uns sind, darf ich auf alle Argumente verzichten, mit denen sich der Humanismus heute in einer weitgehend ihm entfremdeten Gesellschaft zu empfehlen pflegt. Das Beunruhigende liegt für uns zunächst darin, daß der klassische Unterricht in einem nicht zu verleugnenden Rückgang begriffen ist. Wir haben den Untergang des humanistischen Gymnasiums erlebt, zuerst in Ostdeutschland, jetzt im Westen. Wir nehmen damit teil an einer Entwicklung, die sich ebenso in den übrigen Ländern europäischer Bildung vollzieht, welche uns zum Teil darin weit vorangegangen sind. In der Beschleunigung, mit der dieser Prozeß seit dem letzten Kriege sich abspielt, trägt er das deutliche Zeichen einer tiefgreifenden Krise der Gesellschaft, vergleichbar mit der Beschleunigung, in der der Rückzug der europäischen Mächte aus ihren kolonialen Positionen geschieht: Was sonst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten sich wandelt, drängt sich auf Jahre und Monate zusammen, die scheinbare Notwendigkeit der Veränderung liegt in der Luft, die entgegengesetztesten Parteien werden sich darin einig, und eine glaubt der anderen zuvorkommen zu müssen . . . Ich will aber das Problem der Schulformen und Schulreformen beiseite lassen. Der Rückzug, den die humanistische Schule in unserer gesellschaftlichen Ordnung sich hat gefallen lassen müssen, hängt ja mit der Schwächung zusam53

men, die der Humanismus selber in diesem Jahrhundert erlitten hat; und diese Schwächung erfahren wir nicht nur von außen, sondern in uns selber. Jedenfalls gehe ich davon als einer Tatsache aus, ich möchte diese Tatsache beschreiben und, sofern sie uns nur halb bewußt ist, ins Bewußtsein ziehen. Dafür, daß der Humanismus kränkelt, gibt es ein Symptom in dem apologetischen Ton, mit dem er sich selber seit hundert Jahren vorträgt. Zur inneren Tröstung und Stärkung fand er nach dem ersten Weltkrieg die Begriffe Abendland, Tradition, Bildung, Humanitas; sie wurden auf den Philologenversammlungen bekenntnishaft verkündet und gleichwie Devisen mit einer aggressiven Zuversicht in die technisierte und demokratisierte Öffentlichkeit getragen. Sie spielen noch heute ihre Rolle, wo sich ein „westliches" Kulturbewußtsein selber zu formulieren versucht. Aber wenn ich mich nicht täusche, begegnen diese Vokabeln bei den Jüngeren, selbst unter denen, die an der Sache nicht unbeteiligt sind, einer tiefsitzenden Skepsis. Sie scheinen mit in den Kehricht der Werte geraten, mit denen eine scheiternde Generation sie alleine gelassen hat. Und selbst der Student des Lehrfaches überläßt meist mit kühler Indifferenz die Vertretung seiner Sache den Fachverbänden und humanistischen Vereinen, noch geschützt von dem öffentlichen Prestige einer humanistischen Bildung, von der Berufung auf Christentum und Antike bei Akademikern und Politikern und von der allgemeinen Aufwertung der sogenannten abendländischen Werte nach dem Debacle des Nationalsozialismus. Aber wo gibt es heute in Deutschland noch Humanismus als öffentlich wahrnehmbare Macht? Zunächst: es gibt ihn allenfalls in der einen Hälfte; in der andern hat die Vokabel eine ideologische Umdeutung erfahren, die ihren Sinn fast ins Gegenteil zu verkehren scheint: Humanismus als Parole einer Arbeiterkultur, die den Traditionen der bürgerlichen Bildung absagt. Die Bedeutungsverkehrung ist geschichtlich nicht ganz so unbegründet, wie es dem westlichen Bildungshumanisten erscheint: es ist nicht schwer, den Punkt zu erkennen, wo aus Impulsen, die vom klassischen Geist sich nährten, die großen sozialen Bewegungen der Neuzeit entsprungen sind. Der Klassizismus der französischen Revolutionszeit ist mehr als bloße Draperie, ihre Cato- und Tyrannenmörder-Idole füllen sich mit 54

republikanischem und heroischem Geist, und noch bei dem jungen Marx ist das Reflektieren über das Menschliche und das Unmenschliche in der Gesellschaft kaum denkbar ohne die Vorgeschichte des klassischen Humanitätsbegriffs. Demgegenüber bedeutet allerdings der Gebrauch des Wortes Humanismus in der kommunistischen Ideologie eine Trivialisierung und ist vor allem durch die Vergewaltigung des Individuums unglaubwürdig geworden. Daß aber uns jene Zusammenhänge mit den gesellschaftlichen Bewegungen aus dem Bewußtsein gewichen sind, gehört mit zu den Momenten, in denen die Entleerung des Humanismus besteht 1 . Andererseits ist auch bei uns der Humanismus mit dem Politischen verquickt und wird gefördert nicht ohne politische Absichten. In Süd- und Westdeutschland hat er noch festere Positionen als in Norddeutschland; er nimmt also teil an der Machtstellung des Katholizismus. Dieser — und nicht der Humanismus — ist die eigentliche konservative Macht. Nach den geschichtlichen und inneren Gründen der Verbindung von Humanismus und Katholizismus — die zum Protestantismus ist heute schwächer — will ich jetzt nicht fragen; tatsächlich befinden wir uns in pädagogischen und Bildungsfragen meist Seite an Seite mit der katholischen Kirche. Ob dauerhaft auf dieses Bündnis zu bauen ist, kann sich bald zeigen: der Verzicht auf die lateinische Liturgie, das heißt auf die völkerverbindende Sprache der Weltkirche, in einem Augenblick, da diese Kirche ihre weltliche Einheit zu festigen unternimmt, bedeutet vielleicht den schwersten Verlust der klassischen Traditionen und kann für das Interesse der Kirche an einer klassischen Erziehung bald fühlbare Folge haben. In das Konzept der politischen Linken gehört der Humanismus nicht. Dagegen finden wir ihn gelegentlich in einer merkwürdigen Verbindung mit der nationalen Rechten: Man kennt noch den Gymnasialdirektor, dem sein Thukydides und Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen" nebeneinander rangierten, eines das andere bestätigend. Es verlohnte sich, den Gründen dieser Verbindung nachzudenken; aber zeitbedingt wie sie war, begegnet sie uns heute nur noch im persönlichen Bereich und scheint weniger für die Gegenwart als für eine vergangene Generation bezeichnend. Wo man sich heute öffentlich auf 55

Humanismus und Antike beruft, geschieht es aus der übernationalen Idee eines abendländischen Europa, einer Neuorientierung unserer Kultur nach Frankreich und Rom. — Die unmittelbare Wirkung der Antike bleibt in solchen halbpolitischen Konzeptionen zweifelhaft. Institutionell ist der Humanismus am festesten in der Universität verwurzelt, und zwar zunächst in der Philosophischen Fakultät dank dem Zusammenhang ihrer historischen Disziplinen: keine kommt ohne das Lateinische aus. In den anderen Fakultäten hat er viele Freunde, aber das liegt daran, daß ihre Mitglieder noch aus den alten Bildungsschulen hervorgegangen sind — es könnte in der nächsten Generation sehr anders aussehen. Schon jetzt sind die jungen Wissenschaften wie Psychologie und Pädagogik, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften antihumanistisch. Und nun die Schule. Das Humanistische Gymnasium war im 19. Jahrhundert die Schule des höheren Bürgertums. Mit der allgemeinen Volksbildung gegen Ende des Jahrhunderts verlor es sein Monopol, Realschule und Realgymnasium stellten sich daneben und beanspruchten mit Erfolg, auch ihrerseits zur Universitätsreife zu führen. Der soziale Nimbus der höheren Bildung blieb dennoch beim humanistischen Gymnasium, und die Reste dieses sozialen Prestiges spielen mit, wenn die altsprachliche Schule, die längst keine Standesschule mehr ist, heute eine bemerkenswerte Anziehungskraft auf das untere Bürgertum ausübt, auf Eltern, die selber keine humanistische Schule besucht haben. Andere Motive sind freilich nicht zu übersehen, vor allem scheinen, bei der allgemeinen Bewegung und Unsicherheit, in die unser Erziehungs- und Bildungswesen geraten ist, viele Intellektuelle an dieser Schule mit Vertrauen festzuhalten. Der Lehrer der alten Sprachen steht noch immer unter der Idee einer humanistischen Erziehung, die als Volksbildung wenigstens den intellektuellen Teil der Nation zu prägen hat. Die Wirklichkeit aber ist: ein Schulzweig neben anderen Zweigen, in den oberen Klassen mit seiner Spezialität sich abtrennend, wie sich andere mit anderen Spezialitäten abtrennen. Er hat es schwer, vor einer Gesellschaft, welcher Wohlstand und Erfolg alles gelten, sich zu rechtfertigen. Den Schutz seiner Schul56

Verwaltungen genießt er nicht. Die Unterrichtsstunden sind, auch in den speziellen Schulen, so beschnitten, daß man zum Lesen der alten Autoren kaum noch kommt. Auch ist durch die unfreie Mentalität des Unterrichts der Erfolg der sogenannten klassischen Bildung bei den Zöglingen unserer Gymnasien selten eine große Sicherheit in den Maßstäben und im Verhalten, öfter ein ängstliches Hängen am Herkömmlichen und eine krittelnde Hilflosigkeit gegenüber dem Zeitgenössischen. So ist eine Schule in humanistischem Geiste ein Traumbild geworden, und der Anspruch, durch altsprachlichen Unterricht humanistische Bildung zu bewirken, eine Donquichotterie. Es kann Fächer, es kann Schulen geben, von denen eine stärkere Wirkung in dieser Weise ausgeht. Hofmannsthal hat den Plan einer humanistischen Schule entworfen, in der die alten Sprachen gegenüber den neuen stark zurücktreten 2 . Gibt es aber in der heutigen Öffentlichkeit nicht eine bemerkenswerte Resonanz der Antike? Und zwar in breiteren Kreisen als je zuvor? Man bemerkt es etwa an den Theaterzetteln, an den Titeln der Taschenbuch-Reihen, an den Zielen der Reisegesellschaften. Das Publikum, das sich da für antike Gegenstände erwärmt, scheint nicht unbedingt dasselbe zu sein, das auch seine Kinder aufs humanistische Gymnasium schicken würde. Das Interesse geht da einen anderen Weg. Man wird zweierlei unterscheiden müssen: einerseits den Rückgriff auf antike Stoffe bei Dichtern und Schriftstellern — es handelt sich vorwiegend um mythische Figuren und Themen; auf der anderen Seite die Anziehung, die das Altertum auf das Publikum ausübt. Die Mythisierung der literarischen Themen ist ein echter Prozeß in der zeitgenössischen Literaturgeschichte und kann verstanden werden als ein Fortschritt der Psychologisierung über das Naturalistische und Individuelle hinaus — ich denke an Gides Thesee oder Anouilhs Euridice; auch Joyces Ulysses bezeichnet mit seinem Titelnamen eine Überwindung des Naturalismus. Dem Griechischen kommt dabei keine eigene Bedeutung zu: der jüdische Mythos dient in Thomas Manns Josef demselben Zweck. — In dem Interesse des Publikums aber mischt sich Echtes und Unechtes, und eben das Halb- und Viertel-Echte, die Verbreiterung und Verflachung des Interesses ist ein Phänomen, das seit der Mitte 57

des vorigen Jahrhunderts den Zustand der europäischen Bildung kennzeichnet und auch die Entleerung der klassischen Tradition mit umschließt. Worauf mit alledem wir als klassische Philologen befragt sind, ist die Echtheit des Humanismus — unseres Humanismus. Nietzsche notiert sich (zur fünften, nicht ausgeführten, Unzeitgemäßen Betrachtung 3 ): „Die unwahre Begeisterung für das Altertum, in der viele Philologen leben." Das war 1874, es trifft seither nicht weniger zu. — Allerdings, als wir, seinerzeit, von der Schule fort auf der Universität uns fanden, verband uns eine vielleicht nicht unechte Begeisterung, und was uns zunächst enttäuschte, war, daß diese Begeisterung von der Wissenschaft nicht genährt wurde. Damals knüpften sich an das Studium des Altertums weitgespannte Hoffnungen, Vorstellungen von einer Erneuerung der Nation aus antikem Geiste, aus dichterischem Leben unter hohen und strengen Mustern, die Erwartung eines dritten Humanismus . . . Heute studiert man klassische Philologie nüchterner, ohne Hoffnungen, und wenn wir es positiver sagen wollen: ohne die damit verbundenen Selbsttäuschungen. Was dazwischen liegt, ist — statt eines dritten Humanismus — das dritte Reich: die Auswanderung oder moralische Zerrüttung der deutschen Intelligenz, die Dezimierung des Restes einer deutschen Elite, der Zerfall der deutschen Nation; dazu die Strapazierung gewisser Werte wie Glaube, Pflicht, Autorität, Vorbild, Gemeinwohl, Vaterland: mit dem Resultat, daß alles hin ist. Dazu kommt in Westdeutschland, daß wir unter der wirtschaftlichen Restauration, unter dem Pochen auf die „abendländischen Werte" uns am leichtesten darüber täuschen, wie trümmerhaft der geistige Raum ist, in dem wir leben. Nun ist das alles nicht unvorbereitet gekommen. Schon jener dritte Humanismus fühlte sich im Gegensatz zur herrschenden gesellschaftlichen Entwicklung. Die klarsichtigsten unter den humanistischen Schriften jener Zeit, solche die sich nicht mit der akademischen Begründung einer Ideologie befaßten, waren Kassandra-Rufe: „Deutscher Geist in Gefahr", 1932, von Ernst Robert Curtius, ein Versuch in letzter Stunde, das Deutsche zu binden an seine klassische Vergangenheit, unheimlich durch 58

sein Bewußtsein von der Krisenhaftigkeit des Augenblicks; Max Kommerells Schrift „Jugend ohne Goethe", 1931, endend mit den Sätzen: „Wer der Meinung ist, Goethe und die aus ihm sich nährende Pflege von Bildungswerten sei eine Angelegenheit der Sittenverfeinerung, die man jetzt, angesichts so ungeheurer Gefahren und Zusammenstürze, zu verleugnen habe . . . wer meint, daß niemand hinderlicher sei als Goethe dabei, daß der Deutsche sich wieder in die blutstarke und blutgierige blonde Bestie zurückverwandle, der sei erinnert: Bildung als Gipfel des Menschlichen einzubüßen, reichen einige Minuten der Zerstörung hin, die einmal verscherzte wiederzuerwecken, bedarf es der Jahrhunderte." Diese Zeugnisse geben das Resume am Ende der zwanziger Jahre. Als die Wende erscheint danach nicht der Zweite, sondern schon der Erste Weltkrieg. Tatsächlich sind die Vokabeln „Bewegung", „Aufbruch" schon die Devisen gewesen, mit denen die junge Weltkriegsgeneration sich aus der bürgerlichen Welt losriß 4 . Aber was sich da politisch und gesellschaftlich vollzog, hat sich bereits viel früher angekündigt und ist von den bewußtesten Geistern des 19. Jahrhunderts im voraus wahrgenommen worden: die Entwertung der klassischen Werte. II Wenn man heute nach Frankfurt kommt, so steht man auf dem Opernplatz vor der mächtigen, grauschwarzen Ruine des spätklassizistischen Opernhauses, seit kurzem überragt von einem Hochhaus im Rasterstil. Das Opernhaus — man sieht es heute schon viel duldsamer und fast mit etwas Wehmut an — gehörte für uns zu dem Plunder der Gründerjahre, den man schwer noch ertrug. In seinem noch unzerstörten Giebel stehen als Mittelfiguren die drei Grazien; darunter, auf dem Architrav der Vorhalle, liest man die Worte: Dem Wahren, Schönen, Guten. Es sind die klassischen Werte, der unbefragte Glaube an sie und der Glaube, daß sie eine Einheit sind. Das Wahre muß auch gut sein und das Gute auch wahr; das Gute und Wahre auch schön und das Schöne wahr und gut. Auf diesem Glauben ruhte die Weltanschauung der Klassik, die Harmonie ihrer Persönlichkeiten. 59

Was ist seither geschehen? Das eine deckt sich nicht mehr mit dem andern. Wahrheit ist nicht mehr erbaulich, eher abscheulich, vielleicht tödlich. Das Schöne, soweit es die Kunst überhaupt noch damit zu tun hat, offenbart sich uns, eher noch als im Guten und Edlen, im Bösen, Fürchterlichen. Das Gute aber ist entlarvt als ein Instinkt gewordener Herdenegoismus, als Konvention, also als Lüge, oder als Schwächung der Instinkte, also noch einmal Lüge, oder im besten Fall als Stärke, Überfluß, also ein Sonderfall des Bösen . . . Aber Sie werden fragen, was das mit dem Altertum und mit der Schätzung des Altertums zu tun hat. Ich werde mich etwas erklären müssen und dabei in den Kauf nehmen, daß ich ein wenig oberflächlich die sehr viel komplexeren Vorgänge in mehreren Hinsichten vereinfachend andeute. Zunächst im Ästhetischen. Das Problem des Humanismus ist ja weitgehend das Problem des Klassischen. Klassisch nennt sich unsere Philologie nach ihrem Gegenstand des „klassischen" Altertums, wodurch also das gesamte griechisch-römische Altertum als „klassisch" vom übrigen Altertum — dem ägyptisch-vorderasiatischen oder germanischen — unterschieden wird, von anderen alten Kulturen, Chinas oder Indiens, zu schweigen. „Klassisch" heißt soviel wie normativ. Die Norm des Klassischen ist abgelesen an der „Natur" (erlauben Sie, daß ich auch diesen Begriff unerklärt gebrauche), und zwar an einer vollendeten oder idealen Natur. Dieses VollkommenNatürliche ist im 18. Jahrhundert neu erfahren worden an der Antike, und zwar an der ganzen Antike ohne Unterschied der Epochen: für uns merkwürdigerweise meist an Werken der Spätzeit, die uns kalt oder leer pathetisch berühren. Wurde so das Altertum für unsere Klassik „klassisch", also normativ, so ist das normative Denken doch selber auch schon ein Erbteil des klassischen Altertums: es hat uns im ganzen Bereich des Ästhetischen mit Normen beliefert, die, vor allem in der spätantiken Rhetorik kanonisiert, im Grunde durchs ganze Mittelalter bis in die Neuzeit immer gültig geblieben sind. Zu diesen Normen gehören, um nur einige zu nennen, die Typen der Charaktere: der Geizhals, der Menschenfeind, der Wüstling, der gemeine Sklave, der treue Diener, der geschwätzige Alte, der edle Jüngling, die unschuldige Jungfrau — gleich er60

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baulich im Edlen wie im Gemeinen; es gehören dazu die Gattungen der Rede — Mahnrede, Preisrede, Trostrede, Streitgespräch, Selbstgespräch — mitsamt den Redefiguren: Anapher, rhetorischer Frage und Apostrophe, Priamel, Metonymie, Allegorie und Metaphorik und allen dazugehörigen Topen von der stillen Natur, den Sorgen des Alters, der Kürze des Lebens, vom Lohn der Tugend und der leichtsinnigen Jugend, mit Carpe diem und Dulce et decorum — das ganze Denken in Sprichwörtern und eingefahrenen Geleisen, hundertfach gebrauchten Formeln. Eine ganze poetische und moralische Sondersprache hat sich abgelöst, deren Benutzung eine fast krankhafte Reizbarkeit auslöst und bei den Dichtern jenes Verstummen herbeigeführt hat, von dem Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos Zeugnis gibt: „Mir war zumut wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre." 5 Noch in dem vielberufenen Allgemein-Menschlichen peinigt uns die Einengung und Verfälschung der Wirklichkeit, das Gerinnen zum Klischee, das Rhetorische, das Verwässern ins Erbauliche. Ist nicht das Altertum die Hoheschule der Langenweile? Schon der alte Goethe moquiert sich: Da spricht ein jeder sinnig mit verblümtem Wort Weitläufig aus, was ohngefähr ein jeder weiß. 6 Mit Recht aber fährt Nietzsche nach jener Bemerkung über die unwahre Begeisterung der Philologen fort: „Eigentlich überfällt uns das Altertum, wenn wir jung sind, mit einer Fülle von Trivialitäten." 7 Wir müssen uns eingestehen, daß das Altertum daran niemals Anstoß genommen hat. Man wiederholt und variiert Topen, Motive, Bilder und Gedanken, und gerade den höchsten Kunstwerken scheint eher ihre vollkommenste Erfüllung als ihre Durchbrechung zu gelingen. Selbst ein so negativer Geist wie Lukian bleibt parodistisch im Gehege dieser Normen. Wir Philologen pflegen uns mit der Erkenntnis, daß es dem Altertum nicht auf Neuheit, nicht auf Originalität ankam, über unseren Überdruß hinwegzuhelfen. Wir haben dann wenigstens für eine Weile die Neuigkeit und den Reiz dieser Erkenntnis. Aber Gelehrsamkeit ist kein Ersatz für Liebe. Wenn wir ehrlich sind, leben wir nur vom Spontanen. Was sollen 61

wir aber tun, wenn Horaz bei Philippi seinen Schild verliert, bloß weil sein griechisches Vorbild auch schon seinen Schild verloren hat? Ja seit Archilochos fängt die Schildverliererei bei den Lyrikern wahrhaft zu grassieren an 8 . / Das Altertum in der Literatur reicht bis 1800/ von da an, mit der Romantik, beginnt die Neuzeit. Mit der Romantik beginnt der Überdruß, die Langeweile, die Ironie. An die Stelle des Normativen tritt das Interessante. Das Interessante ist aber nur so lange interessant, als es neu ist. Gab es im Altertum ein Wachsen und Sich-Entwickeln des Stiles, so beginnt jetzt ein Suchen nach Stilen. Alles ist möglich. Es gibt keine Notwendigkeit, der einzelne Künstler ist seiner vollkommenen Willkür überlassen. Das „Originale" wird zum eigentlichen Wert in der Kunst, der Fortschritt zum inneren Gesetz. Seitdem haben wir eine gewaltige Akzeleration des Stilwandels erlebt, bis zu einem überstürzenden Durcheinander von individuellen Stilversuchen und zum Verlust jedes Stils. Denn Stil ist ja so etwas wie die Sicherheit des Ausdrucks, die eine ganze Gesellschaft teilt. Im Verlust des Stils zeigt sich der Nihilismus im ästhetischen Bereich. So weit kommt man — können wir Humanisten mit Recht ausrufen — wenn man einmal anfängt, das Bild des Menschen und die regelnde Norm des Natürlichen aus dem Auge zu verlieren! . . . Aber was hilft es? Wir sind alle mit hineingerissen. Und keineswegs nur als Leidende: wir wollen es selbst nicht anders. Von Malraux wird der Satz zitiert: ,.Im Grunde ist alles schöpferische Tun der Kampf einer kräftigen Form gegen nachgemachte Formen." Wer wollte sich diesem Satz entziehen? Der Primat des Schöpferischen, der für die ganze Moderne gilt, hängt wohl mit ihrem Vitalismus oder Naturalismus — wie immer man die Hochschätzung des Natürlichen nennen will — zusammen. Wieweit diese selber ein humanistisches Erbteil ist, mag hier ungefragt bleiben. Innerhalb des Humanismus aber ist dem Verlangen nach dem Schöpferischen zuerst die römische Antike zum Opfer gefallen. „Wir müssen im Altertum selbst scheiden", schreibt Nietzsche; „indem wir seine einzig produktive Zeit kennenlernen, verurteilen wir auch die ganze alexandrinisch-romanische Kultur. Aber zu62

gleich verurteilen wir unsere ganze Stellung zum Altertum und unsere Philologie zugleich." 9 Was sich mit dieser Ablehnung anzeigte, war die Hinwendung der Altertumswissenschaft zum älteren Griechentum. Seitdem hat das „Klassische" einen neuen, fordernden Rang erhalten, in Burckhardts Kulturgeschichte, im Kreis um Stefan George, und in der Philologie bis hin zu jener von Werner Jaeger veranstalteten Naumburger Tagung, die sich 1930 um „das Problem des Klassischen und die Antike" versammelte. 10 Warum hat die Beschwörung des Klassischen, in all seiner Originalität, doch nichts geholfen? Warum ist es bei Nietzsches Bemerkung geblieben: „Wirkung auf Nicht-Philologen gleich Null"? 1 1 Mit der klassischen griechischen Kunst des 5. Jahrhunderts hat es eine besondere Bewandtnis. Der Mensch als Organismus, als Einheit und ideale Gestalt war eine Entdeckung. Diese Entdeckung war das Resultat des archaischen, unbändigen Erkenntnisdranges, des Verlangens nach Wahrheit. Die Erkenntnis der richtigen Maßverhältnisse, des Schönen und Gesetzmäßigen, zuletzt des natürlichen Grundes alles Seienden, die Welt als Kosmos: im älteren Griechentum war das alles auf der Seite des Kommenden, erst zu Entdeckenden; die Klassik ging da zusammen mit dem Fortschritt der Wissenschaft, mit der Aufklärung. Im gewissen Sinne gilt das auch noch von der Wiederholung der griechischen Klassik durch die Römer: die Möglichkeiten des Ausdrucks, die die griechischen Vorbilder ihnen aufschlössen, bedeuteten Entdeckungen ganzer menschlicher Bereiche. Im höchsten Maße Entdeckungen waren die Werke des Altertums für das Quattrocento und Cinquecento, so daß von hier der große Strom der neuzeitlichen Aufklärung und Wissenschaft ausgegangen ist. Und wie schließlich die Wiederentdeckung der Griechen, die unsere deutsche Klassik heraufgeführt hat, zugleich eine bestürzend-beglükkende Entdeckung der Natur und des Menschen gewesen ist, davon geben die Schriften der Zeit zum Teil überschwengliches Zeugnis. Immer war da das Klassische das Befreiende und die Sache der Zukunft. Aber heute? „Der schöne Mensch" heißt das vortreffliche Bilderbuch des Archäologen Bulle. Aber der schöne Mensch ist 63

ein winziger Ausschnitt des Menschen; um ihn zu sehen, muß man ungeheure Bereiche zudecken, die Armut, die Krankheit, die Angst, das Brutale, das Tierische, das Gemeine, ganze gesellschaftliche Schichten muß man ignorieren, ganze Geschichtsereignisse in den Abgrund werfen. Das Mittel der Verdekkung ist: Verklärung. Damit hat durchaus das Altertum selber angefangen: Verklärung des Todes, Verklärung des Geschlechtlichen, Verklärung der Unterdrückung. Wie hat das Altertum es verstanden, das Bild einer Stadt von ein paar tausend freien Bürgern unserer Vorstellung einzuprägen! Wie ist unser Begriff vom Menschlichen von diesem soziologischen Ausschnitt abhängig. Daß Hunderttausende darumherum lebten in menschenunwürdigem Dasein, daran dürfen wir nicht denken. Und wie der schöne Mensch, so ist auch die schöne Welt eine Unwahrheit geworden. Was der Naturalismus begann, etwa mit Zolas „Germinal", vollendet sich in der „Blechtrommel". Wir erleiden da den Zusammenbruch einer Lüge, der humanistischen Lüge von der Identität des Wahren, Schönen und Guten. Wir rufen beschwörend „Bild des Menschen", „Natur" — aber was hilft es, wenn man nicht mehr daran glaubt, nicht mehr daran glauben kann? Das Klassische, einst eine Entdeckung und Befreiung des Menschlichen, ist heute auf der Seite des Vergangenen. Und mit Grund: alle Entdeckungen seit 150 Jahren: der Realismus, die Geschichte, die Naturwissenschaft, die Psychologie sind gegen das klassische Weltbild gerichtet — von Demokratie und Sozialismus zu schweigen. Für den wahrheitsuchenden Geist der modernen Aufklärung ist das Denken im Normativen keine Entdeckung, sondern Fessel: rückgewandt, epigonal, romantisch. Natur war im Altertum — und wiederum bis zum 18. Jahrhundert — göttliche Ordnung, und es bleibt sich hier gleich, ob griechischer Kosmos oder christliche Schöpfung. Sie war göttlich durch ihre Beziehung auf den Menschen, oder durch die Teilhabe der Vernunft des Menschen an der Vernunft der Welt. Das moderne Weltbild — nein, selbst das Wort „Weltbild" trifft nicht mehr zu; denn die moderne Physik macht sich kein Bild mehr. Die Natur der Naturwissenschaft ist ohne Beziehung auf den Menschen, auf seine Organe, sie ist nicht Farbe, nicht 64

Körper, nicht Raum und Zeit, nicht endlich, nicht unendlich, jenseits jeder Anschaulichkeit — und es ist etwas sehr Verschiedenes, wenn das Ding an sich oder wenn das Angeschaute selber diesen Kategorien entrückt wird. Doch nicht nur kein Bild: die Physik macht sich auch keinen Begriff mehr; statt des Logos bietet sich ihr eine unvollziehbare Formel . . . Der Verlust der Natur begann mit der Mechanisierung der Naturerscheinungen. Die Menschen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erlebten es, teils mit Neugier, teils mit Bangen, wie gleichzeitig mit der Ersetzung der natürlichen Zivilisationsmittel durch die Maschine auch die Naturerscheinungen zu mechanischen Phänomenen wurden. So wurde ihnen die Natur zugleich von. außen und von innen genommen. Aber noch glaubte der Naturwissenschaftler damals, einer wirklichen, äußeren, substanziellen Welt konkreter Körper gegenüberzustehen, einem den Gesetzen der Gravitation und der Erhaltung der Kraft gehorchenden und meßbaren Kosmos. Was uns heute auch von diesem Weltbild trennt, ist die Erkenntnis, „daß die Struktur des Kosmos unter Umständen derart sein könnte, daß unsere Denkprozesse ihr nicht hinreichend entsprechen, um es überhaupt zu ermöglichen, darüber nachzudenken... Die Welt verschwindet und entzieht sich uns, indem sie sinnlos wird . . . Selbst der Begriff der Existenz wird sinnlos. Es ist buchstäblich wahr, daß die einzig mögliche Reaktion auf diese Einsicht das Schweigen ist." 1 2 Gegenüber solcher Physik ist jede Kosmologie — und alle griechische Philosophie war letzten Endes Kosmologie — nichts als ein Mythologem. — Nun ist allerdings mit dieser physikalischen Natur unser Gefühl noch nicht mitgekommen, noch ist der Mond das Licht unserer Nächte, das Blau des Himmels keine Trübung vor dem Schwarz des Nichts; der Mensch ist, gegenüber seiner wissenschaftlichen Welt, gleichsam veraltet. Aber die Künstler fühlen es voraus und finden in der natürlichen Natur keinen möglichen Gegenstand mehr. Auch aus der dichterischen Sprache ist die Vernunft gewichen, sie dichtet mit den Trümmern der Sprache, sie dichtet den Verlust der vernünftigen Welt. Denn wir glauben nicht mehr an die Vernunft, an den Logos in der Welt. Und der Mensch, inmitten der alten Natur eine Seele, die tätig und leidend, genießend und erfahrend in der Welt war — die 65

Seele ist zu einem Prozeß des Körperlichen geworden, aufgelöst in biologische und soziale Funktionen. Ihre Gefühle, Gesinnungen, Taten, ihre Tugenden und Laster sind nicht mehr dasselbe, wenn sie aus Vererbung und Umwelt, aus dem Kollektiven und dem Unbewußten resultieren. Sie zeigen sich uns in ihrer kausalen Bedingtheit und erscheinen, wo sie sich noch naiv präsentieren, als klassische Relikte. Das bedeutet, daß wir im Grunde nicht mehr an die Person glauben — dieses Kernstück des Humanismus. Denn die alte Seele, die griechische wie die christliche, war eine Einheit, ein Ganzes und ein Wesen, das seine geistige Gestalt hatte; und der Humanismus glaubt, ob zeitlich oder ewig, an die Autonomie dieser Gestalt. Die Person erfährt ihre höchsten Prägungen durch Hingabe an etwas Überpersönliches: als Weiser, als Heiliger, als Genie oder als Held; als Personen und in dieser Hingabe haben sie ihr Schicksal. Aber wenn dieses Uberpersönliche aufgehört hat, Norm zu sein, wird Person und Schicksal sinnlos, verliert seine Notwendigkeit 13 . Warum geht Antigone unter? Warum muß Werther leiden? Wegen der unterirdischen Götter, wird Sophokles sagen; wegen der Unbedingtheit der Liebe, Goethe. Aber bei einer sozialen, „kontaktfreudigen" Erziehung, bei richtigen gesellschaftlichen Verhältnissen wäre, nach dem radikalen Soziologismus, wohl beides zu vermeiden gewesen? Aus der sophokleischen Elektra ist bei Hofmansthal ein psychologischer Fall geworden, der Fall einer durch Kindheitserlebnisse bedingten, pathologischen Virginität. Die Notwendigkeit der Person kommt für uns aus ihren Bedingungen, sozusagen von unten, nicht von oben. Diese Veränderungen sind keine Sache der Literatur. Wir bemerken es an dem Mißtrauen, dem der Held und Heldenverehrung begegnen. Was hätte ein früheres Zeitalter aus Claus Stauffenberg gemacht! Aber wie fremd klingt den Jungen das Wort, mit dem er starb: Es lebe unser heiliges Deutschland! Warum heilig? Und war dies Heilige der Grund seiner Tat? — Die Literatur aber verzeichnet die Veränderung und Auflösung der Person seit langem im Roman. Der klassische Romanheld hat seinen Charakter, seine Eigenschaften; selbst noch als Leidender bestimmt er mit seinem Charakter sein Schicksal. Aber man überlegt sich schon, in welchem Sinne man 66

noch zum Beispiel Oblomow einen Helden nennen kann: der weder handelt noch eigentlich leidet, er hat allen Kontakt mit der Wirklichkeit aufgegeben, das Leben scheint zu schwer, als daß das Ich sich darin zurechtfinden könnte. Die Fabel — dies Unveränderlichste klassischer Poesie — wird unglaubwürdig, man will keine Geschichten erzählt bekommen, keine Komödien und Tragödien, sondern Wahrheit. Und Wahrheit scheint nur in der Psychologie zu sein. Bei Proust ist der Lebenslauf etwas von außen Unerkennbares geworden, das nur in den jeweils gegenwärtigen inneren Aspekten der Seele sich liditet. Das Ich ist nur in diesen partiellen erinnerten Aspekten, nie als ein Ganzes da, und auch am Ende schließt es sich nicht zur Einheit eines erkennbaren Charakters zusammen, es sei denn der einer essentiellen Passivität. Vollends bei Joyce ist der Roman das labyrinthische Gemälde der Diskontinuität der Seele mit allen ihren sukzessiven und simultanen Eindrücken, Erfahrungen, Empfindungen, Erinnerungen geworden, und die Person besteht so sehr nur aus diesen, daß sie bereits wieder die Welt ist: nichts Eigenes, keine Eigenschaft ist ihr geblieben. Bei dem Romanhelden Kafkas wird mit dem Buchstaben K keine Verschlüsselung einer Persönlichkeit vorgenommen; fragte man nach dem Charakter des Helden, so stieße man auf einen Mann ohne Eigenschaften 14 . Was vom Lebenslauf gilt, gilt nun aber auch von der Geschichte. Wie die Biographie erkennbar scheint als das Schicksal eines Charakters, so wird die Geschichte erkennbar durch ihren Sinn. Zum Humanismus gehört der Glaube an die Vernunft in der Geschichte, besonders an die Sendung Griechenlands und Roms. Selbst zerstörende Vorgänge wie Griechenlands Unterwerfung durch Alexander erscheinen unter dem humanistischen Sendungsgedanken sinnvoll. Aber wie wären die Dinge verlaufen, wenn bei Salamis die persische Flotte gesiegt hätte? Oder Hannibal in Italien? Hätte es mehr dazu gebraucht als etwas Einsicht bei der Karthagischen Regierung? Was wäre aus der Äneis geworden, hätte bei Aktium Antonius gesiegt? Sicher sind das unwissenschaftliche Fragen; und doch ist es die „kardinale Frage, wodurch alles zu einem ironischen Dinge wird" 15. Catilina auf dem römischen Kaiserthron — aber zweifeln wir, daß nicht auch er seinen Vergil gefunden hätte? Caesar

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oder Catilina, ist nicht einer so gut wie der andere? Aber es ist durch vier Catilinarische Reden, verankert im Lehrplan des Gymnasiums, dafür gesorgt, daß wir nicht zu denken anfangen. Bedenken wir die Geschichte, zeigt sie sich als grauser Zufall und Aberwitz. Überall die Fülle des Fragmentarischen, auf der anderen Seite der Triumph des Sinnlosen. Noch die positivistischste Geschichtsschreibung wird zwangsläufig zur Feier des Positiven 16 . Wie das einzelne Leben, so ist uns auch das Leben in der Geschichte auf die Sinnerfüllung im Augenblick angewiesen. Keine Entwicklung winkt uns; die Welt, in der es die humanistischen Werte und vielleicht selbst die Erinnerung an sie nicht geben wird, die Welt eines globalen Ausgleichs der Erdvölker, ist im Werden, auf die Dauerhaftigkeit der großen Werke ist kein Verlaß, und jeder Regierungssekretär geschichtlich wirksamer als sie. Lassen Sie mich zusammenfassen. Die klassische Philologie befindet sich in anderer Weise als andere Geisteswissenschaften in einer Krise, da sie ihrem Wesen nach an eine Wertschätzung des Altertums gebunden ist, die einer vergangenen Epoche angehört, jenem zweiten Humanismus der deutschen Klassik. Ihre klassischen Werte sind erschüttert worden durch die historische Arbeit unserer Wissenschaft selber, durch die Historisierung und Relativierung der absoluten Ideen. Wie überlebt die klassischen Werte sind, konnte fast in allen Bereichen bemerkt werden: in der Kunst, in der Naturanschauung, im Bereich der menschlichen Person und der Geschichte. Die Ethik habe ich nur gestreift, obwohl hier die Krise am fühlbarsten ist. Aber die antike Ethik hatte schon im Christentum ihre Spätphase erreicht, sie war etwas Überlebtes und Widerlegtes in dem Augenblick, als Augustin erkannte: weder die Naturgüter noch die Tugend können uns selig machen . . . 1 7 Was heute in die Krise gezogen ist, ist die christliche Ethik. III Man kann sich fragen, ob mit dem Gesagten der Begriff des Humanismus nicht zu eng verstanden worden ist und ob er nicht heute längst von dem Idealismus der Zeit Humboldts sich entfernt hat. 63

Was immer wir unter dem modernen Humanismus verstehen wollen und wie immer wir seine Welt- und Lebensanschauung beschreiben würden, seine gegenwärtige innere wie äußere Situation scheint mir doch bestimmt durch seine Entstehung in der Romantik. Wir sind zwar seit Goethe gewohnt, die Klassik, aus der der Humanismus hervorgegangen ist, der Romantik entgegenzusetzen; aber geschichtlich genommen ist die deutsche Klassik nur eine Episode, eine höchst individuelle Möglichkeit, ein an die Personen Goethes und Schillers gebundener und fast auf sie beschränkter Sonderfall der Romantik. Gemeinsam mit der Romantik ist ihr die Auffassung des Altertums als eines von uns getrennten Zeitalters der Naivität und Vollkommenheit, an dessen Einfachheit und Größe die gekünstelte und engherzige Gegenwart sich erneuern und gesunden soll. Erst durch die Erfahrung der Französischen Revolution wird diese Bewegung das, was wir im besonderen Sinne romantisch nennen: ein Leiden an der Wirklichkeit, die sich nicht nach Ideen wandeln ließ, eine Flucht aus der fremdgewordenen Gegenwart in die Vergangenheit. Noch einmal gesagt: es war eine höchst persönliche Möglichkeit glücklicher Naturen, nicht mit Ressentiment zu reagieren, „weil nicht alle Blütenträume reiften". Aber ihre tätig-gegenwärtige, ihre antike und „klassische Lebenshaltung war nicht das, was sich vom Klassizismus forterbte; dieser geriet vielmehr unter der Industrialisierung und Kommerzialisierung der Verhältnisse in die fortschreitende Entfremdung des Lebens von sich selber und wurde, wie die Romantik im Ganzen, zur reaktionären Tendenz des Jahrhunderts, nur ohne deren aktivistische und politische Impulse. Überall steht er, was doch nicht zu seinem notwendigen Wesen gehörte, im Gegensatz zum Naturalismus, der seit 1830 in Europa die beherrschende, den Geist der Aufklärung fortsetzende Bewegung wird und alle fortschrittlichen Kräfte an sich zieht. Nur nicht in Deutschland. Im Bereich der Kunst bleibt die realistische Bewegung im Bann des Klassizismus und wird epigonal. Der Widerstand gegen die Aufklärung ist bei uns immer besonders stark und populär gewesen und verbindet sich jetzt mit dem bürgerlichen Widerstand gegen Demokratie und Sozialismus. Mit welchem Gehege ist uns nicht Lessing, 69

ja selbst Schiller abgesichert worden, damit ihre aufgeklärten Ideen nicht heraussprangen! Mit welchem Odium der Torheit ist Darwins Entwicklungslehre uns vermittelt worden, von Freud ganz zu schweigen. Mit welcher dümpfelnden Genugtuung ist dem nach Aufklärung lechzenden Sekundaner zitiert worden: Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumen läßt — als ob Hamlet den lieben Gott gemeint hätte. So wurden Klassiker und klassisches Altertum, ihrer sprengenden Kräfte entledigt, zumal in der humanistischen Schule des Bürgertums zum Vehikel der konservativen Erziehung. Dazu kam, seit der Reichsgründung, das Bedürfnis, auch den Geist des neuen Nationalstaates aus der Geschichte sprechen zu lassen. Welche Befriedigung, wenn schon Homer sagte: Nichts Gutes ist die Demokratie — Ein Mann soll regieren! Man muß verstehen, wie unter solchen Bedingungen das ganze klassische Weltbild mit seinen Helden und Vaterländern, Persönlichkeiten und Volk, mit seinen geflügelten Worten von Pflicht und Neigung und Immer strebend sich Bemühn und, über allem, einer lenkenden Vernunft und Weltordnung, die im Staat ihre gottgewollte Wirklichkeit hervorgebracht hat, zum verbrämenden Denkschema wurde, das unausgesprochen dazu diente, den Einzelnen ins positiv Gegebene einzufügen. Aber auch die darüber gebauten Ideen: vor» der Wissenschaft als Selbstzweck, der Freiheit des Willens, der interesselosen Schönheit, der selbstlosen Moral, der ganze offizielle Antimaterialismus dienten demselben Zweck und waren im innersten falsch. Positivismus und Idealismus gingen im Geist der Gründerzeit eine nicht geahnte Ehe ein. Dabei war die Gesellschaft, die sich hier mit humanistischen Ideen umstellte, aus bürgerlichen Verhältnissen zur Schule und Universität drängend und wieder zu Erfolg in der kommerziellen und Beamtenwelt zurückkehrend, von den Gegenständen ihrer Bildung so weit entfernt wie nur möglich. Antigone und Sokrates, Helena und Faust, das ganze antike Bildungslappenzeug wurde wie Philistermützen halb stolz, halb amüsiert getragen, während der eigentliche Ernst des Lebens von den bürgerlichen Geschäften, der so viel realeren „Jetztzeit" gefordert wurde: Gaudeamus igitur . . . 70

Dem Humanismus unseres Jahrhunderts hängt diese ganze Vergangenheit an: seine Verquickung mit den reaktionären Tendenzen unserer neueren Geschichte und sein Ursprung aus der Romantik. Romantisch vor allem ist seine Furcht vor der Gegenwart, sein Leiden an der Technik, sein Widerstand gegen die Nivellierung. Aber auch die Entfremdung und Bedrängnis, der er heute in der Gesellschaft ausgesetzt ist, liegt weniger an der Fremdheit der heraufkommenden Arbeiterklasse — wie oft haben heraufkommende Klassen sich die Bildungsgüter der herrschenden angeeignet! — als an dieser seiner Geschichte im 19. Jahrhundert, die ihn als allgemeine Volksbildung dem Geschmack und Urteil der bürgerlichen Masse ausgesetzt hat. Voraussichtig spricht 1872 Jacob Burckhardt von dem Mißverhältnis zwischen dem Gymnasium und der späteren geistigen Richtung seiner Zöglinge: „welches wohl einmal mit einer Katastrophe endigen könnte" 18. Hier wäre nun freilich überhaupt von Jacob Burckhardt zu reden, als dem im Grunde einzigen, in dem sich der alte Humanismus mit dem neuen historischen Realismus innerlich durchdrang. Es hätte sehr wohl etwas Allgemeines und Dauerndes daraus werden können; aber es ist eine Tatsache, daß Burckhardt auf den modernen Humanismus — mit einer gleich noch zu benennenden Einschränkung — keine Wirkung getan hat. Zumal in der Schule hat sich, aus naheliegenden pädagogischen Gründen, der alte verklärende Idealismus sehr viel länger gehalten als in der Wissenschaft, der historische Realismus drang allenfalls in der Wilamowitzschen Färbung ein, doch aus dem Dilemma ist die Schule nie recht herausgekommen. Die Brüchigkeit des klassischen Humanismus ist im ganzen Umfang zuerst Nietzsche, als klassischem Philologen, bewußt geworden 1 9 . Aber damit entwertet sich ihm nicht das Altertum: der Vergleich der modernen Bildung mit ihrem klassischen Vorbild fällt fürchterlich zu Ungunsten der Moderne aus! Gegen ihre flach aufgeklärte, dekorative Kultur, das Barbarentum ihrer historischen Bildung, ihre Selbstbewunderung für den Fortschritt der Industrie und die politische Durchbildung der Masse hält er das „furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen" 20 — noch nie war so vom Klassischen geredet 71

worden! Am älteren Griechentum zieht er, aus dem Grunde der Heiterkeit und des Maßes, die starken und gefährlichen Züge hervor: das Leidenschaftliche, Übermäßige, Widersprüchliche, die vitale Sensibilität, die Lust- und Leidensfähigkeit, den Ernst des Erkennens, Pessimismus als Ausdruck der Fülle, den Blick in die Abgründe des Daseins, — das Ganze getauft auf den Namen des Dionysos und gipfelnd in dem Satz, daß „nur als ästhetisches Phänomen das Dasein gerechtfertigt" sei 2 1 . Damit verschwinden zwei Eigensdiaften des Humanistisch-Klassischen: das Gute und das Vernünftige. Es bleiben dagegen: das Schöne und das Wahre; aber nun nicht mehr in täuschender Harmonie, sondern im produktivsten Gegensatz: „Wieviel mußte dies Volk leiden, um so schön werden zu können!" Die edle Einfalt und stille Größe des Altertums zeigt sich über dem Grunde des Schrecklichen. Diesem neuen, diesem wahren Altertum gilt jetzt die Erkenntnis des Philologen. An seiner Gesundheit soll das kränkelnde Jahrhundert erzogen weiden. „Es wird irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben als Erziehung."22 Es ist schwer, Nietzsche heute gerecht zu beurteilen. Keiner hat die Verzweiflung an der Philologie so erlitten wie er. Seine Kritik des Humanismus trifft noch immer. Seine Anschauung von den Griechen, zu der er viel von Burckhardt gelernt hat, ist eine weitaus radikalere Absage an den idealistischen Klassizismus als die von Wilamowitz. O b die Trennung des Menschlichen vom Humanen zu halten ist — wir werden es heute sehr -bezweifeln. Die Verehrung des großen Einzelnen, die Nietzsche aus dem klassischen Humanismus übernommen und isoliert hat, ist suspekt geworden. Wir sehen deutlicher die Zusammenhänge mit der Neuromantik, seitdem George und sein Kreis mit ins Bild getreten sind, das Bild einer „konservativen Revolution" als der fundamentalen Kritik an der gesamten demokratischen Entwicklung der Neuzeit. Aber wo sind die Grenzen der geschichtlichen Größe zwischen Alexander, Caesar, Napoleon, Hitler? Es gibt keinen Zweifel, daß Nietzsche über die letztere Erscheinung mit vollkommener Sicherheit geurteilt hätte und jede Berufung auf ihn von dieser Seite eine Insipidität war. Aber er hat uns nicht, wie es doch Burckhardt versuchte, mit Maßstäben versehen. Und während sein Degout 72

am Pöbel ihn zu der leidenschaftlichsten Distanzierung von „allen Antisemiten" bestimmte, bleibt seine Lehre für uns mit der Erfahrung der Judenvernichtung konfrontiert; der Herrenmensch als Programm ist zum Irrsinn geworden. Nietzsches Wirkung gehört selber in die Geschichte des scheiternden Humanismus. Soviel nun vom neunzehnten Jahrhundert für uns am Humanismus hängt, so hängt doch an ihm nicht der Humanismus. Man könnte eher versucht sein, seine Unvergänglichkeit aus der unerschöpflichen Möglichkeit der Auslegungen abzuleiten, in denen das Altertum seine Renaissancen erfuhr und bewirkte. Ein anderes Altertum war es, welches dem italienischen Humanismus aufging; noch ein anderes ist in diesem wie in allen späteren Formen eher latent geblieben unter der vorherrschenden Macht des Piatonismus: ich meine den ungeheuren Anlauf der griechischen Aufklärung, der in der Zeit von kaum zwei Jahrhunderten eine anthropologische Entwicklung von Jahrtausenden vorwegnahm: die Lösung vom mythischen Denken, das Wagnis der Philosophie, Ersetzung des Königtums durch Bildung von Gemeinwesen, die tragische Religiosität, Einsicht in die technische Natur des Menschen, in das Problematische der Sprache und des Benennens, in die Bedingtheit der Werte und der Erkenntnis: der Mensch das Maß aller Dinge — alles dies durchlaufen bis an die Grenzen des Nihilismus; reifstes und letztes Produkt Thukydides — von Piaton hartnäckig ignoriert und in der Geschichte des griechischen Geistes ein großartiges Umsonst. Dieses ältere Griechentum, „lief es zu schnell seines Wegs?" Schon der Hellenismus gibt auf, das kühn Begonnene verläuft in Skeptizismus und Epikureismus und führt vollends von der Spätantike an nur noch in der Tradition ein häretisches Leben. Jener ältere Geist der unbefangensten Weltkenntnis weicht dem Bedürfnis nach universalen Systemen, mit denen der Einzelne in einer entfremdeten politischen Welt sein privates Dasein bestreitet. Ihr philosophischer Monotheismus setzt sich, harmonisierend, durch gegen den paradoxen Ernst und Tiefsinn des polytheistischen Mythus, der von nun an nur noch als vulgäre Gewohnheit im Kult, andererseits in der Dichtung als ein Sonderreich der Phantasie fortlebt. 73

Eine solche Anschauung vom Altertum konvergiert in manchen Zügen mit Tendenzen, die das Selbstverständnis unseres Jahrhunderts kennzeichnen. Ihre Motive liegen wiederum bei Nietzsche; doch sind sie schon bei ihm selber — wie sein ganzes Interesse am Altertum — schließlich zurückgetreten vor einer allgemeineren geschichtlichen und anthropologischen Betrachtungsweise, die das Problem des Humanismus weit hinter sich gelassen hat. IV Zum Schluß noch einen Blick auf die Lösungen, die seither innerhalb der Wissenschaft entwickelt worden sind. Dabei muß ich vom Ausland absehen — welche Rolle zum Beispiel der Humanismus Gilbert Murrays oder das neuere Buch von Kitto über die Griechen im englischen Bildungsbewußtsein spielt, ist von außen schwer zu erkennen. In Deutschland war die letzte im Ganzen durchdachte Konzeption die von Werner Jaeger, die auch am bewußtesten, in einer Art Konkurrenz mit dem Georgekreis, auf eine Erneuerung des Humanismus zielte. Jaeger ging vom Begriff der Bildung aus. Bildung wird da einerseits im Sinn der deutschen Klassik verstanden als die Erziehung des Menschen nach seiner eigentlichen Form, nach der Idee des Menschen, wie sie uns aus dem griechischen Altertum vor Augen steht. Andererseits ist Bildung, was sie seit der Erweckung des historischen Bewußtseins gewesen ist: das bewußte Ergreifen unserer eigenen Geistesgeschichte. Beides wird identisch, sofern die abendländische Geschichte als eine Kette von Erneuerungen der griechischen Bildungsidee betrachtet wird. Die klassische Philologie ist die „Priesterin und Wächterin" dieser Idee, ohne die wir als abendländische Menschen uns selbst verlieren würden 2 3 . So fällt der Philologie selber die Rolle der Erzieherin zu, und zwar in umfassender, die Zukunft der ganzen Nation entscheidender Weise. Sie trat denn auch mit Anspruch, bekennerisch und — nach Nietzsches Vorbild — zeitkritisch auf. Begreiflich, daß eine Ideologie, die so hohe Würden zu vergeben hatte, vor allem von den Erziehern und Lehrern der alten Sprachen damals gern ergriffen wurde. Zweierlei machte die Schwäche der Konzeption aus. Der Begriff von Bildung, wie er hier entwickelt wurde, war wesentlich, 74

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wenn auch im weitesten Sinn, ein politischer und wurde nachdrücklich gegen „alles bloß Ästhetische" abgegrenzt 24 . Das war begreiflich in einer Zeit, die aus der liberalen Unverbindlichkeit der Bildung herauszukommen und den Punkt zu finden suchte, wo die Bildungsinhalte für unser Leben wieder relevant wurden. Das Politische erschien als das Totale, im umfassenderen Sinne „Menschliche". Nun war ja die totale Bezogenheit des griechischen Lebens auf den Polis-Staat ein Hauptpunkt Burckhardts gewesen — allerdings ohne daß gerade dieser unbedingt unserer Nachahmung empfohlen wurde. Wie illusionslos schaute Burckhardt auf „diese Staatsknechtschaft des Individuums"! („Menschenrechte gibt es im Altertum überhaupt nicht." 25 ) Aber jetzt wird mit diesem Burckhardtschen Griechentum humanistischer Ernst gemacht! . . . Man wird Jaeger nicht für den Überschwang verantwortlich finden, mit dem sich einen Augenblick lang der „dritte Humanismus" mit dem „dritten Reich" verwechselte 26 . Aber die Fixierung aufs Politische wirkte sich doch auch schon in der Interpretation der Texte, besonders der dichterischen, als eine Einseitigkeit aus. War nicht der Humboldtsche Begriff von Bildimg letztlich doch der weitere, kühnere, sprengendere? Gerade insofern er das Individuum nicht primär auf den Staat bezog? Das Griechentum nahm jetzt selber etwas von dem Angestrengten an, das die meisten Äußerungen des neuen Humanismus an sich haben. Und das ist das zweite: Wie sehr auch in der humanistischen Erneuerung dem „Erlebnis" der Vorrang vor der „Tradition" gegeben wird, im Grunde ist an die Stelle des Glaubens an die antiken Werte ein „Kulturgefühl" getreten, das sich geschichtlich begründet. Das Bewußtsein der uns zugehörigen Bildungsform muß uns die Idee der „Erziehung" legitimieren — wie anders klang das Wort „Erziehung" in Nietzsches Unzeitgemäßer! Es fehlt der neuen Weltanschauung nicht an Verantwortung, Ernst, Entschlossenheit; aber die Erkenntnis, daß wir die Griechen nötig haben, stiftet noch keine Liebe. Es bleibt leider bei der Feststellung von Ernst R. Curtius: „Die antike Kultur ist heute so schön wie sie immer war und immer sein wird, aber sie ist nicht mehr ,mit Libido besetzt', wie die Psychologen sagen." 27. Alle Kräfte der Liebe jedoch werden aufgerufen in Walter F. Ottos Wiederbeschwörung der „Götter Griechenlands". War 75

Jaegers Schlüsselwort diePaideia, so ist das seinige der Mythos. Im Hintergrund steht auch hier Nietzsches Kritik des Christentums und Zarathustras „Gott ist tot". Das Wort schien das Sein des Christengottes in einer Weise zu negieren, die das Sein der alten Götter neuer Erfahrung zugänglich machte. Es handelt sich dabei für Otto nicht um bloße Wesensbestimmung von Ideen. Die Götter sind wirklich: in den Göttern, im Mythos wie im Kult, ja zuletzt im gesamten griechischen Leben ist das ewig unerforschte Sein ins Dasein getreten, und es gilt nur, schauend dieser Gestalt des Seins wieder ansichtig zu werden. Humanismus — das wäre: wieder offen werden für die Wirklichkeit der Götter. Radikal wird die Denkart des modernen Menschen angefochten, das Technische, das Rationale, das Soziale, das Psychologische. Von Nietzsche inspiriert ist auch die besondere Aufmerksamkeit für das Dionysische. Und wiederum wird mit etwas, das bei Nietzsche spontaner Anschauung entsprang, nun philologisch Ernst gemacht: das Dionysische, das die Philologie seinem Erfinder nicht hatte abnehmen wollen, wird jetzt mit vollkommener religionsgeschichtlicher Sachkenntnis nachgewiesen. Wir haben Erhebliches daraus für das Wesen des Mythischen gelernt. Aber der Schritt von der Gottesleugnung zur Gottesverkündigung, von Nietzsche in den letzten Aufzeichnungen hier und da wie ein Mysterium angedeutet und erst im Übergang zum Wahnsinn vollzogen — ist der Schritt philosophisch wiederholbar? M a n muß Otto gekannt haben, um zu verstehen, wie innerlich wahr dieses Sacrificium intellectus bei ihm gewesen ist. Was allerdings dabei mitgeopfert wurde, war der Zusammenhang mit der Zeit: ein pauschales Opfer der Modernität. Er sah die Gegenwart wie von einem hohen, fernen Gipfel. Indessen liegen beide Versuche, der mythische wie der pädagogische, heute schon hinter uns. Den Glauben an die Wiederbringlichkeit des Hellenischen, auf dem noch einmal der Dritte Humanismus beruhte, teilt niemand mehr. Die Jüngeren sind empfindlich geworden gegen den Predigerton in der Philologie, die Bekenntnisse der Älteren klingen ihnen fremd, den Nachweis des Sinnes scheinen sie nicht nötig zu haben. Ist es, weil alle die hochtrabenden Sinngebungen und Erwartungen in den 76

Katastrophen der dreißiger Jahre gescheitert sind? Wer Lehrer wird, hilft sich durch, wie es eben kommt. In der Wissenschaft tut man sein Geschäft mit Sachlichkeit und Methodenfreude, ein neuer Positivismus zweiten Grades, der das Geistesgeschichtliche in sich aufgenommen hat, herrscht vor, der allgemeine Geist der Wissenschaftlichkeit gibt auch jeder partiellen Forschung ihr Recht, und ihre Leistungen sprechen für sie. Es ist eine Philologie, die sich wieder wohlfühlt . . . In der Tat, was Sie nicht dort finden werden, ist der Zweifel an der Philologie. Und wer wollte den Zweifel, oder gar die Verzweiflung — empfehlen? V Was sollen wir tun? Müssen wir zu einer Lösung kommen? Sind wir sicher, daß im Weiterbestehen der klassischen Studien das Heil liegt? Nicht nur unser Heil, sondern das der andern? Ich würde nicht widersprechen, wenn nach all dem Gesagten einer ungeduldig entgegnete: Das stimmt ja nicht! Vor den Tempeln von Pästum, vor dem Philoktet, vor Hektors Abschied und Horazens Vides ut alta bin ich so ergriffen wie alle meine Vorgänger; nicht das Klassische ist abgebraucht, abgebraucht seid ihr selber, und das einzige, das euch wiederherstellen kann, ist — „der Anblick des Vollkommenen"! Hüten wir uns trotzdem, unsere Argumente im Epilog wieder zurückzunehmen. Es gehört zu unserer Situation, daß gerade das Vollkommene sich uns entzieht. Besser, wir sagen uns, was wir nicht tun sollen. Wir sollen uns nicht betrügen: nicht über uns und nicht über die Alten. Nicht über die Wahrheit unserer Begeisterung, unser Berufsinteresse, die Gewöhnung an unsere Beschäftigungen. Und nicht über das Altertum: seine Banalitäten, seine Antiquiertheiten, seine Irrtümer. Das heißt, wir sollen nicht idealisieren. Wir dürfen das Altertum nicht auf eine Idee abziehen, nicht auf seine pädagogische Brauchbarkeit verdünnen. Das heißt, wir sollen uns keine Ideologie machen. M a n muß wohl erkennen, daß der Historismus in der Wissenschaft uns weiter aufgegeben bleibt. Er hat das klassische Altertum in das Ganze der Geschichte eingeschmolzen. Anstatt es künstlich darin zu isolieren, müssen wir seine Klassizität vielmehr ganz darin untergehen lassen, wenn es die Chance 77

wiederholter Wirkung behalten soll, — es aufgehen lassen, als Literatur, in Weltliteratur, als Geschichte in Anthropologie. Ich versuche, den Humanismus in der Kontinuität einer solchen anthropologischen Veränderung zu sehen: in dem Prozeß der menschlichen Aufklärung; wobei das Wort in einem weiteren Sinne als in der speziellen historischen Bedeutung gemeint ist. Ich glaube nach dem Vorigen nichts Unbegründetes zu sagen, wenn ich von der großen Bewegung von Aufklärung spreche, die mit den Griechen in die Welt gekommen und von ihnen weiter ausgegangen ist. Sie hat die Menschen gelehrt, jedes Ding und Wesen, und so sich selbst, als Natur zu verstehen, die Welt im ganzen als Kosmos anzuschauen. In diese Bewegung gehört auch das Christentum hinein, als die ethische Befreiung von Mythos und Magie. Diese Bewegung hat uns erst, im Humanismus, den Glauben an die Vernunft gebracht, und endlich, in ihrer eigenen Konsequenz, den Verlust der Vernunft. Aber es ist derselbe Prozeß, der das eine und das andere heraufgeführt hat. Wir stehen noch mitten in ihm. Da ist wenig von selbstauferlegten Mystifikationen zu erhoffen. In den zwanziger und dreißiger Jahren schien es in Deutschland, als ob der Schritt, den unser Jahrhundert über das neunzehnte hinauszugehen hätte, in neuen Mythologien bestehen sollte. Aber das Bewußtsein kann sich nicht selber aufheben und widersetzt sich solchen Vernebelungen des Geistes. Alle geistigen Errungenschaften der neueren Zeit sind Annexionen, dem Unbewußten abgerungen. Auf Erweiterung des Bewußtseins scheint alles hinauszulaufen, was zur technischen Bewältigung des Lebens auf der Erde gefordert ist. Aber auch in der Erziehung ist schwer ein anderer Weg denkbar. Es kann scheinen, als wäre gerade hier Aufklärung nur ein unvermeidbares Übel, und sicher denken wir uns eigentliche Erziehung eher als eine Prägung des Unbewußten. Jedoch das Übel ist der Widerspruch des Bewußtseins mit sich selbst: wenn ihm Mythen gereicht werden, wo es Wahrheit will. Zuletzt sollte wohl Erkenntnis nicht zerstörend, sondern heilend wirken: weil sie den Tuenden in Übereinstimmung mit sich selber bringt. Diese Aufklärung ist das von Homer begonnene und von den frühen griechischen Philosophen ergriffene Geschäft, das seither der Menschheit obliegt und jetzt, durch die Propa78

gation des Europäertums, zum Geschick aller Erdvölker zu werden scheint. Sie darf Humanismus heißen, sofern das menschliche Specificum, das Bewußtsein, sich in ihr den Raum von Freiheit schafft, wo das Leben, statt nur etwas dumpf Erlittenes zu sein, sich zu leben lohnt. Ich weiß kein humanistischeres Wort als das ungeduldige des hundertjährigen Faust: Noch hab ich mich ins Freie nicht gekämpft! Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stund ich, Natur, vor dir ein Mann allein, Da wär's der Mühe wert ein Mensch zu sein. Wir werden viel für die Beurteilung des Humanismus gewonnen haben, wenn wir erkennen, daß er keine Weltanschauung ist. Auch mit Moral, und insofern mit Erziehung, hat er nur mittelbar etwas zu tun. Es ist absurd, von ihm zu erwarten, daß er die Menschen besser mache. Auch wenn wir einrechnen, wie wenig schließlich durch literarische Vorbilder die Menschen sich moralisch erziehen lassen, so bleibt es höchst fraglich, ob das Altertum überhaupt in besonderem Maße über Vorbilder oder Lehren verfügt, die für das Handeln leitend sein können. Nur wo das humanistische Gymnasium diesen Anspruch erhebt, trifft es der Vorwurf, es sei unfähig, seine Zöglinge zu jener hochgepriesenen allseitigen Menschlichkeit zu bilden, und habe sie zumal gegen die Zumutungen des totalitären Staates ungeriistet gelassen. So nachdenklich das letztere uns machen muß: die heute empfohlene „politische Bildung" hat ihre Bewährung noch nicht abgelegt! Zu deren Wesen gehört es, das Individuum für den Staat brauchbar zu machen, und wir haben froh zu sein, so lange es nicht ein ganz anderer Staat ist, dem die „politisch Gebildeten" sich zur Verfügung stellen. Bildung, das Wort, von dem die Öffentlichkeit heute aus allen Enden widerhallt, meint da nichts anderes als das Maß der intellektuellen Verwendbarkeit des einzelnen im Produktionsprozeß. Humanismus hat mit all dem nichts zu tun, und die politischen Pädagogen fühlen es. Humanismus liefert keine Staatsgesinnung und keine Weltanschauung, er ist zunächst ganz einfach eine Sache der Kultur. Man wird darauf verzichten müssen, ihn aus den Erfordernissen der Zeit abzuleiten: weder 79

die Wohlfahrt noch die Wissenschaft haben ihn nötig. Er entspricht nur einem Instinkt des Lebens zur Steigerung über sich selbst hinaus. Die Steigerung hat mit dem Ästhetischen zu tun, geht aber nicht darin auf. Sie ist der Inbegriff dessen, was uns das Leben lebenswert macht, der Bereich von Freiheit, wo es „der Mühe wert ist". Daß ein solches Verlangen nach erhöhtem Leben sich immer wieder nach dem Altertum umgeschaut hat, ist nicht grundlos. Tatsächlich sind die Griechen das Volk gewesen, das die ganze Phantasie seiner einzigartigen Begabung darauf gewendet hat, sein Leben zu erhöhen. Schon ihre Stadt, als die eigentliche Daseinsform des griechischen Lebens, ist, nach einem Wort Burckhardts, eine Art von „höherem Naturprodukt": „entstanden, damit Leben möglich sei; aber weiterlebend, damit richtig, glücklich, edel, möglichst nach der Trefflichkeit gelebt werde . . . " 2 8 Ein solches gesteigertes Leben kann mit den Erfordernissen des Sozialen in Konflikt geraten. Die menschliche Sozietät hat es bisher nur in einzelnen Gruppen hervorgebracht, durch Herstellung von Herrschaftsverhältnissen; und gerade die Kultur der athenischen Demokratie beruhte auf der Sklaverei. Es ist nicht zu verkennen, daß in dem sozialen Ausgleich der neueren Zeit die Krise des Humanismus ihren Grund hat: Kultur als Vorrecht eines gebildeten Standes ist unmöglich geworden. Aber das total auf Leistung und Verbrauch gestellte Dasein scheint nun überhaupt verbreitetere Beschäftigungen, die nicht diesem Zweck dienen, nicht mehr zuzulassen. Zumal eine Erziehung am Altertum ist verdächtig, unzeitgemäß zu sein. Sie ist es, und muß es notwendig sein, als die erklärte Weigerung, uns auf die Dauer auf den Stufen der Notdurft, und sei es eine noch so gesteigerte Notdurft, anzusiedeln. Hier ziemt es sich, der heute endenden Erziehung, deren beginnenden Untergang Jacob Burckhardt noch vor der Jahrhundertmitte notiert hat 2 9 , ein unverhohlenes Wort nachzurufen: In der Tat, der am Altertum Erzogene entfernt sich von der Gegenwart in einer Weise, die ihm die Gegenwart fragwürdig machen kann. Keine Vertiefung ins Französische oder Englische, oder ins Mittelalter, bringt ihn in solchen Abstand von seiner Zeit. Wohl wirkt auf ein vordergründiges 80

Interesse auch am Altertum erstaunlich, was es „auch schon gehabt hat"; aber in tieferer Weise gerade das, worin es anders ist. Eine solche Wirkung übt wiederum nicht das ganz Andere— China, Indien, so hoch ihre Kultur, so überlegen der griechischen ihre Weisheit ist: es fällt zu schwer, das Dortige auf uns zu beziehen; wie ja auch die abendländische Kultur nicht bildend auf die östlichen gewirkt hat. Rom und Griechenland sind uns das nächste Fremde, und das vorzüglich Bildende an ihnen ist nicht sowohl ihre Klassizität und „Normalität", sondern daß uns das Eigene dort in einer anderen Möglichkeit, ja überhaupt im Stande der Möglichkeiten begegnet. Wenn dem aus einer klassischen Schule Hervorgegangenen heute irgendein Vorzug vor dem polytechnisch Geschulten, selbst technischnaturwissenschaftlichen Aufgaben gegenüber, zukommt, so würde ich ihn nicht so sehr in der formalen Bildung seines Geistes sehen — seit den Diskussionen der Humboldt-Zeit oft als der Wert des klassischen Unterrichts hervorgehoben —, sondern in einer Art kritischer Phantasie: der Fähigkeit, nicht nur mit Gelerntem richtig umzugehen, sondern schöpferisch seine Möglichkeiten zu denken, vom Zwang des Gegebenen, der Majorität, des Zeitgemäßen Abstand zu nehmen. „Ich wüßte nicht, was die klassische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß zu wirken." 3 0 Alle klassische Erziehung beginnt bei der Sprache. Sie erweckt die Sicherheit dafür, was man sagen und was man nicht sagen kann. Sie befreit dadurch vom Jargon und vom Gerede jeder Art: vom Jargon der Behörden wie des Geschäftsbetriebes, vom journalistischen wie vom politischen und akademischen Jargon. Zweitens, sie führt zu einer Begegnung mit großen Werken. Sie verleiht Maßstäbe und den Sinn für Rangordnungen; sie erweckt die Fähigkeit der Ehrfurcht vor dem Außerordentlichen. Sie ist drittens eine geschichtliche Erziehung, das heißt, sie verschafft ein Bild von der Kontinuität der Weltentwicklung und erzeugt damit ein Bewußtsein von der Gegenwart. W e n n das Wort Bildung noch irgendetwas Wesentliches besagen soll, dann ist es der Inbegriff dieser drei. Wo sie fehlen 81

— wo schlecht gesprochen wird, wo keine Ehrfurcht, wo kein geschichtliches Bewußtsein ist —, da ist das Gegenteil von Bildung, da ist Barbarei. Es ist gewiß, daß eine solche Erziehung den Einzelnen in einer geistigen Position begründet, die ihn weitgehend unabhängig machen kann von allem, was nur die Macht oder die Mode für sich hat. Nicht zufällig war ein so unabhängig und schöpferisch denkender Staatsmann wie Kennedy aus klassischer Bildung hervorgegangen. Ein Staat oder eine Gesellschaft, die den Einzelnen nur zum funktionierenden Glied ihres Apparates abrichten wollen, müssen daher entschiedene Feinde der humanistischen Erziehung sein. Eine freiheitliche Republik ist beinahe auf sie angewiesen. Es ist damit nicht gesagt, daß sie in unseren öffentlichen Einrichtungen dauern wird. Vieles spricht dagegen. Der Fortgang des Bewußtseins braucht nicht der Gang der Geschichte zu sein. Wenn niemand ist, der sich erinnern will, wird es keine klassischen Studien mehr geben. Man wird damit rechnen müssen, daß sie künftig ohne die Stütze der öffentlichen Meinung sein werden; daß Humanismus als in Bildungsanstalten verbreitete Erziehung aufhören wird. Er wird fortdauern können nur als ein unterirdischer Strom, als eine ganz persönliche Ergriffenheit von Einzelnen zu Einzelnen sich fortentzündend. Im endenden Rom, in der athenischen Akademie, ehe sie nach neunhundert Jahren vom christlichen Kaiser geschlossen wurde, fanden sich die alten Gebildeten umgeben von einer Welt, der ihre Interessen und alles, was ihnen das Leben lebenswert machte, fremd geworden war. Einfachere Bedürfnisse in einer von barbarischen Völkermassen aufgewühlten Gesellschaft forderten ihr Recht. Es läßt sich eine Generation denken, der das Bewußtsein zu kompliziert, das Erinnern zu mühselig, die das Leiden leid ist; eine neue Naivität, eine neue Barbarei. Für sie scheint alles überflüssig, was wir tun. Und doch teilen wir mit ihnen schon das Unbehagen an dem Vielstimmigen, Abgeleiteten, Kleinteiligen und Richtungslosen der modernen Kultur und denken bei uns, ob wohl auch ihnen einmal das Verlangen entstehen möchte, sich — nach einem Worte Burckhardts — wieder am „Primären und Mächtigen" zu orientieren . . . 82

VI Die Isolierung, in der sich die klassische Philologie in der Gesellschaft befindet, ist nicht leicht auszuhalten. Jedoch mit dem, was der Philologe, nicht nur der klassische, heute erfährt, nimmt er dennoch an einem viel allgemeineren Schicksal als dem seiner einzelnen Wissenschaftsdisziplin teil. Steht er mit seinem Geschäft auch nicht im Sturm der Zeit, aber er ist mitten in ihr, vielleicht in der windstillen und wolkenlosen Mitte, wo die Situation der Zeit am klarsten erkennbar ist. Es ist uns offenbar nicht mehr möglich, wie es unsere Klassiker tun, von sinnvollen Dingen zu reden. Der Sinn entzieht sich uns, wie sich das Klassische entzieht. Wahrheit öffnet sich uns nicht mehr in metaphysischen Entwürfen, und wenn der Philologe seine alten Texte liest, so nimmt er sie nicht für die Wahrheit. Selbst in den großen Schöpfungen der Vernunft sucht er nicht die Vernunft, sondern den geschichtlichen Grund, aus dem sie schafft. Was ist es, was ihn hält? Ist es der Glaube — oder kritische Verdacht —, daß in dem vom Bewußtsein Verlorenen dennoch ein Richtiges aufgehoben ist? Die unbelehrbare Seele, unbetroffen von den Verzweiflungen der Vernunft, spricht sich die alten Vokabeln von Himmel und Erde zu. Und sie hat Recht: wir leben nicht vom Bewußtsein; Bewußtsein ist nicht das Ganze. Wenn irgend etwas die neuere Philosophie eingebracht hat, dann ist es die Erkenntnis, welch ein geringfügiger, abhängiger, zufälliger Teil des ganzen Lebens das Bewußtsein ist. Und sind nicht die philologischen Texte voll von diesem alten Vokabular der Seele, das vom Bewußtsein Lügen gestraft ist? Es gibt ein wahres Trostwort für den Philologen, das sich am Anfang von Theodor Adornos Noten zur Literatur findet: „Für . . . die auslegende Versenkung in überlieferte Schriften spricht manches in der gegenwärtigen geschichtlichen Lage. Scham sträubt sich dagegen, metaphysische Intentionen unmittelbar auszudrücken . . . Auch objektiv ist heute wohl alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn zuschriebe, und noch dessen Verleugnung, der offizielle Nihilismus, verkam zur Positivität der Aussage . . . Darum sucht der Gedanke Schutz bei Texten. Das ausgesparte Eigene entdeckt sich in ihnen. Aber beide sind nicht Eines: das in den Texten Ent83

deckte beweist nicht das Ausgesparte . . . Die Interpretation beschlagnahmt nicht, was sie findet, als geltende Wahrheit und weiß doch, daß keine Wahrheit wäre ohne das Licht, dessen Spur in den Texten sie folgt. Das färbt sie als die Trauer, von welcher die Behauptung des Sinnes nichts ahnt . . . Die Autorität der großen Texte ist, säkularisiert, jene unerreichbare, die der Philosophie als Lehre vor Augen steht. Profane Texte wie heilige anschauen, das ist die Antwort darauf, daß alle Transzendenz in die Profanität einwanderte und nirgends überwintert als dort, wo sie sich verbirgt." Sie werden sich vielleicht fragen, ob nicht mit dem Begriff „große Texte" die fragliche klassische Wertordnung wieder eingeschwärzt wird. Tatsächlich gründet er zunächst in nichts anderem als in der Konvention der Überlieferung, die doch eben durch den Historismus fraglich geworden ist. Große Texte: das bedeutet aber zugleich einen Verzicht auf diese Konvention. Nach großen Verlusten oder vor der Möglichkeit großer Vernichtungen vereinfachen sich die Erfahrungen. Die geschichtlichen Zeugnisse der Menschheit sprechen zu uns nicht mehr aus der Kontinuität der Tradition und aus der Fülle einer Bildungswelt; aber Einzelnes, plötzlich begegnend, redet uns unvermittelt an und setzt uns in Erstaunen. Was groß ist, erfahren wir dann, wenn wir uns von allem getrennt haben. Von solcher Erfahrung scheint eine kurze Strophe Brechts zu reden, erfahren, wie der Titel sagt, „beim Lesen des Horaz": Selbst die Sintflut Dauerte nicht ewig. Einmal verrannen Die schwarzen Gewässer. Freilich, wie Wenige Dauerten länger. Das Überdauern wird zum Maß der Größe. Zwar vieles, was für klassisch galt, wird stumm bleiben; aber es ist nicht außer der Möglichkeit, daß Einzelnes, gerade wenn es preisgegeben ist in der Masse des Wißbaren und ungeschützt vom Gehege des humanistischen Kanons, uns neu erreicht mit der Kraft einer Forderung oder einer Verheißung. Verglichen mit der reich ausgestatteten Bildungswelt unserer Väter mag das eine 84

Verarmung scheinen, eine Reduktion auf das allersimpelste Humanuni. Aber erst wo das Altertum aller Privilegien entkleidet ist und das Klassische, gerade in seiner befremdenden Vollkommenheit, nur noch vernommen wird als ursprüngliches Zeugnis des Menschlichen, kann es sich in seiner Größe zeigen und uns, wer weiß, zu dem Erschrecken bringen, welches Nietzsche gemeint hat. Dem naiven Besitz der Überlieferung aber bleibt solche Erfahrung des Klassischen heute verschlossen. Erscheinen kann es nur, indem es sich entzieht. Diesen Widerspruch muß der Philologe aushalten, als einen Widerspruch in ihm selber. Er sieht das Scheitern der humanistischen Illusionen; dem Verlust des Reizes und der Glaubwürdigkeit, den das Klassische erlitten hat, kann er sich nicht entziehen. Sofern er selber Scheiternder ist, sofern er selber den Verlust erleidet, wird die Sprache der Moderne auch seine Sprache sein. Daß zugleich Homer zu ihm spricht, ist seine auszeichnende Möglichkeit. Er ist ehrfurchtslos und ehrfürchtig zugleich. Er ist Zerstörender und Bewahrender. Er vereinigt den Widerspruch in sich kraft einer persönlichen Paradoxie, die unserer Zeit kaum aufzulösen bestimmt ist. Es ist eine Paradoxie vergleichbar derjenigen, in welcher sich der Dichter heute findet. Denn jedes Gedicht, im bloßen Benennen der Dinge, schafft Bilder, die das wissenschaftlich gewordene Bewußtsein als Lügen bestreitet. Und noch wenn es „Ich" sagt, weiß es zugleich, daß es sich einer Konvention, eines poetischen Scheines bedient, läuft es Gefahr, unglaubwürdig zu sein. Das heutige Gedicht, wenn es das Gegenwärtige und Zeitgenössische dichtet, dichtet den Verlust der Bilder und des Ich. „Verlorenes Ich" schreibt Beim über ein Gedicht, das von dieser Situation handelt: Die Welt zerdacht, und Raum und Zeiten Und was die Menschheit wob und wog, Funktion nur von Unendlichkeiten, Die Mythe log. Woher, Wohin — nicht Nacht, nicht Morgen, Kein Evoe, kein Requiem. Du möchtest dir ein Stichwort borgen. Allein bei wem? 85

Und doch ist schon mit dem Gedicht, und allein schon mit seiner Form, etwas gesetzt, das nein sagt zu dem Anspruch des Unendlichen, zu der Auflösung in Funktionen — eine erste Schöpfung, ein Ja zum Daseienden. Auch das Sprechen des Dichters ist heute „gegen sein Wissen", paradox. Der Philologe wird hiernach seine Rolle wieder bescheidener auffassen, als wie sie ihm der humanistische Sendungsgedanke zu übertragen schien. Humanismus, als erneuerte Wirkung des Altertums, liegt nicht in seiner Hand. In seiner Hand aber liegt das Überdauern der großen Texte, als der erinnerten Wahrzeichen, daß der Mensch in seinem Grunde, trotz aller Entfremdung, in Übereinstimmung mit dem Ganzen ist. Wenn sich ihm der Sinn dieses Ganzen verbirgt: Sinn genug kann es sein, einem Zeitalter, dem kein „Evoe" Erhebung in Weltlust und kein „Requiem" den Frieden in Gott verspricht, die Erinnerung an die „Stichwörter" aufzubewahren.

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ANMERKUNGEN Das Motto stammt aus Nietzsches Vorarbeiten zum Fall Wagner, Ges. Werke, Musarion-Ausg. München 1926, XVII 342. Ulrich von

Wilamowitz-Moellendorff

Der Vortrag ist im Februar 1961 in der Freien Universität Berlin gelegentlich der 150-Jahr-Feier der Berliner Universität gehalten worden, er enthält darum einige Beziehungen auf den Anlaß. 1 Nachruf im Jahrbuch der Bayr. Akad. 1931. Von den vielen anderen Nachrufen und Würdigungen Wilamowitzens, denen ich auch hierfür manches verdanke, nenne ich: R. Pfeiffer, Südd. Monatshefte, Nov. 1931 G.Pasquali, Pegaso IV, Jan. 1932 W. Jaeger, Sitz.-Ber. der Preuß. Ak. d. Wiss. 1932 Dorothea Hiller v. Gaertringen, Antike und Abendland IV K. Reinhardt, Ges. Essays „Vermächtnis der Antike". 2 Im Vorwort zu Euripides Herakles. 3 Wilamowitz, Erinnerungen (S. 84); dort auch die übrigen autobiographischen Mitteilungen. 4 Vorwort zur Geburt der Tragödie. 5 Briefwechsel mit Rohde: am 8. Juni 1872. 6 Der Briefwechsel mit der Mutter wurde mir freundlich von Frau von der Hude-Wilamowitz zugänglich gemacht. 7 Versuch einer Selbstkritik § 3. 8 Erinnerungen S. 129/30. 9 Vorwort zur zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. 10 Erste Unzeitgemäße Betrachtung § 1. 11 Die Heimkehr des Odysseus S. 24. Das andere: Die Ilias und Homer S. 275. 12 Reden und Vorträge S. 57. 13 Brief an Schaumburg am 5. März 1846. Dazu vor allem die Briefe an Preen während des Krieges 1870—71. H Erinnerungen S. 151. 15 Der Satz stammt aus einem Brief an Henzen vom 26. Nov. 1854 (zitiert von O. Hirschfeld, Gedächtnisrede auf Theodor Mommsen, in den Kleinen Schriften S. 945 Anm. 1). 16 Mommsen an seine Frau am 11. Mai 1878. 17 Mommsen an Lujo Brentano am 12. Nov. 1901 (abgedrudct bei Kurt Roßmann, Wissenschaft, Ethik und Politik, 1949). 18 Reden und Vorträge S. 108. • 9 Homerische Untersuchungen S. 114. 20 Die Ilias und Homer S. 322.

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1 Vorrede zum Griechischen Lesebuch S. 4. Erinnerungen S. 238. 23 Die klassische Philologie und das Klassische, in den Ges. Essays „Vermächtnis der Antike" S. 335. 24 Erinnerungen S. 298. 25 Büchertagebuch S. 65. 26 Vorwort zu Euripides Hippolytos. Dort auch das Folgende. 27 Vorwort zur Orestie (Griechische Tragödien, II. Band). 28 Die folgenden Stellen sind der Übersetzung der Orestie (Griechische Tragödien, II. Band) entnommen: Choephoren 406, 462, Eumeniden 537, Agamemnon 763, 776, Eum. 560, Cho. 153, Eum. 778, Ag. 25, Eum. 148, Ag. 756, 268, Eum. 553, 572, 609, 520, 368, Cho. 575. 29 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Elegeia (1938), Nr. XLI. 30 Kurt Hildebrandt, „Hellas und Wilamowitz: zum Ethos der T r a gödie", Jahrbuch für die geistige Bewegung I (1910) S. 64. 31 Theodor Haecker, Satire und Polemik 1914—1920 (1922), S. 186 und 109. 32 Akademisches aus zwei Epochen, in den Ges. Essays „Vermächtnis der Antike" S. 381 ff., wo auch das Folgende. 22

Karl

Reinhardt

Teile des hier Abgedruckten sind als Nachruf am 22. Februar 1958 in der »Gegenwart' erschienen, andre in einer Gedächtnisfeier für K. R. am 3. Juni 1958 in der Frankfurter Universität gesprochen worden. 1

In den Gesammelten Essays „Vermächtnis der Antike" S. 375. Akademisches aus zwei Epochen» in „Vermächtnis der Antike" S. 399. 3 Ebenda S. 380. 4 Wilamowitz» Erinnerungen S. 130. Nietzsche» Versuch einer Selbstkritik (Vorrede zur Geburt d. Trag. § 3). 5 Die klassische Philologie und das Klassische, in „Vermächtnis der Antike" S. 343. 6 Zeugnis gibt etwa der Brief, der in der Neuen Rundschau 1958 S. 159 abgedruckt ist. Die Deutung als Bekenntnis, die Kurt Hildebrandt ihm dort gibt, verkennt, auf was für eine Frage er die Antwort war. Sie wird um nichts wahrscheinlicher durch die weiteren Mitteilungen» die Hildebrandt in seinen „Erinnerungen an Stefan George"» S. 276 ff. macht: daß Reinhardt auf die Frage ein Vierteljahr hat verstreichen lassen (um dann mit dieser Antwort sich zu entziehen!). — Übrigens fehlt auch der Darstellung, die Hildebrandt in diesem Zusammenhang von einem angeblichen „letzten Auftrag" Reinhardts gibt, jede Wahrscheinlichkeit: der 70jährige 2

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Reinhardt, noch gesund sich fühlend, sollte dem 6 Jahre älteren Hildebrandt sein Urteil über Max Kommerell, den seit 11 Jahren toten Freund, anvertraut haben, damit er es der Nachwelt überliefere? Dies ganze Pathos der Mythisierung des Beiläufigen hat mit Reinhardt nichts zu tun. 7 Poseidonios S. 5. 8 Piatons Mythen, S. 28 („Vermächtnis der Antike" S. 228). 9 Kosmos und Sympathie, S. 3. i° S. 54 (künftig auch in den Gesammelten Essays). 11 Kosmos und Sympathie, S. 4. • 2 Die Sinneskrise bei Euripides, in den Gesammelten Essays „Tradition und Geist" S. 227 ff. 13 Homer und die Telemachie, in „Tradition und Geist" S. 46.

Selbstgespräch In kurzer Form zuerst 1962 vor Studenten der Philosophischen Fakultät in Westberlin vorgetragen, erweitert im Sommer 1964 vor Lehrern der Gaienhofener Ferienkurse i Das hier nur gestreifte Problem behandelt ernst und gründlich H. Gollxoitzer, Humanismus zwischen Ost und West (in: Zwischenstation, Festschrift für Karl Kupisch zum 60. Geburtstag, 1963). 2 An Bodenhausen am 25. Juni 1905 (Hofmannsthal-Bodenhausen, Briefe der Freundschaft [1953] S. 66). 3 Nietzsche, Aus dem Nachlaß: „Wir Philologen", Nr. 122 (Taschenausgabe II 331). 4 Ernst Stadlers Gedichtsammlung „Aufbruch", entstanden 1913, erschien 1914. Auch „Bewegung" bekam erst damals den weltanschaulichen Klang („Jugendbewegung" etc.). 5 „Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel . . . aber sie hatten es nur miteinander zu tun . . . Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumut wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre . . ." (Hofmannsthal G. W. Prosa II 14). 6 Paralipomena zum Faust II 3. Akt, Nr. 158 (W. A. 15, II S. 225). Die Langeweile am Altertum ist freilich schon älter: Voltaire läßt den Venezianischen Edelmann zu Candide über Homer sagen: „Früher redete man mir ein, es sei ein Vergnügen, dies Buch zu lesen. Aber . . . all das langweilt mich tödlich. Ich habe manchmal Gelehrte gefragt, ob sie sich bei dieser Lektüre ebenso langweilten wie ich: alle aufrichtigen Leute haben mir gestanden, daß ihnen das Buch aus der Hand falle, aber man müsse es jedenfalls in seiner Bibliothek haben . . . " (Candide, 25. Kap.). 89

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„Wir Philologen" Nr. 122 (Taschenbuchausgabe II 332). 8 Archilochos Fragm. 6, Alkaios Fragm. 49, Anakreon Fragm. 51 und 111 (Anthol. lyr. Gr. ed. Diehl), Horaz Carmina II 7. 9 „Wir Philologen" Nr. 139 (Taschenbuchausgabe Bd. II S. 343). 10 „Das Problem des Klassischen und die Antike", acht Vorträge, herausg. von Werner Jaeger (1931). ii Nietzsche, „Wir Philologen"» Nr. 125 (II 334). 12 P. W. Bridgman, Philosophical Implications of Physics (1950), zitiert von J. B. Conant, Neue Rundschau 1953» S. 161. 13 So hat sich z. B. für Brecht die Tragödie klassischer Art erledigt; er schreibt: „In einem Zeitalter, dessen Wissenschaft die Natur derart zu verändern weiß, daß die Welt schon nahezu berechenbar erscheint, kann der Mensch dem Menschen nicht mehr lange als Opfer beschrieben werden, als Objekt einer unbekannten, aber fixierten Umwelt. Vom Standpunkt eines Spielballs aus sind die Bewegungsgesetze k a u m konzipierbar." — „Die heutige Welt ist dem heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird . . . Heutige Menschen interessieren sich für Zustände und Vorkommnisse, denen gegenüber sie etwas tun können." (Schriften zum Theater.) 14 Das Problem des modernen Romans haben von verschiedenen Seiten behandelt: Erich Kahler (Untergang und Übergang der epischen Kunstform, Neue Rundschau 1953), Fran