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German Pages 436 [437] Year 2023
Beiträge zum Parlamentsrecht Band 86
Die Bundesversammlung zwischen Kür und Wahl Verfassungsrechtliche Einordnung und Verfassungsfragen des Wahlverfahrens
Von
Benedikt Ernst Rudolf Eibach
Duncker & Humblot · Berlin
BENEDIKT ERNST RUDOLF EIBACH
Die Bundesversammlung zwischen Kür und Wahl
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Professor Dr. Horst Risse, Berlin Professor Dr. Utz Schliesky, Kiel Professor Dr. Christian Waldhoff, Berlin
Band 86
Die Bundesversammlung zwischen Kür und Wahl Verfassungsrechtliche Einordnung und Verfassungsfragen des Wahlverfahrens
Von
Benedikt Ernst Rudolf Eibach
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahre 2023 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern
Vorwort Diese Arbeit wurde im Februar 2023 von der Juristischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover als Dissertationsschrift angenommen. Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem Stand von März 2023. Dem Bundesministerium des Innern und für Heimat sowie dem VFS Hannover e. V. danke ich sehr herzlich für die gewährten Druckkostenzuschüsse, dem Verlag und den Herausgebern Herrn Professor Dr. Horst Risse, Herrn Professor Dr. Utz Schliesky und Herrn Professor Dr. Christian Waldhoff für die Aufnahme in die Schriftenreihe der „Beiträge zum Parlamentsrecht“. Den zahlreichen Personen, die mich in vielfältiger Weise unterstützten, sowie Weggefährten, die mir während der Promotionszeit Rückhalt gaben, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Hermann Butzer. Abweichend von den sonstigen Gepflogenheiten an seinem Lehrstuhl begann meine Tätigkeit dort erst nach Ende meines Studiums. Für diesen Vertrauensvorschuss, aber auch für die in der wissenschaftlichen Mitarbeit und Lehre gewonnenen Erfahrungen bin ich sehr dankbar. Mein Doktorvater hat die Arbeit stets intensiv begleitet und gefördert sowie die notwendigen Freiräume gewährt. Sehr dankbar bin ich dafür, mein von früher Jugend an bestehendes Interesse an deutscher Politik und Neuerer Geschichte in dieser rechtswissenschaftlichen Arbeit kombiniert haben zu können. Herrn Professor Dr. Sebastian Lenz danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Dem Vorsitzenden der Prüfungskommission, Herrn Professor Dr. Jan Lüttringhaus, LL.M., sei Dank für die Leitung und die unkomplizierte Durchführung des Verfahrens sowie allen Kommissionsmitgliedern für die angenehme Disputation. Gedankt sei auch meinen Kolleginnen und Kollegen einschließlich der studentischen Hilfskräfte für die sehr schöne und kollegiale Zeit am Lehrstuhl. Zuvörderst gebührt Frau Juniorprofessorin Dr. Friederike Caroline Gebhard Dank für die seit dem ersten Semester bestehende freundschaftliche Begleitung mit vielen gemeinschaftlichen Aktivitäten im Studium sowie die Diskussionsbereitschaft. Darüber hinaus bin ich Herrn Christof Wenzel, Herrn Dr. Thies Wahnschaffe, Frau Dr. Antonia Hagedorn und Frau Greta Sophie Eriksen zu Dank verpflichtet. Zu erwähnen sind ferner Herr Philipp Peters und Herr Dr. Patrick Christian Otto, denen ich nicht nur für die langjährige enge Freundschaft, sondern auch für das Korrekturlesen dieses Textes sehr herzlich danke. Die wertvollen Hinweise von Herrn Daniel-Christopher Schefft haben die Arbeit noch einmal vorangebracht, bei der Durchsicht der Druckfahnen unterstützte mich mein Onkel, Herr Armin Schmidt. Zudem danke ich
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Vorwort
dem Knabenchor Hannover für die langjährige prägende Zeit mit beeindruckenden Konzerten und Reisen in einer generationsübergreifenden Gemeinschaft sowie allen hier nicht namentlich genannten Freunden für das viele schöne Erlebte. Neben meinen beiden Schwestern, Frau Friederike Grunz und Frau Patricia Eibach, gebührt der größte Dank meinen Eltern, Frau Beate und Herrn Dr. Gerhard Eibach. Meine Familie hat mich auf meinem bisherigen Lebensweg stets unterstützt, getragen und mir jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen. Meinen Eltern habe ich besonders viel zu verdanken. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Hamburg, im April 2023
Benedikt Ernst Rudolf Eibach
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung
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A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 B. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Kapitel 2 Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten: Die Diskussion auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat
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A. Das mitgebrachte Wissen: Bestimmung, verfassungsrechtliche Stellung und Amtsführung der Weimarer Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Die Diskussionen in der Nationalversammlung um eine Volkswahl und die Befugnisse des Reichspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Die Volkswahl und die Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Zeit . . . 38 III. Der lange Weg bis zur ersten Volkswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Die Wahl Eberts durch die Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Die Bedenken und Reformbemühungen um die erste Volkswahl . . . . . . . . . . . 44 a) Das Ausführungsgesetz über die Volkswahl des Staatsoberhauptes 1920 . . . 45 b) Das Hinauszögern der ersten Volkswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 c) Die erste Volkswahl des Reichspräsidenten 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. Die Wiederwahl Hindenburgs 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 V. Exkurs: Die Zusammenführung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat: Die Diskussion über die Notwendigkeit des Bundespräsidentenamtes und das Verfahren seiner Besetzung . . . . . . 57 I. Die Frankfurter Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Die Koblenzer Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Die Beratungen im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Der Arbeitsgang und das Selbstverständnis der Konventsmitglieder . . . . . . . . . 63
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Inhaltsverzeichnis 2. Die Diskussionen im Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Notwendigkeit, Besetzung und Ausgestaltung eines Präsidentenamtes . . . . 67 aa) Das Eintreten einer Minderheit für ein Dreierkollegium . . . . . . . . . . . . 68 bb) Das mehrheitliche Eintreten für die Beibehaltung einer Ein-PersonenBesetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Zusammensetzung des Wahlgremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Die Aufnahme der Beratungsergebnisse durch die Ministerpräsidentenkonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 IV. Die Beratungen im Parlamentarischen Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Die Erörterung im Organisationsausschuss des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a) Notwendigkeit des Amtes eines Bundespräsidenten und Besetzung . . . . . . . 82 b) Zusammensetzung des Wahlgremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Die Beratungen im Hauptausschuss des Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Die Beratung in der ersten Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 aa) Zusammensetzung des Wahlgremiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (1) Die drei diskutierten Vorschläge nach dem Beschluss über die Wahl des Bundespräsidenten durch eine Bundesversammlung . . . . . . . . . 89 (2) Die beiläufige Verwendung der Begriffe „Kür“ und „Wahlkurie“ in der Diskussion am 30. November 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Zeitpunkt der Besetzung eines Bundespräsidentenamtes . . . . . . . . . . . . 97 b) Die Beratung in der zweiten Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Die Beratung in der dritten Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 d) Die Beratung in der vierten Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Die Endabstimmung und das Inkrafttreten des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . 104 V. Exkurs: Paralleldiskussionen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Die Diskussion über die Bestimmung und Einsetzung eines Staatsoberhauptes und die Wahl des ersten Präsidenten Wilhelm Pieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Verfassungsänderungen hinsichtlich des Staatsoberhauptes . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Die erste Modifizierung zu einer reinen Parlamentswahl . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Die Ersetzung des Präsidentenamtes durch einen 24-köpfigen Staatsrat . . . 110 aa) Der Kompetenzzuwachs des Staatsrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 bb) Die Kompetenzbeschneidung des Staatsrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VI. Fazit der historischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Kapitel 3 Die Charakterisierung der Bundesversammlung
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A. Die Einordnung als kürähnliches Organ durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . 118 I. Der Bundespräsident als Erbe der konstitutionellen Monarchie? . . . . . . . . . . . . . . 120
Inhaltsverzeichnis
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II. Der Begründungsansatz der besonderen Würde des Bundespräsidentenamtes . . . 122 B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“ . . . . . . . . . . . . . . 124 I. Die Funktionen und Charakteristika eines Parlamentes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Der Funktionskatalog nach Mills . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Die fünf Grundfunktionen eines Parlamentes nach Bagehot . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Die Organisationscharakteristika nach Polsby . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Der zeitgenössische Funktionskatalog nach Schindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5. Ein Abgleich mit der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Die Funktionen und Charakteristika eines Kürorgans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Die Vergleichbarkeit mit der Kür im Heiligen Römischen Reich und dem Krönungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Der Ablauf der damaligen Zeremonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Die Einordnung und heutige Bewertung der damaligen Kür . . . . . . . . . . . . . 136 2. Keine Vergleichbarkeit mit dem päpstlichen Konklave . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 C. Analyse: Status der Bundesversammlung, Status der Mitglieder und Verfahrensregelungen als Kriterien für die staatsrechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 I.
Vergleichbarkeit mit Verfassungsorganen im In- und Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . 142
II. Auslegung der grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Normen sowie der Staatspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Das Ausspracheverbot (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Der Sinn und Zweck des Ausspracheverbots nach der Preußischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 b) Der Sinn und Zweck des Ausspracheverbots nach dem Grundgesetz . . . . . . 147 2. Der Kreationsakt (Art. 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 6 GG) sowie die demokratische Legitimation und Repräsentation (Art. 54 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3. Die Stellung als Verfassungsorgan und verfassungsrechtliche Autonomie der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4. Die Unabhängigkeit und Nichtabwählbarkeit des Bundespräsidenten . . . . . . . . 157 5. Die Bedeutung der Ermächtigung zur näheren Ausgestaltung durch Bundesgesetz nach Art. 54 Abs. 7 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages gem. Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Die Regelung des Status der Mitglieder der Bundesversammlung . . . . . . . . 162 aa) Gewährleistung eines freien Mandats gemäß Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 3 BPräsWahlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Kündigungsschutz, Indemnität und Immunität gemäß § 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 1, S. 2 BPräsWahlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 c) Die Regelung zur geheimen Wahl nach § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG . . . . . 166 6. Das Zurückgreifen auf Ressourcen des Bundestages (Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG i. V. m. §§ 1, 8 S. 1 BPräsWahlG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Der Rückgriff auf personelle Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
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Inhaltsverzeichnis b) Der Rückgriff auf finanzielle Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7. Die steuerrechtliche Gleichbehandlung der Entschädigungszahlungen von Bundestagsabgeordneten und Bundesversammlungsmitgliedern . . . . . . . . . . . . 169 III. Zusammenfassende Gegenüberstellung der verschiedenen Aspekte . . . . . . . . . . . 173 1. Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Die wesentlichen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IV. Die Einordnung der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Die Abgrenzung zu einem „Organ sui generis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2. Die Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Das Abgrenzungskriterium für parlaments- und kürähnliche Anteile im Ablauf des Wahlverfahrens der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Kapitel 4 Verfassungsfragen zum Status der Mitglieder und zum Ablauf einer Bundesversammlung unter Berücksichtigung ihres Charakters als „Organ mixtum compositum“
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A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Die nach Art. 54 Abs. 3 GG geborenen Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 II. Die nach Art. 54 Abs. 3 GG gekorenen Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Die Festlegung der Anzahl der Landesvertreter durch die Bundesregierung . . . 184 2. Die „unverzügliche“ Wahl der Landesvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Die Zusammensetzung der Wahllisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 a) Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Einheitslisten und deren Abstimmung „en bloc“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Die Wahl der Landesvertreter für eine gesamte Legislaturperiode . . . . . . . . 194 c) Die Benennung von Personen des öffentlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4. Die Annahmeerklärung des gewählten Vertreters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5. Die Einspruchsmöglichkeiten gegen die Gültigkeit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Zum Fraktionsstatus in der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 IV. Der Immunitätsschutz der Bundesversammlungsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Die zeitliche Dauer des Immunitätsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Die organschaftliche Zuständigkeit für die Immunitätsaufhebung . . . . . . . . . . . 206 B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 I. Die Pflicht zur Einberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Der Ablauf der fünfjährigen Wahlperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Die Amtszeitverlängerung im Verteidigungsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Inhaltsverzeichnis
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3. Die Einberufung bei vorzeitiger Amtsbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Fall der Beendigung durch ein Amtsenthebungsverfahren, Art. 61 GG . . . . 214 b) Fall der Beendigung durch einen Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 aa) Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Rücktritts . . . . . . . . . . . . . . 215 bb) Die Anforderungen an eine Rücktrittserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (1) Kein Schriftformerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (2) Der Adressat der Rücktrittserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c) Die zeitlich befristete Verhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 d) Exkurs: Die interimistische Befugniswahrnehmung durch den Bundesratspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 II. Die Bestimmung von Ort, Zeitpunkt und Dauer der öffentlich tagenden Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Die Festlegung des Ortes der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2. Die Festlegung des Datums der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 a) Die verfassungsrechtliche Fristvorgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Die Terminierung bei anstehenden Landtags- und Bundestagswahlen . . . . . 227 c) Die Rechtsfolgen bei Fristversäumnis oder Nichteinberufung . . . . . . . . . . . 230 3. Die Öffentlichkeit der Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4. Die Zeitdauer einer Bundesversammlung und die Möglichkeit der Vertagung 233 III. Probeabstimmungen und die vorsorgliche Verzichtserklärung der Landesvertreter 234 1. Zur Zulässigkeit von Zählappellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Zur Zulässigkeit vorsorglicher Verzichtserklärungen der Landesvertreter . . . . . 237 C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . 238 I. Die Konstituierung der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Die Feststellung der Beschlussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Der Beschluss über die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages (§ 8 S. 2, Hs. 1 BPräsWahlG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 a) Kein Fortwirken der alten Geschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Keine Pflicht zur Antragsbehandlung nach Eingang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3. Die Möglichkeit zur Verabschiedung einer eigenen Geschäftsordnung (§ 8 S. 2, Hs. 2 BPräsWahlG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4. Die Wahl des Sitzungsvorstandes und der Schriftführer (§ 8 S. 2, Hs. 1 BPräsWahlG i. V. m. §§ 2, 3 GO-BT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. Die Pflicht zur politischen Neutralität des Versammlungsleiters . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Die Rüge einer Verletzung der Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Die Rüge einer parteiischen, politischen Eröffnungsrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Die Vorgehensmöglichkeiten gegen den Sitzungsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 a) Die ermessensfehlerhafte Einberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Das Recht von Wahl und Abwahl des Bundestagspräsidenten durch den Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 aa) Regelungen in der Geschäftsordnung des Bundestages . . . . . . . . . . . . . 259
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Inhaltsverzeichnis bb) Intentionen des Gesetzgebers und demokratische Grundsätze . . . . . . . . 260 c) Die Übertragbarkeit der Abwahlmöglichkeit auf die Bundesversammlung und das Recht zur Bestimmung eines neuen Versammlungsleiters . . . . . . . . 261
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens . . . . . . . . . 264 I.
Die Ankündigung der Tagesordnung und Bestätigung durch Nichtwiderspruch
264
II. Der Sitzungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Die verfassungsrechtliche Bestimmung eines Ausspracheverbots (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Der Umfang dieses Ausspracheverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Hinsichtlich einer Aussprache über die zur Wahl stehenden Kandidaten . . . 266 b) Hinsichtlich einer organisatorisch-technischen Sachdiskussion . . . . . . . . . . 267 c) Hinsichtlich eines Rede- und Antragsrechts der Versammlungsmitglieder 268 aa) Aus Art. 54 GG und der Mitgliedschaft in der Bundesversammlung . . . 271 bb) Aus der Rechtsstellung der Bundesversammlungsmitglieder, dem Charakter und der Eigenschaft der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . 272 cc) Aus den Regelungen über das freie Abgeordnetenmandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG analog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 dd) Aus Verfassungsgewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 d) Hinsichtlich einer eigenen Vorstellung der Kandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 aa) Eines bekannten beziehungsweise im Vorfeld nominierten Kandidaten 276 bb) Teleologische Reduktion bei unbekannten Kandidaten und kurzfristiger Nominierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 e) Die Vorverlagerung der Debatte durch das fehlende Vorstellungsrecht und die Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 f) Die Vereinbarkeit des Ausspracheverbots mit einem „Vorstellungswahlkampf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 aa) Die bisherigen Verhaltensweisen von Kandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 bb) Kein vorwirkendes Neutralitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 III. Die Rechte und Pflichten des Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter . . . . . . . . 290 1. Die Sitzungsleitung gemäß sinngemäßer Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Das Hausrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 3. Die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 4. Das Ausschlussrecht von Bundesversammlungsmitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . 294 5. Das Recht zur Vertretung durch die Bundestagsvizepräsidenten . . . . . . . . . . . . 295 E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I.
Das Einreichen der Wahlvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 1. Das Vorschlagsrecht eines jeden Bundesversammlungsmitgliedes . . . . . . . . . . 297 a) Die Zulässigkeit des Aufstellens nur eines Kandidaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 b) Das Aufstellen eines Gegenkandidaten bei einer Wiederwahl . . . . . . . . . . . 299
Inhaltsverzeichnis
15
2. Das Prüfungsrecht des Sitzungsvorstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 a) Die Einhaltung der Anforderungen nach § 9 Abs. 1 BPräsWahlG . . . . . . . . 300 b) Das Vorliegen der Wählbarkeitsvoraussetzungen nach Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 aa) Die Voraussetzung „deutsche Staatsangehörigkeit“ i. S. v. Art. 116 GG 303 bb) Die Voraussetzung „Mindestalter von 40 Jahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 cc) Die Voraussetzung „Innehaben des Wahlrechts zum Bundestag“ . . . . . . 305 dd) Die Beschränkung der anschließenden Wiederwahl nach Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 (1) Die Wiederwahl nach zwischenzeitlicher Unterbrechung . . . . . . . . . 308 (2) Exkurs: Reformvorschläge zur Wiederwahl und zur Amtszeit . . . . . 310 ee) Keine weiteren Eignungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 c) Sonstige Ablehnungsgründe gegenüber einem Kandidaten . . . . . . . . . . . . . . 315 d) Das Zurückweisungsrecht von Wahlvorschlägen gemäß § 9 Abs. 2 BPräsWahlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 II. Der Wahlablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 1. Die Gewährleistung einer geheimen Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2. Das Auszählen der Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Stimmen für einen nicht auf der Stimmkarte verzeichneten Kandidaten . . . 318 b) Die Frage nach dem Recht auf Entsendung eines Wahlbeobachters . . . . . . . 320 c) Exkurs: Das Stimmrecht der Berliner Vertreter bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . 323 3. Die Feststellung der erforderlichen Mehrheit und die Bekanntgabe des Ergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 a) Die Ergebnisse des ersten und eines zweiten Wahlgangs . . . . . . . . . . . . . . . 324 b) Das Ergebnis eines dritten Wahlgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 aa) Die Mindeststimmenanzahl ab dem dritten Wahlgang . . . . . . . . . . . . . . 328 bb) Der Fall der Stimmengleichheit im dritten Wahlgang . . . . . . . . . . . . . . . 329 cc) Exkurs: Die Kritik an der relativen Mehrheit ab dem dritten Wahlgang 331 c) Die Bekanntgabe des Ergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 III. Die Annahmeerklärung, die Antrittsrede und das Schließen der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 1. Die Annahmefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 2. Die Annahmeerklärung des Gewählten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 3. Die traditionelle Antrittsrede des neu- oder wiedergewählten Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 4. Das Schließen der Versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 F. Exkurs: Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 I. Beanstandungen im Vor- und Umfeld der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . 336 II. Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes im Nachgang der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Die Wahlprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
16
Inhaltsverzeichnis 2. Die Überprüfung der Verletzung der Neutralitätspflicht des Sitzungsleiters . . . 344
G. Im Nachgang: Die Eidesleistung des Gewählten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 I. Die Eidesleistung nach Art. 56 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 1. Die Funktion der Eidesleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 2. Die Eidesformel und die Rechtsfolgen einer Weigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 3. Zur Frage der Eidesleistung bei der Wiederwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 4. Zur Frage der Eidesleistung im Vertretungsfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 II. Auswirkungen der Inkompatibilitäten nach Art. 55 Abs. 1 und Abs. 2 GG auf die Eidesleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 H. Der Zeitpunkt des Amtsbeginns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Kapitel 5 Zusammenfassung und Ausblick
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A. Die Erkenntnisse aus der Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 B. Die rechtliche Charakterisierung der Bundesversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 C. Die parlaments- und kürähnlichen Anteile im Ablauf einer Bundesversammlung mit tabellarischer Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 D. Verfassungsfragen zur Bestimmung und zum Status der Bundesversammlung und ihrer Mitglieder sowie der Sitzungsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 E. Die Einordnung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung und die mögliche Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 A. Übersicht über die Sitzungen des Parlamentarischen Rates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personen der Zeitgeschichte . . . . . . . . . . 382 C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
Abkürzungsverzeichnis a. A. AbgG Abs. a.F. AfD AK-GG AöR Art. Aufl. Az. BayVBl. Bd. BDSG Bearb. BeckOK BeckRS Beschl. BGB BJR BK-GG BNatSchG BPräsRuhebezG BPräsWahlG BremWahlG bspw. BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG B-VG BVP BWahlG BWO bzgl. bzw. CDU CSU DDP DDR
anderer Auffassung Abgeordnetengesetz Absatz alte Fassung Alternative für Deutschland Alternativkommentar zum Grundgesetz Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Artikel Auflage Aktenzeichen Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Band Bundesdatenschutzgesetz Bearbeiter Beck’scher Onlinekommentar Elektronische Entscheidungsdatenbank in beck-online Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bonner Rechtsjournal (Zeitschrift) Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundesnaturschutzgesetz Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung/Bundespräsidentenwahlgesetz Bremer Wahlgesetz beispielsweise Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung) Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundes-Verfassungsgesetz Österreichs Bayerische Volkspartei Bundeswahlgesetz Bundeswahlordnung bezüglich beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik
18 DJZ DNVP DÖV DP DPA DV DVBl DVLP DVP EL EStG EStH etc. f./ff. FAZ FDP Fn. gem. GG ggf. GO-BR GO-BT GWP GWU HChE HessWahlPrG Hrsg. Hs. insbes. i.S. i.S.d. i.S.v. i. V. m. JA JöR JRP Jura JuS JZ Kap. KommP Wahlen KritJ LStDV LTO LV LV BW LVerf NRW MDR
Abkürzungsverzeichnis Deutsche Juristenzeitung (Zeitschrift) Deutschnationale Volkspartei Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Partei Deutsche Presseagentur Die Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) Deutsche Vaterlandspartei Deutsche Volkspartei Ergänzungslieferung Einkommensteuergesetz Einkommensteuer-Hinweise et cetera folgende, fortfolgende (Seite(n)) Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Fußnote gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Geschäftsordnung des Bundesrates Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (Zeitschrift) Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (Zeitschrift) Verfassungsentwurf des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee Hessisches Wahlprüfungsgesetz Herausgeber Halbsatz insbesondere im Sinne im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal für Rechtspolitik (Zeitschrift) Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristische Schulungen (Zeitschrift) Juristenzeitung (Zeitschrift) Kapitel KommunalPraxis Wahlen (Zeitschrift) Kritische Justiz (Zeitschrift) Lohnsteuer-Durchführungsverordnung Legal Tribune Online Landesverfassung Verfassung des Landes Baden-Württemberg Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift)
Abkürzungsverzeichnis m.E. MIP m. w. N. Nds. VBl. n. F. NJW NPD Nr. NSDAP NV NVwZ o.g. o.J. OK o.O. o.V. PartG RGBl. Rn. RuP RV S. SED SMAD sog. SPD StGB StPO taz u. a. UdSSR USD USPD v. VBlBW Verf. BE Verf. DDR VerwArch VfZ vgl. VVDStRL
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meines Erachtens Mitteilungen des Instituts für Deutsches Parteienrecht (Zeitschrift) mit weiteren Nachweisen Niedersächsische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Niedersächsische Verfassung Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift) oben genannte ohne Jahr Online-Kommentar ohne Ort ohne Verlag Parteiengesetz Reichsgesetzblatt Randnummer/n Recht und Politik (Zeitschrift) Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 Satz/Seite Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration in Deutschland sogenannt/sogenannte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Die Tageszeitung unter anderem Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken US-Dollar Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands von, vom Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg (Zeitschrift) Verfassung von Berlin Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (Zeitschrift) vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Tagungsbände) WahlPrG Wahlprüfungsgesetz WRV Weimarer Reichsverfassung z.B. zum Beispiel Zentrum/Zentrumspartei Deutsche Zentrumspartei ZfP Zeitschrift für Politik ZJS Zeitschrift für das Juristische Studium
20 ZParl ZPO ZPol ZRP
Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Politikwissenschaften Zeitschrift für Rechtspolitik
Hinsichtlich weiterer Abkürzungen wird verwiesen auf: Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 10. Auflage, Berlin 2021.
Kapitel 1
Einleitung Die Bundesversammlung scheint nicht nur in der Bevölkerung das wohl unbekannteste oberste Verfassungsorgan1 zu sein, sondern war auch in der juristischen und politikwissenschaftlichen Fachliteratur bislang kaum Gegenstand eingehender Untersuchungen. Die unter B. noch näher zu belegende Forschungslücke bezieht sich insbesondere auf eine eingehende verfassungsrechtliche Einordnung und auf das Verfahren der Wahl eines Bundespräsidenten.2
A. Problemaufriss An der „stiefmütterlichen“ Behandlung der Bundesversammlung durch die Staatsrechtswissenschaft haben erstaunlicherweise auch ein jüngeres Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juni 20143 und ein weiterer Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 20144 nichts zu ändern vermocht.5 Im 1
Diese Verfassungsorganqualität folgt daraus, dass sie unmittelbar vom Grundgesetz konstituiert und mit eigenen Kompetenzen ausgestattet ist. Vgl. u. a. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 278 f.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 39; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 82; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 1, S. 179 f. 2 Die bislang fehlende eingehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Organ der Bundesversammlung ist möglicherweise damit zu erklären, dass die Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG nur einen beschränkten Aufgabenbereich zugewiesen bekommen hat, die Versammlung sich in der Regel nur alle fünf Jahre für einen Tag konstituiert sowie die bisherigen Bundesversammlungen insgesamt reibungslos verlaufen sind. Dies schmälert ihre besondere verfassungsrechtliche Bedeutung indes keinesfalls. 3 BVerfGE 136, 277 ff. 4 BVerfGE 138, 125 ff. 5 Eine Übersicht der bisherigen 17 Bundesversammlungen ist zu finden bei: Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 16. Eine Darstellung bis zur 12. Bundespräsidentenwahl am 23. Mai 2004 findet sich bei: Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280 – 282 sowie bei Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 28, hier ergänzt mit einer inhaltlichen Darstellung der Amtszeiten. Ferner existiert eine Übersicht von Veröffentlichungen von und über die Bundespräsidenten bis 2004 sowie eine Darstellung zur Zusammensetzung, der Kandida-
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Kap. 1: Einleitung
Rahmen dieser beiden Verfahren hat sich das Bundesverfassungsgericht – mehr als sechzig Jahre nach seiner Arbeitsaufnahme im Jahr 1951 – erstmalig eingehend6 mit dem obersten Bundesorgan Bundesversammlung, mit den Rechten der Mitglieder und mit dem Umfang des in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierten Ausspracheverbots auseinandergesetzt. Inhaltlich ging es um jeweils vom NPD-Vertreter Udo Pastörs in seiner Stellung als Mitglied der Bundesversammlung angestrengte Organstreitverfahren: Pastörs hatte sich sowohl bei der Wiederwahl von Bundespräsident Horst Köhler als auch bei den Wahlen Christian Wulffs und Joachim Gaucks zu Bundespräsidenten (13., 14. und 15. Bundesversammlung) durch Entscheidungen des damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert als dem Sitzungsleiter in seinen Mitgliedschaftsrechten verletzt gesehen. In beiden Organstreitverfahren rügte Pastörs insbesondere, dass NPD-Bundesversammlungsmitglieder vom damaligen Bundestagspräsidenten keine Gelegenheit erhalten hatten, den Antrag zur Einbringung eines eigenen Entwurfs für eine Geschäftsordnung der Bundesversammlung zu begründen. Ferner, dass Lammert es unterbunden hatte, den Antrag, auch den NPD-Mitgliedern die Benennung eines Wahlbeobachters zu gestatten, mündlich vor der Bundesversammlung zu begründen. Zudem rügte Pastörs die Weigerung Lammerts, einen von NPD-Mitgliedern beantragten Tagesordnungspunkt „Vorstellung der Kandidaten“ im Plenum zur Abstimmung zu stellen und die Aussprache darüber zu eröffnen. Hinter diesen Einzelanträgen stand im Kern die Frage, ob die Bundesversammlung als ein parlamentsähnliches Verfassungsorgan zu begreifen ist, dessen Mitglieder daher ähnliche Rechte wie bspw. Bundestagsabgeordnete haben und dessen Verfahrensregeln daher parlamentarischen Standards und Üblichkeiten folgen, oder ob die Bundesversammlung sich so stark von einem Parlament unterscheidet, dass sich auch das Verfahren und die Statusrechte ihrer Mitglieder deutlich von denjenigen eines Parlaments unterscheiden. Als richterliche Zusammenfassung der Kernaussagen des Urteils vom 10. Juni 2014 sind der Entscheidung folgende zwei Leitsätze vorangestellt:
tenauslese und der Verfahrensabläufe bis zur 9. Bundesversammlung am 23. Mai 1989 bei Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 113 – 211. 6 Diese Erstmaligkeit bestätigte Voßkuhle auch mit seiner Aussage im Eingangsstatement, wonach die Bundesversammlung bis 2014 ein „weißer Fleck auf der verfassungspolitischen Landkarte“ in der ansonsten umfangreichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewesen sei (vgl. Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen Bundesversammlung am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 1). Siehe ferner Knapp, Wahl des Bundespräsidenten auf dem Prüfstand, Tagesspiegel, 11. 2. 2014, https://www.tagesspiegel.de/politik/ nach-klage-der-npd-wahl-des-bundespraesidenten-auf-dem-pruefstand/9466752.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Siehe auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 322; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 860.
A. Problemaufriss
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„1. Die Bundesversammlung hat nach Art. 54 Abs. 1 GG ausschließlich die Aufgabe, den Bundespräsidenten zu wählen; sie soll in ihren Abläufen die besondere Würde des Amtes unterstreichen. 2. Den Mitgliedern der Bundesversammlung sind durch Art. 54 GG außer dem Recht zur Teilnahme an der Wahl nur begrenzte Rechte zugewiesen. Ihre Rechtsstellung entspricht nicht der der Mitglieder des Bundestages.“7
Die nach richterlicher Auffassung beschränkten Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung hat das Bundesverfassungsgericht damit begründet, dass die Bundesversammlung ein kürähnliches Organ sei. Im Einzelnen heißt es: „Dagegen ist der Gegenstand, mit dem sich die Bundesversammlung ausschließlich zu befassen hat, durch das Grundgesetz festgelegt. Ihre Aufgabe besteht allein in der „Kür“ des Bundespräsidenten.“8 „Besondere Bedeutung wurde der Ausgestaltung des Wahlaktes beigemessen (vgl. Greve in: Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, Protokoll, S. 115; Becker, in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 13/2, 2002, S. 812; zum Charakter der Wahl als „Kür“ vgl. Carlo Schmid, in: Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, Protokoll, S. 116). Die Bundesversammlung hat nicht nur zur Aufgabe, den Bundespräsidenten zu wählen, sondern sie soll zugleich in ihren Abläufen die besondere Würde des Amtes unterstreichen.“9
Während in dem Urteil das Wort „Kür“ nur zweimal und zudem in Anführungszeichen verwendet wurde (dies mit Verweis auf Carlo Schmid und dessen Ausführungen im Parlamentarischen Rat bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes), wurde die Charakterisierung des Wahlverfahrens als „Kür“ im Rahmen der Urteilsverkündung beim mündlich vorgetragenen Eingangsstatement des früheren Präsidenten und damaligen Vorsitzenden Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle10 noch wesentlich deutlicher benannt. Voßkuhle führte hier aus: „(…) Vorab möchte ich jedoch die allgemeinen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Charakter der Bundesversammlung hervorheben. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Bundesversammlung ein reines Kreationsorgan; ihre ausschließliche Aufgabe ist es nach Art. 54 Abs. 1 GG, den Bundespräsidenten zu wählen. Dementsprechend kann der verfassungsrechtliche Status der Mitglieder der Bundesversammlung nicht losgelöst von der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten beurteilt werden. Der Verfassungsgeber hat im Grundgesetz das Amt des Bundespräsidenten aufgrund der Erfahrung mit der Weimarer Reichsverfassung konzipiert. Nach der Ausgestaltung seines Amtes ist er nicht einer der drei klassischen Gewalten zuzuordnen. Er verkörpert die Einheit 7
BVerfGE 136, 277, 277. BVerfGE 136, 277, 318. 9 BVerfGE 136, 277, 312. 10 BVerfGE 136, 277, 277 ff.; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10). Vgl. auch BVerfGE 138, 125, 125 ff. 8
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Kap. 1: Einleitung des Staates. Autorität und Würde seines Amtes kommen gerade auch darin zum Ausdruck, dass es vor allem auf die geistig-moralische Wirkung angelegt ist. Mit dieser Stellung korrespondiert das Verfahren seiner Wahl. Es soll nicht nur ein Ergebnis hervorbringen, sondern in seinen Abläufen die besondere Würde des Amtes unterstreichen. Angesichts dieses Befundes kann zur Bestimmung der Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung nicht auf die Rechte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zurückgegriffen werden. Denn: Anders als im Bundestag ist der Gang der Geschäfte in der Bundesversammlung weitgehend vorbestimmt. Nach Art. 54 Abs. 1 GG findet die Wahl „ohne Aussprache“ statt. Eine Personal- oder Sachdebatte über oder mit dem Kandidaten soll gerade ausgeschlossen werden. Dementsprechend hat auch die Öffentlichkeit für die Bundesversammlung eine andere Funktion als für den Bundestag. Es kommt allein auf die Sichtbarkeit des Wahlaktes in seinen realen und symbolischen Dimensionen an. Der Präsident des Bundestages hat als Leiter der Bundesversammlung die Aufgabe, für eine ordnungsgemäße Durchführung der Wahl zu sorgen. Ihm stehen weitergehende Befugnisse zu als bei der Leitung von Sitzungen des Bundestages. Dementsprechend kann er solche Anträge, die nicht die Durchführung der Wahl an sich betreffen oder offensichtlich nicht im Einklang mit der Verfassung stehen, nicht zur Abstimmung stellen und damit die zeremonielle, symbolische Bedeutung des Wahlakts bewahren. Seine Leitungsbefugnisse sind nur insoweit beschränkt, dass er nicht von sachfremden Erwägungen geleitete Entscheidungen treffen darf. Im Übrigen hat er lediglich darauf hinzuwirken, dass alle Mitglieder der Bundesversammlung durch Stimmabgabe am Wahlakt teilnehmen und ihre Stimmen gemäß Art. 54 Abs. 6 GG und den Grundsätzen freier und gleicher Wahl gewertet werden. Alles in allem offenbart sich in der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung ein eigentümlicher, demokratisch veredelter Rückgriff auf das Erbe der konstitutionellen Monarchie, der vom Verfassungsgeber aber so gewollt war und der der Bundesrepublik Deutschland letztlich auch gut getan hat.“
Mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und Voßkuhles Eingangsstatement wurden wichtige Rechtsfragen aufgeworfen: Wird der Organwalter des Verfassungsorgans „Bundespräsident“ von der Bundesversammlung durch „Küren“ oder durch „Wählen“ bestimmt?11 Ist die Bundesversammlung nach dem Willen des Verfassungsgebers als ein kürähnliches oder als ein parlamentsähnliches Organ einzuordnen? Und hat diese Einordnung Folgen für den Status ihrer Mitglieder sowie das bei der Bestimmung des Bundespräsidenten anzuwendende Verfahren und wenn ja welche? Zugespitzt formuliert: Sind die Mitglieder bloß akklamierende Wahlmänner oder doch eher Abgeordnete mit freiem Mandat? Hat die Bundesversammlung sich, was § 8 S. 2 BPräsWahlG vorgibt, „sinngemäß“ an der Geschäftsordnung des Bundestages zu orientieren, bis sich die Bundesversammlung gegebenenfalls eine eigene Geschäftsordnung gegeben hat? Oder kommt die Geschäftsordnung des Bundestages (und damit die Pflicht des Versammlungsleiters zur Ausspracheeröffnung zu jedem Tagesordnungspunkt, § 23 GO-BT) oder das Recht jedes Mitglieds, Anträge zur Geschäftsordnung zu stellen und zur Geschäftsordnung zu reden (§ 29 GO-BT) auch in der Konstituierungsphase der Bundesversammlung 11 Zu den Begriffsdefinitionen und den Charakteristika einer „Kür“ und einer „Wahl“ vgl. Kapitel 3 B., S. 124 – 142.
B. Stand der Forschung
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nicht zum Tragen, weil das Erfüllen dieser Pflicht durch den Sitzungsleiter und die Inanspruchnahme dieser Rechte durch die Mitglieder nicht zum Akt des „Kürens“ passen würde?
B. Stand der Forschung Obwohl die Charakterisierung der Bundesversammlung als kürähnliches Organ durch das Bundesverfassungsgericht und die aus ihr gezogenen Schlussfolgerungen neu waren und – vor allem dem Statement Voßkuhles zufolge – diese Einordnung den wesentlichen Begründungsansatz für die beiden oben zitierten Leitsätze abgibt und obwohl es sich – wie erwähnt – bei dem Urteil vom 10. Juni 2014 und dem Beschluss vom 16. Dezember 2014 überhaupt um die erstmalige vertiefte Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit der Bundesversammlung handelte, haben beide Entscheidungen kaum wissenschaftliche Resonanz gefunden. Sie haben erst recht nicht zu einer eingehenderen12 Auseinandersetzung mit dem Verfassungsorgan „Bundesversammlung“ an sich und der These vom Wahlverfahren als „Kür des Bundespräsidenten“ geführt. Erstaunlicherweise sind die Entscheidungen nicht etwa zum Auftakt für eine intensive Forschungsarbeit zur Bundesversammlung geworden. Vielmehr liegen auch rund neun Jahre nach den beiden bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen nur einige wenige wissenschaftliche Werke zur Bundesversammlung vor. Pionierarbeit hat insoweit die an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg entstandene, 1993 erschienene, knapp 280-seitige Dissertation von Beate Braun13 geleistet. Diese Studie war die erstmalige rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bundesversammlung und ist dies bis heute geblieben. Inhaltlich legt sie den Schwerpunkt auf die Entstehungsgeschichte im Parlamentarischen Rat sowie eine chronologische Darstellung der Abläufe und Ergebnisse der Bundespräsidentenwahlen bis 1989. Den Ablauf der Bundesversammlung untersuchte Braun dagegen lediglich beschreibend14 ohne näheres Eingehen auf juristische Fragestellungen. Aus der Arbeit Brauns wird insbesondere deutlich, dass die Entscheidung der „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ gegen eine Volkswahl des Bundespräsidenten und für die Schaffung der Institution „Bundesversammlung“ nicht ohne Rückschau auf die Weimarer Zeit verstanden werden kann. Diese Entstehungsgeschichte des 12 Als Ausnahme kann nur – soweit ersichtlich – der politikwissenschaftliche Aufsatz von Heinrich Pehle (Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 321 – 327) angeführt werden, der die Einordnung der Bundesversammlung als „Kürorgan“ durch das Bundesverfassungsgericht aufgreift und analysiert. 13 Braun, Die Bundesversammlung, 1993. 14 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 88 – 110 (unter C. II. „Der Ablauf der Bundespräsidentenwahl“) und S. 110 – 112 (III. „Verfahrensablauf der Bundespräsidentenwahl“).
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Kap. 1: Einleitung
Grundgesetzes ist seit der Veröffentlichung der Protokolle des Herrenchiemseer Verfassungskonvents sowie des Parlamentarischen Rates in einer in den Jahren 1975 bis 2009 nach und nach erschienenen 14-bändigen Reihe inzwischen gut zugänglich.15 Eher nur am Rande wird die Bundesversammlung dagegen in einer unter der Betreuung von Werner Heun an der Georg-August-Universität Göttingen verfassten und 2010 erschienenen, umfangreichen (550 Seiten) juristischen Dissertation von Lutz Mehlhorn16 behandelt. Mehlhorn konzentriert sich – dies rechtsvergleichend mit der Stellung des Bundespräsidenten Österreichs – auf die Kompetenzen des Bundespräsidenten.17 In der vorliegenden Untersuchung, die ihren Fokus auf die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung legt, stehen diese Kompetenzen dagegen nicht im Zentrum des Interesses. Wegen der anderen Schwerpunktsetzung geht Mehlhorn umgekehrt lediglich auf sieben Seiten18 auf das Verfassungsorgan Bundesversammlung ein. Für die immer wieder aufkeimende gesellschaftliche Diskussion über eine mögliche Direktwahl des Bundespräsidenten stellt Mehlhorns Arbeit durch ihren verfassungsrechtlichen Vergleich sowie durch seine umfassende Abwägung von Vor- und Nachteilen der indirekten Wahl eine wichtige Quelle dar.19 Sieht man von einzelnen Aufsätzen ab, die zumeist singuläre Probleme rund um den Ablauf vergangener Bundesversammlungen behandelt haben, finden sich systematische und etwas ausführlichere Ausarbeitungen zur Bundesversammlung, 15 Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 1 – 14, 1975 – 2009. 16 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010. 17 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 146 – 254. Weitere Ausführungen zu den Kompetenzen des Bundespräsidenten und dem Hinweis, dass es nach wie vor erhebliche Übereinstimmungen mit der Weimarer Reichsverfassung und Vorgängerverfassungen gebe: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 9 – 12; Butzer, Hat Adenauer damals richtig hingeschaut? Anmerkungen zur These von der politischen Machtlosigkeit des Bundespräsidentenamtes, NJW 2017, 210, 210 ff.; ferner v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 5 f., 8; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, vor Art. 54, Rn. 1 – 3; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 635 – 651; Fritz, in: BK-GG, vor Art. 54 – 61 (Stand: 1968), Rn. 21 – 34 sowie Art. 54 (Stand: 2016), Rn. 56 – 62, 74 – 205; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 68 – 72; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, vor Art. 54, Rn. 13 – 16; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 208 – 278; Strohmeier, Der Bundespräsident: Was er kann, darf und muss bzw. könnte, dürfte und müsste, ZfP 2008, 175, 176 ff.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54 ff., Rn. 14 – 31; Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33 f. 18 Im Zweiten Teil unter C. I. 2 a) – c): Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 94 – 101. 19 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 260 – 285.
C. Gang der Untersuchung
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darunter auch (teils kritische) Anmerkungen zum Urteil und zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2014, nur in den Kommentierungen des Art. 54 GG. Zu nennen sind hier insbesondere die Kommentierung von Gernot Fritz20 im Bonner Kommentar zum Grundgesetz sowie die Kommentierung von Hermann Butzer21 in dem ursprünglich von Bruno Schmidt-Bleibtreu und jetzt von Hans Hofmann und Günter Henneke herausgegebenen Grundgesetzkommentar. Hinsichtlich des Ablaufs einer Bundesversammlung werden diese vergleichsweise breiten Kommentierungen ergänzt durch einen Beitrag von Wolfgang Kessel22 in dem von Hans-Peter Schneider und Wolfgang Zeh herausgegebenen, 1989 erschienenen Werk „Parlamentsrecht und zur Parlamentspraxis“, wobei zu beachten ist, dass Kessel eine Ablaufschilderung und eine Rechtslage wiedergibt, wie sie vor über 30 Jahren bestanden hat. Dagegen fehlt bis heute ein Kommentar zu dem als Ausführungsgesetz zu Art. 54 GG (vgl. Art. 54 Abs. 7 GG) ergangenen „Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung“ vom 25. April 1959 (BGBl. I, S. 230) in der Fassung des Gesetzes vom 12. Juli 2007 (BGBl. I, S. 1326). Erwähnt sei schließlich noch, dass zu der hier besonders interessierenden Frage der Einordnung der Bundesversammlung vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – soweit ersichtlich – lediglich Dieter C. Umbach und Jürgen Jekewitz Stellung genommen hatten; beide haben anders als das Bundesverfassungsgericht die Bundesversammlung als ein „parlamentsähnliches Gremium“ angesehen und eingeordnet.23 Sieht man von der schon erwähnten Kommentierung von Hermann Butzer ab, sind ansonsten die wesentlichen Aussagen des Urteilsspruchs des Bundesverfassungsgerichts in den Kommentierungen nur unreflektiert übernommen worden.24
C. Gang der Untersuchung Vor diesem Hintergrund findet eine Monographie, die die Bundesversammlung eingehend untersucht und verfassungsrechtlich einordnet sowie die Verfassungsfragen des Wahlverfahrens näher beleuchtet, ihre Rechtfertigung und wissenschaftliche Lücke. Die vorliegende Untersuchung geht dabei davon aus, dass die 20
Fritz, in: BK-GG, vor Art. 54 – 61 (Stand: 1968) sowie Art. 54 (Stand: 2016). Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54 sowie zur Historie in Art. 54 der 11. Aufl. 2008. 22 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, S. 1599 – 1618; ferner auch Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009. 23 Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 18. 24 So bspw.: Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 21; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 1; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 10 – 19. 21
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Kap. 1: Einleitung
Untersuchung der These einer „Kür“ durch die Bundesversammlung zunächst einer geschichtlichen Einordnung bedarf, da alle Verfassungen Zeugnis und Ergebnis geschichtlicher Erfahrungen mit gesellschaftlicher Ordnung und mit der Ausübung von Herrschaftsgewalt sind. Daher befasst sich Kapitel 225 der Arbeit zunächst mit der Wahl des Staatsoberhauptes und speziell mit den damit zusammenhängenden Entwicklungen und Diskussionen um den Reichspräsidenten in der Weimarer Republik. Im Anschluss wird die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für die Wahl des Staatsoberhauptes durch eine Bundesversammlung und für eine fünfjährige Amtszeit untersucht. Hierbei erfolgt durch die Sichtung und Auswertung der Protokolle von Herrenchiemsee sowie des Parlamentarischen Rates eine eingehende Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich die Wertung des Bundesverfassungsgerichts und ihres Präsidenten, die Bundesversammlung als ein kürähnliches Organ einzuordnen und zu qualifizieren, historisch belegen und begründen lässt. Ein verfassungsvergleichender Exkurs zur Wahl des Staatsoberhauptes in der ehemaligen DDR rundet diesen Abschnitt ab. In Kapitel 326 wird, bezugnehmend auf die historische Analyse, eine Einordnung der Bundesversammlung vorgenommen und zu klären versucht, ob sie als ein kürähnliches Organ, als ein parlamentsähnliches Wahlorgan, als ein „Organ sui generis“ (eigener Art) oder als ein sowohl parlamentsähnliche als auch kürähnliche Elemente vereinigendes „Organ mixtum compositum“ zu qualifizieren ist. Nach der Darstellung der bundesverfassungsgerichtlichen Begründungen für die kürähnliche Einordnung werden die hierbei aufgeworfenen Prototypen „Parlament“ und „Kür“ definiert und in einem historischen Kontext gegenübergestellt. Dies erfolgt als Vergleich der Krönungszeremonie durch die Kurfürsten des Römischen Reiches, an die die Begriffswahl „Kür“ erkennbar anknüpft, sowie der Papstwahl einerseits und den heute für die Bundesversammlung normierten Verfahrensregelungen in Art. 54 GG und im Bundespräsidentenwahlgesetz andererseits. Ziel dieser Ausarbeitung ist ferner, neben der bisher noch ausstehenden gründlichen Auseinandersetzung mit der Grundannahme des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts die Vielzahl bisher zu wenig und vor allem getrennt voneinander diskutierter rechtlicher Einzelfragen rund um die Bundesversammlung, ihre Mitglieder und die Verfahrensschritte bei der Bestimmung des Bundespräsidenten unter einem einheitlichen Blickwinkel, nämlich demjenigen der Zweckbestimmungsalternative „Küren oder Wählen“, zu untersuchen. Deshalb stellt Kapitel 427 den Ablauf des Wahlverfahrens unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Einzelprobleme und der getroffenen staatsrechtlichen Einordnung aus Kapitel 3 umfassend dar – beginnend mit der Vorbereitung bis hin zum Abschluss einer Bundesversammlung.
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Kapitel 2, S. 30 – 116. Kapitel 3, S. 117 – 179. 27 Kapitel 4, S. 180 – 355.
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C. Gang der Untersuchung
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Die bisherigen großen Volksparteien haben bei den Bundes- und Landtagswahlen in den letzten zehn Jahren zunehmend Stimmenanteile verloren. Parallel haben kleinere Parteien an Zustimmung gewonnen beziehungsweise etablieren sich neue Parteien auch bundesweit in den Volksvertretungen. Daraus resultieren vermehrt Schwierigkeiten bei der Mehrheitsbildung.28 Deshalb soll Kapitel 4 eine Art Handbuch für verfassungsrechtliche Fragestellungen sein, die unter diesen veränderten Rahmenbedingungen zukünftig während einer Bundesversammlung auftreten können. Dem Ablauf einer Bundesversammlung nachgelagert wird am Ende noch kurz die Eidesleistung des Bundespräsidenten vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates (vgl. Art. 56 GG) angesprochen, bevor die Bearbeitung in Kapitel 529 in eine abschließende und zusammenfassende Betrachtung mündet. In einem Anhang werden schließlich noch wesentliche Ergebnisse tabellarisch gebündelt und zudem alle in der Arbeit angeführten Personen der Zeitgeschichte in alphabetischer Reihenfolge mit ihren wesentlichen Funktionen stichwortartig aufgelistet. Zur besseren Lesbarkeit wird entsprechend der normativen Formulierungen jeweils die männliche Form gewählt, wenngleich selbstverständlich gemäß Art. 3 Abs. 2 GG alle Ämter und Funktionen in der Bundesrepublik allen Personen, die die Voraussetzungen erfüllen, offenstehen.30
28 Vergleichbare Schwierigkeiten im parlamentarischen Miteinander sind bereits in jüngster Zeit im Deutschen Bundestag bei Debatten und Abstimmungen bzw. bei der Nichtwahl mehrerer Kandidaten der AfD für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten, bei der (erstmaligen) Abwahl des Ausschussvorsitzenden Stephan Brandner (AfD, Abwahl vom Vorsitz des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages) im November 2019 oder bei der nicht erhaltenen Stimmenmehrheit zur Mitgliedschaft in besonders sicherheitsrelevanten Bundestagsausschüssen sichtbar geworden. 29 Kapitel 5, S. 356 – 376. 30 1979 wurde erstmalig durch die SPD mit Annemarie Renger, damalige Bundestagsvizepräsidentin, eine Frau als Kandidatin zur Bundespräsidentenwahl benannt, die jedoch dem Christdemokraten und damaligen Bundestagspräsidenten Karl Carstens unterlag.
Kapitel 2
Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten: Die Diskussion auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat Obwohl in der Weimarer Verfassung die Entscheidungsfindung zugunsten einer Direktwahl des Reichspräsidenten durch das Volk ausfiel, entschied sich der Gesetzgeber im Grundgesetz bewusst für eine Bundespräsidentenwahl durch die eigens dafür geschaffene Bundesversammlung. Hiermit begab sich die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich auf einen ganz eigenen Weg. Ein Blick in das Nachbarland Frankreich zeigt, dass der dortige Präsident1 seit 1962 vom Volk direkt gewählt wird, während in Italien2 hierüber in einer gemeinsamen Sitzung der Abgeordnetenkammer, des Senates sowie von je drei Regionalvertretern entschieden wird.3 In Österreich wählt das Staatsvolk den Bundespräsidenten,4 während in der Schweiz der siebenköpfige Bundesrat als Kollegialorgan die Funktion des Staatsoberhauptes ausübt.5 In den Vereinigten Staaten wird der Präsident indirekt gewählt. Nachdem die Kandidaten durch parteiinterne Vorwahlen festgelegt wurden, wählen die Wahlberechtigten ein Wahlmännerkollegium, das ihrerseits den Präsidenten und den Vizepräsidenten für eine vierjährige Amtszeit wählt.6 Wichtig für eine spätere Einordnung der Bundesversammlung als Organ ist, welches Wissen, welche Erfahrungen aus der Weimarer Zeit und welche Gründe gegen eine (erneute) Volkswahl, die Modifikation der Amtszeit und die beschnittenen Kompetenzen des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt7 mit einer Abkehr 1
Vgl. zum Staatsoberhaupt Frankreichs und dessen geschichtliche Entwicklung: Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 229 – 262 sowie Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 24 f. 2 Vertiefend zum Staatsoberhaupt Italiens: Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 152 – 177 sowie Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 29. 3 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 4 m. w. N. 4 Eingehend hierzu Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 333 – 340. 5 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 1, 60; Furrer, Bundesrat und Bundesverwaltung, 1986, S. 36; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 30. 6 Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 21 – 23 sowie Rn. 26 m. w. N. 7 Interessanterweise legt das Grundgesetz nicht explizit fest, dass der Bundespräsident das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist. Dies ergibt sich jedoch aus dem Willen
A. Das mitgebrachte Wissen
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vom Präsidialsystem gesprochen haben. Der Erfahrungsschatz aus dieser Zeit bedarf daher der eingehenden Aufarbeitung und Untersuchung.
A. Das mitgebrachte Wissen: Bestimmung, verfassungsrechtliche Stellung und Amtsführung der Weimarer Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg Mit der Ausarbeitung einer Reichsverfassung für die Weimarer Republik war die konstituierende Nationalversammlung betraut.8 Friedrich Ebert berief am 15. No-
des Gesetzgebers und der Bezeichnung „Präsident“, die in Republiken traditionell für das Staatsoberhaupt verwendet wird. Zudem ist der deutsche Bundespräsident mit den traditionellen nach außen und innen wirkenden Kompetenzen eines Staatsoberhauptes ausgestattet, wie bspw. die in Art. 59 GG zugewiesene Aufgabe der völkerrechtlichen Vertretung des Bundes, das ihn zum Staatsoberhaupt i. S. v. Art. 7 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge macht. Eingehend hierzu v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 1; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 2; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 23 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 52 ff.; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 2 – 6; Köhne, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2008, 95, 95; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 2, S. 202. Vereinzelt wird dem Bundespräsidenten wegen seiner geringen Machtfülle die Bezeichnung als Staatsoberhaupt abgesprochen, hierzu Stellung nehmend: Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 3 f. Vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 1, S. 189 f., der darauf verweist, dass die republikanischen Verfassungen den Ausdruck „Staatsoberhaupt“ vermeiden. Zum Begriff des Staatsoberhauptes, der so nicht im Grundgesetz vorkommt, und dessen Geschichte: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 1 f.; Fritz, in: BK-GG, vor Art. 54 – 61 (Stand: 1968), Rn. 9 – 13; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 7; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 11; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 1 – 3; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 32; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54 ff., Rn. 1; Wiegand, Zum Begriff des Staatsoberhaupts, AöR 2008, S. 475 – 522. 8 Vertiefend hierzu: Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 42 – 49; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1179 f.; Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 119 – 146. Die Weimarer Nationalversammlung lehnte mit 344 zu 98 Stimmen die Einführung einer Räteregierung ab und verständigte sich mit 400 Stimmen darauf, eine verfassungsgebende Nationalversammlung mit der Ausarbeitung der Reichsverfassung zu betrauen. Die Zusammensetzung der Weimarer Nationalversammlung, die sich am 6. Februar 1919 in Weimar konstituierte, ergab sich durch die allgemeine, geheime, gleiche und unmittelbare Wahl, die am 19. Januar 1919 stattfand. In den Debatten äußerten die USPD und teilweise auch die Sozialdemokraten Bedenken gegen eine Einzelperson als Staatsoberhaupt und verwiesen auf Louis-Napoléon Bonaparte, der Frankreich als Präsident der Zweiten Französischen Republik in ein Kaiserreich verwandelte. Hugo Preuß sprach sich gegen ein Direktorium aus, da sich dieses für ein großes Staatswesen nicht eigne und das Parlament ausreichend Macht habe, um Missbrauch der Staatsgewalt zu verhindern. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 6; Deuerlein, Das Werk der Nationalver-
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
vember 1918 – also schon sechs Tage nach der Novemberrevolution – Hugo Preuß9 zum Staatssekretär im Reichsamt des Inneren und beauftragte ihn zugleich mit der Erstellung eines ersten Entwurfes einer Reichsverfassung für die Nationalversammlung.10
I. Die Diskussionen in der Nationalversammlung um eine Volkswahl und die Befugnisse des Reichspräsidenten Die später beschlossene Entscheidung für die Wahl des Reichspräsidenten durch die Bevölkerung war bei den Verfassungsberatungen in der konstituierenden Nationalversammlung nicht unumstritten.11 Während die USPD und der linke Flügel der Sozialdemokratie zu einem aus dem Reichstag hervorgegangenen und gewählten, ihm verantwortlich und jederzeit abberufbaren Präsidenten tendierten,12 galt der einflussreiche Soziologe Max Weber13 –
sammlung, 1960, S. 13; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 5; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 422. 9 Eingehend zur Person Preuß’: Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 19 – 41, 203 – 207; Pohl, Demokratisches Denken in der Weimarer Reichsverfassung, 2002, S. 60 – 68 sowie einer Bewertung seines demokratischen Verständnisses auf S. 93 – 98, 100. Zum maßgeblich von Hugo Preuß ausgearbeiteten Verfassungsentwurf der Weimarer Reichsverfassung sowie den Diskussionen in der Nationalversammlung in Bezug auf das Staatsoberhaupt und dessen Wahlmodus: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 11 – 17; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 423 f. 10 Am Tag zuvor hatte Hugo Preuß im Berliner Tageblatt zu den revolutionären Ereignissen Stellung bezogen (abgedruckt bei: Preuß, Staat, Recht und Freiheit, 1964, S. 365 ff.) und grundsätzlich den Sturz des Obrigkeitsstaates befürwortet, aber zugleich betont, dass die Diktatur einer Klasse untragbar für eine Demokratie und allenfalls eine Übergangslösung sei. Preuß sprach sich für eine Gleichberechtigung aller Volksgenossen aus und lehnte als eher bürgerlich-liberaler Politiker eine sozialistische Verfassung ab. Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 69 f.; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 46; Pohl, Demokratisches Denken in der Weimarer Nationalversammlung, 2002, S. 58. 11 Eine ausführliche Darstellung zu einzelnen Standpunkten von Parteien und Persönlichkeiten ist zu finden bei: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 6 – 12 sowie tabellarisch auf S. 63 f.; Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung, 2009, S. 3 – 33; sowie knapp bei Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 41; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 122 – 130. Zu den fünfzehn privaten Entwürfen, die in der Mehrzahl noch vor dem Entwurf von Preuß verfasst wurden: Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 97 – 100. 12 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 380; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 5. 13 Vertiefend zum Wirken Webers siehe Schäfers, Max Weber als Soziologe und Politologe, GWP 2015, 105, 105 – 110.
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nach anfänglichem Zögern im Jahre 191714 – als einer der entscheidenden Fürsprecher15 der dann beschlossenen Präsidentenwahl mittels Volksabstimmung.16 So äußerte Weber 1918 die Überzeugung, dass nur die unmittelbare „Führerwahl“, die „magna charta der Demokratie“, eine Unabhängigkeit des Präsidenten vom Parlament gewährleiste.17 Er halte es für bedenklich, den „in schweren Mi[ss]kredit gekommenen Parlamenten“ alle Gewalt anzuvertrauen.18 Hugo Preuß hingegen sah in seinem am 3. Januar 1919 abgeschlossenen ersten19 der insgesamt fünf20 Entwürfe21 für die konstituierende Nationalversammlung eine 14 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 50; Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte politische Schriften, 1921, S. 167. 15 Weber und Preuß stimmten in ihren Forderungen nach einem Ausbau der parlamentarischen Rechte und einer starken Stellung des Staatsoberhauptes überein. Weber wollte das Präsidentenamt jedoch mit weitergehenden Rechten ausstatten als Preuß, der der Ansicht war, dass der Reichspräsident seine politischen Amtshandlungen in Übereinstimmung mit der Reichsregierung und dem Parlament treffen müsse. Vgl. Immel, Hugo Preuß und die Weimarer Reichsverfassung, 2002, S. 34. 16 Der bedeutendste private Entwurf, der die Beratungen der Nationalversammlung erkennbar beeinflusst hat, ist die Gemeinschaftsarbeit von zehn Juristen des Vereins „Recht und Wirtschaft“ in Berlin Mitte 1918. Der Entwurf sah – wie auch die amtlichen Entwürfe der Reichsverfassung und die Mehrheit der privaten Entwürfe – die Volkswahl des Präsidenten auf sieben Jahre durch einfache Mehrheit vor. In einem ggf. notwendigen zweiten Wahlgang sollte eine Stichwahl zwischen den beiden erfolgreichsten Kandidaten stattfinden. Vgl. Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 5; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 104 f., 107. 17 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 50; Weber, Der Reichspräsident, in: Gesammelte politische Schriften, 1921, S. 393. 18 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 10; Immel, Hugo Preuß und die Weimarer Reichsverfassung, 2002, S. 33 f.; Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 77; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 117 – 122; Winckelmann, Max Weber – Gesammelte Politische Schriften, 2. Aufl. 1958, S. 487 sowie S. 306 – 443. 19 Den Urentwurf der Verfassung hatte Hugo Preuß im Anschluss an die Sachverständigenkonferenz im Dezember 1918 ausgearbeitet und diesen dem Rat der Volksbeauftragten Anfang Januar 1919 zusammen mit der Denkschrift, datiert auf den 3. Januar 1919, überreicht. Vgl. Heuss (Hrsg.), Staat, Recht und Freiheit, 1965, S. 368 – 394; Immel, Hugo Preuß und die Weimarer Reichsverfassung, 2002, S. 50 f. Zu den Kompetenzen des Reichspräsidenten nach dem ersten Entwurf siehe: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1180. 20 Die Zählung orientiert sich an Triepel, Quellensammlungen zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 1931, S. 6 ff. Demnach gilt der Entwurf vom 3. Januar 1919 als erster, der Entwurf vom 20. Januar 1919 als zweiter, der Entwurf vom 17. Februar 1919 als dritter, der Entwurf vom 21. Februar 1919 als vierter und der Entwurf des Verfassungsausschusses (Achter Ausschuss) vom 18. Juni 1919 als fünfter Entwurf. 21 Hugo Preuß musste seinen ursprünglich vorgelegten Entwurf mehrfach abändern. Während der Staatsaufbau und die Rolle des Reichspräsidenten in der Nationalversammlung auf Zustimmung trafen, war die Frage nach Föderativ- oder Einheitsstaat die oftmals dominierende Frage und der föderative Charakter der Verfassung wurde in den Folgeentwürfen
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Kombination von Präsidial- und parlamentarischem System vor, tendierte aber zunächst zu einer parlamentarischen Präsidentenwahl.22 Doch bereits Mitte Januar 1919 änderte Hugo Preuß seine Auffassung und äußerte sich in einer Denkschrift zum ersten Entwurf der Weimarer Reichsverfassung dahingehend, dass ein volksgewählter Reichspräsident die vielfältigen Gesichtspunkte „sicherer und besser abwägen“ könne als ein parlamentarisch legitimierter Präsident.23 Zudem solle die Volkswahl die „politische Führerauslese fördern“ sowie die innerstaatliche Harmonie zwischen Parlament und Präsident stärken.24 Eine Wahl nur durch das Parlament würde das Ziel einer Kontrollinstanz und einem Gegengewicht25 gegenüber dem Parlament nicht erreichen. In den Augen Preuß’ war das französische System mit einer Wahl des Präsidenten durch das Parlament ein unechtes parlamentarisches System. Vielmehr müsse das Volk mit dem Präsidenten und dem Volkshaus zwei gleichgewichtige Organe schaffen, deren Bindeglied die parlamentarische Regierung darstelle.26 Der Reichspräsident müsse – abweichend zum amerikanischen System – durch das Volk in unmittelbarer und geheimer Wahl mit relativer Mehrheit gewählt werden. Hierdurch werde eine starke demokratische Exekutive ohne die Gefahr eines schädigenden Dualismus erreicht.27 Eine zu starke gestärkt. Preuß’ Traum von einem Einheitsstaat und der Zerschlagung Preußens war geplatzt. Der Reichstag bestand fortan nur noch aus einer Kammer. Anstelle des ursprünglichen Volkshauses gab es einen wesentlich einflussreicheren Reichsrat. Zudem bestanden die Volksbeauftragten auf einen eigenen, im ersten Entwurf fehlenden, Grundrechtsteil, dem Preuß abneigend gegenüberstand. Abgedruckt sind alle fünf Entwürfe bei Triepel, Quellensammlungen zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 1931, S. 6 – 45 sowie besprochen bei Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 70 – 79 und Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1179 – 1184. Siehe hierzu auch: Dubben, Die Privatentwürfe der Weimarer Reichsverfassung, 2009, S. 25 – 33 m. w. N.; Gillessen, Hugo Preuß, 2000, S. 103; Immel, Hugo Preuß und die Weimarer Reichsverfassung, 2002, S. 20 f.; Pohl, Demokratisches Denken im Vorfeld der Nationalversammlung, 2002, S. 58, 72 – 102 sowie zu den Reaktionen auf die einzelnen Entwürfe auf den S. 83 – 93. 22 Dubben, Die Privatentwürfe der Weimarer Reichsverfassung, 2009, S. 124; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 5. 23 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 57; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 47. 24 Vgl. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 50; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 10; Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 77 f. 25 Urheber der „Gegengewichtstheorie“ war der Staatsrechtler Robert Redslob in seinem 1918 erschienenen Werk „Die parlamentarische Regierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. Eine vergleichende Studie über die Verfassungen von England, Belgien, Ungarn, Schweden und Frankreich“. Nach Auffassung Redslobs sei als Grundlage des echten Parlamentarismus ein Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative erforderlich. Vertiefend hierzu neben der o. g. Primärquelle auch Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 47, 175 f.; Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 79 – 81. 26 Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 47; Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 78. 27 Eine Alternative zum Reichspräsidentenamt sah Preuß indes nicht. Er schloss somit sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Präsidentenwahl durch das Parlament aus, da
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Übermacht durch den Präsidenten trotz seiner ähnlichen Stellung zum Monarchen möge verhindert werde.28 Der Reichspräsident möge zugleich als überparteilicher Wahrer des Gemeinwohls moderierend und schlichtend in den politischen Prozess eingreifen.29 Während im zweiten Verfassungsentwurf die Amtszeit des Reichspräsidenten in Art. 67 von zehn auf sieben Jahre verkürzt wurde,30 entsprachen die Befugnisse dem ersten Entwurf.31 Im dritten Entwurf32 erfuhr die mögliche Absetzung des Reichspräsidenten, die auf Antrag und Beschluss des Reichstages mit Zweidrittelmehrheit durch Volksabstimmung erfolgen konnte, eine Änderung. Die Ablehnung der Absetzung des Reichspräsidenten durch Volksentscheid galt dann nicht nur als Wiederwahl des Reichspräsidenten, sondern hatte auch die Auflösung des Parlamentes zur Folge (vgl. Art. 71 Abs. 2, in der endgültigen Verfassung Art. 43). Der vierte Verfassungsentwurf Preuß’, der am 21. Februar 1919 eingebracht wurde33, sah in Bezug auf die Wahl des Reichspräsidenten in Art. 61 Abs. 3 eine Stichwahl vor, um für einen Kandidaten eine absolute Mehrheit zu erreichen.34 Gegen diesen letzteren Vorschlag wurden im Verfassungsausschuss gewichtige Bedenken vorgetragen. Zum einen werde bei der Zersplitterung des deutschen Parteienwesens eine große Zahl an Bewerbern auftreten, sodass zwei Bewerber in die Stichwahl gelangen könnten, hinter denen nur ein kleiner Teil des Volkes stünde. dies vom demokratischen Standpunkt aus verwerflich sei. Vgl. Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 78. 28 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 64 f.; Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 78. 29 Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 38. 30 Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 72, S. 673; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 87; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 6; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 65; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 3, S. 203. Zur Forderung des Abgeordneten Richard Fischer (SPD) in der Nationalversammlung nach einer fünfjährigen Amtsperiode sowie zur Forderung von Hugo Preuß nach einer zehnjährigen Amtsperiode: Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336: Bericht des Verfassungsausschusses, 1920, S. 292. 31 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1181. 32 Der Staatenausschuss behandelte diesen dritten Entwurf in der durch Gesetz vom 10. Februar 1919 bestimmten Zusammensetzung vom 18. bis 20. Februar 1919 in erster und am 21. Februar 1919 in zweiter Lesung, siehe hierzu: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1184. 33 In der mündlich in der Nationalversammlung am 24. Februar 1919 vorgetragenen Begründung bekannte sich Preuß nachdrücklich zu der starken Stellung des Reichspräsidenten, die der Entwurf vorsah. Neben dem aus unmittelbaren Volkswahlen hervorgehenden Parlament bedürfe die starke Präsidialgewalt derselben demokratischen Legitimation. Hierbei erhielt er in der Stellungnahme der Regierungsparteien Zustimmung vom Vorsitzenden der DDP, Erich Koch, wonach der Reichspräsident keinesfalls bloße „Repräsentationsfigur“ sein dürfe. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1185 – 1187. 34 Vgl. Triepel, Quellensammlungen zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 1931, S. 22 f.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Andererseits sei eine vorherige Einigung sich politisch nahestehender Parteien auf einen gemeinsamen Kandidaten schwierig, weil jede Partei die Anziehungskraft eigener Kandidaten testen wolle. Auch sei es der Stellung des Reichspräsidenten abträglich, wenn ein größerer Teil der Wähler diesen lediglich aus Mangel an Alternativen wähle, um einen noch unliebsameren Kandidaten zu vermeiden. Friedrich Meinecke hatte zudem Anfang Februar 1919 auf die Gefahr aufmerksam gemacht, dass bei einer Stichwahl kleine Parteien den Ausschlag geben könnten und damit einen unverhältnismäßigen Einfluss auf das Wahlergebnis ausüben würden.35 Relativierend äußerte Hugo Preuß sodann, dass der Reichspräsident nicht mit absoluter Mehrheit gewählt werden solle, da eine Stichwahl bedeutende Kosten verursache und die Gefahr unlauterer Machenschaften in sich trüge.36 Am Ende der ersten Lesung der Nationalversammlung wurde die weitere Beratung in den Verfassungsausschuss (den sog. „Achten Ausschuss“37) verwiesen. Nach weiteren Alternativvorschlägen38 beschloss der Verfassungsausschuss, dies in Übereinstimmung mit dem Regierungsentwurf, eine siebenjährige Amtszeit39 und eine Volkswahl des Präsidenten nicht mit einer absoluten, sondern einer relativen Mehrheit vorzuschreiben, um eine Stichwahl zu umgehen.40 Das Plenum der Nationalversammlung hingegen konnte sich nicht auf diesen Vorschlag einigen, hielt 35 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 157 m. w. N. 36 Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 78. 37 Dieser bestand aus 28 Mitgliedern, wovon 22 den Regierungsparteien und sechs der Opposition angehörten und tagte unter dem Vorsitz von Konrad Haßmann vom 4. März bis 2. Juni 1919 in erster und vom 3. bis 18. Juni 1919 in zweiter Lesung. Die dort vereinbarten Änderungen fanden im „Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs nach den Beschlüssen des Achten Ausschusses“, dem sog. fünften Entwurf vom 18. Juni Ausdruck und wurden an das Plenum weitergeleitet. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1190 f. m. w. N. und einer Auflistung der Mitglieder im Verfassungsausschuss. 38 Diskutiert wurde zum einen, eine Stichwahl durch lediglich einen Wahlgang mit dem Erfordernis einer relativen Mehrheit zu umgehen. Hiergegen wurde eingewandt, dass im deutschen Vielparteiensystem nicht mit einem starken Stimmgewicht für einen Kandidaten zu rechnen sei. Zum anderen wurde diskutiert, ob der Wähler schon beim ersten Wahlgang die Möglichkeit erhalten solle, eine zweite Person auf dem Stimmzettel zu vermerken, falls der an erster Stelle genannte Kandidat nicht die erforderliche Mehrheit erhalte (Eventualwahl). Dieser Vorschlag vermied zwar ebenfalls die Stichwahl, stieß jedoch auf Widerspruch, weil dies nicht durchsichtig genug sei, möglicherweise Verwirrung beim Wähler stiften könne und ein Ergebnis hervorbringe, das nicht den wahren Volkswillen ausdrücke, das von Taktiken und der Disziplin der Wähler abhänge. Vgl. Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 157 f. 39 Die siebenjährige Amtszeit entsprach damit fast dem Doppelten einer normalen Wahlperiode des Reichstages. In der zweiten Lesung scheiterte der Antrag der DNVP, die Amtsdauer des Reichspräsidenten – wie anfangs vorgesehen – auf zehn Jahre zu erhöhen, sowie der Antrag der Unabhängigen, das Amt des Reichspräsidenten zu streichen. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1192 f. m. w. N. 40 Siehe hierzu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1192 f. m. w. N.
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eine weitere Prüfung für erforderlich und entschied, die Wahl des Präsidenten nicht schon in der Verfassung zu regeln, sondern einem Reichsgesetz zu überlassen.41 Abweichende Ideen zu Preuß’ Verfassungsentwürfen wurden beispielsweise vom sozialdemokratischen Abgeordneten Simon Katzenstein in der dritten Lesung des Plenums der Weimarer Nationalversammlung am 4. Juli 1919 geäußert.42 Dieser schlug die Wahl des Staatsoberhauptes durch ein vereinigtes Parlament, also durch Reichstag und Reichsrat43 vor, was jedoch keine Unterstützung im Plenum fand. Auch der sozialdemokratische Abgeordnete Max Quarck sah in einem volksgewählten Präsidenten die Gefahr eines Übergewichtes gegenüber dem Parlament. Ferner sei ein einzelner Reichspräsident an der Spitze des Staates einer Monarchie zu ähnlich, weshalb ein Kollegialorgan erstrebenswert sei.44 Während sich Hugo Haase von der USPD ebenfalls gegen das Amt eines Reichspräsidenten aussprach und eine Kollegialregierung präferierte45, forderte auf der Gegenseite Albrecht Philipp (DNVP), den Reichspräsidenten mit einer noch größeren Machtfülle auszustatten, als es von den Regierungsparteien geplant war. Außerdem schlug er vor, die Wählbarkeit – analog der US-amerikanischen Verfassung – auf diejenigen Personen zu beschränken, die als Deutsche geboren wurden. Beide Vorschläge wurden abgelehnt.46 Insgesamt veränderten die vier nachfolgenden Entwürfe, die aus den Beratungen mit dem Staatenausschuss sowie aus den Debatten des Verfassungsausschusses und des Plenums der Nationalversammlung hervorgingen, die Regelungen zur Wahl und zu den Kompetenzen des Reichspräsidenten im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf Hugo Preuß’ nicht mehr substanziell47 und gingen in die endgültige 41 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 158 f. m. w. N. 42 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 14; Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 77. Einen vermittelnden Vorschlag brachte Ludwig Haas (DDP) in die Diskussion ein, wonach der Reichspräsident vom Reichstag zu wählen sei, sofern der erste Wahlgang der Volkswahl ohne absolute Mehrheit eines Kandidaten ausging. Vgl. Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 424 f. 43 Ausführlich zum Reichsrat in der Weimarer Republik: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 373 – 389. 44 Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 77. 45 Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 176. 46 In den ersten amtlichen Entwürfen sowie in der Mehrheit der Privatentwürfe war eine zehnjährige Staatsangehörigkeit oder deutsche Geburt noch vorgesehen. Vgl. Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Reichsverfassung – zwischen Konservativismus und Innovation, 2009, S. 123. 47 Hugo Preuß begleitete die Verfassungsentwürfe und die Diskussionen während der gesamten Entstehungszeit und war bei nahezu allen Sitzungen der Nationalversammlung und des Verfassungsausschusses anwesend. Daher wird er von zeitgenössischen Beobachtern nicht zu Unrecht als „Architekt der Reichverfassung“ bezeichnet. Bis zu seinem Tod 1925 hat er die Weimarer Reichsverfassung zudem kommentiert, popularisiert und legitimiert. Vgl. Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 59 f.; Ziegler, Die Deutsche
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Reichsverfassung ein.48 Der Preuß’sche Entwurf wurde am 31. Juli 1919 mit 262 zu 75 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.49
II. Die Volkswahl und die Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Zeit Bekanntermaßen stellte die zum 11. August 191950 in Kraft getretene Weimarer Reichsverfassung nach der militärischen Niederlage des konstitutionell-monarchischen Staates Bismarcks und dem Ende des 1. Weltkrieges im Herbst 1918 die erste demokratische Verfassung Deutschlands dar.51 Der von der Weimarer Nationalversammlung geschaffene demokratische, gewaltenteilende Rechtsstaat beendete damit alternative Bestrebungen einer an die Sowjetunion angelehnten Räterepublik52 und verfestigte die neue Staatsform des Deutschen Reiches. Anstelle eines Monarchen stand in der Weimarer Republik nach Art. 41 WRV ein unmittelbar gewählter, überparteilicher Reichspräsident, der bis 1934 zugleich als Staatsoberhaupt an der Spitze des Staates stand.
Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk, 1932, S. 91. Eine differenzierende Auffassung vertritt Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 45 – 49. 48 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 109 f. 49 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 14; Heilfron, Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, 5. Bd., 1921, 69. Sitzung, S. 343 und 71. Sitzung, S. 450. Ausführlich zu den Beratungen des Verfassungsentwurfes im Plenum sowie den drei Lesungen im Verfassungsausschuss: Pohl, Demokratisches Denken in der Nationalversammlung, 2002, S. 103 – 233. 50 Abgedruckt u. a. bei: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 151 – 157. Vertiefend zur Weimarer Reichsverfassung u. a. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 27, S. 40 f. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Entstehungsprozess der Weimarer Reichsverfassung ist zu finden bei: Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1964; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997; Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, 2018; Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, 2018; Wittmayer, Die Weimarer Verfassung, 1974; Ziegler, Die Deutsche Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk, 1932. Vgl. auch Di Fabio, Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern, 2018. 51 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 15; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 256 – 264. Zur Bestellung des Staatsoberhauptes und der Ausgestaltung dieses Amtes in der Übergangsverfassung der sog. Räterepublik von 1918 bis 1919, siehe u. a.: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 4 – 6; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 42 – 54. 52 So wollte die USPD eine Direktorialverfassung auf der Basis des Räteprinzips und somit keinen Präsidenten. Vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 199; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 15, 50. Vertiefend: Pohl, Demokratisches Denken in der Weimarer Nationalversammlung, 2002, S. 6 – 43.
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Die Volkswahl des Reichspräsidenten53 sollte seiner „Stellung gegenüber dem Reichstag Festigkeit und Unabhängigkeit geben“54 und ein „Gegenpol zum Reichstag“55 sein. Denn der Reichspräsident war in der Weimarer Zeit56 nicht nur oberster Repräsentant des Staates und die Verkörperung seiner Einheit,57 sondern zugleich Kontroll- und Ersatzorgan58 des Reichstages. Deshalb sollte er sich – als Nachfolger des Kaisers in Anlehnung an dessen Stellung59 – auf die höchste demokratische Legitimation berufen können.60 Folglich war den Verfassungsgebern eine gleichwertige demokratische Legitimation des Reichspräsidenten wie der des Parlamentes essenziell.61 Die dem Kaiser äquivalente Stellung des Reichspräsidenten drückte sich dadurch aus, dass dieser gemäß Art. 47 WRV Oberbefehlshaber der Streitkräfte62 war, er den Reichskanzler sowie die Reichsminister – auf Vorschlag des Reichskanzlers – gemäß 53 Im Gegensatz zum ursprünglichen Modell wurden die genauen Ausgestaltungen des Wahlaktes selbst (bspw. das Vorschlagsrecht, die Anzahl an Wahlgängen, die erforderlichen Mehrheiten) in einem eigenständigen Reichsgesetz geregelt. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 14. Vertiefend zur Überparteilichkeit des Reichspräsidenten: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 316 f. 54 Wasser, Weimar und Bonn – ein Strukturvergleich, 1980, S. 63. Siehe zudem Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 49; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 88; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 423. 55 So der Abgeordnete Martin Spahn (Zentrum). Näher hierzu: Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 424 f. m. w. N. 56 Näher zu den Geschehnissen der Weimarer Zeit, die in drei Phasen unterteilt wird: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 275 – 289; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 1 – 79, 371 – 463 sowie einer Chronik von 1918 bis 1933 auf S. 469 – 478; Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, 2018; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 601 – 623; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 50 – 134; Willoweit/ Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 313 – 325. 57 Fritz, in: BK-GG, vor Art. 54 – 61 (Stand: 1968), Rn. 45. 58 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 320 – 322. 59 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 308 f.; Uhl, Das Staatsoberhaupt in der deutschen Verfassungsgeschichte, GWP 2012, 221, 225. 60 Neben der grundsätzlichen Zustimmung zur Volkswahl gab es jedoch Kritik an den – aus damaliger Sicht zu beschränkten – Kompetenzen des Staatsoberhauptes im Bereich der Exekutive, bspw. im Vergleich zum amerikanischen Präsidenten; hierzu: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 14 – 17. 61 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 16; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 307 f. 62 Auch wenn der Reichspräsident Friedrich Ebert bereits am 20. August 1919 per Verordnung den Oberbefehl auf den Reichswehrminister übertrug, blieb er substantiell Träger der Befehlsgewalt. Dennoch hatte diese Übertragung eine besondere Zusammenarbeit zur Folge, sodass der Reichswehrminister dem Reichspräsidenten unterstellt wurde, weisungsgebunden agierte und das Vertrauen des Reichspräsidenten genießen musste. Der Reichspräsident wiederum konnte seinen Oberbefehl nur durch ministeriale Gegenzeichnung ausüben. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 311 – 313.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Art. 53 WRV ernannte und entließ63, Gesetze gemäß Art. 70 WRV ausfertigte und verkündete64, den Deutschen Reichstag gemäß Art. 25 WRV auflösen65 und mittels Notverordnung nach Art. 48 Abs. 2 WRV66 die Gesetzgebung des Reichstages ersetzen konnte. Darüber hinaus verfügte er gemäß Art. 45 WRV auch über weitreichende Kompetenzen in der Außenpolitik.67 Aufgrund der sich gegenseitig betref63
Vertiefend zu dessen Umfang in Bezug auf den Reichskanzler und die Reichsminister: Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 104 – 107. 64 Zur auch schon in der Weimarer Reichsverfassung strittigen Frage eines materiellen Prüfungsrechts des Reichspräsidenten: Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 104. 65 Die immense Bedeutung von Art. 25 WRV zeigte sich darin, dass ausnahmslos alle Legislaturperioden vorzeitig durch Auflösung endeten. In den 14 Jahren der Weimarer Republik gab es nur zwei Reichspräsidenten, aber 20 Reichsregierungen und acht Reichstage. Der Umfang des Auflösungsrechts war von Mitgliedern in der Nationalversammlung kritisiert worden, da diese dem Reichspräsidenten eine Machtfülle einräumen würde, die diejenige des konstitutionellen Monarchen übertreffe. Diese Kritik wurde jedoch lediglich dahingehend aufgegriffen, dass der Reichstag „nur einmal aus dem gleichen Anla[ss]“ aufgelöst werden kann. Dies wertete Preuß als ausreichenden Missbrauchsschutz. Doch selbst eine dem Art. 25 WRV zuwiderlaufende Reichstagsauflösung blieb wirksam und sanktionslos, sodass das Auflösungsrecht faktisch unbegrenzt bestand. Vielfach wird dieses Auflösungsrecht des Präsidenten als Übergewicht gegenüber dem Parlament gewertet, zumal umgekehrt einer Absetzung des Präsidenten durch das Parlament hohe verfahrensrechtliche Hürden entgegenstanden (vgl. Art. 43 Abs. 2 WRV). Siehe auch Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 102 f., 114; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 279 f.; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, vor Art. 54. 66 Art. 48 WRV gab dem Reichspräsidenten weitreichende Kompetenzen zum Regieren im Ausnahmezustand. In den Debatten der Nationalversammlung kam Art. 48 WRV jedoch kaum vor, sodass 1919 die Bedeutung und Machtfülle möglicherweise verkannt wurde. Vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 101. Die in Abs. 5 in Form eines Ausführungsgesetzes vorgesehene Konkretisierung wurde nie erlassen, sodass die Befugnisse weit und unbestimmt blieben und in der Verfassungspraxis das Recht für den Reichspräsidenten hergeleitet wurde, formelle Verordnungen mit materieller Gesetzeskraft zu erlassen. Die herrschende staatsrechtliche Meinung, bspw. von Gerhard Anschütz vertreten, billigte dem Reichspräsidenten dies zu. Die abweichende Minderheitsmeinung, vertreten u. a. von Carl Schmitt, Erwin Jacobi und Hermann Heller, konnte sich nicht durchsetzen und wurde ausdrücklich aufgegeben. Vertiefend zu dieser Form der „Diktatur“ des Reichspräsidenten: Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 107 – 113; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 444 – 450; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 164 f. Aufgrund der zunehmenden Handlungsunfähigkeit des Deutschen Reiches wurde die ursprünglich nur für Ausnahmesituationen vorgesehene Regelung des Präsidenten als Ersatzgesetzgebung genutzt. Der Anteil der Notverordnungen an der (faktischen) Gesetzgebung stieg seit 1930 erheblich an. 1931 standen insgesamt 34 vom Parlament verabschiedeten Gesetzen 44 Notverordnungen gegenüber. Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 269 f., S. 282 – 288; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 278 f.; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 112; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 9 f.; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 601 – 623; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 318 – 320, 323 f. 67 Eine Darstellung weiterer wichtiger Befugnisse des Reichspräsidenten ist u. a. zu finden bei: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 269 f.; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 102 – 115; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokra-
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fenden und gegenüberstehenden Bestimmungen zwischen Reichspräsident und Reichstag und als Ausdruck der Überparteilichkeit und Neutralität, bestimmte Art. 44 WRV die Inkompatibilität zwischen dem Präsidentenamt mit einem Abgeordnetenmandat im Reichstag.68 Insgesamt waren die Einflussmöglichkeiten des Reichspräsidenten auf den Reichstag deutlich stärker als umgekehrt, auch wenn die Intention der Verfassungsbestimmungen ein kooperatives Zusammenwirken durch eine „gegenseitige Abhängigkeit“ war.69 Wegen seiner Ausstattung mit umfassenden Kompetenzen70 und der gemäß Art. 43 Abs. 1 S. 2 WRV unbeschränkten Möglichkeit zur Wiederwahl nach der siebenjährigen Amtszeit71 wurde der Reichspräsident als „Ersatzkaiser“ bezeichnet,72 auch wenn die Verfassung die Richtlinienkompetenz in Art. 56 WRV ausdrücklich dem Reichskanzler zusprach. Eine vorzeitige Amtsbeendigung73 des Reichspräsidenten sah das Gesetz nur vor bei: tie, 2011, S. 88; Immel, Hugo Preuß und die Weimarer Reichsverfassung, 2002, S. 59 – 61; Kersten, Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Gusy, Weimars lange Schatten, 2003, S. 288 ff.; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 592 f.; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 39 f. 68 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 317 f. 69 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 14 m. w. N. 70 Dennoch wird bei der Beurteilung der Machtbefugnisse des Reichspräsidenten oftmals übersehen, dass alle Handlungen von einem Mitglied der Reichsregierung gegengezeichnet werden mussten – wie schon beim Kaiser und auch beim heutigen Bundespräsidenten, anders als beim amerikanischen Präsidenten. Ohne diese formelle Gegenzeichnung waren Anordnungen, Verlautbarungen oder interne Erklärungen des Reichspräsidenten ungültig. Daher hatte der Reichspräsident die Pflicht, über alle Amtshandlungen vorab die Reichsregierung in Kenntnis zu setzen. Im Gegensatz zum monarchischen System, bei dem der Kaiser als unverletzlich und nicht verantwortlich galt, trug der Reichspräsident hier sowohl politisch als auch strafrechtlich die primäre Verantwortung für sein Handeln. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 318 f.; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 593. 71 Die Amtsperiode des Reichspräsidenten begann mit der Feststellung des amtlichen Wahlergebnisses durch den Reichswahlausschuss und endete gemäß Art. 148 Abs. 3 der Reichsstimmenverordnung sieben Jahre nach dem Feststellungstag. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 313. 72 Diese Wertung resultierte sicherlich auch aus der staatspraktischen Entwicklung, wonach im Weimarer Reichstag kontinuierlich Regierungsmehrheiten fehlten. Daher wurde während der Weimarer Republik bis in die politische Mitte hinein vertreten, dass der Präsident eher noch zu wenig Macht habe, um die Schwächen des damaligen parlamentarischen Systems auszugleichen. Vgl. Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, vor Art. 54; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 36; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 592; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54 ff., Rn. 33. Dem widersprechend: Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 5 – 12, 38 und insbes., Rn. 11 f. 73 Eine vorzeitige Absetzung ist zu keiner Zeit angestrengt worden noch kam es zu einer Präsidentenanklage aufgrund einer Verfassungsverletzung. Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 101, 103; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 313 f.
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• Tod oder Rücktritt74, • eine Präsidentenanklage gemäß Art. 59 WRV mit einer Amtsenthebung durch Urteil des Staatsgerichtshofes75, • Verlust des Amtes aufgrund strafrechtlicher Verurteilung76 oder • bei einer Absetzung durch Volksabstimmung gemäß Art. 43 Abs. 2 WRV nach einem Beschluss des Reichstages mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichstag77. Hintergrund dieser „monarchenähnlichen“ und über allen Gewalten stehenden Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik war der Versuch, die Vorzüge des französischen Systems (die plebiszitäre Wahl) mit dem amerikanischen System (dem Regieren in enger Verbindung mit dem Parlament) zu vereinen.78 Zwar 74 Der Rücktritt vom Amt war formell nicht geregelt. Jedoch hatte der Reichspräsident wie jeder Inhaber eines staatsleitenden Amtes das Recht zum jederzeitigen Amtsverzicht. Einer Gegenzeichnung des Reichskanzlers i. S. v. Art. 50 WRV hätte es für eine Wirksamkeit der Rücktrittserklärung nicht bedurft. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 313. 75 Diese Anklage auf Absetzung des Reichspräsidenten durch Urteil des Staatsgerichtshofs konnte, sofern mindestens 100 Abgeordnete unterzeichneten, nur vom Reichstag mit einer anschließenden für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen „doppelten Zweidrittelmehrheit“ erhoben werden. Die Anklage musste den Vorwurf enthalten, dass der Reichspräsident die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz schuldhaft verletzt habe. Befand der Staatsgerichtshof die Anklage als begründet, so hatte er dies durch Urteil festzustellen und konnte mit dem Schuldspruch die Amtsenthebung des Reichspräsidenten verbinden. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 314. 76 Diese Option war in der Weimarer Reichsverfassung nicht ausdrücklich erwähnt, ergab sich aber daraus, dass die Reichsverfassung dem Reichspräsidenten die den Staatsoberhäuptern konstitutioneller Monarchien in der Regel eingeräumte absolute Immunität nicht zugestand. Daher wäre der Reichspräsident bei Zustimmung des Reichstages der strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt gewesen (vgl. Art. 43 Abs. 3 WRV). Wäre gegen den Reichspräsidenten ein Strafurteil ergangen, das nach Maßgabe des Gesetzes den Verlust der aus öffentlichen Wahlen hervorgegangenen Rechte oder den Verlust innegehabter öffentlicher Ämter zur Folge gehabt hätte (vgl. §§ 31, 33, 35 StGB), wäre mit Rechtskraft des Urteils die Amtsenthebung des Präsidenten eingetreten. Siehe hierzu auch: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 314. 77 Als erforderliches Quorum waren bei der Volksabstimmung die Vorschriften über den Volksentscheid maßgebend, sodass die einfache Mehrheit der Abstimmenden und nicht die der Abstimmungsberechtigten ausreichte. Jedoch hinderte der vom Reichstag beschlossene Antrag den Reichspräsidenten bereits vorläufig an seiner Amtsausübung. Die plebiszitäre Ablehnung des Antrages galt hingegen für den Reichspräsidenten als Neuwahl für eine volle neue Amtsperiode und hatte zugleich die Auflösung des Reichstages zur Folge. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 313. 78 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 466; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54, Rn. 34. Dies wurde bspw. von Thomas Dehler (FDP), einem Anhänger des Präsidialsystems, in der 29. Sitzung des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates vom 27. Oktober 1948 kritisiert, der es aufgrund abweichender ökonomischer und sozialer Bedingungen für „naiv und utopisch“ hielt, Einrichtungen aus anderen Staaten nach Deutschland zu übertragen. Vgl. Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. XLI.
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waren Reichskanzler und Reichspräsident zu ihrer Amtsführung gemäß Art. 54 WRV vom Vertrauen des Parlamentes abhängig, doch durch die starke Kompetenzausstattung79 des Reichspräsidenten wurde während der Krisenzeiten in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine Gewichtsverlagerung von einer dem Parlament verantwortlichen Regierung zu einer plebiszitär-autoritären Präsidialregierung sowie der Übergang in die Diktatur des Nationalsozialismus gefördert und ermöglicht.80
III. Der lange Weg bis zur ersten Volkswahl Die nicht nur bei Max Weber und Hugo Preuß zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber dem Parlament war symptomatisch für die damalige Zeit, obwohl im von 1866 bis 1871 existierenden Norddeutschen Bund und fortgesetzt im Deutschen Reich ab 1871 ein parlamentarisches System existierte.81 Dies zeigen die fortgesetzten Diskussionen um die beschlossene Volkswahl des Reichspräsidenten in den Folgejahren und das Hinauszögern der ersten Volkswahl bis 1925. 1. Die Wahl Eberts durch die Nationalversammlung Der erste Reichspräsident, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert82, wurde nicht „vom ganzen deutschen Volk“ i. S. v. Art. 41 WRV gewählt, sondern gemäß § 7 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 191983 durch Wahl in der 79
Zu nennen sind hier das Recht des Reichspräsidenten nach Art. 53 WRV, die Reichsregierung sowie verbindend den Reichstag nach Art. 25 WRV aufzulösen, die Möglichkeit ein vom Reichstag gem. Art. 73 Abs. 1 WRV beschlossenes Gesetz zum Volksentscheid zu bringen sowie das Notverordnungsrecht nach Art. 48 WRV. Von Art. 73 Abs. 1 WRV wurde zwischen 1919 und 1933 kein Gebrauch gemacht, gleichwohl bedrohte diese Regelung den Parlamentarismus. Dies geschah erstmals am 1. Februar 1933 durch den Reichspräsidenten Hindenburg, wegen einer angeblich gescheiterten Koalition zwischen Zentrum und der NSDAP. Dies wird vielfach als der Beginn der Machtergreifung Hitlers angesehen. 80 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 3, S. 1600. 81 So auch Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 28; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 64; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 152 – 154; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 4, S. 196. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 10, 12, die davon spricht, dass das Volk das parlamentarische System vielfach als „wesensfremd“ ansah. 82 Eine verfassungshistorische Analyse zu seiner Person als Parteiführer und Staatsoberhaupt sowie zu seinem Amtsverständnis findet sich bei Di Fabio, Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern, 2018, S. 79 – 84. 83 Abgedruckt bei: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 77 f. Bei dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt handelte es sich um ein Provisorium, bis am 14. August 1919 die Reichsverfassung in Kraft trat.
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Nationalversammlung am 11. Februar 191984 in sein Amt berufen.85 Nach Inkrafttreten der Verfassung sollte er gemäß Art. 180 S. 2 WRV so lange im Amt bleiben, bis der erste volksgewählte Präsident sein Amt antreten würde. 2. Die Bedenken und Reformbemühungen um die erste Volkswahl Der Amtsantritt eines volksgewählten Reichspräsidenten verzögerte sich jedoch bis in das Jahr 1925, da es bereits nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung wiederkehrende Bestrebungen gab, die Verfassung im Sinne einer parlamentarischen Präsidentenwahl zu modifizieren.86 So wurde im Frühjahr 1920 aus sozialdemokratischen Kreisen argumentiert, die Volkswahl sei eine „in Wirklichkeit […] scheinrepublikanische, sich dem Monarchismus stark annähernde Einrichtung“.87 Auch die Regierung erwog das Hinauszögern der Wahlen und sogar eine Abänderung des Art. 41 WRV, um den Gegnern der Republik nicht die Gelegenheit zu geben, ihre Erbitterung über die Friedensbedingungen und deren Folgen zu ihren Gunsten auszunutzen. Sie hofften, dass mit der Zeit eine Beruhigung eintreten werde und sich die Erkenntnis durchsetze, dass nicht die demokratische Neuordnung des Reichs, sondern die Mängel des alten Systems und der verlorene Krieg zu den schwer erträglichen Bedingungen geführt hatten.88
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Hierbei erhielt Friedrich Ebert von den Abgeordneten der Nationalversammlung 277 von 328 abgegebenen Stimmen (73,1 %) bei 51 Enthaltungen. Ein Amtseid für den Reichspräsidenten war nicht vorgeschrieben. Dennoch legte Ebert schon in seiner ersten Ansprache ein feierliches Amtsgelöbnis ab. Bei der Wahl zur Nationalversammlung erhielt die SPD 165, die USPD 22, das Zentrum 90, die DDP 65, die DNVP 42, die DVP 22 und alle anderen Parteien sieben Mandate. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1081 f.; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 423. 85 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 27, S. 40 f.; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 17; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 46; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 51; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 631, 658, 1081; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 153; Pünder, Der Reichspräsident der Weimarer Republik, 1961, S. 11; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 36; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 159. 86 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 17; Bredt, Der Geist der deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 150; v. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, 1924, S. 122. 87 Pohl, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1998, § 41, S. 469; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 38. 88 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 159 m. w. N.
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Das Bestreben der Abschaffung der Volkswahl fiel in die Zeit des erfolglosen „Kapp-Putsches“89. Die Anhänger90 Wolfgang Kapps nutzten den konterrevolutionären Putschversuch und behaupteten, dass das Parlament und die Parteien im Zusammenspiel dem Volke das Recht der Präsidentenwahl entreißen und sich selbst einverleiben wollten.91 Letztendlich scheiterte eine angestrebte Verfassungsänderung an der Ablehnung der Zentrumspartei sowie der rechten Parteien.92 a) Das Ausführungsgesetz über die Volkswahl des Staatsoberhauptes 1920 Der Kapp-Putsch erzwang einen früheren Termin der Reichstagswahlen93 sowie einen Gesetzentwurf über die Ausgestaltung der Volkswahl des Staatsoberhauptes. Dieses Ausführungsgesetz über die Volkswahl wurde am 27. März 1920 vom Reichsminister des Innern vorgelegt.94 Nachdem die Stichwahl, die relative Mehrheit und die Eventualwahl in den Verfassungsberatungen auf starken Widerspruch gestoßen waren, blieb nach Auffassung des Reichsministers nur die sog. romanische Mehrheitswahl übrig, bei der derjenige gewinnt, der im zweiten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Hierdurch wurde auf die Parteien Rücksicht genommen, da diese zunächst im ersten Wahlgang die Anziehungskraft ihres Kandidaten messen und sich für den zweiten Wahlgang gegebenenfalls unter freiwilliger Rücknahme der Kandidatur des eigenen auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigen konnten. Ein eher kritisch gese-
89 Dieser konterrevolutionäre Putschversuch vom 13. bis 18. März 1920 richtete sich gegen die demokratisch gewählte Reichsregierung der Weimarer Republik, scheiterte aber bereits nach 100 Stunden. Vertiefend hierzu: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 275 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 69 – 100; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 602 f.; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 315; die Dokumente sind abgedruckt bei: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 238 – 255. 90 Diese waren zumeist aktive Reichswehrangehörige oder ehemalige Angehörige der Marine oder der alten Armee sowie Mitglieder der DNVP. 91 Bredt, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, 1924, S. 150; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 17; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 51; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 592. Vereinzelt wird spekuliert, dass im Falle eines erfolgreichen Putsches der spätere Reichspräsident Paul von Hindenburg den Weg für eine Rückkehr des Kaisers und für eine Monarchie geebnet hätte. So etwa: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 18; Wheeler-Bennett, Der hölzerne Titan Paul von Hindenburg, 1969, S. 267. 92 Vgl. Stampfer, Die ersten 14 Jahre der deutschen Republik, 1947, S. 164; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 51. 93 Zum Weimarer Wahlsystem des Reichstages: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 350 – 354. Vertiefend zum Reichstag in der Weimarer Republik insgesamt: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 354 – 373. 94 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 159 m. w. N.
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hener zweiter Wahlgang wurde im Regierungsentwurf aber für notwendig erachtet, um den Volkswillen in voller Klarheit zum Ausdruck kommen zu lassen.95 Auch wenn dieser Entwurf im Kabinett keine Billigung erhielt – da mehrere Minister grundsätzlich eine Wahl durch das Volk ablehnten – nahm die Nationalversammlung diesen Regierungsentwurf am 22. April 1920 an, der – erneut verzögert, aber dann auf öffentlichen Druck – am 25. Oktober 1920 in Kraft trat.96 b) Das Hinauszögern der ersten Volkswahl Die mit viel Pathos beschlossene Volkswahl97 wurde trotz Verabschiedung des Ausführungsgesetzes weiter hinausgezögert, obwohl selbst Reichspräsident Ebert den Reichskanzler seit Juni 1920 mehrfach98 aufgefordert hatte, den Termin für die erste Reichspräsidentenwahl festzusetzen.99 Die Rechte warf der Reichsregierung daher fortlaufend vor, dass sie einen nur vorläufigen Reichspräsidenten im Amt halte und dem Volk sein verfassungsmäßiges Recht auf Wahl des Staatsoberhauptes vorenthalte.100 Auf Seiten der Reichsregierung bestanden weiterhin grundsätzliche Bedenken gegen das Institut der Volkswahl. Neben den Zweifeln, ob ein starkes Staatsoberhaupt überhaupt gewollt sei, traten Bedenken bezüglich der erforderlichen Reife des Wahlvolkes hinzu, eine verantwortungsvolle Wahl zu treffen.101 Die mit Mehrheit im Reichstag ausgestatteten Verfassungsparteien102 argumentierten nach außen, dass vor 95
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Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 160 – 162 m. w. N. 97 Vertiefend zur Gesetzgebung und plebiszitärer Demokratie in der Weimarer Verfassung: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 429 – 434. 98 Zunächst durch Schreiben vom 25. Juni 1920 an den Reichskanzler Constantin Fehrenbach, das zunächst unbeantwortet blieb. Ebert wiederholte seine Bitte Anfang August 1920 und erhielt am 23. August 1920 ein Antwortschreiben von Fehrenbach, indem er Ebert bittet, sich mit einer Verschiebung der Neuwahl einverstanden zu erklären und legt die Gründe der Regierung dar. Ebert folgte nur zögernd den Bedenken der Reichsregierung gegen eine Neuwahl und wiederholte am 27. Oktober 1921 seine Bitte, nunmehr in dringenderer Form. Jedoch weigerte sich die Reichsregierung auch dieses Mal, einen Termin zu bestimmen. Vgl. Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 178; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 161 f. 99 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 99. Vgl. auch Di Fabio, Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern, 2018, S. 86 – 91. 100 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 52; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 162; Stampfer, Die ersten 14 Jahre der deutschen Republik, 1947, S. 202. 101 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 99. 102 Damit sind die vorbehaltlos zur Demokratie stehenden Parteien der Weimarer Republik gemeint. Hierzu gehörten bspw. die SPD, das Zentrum sowie die am Ende der Weimarer Republik nur noch als Splitterparteien agierenden liberalen Parteien DDP und DVP. Zu den
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der noch ausstehenden Volksabstimmung über den Verbleib Oberschlesiens im Deutschen Reich keine Klarheit über das „ganze deutsche Volk“ und somit über die Wahlberechtigten bestünde. Als dieses Hindernis im Jahre 1922 entfiel, sah die Mehrheit im Parlament aufgrund der nach der Ermordung Walther Rathenaus ausgebrochenen Unruhen keine Grundlage für eine am 3. Dezember 1922 angedachte „ungestörte“ Volkswahl.103 Einen Wahlkampf um das Präsidentenamt wollte die Reichsregierung während der politischen Dauerkrise nicht riskieren.104 Um aber die Stellung Friedrich Eberts als Reichspräsident zu legalisieren, brachten die Fraktionen des Zentrums, der SPD, der DDP, der BVP und auch der DVP den Entwurf eines Initiativgesetzes ein,105 wonach Ebert als Reichspräsident bis zum 30. Juni 1925 bestätigt werden sollte.106 Einen entsprechenden Beschluss hat der Reichstag am 24. Oktober 1922 mit verfassungsändernder Mehrheit107 von 314 zu 76 Stimmen durch Änderung108 des Art. 180 S. 2 WRV109, dies gegen die Stimmen der beiden Flügelparteien DNVP110 und KPD111, gefasst.112 entschiedensten Gegnern der Republik gehörte die das konservativ-monarchistische Lager repräsentierende DNVP, die für den Eintritt einer sozialistischen Rätediktatur nach sowjetischem Vorbild eintretende KPD sowie die völkisch-rassistische und antisemitische NSDAP. 103 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 52; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 162; Stampfer, Die ersten 14 Jahre der deutschen Republik, 1947, S. 202. 104 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 99. 105 Vertiefend zu den Parteien: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 196 – 204 (Zentrum), S. 227 – 254 (SPD), S. 209 – 226 (DDP, die ab 1930 unter dem Namen „Deutsche Staatspartei“ agierte), S. 205 – 209 (BVP), S. 157 – 169 und S. 177 – 186 (DVP) sowie S. 255 – 278 (KPD). 106 Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 1, 2. Aufl. 1959, S. 303; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 178; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 592; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 282 f.; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 162 f.; Stampfer, Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik, 1947, S. 303. 107 Vgl. zur verfassungsändernden Reichsgesetzgebung in der Weimarer Verfassung: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 418 – 429. 108 Ernst Rudolf Huber bewertete diesen verfassungsändernden Akt als eine „Verfassungsdurchbrechung“, da das Parlament die Amtszeit des Reichspräsidenten bestimme, obwohl laut Verfassung eine Volkswahl hierüber zu entscheiden hätte. Allerdings bedeute diese Verfassungsänderung auch zugleich eine Begrenzung der Amtszeit des bisherigen Reichspräsidenten und indirekt ein grundsätzliches Bekenntnis zur Volkswahl. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 311 f. 109 Nach der alten Fassung von Art. 180 S. 2 WRV führte bis zum Amtsantritt des vom Volk gewählten Reichspräsidenten der von der Nationalversammlung benannte Präsident sein Amt auf Grundlage des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt. Vgl. das verfassungsändernde Gesetz vom 27. Oktober 1922, RGBl. I, S. 801; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 312. 110 Die DNVP war eine nationalkonservative Partei, die nach der Wahlniederlage 1928 extreme nationalistische Ansichten und Forderungen vertrat. Infolge der Kooperation mit der
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c) Die erste Volkswahl des Reichspräsidenten 1925 Noch vor dem regulären Ende der verlängerten Amtszeit des Reichspräsidenten verstarb Friedrich Ebert (SPD) am 28. Februar 1925.113 Für die zwischenzeitliche Vertretung sah Art. 51 S. 1 WRV zunächst vor, dass der Reichspräsident im Falle seiner kurzzeitigen Verhinderung durch den Reichskanzler114 vertreten werde. Im Falle einer längeren Verhinderung sowie einer vorzeitigen Beendigung der Präsidentschaft sah Art. 51 Abs. 1 S. 2 WRV eine Regelung durch ein Reichsgesetz vor. Kommissarisch wurde am 11. März 1925 der Präsident des Reichsgerichts115 Walter Simons für das höchste Staatsamt bis zur Wahl des Nachfolgers bestellt, da eine vergleichsweise politisch machtlose Instanz die Vertretung wahrnehmen sollte.116 Auf Antrag der NSDAP117 wurde später, im Dezember 1932, durch entsprechende Änderung von Art. 51 WRV das Vertretungsrecht auch im Falle einer kurzfristigen Verhinderung118 stets auf den Präsidenten des Reichsgerichts übertraNSDAP verlor sie zunehmend an Bedeutung und löste sich im Juni 1933 auf. Die Abgeordneten schlossen sich der NSDAP-Fraktion an. 111 Vertiefend zur Kommunistischen Partei Deutschlands: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 255 – 278. 112 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 163; Stampfer, Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik, 1947, S. 303; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 178. 113 Ebert verstarb überraschend im Alter von 54 Jahren an einer verschleppten Bauchfellund Blinddarmentzündung. Eine Bewertung des Reichspräsidenten Ebert sowie seine Bedeutung für die Weimarer Republik ist zu finden bei Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 178 f. und Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 156 – 158. 114 Der Reichskanzler erlangte damit vorübergehend eine außerordentlich starke Position und wurde zum staatsrechtlichen Gegengewicht des Parlamentes, von dessen Vertrauen er abhängig war, das er aber auch gem. Art. 25 WRV hätte auflösen können. Die mit der Trennung beider Regierungsämter verbundene wechselseitige Kontrolle entfiel somit, ebenso die praktische Bedeutung der Gegenzeichnungsklausel des Art. 50 WRV. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 315; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 100. 115 Vertiefend zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Weimarer Verfassungssystem: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 541 – 577. 116 Simons übte das Amt kommissarisch bis zum 30. April 1925 aus. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 315; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 101 f. 117 Ausführlich zur NSDAP, deren Vorsitzender ab 1921 der spätere Reichskanzler Adolf Hitler war und die ab 1933 zur einzig zugelassenen Partei in der Weimarer Republik wurde: Di Fabio, Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern, 2018, S. 190 – 200; Frotscher/ Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 337 – 339; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 279 – 303; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 104 – 114. 118 Allerdings ließ das neue Gesetz offen, wer darüber zu entscheiden habe, ob ein Fall der Amtsverhinderung oder der Amtsbeendigung vorlag, was in der Praxis durchaus streitig werden konnte.
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gen.119 Vor dieser Entscheidung gab es jedoch seitens der Reichsregierung Überlegungen, die Vertretung durch den Reichskanzler Hans Luther (parteilos) ausüben zu lassen. Diese Gedankenspiele wurden jedoch verworfen120 – ebenso wie Überlegungen der DVP einer verfassungsdurchbrechenden Verlängerung121 der Amtszeit Simons als Vertreter des Reichspräsidenten bis 1932. Trotz der weiterhin bestehenden Skepsis der im Reichstag vertretenen Verfassungsparteien gegenüber einer Volkswahl und unter dem starken Bestreben der Einflussnahme auf die aufzustellenden Kandidaten für das Reichspräsidentenamt wurde die Wahl unter dem von der DDP eingebrachten Gesetz vollzogen.122 Danach bedurfte ein Wahlvorschlag der Unterstützung von 20 Unterschriften von Wahlberechtigten, sofern der Vorschlag von einer Gruppe stammte, die bei der letzten Reichswahl mindestens 500.000 Stimmen erhalten hatte (§ 2a), anderenfalls einer Unterschriftenanzahl von 20.000 Wahlberechtigten.123 Diese hohen Hürden führten im Ergebnis dazu, dass ausschließlich größere im Reichstag vertretene Parteien einen Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten benannten.124 Das Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten regelte auch das Wahlsystem. Danach bedurfte ein Kandidat im ersten Wahlgang der absoluten Mehrheit, während bei deren Verfehlen der zweite Wahlgang nicht als Stichwahlverfahren ausgestaltet 119 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 101; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 314 f. Hierbei spielte auch die Befürchtung eine Rolle, dass nach der Neuwahl des Reichspräsidenten 1932 angesichts des hohen Alters Hindenburgs bei Eintritt einer neuen Vakanz der nach Art. 51 WRV als Stellvertreter berufene Reichskanzler die Möglichkeit erlangen würde, den Reichstag aufzulösen. Es wurde die Möglichkeit gesehen, dass dies durch die Einsetzung eines Stellvertreters mittels des erforderlichen Stellvertretergesetzes verhindert werden könnte, ebenso dass der Reichskanzler sich selbst die alleinige oberste Macht verschaffe. 120 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 100. 121 Denn bereits eine Verlängerung der Amtszeit des Reichspräsidenten durch das Parlament beschneidet das gemäß der Verfassung dem Volk zustehende Recht der Wahl des Reichspräsidenten. 122 Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten vom 13. März 1925, RGBl. I 1925, S. 159. Siehe: documentArchiv.de (Hrsg.), Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten, http://www. documentarchiv.de/wr/1920/reichspraesidentenwahl_ges.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Vgl. auch Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 52; Kaisenberg, Die Wahl des Reichspräsidenten, 2. Aufl. 1925. 123 Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 425 f.; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 163 f., 173 f. 124 Pohl, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1998, § 41, S. 471; Weber, Deutschlands künftige Staatsform, in: Gesammelte politische Schriften, 1921, S. 362. Die hierdurch gesicherte Einflussnahme des Reichstages auf die Kandidaten des Reichspräsidentenamtes kann rückblickend als erster Schritt in Richtung „Parlamentarisierung der Präsidentenwahl“ gewertet werden – so auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 18; Kaisenberg, Die Wahl des Reichspräsidenten, 2. Aufl. 1925, S. 4. Anzumerken ist, dass die vom Verfassungsgeber als Gegengewicht zu dem von den Parteien getragenen Parlament gedachte Volkswahl damit weniger eine Entscheidung über Einzelpersonen als vielmehr zu einer Entscheidung über Parteien bzw. über Koalitionen wurde.
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war, sondern die relative Mehrheit ausreichte.125 Daher musste kein Kandidat nach dem ersten Wahlgang ausscheiden, sondern es durften, entgegen der ursprünglichen Intention Hugo Preuß’, im zweiten Wahlgang sogar neue Kandidaten aufgestellt werden – mit entsprechenden Anforderungen an die Kandidaten wie im ersten Wahlgang.126 Während das aktive Wahlrecht gemäß Art. 41 WRV allen Deutschen zustand, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, war das passive Wahlrecht127 auf deutsche Staatsangehörige beschränkt, die bereits 35 Jahre alt waren.128 Ein temporärer Wahlausschluss Angehöriger ehemals regierender Fürstenhäuser erlangte ebenso wenig wie der Vorschlag nach einem mindestens zehnjährigen Innehaben der deutschen Staatsangehörigkeit eine Mehrheit in der Nationalversammlung.129 So kam es am 23. März 1925 – sechs Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung – zu der ersten, in Art. 41 WRV vorgesehenen Volkswahl des Reichspräsidenten.130 Hierbei erhielt keiner der Kandidaten131 die nach § 4 Abs. 1 des „Gesetz[es] über die Wahl zum Reichspräsidenten“132 im ersten Wahlgang erforderliche absolute Mehrheit133. 125 Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 178; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 313. 126 Durch diese Regelung sollte ein Staatsoberhaupt gefunden werden, welches sich auf eine größtmögliche Mehrheit berufen konnte. Diese Regelung ermöglichte Paul von Hindenburg eine erstmalige Kandidatur im zweiten Wahlgang. Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 100. 127 Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 konnten Frauen erstmalig in Deutschland reichsweit wählen und gewählt werden. Das aktive und passive Wahlrecht der Frauen trat am 30. November 1918 in Deutschland in Form des Reichswahlgesetzes in Kraft. Von 300 kandidierenden Frauen wurden 37 Frauen bei insgesamt 423 Abgeordneten gewählt. Auf Landesebene konnten Frauen bereits am 5. Januar 1919 in Baden und am 12. Januar 1919 in Württemberg von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Zugleich wurde die Altersgrenze von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt. Vgl. Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 49. 128 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 313. 129 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 99 f. 130 Vgl. Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 87; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 610; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 282. Vertiefend: Pyta, Hindenburg: Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, 2. Aufl. 2007, S. 461 – 476; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 38. 131 Eine Einigung der vier demokratischen Parteien SPD, DDP, Zentrum und DVP auf einen gemeinsamen Kandidaten konnte nicht erzielt werden, sodass im ersten Wahlgang überwiegend Kandidaten konkurrierten, die an eine einzelne Partei gebunden waren. 132 Vgl. documentArchiv.de (Hrsg.), Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten, http:// www.documentarchiv.de/wr/1920/reichspraesidentenwahl_ges.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 133 Der parteiunabhängige ehemalige Reichsinnenminister und Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres wurde von der DVP, der „Wirtschaftspartei“ und der republikfeindlichen DNVP unterstützt und erreichte 10.877.870 Stimmen (38,1 %), Otto Braun (SPD) 7.836.870 Stimmen (29,0 %), Wilhelm Marx (Zentrum) 3.988.659 Stimmen (14,5 %), Ernst
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Im zweiten Wahlgang am 26. April 1925 entschlossen sich die demokratische Mitte sowie die Linksparteien zu einer republikanischen Sammelkandidatur für den „Volksblock“ und hielten an Wilhelm Marx (Zentrum) fest134, während die antirepublikanischen Rechtsparteien den 77-jährigen parteilosen kaiserlichen Feldmarschall Paul von Hindenburg135 von einer „überparteilichen“ und erstmaligen Kandidatur für den „Reichsblock“ überzeugen konnten.136 Als Außenseiter trat auch im zweiten Wahlgang Ernst Thälmann für die KPD an. Die relative Mehrheit von 48,3 % der Stimmen genügte Paul von Hindenburg zum Sieg137 über seine Gegenkandidaten.138
Thälmann (KPD) 1.885.778 Stimmen (7,0 %), Willy Hellpach (DDP) 1.582.414 Stimmen (5,8 %), Heinrich Held (BVP) 990.000 Stimmen (5,8 %) und Erich Ludendorff (NSDAP) 210.000 Stimmen (1,1 %). Die Wahlbeteiligung lag mit 68,9 % um etwa zehn Punkte niedriger als bei der vorherigen 3. Reichstagswahl im Dezember 1924 und ging zu Lasten der Flügelparteien. Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 479; Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 181; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 427; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 39, 93; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 283 mit teilweise abweichenden absoluten Stimmenanzahlen. 134 Für Wilhelm Marx trat auch die SPD ein, da Otto Braun (SPD) keine ernsthaften Chancen hatte. 135 Als „Sieger von Tannenberg“ und als Exponent der Dolchstoßlegende genoss Hindenburg hohes Ansehen in nationalen, konservativen und monarchisch orientierten Kreisen. Ausführlich zu seiner Person und seinem Wirken u. a.: Görlitz, Hindenburg: ein Lebensbild, 1953; Marcks/Eisenhart Rothe, Paul von Hindenburg als Mensch, Staatsmann, Feldherr, 1932; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 94 f.; Rauscher, Hindenburg: Feldmarschall und Reichspräsident, 1997; Pyta, Hindenburg: Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, 2007; Wheeler-Bennett, Der hölzerne Titan Paul von Hindenburg, 1969. Vgl. auch die verfassungsrechtliche Analyse zum Reichspräsidenten Hindenburg bei: Di Fabio, Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern, 2018, S. 91 – 106. 136 Vgl. Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 165 – 174 zum Prozess der Überzeugung Hindenburgs für eine Kandidatur. 137 Hindenburg erhielt 14.655.000 Stimmen (48,3 %), Marx 13.751.615 Stimmen (45,3 %) und Thälmann 1.931.151 Stimmen (6,4 %). Die Wahlbeteiligung stieg um 8,7 % auf 77,6 %. Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 479; Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 181; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 427; mit leicht abweichenden Zahlen. 138 Das Ausland, insbesondere die USA, Frankreich und Großbritannien, reagierte – wie es der amtierende Außenminister Gustav Stresemann (DVP) prophezeit hatte – zurückhaltend bis ablehnend. Eine Wahl Hindenburgs – der ursprünglich auf der Liste der Kriegsverbrecher gestanden hatte und dessen Auslieferung der Versailler Vertrag verlangte – würde, so die weitere Befürchtung Stresemanns, im Ausland als Zeichen von Militarismus sowie Revanchismus gedeutet werden und eine Verständigungspolitik mit den Alliierten gefährden. Vgl. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 53; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 283 sowie Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des GG, 1999. Eine vertiefte Analyse, weshalb die Kandidatur Hindenburgs erfolgreich war und zu einem sprunghaften Anstieg der Wahlbeteiligung führte, ist zu finden bei Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 94 – 96.
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IV. Die Wiederwahl Hindenburgs 1932 Auch nach der ersten durchgeführten Volkswahl und dem Amtsantritt Hindenburgs als neuem Reichspräsidenten rissen die Bedenken am Verfahren der Wahl nicht ab. So plante die Reichsregierung im Herbst 1926 eine umfassende Neuordnung der Wahl- und Abstimmungsrechte, die als drittes Gesetz die Volkswahl des Reichspräsidenten modifizieren sollte. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch, da in erster Linie bei den Rechtsparteien die Ansicht vorherrschte, dass sich ein erhebliches Maß an Parteizersplitterung nur ertragen lasse, wenn gleichzeitig ein präsidentielles System vorherrsche.139 Zum Ablauf der siebenjährigen Amtszeit Hindenburgs 1932 waren die Nationalsozialisten derart erstarkt, dass eine Kandidatur und Wahl Adolf Hitlers für die NSDAP mit dem Ziel der Erlangung der zentralen Machtposition im Staat im Raum stand.140 Zudem befürchteten die demokratischen Kräfte, dass ein eigener Kandidat bei einer möglichen Kandidatur Hitlers bei der Volkswahl scheitern könnte. Wie schon 1925 drängte sich Hindenburg nicht zu einer (nochmaligen) Kandidatur.141 Erneut suchten die verfassungstragenden Parteien nach Möglichkeiten, die Volkswahl zu vermeiden. Eine – wie schon bei Friedrich Ebert 1922 – in konservativen Kreisen diskutierte parlamentarische Verlängerung der Amtszeit auf die Lebenszeit Hindenburgs durch Verfassungsänderung scheiterte allerdings an dessen Zustimmung.142 Jedoch gelang es den demokratischen Parteien, Hindenburg zu einer – verfassungsrechtlich nicht unproblematischen143 – zweijährigen Amtszeitverlängerung der laufenden Amtsperiode durch Verfassungsänderung zu gewinnen.144 Der angedachte weitergehende Plan, die Volkswahl durch eine Parlamentswahl zu ersetzen,145 bedurfte einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit, für die man auf die Stimmen der NSDAP angewiesen war. Diese verweigerte mangels 139
Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 164. Hitler konnte gegen Hindenburg nur antreten, weil die Nationalversammlung darauf verzichtet hatte, die Wählbarkeit auf gebürtige deutsche Staatsangehörige zu begrenzen oder sonstige Einschränkungen, wie einen längeren Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, vorzusehen. Vgl. Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 178; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 928 – 930. 141 Vertiefend: Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 128 f.; Pyta, Hindenburg: Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, 2. Aufl. 2007, S. 646 – 669. 142 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 925. 143 Denn hierdurch kam es zur Durchbrechung des Art. 41 WRV, der einen plebiszitären Wahlakt vorschrieb. Vgl. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 54, Fn. 39; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 312; Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 190 – 192. 144 Vertiefend: Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 54; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 925 – 928. 145 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 19; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 934; Mayer, Skizzen aus dem Leben der Weimarer Republik, 1962, S. 132. 140
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Durchsetzung eigener politischer Bedingungen ihre Zustimmung und begründete in der Öffentlichkeit ihre Ablehnung mit verfassungsrechtlichen Bedenken,146 sodass – wie schon beim Kapp-Putsch – sich die eigentlich verfassungsfeindlichen Kräfte als „Hüter der Verfassung“ sowie als Beschützer der in der Verfassung verankerten Volkswahl präsentierten und profilieren konnten.147 Aufgrund der fehlenden Zustimmung der NSDAP konnten die demokratischen Parlamentsvertreter die Volkswahl des Reichspräsidenten 1932 nicht verhindern. Nachdem Hindenburg seine Bereitschaft zur Kandidatur erklärt hatte, war es ihm wichtig, nicht durch Absprachen, sondern durch den Volkswillen in seinem Amt bestätigt zu werden.148 Im Wahlkampf präsentierte sich Paul von Hindenburg als überparteilich149 und betonte, dass sein Entschluss zur Kandidatur keinesfalls „ein Bekenntnis zur Republik“ oder auch nur zu Heinrich Brünings150 Präsidialkabinett sei.151 Obwohl die heutige Bewertung Hindenburgs – der innerlich der Verfassung eher ablehnend gegenüberstand152, dem möglicherweise eine „Restauration der Monarchie“ vorschwebte153 und der rückblickend vielfach als überzeugter Monarchist bewertet 146 Siehe auch den Brief Adolf Hitlers an Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) vom 25. Januar 1932, abgedruckt in Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 508 – 511 und Poetzsch-Heffter/Ule/Dernedde/Brennert, Vom Staatsleben der Weimarer Verfassung III, 1933/1934, S. 110 und die Aussage Hitlers, abgedruckt bei Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 55, Fn. 41, das dessen Kalkül verdeutlicht, sich als Beschützer der Verfassung zu präsentieren: „Vom Standpunkt der Grundrechte aus hat aber nur das Volk den in der Verfassung niedergelegten Rechtsanspruch, die Wahl des Reichspräsidenten persönlich und unmittelbar vorzunehmen. Dieses Volksrecht kann nicht durch irgendeine sogenannte qualifizierte Reichsmehrheit ersetzt werden.“ 147 Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1971, S. 165. 148 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 20. 149 Vgl. die Zitate Hindenburgs bei: Poetzsch-Heffter/Ule/Dernedde/Brennert, Vom Staatsleben der Weimarer Verfassung III, 1933/1934, S. 114. 150 Die Regierung unter Heinrich Brüning (Zentrum) konnte sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen, sondern war stattdessen vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig. In seinen „Memoiren“ 1970 dekuvrierte Brüning sich selbst als Monarchist und Gegner der parlamentarischen Demokratie, sodass mit Hindenburg und Brüning seit März 1930 zwei Männer an der Spitze der Weimarer Republik standen, die beide Anhänger anderer Verfassungsordnungen waren und die gemeinsam das Regierungssystem autoritär – u. a. mit Hilfe des Instrumentes der Notverordnung nach Art. 48 Abs. 2 WRV – umformten. Vgl. Di Fabio, Die Weimarer Verfassung – Aufbruch und Scheitern, 2018, S. 174 – 190. 151 Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 279 f.; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 615; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 322 f. Zum verfassungsrechtlichen Prozess in den Präsidialstaat: Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 180 – 205, 277 – 288. 152 Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 14; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 179. 153 Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955, S. 444 f.; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 19; Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, Bd. 1, 2. Aufl. 1959,
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wird154 – hochumstritten ist155 und schon zur damaligen Zeit kritisch beurteilt wurde, unterstützten die demokratischen Parteien die Kandidatur Hindenburgs als „kleineres Übel“. Hierdurch sollte eine nationalsozialistische Präsidentschaft Adolf Hitlers – der bei Schließen der Kandidatenliste erst seit einer Woche deutscher Staatsangehöriger war156 – verhindert werden.157 So warben die Sozialdemokraten mit dem Wahlaufruf „Schlagt Hitler, darum wählt Hindenburg“.158 Paul von Hindenburg wurde am 10. April 1932 im zweiten Wahlgang159 im Alter von 84 Jahren mit 53 % der Stimmen160 – dieses Mal also mit einer absoluten S. 434; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 54; Mayer, Skizzen aus dem Leben der Weimarer Republik, 1962, S. 131. 154 So bspw.: Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 92. 155 Vgl. bspw. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 18 sowie Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 610. Während Hindenburgs Rolle als Reichspräsident auf der einen Seite im Sinne der „Stabilisierungs-These“ als verfassungskonform und pflichtbewusst wie ein „preußischer Soldat“ bewertet wird, der systemstabilisierend wirkte und von der Möglichkeit der Notverordnungen in seinem ersten Amtsjahr keinerlei Gebrauch machte, wird auf der anderen Seite differenzierend darauf verwiesen, dass die Wahl des ehemaligen preußischen Generalfeldmarschalls eine zentrale Weichenstellung in der Republik markiere, so insbes. Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 95 f. Denn mit Hindenburg sei erstmalig eine Person ohne innere Bindung an die Werte der Weimarer Verfassung an die „Schalthebel der Macht“ gelangt. Zwar habe Hindenburg durch eine „pflichtbewusste präsidiale Amtsführung“ überparteiliches Ansehen erworben, zugleich habe er jedoch Rechtskräfte, die von ihm eine aktive Unterminierung der verhassten Republik erwartet hatten, bspw. durch die Unterzeichnung des bei Rechten als Symbol nationaler Erniedrigung geltenden Young-Plans, enttäuscht. In diesem Zusammenhang sieht Pyta in den schwierigen Jahren ab 1930 große politische Defizite. So veränderte Hindenburg schleichend mittels Art. 48 WRV die Architektur der Republik durch die Beschneidung der politischen Mitwirkungsrechte des Parlamentes und konzentrierte die exekutiven Kompetenzen immer stärker beim Reichspräsidenten. Aufgrund der schwierigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nutzte Hindenburg das Notverordnungsrecht und handelte nach Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 19 m. w. N. wie ein „kommissarische[r] Diktator“. Differenzierend hierzu: Fromme, Die Volkswahl des Bundespräsidenten ist kein Risiko, RuP 2004, 18, 20 f.; Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 177 f. Vgl. auch ähnlich: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 6; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 9. 156 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 100 f. Hätte sich die Idee – das passive Wahlrecht auf Personen zu beschränken, die seit zehn Jahren deutsche Staatsbürger sind – in der Nationalversammlung durchgesetzt, wäre eine Kandidatur Hitlers zum Reichspräsidenten nicht möglich gewesen. 157 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 54. Die Unterstützung kam auch von sozialistischer Seite. Siehe hierzu Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955, S. 456 f.; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 55; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 283. 158 „Vorwärts“ vom 27. 2. 1932, abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 516 f. Siehe auch Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955, S. 455; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 931 f.; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 129. 159 Im ersten Wahlgang am 13. März 1932 erhielt Paul von Hindenburg 49,6 % der Stimmen (18,7 Millionen; unterstützt wurde er von Zentrum, SPD, DDP, DVP, BVP), Adolf Hitler
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Mehrheit – wiedergewählt. Hindenburg blieb der erste und einzige mittels einer Volkswahl161 berufene Präsident der Weimarer Republik.
V. Exkurs: Die Zusammenführung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers Nur neun Monate nach seiner Wiederwahl und seinem Wahlsieg gegen Adolf Hitler ernannte Paul von Hindenburg diesen am 30. Januar 1933 gemäß Art. 53 WRV zum Reichskanzler.162 In Verbindung mit dem Notverordnungsrecht des Art. 48 WRV, der Verabschiedung163 des Ermächtigungsgesetzes164 am 24. März 1933165 und (NSDAP) 30,1 % (11,3 Millionen), Ernst Thälmann (KPD) 13,2 % (5 Millionen Stimmen) und Theodor Duesterberg (DNVP) 6,8 % (2,6 Millionen). Die Wahlbeteiligung lag bei 86,2 % (dies entspricht 37.890.451 Stimmen von 43.949.681 Wahlberechtigten). Für einen Wahlsieg, für den im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen erforderlich war, fehlten Hindenburg rund 300.000 Stimmen. Vgl. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 479; Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, S. 181 f.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 934; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 427; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 130. 160 Im zweiten Wahlgang erhielt – bei einer Wahlbeteiligung von 83,5 % (dies entspricht 36.771.787 abgegebene Stimmen von 44.063.958 Wahlberechtigten) – Hindenburg 53,0 % der Stimmen (19,4 Millionen), Hitler 36,8 % (13,4 Millionen) und Thälmann 10,2 % (3,7 Millionen). Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 285; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 479; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 938; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 427; Pyta, Die Weimarer Republik, 2004, S. 130. 161 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 80 und Obst, Chancen direkter Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 112, die bezweifeln, dass Hindenburg von einem parlamentarischen Gremium aufgestellt worden wäre und er sich einer solchen parlamentarischen Wahl gestellt hätte. 162 Vgl. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 619. 163 Als verfassungsänderndes Gesetz bedurfte das Ermächtigungsgesetz einer Zweidrittelmehrheit im Reichstag, die die Nationalsozialisten selbst nach den Neuwahlen am 5. März 1933 nicht hatten (49,3 %). Auch mit den Stimmen der DNVP (8,1 %) bedurfte es der Zustimmung der bürgerlichen Parteien. Vgl. die Übersicht der Parlamentswahlen 1919 – 1932 bei: Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 480. Nachdem die NSDAP Druck aufgebaut und die Parlamentarier durch „Aufmarschieren“ im Reichstagsgebäude bedroht hatte, entmachteten sich die bürgerlichen Parteien und das Parlament selbst, indem sie dem Druck nachgaben und dem Ermächtigungsgesetz – bis auf die SPD-Fraktion – zustimmten. Somit kam es zu einer gesetzlichen Legalisierung der nationalsozialistischen Machtergreifung. 164 Wie allgemein bekannt, erteilte das Parlament der Regierung durch das Ermächtigungsgesetz außergewöhnliche Vollmachten, die in der Weimarer Verfassung nicht vorgesehen waren, aber durch die damalige Staatsrechtslehre akzeptiert wurden. Vertiefend hierzu: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 437 – 450. 165 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 28, S. 43 f.; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 90. Das bekannteste Ermächtigungsgesetz ist das von der Hitlerregierung eingebrachte, am 23. März 1933 heftig debattierte und in namentlicher Ab-
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
der Gewährung der Reichstagsauflösung wurden Hitler umfassende Machtbefugnisse gewährt.166 Fortan verlor das Amt des Reichspräsidenten zunehmend an Bedeutung.167 Als Hindenburg am 2. August 1934 verstarb, wurde noch am selben Tag das bereits einen Tag zuvor verabschiedete Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches168 verkündet, wonach das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigt wurde.169 Hierdurch erlosch das Präsidentenamt in der Weimarer Republik, und die Weimarer Reichsverfassung war einer ihrer Kontrollund Machtbalancen „beraubt“. Nach Erlass des Gesetzes über die Volksabstimmung am 14. Juli 1933 konnten selbst verfassungsändernde Gesetze mit einfacher Mehrheit durch Volksabstimmung beschlossen und geändert werden. Eine solche Volksabstimmung bestätigte am 19. August 1934 mit 89,93 % der abgegebenen Stimmen die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers.170 Somit war auch der demokratisch legitimierte Reichstag weitgehend „ausgeschaltet“.171 Zudem übernahm Hitler die oberste richterliche Entscheidungsge-
stimmung beschlossene Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das am 24. März 1933 in Kraft trat. Zusammen mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 gilt es als rechtliche Grundlage der Machtübernahme der nationalsozialistischen Diktatur, da aufgrund des Art. 48 Abs. 2 WRV wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt, das Prinzip der Gewaltenteilung durchbrochen und Kompetenzen des Reichspräsidenten auf die neue Regierung unter Adolf Hitler übertragen wurden. Der Reichstag konnte zwar nach Art. 48 Abs. 3 WRV mit einfacher Mehrheit die Aufhebung dieser Maßnahmen verlangen. In der Staatspraxis kam es hierzu aber wegen der Uneinigkeit des Reichstages nicht. Vgl. Frotscher/ Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 310 – 315. Eine Analyse zur Verantwortung der Staatsrechtslehre im Hinblick auf Art. 48 WRV, im Spiegel der Staatsrechtslehrertagung und des Deutschen Juristentages 1924, findet sich bei Kaiser, in: Schröder/v. Ungern-Sternberg, Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011, S. 119 – 142. 166 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 56. 167 Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 90; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 42 – 44. 168 RGBl. I 1934, S. 747; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 28, S. 39; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 20. 169 Am selben Tag erging ein Erlass Adolf Hitlers, wonach er zukünftig den Titel „Führer und Reichskanzler“ trägt. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 20; Frotscher/ Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 320 – 323. 170 Bei einer Wahlbeteiligung von 95,7 %. Vgl. Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 45 f. 171 Die Weimarer Verfassung wurde somit in ihren demokratischen Grundsätzen ausgehebelt und wirkungslos, ohne jemals formell außer Kraft gesetzt worden zu sein. Daher spricht Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 296 von einem Verfassungsumsturz statt einer Verfassungsaufhebung. Vgl. auch Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 28, S. 43 f.; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 16; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 344; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, S. 622.
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walt, die Wehrmacht wurde von diesem Zeitpunkt an auf „den Führer und Reichskanzler“ vereidigt.172 Die Weimarer Reichsverfassung kannte keine vergleichbaren Schutzmechanismen wie das Grundgesetz mit der sog. Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG. In der ex-post-Diskussion ist höchst strittig, inwieweit der Aufstieg des nationalsozialistischen Herrschaftssystems mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler nach Art. 53 WRV in formell verfassungsmäßiger Weise durch den direkt gewählten Reichspräsidenten geschah und ob insbesondere das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 mit der Weimarer Verfassung vereinbar war.173
B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat: Die Diskussion über die Notwendigkeit des Bundespräsidentenamtes und das Verfahren seiner Besetzung Der staatliche Neuaufbau nach der „Stunde Null“174 1945 erfolgte in den Folgejahren von unten herauf, beginnend auf der Ebene der Gemeinden bis zur Bildung der Länder und schließlich der Bundesrepublik durch die Verabschiedung des Grundgesetzes.175 Am 7. Juni 1948 wurde mit dem Londoner Deutschland-Kommuniqué von den westlichen Alliierten der Wunsch der deutschen Bevölkerung nach der Ausarbeitung einer Verfassung festgestellt und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung empfohlen.176 Bereits der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto 172
Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 28, S. 43 f.; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 90. Im Zeitraum 1. bis 23. Mai 1945 agierte Karl Dönitz als Reichspräsident kraft Adolf Hitlers letzten Willen. 173 So die Anhänger der sog. Legalitätsthese, die die Vereinbarkeit des Ermächtigungsgesetzes mit der Weimarer Reichsverfassung und insbes. mit Art. 76 WRV bejahen. Vgl. hierzu Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 1955, S. 47 ff., 287 ff., der ausführt, dass die Weimarer Reichsverfassung mit ihrem fundamentalen, in plebiszitäre und präsidentielle Gegenkräfte vielfältig aufgefächerten Misstrauen gegen den Parlamentarismus und ihrem Abwehrverzicht gegenüber formell legaler Systemüberwindung von vornherein Einbruchstellen geboten habe. Die Errichtung der präsidentiellen Reserveverfassung sei eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gewesen, indem sie für den Fall des Versagens bereitstand, habe sie ihre Entfaltung frühzeitig in fataler Weise provoziert. Siehe auch Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 21; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 4, S. 196. Umfassend darstellend sowie bewertend: Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2018, S. 289 – 297. 174 Kritisch zu dieser populär gewordenen Metapher u. a.: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Bd., 2012, S. 25, 29 – 32. 175 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 16 f.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 364 – 373. 176 Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 785.
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Braun (SPD) regte in seiner Denkschrift vom 28. Januar 1943 an, die Weimarer Reichsverfassung mit Abweichungen für die neue Staatsordnung in Deutschland zu Grunde zu legen, wozu auch die Alliierten tendierten.177 Abweichend hierzu beurteilte die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Weimarer Reichsverfassung als mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik und bewertete diese rückwirkend skeptisch. Über den einzuschlagenden Weg und die Vermeidung „von Fehlern“ in der neuen Verfassung gingen die Auffassungen weit auseinander,178 wie die lebhaften und im Folgenden dargestellten Diskussionen – fokussiert auf das Erfordernis und die Stellung eines Staatsoberhauptes sowie die Diskussionen um die Zusammensetzung des Wahlgremiums für die Bestimmung des Bundespräsidenten – zeigen werden.
I. Die Frankfurter Dokumente Mit der Übergabe der drei179 „Frankfurter Dokumente“180 durch die Alliierten am 1. Juli 1948 ermächtigten die drei westlichen Besatzungsmächte die elf Ministerpräsidenten der Länder in den westlichen Besatzungsgebieten – als deren deutsche 177
Braun, Von Weimar zu Hitler, 1979, S. 287 ff., insb. S. 290; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 20; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 609. 178 Eine zu dieser Ausarbeitung ergänzende Darstellung charakteristischer Tendenzen und Strömungen bspw. der Arbeitsgemeinschaft „Das Demokratische Deutschland“, das sich an der Schweiz orientierend für eine durch einen Bundesrat mit jährlich wechselndem Vorsitz zu wählende kollegiale Regierung ohne selbstständiges Staatsoberhaupt aussprach, findet sich bei: Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 609 – 614. 179 Das erste Dokument autorisierte die Ministerpräsidenten, eine „verfassungsgebende Versammlung“ bis zum 1. September 1948 einzuberufen. Diese sollte eine „demokratische Verfassung“ ausarbeiten, „die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs“ mit einer „angemessenen Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“ und abschließend von jedem beteiligten Land ratifiziert werden sollte. Das zweite Dokument ersuchte die Ministerpräsidenten zu einer Länderneugliederung mit einer jeweils vergleichbaren Flächengröße. Im dritten Dokument ging es insbesondere um das Besatzungsstatut und die Außenpolitik des zukünftigen deutschen Staates samt Kontrolle des Außenhandels, der Sicherstellung von Reparationszahlungen, der Entmilitarisierung sowie einer Aufforderung an die Ministerpräsidenten zu einer inhaltlichen Stellungnahme. Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 382 – 384; Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 39; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 322 f.; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 111; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 28; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 39. 180 Abgedruckt u. a. bei: Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 1. Juli 1948, Nr. 4, S. 30 – 36 sowie das erste Dokument ebenfalls beim Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1948, Anlage: Dokument Nr. 1, S. 95.
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Ansprechpartner – zur Ausarbeitung einer neuen demokratischen Verfassung. Diese sollte durch eine verfassungsgebende Versammlung181 auf der Grundlage der Ergebnisse der Londoner Konferenz erfolgen, die einen bundesstaatlichen Aufbau mit einem konstitutionellen Staatsoberhaupt182 ohne Exekutivgewalt vorsah.183 Daneben gab es Vorschläge für die konkurrierende Gesetzgebung, für das Finanzwesen sowie die Vorgabe einer föderalistischen Gliederung Deutschlands.184
II. Die Koblenzer Beschlüsse Die Beratungen der Ministerpräsidenten185 über die Frankfurter Dokumente waren zunächst von größter Zurückhaltung geprägt.186 Nach einer dreitägigen Be-
181 Diese sollte sich bis spätestens zum 1. September 1948 konstituieren, sodass den Ministerpräsidenten nur eine knappe Überlegungsfrist von etwa eineinhalb Monaten blieb. Vgl. Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 324; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 785. 182 Vertiefend zur Frage nach der Schaffung und Stellung eines Staatsoberhauptes vor den Beratungen zum Grundgesetz: Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 609 – 620. 183 Abendroth, in: Mück (Hrsg.), Verfassungsrecht, Bd. 5, 1975, S. 63 f.; Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 3; BauerKirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 14 f.; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 18, S. 31 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 22; Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 39; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 51; Morsay, Die Rolle der Ministerpräsidenten bei der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland 1948/1949, in: Herrenchiemseer Verfassungskonvent, 1999, S. 35, 37; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 15 f., 111; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 15. 184 Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 318. Zudem behielten die Alliierten die Sicherung der Besatzungsziele im Blick, indem wesentliche Politikbereiche wie Außenpolitik, Außenhandel, Industrie und Forschung sowie das Notstandsrecht unter ihrer Kontrolle standen. Auch jede Verfassungsänderung war genehmigungspflichtig. Vgl. Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 4 f.; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 358. 185 Zu den Besprechungen wurden die Oberbürgermeister von Hamburg, Bremen und Berlin hinzugezogen. Als inoffizielle Gäste nahmen auch die Parteiführer Konrad Adenauer (CDU), Josef Müller (CSU) und – für den erkrankten Kurt Schumacher – Erich Ollenhauer (SPD) teil. Funktionäre der FDP blieben fern. Vertiefend hierzu: Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 28 f. 186 Vgl. Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 324, der dies damit erklärt, dass der Erlass einer westdeutschen Verfassung durch einen deutschen Verfassungsgeber die Spaltung Deutschlands zu einem – auch vom deutschen Staatsrecht – anerkannten Faktum verfestige, die zugleich die Einheit Deutschlands preisgebe. Das habe zur Zurückhaltung gemahnt.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
ratung vom 8. bis 10. Juli 1948 erklärten sich die Länderchefs187 in den sog. Koblenzer Beschlüssen188 grundsätzlich bereit, die „übertragenen Vollmachten wahrzunehmen“ und vereinbarten die Wahl von Sachverständigen als Mitglieder für einen zu bildenden Ausschuss für Verfassungsfragen.189 Gleichzeitig wandten sich die Ministerpräsidenten in ihren Koblenzer Beschlüssen gegen die deutsche Teilung190 und die Besetzung des verfassungsausarbeitenden Gremiums in der vorgeschlagenen Form.191 Die Antwort der Ministerpräsidenten192 stand damit ganz im Zeichen einer „Provisoriumskonzeption“,193 die bei den Verhandlungen vor allem von dem Staatsrechtler und Sozialdemokraten Carlo Schmid194 vertreten wurde195 und worauf die Militärgouverneure erwartungsgemäß negativ196 reagierten197. Dennoch akzep187 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 18, S. 31. Bzgl. der Verfassungsvorstellungen der Ministerpräsidenten, vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 33 f. 188 Abgedruckt u. a. in: Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 8. – 10. Juli 1948, Nr. 6, S. 60 – 142. 189 Im Weiteren vgl. Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 4; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 113 f; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 40 – 53. 190 Sehr ausführlich und eingehend zur staatlichen Teilung Deutschlands: Luchterhandt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 423 – 530; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 21 – 27. 191 Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 383 f.; Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 39; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 324 f.; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 39 – 53. 192 Abgedruckt u. a. bei: Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 10. Juli 1948, Nr. 7, S. 143 – 150. 193 Diese Provisoriums-These fand auch Unterstützung durch eine Analyse des Büros für Friedensfragen vom 5. Juli 1948; näher zur Analyse: Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 114. 194 Vertiefend zu seinen Verfassungsvorstellungen: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XXI–XXIII. 195 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 18, S. 31; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 114 f. 196 Vgl. die Aufzeichnung einer Besprechung der Ministerpräsidenten der amerikanischen Besatzungszone mit dem General der amerikanischen Armee und Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland Lucius D. Clay in Frankfurt sowie dessen Kritik an den Koblenzer Beschlüssen, in: Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 14. Juli 1948, Nr. 8, S. 151 – 156. Die Stellungnahme der Militärgouverneure zu den Koblenzer Beschlüssen ist zu finden bei: Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 20. Juli 1948, Nr. 10, S. 163 – 171. 197 Der General Lucius D. Clay schreibt hierüber: „Wir sagten den Deutschen, die Londoner Beschlüsse seien Regierungsentscheidungen. Werde beachtlich von ihnen abgewichen, dann mache das weitere Regierungsverhandlungen erforderlich, die das gesamte Programm verzögern könnten, und sie, die Ministerpräsidenten, würden verantwortlich sein.“ Vgl. Clay, Entscheidung in Deutschland, 1950, S. 451 f. Vertiefend: Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 325; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998,
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tierten die westdeutschen Besatzungsmächte – nach zunächst nochmaliger Bekräftigung ihrer Haltung nach einer Unabänderlichkeit der Frankfurter Dokumente – im Ergebnis198 die in den Aide-Mémoire zusammengefassten Niederwalder Beschlüsse199, in denen die Ministerpräsidenten zum Ausdruck brachten, dass die deutsche Souveränität noch nicht ausreichend wiederhergestellt und daher die Voraussetzungen für die Annahme einer gesamtdeutschen Verfassung mittels Volksabstimmung noch nicht gegeben seien.200 Zudem setzten die Ministerpräsidenten nach einigen Mühen die zu den Frankfurter Dokumenten abweichende Bezeichnung „Grundgesetz“201 – zur Betonung des provisorischen Charakters – sowie die Bezeichnung „Parlamentarischer Rat“ anstatt einer verfassungsgebenden Versammlung durch.202 Ebenso gelang es ihnen, die von
S. 115 f.; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 47 – 53; Willoweit/ Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 358. 198 Diese Einigung konnte auf der sog. Frankfurter Schlusskonferenz am 26. Juli 1948 erzielt werden. Da die Zustimmung der Alliierten nur unter Vorbehalt abgegeben wurde, ist die Formulierung als „Zustimmung“ der Alliierten nicht unstrittig. Vgl. nur Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 119 f. und Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 26. Juli 1948, Nr. 13, S. 273 – 282. Zu den Auseinandersetzungen mit den Alliierten aufgrund der geforderten Abweichungen zu den Londoner Beschlüssen siehe Mußgnug, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 326; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 115 – 118; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 51 – 53; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 358 f. 199 Diese Beschlüsse entstammen einer zweiten Ministerpräsidentenkonferenz, die im Rüdesheimer Jagdschloss Niederwald vom 21. bis 22. Juli 1948 stattfand. Abgedruckt bei Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 15. – 16. Juli 1948, Nr. 9, S. 157 – 162 sowie 21. – 22. Juli 1948, Nr. 11, S. 172 – 272 sowie ebenfalls hierzu Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 326 m. w. N. 200 Auch später betonte der Parlamentarische Rat erneut, dass Deutschland als Staat der Deutschen wegen des Bestehens der Sowjetischen Besatzungszone noch nicht bestünde und daher eine neue Verfassung aufgrund der Unmöglichkeit an deren Mitwirkung nicht von allen deutschen Staatsbürgern (bzw. deren gewählten Vertretern) ratifiziert werden könne. Dies wurde explizit später in der Präambel des Grundgesetzes nochmals betont und die Wiedervereinigung als Ziel im Grundgesetz festgeschrieben. Vgl. Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 1 f. 201 Diese Bezeichnung sollte verdeutlichen, dass nur ein zeitliches und räumliches Provisorium geschaffen werde, ungeachtet der sachlich vollkommenen Ausbildung einer rechtsstaatlichen Demokratie durch das später beschlossene Grundgesetz. Erst mit der vollzogenen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde das Grundgesetz die Verfassung des gesamten Deutschen Volkes. Die Kriterien des materiellen Verfassungsbegriffs erfüllte das Grundgesetz aber bereits von Beginn an. Vgl. insoweit nur das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 7, 198, 198 ff. sowie Badura, Staatsrecht, 2018, A, Rn. 19, S. 32 f.; Scholz, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Art. 23 (Stand: Oktober 2009), Rn. 71 ff. 202 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 506 – 509 sowie Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 20, S. 33 f.; Weber-Fas, Der Verfassungsstaat des GG, 2002, S. 36.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Seiten der Militärgouverneure favorisierte Volksabstimmung203 durch eine Ratifizierung des Grundgesetzes durch die Landtage zu ersetzen.204 Die westlichen Ministerpräsidenten wollten so die sich abzeichnende deutsche Teilung nicht durch eine als endgültig angesehene Verfassung formell besiegeln. Auch wenn die Ministerpräsidentenkonferenz dem später eingesetzten Parlamentarischen Rat die „ausschließliche Aufgabe“ der Verfassungsausarbeitung zubilligte und dieser seinerseits die Koblenzer Beschlüsse der Ministerpräsidenten lediglich als Anregung bewertete, erhoben die Ministerpräsidenten den Anspruch auf die letzte Entscheidungsbefugnis205 und hielten fest, dass die „Beteiligung der Länderregierungen an den Beratungen des Parlamentarischen Rates“ sicherzustellen sei206.
III. Die Beratungen im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee Der Verfassungskonvent bildete sich aus Bevollmächtigten der westdeutschen Regierungen sowie aus Vertretern der Stadt Berlin207 und trat erstmals am 10. August 1948 auf Einladung des bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard (CSU) im Schloss Herrenchiemsee208 zusammen.209 Auf der Grundlage der Frankfurter Do203
Hierbei war vorgesehen, dass die einfache Mehrheit der Abstimmenden in zwei Dritteln der Länder für die Annahme ausreichend sein sollte. Vgl. Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 324. 204 Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 39 – 53; Frotscher/ Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 384; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 113 f. 205 Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 51 – 53. 206 Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 10. Juli 1948, Nr. 7, S. 147. Vgl. ebenfalls Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 18 f. 207 Jedes Land war im Verfassungskonvent durch einen bevollmächtigten Delegierten vertreten; auch der Berliner Magistrat entsandte auf besondere Einladung hin als Bevollmächtigen Otto Suhr (SPD). Hinzu kamen weitere 15 Mitarbeiter der Delegierten und vier Sachverständige. Insgesamt bestand der Konvent aus 30 Sachverständigen, die in drei Unterausschüssen (für Zuständigkeits-, für Grundsatz- und für Staats- und Organisationsfragen), aber auch in Vollversammlungen tätig wurden. Siehe insoweit auch Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 120. Eine Auflistung der Vertreter, samt Zuordnung zu den elf Ländern, ist zu finden bei: Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 3; Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 33 f.; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 328 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 2, S. 1249 f. 208 Vertiefend zu den Gründen der Wahl dieses Ortes: Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 30 f. 209 Ein Abdruck der Rechtsquellen zum Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee ist zu finden bei: Bucher (Bearb.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Akten und Protokolle, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1981 sowie Verfassungsausschuss der
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kumente erarbeitete der Verfassungskonvent in nur vierzehn Tagen, das heißt bis zum 23. August 1948, Richtlinien für eine Verfassung, wobei innerhalb des Konvents umstritten war, ob lediglich eine Denkschrift oder ein ausgearbeiteter Entwurf vorzulegen sei.210 1. Der Arbeitsgang und das Selbstverständnis der Konventsmitglieder Gleich zur Eröffnung des Konvents legte die bayerische Delegation als Grundlage der Erörterungen einen von bayerischen Sachverständigen ausgearbeiteten Entwurf eines Grundgesetzes211 sowie „Bayerische Leitgedanken für die Schaffung des Grundgesetzes“ vor.212 Diese Leitgedanken sahen in Bezug auf den Bundespräsidenten eine Wahl durch übereinstimmende Beschlüsse des Bundestages und des Bundesrates für eine Dauer von fünf Jahren vor213, während Ministerialdirigent Friedrich Glum (CSU) sowie Gustav von Schmoller in ihren Entwürfen für eine vierjährige Amtszeit plädierten.214 Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee und ausführlich in der Sekundärliteratur: Bauer-Kirsch, Herrenchiemsee. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Wegbereiter des Parlamentarischen Rates, 2005; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784 – 792; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 53 – 59 sowie speziell zu den Diskussionen im Unterausschuss III für Staatsorganisationsfragen: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 58 – 62; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 3 – 5, S. 1250 – 1277. 210 Während insbesondere die Sozialdemokraten Hermann Brill und Carlo Schmid für die Ausarbeitung einer Denkschrift eintraten, plädierte Adolf Süsterhenn (CDU) für einen bereits „akzentuierten und ausgearbeiteten Entwurf“ einer Verfassung. Nachdem auch die Berichte der Unterausschüsse unterschiedliche Formen aufwiesen, einigte sich der Konvent auf einen Kompromiss, der allen gerecht wurde. So wurden die Verfassungsprobleme in Form einer Denkschrift aufgezeigt sowie Verfassungsartikel formuliert und dort Mehrheits- und Minderheitsgutachten gesondert ausgeführt. Vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. LXVIII f. sowie Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 4; Abendroth, in: Mück (Hrsg.), Verfassungsrecht, Bd. 5, 1975, S. 64 f.; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 21, S. 34 f.; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 120 f. 211 Abgedruckt bei: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 1, S. 1 – 52 sowie erläuternd auf S. LVII–LXII. 212 Hierbei bemerkte die bayerische Delegation ausdrücklich, dass es sich um keine Vorlage der bayerischen Staatsregierung handele, sondern um eine private Arbeit mit dem Ziel, die Eröffnung des Gedankenaustausches zu erleichtern. Zur Uneinigkeit der Teilnehmer über den Rang dieses Entwurfes vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 4; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. LXIX; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 786. Zur Sonderrolle Bayerns vgl. Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 60 – 62. 213 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. 39. 214 Während der bayerische Entwurf den Bundesrat in allen Belangen dem Bundestag gleichstellen wollte, kam es für von Schmoller darauf an, den Bundesrat als kontrollierendes und stabilisierendes Organ auszugestalten, ihn aber im Bereich der praktischen Politik zu
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Die erste Generaldebatte am 11. und 12. August 1948 endete in Anbetracht der Kürze der Zeit in einem arbeitsteiligen Vorgehen mit der Einsetzung von drei Unterausschüssen: Einen für Zuständigkeitsfragen der Gesetzgebung, einen für die Rechtsprechung und die Verwaltung sowie einen dritten für die Organisationsfragen der Bundesorgane.215 Die Unterausschüsse tagten vom 13. August bis 23. August 1948 und unterrichteten den Gesamtkonvent in mehreren Plenarsitzungen über den Fortgang ihrer Beratungen216, ehe dieser am 23. August 1948 abends seine Tätigkeit mit der einstimmigen Billigung der Ausschussberichte schloss und eine Kommission mit der Ausformulierung des Abschlussberichtes217 betraute. Die Beratungsergebnisse wurden für die Ministerpräsidentenkonferenz in Form einer Denkschrift festgehalten.218 Bei der Übergabe der Beratungsergebnisse an die Ministerpräsidentenkonferenz am 31. August 1948 betonte Anton Pfeiffer (CSU)219, dass sich alle Konventsmitglieder nicht der Lösung einer Aufgabe gegenübersahen, sondern sich eher einer wissenschaftlichen Studiengesellschaft angehörig fühlten.220 Als allgemeine Richtlinie nahm der Verfassungskonvent sich politische Enthaltsamkeit in dem Sinne vor, dass er keine politischen Entscheidungen treffe oder auch nur empfehle, sondern verfassungsrechtliche Fragestellungen lediglich begutachtend
beschränken. Vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. LVII f., XCV f. Beiden Vorschlägen war die Absicht gemeinsam, monarchische Elemente in der Präsidentenstellung auszumerzen. 215 Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 4 f.; Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 35 f. Vertiefend zu der Konstituierung der Unterausschüsse, deren Zusammensetzung, der „Wahl“ der Vorsitzenden sowie der Arbeit in den Unterausschüssen: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. LXXII–CIV sowie Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 43 – 51. 216 Abstimmungen dienten hierbei lediglich der Feststellung, ob abweichende Auffassungen in der Begründung mitgeteilt wurden oder nicht. Wenn jedoch keine Einigung zu erzielen war, kam es, wiederum nach Abstimmung, zu Mehrheits- und Minderheitsvoten, die dann entweder auf Beschluss in den Plenarsitzungen oder aus Eigenmächtigkeit der Redaktionskommission in Varianten umformuliert wurden. Vertiefend zum Ablauf und zur Arbeitsweise: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXII f. sowie Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 36 – 43. 217 Vertiefend zu den Erörterungen der Unterausschussberichte im Plenum: Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 51 – 55. 218 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 5; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 786. 219 Anton Pfeiffer wurde als bayerischer Staatsminister zum Vorsitzenden des Verfassungskonvents gewählt. Die Bezeichnung Verfassungskonvent fiel erstmals in der konstituierenden Sitzung des Verfassungsausschusses, als er das Expertengremium „den ersten Verfassungskonvent des neuen Deutschlands“ nannte. Vgl. Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 786. Vertiefend zur Person Pfeiffers: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XI–XIV. 220 Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 31. August 1948, Nr. 24, S. 381 sowie Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S 63.
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kläre und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen wolle.221 Bei mehreren Optionen sollten diese einander gegenübergestellt werden, ohne nach politischen Kompromissen und Einmütigkeit durch „neutrale“ Formulierungen zu suchen – zugunsten einer alternativen Darstellung mehrerer Lösungsmöglichkeiten.222 Auch wenn nach dem Selbstverständnis des Verfassungskonvents und aufgrund der Zusammensetzung keine verfassungspolitischen Vorentscheidungen getroffen wurden,223 sollte die Denkschrift dennoch als Vorlage und verfassungsrechtliches Fundament für die Ausarbeitung einer Verfassung durch den Parlamentarischen Rat dienen und so den Einfluss der Ministerpräsidenten durch eine Ausarbeitung im Sinne ihrer Vorstellungen sichern.224 Selbst wenn die Delegierten keinerlei Instruktionen oder Weisungen ihrer Landesregierung erhielten225, ist davon auszugehen, dass insbesondere Bayern darauf bedacht war, seine Vorstellungen nachhaltig einzubringen.226 Nicht zu verkennen ist eine Beeinflussung der Teilnehmer des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee dadurch, dass bereits Verfassungspläne politischer Parteien227 sowie einzelner Autoren existierten und einzelne Konvents221
Vertiefend hierzu: Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 75 – 91. 222 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 5; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 21, S. 34 f.; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 786 f. 223 Vgl. Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 329; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 53. 224 Dafür sorgten auch Carlo Schmid (SPD), Josef Schwalber (CSU) und Adolf Süsterhenn (CDU), die dem späteren Parlamentarischen Rat angehörten und dort die Ergebnisse der Herrenchiemseer Beratungen vertraten. Vgl. Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 27 f.; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 330; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 3, S. 1250. 225 Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, S. LXV; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. LXVII sowie Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S 64 f. 226 Die vorherige Ausarbeitung und Vorlage des bayerischen Entwurfes eines Grundgesetzes sowie die Einladung nach Herrenchiemsee kann hierbei als geschicktes Manöver gewertet werden. Auch wenn es in der 3. Sitzung vom 11. August 1948 im Plenum von Herrenchiemsee abgelehnt wurde, den bayerischen Entwurf für die Generaldebatte zugrunde zu legen, nahm Bayern weiterhin wesentlichen Einfluss. Siehe hierzu: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXIII f.; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 31 m. w. N.; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 785 f. 227 Vgl. zu den Verfassungsplänen der Parteien: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XXXV–LXIII. Vor dem Beginn des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee versuchten die der SPD und CDU/CSU angehörenden Teilnehmer sich auf eine parteioffizielle Linie festzulegen. So war bspw. innerhalb der CDU/CSU die Wahl des Staatsoberhauptes umstritten. Die Teilnehmer des Verfassungsausschusses in Heppenheim vom 28. bis 30. April 1947 von der CDU/CSU, u. a. Heinrich von Brentano, schlugen eine Wahl des Reichspräsidenten durch den „Ländertag“, einem Memorandum aus Landes- und Bundeskammer in getrennten Sitzungen, vor. Der deutlich föderal ausgestaltete Entwurf „Grundsätze für eine Deutsche Bundesverfassung“ von Walter Strauß (CDU) sah eine Wahl
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
teilnehmer als Mitgestalter einzelner Verfassungspläne oder an der Ausarbeitung vorgrundgesetzlicher Landesverfassungen beteiligt waren. Der Verfassungskonvent war jedoch nicht in erster Linie aus parteipolitischem Interesse einberufen worden, sondern es ging darum, eine letzte Chance zu nutzen, um die Interessen der Länder in den verfassungsgebenden Prozess einzubringen. Ihrem Selbstverständnis nach traten die Teilnehmer nicht als Vertreter der Parteien auf, sodass tatsächlich der Parteipolitik auf Herrenchiemsee keine größere Bedeutung zukam.228
2. Die Diskussionen im Konvent Am 23. August 1948 ging der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee zu Ende. Als Ergebnis seiner Beratungen legte der Konvent einen vollständigen Grundgesetzentwurf von nicht weniger als 149 Artikeln vor.229 Der Bericht des Konvents enthielt weiterhin einen fast 50 Druckseiten umfassenden darstellenden Teil mit einer Übersicht zum Diskussionsverlauf und zu den Beweggründen für die jeweiligen Formulierungen des Entwurfes.230 Hinzu kommt ein kommentierender Teil mit Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Verfassungsvorschlags von etwa 10 Druckseiten. Der Verfassungskonvent begnügte sich aufgrund des in Ziffer 1 dargestellten Selbstverständnisses damit, in strittigen Verfassungsfragen zwei oder gar drei Alternativvorschläge in den Entwurf aufzunehmen und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten bei unterschiedlichen Auffassungen gegenüberzustellen.231 Die Diskussionen über das Staatsoberhaupt wurden im Herrenchiemseer Verfassungskonvent im Unterausschuss III232 – Ausschuss für Organisationsfragen der Bundesorgane – sowie später im Plenum behandelt und drehten sich um die Fragen des Bundespräsidenten allein durch den Bundesrat vor, in den jede Landesregierung unabhängig von der Größe des Landes je zwei Vertreter entsenden sollte. Vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XLIII f. 228 Hierzu Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S 190 f. 229 Eine Übersicht der Arbeitsergebnisse des Verfassungskonvents mit einer Bewertung gibt: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 3, S. 1262 – 1265. In Kurzform ebenso: Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 92. 230 Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 10. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 505. Nach Ansicht von Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 122, ist der Konvent damit über den Auftrag der Ausarbeitung von „Richtlinien“ für ein Grundgesetz weit hinausgegangen und begründet dies damit, dass die Länderregierungen den Verlauf der späteren Verfassungsberatungen noch einmal wirksam, insbesondere mit Blick auf eine föderative Ausrichtung, beeinflussen wollten. 231 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 505; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 91; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 121; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 3, S. 1263 f. 232 Eine eingehende Darstellung zu den Geschehnissen im Unterausschuss III: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XCIV–CIV.
B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat
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• der Notwendigkeit, des Zeitpunktes der Einsetzung und einer kollegialen oder monokratischen Besetzung sowie • der Zusammensetzung eines Wahlgremiums. a) Notwendigkeit, Besetzung und Ausgestaltung eines Präsidentenamtes Über die Fragen der Notwendigkeit und der Ausgestaltung des Staatsoberhauptes gab es innerhalb des Parteienspektrums sehr weit auseinander liegende Vorstellungen. Schon vor Beginn der Weimarer Republik hatte sich die USPD als Gegnerin eines Präsidentenamtes positioniert und forderte weiterhin eine Direktorialverfassung auf Basis des Räteprinzips.233 Eine einflussreiche Gruppe von Staatsmännern der Weimarer Zeit234, die sich zur Arbeitsgemeinschaft „Das Demokratische Deutschland“ zusammengeschlossen hatte, plädierte, wie schon nach dem Ende der Weimarer Zeit, erneut für die Aufhebung des Amtes eines Staatsoberhauptes.235 So wurde auch im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee zunächst – wie schon in den Verhandlungen der Nationalversammlung – die Frage nach der Notwendigkeit und der Besetzung eines Präsidentenamtes aufgeworfen,236 obwohl es in der deutschen Geschichte stets ein Staatsoberhaupt237 gab. 233 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964, S. 199; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 50; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 33; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 2, S. 190. 234 So z. B. der einstige preußische Ministerpräsident Otto Braun (SPD) und der ehemalige Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum). 235 Arbeitsgemeinschaft „Das Demokratische Deutschland“, Grundsätze und Richtlinien für den deutschen Wiederaufbau, 1945, S. 16. Siehe hierzu auch: Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 46; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 63; Otto, Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 138. 236 Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 3, S. 123 – 126; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 13; Gehrlein, Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten?, DÖV 2007, 280, 283 – 288; Grunden, Der Bundespräsident: Monarchisches Artefakt oder politisches Verfassungsorgan?, ZfP 2013, 301, 301; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 5, S. 1600 f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 621 – 629; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 36 f.; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 286. 237 Die Bezeichnung des Staatsoberhauptes und dessen Kompetenzen waren stets Spiegelbild des Staatswesens. In der nie in Kraft getretenen, aber gleichsam bedeutsamen Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 war der deutsche, männliche regierende Fürst Reichsoberhaupt und führte den erblichen und konstitutionell verliehenen Titel „Kaiser“. Daneben gab es erstmalig ein nationales, vom Volk gewähltes Parlament auf Reichsebene, das zugleich die verfassungsgebende und gesetzgebende Kompetenz innehatte und dem gegenüber die Regierung verantwortlich war. Die Paulskirchenverfassung war ein erster „Startversuch der
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In der Plenarsitzung am 11. August 1948238 sowie in der ersten Sitzung im Unterausschuss III zeichneten sich deutliche Differenzen zwischen zwei konträren Positionen ab. Es gelang keine Einigung. aa) Das Eintreten einer Minderheit für ein Dreierkollegium Eine Minderheit239 sprach sich im Verfassungskonvent für den gänzlichen Wegfall der Institution eines Staatsoberhauptes und für die Einführung eines Bundespräsidiums als Dreierkollegium aus Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Bundeskanzler aus.240 Art. 75 HChE (Minderheitenvorschlag): „(1) Das Bundespräsidium besteht aus dem Präsidenten des Bundestags, dem Präsidenten des Bundesrats (Senats) und dem Bundeskanzler.
Deutschen in Sachen Demokratie“. Selbst wenn sich der Kaiser als Staatsoberhaupt ab 1871 die Regierungsgewalt mit der verfassungsrechtlich neu geschaffenen Figur des Reichskanzlers und dem Bundesrat teilen musste, stand dem Deutschen Reich weiterhin ein starkes Staatsoberhaupt vor, wie es sich am persönlichen Regiment Wilhelms II. zeigte. Vgl. § 68 – 70 RV 1849 sowie Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 2 – 5; Limbach, in: Limbach/ Herzog/Grimm, Die Deutschen Verfassungen, 1999 S. 9; Uhl, Das Staatsoberhaupt in der deutschen Verfassungsgeschichte, GWP 2012, 221, 222 – 225; Schönberger, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 78 f.; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 33 – 37; Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2006, § 23 S. 114 ff. 238 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 3, S. 123 ff. 239 So bspw. Hermann Brill (SPD) und Otto Suhr (SPD) sowie der zweite Grundgesetzentwurf des späteren Mitgliedes im Parlamentarischen Rat Walter Menzel (SPD). Dennoch spricht sich die SPD in ihren verfassungspolitischen Richtlinien von März 1947 für das Amt eines Präsidenten aus, dessen Befugnisse nicht so weitreichend wie die des Reichspräsidenten der Weimarer Republik sein sollen und dessen Amtszeit mindestens um die Hälfte länger sein soll als die Legislaturperiode des damaligen Reichstages. Vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XCIX; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 138. Vertiefend zur Person Brills und seinen Verfassungsvorstellungen: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XXVI–XXVIII; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 13; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 632 ff. 240 Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41 – 43; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547. Siehe zudem Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 91; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 4; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 202; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 5, S. 1600 f.; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 15; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 428; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 186; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 37; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 2, S. 190; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 56.
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(2) Der Vorsitz wechselt nach Maßgabe der Geschäftsordnung.“241
Diesem Vorschlag lag die Auffassung zugrunde, dass es sich nicht mit dem provisorischen Charakter der zu schaffenden Rechtsordnung vertrage,242 ein Staatsorgan mit vorwiegend repräsentativen Aufgaben nach außen auszustatten, wenn die auswärtige Politik wenigstens vorläufig Sache der Alliierten sei.243 Daher sei es zielführender, die „Dynamik des Staatslebens auch an der Spitze zum Ausdruck zu bringen“ und die drei Präsidenten der obersten Staatsorgane unter einem regelmäßig wechselnden Vorsitzenden244 zu einem Kollegium zu vereinen und mit den Funktionen eines Staatsoberhauptes zu betrauen.245 Dieses demokratische Kollegium werde durch die Funktion, die die Mitglieder hauptamtlich zu tragen hätten, selbst kontrolliert, sodass es auch keiner parlamentarischen Verantwortlichkeit durch die Ministerpräsidenten oder Minister bedürfe.246 Aus dem kommentierenden dritten Teil des Entwurfes wird zudem deutlich, dass es den Vertretern dieses Minderheitenbeschlusses wichtig war, dieses Bundespräsidium kollegial und mit wechselndem Vorsitz auszugestalten, weil ansonsten im Ergebnis das Präsidium die Stellung eines Bundespräsidenten erhalten würde.247 Dieser grundlegende provisorische Charakter wurde noch durch folgende Übergangsregelung verstärkt: Art. 143 HChE (Minderheitenvorschlag): „Bis zur Herstellung einer angemessenen völkerrechtlichen Handlungsfreiheit des Bundes und bis zur Klärung seiner Stellung zu den ostdeutschen Ländern werden die Befugnisse des Bundespräsidenten von einem Kollegium wahrgenommen, das aus dem Präsidenten des Bundestags, dem Präsidenten des Bundesrats und dem Bundeskanzler besteht. Der Präsident
241 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 71. 242 Vgl. dazu Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XCIX; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 24; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 398; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 286. 243 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 549; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 42. 244 Dieser soll nach Art. 75 Abs. 2 HChE nach Maßgabe der Geschäftsordnung wechseln. 245 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 43; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 549 f.; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 379 f.; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 11. 246 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 43. 247 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 87; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 618.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten des Bundesrats kann insolange weder Vertreter seines Landes im Bundesrat noch Mitglied der Bundes- oder einer Landesregierung sein.“248
Die Festlegung auf ein Ein-Personen-Staatsoberhaupt würde zudem einen „entscheidenden Schritt“ zu einem „vollen Staat“ bedeuten.249 Ferner habe die Weimarer Republik bewiesen, dass „in Grenzsituationen der Politik kein Präsident neutral über den kämpfenden Parteien stehen“250 könne.251 Auch sei die Weimarer Republik am „Treubruch“ ihres letzten Reichspräsidenten zugrunde gegangen und alle Präsidenten davor hätten eine unglückliche Figur abgegeben.252 bb) Das mehrheitliche Eintreten für die Beibehaltung einer Ein-Personen-Besetzung Mehrheitlich253 sprach sich der Unterausschuss III aber für die Beibehaltung des strukturellen Staatsaufbaus der Weimarer Reichsverfassung und einer Machtverteilung zwischen Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung aus. Hierbei wurde festgehalten, dass ein zukünftiger Bundespräsident keinesfalls eine starke Position haben, aber auch nicht allein auf formale Funktionen beschränkt sein dürfte.254 Aufgrund der Symbolkraft des Amtes, der Repräsentationsfunktion gegenüber dem Ausland sowie der benötigten Unterstützung bei den Verhandlungen 248
Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 84. 249 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 10, S. 124 f.; BauerKirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 105; Griepenburg, Hermann Louis Brill: Herrenchiemseer Tagebuch 1948, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1986, 585, 600 ff. 250 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 549; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 42 f.; Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 10 f.; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 397; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 11; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 15; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 63; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 186. 251 Gegen ein Direktorium wurden insbesondere Gründe der Gewaltenteilung (aufgrund der Mitgliedschaft des Bundeskanzlers in der Exekutive) sowie die Schwierigkeit einer Entscheidungsfindung und einer Rollenverteilung, vorgebracht. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 63; Poth, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, 1970, S. 28. 252 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XCIX. 253 So bspw. vertreten von Otto Küster und Gustav von Schmoller. Vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XCIX f. 254 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 546 f. sowie XCIX f.; Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 47; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 397; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 49.
B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat
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mit den Siegermächten zur Rückerlangung der staatlichen Souveränität einigte man sich schließlich auf ein Staatsoberhaupt in einer Ein-Personen-Besetzung.255 Das Amt müsse als ein echtes „pouvoir neutre“ ausgestaltet werden256 und im Vergleich zur Weimarer Verfassung ein entmachtetes Staatsoberhaupt sein.257 Neben den klassischen Pflichten und Rechten eines Staatsoberhauptes258 sollte der Präsident eine Vermittlungsfunktion bei der Regierungsbildung und bei Konflikten in der Gesetzgebung einnehmen, was in den Art. 76 – 85 HChE normiert wurde.259 Das Amt des Staatsoberhauptes könne jedoch – wie auch im Abschlussbericht260 festgeschrieben – aufgrund mangelnder Souveränität der Bundesrepublik Deutschland vorläufig nicht besetzt werden.261 Bis zur Wiedererlangung der staatlichen Souveränität, worüber eine „besondere Wahlversammlung“ i. S. v. Art. 75 Abs. 2 HChE zu entscheiden habe, sollten als zunächst gefundene Übergangsregelung die Geschäfte
255 Vgl. insoweit auch die Ausführungen in Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 6, wonach es durch das Kollegialorgan an der Spitze des Deutschen Reiches in der sog. Räterepublik 1918/1919 – bestehend aus sechs Personen – einen Vorläufer im eigenen Land gab. 256 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41; Gusy, Kommentar, in: Jäckel/Möller/Rudolph, Von Heuss bis Herzog, 1999, S. 61; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 627; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 63. 257 Von dem Reichspräsidenten der Weimarer Republik unterschied sich der im Entwurf vorgesehene Bundespräsident dadurch, dass dieser nicht durch das Volk gewählt und ihm kein bestimmter Einfluss auf die Regierungsbildung eingeräumt werden sollte. Ausschließlich im Fall des Art. 88 Abs. 3 HChE hätte ihm das Recht zur Auflösung des Bundestages zugestanden. Darüber hinaus hätte er weder ein Notverordnungsrecht gehabt noch hätte er bei der Bundesexekution mitwirken können. Vgl. Verfassungsausschuss der MinisterpräsidentenKonferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41 sowie Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547 – 549. 258 U. a. die völkerrechtliche Vertretung nach Art. 81 HChE, die Ernennung und Entlassung von Bundesbediensteten und Bundesrichtern gem. Art. 82 HChE sowie die Ausübung des Begnadigungsrechtes nach Art. 83 HChE. 259 Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 42 f. Siehe außerdem Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 10, S. 292 sowie Nr. 14, S. 546 ff., 594 ff.; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 56. 260 Abgedruckt in: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. XLVI f. Eine Bewertung der Arbeit des Verfassungskonvents durch die politischen Parteien ist zu finden bei: Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 36 – 38. 261 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 10, S. 292, Nr. 13, S. 403 f., Nr. 14, S. 546; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 61 f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 627 f.; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 138 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 2, S. 190; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 3, S. 1256; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 56.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
des Staatsoberhauptes vom Präsidenten der Länderkammer geführt werden.262 Vorübergehende Überlegungen einer Personalunion – den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts263 oder den Bundestagspräsidenten zur Verdeutlichung des Provisoriums zusätzlich mit der Funktion des Staatsoberhauptes zu betrauen264 – wurden aufgrund von Kollisionen und Konflikten beim Zusammenspiel mit anderen Verfassungsorganen abgelehnt und verworfen.265 Daher hielt der spätere Entwurf von Herrenchiemsee in Bezug auf das Staatsoberhaupt sowohl an einem Ein-Personen-Bundespräsidenten als auch an einem Bundespräsidium als Alternativvorschlag fest. Die einzelnen Artikel und auch die Erklärungen im darstellenden Teil sind dabei nahezu identisch mit den Formulierungen des Abschlussberichtes des Unterausschusses III.266 b) Zusammensetzung des Wahlgremiums Trotz gegensätzlicher Meinungen über die Notwendigkeit der Besetzung und die Ausgestaltung des Bundespräsidentenamtes bestand im Herrenchiemseer Konvent jedoch von Beginn an Einigkeit darüber, dass das Amt des Bundespräsidenten anders als das des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik zu gestalten sei. Ein vom Volk unmittelbar gewähltes Staatsoberhaupt mit direkter demokratischer Legitimation sowie einer entsprechenden Machtbefugnis wurde daher ausgeschlossen.267 262
Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 138. 263 Vgl. zu den Diskussionen zur Ausgestaltung der Judikative bei Entstehung des Grundgesetzes: Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 235 – 249. 264 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 84; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 398; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 5, S. 1600 f. 265 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 546 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 24; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 398 m. w. N.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 14. 266 Abgedruckt bei: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. 279 – 343, dort auch zum Unterausschuss III insgesamt. 267 So erläuterte selbst der einer Volkswahl eher zugewandte Thomas Dehler (FDP) in der 32. Sitzung des Hauptausschusses am 7. Januar 1949, dass die Bedenken gegen eine Volkswahl des Bundespräsidenten für seine Fraktion nicht ausgeräumt werden konnten und er befürchtete, dass das Volk in der jetzigen Lage nicht befähigt sei, die richtige Person zu wählen. Für den Abgeordneten Adolf Süsterhenn (CDU) waren die Präsidentenwahlen 1925 und 1932 ein Beweis dafür, dass die Volkswahl keine geeignete Form gewesen war. So sei 1925 der „Kandidat der Reaktion“ gewählt worden, 1932 hätten die demokratischen Kräfte aus „Angst vor dem Tode Selbstmord begangen“. Vgl. die zweite Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948. Dokumentiert bei Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 2, S. 66. Siehe auch Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547; Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 993; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41.
B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat
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Gleichzeitig sollte der Bundespräsident durch den Wahlmodus eine gegenüber den anderen Verfassungsorganen möglichst unabhängige Stellung einnehmen und zugleich die Strukturelemente eines demokratisch-zentralistischen und eines föderativen Bundesstaates zum Ausdruck bringen.268 Eine Wahl des Bundespräsidenten allein durch den Bundestag schied daher aus, zumal dieser schon den Bundeskanzler wählen sollte.269 Über das favorisierte Wahlorgan wurde sowohl im Unterausschuss III als auch im Plenum kontrovers diskutiert. Bei der Suche nach einer breit angelegten Wahlinstitution griff der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee zunächst auf ausländische Vorbilder – insbesondere Frankreich und Italien – zurück, deren Staatsoberhäupter mittels einer Nationalversammlung gewählt wurden, die beide Parlamentskammern vereinte.270 Der letztlich als Art. 75 Abs. 1 S. 1, S. 2 HChE verabschiedete Mehrheitsbeschluss sah vor, dass – nach Herstellung der vollen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland – ein Bundespräsident, der mindestens das 40. Lebensjahr vollendet hat, durch übereinstimmenden Beschluss in getrennten Abstimmungen, zunächst vom Bundestag und anschließend vom Bundesrat, gewählt werden sollte.271 Bei unterschiedlichen Abstimmungsergebnissen in beiden Organen nach zwei Wahlgängen sollte eine „besondere Wahlversammlung“, bestehend aus Mitgliedern des Bundesrates und einer gleichen Anzahl an Vertretern des Bundestages, zu einer Entscheidung kommen (Art. 75 Abs. 2 HChE).272 Dort sollte gemäß Art 75 Abs. 2 268 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41 sowie Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 240; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 181. 269 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 47; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 181; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 8. 270 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 48. 271 Durch den Vorschlag einer kumulativen Bundes- und Landesbeteiligung, also der Beteiligung der Gesamtvolksvertretung sowie des föderalen Organs, näherte sich der Vorschlag der in Frankreich und Italien vorgesehenen Wahl des Staatsoberhauptes durch eine Nationalversammlung an. Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547. Siehe außerdem Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 9; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 14. Siehe auch Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 16, wonach ein solcher Wahlmodus der Zusammensetzung eines Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG entspräche. 272 Plenarsitzung vom 22. August 1948. Dokumentiert bei Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 12, S. 372. Vgl. zudem Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 62; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 48 m. w. N.; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 2.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
S. 1 HChE die Wahl zunächst ebenfalls in zwei Wahlgängen mit absoluter Mehrheit der gesetzlichen Stimmenzahl erfolgen, sodann mit einfacher Mehrheit gemäß Satz 3 und im Falle einer Stimmengleichheit im zweiten Wahlgang nach Satz 4 das Los entscheiden.273 Art. 75 HChE: „(1) Der Bundespräsident wird durch übereinstimmenden Beschluss des Bundestages und des Bundesrats gewählt. Es wird zunächst im Bundesrat, sodann im Bundestag abgestimmt. Gewählt ist, wer in jedem der beiden Häuser die Mehrheit der gesetzlichen Stimmen erhält. (2) Ist eine Übereinstimmung beider Häuser auch in einem zweiten Wahlgang nicht zu erzielen, so tritt eine besondere Wahlversammlung zusammen, die aus den Mitgliedern des Bundesrats und einer gleichen Anzahl durch den Bundestag bestimmter Vertreter desselben besteht. Gewählt ist, wer die Mehrheit der gesetzlichen Stimmenzahl erhält. Wird diese Mehrheit in zwei Wahlgängen von keinem Bewerber erreicht, so findet ein dritter Wahlgang statt, in dem derjenige gewählt wird, der die meisten Stimmen erhält. Bei Stimmgleichheit entscheidet das Los. (3) Wählbar ist derjenige Bundesangehörige, der das 40. Lebensjahr vollendet hat und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist.“274
Im kommentierenden dritten Teil begründete der Verfassungskonvent seinen Mehrheitsbeschluss damit, dass es zweckmäßig erscheine, den Bundespräsidenten durch einen Wahlkörper wählen zu lassen, der sowohl Elemente der Gesamtvolksvertretung als auch des Bundesrates oder eines föderalen Organs in sich vereinigt.275 Der Gedanke einer Nationalversammlung durch Vereinigung beider Kammern wurde nicht weitergeführt, weil das Stimmgewicht der Bundesratsmitglieder wegen ihrer geringen Zahl eine zu große Abwertung erfahren hätte und damit die Länder eine zu geringe Berücksichtigung gefunden hätten.276 Gleichzeitig brachten die Länder mit der Variante eines übereinstimmenden Beschlusses in getrennten Abstimmungen von Bundestag und Bundesrat eine Variante ins Spiel, bei der die Länder nicht überstimmt werden konnten. Um deutlich zu machen, dass der Bundespräsident keinesfalls die starke Position des Reichspräsidenten innehabe, setzte dieser Mehrheitsvorschlag die beiden Komplexe „Wahl“ und „Begrenzung der Amtszeit“ durch zwei getrennte Artikel277 in 273
Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 48. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 71. 275 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 618; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 87; Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92. 276 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 87; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 181. 277 Erst während der späteren Beratungen im Parlamentarischen Rat wurden die Regelungen der früheren Art. 75, 75a und 76 HChE in Art. 54 GG zusammengefasst. 274
B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat
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Art. 75 HChE – mit der Regelung zu den Wählbarkeitsvoraussetzungen und dem Wahlmodus – sowie in Art. 76 HChE – zur Amtsdauer und zur Wiederwahl – bewusst voneinander ab.278 Eine Minderheit im Verfassungskonvent sprach sich für eine unbegrenzte Wiederwahlmöglichkeit aus.279 Eine Mehrheit fand sich für den Vorschlag, die Unabhängigkeit des Bundespräsidenten mit einer Amtsperiode von fünf Jahren bei einmaliger Wiederwahl sicherzustellen, wodurch ein Zusammenfallen mit der Wahlperiode des Bundestages vermieden werde (Art. 76 HChE).280 Art. 76 HChE: „Das Amt des Bundespräsidenten dauert fünf Jahre. Einmalige Wiederwahl ist zulässig.“281
3. Die Aufnahme der Beratungsergebnisse durch die Ministerpräsidentenkonferenz Nachdem die Ministerpräsidentenkonferenz am 30. August 1948 den Abschlussbericht des Verfassungskonvents erhalten hatten, wurde er bereits tags darauf an die Mitglieder des Parlamentarischen Rates zu ihrem ersten Treffen weitergeleitet.282 Die beiden großen Parteien SPD und CDU reagierten weitgehend ablehnend und versuchten, die Bedeutung des Entwurfes herunterzuspielen.283 Insbesondere die 278
Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 16. Ferner betonte der Unterausschuss III des Herrenchiemseer Verfassungskonvents unter der Überschrift „Unterschied gegenüber der Weimarer Verfassung“, dass dem Bundespräsidenten kein entscheidender Einfluss auf die Regierungsbildung eingeräumt werde, er auch kein Notverordnungsrecht habe oder eine Bundesexekution erwirken könne. Vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 10, S. 293. 279 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41 f. Hierfür eintretend insbesondere der bayerische Delegierte Claus Leussner (CSU) sowie der nicht zum Unterausschuss III gehörende, aber trotzdem an fast allen Sitzungen teilnehmende Otto Suhr (SPD). Dennoch ermöglichte Suhr trotz seiner Bedenken ein einheitliches Votum des Unterausschusses III. Hermann Brill (SPD) bestand darauf, seine abweichende Vorstellung der Ausgestaltung des Bundespräsidentenamts als Dreierkollegium gesondert festzuhalten. 280 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 547 f.; Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 41 sowie Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253. 281 Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 72. 282 Adenauer, Erinnerungen 1945 – 1953, 1965, S. 151; Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 791. Eingehend zum Verhältnis der Ministerpräsidentenkonferenz zum Parlamentarischen Rat sowie zum Wunsch der Ministerpräsidenten, den Sitzungen des Parlamentarischen Rates beizuwohnen: Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 59 – 63. 283 Die SPD sah in dem Verfassungskonvent eine private Vereinbarung der Ministerpräsidenten, die speziell Länderinteressen artikulieren. Vgl. Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 792. In dieselbe Richtung gehend der Vorsitzende der CDU in der britischen
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
SPD kritisierte in Richtung Bayern die „extrem föderalistische“ Färbung des Abschlussberichtes – wie der Vorschlag der getrennten Abstimmungen von Bundestag und Bundesrat zur Bestimmung des Staatsoberhauptes zeige – und lehnte jegliche Verpflichtung des Parlamentarischen Rates aus der Ausarbeitung ab.284 Die süddeutschen Kreise der Union bewerteten hingegen die Vorarbeit auf Herrenchiemsee als „wesentliche Grundlage“, obgleich ebenfalls die Unverbindlichkeit betont wurde.285 Am 31. August 1948 wandte sich der SPD-Vorstand gegen den von den Ministerpräsidenten geäußerten Wunsch auf Mitwirkungsrechte bei der Erarbeitung des Grundgesetzes, etwa in Form einer „ständigen Ländervertretung beim Parlamentarischen Rat“.286 Diese konfliktreiche Diskussion zwischen den Parteien und den Ministerpräsidenten wurde im Sinne der von den Parteien vertretenen Auffassung gelöst. Zu Beginn der Sitzung der Ministerpräsidenten am 31. August 1948 stellte der hessische Ministerpräsident Christian Stock (SPD) fest: „Wir werden diese Unterlagen dem Parlament als Material überweisen. Eine Diskussion zu den einzelnen Plänen zu entfachen, ist untunlich. Wir haben auch kein Mandat hierzu, Richtlinien zu geben; es ist Material für die Herren, die dort beraten (…)“.287
Ferner handele es sich nicht um eine „Regierungsvorlage“, der Parlamentarische Rat sei daher nicht „an die von den Ministerpräsidenten unterbreitete Beratungsgrundlage“ gebunden.288 Hiergegen gab es laut Protokoll jedenfalls offiziell keinen Widerspruch der Ministerpräsidenten.289 Besatzungszone Konrad Adenauer. Siehe Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 28; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 57. Vertiefend: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXIX–CXXIV. Zur Haltung der westlichen Besatzungsmächte sowie das Urteil der Konventsteilnehmer: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXXIV–CXXX. Zur Presseberichterstattung über den Herrenchiemseer Verfassungskonvent und den Einfluss der Berichterstattung auf die Konventsteilnehmer. Vgl. Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S 68 – 75; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXV. 284 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CIX ff.; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 37. 285 Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 38; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 57. 286 Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXXI. 287 Wagner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 1, 1975, 31. August 1948, Nr. 34, S. 399. 288 Dies war von den Ministerpräsidenten während ihrer Sitzung auf dem Jagdschloss Niederwald am 21. und 22. Juli 1948 auch anerkannt worden. Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 4, S. 1266 – 1269. Siehe zum Verhältnis der Ministerpräsidentenkonferenz zum Parlamentarischen Rat: Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 58 – 63. 289 Das offiziell unterbliebene Opponieren der (südlichen) Ministerpräsidenten könnte sich damit erklären lassen, dass nach den Vorstellungen der Militärgouverneure die ausschließliche
B. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat
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Der Herrenchiemseer Entwurf bildete für den Parlamentarischen Rat gleichwohl eine solide Arbeitsgrundlage,290 was allein die Tatsache zeigt, dass der Aufbau des später beschlossenen Grundgesetzes mit der Gliederung des auf Herrenchiemsee erarbeiteten Verfassungswerks im Wesentlichen übereinstimmt. Damit hat er die Strukturelemente des Grundgesetzes wesentlich geprägt. Vor dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rates waren die Konturen der künftigen Verfassung daher bereits erkennbar.291 Auf dem Weg zur Entstehung des Grundgesetzes wirkt der Entwurf des Verfassungskonvents als „Transmissionsriemen“ von Weimar nach Bonn.292 Der Verfassungskonvent hat bei seiner Erarbeitung eines Vorschlags für eine neue Verfassung an den Errungenschaften der Weimarer Republik festgehalten und für gut Befundenes übernommen sowie eine strikte Abkehr dort vollzogen, wo er glaubte, folgenschwere Konstruktionsfehler erkannt zu haben.293
IV. Die Beratungen im Parlamentarischen Rat Die Mitglieder des aus 61 Männern und vier Frauen294 bestehenden Parlamentarischen Rates295 wurden von den elf westdeutschen Landtagen nach Bevölkerungsproporz296 und Stärke der Landtagsfraktionen297 gewählt298 und entsandt. Hinzu kamen fünf nicht stimmberechtigte Vertreter der Stadt Berlin.299 Befugnis zur Verfassungsausarbeitung beim Parlamentarischen Rat lag. So auch die Vermutung bei: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. CXVIII. 290 Eine Wertung des Herrenchiemseer Entwurfes findet sich bei Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 792. 291 Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 7 f.; Pfeiffer, Vom Werden einer Verfassung, DÖV 1948, 49, 49 ff.: Säcker, Verfassungskonvent 1948, DÖV 1998, 784, 784. 292 Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 262. 293 So auch: Bauer-Kirsch, Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, 2005, S. 262. 294 Die Weimarer Nationalversammlung tagte mit 421 Abgeordneten, sodass der Parlamentarische Rat mit seiner kleineren Besetzung zügiger und konzentrierter arbeiten konnte. Vgl. Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 331. Eine Auflistung aller Mitglieder des Parlamentarischen Rates ist zu finden bei: Sach- und Sprachregister zu den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates und seines Hauptausschusses 1948, 1948, S. 3 – 5. Für einen Vergleich der personellen Zusammensetzung siehe: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 6, S. 1282 f. 295 Ausführlich zum Parlamentarischen Rat und auch zu den Interventionen und Abstimmungen mit den Alliierten: Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 120 – 136 mit einer tabellarischen Übersicht der Verfassungsberatungen auf S. 135 f. 296 Auf je 750.000 Einwohner entfiel ein Abgeordneter. Überstieg der verbliebene Rest der Einwohnerzahl 200.000, stand dem jeweiligen Land ein weiterer Abgeordneter zu. Vgl. Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 4; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 323; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 123; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 42; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 6, S. 1277; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 63.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
In der konstituierenden Sitzung am 1. September 1948 in Bonn300 wurde das zweitälteste Mitglied, Konrad Adenauer (CDU), zum Präsidenten gewählt301 sowie ein Hauptausschuss und fünf302 nicht öffentlich tagende Fachausschüsse gebildet.303
297 Von den 65 Abgeordneten gehörten 27 der CDU/CSU, 27 der SPD, fünf der FDP, zwei der DP, zwei der Zentrumspartei und zwei der KPD an, sodass Kompromissbereitschaft erforderlich war. Nur Nordrhein-Westfalen, Bayern, Niedersachsen und Hessen konnten mit 17, 13, neun bzw. sechs Mandaten mehr als fünf Abgeordnete entsenden, sodass die Parteien sich auf ihre erfahrensten und verfassungsrechtlich vertrautesten Mitglieder beschränkten, womit Interessenvertreter – wie z. B. Kirchen, Industrie, der Mittelstand, Bauern, die Arbeiterschaft und Heimatvertriebene – nicht vertreten waren, sodass diese nur auf Fürsprecher setzen konnten. Das Durchschnittsalter betrug 55 Jahre. Mit 61 % gehörte der Großteil der Mitglieder zur Gruppe der Berufsbeamten, viele hiervon Professoren und Richter, davon 42 % Juristen. 18 % der Mitglieder waren Minister und Staatssekretäre. Vgl. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 22, S. 35 f.; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 66, 83 f.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 387; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 49 f.; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 331 f.; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 124 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 6, S. 1277 f.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Bd., 2012, S. 123 – 125; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 64; vertiefend zur Mitgliederstruktur des Parlamentarischen Rates: Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 42 – 47. 298 Zum Prozess der Kandidatenentsendung und zur Entscheidung für Bonn als Tagungsort beschreibend: Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 326 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 6, S. 1278 f. 299 Die Berliner Vertreter konnten wegen des besonderen Status Berlins nur mit beratender Stimme an den Sitzungen teilnehmen. Vgl. Weber-Fas, Der Verfassungsstaat des GG, 2002, S. 37. 300 Neben Bonn hatten sich Bad Homburg, Celle, Düsseldorf, Frankfurt, Karlsruhe, Koblenz, Köln und zahlreiche weitere Städte beworben. Die Stadt Bonn erhielt den Zuschlag, weil man mit ihr – nach Frankfurt, Koblenz und Niederwald – auch eine Stadt der britischen Zone an den Entscheidungen über das Grundgesetz beteiligen wollte. Siehe hierzu Morsey, Verfassungsschöpfung unter Besetzungsherrschaft – Die Entstehung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat, DÖV 1989, S. 471, 472; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 327; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 6, S. 1278 f. 301 Als erster stellvertretender Vorsitzender und zugleich Alterspräsident wurde Adolph Schönfelder (SPD), als zweiter stellvertretender Vorsitzender Hermann Schäfer (FDP) gewählt. Vgl. die erste Sitzung des Plenums vom 1. 9. 1948, dokumentiert bei Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 1, S. 5 f., 11 – 13; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 428. 302 Eine Auflistung der einzelnen Fachausschüsse ist zu finden bei Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 124 mit einer übersichtlichen Struktur der Organisation und Arbeitsweise des Parlamentarischen Rates auf S. 126 f. Vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 6, S. 1281 f. 303 Dokumentiert bei Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 3, S. 148 f. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 67; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 124.
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Wie den Protokollen zu entnehmen ist, bestand die Arbeitsweise darin, die in den Fachausschüssen gefundenen Beratungsergebnisse im Allgemeinen Redaktionsausschuss304 zu überarbeiten und anschließend dem Hauptausschuss vorzulegen und zusammenzutragen, sodass eine abwechselnde Beratung in den Ausschüssen und anschließend im Plenum praktiziert wurde.305 Nach der Erörterung in vier Lesungen im Hauptausschuss sowie in zwei Lesungen im Plenum wurde in einer dritten Lesung im Plenum über die endgültige Formulierung beraten und schließlich abgestimmt.306 Die Diskussionen wurden mehr von Einzelpersonen als von Parteien geprägt307 – zumal es auch vielfach unterschiedliche Auffassungen innerhalb einer Partei gab. Eine Mehrheit der Mitglieder machte auch hier die Ausgestaltung des Reichspräsidentenamtes mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik.308 Zudem wurde der Weimarer Reichsverfassung insbesondere das (äußerlich) legale Hinübergleiten der demokratischen Verfassung in die totalitäre Diktatur309 angelastet.310 Die Ausarbeitung der Verfassung war daher davon geprägt, die erneute Errichtung einer Diktatur mit einer einzelnen Führungsperson bereits in ihren Anfängen zu 304 Der zur Koordinierung der Arbeiten der einzelnen Fachausschüsse eingesetzte Allgemeine Redaktionsausschuss nahm am 5. November 1948 seine Arbeit auf und bestand aus den Abgeordneten Heinrich von Brentano (CDU), Georg-August Zinn (SPD) und Thomas Dehler (FDP). Der Ausschuss sollte innerhalb einer Woche die von den Fachausschüssen geleistete Arbeit durchsehen. Häufig agierte dieser auch als Vorzeichner von Kompromissvorschlägen. Bis zum 5. Dezember 1948 hat der Redaktionsausschuss die gesamte bis dahin abgeschlossene Ausschussarbeit in einen neuen Gesamtentwurf gebracht und kommentiert. Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. XIX sowie Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 69; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 639. 305 Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 12. 306 Vgl. Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 67 f. 307 So auch: Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 27. 308 Vgl. die detaillierte Übersicht der Positionen der politischen Parteien sowie einzelner Politiker bei Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 37 – 54 und Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 5, S. 1270 – 1277. Vgl. auch v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 1; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 322, wonach die Beratungen im parlamentarischen Rat vom einzig dominierenden Aspekt der allgemein befürworteten Abkehr von der Kompetenzfülle des Weimarer Reichspräsidenten geleitet gewesen sei. 309 Vertiefend hierzu u. a.: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 303 – 323 m. w. N.; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 330 f. 310 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 21; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 74, § 17, Rn. 11. So äußerte der Abgeordnete Adolf Süsterhenn (CDU), dass ein parlamentarischer Wahlmodus des Bundespräsidenten die Gefahr vermindere, „dass ein Agitator unter Ausnutzung der Not und unter Missbrauch der emotionalen Kräfte des Volkes auf dem Wege des Plebiszits noch einmal nach der Macht zu greifen versucht“. Vgl. 2. Sitzung des Plenums vom 8. 9. 1948. Abgedruckt bei Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 2, S. 66.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
unterbinden,311 auch wenn die heutige Bewertung der Weimarer Reichsverfassung vielfach differenzierter ausfällt.312 Darüber, welcher Weg einzuschlagen ist, um diese „Fehler“ zu vermeiden, gingen die Auffassungen jedoch weit auseinander. Dies zeigen die lebhaften und im Folgenden aufzuzeigenden Diskussionen über das Erfordernis und die Stellung eines Staatsoberhauptes313 sowie über die Zusammensetzung seines Wahlgremiums314, auf 311
Dies kommt in einigen verfassungsrechtlich abweichenden Regelungen samt den Gesetzesbegründungen als Form der Korrektur zur Weimarer Reichsverfassung deutlich zum Ausdruck. So auch Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 4; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 23; Möller, in: Jäckel/Möller/ Rudolph, Von Heuss bis Herzog, 1999, S. 10; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 7 f.; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 412 f. Neben dieser Neuausrichtung des Grundgesetzes zur Stabilität des Staatsgefüges im Inneren haben die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ auch das Augenmerk auf die Integration und auf die Stabilität des neuen Gebildes der Bundesrepublik Deutschland nach außen in eine größere europäische Staatengemeinschaft gelegt und so den Art. 24 GG geschaffen (mit Gesetz vom 21. 12. 1992, BGBl. 1992, I, S. 2086, geändert und mit der Einfügung des Art. 23 GG n. F. erweiternd konkretisiert). Zu dem damit einhergehenden Souveränitätsverzicht der Bundesrepublik bei der Gründung und dem Aufbau der Europäischen Gemeinschaft auch hinsichtlich der eingeschränkten Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit des Unionsrechts mit dem deutschen Verfassungsrecht. Vgl. insbes. Eibach, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften als Prüfungsgegenstands des BVerfG, 1986, S. 1 ff., S. 171 m. w. N. 312 So führt Roman Herzog (in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 12) aus, dass mit Reichstag und Reichspräsident zwei jeweils gleichgewichtige und mit gleicher demokratischer Legitimation gestützte Gewalten existierten, wobei eine die legislative Gewalt besaß, während die andere das Übergewicht in der Exekutive erhalten sollte. Dass diese Konstruktion in der Verfassungspraxis nicht funktionierte, müsse keinesfalls ein Argument gegen ihre „prinzipielle Klugheit und Brauchbarkeit“ sein, sondern könne auch auf die Abnormalität der damaligen Verhältnisse zurückzuführen sein – auch wenn der Parlamentarische Rat ein Experiment dieser Art nicht wiederholen wollte. Stattdessen habe dieser von vornherein nur ein unmittelbar vom Volk gewähltes Verfassungsorgan geschaffen, das allein den Regierungschef bestimmt und an der Wahl des Staatsoberhauptes maßgeblich beteiligt ist. Vgl. auch Lutz Mehlhorn (Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 510 f.), dem in seiner Wertung zuzustimmen ist, dass Weimar nicht an seiner Verfassung, sondern an den widrigen Umständen der Zeit und den fehlenden Demokraten untergegangen ist, jedoch verfassungsrechtliche Strukturen Krisenlagen begünstigen oder als Stabilitätsanker versagen können. Siehe auch Schröder/v. Ungern-Sternberg, in: Schröder/v. Ungern-Sternberg, Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, 2011, S. 2 f. m. w. N. sowie eine Darstellung einzelner Studien auf S. 5 ff.; Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung – Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, insbes. S. 60 – 65, 141 f. 313 Vertiefend zur Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes im Parlamentarischen Rat: Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 629 – 648. Vgl. zudem Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 33. 314 Neben der allgemeinen Ablehnung einer erneuten Volkswahl des Bundespräsidenten sprachen sich – abgesehen von vier Personen – die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auch gegen Plebiszite aus, sodass diese auch nur in geringem Umfang Gegenstand von Diskussionen waren. Zurückgeführt wird das Desinteresse an Plebisziten zum einen auf die zwiespältigen Erfahrungen aus der Volkswahl des Reichspräsidenten, zum anderen auf die
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die sich die folgenden Ausführungen fokussieren. Auch fanden die Beratungen unter der Belastung statt, dass eine Einigung aller beteiligten Siegermächte315 in weiter Ferne lag.316 Mit der Wahl des Bundespräsidenten nach Art. 54 GG beschäftigte sich im Parlamentarischen Rat der Ausschuss für die Organisation des Bundes (im Folgenden „Organisationsausschuss“), der am 15. September 1948 die Arbeit aufnahm und mit seiner 32. Sitzung am 20. Januar 1949 schloss. Des Weiteren waren der Bundespräsident sowie seine Wahl Gegenstand von Diskussionen des vom 15. September 1948 bis 9. Mai 1949 in 59 Sitzungen tagenden Hauptausschusses sowie des in 12 Sitzungen tagenden Plenums, deren Diskussionen und Entwicklungen im Folgenden grob nachvollzogen werden.317 Die folgende Untersuchung geschieht insbesondere unter der Fragestellung, inwieweit im Parlamentarischen Rat Indizien vorliegen oder konkrete Aussagen getätigt wurden, die das Bundesverfassungsgericht zu der Auslegung kommen ließen, das vom Parlamentarischen Rat eingesetzte Wahlgremium, die Bundesversammlung, sei ein kürähnliches Organ.318 1. Die Erörterung im Organisationsausschuss des Rates Im Ausschuss über die Organisation des Bundes319, mit dem Christdemokraten320 Robert Lehr als Vorsitzenden, wurde in 32 Sitzungen321 über die Zusammensetzung Folgen des Volksbegehrens gegen den Young-Plan. Ausführlich zum Diskussionsstand bis 1999 siehe Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Elemente in das GG?, 1999, S. 27 ff. mit zahlreichen Nachweisen sowie Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 78 f.; 192; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 240; Wellkamp, Die Volkswahl des Bundespräsidenten, BayVBl. 2002, 267, 268. 315 Zu den Verfassungsvorstellungen der Alliierten: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 35 f.; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 318. 316 Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 3 f.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 387 f. 317 Eine Übersicht aller Sitzungen des Parlamentarischen Rates befindet sich im Anhang. 318 Vgl. BVerfGE 136, 277, 312, 318. 319 Hierbei handelte es sich um eine Kombination des Ausschusses für „die Organisation des Bundes“ und „für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege“, der im Oktober 1948 getrennt wurde. Mit 20, seit dem 7. Oktober 1948 mit 22, stimmberechtigten Mitgliedern war der kombinierte Ausschuss der größte Ausschuss nach dem Hauptausschuss. Dem kombinierten Ausschuss wurde eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Gemäß dem in der Ältestenrat-Sitzung am 8. und 9. September 1948 beschlossenen Parteienproporz nahmen jeweils acht Mitglieder für die CDU/CSU und die SPD, zwei für die FDP und je ein Mitglied für das Zentrum und die DP an dessen Sitzungen teil. Vgl. Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. VII f. Die personelle Zusammensetzung ist aufgeschlüsselt bei: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. VIII–XII sowie einem Porträt der Mitglieder auf S. XV–XXXIV.
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des Wahlgremiums zur Bestimmung des Bundespräsidenten diskutiert und eine erste Konzeption erarbeitet, die am 18. Oktober 1948 in erster Lesung angenommen wurde.322 Hauptstreitgegenstand war – wie schon die parallele Diskussion im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee – zum einen die Frage der Notwendigkeit einer Besetzung des Bundespräsidentenamtes sowie zum anderen die Form der Ausgestaltung der Wahl und die Beteiligung der Landesvertreter. a) Notwendigkeit des Amtes eines Bundespräsidenten und Besetzung In der 5. Sitzung des Organisationsausschusses vom 23. September 1948323 kam es zum ersten Mal zu einer längeren Diskussion über die Besetzung des Amtes eines Bundespräsidenten. Hierbei lehnte Robert Lehr für die CDU/CSU die von anderen politischen Parteien vorgeschlagene Personalunion zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident ab. Für den Minderheitenvorschlag eines Bundespräsidiums als Dreierkollegium aus Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Bundeskanzler zeichnete sich in dieser Sitzung kaum Unterstützung ab. Rudolf Katz (SPD) räumte ein, dass die Konstruktion eines Bundespräsidiums mit Problemen verbunden sei, auch wenn er sich zunächst noch gegen deren endgültige Ablehnung aussprach.324 Die SPD – vertreten durch Walter Menzel sowie Rudolf Katz – war einem Bundespräsidenten gegenüber nicht grundsätzlich misstrauisch eingestellt, trat allerdings – in Übereinstimmung mit dem Herrenchiemsee-Bericht325 – dafür ein, die Bundesrepublik326 durch den Verzicht auf einen Präsidenten auch äußerlich als Provisorium mit dem 320 Vertiefend zur Position der CDU/CSU im Parlamentarischen Rat anhand der Sitzungsprotokolle der Unionsfraktionen bei Christlich-Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (Hrsg.), Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat: Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, 1981. 321 Eine Auflistung aller Sitzungen des Organisationsausschusses ist zu finden bei: Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. CXIX–CXXXV. Der Ausschuss tagte pro Sitzung etwa zwei bis zweieinhalb Stunden und insgesamt über 77 Stunden. Vertiefend zum Gang der Beratungen und der Arbeitsweise in diesem Ausschuss: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. XLVI–LI. 322 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 67. 323 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 5, S. 114 ff. 324 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXVI. 325 Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 42. 326 Auch die Benennung als Bundesrepublik war nicht unstrittig. Der Herrenchiemseer Entwurf schlug den Namen „Bund deutscher Länder“ vor, der keine Zustimmung fand. Zum Diskussionsprozess: Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 334.
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Langzeitziel der Wiedervereinigung erscheinen zu lassen.327 Hierfür schlug sie, repräsentiert durch Carlo Schmid und Willibald Mücke, in der 9. Sitzung des Organisationsausschusses vom 1. Oktober 1948328 vor, dass zwar die Funktion des Bundespräsidenten im Grundgesetz verankert werden müsse, dessen Aufgaben jedoch zunächst vom Bundestagspräsidenten übernommen werden sollten.329 So könnten repräsentative Funktionen der Bundesrepublik Deutschland möglichst unbedeutend und der Riss, der durch Europa laufe, möglichst gering gehalten werden.330 Die vorgeschlagene Übertragung der Funktionen auf den Bundestagspräsidenten – da dieser „aufgrund seiner Stellung im Parlament am leichtesten einen Ausgleich ermöglichen“ könne – rief jedoch entschiedene Ablehnung in der Unionsfraktion hervor. Deren Abgeordnete Albert Finck und Felix Walter bewerteten dies als eine Verletzung der Gewaltenteilung: Jeder Staat bedürfe einer Staatsspitze – auch eine Republik, wie der Vergleich mit den übrigen Staaten Europas zeige, und eine „repräsentative Spitze“ sei besonders in politisch schwierigen Zeiten und gerade gegenüber den Besatzungsmächten nötig.331 Auch die anderen Fraktionen schlossen sich der Kritik an.332 Der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss (FDP)333 bekräftigte, dass nur eine Einzelperson als „Repräsentant der Volkseinheit“ wirken könne und man auch den Mut haben müsse, 327 Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 2 f.; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 47; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 202; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 15; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 186. 328 Dokumentiert bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 11, S. 301 ff. 329 Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 37. 330 Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 13 f. In diese Richtung argumentierte auch der Sozialdemokrat Walter Menzel, wonach es „nicht der Würde des Amtes entspreche, […] es nur mit beschränkten Vollmachten“ zu versehen, zumal die Bundesrepublik noch keine Souveränität habe und keine „echte Verfassung“ bekäme. Vgl. dazu Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXVII; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 9, S. 1317. 331 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXVIII m. w. N.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 3, S. 191 m. w. N.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 14. 332 Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 72 f. 333 Ein Porträt des Theodor Heuss’ und seiner Amtszeit von 1949 bis 1959 ist u. a. zu finden bei: Scholz/Süskind, Von Theodor Heuss bis Horst Köhler, 2004, S. 92 – 157 sowie eine Liste von Veröffentlichungen von und über seine Person auf den S. 512 – 514, auch mit einer Kurzbeschreibung der inhaltlichen Schwerpunkte der bisherigen Amtsinhaber bis Horst Köhler (CDU). Eine Auflistung der bisherigen Bundespräsidenten bis 2010 ist zu finden bei Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 17, Rn. 32. Vgl. auch Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 37, S. 1612 f.
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„in das Strukturelle das Feste einzubauen“.334 Zudem führe der sozialdemokratische Vorschlag dazu, dass die stärkste Partei im Parlament, die den Bundestagspräsidenten stelle, zugleich auch das provisorische Staatsoberhaupt stellen würde – obwohl das Amt des Staatsoberhauptes gerade politisch neutral ausgestaltet sein solle.335 Ebenso klar sprach sich Hans-Christoph Seebohm (DP) für einen Bundespräsidenten aus, „um eine höchste Repräsentation Gesamtdeutschlands gegenüber dem Ausland, insbesondere gegenüber den Besatzungsmächten, zu haben“.336 Dies sei auch für die Identifikation innerhalb Deutschlands mit dem neugeschaffenen Staatswesen wichtig.337 Dennoch hielt die SPD-Fraktion zunächst an ihrem Standpunkt fest. In der 12. Sitzung des Organisationsausschusses vom 8. Oktober 1948338 rückte die SPD-Fraktion dann aber doch von ihrer ursprünglichen Position ab und trug durch Georg-August Zinn ihre Bereitschaft vor, lediglich bis zur Wahl eines ersten Bundespräsidenten dessen Befugnisse durch den Präsidenten des Bundestages ausüben zu lassen. Diese Bestimmung, als Art. 147a des Entwurfes des Allgemeinen Redaktionsausschusses eingefügt, wurde in der 22. Sitzung des Organisationsausschusses am 24. November 1948 erörtert und von Rudolf Katz dahingehend erläutert, dass die SPD-Fraktion „grundsätzlich der Einrichtung der Präsidentschaft als Funktion“ zustimme, es aber sinnvoll sei, den Zeitpunkt der Einsetzung noch hinauszuschieben.339 Dieser Antrag wurde zwar gegen die Stimmen der CDU/CSUAbgeordneten im Organisationsausschuss angenommen, scheiterte jedoch später im Hauptausschuss in erster Lesung am 30. November 1948.340 Daraufhin verzichtete die SPD auf eine erneute Initiative zu dieser Frage.341
334 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 6, S. 1601; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 16; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 428. 335 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 68; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 37. 336 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 9, S. 1317 m. w. N. 337 Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 15 m. w. N. 338 Abgedruckt bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 16, S. 466 ff. 339 Abgedruckt: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXVII sowie Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 2, Nr. 30, S. 824. 340 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 295 – 307. 341 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXVIII f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 643.
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b) Zusammensetzung des Wahlgremiums Ein weiterer Diskussionspunkt im Organisationsausschuss bildete das Wahlgremium des Bundespräsidenten und die Frage, ob eine Abstimmung zunächst in getrennten Wahlgängen in Bundesrat und Bundestag erfolgen oder von vornherein ein eigens gebildetes Wahlgremium hiermit betraut werden sollte. Da dies die Gewichtung der einzelnen Verfassungsorgane tangiert, waren auch Fragen des Föderalismus und dessen parlamentarische Ausgestaltung berührt.342 In der 5. Sitzung vom 23. September 1948343 sprach sich, entsprechend dem Herrenchiemseer Entwurf, Robert Lehr von der CDU/CSU für eine Wahl durch Bundestag und Bundesrat aus. Bei der Fortsetzung dieser Diskussion in der 9. Sitzung am 1. Oktober 1948344 schlug Max Becker von der FDP ein aus Bundestag, Bundesrat und Entsandten der Landtage bestehendes dreigliedriges Modell mit der Bezeichnung „Gesamtbundesversammlung“ zur Bestimmung des Bundespräsidenten vor.345 Hierbei sollte, da der Bundesrat sehr viel kleiner als der Bundestag sein würde, der Wahlkörper „durch Vertreter der Länderparlamente verstärkt“ werden, um eine Angleichung an die Mitgliederzahl im Bundestag zu erreichen.346 Der hier erstmalig auftauchende Begriff der „Bundesversammlung“ wurde bis Mai 1949 inhaltlich unterschiedlich interpretiert. So schlug der Fraktionskollege Thomas Dehler (FDP) eine lediglich aus Bundestag und Bundesrat347 bestehende Bundesversammlung vor.348 Mehrere Abgeordnete der Unionsfraktion und der SPD349 sprachen sich für den FDP-Vorschlag aus, während insbesondere der Abgeordnete Paul de Chapeaurouge (CDU) für eine getrennte Abstimmung mit der Änderung eintrat, zunächst im Bundestag und danach im Bundesrat abstimmen zu lassen.350 342 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXX. 343 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 5, S. 114 ff. 344 Dokumentiert bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 11, S. 303 ff. 345 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 67 f. 346 Neunte Sitzung des Organisationsausschusses vom 1. 10. 1948. Dokumentiert bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 11, S. 331 sowie S. LXX. 347 Zu beachten ist hierbei, dass die demokratische Legitimation der Vertreter im Bundesrat geringer ist, weil im Bundesrat lediglich die Landesregierungen ohne die Oppositionsparteien vertreten sind. So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 49. 348 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 67. 349 Vgl. die 12. Sitzung des Organisationsausschusses vom 8. 10. 1948. Dokumentiert bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 16, S. 474 – 480. 350 12. Sitzung des Organisationsausschusses vom 8. 10. 1948. Abgedruckt bei Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 16, S. 478 sowie S. LXX.
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Gegen Ende der 12. Sitzung des Organisationsausschusses am 8. Oktober 1948351 legte Rudolf Katz einen Formulierungsvorschlag vor, wonach der Bundespräsident aus einem aus der „Gesamtheit der Mitglieder des Bundestages und der Länderkammer“ bestehenden „Konvent“ zu wählen sei.352 Sofern keine Einigung im ersten oder zweiten Wahlgang erzielt werden könne, solle im dritten Wahlgang eine besondere Wahlversammlung, bestehend aus Mitgliedern der Länderkammern und einer gleichen Anzahl von Bundestagsabgeordneten, einberufen werden. Falls auch dieser dritte Wahlgang erfolglos bliebe, solle das Los entscheiden.353 Die Mitglieder von CDU/CSU befürworteten entsprechend der Herrenchiemseer Regelung in dieser Sitzung erneut eine getrennte Abstimmung von Bundestag und Bundesrat,354 um die Landesinteressen stärker zu gewichten,355 während die SPD die Landesinteressen in ihrem Vorschlag ausreichend berücksichtigt sah. Die FDP hingegen bevorzugte einen Konvent aus Bundestag, Bundesrat und je zehn Mitgliedern der Landesparlamente.356 Auch in der zweiten Lesung, in der 21. Sitzung des Organisationsausschusses am 10. November 1948,357 gab es keine Annäherung. Da sich inzwischen alle Fraktionen außer der CDU/CSU für eine Konventslösung aussprachen, befand sich die Fraktion der CDU/CSU in einer isolierten Position.358 351 Dokumentiert bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 16, S. 466 ff. 352 Vgl. Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 16, S. 497 sowie S. LXX. 353 Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 259. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 69 sowie Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 212 – 231 eingehend zur Diskussion über die Funktionen und die Zusammensetzung einer Länderkammer. 354 Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 37. 355 Gerade den Landesregierungen und insbesondere der bayerischen war diese Partizipation besonders wichtig, um ihren Einfluss auf allen Ebenen und Bereichen geltend zu machen. Dies zeigte sich schon daran, dass der bayerische Ministerpräsident den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee ins Leben rief, um durch die Unterbreitung von Verfassungsvorschlägen die Ausgestaltung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat in ihrem Sinne beeinflussen zu können. So auch: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 81. Eine Darstellung der Auffassungen und der Diskussionen innerhalb der Länder in Bezug auf die Notwendigkeit eines Staatspräsidenten, dessen Bestellung und Kompetenzausstattung beleuchtet: Pfetsch, Ursprünge der zweiten Republik, 1990, S. 312 – 315. 356 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 68 f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 635 mit weiteren Ausführungen, die gegen das FDP-Modell vorgetragen wurden; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 73. 357 Abgedruckt bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 2, Nr. 28, S. 763 – 796. 358 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXX f. Diese Differenz zwischen den Parteien lässt sich mit dem unterschiedlichen Föderalismusverständnis erklären. Nach Meinung der CDU/CSU war einer angemessenen Län-
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Der Redaktionsausschuss änderte Art. 75 des Entwurfes dahingehend, dass die Bundesversammlung aus Mitgliedern des Bundesrates, des Bundestages und einer gewählten Anzahl von Mitgliedern der Landtage bestehen, deren Zahl der Differenz zwischen der Mitgliederzahl des Bundestages und des Bundesrates entspreche, um ein Bund-Länder-Gleichgewicht359 herzustellen.360 Der zuvor von der FDP-Fraktion eingebrachte Vorschlag der Entscheidung per Los im Falle einer Stimmengleichheit beim dritten Wahlgang wurde vom Redaktionsausschuss als unvereinbar mit der Würde des Amtes bewertet361 und daher gestrichen. Ergänzt wurde erstmals ein generelles Ausspracheverbot.362 In der 22. Sitzung des Organisationsausschusses am 24. November 1948 legte die FDP-Fraktion einen neu formulierten Vorschlag vor, demzufolge eine Bundesversammlung nur aus Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von den Länderparlamenten gewählter Mitglieder – also ohne Beteiligung des Bundesrates – mit der Wahl eines Bundespräsidenten betraut werden solle.363 Diesen modifizierten Vorschlag unterstützte die SPD unter Aufgabe ihrer früheren Anträge, und für die Zentrumspartei erklärte die Abgeordnete Helene Wessel ihre Unterstützung und trug vor: „Das föderative Prinzip wird nicht vertreten von den Regierungen in den Ländern, sondern vom Volk in den Ländern. Wenn wir schon den Präsidenten nicht direkt wählen lassen wollen, sondern einen Weg suchen, ihn indirekt zu wählen, dann entspricht es nach meiner
derbeteiligung erst dann Genüge getan, wenn auch die Landesregierungen an der Bundespräsidentenwahl partizipieren würden. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 81; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 141. 359 Diese Aufstockung der Länderparlamentarier zu einer paritätischen Stimmenzahl von Bundes- und Landesvertretern hätte zu einem stärkeren Einfluss der Länder geführt, der ansonsten wegen der geringen Stimmenanzahl kaum ins Gewicht gefallen wäre. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 70. 360 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 69 f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 639 f. 361 Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 13. Gegen eine solche Interpretation wendet sich Niels Magsaam (Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 342), da der Bundestagspräsident als Präsident eines obersten Bundesorgans in der protokollarischen Rangfolge unmittelbar dem Bundespräsidenten folge und ebenfalls kraft Losentscheides bei Stimmengleichheit bestimmt werden könne. Trotz der erhöhten politischen Bedeutung des Bundespräsidenten sei ein Losentscheidungsverfahren – im Gegensatz zu einem unendlichen Wahlverfahren – nicht von Willkür und Unwürdigkeit geprägt. Stattdessen führe eine solche Regelung zu Rechtssicherheit und -klarheit, trotz Einschaltung eines Zufallsmoments. Ferner werde das Losverfahren ggf. auch bei der Besetzung der Bundesversammlung mit Länderdelegierten angewendet. 362 Art. 75 des Entwurfes des Allgemeinen Redaktionsausschusses. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 69 f.; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 403. 363 Dokumentiert bei Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 2, Nr. 30, S. 809 f.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten Überzeugung dem föderativen Gedanken, ihn eher von den von Landtagen bestimmten Vertretern als von Vertretern von Kabinetten wählen zu lassen.“364
Bei der weiteren Aussprache in der 22. Sitzung wurde deutlich, dass viele Unionsabgeordnete weiterhin Sympathien für eine Bundesversammlung unter Beteiligung des Bundesrates hegten, wie dies der Vorschlag des Redaktionsausschusses365 vorsah, sodass der Abgeordnete Hermann Fecht (CDU) diesen Kompromissvorschlag erneut vorbrachte, der aber keine Mehrheit fand.366 Stattdessen wurde der neugefasste Vorschlag der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU mehrheitlich vom Organisationsausschuss beschlossen und dem Hauptausschuss zu seiner zehnten Sitzung am 30. November 1948 vorgelegt.367 Dieser bildete die Grundlage des späteren Art. 54 GG. 2. Die Beratungen im Hauptausschuss des Rates Der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates368 bestand aus 21 Mitgliedern369 unter Vorsitz von Carlo Schmid (SPD), wobei die CDU/CSU und die SPD jeweils acht Vertreter sowie die FDP zwei und die DP, das Zentrum sowie die KPD je einen Vertreter370 entsandten.371 Aufgabe des Hauptausschusses war es, die unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Ergebnisse der Fachausschüsse zu einem homogenen Gesamtentwurf zusammenzufassen und diesen Gesamtentwurf eines Grundgesetzes im Sinne einer politischen Vorentscheidung dem Plenum vorzulegen.372 Hierzu fanden 59 Sitzungen in vier Lesungen, teilweise parallel zum Organisationsausschuss, statt. Ebenso wie in den Fachausschüssen kam es auch hier zu 364 22. Sitzung des Organisationsausschusses vom 24. 11. 1948. Abgedruckt bei Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 2, Nr. 30, S. 820. 365 Vgl. Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 2, Nr. 30, S. 821. 366 22. Sitzung des Organisationsausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXXI. sowie Teilbd. 2, Nr. 30, S. 822. 367 Vgl. Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. LXXI. 368 Dieser tagte im Gegensatz zu den Fachausschüssen auf Wunsch der SPD presseöffentlich. Lediglich als es am 18. Dezember 1948 in der 28. Sitzung um die Diskussion der Ergebnisse der Frankfurter Gespräche mit einer Delegation der Militärgouverneure ging, wurde die Presse aufgrund der besonderen Vertraulichkeit einmalig ausgeschlossen. Vgl. hierzu Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. XVII. 369 Eine Auflistung der Mitglieder ist zu finden bei: Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. X–XV. 370 Strauß, Aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, in: Claussen (Hrsg.), Neue Perspektiven für Wirtschaft und Recht, 1966, S. 350. 371 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 70 m. w. N. 372 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. IX f., XV f.
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Uneinigkeiten zwischen den Fraktionen im Hauptausschuss, sodass manche Ergebnisse eines Fachausschusses lediglich wiederholt, andere konterkariert wurden. a) Die Beratung in der ersten Lesung Nach seiner Konstituierung am 15. September 1948 (1. Sitzung) beriet der Hauptausschuss vom 11. November bis 10. Dezember 1948 (2. bis 26. Sitzung) in erster Lesung über den gesamten Grundgesetzentwurf.373 Nach Beendigung der ersten Lesung im Hauptausschuss in seiner 26. Sitzung am 10. Dezember 1948 bezog der Allgemeine Redaktionsausschuss am 13. und 14. Dezember 1948 zu den – im folgenden Abschnitt dargelegten – Ergebnissen374 bezüglich der Zusammensetzung des Wahlgremiums und des Zeitpunktes der Besetzung des Präsidentenamtes Stellung, ohne diesbezüglich inhaltliche Änderungen vorzuschlagen.375 aa) Zusammensetzung des Wahlgremiums Der Hauptausschuss beschäftigte sich in seiner 8. Sitzung am 24. November 1948 in erster Lesung erstmals mit dem Amt des Bundespräsidenten und seinem Wahlmodus.376 Entscheidender Diskussionspunkt in erster Lesung war die Frage, ob der Bundesrat an der Wahl beteiligt werden solle oder die Landtage eine entsprechende Zahl von Wahlpersonen aufstellen.377 Hierbei wurden drei Vorschläge diskutiert. (1) Die drei diskutierten Vorschläge nach dem Beschluss über die Wahl des Bundespräsidenten durch eine Bundesversammlung Der erste Vorschlag sah die vom Organisationsausschuss überarbeitete Fassung des Herrenchiemseer Entwurfes378 vor, der sich von der ursprünglichen Fassung dadurch unterschied, dass erst der Bundestag und danach der Bundesrat entscheiden sollten. Gegen diesen Vorschlag sprach sich Thomas Dehler (FDP) mit seiner 373
Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. XX. Demnach sollte die Bundesversammlung aus Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl aus von den Ländern entsandten Volksvertretern bestehen und das Präsidentenamt sofort besetzt werden. Abgedruckt bei: Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 3, S. 109 f. 375 Lediglich die Streichung des Satzes „bei Stimmengleichheit entscheidet das Los“ im dritten Wahlgang wurde empfohlen, um „Zufallsentscheidungen“ zu vermeiden. Vgl. Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 2, S. 58 f. sowie Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 76. 376 Als Beratungsgrundlage griff man hierbei auf die Beschlüsse des Organisationsausschusses zurück. Diese sahen eine Wahl durch übereinstimmenden Beschluss des Bundestages und der Länderkammer vor. Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 258 ff. 377 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 72. 378 Für den genauen Wortlaut des Art. 75 HChE vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 594. 374
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Fraktion aus, der die angestrebte breite demokratische Legitimationsbasis des Bundespräsidenten erst in einem Gremium mit mehr als 1.000 Wahlmännern als erfüllt ansah.379 Eine alleinige Beteiligung des Bundesrates als Ländervertretung wurde erwogen, aufgrund der zahlenmäßigen Unterlegenheit gegenüber dem Bundestag jedoch als unzureichend abgelehnt.380 Eine einfache Parlamentswahl erschien als nicht ausreichende Legitimationsgrundlage. Der zweite Vorschlag, kurze Zeit später von der FDP-Fraktion eingebracht, sah die Bildung einer Wahlversammlung – bezeichnet als Nationalkonvent – vor, die aus den Mitgliedern des Bundestages und aus Vertretern der Landtage bestehen sollte. Die Anzahl der Vertreter der Landtage sollte sich nach der Einwohneranzahl richten und die Wahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchgeführt werden.381 Auf 150.000 Einwohner sollte ein Landesvertreter entfallen.382 Diese Regelung hätte zur Folge gehabt, dass das Stimmengewicht der Länder geringer ausgefallen wäre, da erst eine Gesamtbevölkerungszahl von 74,4 Millionen Einwohner zu einem Stimmengleichgewicht zwischen Bundestag und Ländern geführt hätte. Die Bevölkerungsanzahl in Westdeutschland lag im Jahr 1950 jedoch bei lediglich knapp 51 Millionen.383 Der dritte Vorschlag, vom Allgemeinen Redaktionsausschuss384 stammend, befürwortete eine Wahlversammlung mit dem Namen Bundesversammlung, die sich aus den Mitgliedern des Bundestages, den Mitgliedern des Bundesrates und aus von den Landtagen gewählten Vertretern zusammensetzte, deren Zahl der Mitgliederzahl des Bundestages, vermindert um die Mitgliederzahl des Bundesrates, entsprechen sollte.385 Dieser Vorschlag fand die Zustimmung eines mehrheitlichen Teils der 379
Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 260 f. 380 So in Art. 75 HChE. Vgl. zur detaillierten Entstehungsgeschichte von Art. 54 GG: Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253; Füsslein, in: Leibholz/ Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 399 ff. 381 Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 262. Siehe außerdem: Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 401, Fn. 27; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 3; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 640 f.; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 26. 382 Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 261 ff. Siehe zudem: Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 641; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 38. 383 Ausgehend vom westdeutschen Bundesgebiet. Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsstand nach Gebietsstand (ab 1950), https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Um welt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen/liste-gebietstand.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 384 Allerdings ohne Unterstützung des abwesenden Heinrich von Brentano (CDU). 385 Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 261 ff. sowie Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 429.
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Sozialdemokraten,386 die ein solches Gebilde einer Versammlung jedoch überwiegend als ein Provisorium qualifizierte. Die Sozialdemokraten plädierten zudem für ein Inkrafttreten zu einem späteren Zeitpunkt und für eine zwischenzeitliche Aufgabenwahrnehmung durch den Präsidenten des Bundestages. Doch hierzu gab es in ihren Reihen sehr unterschiedliche Auffassungen.387 Die CDU/CSU favorisierte weiterhin den Vorschlag des Organisationausschusses nach zwei getrennten Abstimmungen im Bundestag und Bundesrat, erklärte sich mangels Aussicht auf eine Mehrheit jedoch dazu bereit, den Vorschlag des Redaktionsausschusses zu unterstützen, um sich politisch nicht zu isolieren und sich kompromissbereit zu zeigen.388 Da die CDU/CSU sich intern noch beraten wollte, setzte der Hauptausschuss eine Beschlussfassung über Art. 75 zur Frage der Zusammensetzung der Bundesversammlung aus und überwies die Angelegenheit erneut an den Organisationsausschuss, der sich noch in seiner Sitzung am gleichen Tag, dem 24. November 1948, mit dem Thema befasste. In dieser Sitzung beschloss er mehrheitlich, dass der Bundespräsident von einer Bundesversammlung gewählt werden solle, die aus Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl an von den Ländern entsandten Volksvertretern – also erneut ohne Berücksichtigung des Bundesrates – zu bilden sei.389 (2) Die beiläufige Verwendung der Begriffe „Kür“ und „Wahlkurie“ in der Diskussion am 30. November 1949 Dieser Vorschlag zur Zusammensetzung der Bundesversammlung war Grundlage für die Diskussion in der 10. Sitzung des Hauptausschusses am 30. November 1948. Hierbei verteidigten die SPD durch Rudolf Katz und die FDP durch Theodor Heuss ihre übereinstimmende Auffassung für ein Wahlgremium ohne eine Beteiligung des Bundesrates. Katz argumentierte, dass die weisungsgebundenen Mitglieder des Bundesrates ein Fremdkörper gegenüber den weisungsfreien Bundestagsmitgliedern in einer gemeinsamen Versammlung sein würden und dass bei der Wahl des Bundespräsidenten das Volk und nicht die Landesregierungen beteiligt sein sollten.390 386
Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 72. Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 262 f. sowie Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 71; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 9, S. 1317 f. 388 Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 261 f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 641. 389 Siehe oben. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 73. 390 „Es geht nicht an, dass Wähler, die über die Besetzung des höchsten Amtes des neuen Staatsgebildes entscheiden sollen, nach Instruktionen ihrer Landesregierungen handeln. Das ist eines freien Staates unwürdig. Aber es ist auch irgendwie systemwidrig. Man kann von Wählern, die an Weisungen gebunden sind, nicht erwarten, dass sie die Stimme des Volkes wiedergeben. Eine echte Wahl setzt voraus, dass die Wähler ihre Stimmen nach bestem Wissen und Gewissen abgeben. Ein instruierter Wahlmann, ein instruierter Elektor ist eine 387
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Zudem würden die rund 40 Bundesratsmitglieder bei einer aus tausend Personen bestehenden Bundesversammlung nicht ins Gewicht fallen.391 Heuss sprach davon, dass die „Hinzuziehung des Bundesrates ein Schönheitsfehler im staatstechnischen Sinne wäre“.392 Die CDU/CSU lehnte durch ihre Vertreter Felix Walter und Robert Lehr diese Argumentation erneut ab und warb weiterhin für eine Beteiligung des Bundesrates – entsprechend dem Herrenchiemseer Entwurf393 in zwei getrennten Wahlkörpern –, um eine möglichst breite, föderative demokratische Legitimation zu gewährleisten.394 Zudem sei es wünschenswert, diejenigen Institutionen den Bundespräsidenten wählen zu lassen, die mit ihm später zusammenarbeiten würden.395 Daher unterstützte die CDU/CSU nun den ersten Entwurf des Redaktionsausschusses, der ein dreiteiliges Wahlgremium bestehend aus Mitgliedern des Bundesrates, des Bundestages und einer gewählten Anzahl von Mitgliedern der Landtage mit einem ausgeglichenen Bund-Länder-Gewicht vorsah.396 Gegen die Argumentation der SPD trugen Felix Walter und Hermann Fecht (beide CDU) vor, dass die Bundesratsmitglieder in diesem speziellen Fall der Bundespräsidentenwahl von ihrer Weisungsabhängigkeit entbunden werden sollten, sodass sie ebenfalls weisungsfrei397 abstimmen könnten.398
Contradictio in sich selbst.“ 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 282 ff. 391 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 282 ff. sowie Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 17. 392 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 286 sowie Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 403. 393 Für den genauen Wortlaut des Berichts über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vgl. Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 594. 394 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 285. Hierbei ist anzumerken, dass sowohl bei der Beteiligung mit als auch der Beteiligung ohne den Bundesrat die Anzahl der Wahlmänner der Länder als gleich hoch vorgesehen war, sodass dieses Argument weniger überzeugt. 395 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 285 f. 396 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 69 f.; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 639 f. 397 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 74 f., die anmerkt, dass ein solches damals diskutiertes Abweichen der Weisungsabhängigkeit der Bundesratsvertreter in einer Bundesversammlung aus heutiger Sicht als ein Bruch erscheine und es einer solchen verfassungsrechtlichen Ausnahmeregelung aber nicht bedurft hätte, da in beiden Vorschlägen das föderative Element enthalten sei – lediglich die Beteiligung der Landesregierung in Form des Bundesrates war strittig.
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Ein vermittelnder Vorschlag kam von Hans-Christoph Seebohm (DP), der den Bundesrat zwar von der Wahl ausschließen wollte, aber diesem das Recht zum Vertrauensausspruch als Voraussetzung einer Amtsübernahme des gewählten Kandidaten zubilligen wollte.399 Zu Recht wurde von Seiten Theodor Heuss’ (FDP) nach den Konsequenzen einer möglicherweise fehlenden Zustimmung durch den Bundesrat gefragt und die Problematik aufgezeigt, dass etwa 40 Bundesratsmitglieder eine Entscheidung einer Wahlversammlung von etwa 1.000 Mitgliedern torpedieren, den vorherigen Wahlakt „ad absurdum“ führen und die Wahl des Bundespräsidenten unnötig verkomplizieren könnten.400 Zudem könne man nur einer Regierung das Vertrauen aussprechen, der das Vertrauen auch wieder entzogen werden könne, und das sei bei einem Bundespräsidenten nicht der Fall.401 Ferner sei es „nicht so, daß die Länderregierungen von vornherein als geschlossene Gruppe, wie sie gedacht sind, den anderen gegenüber auftreten. So sind sie nicht zu denken, und so sind sie auch tatsächlich nicht. Mit den Landesregierungen kann bezüglich des Bundespräsidenten nicht paktiert werden. Die Bestimmung, daß der Bundespräsident des Vertrauens des Bundesrats bedarf, schafft eine Komplikation, wenn dieses Vertrauen nicht erreicht wird. Ist das Vertrauen vorher ausgeblieben, dann entsteht eine weitere Komplikation.“402
In diesem Zusammenhang führte der Sozialdemokrat Carlo Schmid, die Auffassung Theodor Heuss’ unterstützend, aus: „[…] Gerade die Wahl eines Bundespräsidenten ist, um ein Wort aus dem alten deutschen Reichsrecht zu nehmen, eine ,Kür‘, nicht eine Wahl im beliebigen Sinn des Wortes. Der Bundespräsident muss daher durch einen einmaligen Gesamtakt, der alle Elemente der Spontaneität in sich tragen muss, ,gekürt‘ werden. Darin liegt seine wahre Autorität. Wenn 398
10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 292 sowie Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 74. 399 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 287 f. Vgl. auch Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 403; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 3; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 10, S. 1602; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 18; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 430; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 643; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 38. 400 Vgl. die 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948, dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 288 – 294. Siehe auch Jäger, Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan, in: Heckmann/Schenke/Sydow, Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, 2013, S. 213 f.; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 37; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 26 f. 401 Jäger, Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan, in: Heckmann/ Schenke/Sydow, Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, 2013, S. 213 f. 402 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 292.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten sich an diesen Akt ein zweiter Akt anschlösse, etwa die Genehmigung dieser Kür durch den Bundesrat, würde ein Element in den Vorgang gebracht, das der Würde der Institution notwendigerweise Abbruch tun müßte. […]“403
In diesem längeren Redebeitrag fällt im Parlamentarischen Rat erst- und letztmalig das Wort „Kür“. Für die hier zu untersuchende Fragestellung, inwieweit die Auslegung der Bundesversammlung durch das Bundesverfassungsgericht als ein kürähnliches Organ sich in der Historie anknüpfen und wiederfinden lässt, nimmt das Bundesverfassungsgericht404 Bezug auf diesen Redebeitrag Schmids vom 30. November 1948. Dieser benutzte das im Urteil aufgegriffene Wort der „Kür“ in seinen Ausführungen, um sein Verständnis der Wahl durch das Bundesorgan der Bundesversammlung lediglich zu erläutern und zwar im Kontext einer nachträglichen Zustimmung einer Bundespräsidentenwahl durch den Bundesrat. Als Fazit seines Statements schlussfolgerte auch Schmid, dass man eine Zustimmung des Bundesrates nicht zur Voraussetzung des Amtsantritts des Bundespräsidenten machen könne.405 Für diese Ausführungen – jedoch nicht explizit für die These eines kürähnlichen Organs – erhielt Schmid Zustimmung von seinem Parteikollegen Ludwig Bergsträsser.406 Unterstützend führte auch Theodor Heuss (FDP) hierzu aus: „Sie sind im Augenblick dabei, die deutsche staatsrechtliche Situation vor 800 Jahren mit umgekehrten Vorzeichen wiederherzustellen. Das Verfahren bei der Wahl des Königs war so: Nachdem die Fürsten ihn gewählt hatten, galt er als wirklich gewählt nur durch das sog. ,Vollwort‘, nämlich durch die Zustimmung des gerade versammelten Volkes. Wir drehen das Verfahren um, wir lassen vorher das Volk sprechen, und nachher kommt die Akklamation durch die anderen. Das ist eine völlige Umkehrung der Situation.“407
Die Formulierung Schmids der „Kür“ wurde jedoch von keinem der folgenden Wortbeiträge Bergsträssers (SPD), von Brentanos (CDU), Fechts (CDU) und Heuss’ inhaltlich oder sprachlich aufgegriffen. Vielmehr sprachen diese weiterhin von „Wahl“, „Wahlkörper“ sowie „Wahlakt“. Auch Schmid selbst griff die Formulierung in späteren Wortbeiträgen nicht wieder auf. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass auch er seine Formulierung nicht als ein Charakteristikum für die Bundesversammlung verstanden wissen wollte, sondern lediglich als eine Erläuterung im Zuge
403
10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 290. Vgl. auch Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 8; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 403 m. w. N.; Jäger, Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan, in: Heckmann/Schenke/Sydow, Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, 2013, S. 214; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93. 404 BVerfGE 136, 277, 310, 312. 405 Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 403 m. w. N. 406 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 290 f. 407 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 292 f.
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seiner Argumentation gegen das Vorhaben, eine nachträgliche Zustimmung des gewählten Bundespräsidenten durch den Bundesrat in der Verfassung festzulegen. Im weiteren Sitzungsverlauf und erneut im Zusammenhang mit der Überlegung eines Zustimmungserfordernisses durch den Bundesrat ließ lediglich Hans-Christoph Seebohm das Wort „gekürt“ beiläufig fallen: „Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß diese Zustimmung durch die Mehrheit der Ländervertreter verweigert werden könnte, wenn der Präsident wirklich als Mann des Vertrauens der großen Mehrheit der Bundesversammlung gekürt war. Ich glaube, das Wort, daß der Bundespräsident des ,Vertrauens‘ des Bundesrats bedarf, ist mißdeutig; man sollte es durch ,Zustimmung‘ ersetzen. Praktisch handelt es sich hier um eine Willenserklärung der Länder für den neuen Mann, den das gesamte Volk gewählt hat.“408
Die Beiläufigkeit der Verwendung des Begriffs des Kürens wird dadurch deutlich, dass er zwei Sätze später wieder von einer „Wahl“ und kurz zuvor, unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Heuss, von „Wahlkurien“ sprach: „Mein Vorschlag will nicht, wie Herr Dr. Heuss gemeint hat, das Spiel früherer Jahrhunderte umkehren, sondern er geht von den Beratungen auf Herrenchiemsee aus, wo man zwei Wahlkurien wollte, nämlich eine des Volkes und daneben die der Länder. Ich möchte nicht den Ländern das Gewicht geben, daß sie mit zu wählen haben, sondern nur das Gewicht, daß sie der Wahl ihre Zustimmung geben.“409
Somit bleibt festzuhalten, dass insgesamt verschiedene Vorstellungen hinsichtlich der Ausgestaltung des Organs der Bundesversammlung im Hauptausschuss existierten. Anstatt die für ein kürähnliches Organ relevante Frage des Ablaufes einer solchen Kür zu diskutieren, wurde lediglich die Frage der Zusammensetzung und insbesondere die der Beteiligung des Bundesrates für die gewünschte breite demokratische Legitimationsbasis ausgiebig diskutiert. Wie selbstverständlich sprachen die Redner weit überwiegend von einer „Wahl“ und gingen auch inhaltlich nicht auf abweichende Formulierungen ein. Hätten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates dies als eine elementare Frage betrachtet, hätte sich hieraus eine Diskussion entwickelt, in der die Redner auf die abweichenden Vorstellungen für das zu kreierende Organ eingegangen wären. Stattdessen fiel das Wort „Kür“ lediglich zwei Mal und war der Versuch, das Neue des Organs der Bundesversammlung zu beschreiben, was jedoch unwidersprochen und unkommentiert verhallte.
408
Ferner betont Seebohm in seinen Ausführungen die unabhängige Stellung des Bundespräsidenten damit, dass dieser ein auf Zeit bestelltes Exekutivorgan sei, das nicht abberufen werden könne. Die Bundesversammlung könne dem Bundespräsidenten nicht nach zwei Jahren das Misstrauen aussprechen. Ebenso wenig könne der Bundesrat während der Amtszeit des Bundespräsidenten – im Falle einer erforderlichen anfänglichen Zustimmungserklärung – diese Zustimmung einschränken oder zurücknehmen. Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 294. 409 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 293 f.
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Den Schluss zu ziehen, in seiner Sitzung am 30. November 1948 sei explizit ein kürähnliches Organ vorgedacht worden, würde daher den Verlauf der Diskussion im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates nicht entsprechen. Bei ihren Redebeiträgen verwendeten die Mitglieder des Ausschusses vielmehr bis auf die dargestellten Ausnahmen weiterhin den Begriff der Wahl. Auch die Wortwahl der weiteren Beschlüsse im Organisationsausschuss, im Hauptausschuss und im Parlamentarischen Rat, der Bundespräsident als Staatsoberhaupt solle „gewählt“ werden, unterstreicht diese Auffassung. Stattdessen ist es aus dem Sinnzusammenhang der Ausführungen der Mitglieder des Hauptschusses gerissen und irreführend, wenn das Bundesverfassungsgericht auf die angebliche Charakterisierung Carlo Schmids verweist. Die einmalige Wortwahl Schmids muss in seinem Sinnzusammenhang erfasst werden und kann nicht als Beleg für die These herangezogen werden, dass die Bundesversammlung nach dem Willen des Verfassungsgebers ein Kürorgan sei. Dies bedeutet gleichzeitig aber nicht, dass eine Interpretation des BundespräsidentenWahlverfahrens als Kür falsch sein muss – sie kann sich aber nicht auf den Verfassungsgeber berufen, sondern ist allein eine Interpretation des Bundesverfassungsgerichts. Es ist daher zu weit hergeholt zu unterstellen, dass der Parlamentarische Rat die Bundesversammlung in seiner Sitzung am 30. November 1948 explizit als ein kürähnliches Organ vorgedacht oder vorgegeben hat und ausgestalten wollte. Vielmehr fand keine nähere Auseinandersetzung oder eine Diskussion – und aller Wahrscheinlichkeit nach auch keine gedankliche Durchdringung der Bundesversammlung als Organ – statt. Als Ergebnis wurde der hinter dem Begriff der Kür stehende Gedanke nicht aufgegriffen oder in einer Auseinandersetzung oder Diskussion näher beleuchtet. Damit fand eine gedankliche Durchdringung der Bundesversammlung als Organ nicht statt. In der folgenden Abstimmung wurde der von Robert Lehr (CDU) zur Abstimmung gestellte Antrag, Art. 75 Abs. 1 HChE in der Fassung des ersten Entwurfes des Organisationsausschusses – einer Wahl durch übereinstimmenden Beschluss zunächst des Bundestages und sodann des Bundesrates – zu beschließen, mit elf zu neun Stimmen abgelehnt.410 Mit gleichem Ergebnis erfolgte die Ablehnung des von Seebohm (DP) eingebrachten Vorschlages einer Zustimmungsregelung durch den Bundesrat,411 wie auch der von Hermann von Mangoldt (CDU) nochmals in der dritten Lesung des Hauptausschusses gestellte Antrag nach dem Erfordernis eines fünfjährigen Wohnsitzes „im Bundesgebiet oder im Gebiet des Deutschen Reiches“. Der von Felix Walter (CDU) eingebrachte Vorschlag des Redaktionsausschusses, der eine Bundesversammlung bestehend aus Mitgliedern des Bundestages und Bundesrates sowie aus von den Ländervertretungen gewählten Vertretern vorsah,
410 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 294. 411 Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 405.
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erfuhr eine Ablehnung mit elf zu acht Stimmen.412 Hingegen fand der zweite Entwurfsvorschlag des Organisationsausschusses – der eine Bundesversammlung bestehend aus Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl der von den Ländern entsandten Volksvertretern vorsieht413 – Zustimmung und wurde zum Ende der ersten Lesung knapp mit elf zu neun Stimmen vom Hauptausschuss angenommen.414 bb) Zeitpunkt der Besetzung eines Bundespräsidentenamtes Der Abstimmung über die Zusammensetzung des Wahlgremiums schloss sich eine Diskussion hinsichtlich des Zeitpunktes der Besetzung des Präsidentenamtes an. Wie im Herrenchiemseer Konvent und in der ersten Lesung im Organisationsausschuss von den Sozialdemokraten vorgetragen, sprach sich die SPD gegen eine sofortige Bestellung des Präsidenten aus. Die drei Westzonen stünden weiterhin unter der Herrschaft der Alliierten, es sei mit der Würde des Amtes eines Staatsoberhauptes unvereinbar, als eine „Marionette der Alliierten“ zu agieren.415 Begründet wurde dies von Rudolf Katz (SPD) mit der fehlenden Souveränität des deutschen Volkes; es solle vermieden werden, dass „dem Präsidenten unter Umständen Dinge zugemutet werden, die unter der Würde des Staatsoberhauptes liegen“416. Demgegenüber plädierte die CDU/CSU für eine sofortige Besetzung, da die Funktion einer Staatsspitze besonders in schwierigen Zeiten wichtig und der Aufgabenbereich zu umfangreich sei, als dass dieser zeitweilig nur als Nebenamt ausgeführt werden könne. Zudem fehle dann die erforderliche Autorität nach außen.417 Ferner gelte das von sozialdemokratischer Seite vorgebrachte Argument der mangelnden Souveränität in gleicher Weise auch für die anderen obersten Bundesorgane, 412 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 294 f. 413 Vgl. die 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7. 1. 1949. Abgedruckt bei: Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 10, S. 981 sowie Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 3, S. 109. Siehe auch Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 430. 414 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 294 f. Siehe auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 181. 415 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 295 f. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 75. 416 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 9, S. 1318. 417 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 297. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 75 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 9, S. 1318 m. w. N.
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deren Besetzung beziehungsweise Nichtbesetzung aber nicht zur Diskussion stünde. Vor allem aber führe eine Verquickung von Exekutive und Legislative zu schwierigen Konstellationen, so etwa, wenn der Bundestagspräsident beispielsweise als provisorischer Bundespräsident über eine Auflösung seines „eigenen“ Bundestages entscheiden müsse.418 Ein erneuter Kompromissvorschlag von Hans-Christoph Seebohm, den Bundesratspräsidenten mit den Aufgaben des Staatsoberhauptes vorläufig zu betrauen, stieß auf Bedenken hinsichtlich des Gewaltenteilungsgrundsatzes, da sowohl der Bundesratspräsident als auch der Bundespräsident der Legislative zuzuordnen seien.419 Die CDU/CSU merkte bereits in vorherigen Sitzungen an, dass Einschränkungen und Übergangslösungen nicht zu einem Vertrauen in und einer Akzeptanz für die neue Verfassung führen würden und der Zeitpunkt der Beendigung einer Übergangslösung möglicherweise nicht eindeutig feststellbar sei.420 In der folgenden, erneut knappen Abstimmung lehnte der Hauptausschuss mit zehn zu acht Stimmen den SPD-Antrag, der keine sofortige Besetzung des Amtes vorsah, ab und sprach sich für einen sofort zu wählenden Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt aus.421 b) Die Beratung in der zweiten Lesung Am 15. Dezember 1948 begann im Hauptausschuss mit der 27. Sitzung die zweite Lesung, die bis zum 20. Januar 1949 andauerte. Hierin erfolgte eine zügige Beratung der unstrittigen Artikel, bisher zurückgestellte Änderungsvorschläge wurden erneut eingebracht.422 Die Regelungen über den Bundespräsidenten waren Thema in der 32. Sitzung des Hauptausschusses am 7. Januar 1949. Hierbei überraschten die beiden zur FDPFraktion gehörenden Abgeordneten Thomas Dehler und Max Becker mit dem Vorschlag der Errichtung einer Präsidialregierung nach amerikanischem und schweizerischem Vorbild, wonach der Präsident des Bundes sowohl den Bundespräsidenten als auch den Bundeskanzler in einer Person verkörpern und von einer
418 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 295 f. 419 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 298 – 306. 420 Dritte Sitzung des Hauptausschusses vom 16. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 3, S. 76. 421 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 3, S. 76 sowie Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 3, S. 191. 422 27. Sitzung des Hauptausschusses vom 15. 12. 1948. Abgedruckt bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 27, S. 782 sowie Teilbd. 1, S. XXIII.
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dreigliedrigen Bundesversammlung auf vier Jahre bestimmt werden sollte.423 Somit sprachen sich die beiden Abgeordneten erneut für eine Verbindung des Amtes des Bundespräsidenten mit dem des Bundeskanzlers aus. Begründet wurde dies damit, dass die Demokratie – nicht nur in Deutschland, sondern schon lange vorher in Europa – versagt habe, derzeit keine Chance auf eine stabile Regierungsbildung bestehe und eine parlamentarische Demokratie mit einem ohnmächtigen und schattenhaften Präsidenten nicht in der Lage sei, die großen Aufgaben des 20. Jahrhunderts zu erfüllen.424 Diese Offensive fand nach einer sofortigen Generaldebatte mit Verweis auf die Diskussionen im Organisationsausschuss – seinerzeit mit einer zurückweisenden Abstimmung – keine Zustimmung bei den Sozialdemokraten Carlo Schmid425 sowie Rudolf Katz, während Adolf Süsterhenn und Robert Lehr für die Christdemokraten mit Verweis auf die intensive Diskussion keine endgültige Entscheidung über einen kompletten Wechsel des Gesamtsystems treffen wollten.426 Bei der anschließenden Abstimmung wurde das parlamentarische Regierungssystem bestätigt, jedoch darauf verwiesen, die Diskussionen um ein Präsidialsystem nochmals in den Fraktionen fortzusetzen und gegebenenfalls in der dritten Lesung erneut auf die Agenda zu setzen, um mit der laufenden Debatte über Wahl, Amtszeit, Inkompatibilitätsvorschriften und Amtseid des Bundespräsidenten fortfahren zu können.427
423 Konkret sollte der Bundespräsident mit Aufgaben der vollziehenden Gewalt ausgestattet werden und die Richtlinien der Politik bestimmen. Die 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7. 1. 1949 ist dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 981 – 991, insbes. S. 984. Vgl. hierzu auch Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 644 – 646; Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 201; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 289. 424 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7. 1. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 981 – 991, insbes. S. 991. Siehe auch Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 12. 425 So erwiderte Schmid, dass mit einem die Exekutive vereinigenden und nicht stürzbaren Präsidenten nach einer Institution aus dem 18. Jahrhundert gegriffen werde, die sich in der Schweiz und den USA nur deshalb hätten etablieren können, weil die dortigen Staaten nicht auf einer Beamtenhierarchie aufgebaut seien. Aufgrund eines straff gegliederten und weisungsgebundenen Beamtentums sei hier die Gefahr eines Machtmissbrauches hoch, was eine Gefahr für die Freiheit der Bürger und eine Schwächung des Parlamentes darstelle. Näheres zur Diskussion, vgl. die 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7. 1. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 981 – 998, insbes. S. 986 f. 426 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 988 f., 993 f. 427 Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 993 f., 996 – 998 sowie Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 77; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 646 f.; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 289.
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Möglicherweise aufgrund von inter- und überfraktionellen Gesprächen428 gewann die bereits im Organisationsausschuss diskutierte, aber dort ohne Mehrheit gebliebene Idee eines dreigliedrigen Aufbaus429 wieder an Zustimmung. Deutlich wurde dies durch eine Annäherung zwischen CDU/CSU und FDP, da Max Becker (FDP) nun die Position der CDU/CSU für eine dreigliedrige Bundesversammlung unterstützte. Rudolf Katz wiederholte für die Sozialdemokraten seine Bedenken, dass weisungsgebundene Bundesratsmitglieder in der Bundesversammlung fehl am Platz wären und eine mögliche Aufhebung der Weisungsgebundenheit systemfremd sei, wenn für jede Abstimmung ein Bundesratsmitglied seine Instruktion abzuholen habe, aber für diesen einen Fall entbunden sei.430 Über einen vermittelnden Vorschlag Hans-Christoph Seebohms (DP) – der eine nachgelagerte Zustimmung des Bundesrates vorsah, die jedoch durch eine wiederholende Wahl der Bundesversammlung überstimmt431 werden könne432 – wurde nicht abgestimmt, da zuvor die dreigliedrige Besetzung der Bundesversammlung mit elf zu neun Stimmen angenommen wurde.433 Folglich war der Bundesrat – abweichend zum Ergebnis der ersten Lesung – zum Ende der zweiten Lesung des Hauptausschusses wieder Bestandteil der Bundesversammlung.434 Über die Frage des Zeitpunktes der Besetzung des Präsidentenamtes wurde nicht erneut diskutiert. In der Stellungnahme des allgemeinen Redaktionsausschusses vom
428 So auch: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 77 und Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 73. 429 Der im Organisationsausschuss diskutierte dreigliedrige Aufbau sah eine Beteiligung der Mitglieder des Bundesrates, des Bundestages und einer gewählten Anzahl von Mitgliedern der Landtage vor. Die Anzahl der gewählten Mitglieder sollte für die Herstellung eines BundLänder-Gleichgewichtes der Differenz der Landesvertreter zum Bundestag entsprechen. 430 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7. 1. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 997. 431 Hierbei sei kein identisches Abstimmungsergebnis nötig und es sei gleichgültig, in welchem Wahlgang die Bundesversammlung zu ihrem Ergebnis gelangte. Begründet wurde dieser Vorschlag damit, dass der „Bundesrat als Träger des Bundeswillens“ bei der Wahl des Bundespräsidenten beteiligt werden müsse, jedoch bei einer fehlenden Übereinstimmung zwischen Bundesrat und Bundesversammlung der Wille der Bundesversammlung vorgehe. Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 997 f. 432 32. Sitzung des Hauptausschusses vom 7. 1. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 997. 433 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 32, S. 998. Siehe auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 77; Landgraf, Reichspräsident – Bundespräsident, GWU 1959, 422, 430; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 647; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 38; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 73. 434 Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93.
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25. Januar 1949 zu den Beschlüssen des Hauptausschusses in zweiter Lesung strich dieser die Beteiligung des Bundesrates an der Bundesversammlung.435 c) Die Beratung in der dritten Lesung Vom 8. bis 10. Februar 1949 (47. – 50. Sitzung) – also innerhalb von drei Tagen – fand die dritte Lesung im Hauptausschuss statt. Sie erfolgte so zügig, da der interfraktionelle „Fünferausschuss“ tragfähige Kompromisse erarbeitet hatte und Redezeiten auf fünf Minuten begrenzt wurden.436 Über den Abschnitt des Bundespräsidenten wurde in der 49. Sitzung des Hauptausschusses am 9. Februar 1949437 beraten. Erneut setzte die FDP-Fraktion durch ihren Abgeordneten Thomas Dehler zu Beginn der Sitzung den zurückgestellten Antrag auf die Agenda, das bisher beschlossene ausgeklügelte parlamentarische Regierungssystem durch eine aus ihrer Sicht „zeitgemäßere“ und zukunftsgerichtete Präsidialregierung zu ersetzen und sich nicht von den Ängsten vor einer Diktatur leiten zu lassen.438 Die FDP sah im derzeitigen Vorschlag die Gefahr, dass „einer kommen werde“, der sich die Macht illegal hole, wenn sie nicht einem Mann im Staat legal gegeben werde.439 Eine der Diktatur vorbeugende und zugleich handlungsfähige Regierung bestand nach Ansicht Dehlers nur, wenn diese unabhängig von Koalitionen und „von den Launen und Ränken“ des Parlamentes agieren könne.440 435 Vom 25. bis 27. Januar 1949 tagte ebenfalls der „Fünferausschuss“ hierzu. Dieser war ein Gremium, das nach der zweiten Lesung im Hauptausschuss im Januar 1949 von den Fraktionen beschlossen wurde und die unterschiedlichen Standpunkte schnell in Einklang bringen sollte. Mitglieder waren – je nach Beratungsgegenstand in wechselnder oder vergrößerter Zusammensetzung tagend – der „Pool“ der Abgeordneten Heinrich von Brentano (CDU), Theophil Kaufmann (CDU), Walter Menzel (SPD), Carlo Schmid (SPD), Hermann Schäfer (SPD), Theodor Heuss (FDP), Thomas Dehler (FDP) oder Hermann Höpker-Aschoff (FDP). Dieser „Fünferausschuss“ wurde mit den Abgeordneten Hans-Christoph Seebohm (DP) und Johannes Brockmann (Zentrum) zum sog. „Siebenerausschuss“ erweitert, sodass alle Fraktionen bis auf die KPD beteiligt waren. Auch dieser Ausschuss hielt am 5. Februar 1949 an einer Bundesversammlung ohne den Bundesrat fest. Abgedruckt bei: Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 5, S. 241 f., Nr. 7, S. 339 – 395, insbes. S. 360 f. Vgl. auch Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 22, S. 35 f.; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 77 f.; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 125 – 128. 436 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. XXIV. 437 Abgedruckt bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1541 – 1551. 438 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1541 f., 1544; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 647 f. 439 49. Sitzung des Hauptausschusses vom 9. 2. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1544, 1550. 440 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1543.
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Diese Ausführungen stießen insgesamt auf wenig Verständnis. So äußerte Rudolf Katz (SPD), dass hier ein „Schrei nach dem Führer“ ausgestoßen werde, „als wenn die letzten 12 Jahre des Führertums ihn nicht eines Besseren hätten belehren können“441 und appellierte für ein Beenden dieser Diskussion. Heinrich von Brentano (CDU) pflichtete bei, dass es letztlich für das Funktionieren eines Staatswesens auf den Geist der Menschen ankomme sowie auf das Schaffen eines Wahlrechtes, das klare Mehrheitsbildungen ermögliche, um mit großer Mehrheit einen Kanzler zu benennen, der gestützt auf diese Mehrheit eine ganze Legislaturperiode regieren könne.442 Ebenso ablehnend argumentiert Heinz Renner (KPD), da eine solche Systemänderung durch eine gewichtigere Einflussnahme vom Volk getragen werden müsse, als lediglich alle vier Jahre zu den bundesweiten Wahlen.443 Erforderlich wäre für die Errichtung einer Präsidialdemokratie eine gänzlich neue Staatsstruktur, die Verhandlungen im Parlamentarischen Rat hinsichtlich einer parlamentarischen Demokratie seien jedoch weit vorangeschritten. Auch in diesem Zusammenhang wurde der Begriff „Kür“ nicht erwähnt. Eine Einigung – auch bezüglich der Zusammensetzung des Wahlgremiums – gelang schließlich dadurch, dass zum einen die SPD unter Zustimmung von Carlo Schmid allmählich vom Provisoriumsgedanken abrückte und zudem die CDU/CSUFraktion zu Jahresbeginn 1949 einen Kompromiss mit der FDP-Fraktion suchte. Die SPD war zu Zugeständnissen bei der bislang geforderten Beteiligung des Bundesrates bereit, wenn die FDP ihrerseits zukünftig auf die Forderung der Einführung einer Präsidialregierung verzichtet.444 In Abwandlung des Ergebnisses der zweiten Lesung des Hauptausschusses, aber dem letzten Entwurf des Redaktionsausschusses folgend, wurde ohne größere Debatte bei einer Gegenstimme und mehreren Enthaltungen endgültig entschieden, dass die Bundesversammlung aus Mitgliedern des Bundestages und den Vertretern der Länderparlamente, also ohne Beteiligung des Bundesrates, bestehen sollte.445 Zu441 49. Sitzung des Hauptausschusses vom 9. 2. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1544. 442 Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1544, 1546. 443 Vgl. die 49. Sitzung des Hauptausschusses vom 9. 2. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1546 – 1549. Auch amerikanische Besatzungsoffiziere hatten sich in ihren „Planspielen“ im August 1946 für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland ohne Präsidialdemokratie nach amerikanischem Muster ausgesprochen, da diese befürchteten, dass sich ein solches System in Deutschland zu einer plebiszitären Autokratie anstatt einer echten Demokratie entwickeln könnte, wie es im damals geheimen Dokument Nr. 3521.9 des „Office of Intelligence Coordination and Liasion“ vom 12. August 1946 hieß. Vgl. Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 25 f. 444 Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 646 f.; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 73. 445 49. Sitzung des Hauptausschusses vom 9. 2. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1552; Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 8, S. 414 f. Vgl. zudem Braun, Die Bun-
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gleich wurde der Vorschlag der Einführung einer Präsidialregierung – auch von Seiten der Ideengeber – mit elf zu zwei Stimmen bei acht Enthaltungen abgelehnt.446 Der allgemeine Redaktionsausschuss beschäftigte sich am 2. Mai 1949 mit dem Beschluss der dritten Lesung und nahm keine materiellen Änderungen mehr vor.447 Bedingt durch weitere Absprachen zwischen den Fraktionen einigte sich der Hauptausschuss für die Stellvertretung des Bundespräsidenten nicht auf den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts448 – wie im Entwurf des Konvents zuvor vorgesehen449 –, sondern entsprechend dem Vorschlag des Fünferausschusses auf den Bundesratspräsidenten. Dies geschah zum einen auf Wunsch der CDU zur symbolischen Aufwertung der Länderkammer450 sowie zum anderen, um den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vor einer Befangenheit bei Urteilen mit Bezug zum Bundespräsidenten zu schützen.451 Der Bundesrat wurde zudem dadurch berücksichtigt, dass ihm – zusammen mit dem Deutschen Bundestag – die Funktion eines Zeugen bei der Eidesleistung des Bundespräsidenten nach Art. 56 GG übertragen wurde.
desversammlung, 1993, S. 78; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 648. 446 Diese Vorgehensweise verdeutlicht, dass der Hauptausschuss sehr gründlich arbeitete, sich ausführlich mit allen Vorschlägen und Meinungen auseinandersetzte und auch vorherige Beschlüsse nochmals in Frage gestellt werden konnten, um einen breiten Konsens zu erzielen. Vgl. 49. Sitzung des Hauptausschusses vom 9. 2. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1541 – 1551 sowie Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 648. 447 Vgl. Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 12, S. 497 – 531, insbes. S. 510. Vgl. auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 78 f. 448 Bereits im Konvent von Herrenchiemsee wurden Bedenken gegen eine Stellvertretung des Bundespräsidenten durch den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vorgetragen, da bereits dort die Möglichkeit einer Präsidentenanklage mit einer Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht in Erwägung gezogen wurde. Der Präsident des Verfassungsgerichts hätte dann „in eigener Sache“ verhandeln müssen. Deshalb wurde bereits in den Empfehlungen des Konvents die Vertretung durch den Bundesratspräsidenten als Alternative genannt. Vgl. Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 39. 449 Hierbei orientierte sich der Hauptausschuss an der Weimarer Gesetzgebung, wonach der Präsident des Reichsgerichts ab 1925 mit der Stellvertretung beauftragt war. Siehe hierzu auch Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 39; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 28, 62 f. 450 Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 648; Niclauß, in: v. Ooyen/Möllers, Der Bundespräsident im politischen System, 2012, S. 39. 451 Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 54 f.; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 28; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54 ff., Rn. 14; Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 – 1953, 1984, S. 73 f.
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d) Die Beratung in der vierten Lesung Interventionen der Alliierten machten am 5. Mai 1949 eine vierte Lesung des Hauptausschusses notwendig, in der die Regelungsinhalte zum Bundespräsidenten aber unverändert452 blieben.453 Die Alliierten forderten in den Verhandlungen von April 1949454 die Neuformulierung verschiedener Artikel.455 Die Artikel den Bundespräsidenten betreffend erfuhren nur insoweit eine formale Änderung, als sie von den Art. 75 ff. in die Art. 54 ff. des Entwurfes des Grundgesetzes verschoben wurden.456
3. Die Endabstimmung und das Inkrafttreten des Grundgesetzes Für eine abschließende Vollversammlung, die in zwei Lesungen457 am 6. und 8. Mai 1949 keine weiteren Änderungen in Bezug auf den Bundespräsidenten brachte,458 wurde vom Leiter des Organisationsausschusses, Robert Lehr (CDU), ein Bericht verfasst, der die geführten Diskussionen summarisch zusammenfasste.459 452 Vgl. die 57. Sitzung des Hauptausschusses vom 5. 5. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 57, S. 1802 f. 453 In einer am 2. Mai 1949 von den Alliierten überreichten Denkschrift blieb die Ausgestaltung des Amtes des Bundespräsidenten zwar ungerügt, allerdings wurde die mangelnde föderalistische Konzeption des Grundgesetzes angeprangert. Spätestens im März 1949 wurde klar, dass – entgegen der Behauptung Konrad Adenauers – die anfangs übergebenen Frankfurter Dokumente bindende Entscheidungen enthielten und die Alliierten sich ihren Einfluss sichern wollten. Vgl. die 55. Sitzung des Hauptausschusses vom 6. 4. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 55, S. 1751 sowie die 56. Sitzung des Hauptausschusses, abgedruckt bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 56, S. 1781 – 1828. Näher hierzu: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 79, 82; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 648; Strauß, Aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, in: Claussen (Hrsg.), Neue Perspektiven für Wirtschaft und Recht, 1966, S. 356 ff. 454 Die 54. Sitzung des Hauptausschusses vom 5. 4. 1949, dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 54. S. 1745 – 1750 sowie die 55. Sitzung des Hauptausschusses vom 6. 4. 1949, nachzulesen bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 55, S. 1751 – 1768. 455 Hierbei handelte es sich bspw. um Artikelentwürfe zur ausschließlichen Gesetzgebung sowie zur Bundesverwaltung. Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. XXV. 456 Abgedruckt: Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 13, S. 532 – 570, insbes. S. 544 f. 457 Der Entwurf des Grundgesetzes in der Fassung der zweiten Lesung des Plenums ist abgedruckt bei: Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 14, S. 571 – 609 sowie die vom Plenum in dritter Lesung beschlossenen Änderungen gegenüber der zweiten Lesung des Plenums, ebd. in Nr. 15, S. 610 f. 458 Vgl. die neunte Sitzung des Plenums vom 6. 5. 1949 sowie die zehnte Sitzung des Plenums vom 8. 5. 1949. Dokumentiert bei Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 9, S. 467 und Nr. 10, S. 590 – 592.
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Nach der Annahme des Grundgesetzes durch das Plenum des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 mit 53 gegen 12 Stimmen460 und dem Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure am 12. Mai 1949, das jedoch Vorbehalte enthielt,461 ratifizierten die Landtage der elf westdeutschen Länder462 in den drei Westzonen (ohne das Saarland) das Grundgesetz463. Der Freistaat Bayern lehnte das Grundgesetz als solches ab, erkannte jedoch in einem zweiten Beschluss seine Verbindlichkeit464 auch für Bayern an.465 Das Plenum 459 Abgedruckt u. a. bei: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland – Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, 1948/1949, S. 19 f. Vgl. auch: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 79 m. w. N. 460 Die Gegenstimmen kamen von sechs Abgeordneten der CSU sowie von Abgeordneten der DP, des Zentrums sowie der KPD. Damit stimmten nur zwei von acht CSU-Abgeordneten für das Grundgesetz. Siehe Abendroth, in: Mück (Hrsg.), Verfassungsrecht, Bd. 5, 1975, S. 67; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 22, S. 35 f.; Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 40; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 49 f.; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 134. Zu den Gründen der Ablehnung der CSU-Abgeordneten, die die neue Verfassung u. a. als zu wenig föderalistisch bewerteten, vgl. eingehend die Protokolle bei Hollmann, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 7, 1995, Nr. 16, S. 612 – 650 sowie Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 344; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 3, S. 1256; Weber-Fas, Der Verfassungsstaat des GG, 2002, S. 37. 461 Der wichtigste Vorbehalt betraf die Rechtsstellung Berlins, wonach gem. Art. 23 GG a. F. „Groß-Berlin“ als eines der Länder benannt wurde, in deren Gebiet das Grundgesetz „zunächst“ gelte. Die Alliierten formulierten den Vorbehalt, demzufolge Berlin keine stimmberechtigte Mitgliedschaft im Bundestag oder Bundesrat erhalten und auch nicht von der Bundesregierung „regiert“ werden sollte. Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 392; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 344 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 11, S. 1335. Zu den Forderungen und Beanstandungen während des Ausarbeitungsprozesses: Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 342 – 344. Das Genehmigungsschreiben ist u. a. (in deutscher Sprache) abgedruckt bei: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 11, S. 1336 f. Siehe außerdem Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 95. 462 Die Stadtverordneten-Versammlung von Groß-Berlin war durch den alliierten Vorbehalt an einer Entscheidung über die Annahme des Grundgesetzes gehindert (siehe Art. 144 Abs. 2 GG i. V. m. der bis zum Einigungsvertrag vom 23. 9. 1990 (L1990, II, S. 885, 896) geltenden Fassung des Art. 23 GG a. F.), bekannte sich jedoch in einem Beschluss vom 19. Mai 1949 zu den Prinzipien und Zielen des Grundgesetzes. Vgl. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 23, S. 36. 463 Im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung verzichtete das Grundgesetz auf eine Definition des deutschen Staatsgebietes. Stattdessen traf es nur eine Aussage zu seiner räumlichen Geltung, um auch insoweit den provisorischen Charakter dieser Verfassung zu betonen. Vgl. Weber-Fas, Der Verfassungsstaat des GG, 2002, S. 38. 464 Am 20. Mai 1949 beschloss der Landtag Bayerns, als die Stimmenmehrheit nach Art. 144 Abs. 1 GG bereits gesichert war, mit 101 gegen 63 Stimmen bei neun Stimmenthaltungen, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland abzulehnen. Gleichzeitig wurde
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
schloss in seiner zwölften Sitzung am 23. Mai 1949 mit der Feststellung der Annahme des Grundgesetzes.466 Bekanntermaßen trat das Grundgesetz mit dessen Ausfertigung und gleichzeitiger Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am gleichen Tag, am 23. Mai 1949,467 in Kraft.468 Eine Volksabstimmung über die Annahme des Grundgesetzes469 gab es – aus den bei den Ausführungen zum Koblenzer Beschluss der Ministerpräsidenten dargestellten Gründen – nicht.470 mit 97 gegen sechs Stimmen bei 70 Enthaltungen beschlossen, dass die Rechtsverbindlichkeit auch für Bayern anerkannt werde – wie es Art. 144 Abs. 1 GG vorsieht. Die bayerische Ablehnung wurde heftig kritisiert, siehe Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 133 II 11, S. 1339. 465 Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 5; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 50. Vgl. als Vertiefung die Diskussion über die Frage einer „ununterbrochenen Existenz Deutschlands“ auch über die Kapitulation hinweg und damit einhergehend die Frage, ob eine Verfassung vor „Inslebentreten“ eines Staates überhaupt möglich sein kann, zum Ganzen u. a.: Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, S. LXIX f. und Hoffmann, Die deutsche Teilung. Staats- und völkerrechtliche Aspekte, 1969, S. 34 – 41. Vgl. auch Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 4 – 6 m. w. N.; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 140 – 148; Lange, Die Diskussion über die Stellung des Staatsoberhauptes 1945 – 1949, VfZ 1978, 601, 625 – 627. 466 Vgl. die 12. Sitzung des Plenums vom 23. 5. 1949. Dokumentiert bei Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 12, S. 692 – 698. 467 Zu der Konstituierung der Bundesrepublik und das Interim bis zum 20. September 1949 – der Tag der Ernennung Konrad Adenauers zum ersten Bundeskanzler und der Bildung einer Regierung aus CDU/CSU, FDP und DP – vgl. Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 347 f. Erst von diesem Tage an war die Bundesrepublik handlungsfähig. 468 Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 40; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 50; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 134; Vorländer, Die Verfassung: Idee und Geschichte, 1999, S. 78; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V: Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanzund Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, 1999, § 133 II 11, S. 1340. Bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedeten einige Länder Verfassungen, denen auch Diskussionen über die Notwendigkeit des Amtes des Staatspräsidenten und dessen Ausgestaltung vorausgingen. Vgl. hierzu: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 54 – 58. 469 Zum Diskussionsprozess zur Frage, ob über den Entwurf des Grundgesetzes eine Volksabstimmung stattfinden solle, vgl. Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 192 – 202. 470 Dies führte immer wieder zum Vorwurf einer unzureichenden Legitimation mit der Begründung, dass jede Verfassung notwendigerweise einer plebiszitären Bestätigung oder eines Beschlusses und einer Ausarbeitung durch eine direkt gewählte verfassungsgebende Versammlung bedürfe. Vgl. zur Diskussion u. a.: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 393 f.; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 349 – 351. Vielfach wird aber vertreten, dass die hohe Zustimmung für die politischen Parteien, die beim Verfassungsgesetzgebungsprozess beteiligt waren, „post festum“ als Konsens zu werten sei, so bspw.: Isensee, Demokratie ohne Volksabstimmung: Das Grundgesetz, in: Hillgruber/Waldhoff, 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 135; Vorländer, Die Verfassung: Idee und Geschichte, 1999, S. 78. Dennoch wird das Grundgesetz als insgesamt erfolgreich gewürdigt und attestiert, für die bisher
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Verglichen mit der hart und lang umkämpften Frage der Zusammensetzung des Wahlgremiums zur Wahl des Bundespräsidenten bestand zu den anderen Beratungsgegenständen471 im Umfeld des heutigen Art. 54 GG weitgehende Einigkeit.472 Auch die in Art. 75 und Art. 76 HChE noch nicht enthaltenen und erst vom Allgemeinen Redaktionsausschuss eingeführten Regelungen zum Ausspracheverbot, zum Zusammentritt, zum Wahlverfahren und zur Regelungsermächtigung, wurden nicht weiter diskutiert und mehrheitlich unverändert beschlossen.473
V. Exkurs: Paralleldiskussionen in der DDR Nur wenige Tage nach der Konstituierung der Bundesrepublik entstand am 7. Oktober 1949 mit der Ausrufung der DDR474 nach umstrittener Auffassung ein zweiter Staat475 auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reiches.476 In der vom Deutschen Volksrat ausgearbeiteten und vom Volkskongress477 am 30. Mai 1949 gebilligten Verfassung478 gab es wie im Parlamentarischen Rat parallele Diskussionen um die Ausgestaltung, Besetzung und Einsetzung des Staatsoberhauptes, die abweichend zur Bundesrepublik Deutschland in der DDR in den Folgejahren jedoch
aufgetretenen Schwierigkeiten Lösungen geboten zu haben. Dies wird dem Grundgesetz auch zukünftig zugetraut. Betont wird auch die Akzeptanz des Grundgesetzes in der Bevölkerung. Vertiefend hierzu und eine Bilanz ziehend: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 213 – 221 sowie Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Bd., 2012, S. 125 – 136. 471 Gemeint sind hier die Wählbarkeitsvoraussetzungen, die Amtszeit und die Wiederwahlmöglichkeit. 472 Vgl. bspw. BVerfGE 136, 277, 310 f.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 50; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 I 4b, S. 197 m. w. N. 473 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 50. 474 Vertiefend hierzu u. a.: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 19. Aufl. 2021, S. 395 – 400; Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR – Kommentar, 3. Aufl. 1982; Schulz, Die Verfassung der DDR, Bände 7 – 9, 1959. 475 Siehe zum Streitstand ausführlich: Hoffmann, Die deutsche Teilung. Staats- und völkerrechtliche Aspekte, 1969. 476 Eingehend zum Staatsrecht der DDR: Brunner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2003, § 11, S. 531 – 596; Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 39 – 49; Jesse, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 68, Rn. 1 – 89, S. 1821 – 1889; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Bd., 2012, S. 96 – 102. 477 Die Zusammensetzung resultierte aus manipulierten Wahlen in der Sowjetzone. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 84; Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung: Deutsche Geschichte 1945 – 1955, 1982, S. 204. 478 Vertiefend zur Gründungsverfassung von 1949: Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 33, S. 50 f.; Brunner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2003, § 11, Rn. 5 – 8.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
vielfach modifiziert wurden.479 Dies zeigt, dass sich nicht nur der Parlamentarische Rat, sondern auch der Deutsche Volksrat mit den Fragen rund um die Ausgestaltung des Staatsoberhauptes schwertat und diese leidenschaftlichen Diskussionen zeitgenössisch waren. 1. Die Diskussion über die Bestimmung und Einsetzung eines Staatsoberhauptes und die Wahl des ersten Präsidenten Wilhelm Pieck Der am 14. November 1946 von der SED480 vorgelegte Verfassungsentwurf bekannte sich, entsprechend der kommunistischen Ideologie, zu einer konsequenten Parlamentsherrschaft.481 Somit sollte das Parlament als höchstes Staatsorgan (vgl. Art. 40 des Entwurfes) durch sein Präsidium nach Art. 50 des Entwurfes auch zugleich mit den Aufgaben des Staatsoberhauptes betraut sein.482 Abweichend zu diesem Entwurf wurde jedoch in der am 7. Oktober 1949 in Kraft getretenen Gründungsverfassung483 die Idee eines solchen Kollegialorgans an der Staatsspitze der DDR verworfen.484 Stattdessen sah die Verfassung – der sowjetischen Doktrin entsprechend – einen allerdings nur mit ausschließlich repräsentativen Funktionen485 ausgestatteten „Präsidenten der Republik“ vor.486 Trotz paralleler Diskussion über 479 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 84; Hesse, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, S. 40; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 127. 480 Als der starke Widerstand der SPD gegen eine Vereinigung mit der kommunistischen Partei KPD unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht zusammenbrach, fand am 21./22. April 1946 die Vereinigung beider Parteien zur SED statt. Vertiefend hierzu und zur SED insgesamt: Abendroth, in: Mück (Hrsg.), Verfassungsrecht, Bd. 5, 1975, S. 54; Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 33, S. 50 f.; Malycha, Die Entwicklung der SED zur „Partei neuen Typs“ in den Jahren 1946 bis 1950, 1996; Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 318; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 405 – 407; Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 22. 481 Gleichzeitig wurden in dem Entwurf föderalistische, bürgerliche und gewaltenteilende Staatsorganisationsmodelle, wie sie im Westen zu dieser Zeit vertreten wurden, gänzlich abgelehnt. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 83 m. w. N. 482 Benz, Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen. Zur Geschichte des Grundgesetzes, Entwürfe und Diskussionen 1941 – 1949, 1979, S. 461. 483 Einsehbar unter: Verfassungen der Welt (Hrsg.), Verfassungen der DDR vom 7. Oktober 1949, http://www.verfassungen.de/ddr/verf49-i.htm, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 484 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 84 f. 485 Die Kompetenzen des Präsidenten der Republik waren abschließend normiert in den Art. 104 bis 107 Verf. DDR und schwach ausgeprägt mit der Möglichkeit einer jederzeitigen Abberufung gem. Art. 108 durch einen gemeinsamen Beschluss von Volkskammer und Länderkammer. Vgl. hierzu: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 32 f.; Mumpel, Die sozialistische Verfassung der DDR – Kommentar, 3. Aufl. 1982, Art. 66 Abs. 1 1b; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175; Schuster, Die Verfassung der DDR, in: Deutsche Verfassungen, 1992, S. 30 f. 486 Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175.
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die Besetzung des Staatsoberhauptes mit einem Kollegialorgan entschieden sich sowohl der Parlamentarische Rat in der Bundesrepublik als auch der Deutsche Volksrat in der DDR für eine Ein-Personen-Besetzung. Das Staatsoberhaupt der DDR wurde gemäß Art. 101 Verf. DDR in einer gemeinsamen Sitzung von Volkskammer und Länderkammer487 für einen Zeitraum von vier Jahren488 gewählt.489 Demnach beschloss der Volkskongress keine Volkswahl, sondern die Einsetzung durch ein der Bundesversammlung nach dem Grundgesetz vergleichbar besetztes, föderatives Organ. Anders als das Grundgesetz stand die in der DDR verabschiedete Verfassung politisch aber nicht in der Tradition des Deutschen Reiches.490 Stattdessen verfolgte die DDR – unter dem Einfluss der Sowjetunion – das Ziel, mit einem „volksdemokratischen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus“ den Staat einer vorgegebenen gesellschaftlichen Zielsetzung zu unterwerfen.491 Damit wurde deutlich, dass die DDR – mit dem erst 1952 offiziell festgelegten Staatsziel des Aufbaus des Sozialismus sowie der SED als herrschender Partei – ab diesem Zeitpunkt von einem anderen Staatsverständnis als die Weimarer Republik und die Bundesrepublik Deutschland geleitet wurde.492 Abweichend zur Bundesrepublik, in der der erste Bundespräsident durch das in der Verfassung vorgesehene Gremium eingesetzt wurde, erfolgte die Wahl des SEDVorsitzenden Wilhelm Pieck zum ersten Staatspräsidenten der DDR am 11. Oktober 1949 durch die Provisorische Volkskammer und die Provisorische Länderkammer, wodurch zugleich die Personalunion zwischen Partei und Staat ihren Anfang nahm.493
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Nach der damaligen Bevölkerungsanzahl von 19 Millionen Einwohnern in Ostdeutschland (vgl. das Statistische Jahrbuch der DDR 1955, S. 8) bestand die Länderkammer aus 38 und die Volkskammer gem. Art. 52 Verf. DDR aus 400 Abgeordneten. Vgl. hierzu insbes. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 85. 488 Die Amtszeit wurde ab 1974 auf fünf Jahre verlängert. Vgl. Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR – Kommentar, 3. Aufl. 1982, Art. 50, Rn. 13. 489 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 87 f.; Brunner, Das Staatsoberhaupt in der DDR, in: Börner/Jahrreiß/Stern, Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens, Bd. 2, 1984, S. 519; Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR – Kommentar, 3. Aufl. 1982, Art. 50, Rn. 13; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 138; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175. 490 Weiterführend: Hoffmann, Die deutsche Teilung. Staats- und völkerrechtliche Aspekte, 1969, insbes. S. 36 – 44. 491 Brunner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2003, § 10, Rn. 2. 492 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 27. 493 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, A, Rn. 33, S. 50 f.; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 85. Die in Art. 102 Verf. DDR festgeschriebene Eidesleistung war angelehnt an die des Reichspräsidenten: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, die Verfassung und die Gesetze der Republik wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“
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2. Verfassungsänderungen hinsichtlich des Staatsoberhauptes In der Verfassung der DDR gab es eine Vielzahl von Modifizierungen, die sowohl das Wahlverfahren, die Kompetenzen und das Amt des Staatsoberhauptes an sich betrafen. Demgegenüber hat die Einsetzung des Bundespräsidenten nach dem Grundgesetz bis heute keine elementaren Änderungen erfahren. a) Die erste Modifizierung zu einer reinen Parlamentswahl Die erste Modifizierung betraf das Wahlverfahren. Am 8. Dezember 1958, geändert durch das Gesetz über die Auflösung der Länderkammer,494 fiel durch die Auflösung der föderativen Länderkammer die Wahl und Abberufung des Präsidenten allein der Volkskammer zu. Mit dieser reinen Parlamentswahl setzte sich nun in diesem Punkt der ursprüngliche SED-Verfassungsentwurf durch.495 b) Die Ersetzung des Präsidentenamtes durch einen 24-köpfigen Staatsrat Auch wenn der bürgerlich-demokratische Wortlaut der Verfassung in der Realität schon nach wenigen Jahren unterlaufen wurde und Walter Ulbricht (SED) „neben der Verfassung regierte“, ergab sich erst durch den Tod Wilhelm Piecks (SED) am 7. September 1960 eine günstige Gelegenheit zur Verfassungsänderung, die das Staatsoberhaupt selbst betraf.496 So wurde nur fünf Tage nach dem Tod des einzigen Staatspräsidenten der DDR zum 12. September 1960, durch das Gesetz über die Bildung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik,497 die Institution des Präsidenten abgeschafft. Das Ein-Personen-Staatsoberhaupt wurde durch einen allein von der Volkskammer gemäß Art. 101 Verf. DDR auf vier Jahre zu wählenden 24-köpfigen Staatsrat498 ersetzt. Der Staatsrat wurde später auf 28 Personen erweitert und war dem „obersten Sowjet“ der UdSSR nachgebildet.499 Gemäß Art. 66 Abs. 2 S. 1 Verf. DDR war der Staatsrat in seiner kollektiven Gesamtheit das Staatsoberhaupt, wobei der Staatsratsvorsitzende eine herausgehobene Stellung innehatte. 494
Abgedruckt in: Roggemann, Die DDR-Verfassungen, 1976, S. 203 f. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 85. 496 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 85 f.; Brunner/Meissner, Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1980, S. 92; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175. 497 Abgedruckt, in: Lapp, Staatsrat der DDR 1960 – 1970, 1970, S. 69. 498 Dieser 24-köpfige Staatsrat bestand aus einem Vorsitzenden, sechs Stellvertretern, sechzehn Mitgliedern sowie einem Sekretär und war gem. Art. 66 Abs. 1 Verf. DDR ein Organ der Volkskammer, also des Parlamentes und verankerte zugleich das Führungsmonopol der SED. Siehe hierzu Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR – Kommentar, 3. Aufl. 1982, Art. 66, Rn. 15; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175. 499 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 34; Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR – Kommentar, 3. Aufl. 1982, Art. 66 Abs. 1 2a; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175. 495
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Gewählt wurde der Staatsrat von der Volkskammer für die Dauer von vier Jahren und war der Volkskammer gegenüber rechenschaftspflichtig. Ferner besaß die Volkskammer die Möglichkeit, mit einer qualifizierten Mehrheit einzelne oder alle Staatsratsmitglieder abzuberufen.500 aa) Der Kompetenzzuwachs des Staatsrates Die Ersetzung einer Einzelperson als Staatsoberhaupt durch das Kollegium des Staatsrates ging auch mit einer Kompetenzerweiterung einher, da dieser nach Art. 106 Verf. DDR u. a. eine „allgemeinverbindliche Auslegung der Gesetze“ vornehmen, „Beschlüsse mit Gesetzeskraft“ fassen, „grundsätzliche Beschlüsse zu Fragen der Verteidigung und Sicherheit des Landes“ verabschieden und Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates benennen durfte. Somit wandelte sich das ursprünglich – und identisch zu den Bestimmungen des Grundgesetzes – nur mit repräsentativen Aufgaben betraute Präsidentenamt zu einem politischen Gestaltungsgremium.501 Der Staatsratsvorsitzende und zugleich Parteivorsitzende der SED Walter Ulbricht wurde damit faktisch zum alleinigen Machtverwalter,502 da der Staatsrat als Kollegialorgan nur mit vier bis dreizehn Sitzungen selten im Jahr tagte.503 Ideologisch wurde der Staatsrat als Entwicklung zu einer höheren „Stufe in der Entfaltung der Sozialistischen Demokratie“ propagiert.504 Mit der 1968 neu verabschiedeten und in Art. 1 Verf. DDR explizit benannten „sozialistischen Verfassung der DDR“ wurden die Machtbefugnisse des Staatsrates durch die Vereinigung exekutiver, legislativer und judikativer Befugnisse ausgebaut.505 Der Staatsrat wurde gemäß Art. 66 Abs. 1 Verf. DDR einerseits zu einem „Organ der Volkskammer“ – also zu einem Parlament –, dem „alle grundsätzlichen Aufgaben, die sich aus den Gesetzen und Beschlüssen der Volkskammer ergeben“, oblagen. Gleichzeitig fand eine Repersonifizierung der Funktion des Staatsoberhauptes statt, indem der Staatsratsvorsitzende die völkerrechtlichen (Art. 66 Abs. 2 500
Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 176. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 34. Detailliert zu dieser Neureglung siehe auch Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 175 – 178. 502 Ulbricht führte dieses Amt bis 1973. Vgl. Rausch, DDR – Das politische, wirtschaftliche und soziale System, 3. Aufl. 1976, S. 207. 503 Brunner, Das Staatsoberhaupt in der DDR, in: Börner/Jahrreiß/Stern, Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens, Bd. 2, 1984, S. 519; Richert, Das zweite Deutschland, 1964, S. 79; Schmitz, Notstandsverfassung und Notstandsrecht in der DDR, 1971, S. 37. 504 Doernberg, Kleine Geschichte der DDR, 3. Aufl. 1968, S. 420. 505 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 36; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 2, Rn. 133 f.; Müller-Römer, Ulbrichts Grundgesetz – Die sozialistische Verfassung der DDR, 1968, S. 45; Vertiefend hierzu sowie zu der dahinterstehenden politischen Zielsetzung: Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 176 – 177. 501
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Verf. DDR) und die Beziehungen zu anderen Staaten betreffenden Aufgaben (Art. 75 Verf. DDR) künftig allein wahrnahm. Für die Funktion des Staatsratsvorsitzenden erhielt die SED qua Verfassung (Art. 67 Abs. 3 Verf. DDR) das „Vorschlagsrecht“ und damit faktisch den alleinigen Zugriff.506 Der den demokratischen Zentralismus und die Gewaltenvereinigung verkörpernde Staatsrat und die ihm übertragenen umfangreichen Kompetenzen wurden auch in der zweiten sozialistischen Verfassung der DDR vom 6. April 1968 bestätigt.507 bb) Die Kompetenzbeschneidung des Staatsrates Anders als in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik, die in Bezug auf ihre Staatsorgane keine umfassenden Veränderungen erfuhr, wurde nach dem Tode Walter Ulbrichts 1974 die DDR-Verfassung erneut überarbeitet, wobei die Kompetenzen des Staatsrates signifikant begrenzt und die Macht auf den Ministerrat verschoben wurden.508 Schon zuvor wurde bei der Ablösung und Entmachtung Ulbrichts als Erstem Sekretär des Zentralkomitees der SED im Juli 1971 eine faktische Verfassungsänderung vorgenommen.509 Die Beteiligung des Staatsrates an Gesetzgebungsverfahren der Volkskammer wurde beendet und das Recht, durch gesetzesgleiche Erlasse grundsätzliche Aufgaben zu regeln, wurde kaum mehr wahrgenommen.510 Im Verteidigungsfall blieben die Rechte des Staatsrates allerdings ausgeprägt.511 Damit verblieben dem Staatsrat lediglich „Restkompetenzen“.512 506
Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 36 m. w. N. Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 179. 508 Während die sicherheitspolitischen Zuständigkeiten im Wesentlichen erhalten blieben, wurden andere Kompetenzen neu geordnet. Für den Abschluss von Staatsverträgen war nunmehr der Ministerrat zuständig, der einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfuhr. Das Personalvorschlagsrecht des Staatsrates entfiel ganz oder – wie etwa für die Wahl des Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates – ging auf die stärkste Fraktion, somit auf die SED, über, so bspw. für die Wahl des Ministerratsvorsitzenden nach Art. 79 Abs. 2 Verf. der DDR. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 37; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 179. 509 Bis zu seinem Tod 1973 blieb Ulbricht zwar Staatsratsvorsitzender, war jedoch bereits mit dem Entzug des Parteiamtes politisch entmachtet. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 37. Siehe auch Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 180, der – Theo Stammen zitierend – die Entmachtung des Staatsrates durch die revidierende Verfassung vom 7. Oktober 1974 als logisch bewertete, da er die noch zu Lebzeiten von Ulbricht begonnene Machtverschiebung vom Staatsrat auf die SED fortsetzte. 510 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 37. 511 Vgl. die Auflistung bei Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 38. 512 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 194 sowie Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 180 mit einer Auflistung. 507
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3. Der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland Nach der demokratischen Wende 1989/1990 und den ersten freien Volkskammerwahlen gab es Überlegungen hinsichtlich einer neuen DDR-Verfassung, die am 4. April 1990 am „Runden Tisch“513 vorgelegt wurden und eine Rückkehr zum Präsidenten der Republik (Art. 78 ff. Verf. DDR) mit ausschließlich repräsentativer Funktion vorschlugen.514 Diese Rückbesinnung auf die erste DDR-Verfassung erübrigte sich jedoch durch die Beitrittsverhandlungen mit der Bundesrepublik und die damit verbundene Übernahme des Grundgesetzes für die „neuen Bundesländer“. Mit der Wiedervereinigung515 wurde das damalige Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland – der am 23. Mai 1989 durch die (westdeutschen Mitglieder der) Bundesversammlung gewählte Richard von Weizsäcker (CDU) – Präsident des wiedervereinigten Deutschlands. Zur nächsten Bundesversammlung am 23. Mai 1994 waren erstmals Mitglieder der beigetretenen Bundesländer der ehemaligen DDR an der demokratischen Legitimation eines gesamtdeutschen Staatsoberhauptes beteiligt. Festzuhalten bleibt, dass trotz paralleler Diskussionen bei den jeweiligen Verfassungsberatungen und einer anfangs ähnlichen Einsetzung und Kompetenzübertragung des jeweiligen Ein-Personen-Staatsoberhauptes die Verfassung der DDR im Gegensatz zum Grundgesetz im Laufe der Jahre elementare Änderungen durchlaufen hat. Dabei wurde das Amt des Repräsentationsorgans eines ursprünglich parlamentsdominierten Staates zu einem Machtinstrument einer herrschenden Partei ausgebaut.516 Während der Präsident der DDR zunächst in einer gemeinsamen Sitzung von Volkskammer und Länderkammer gewählt wurde, wurde der Staatsrat später nur noch von der Volkskammer, und faktisch von der SED, bestimmt.
VI. Fazit der historischen Untersuchung Im Parlamentarischen Rat wurde das System der bipolaren Exekutive von Reichspräsident und Reichskanzler in der Weimarer Verfassung sowie die starke Legitimation des Reichspräsidenten durch die Volkswahl als untauglich und mit513
Vorgelegt von der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“, abgedruckt bei Schuster, Die Verfassung der DDR, in: Deutsche Verfassungen, 1992, S. 391 ff. 514 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 42. 515 Vgl. Isensee, Demokratie ohne Volksabstimmung: Das Grundgesetz, in: Hillgruber/ Waldhoff, 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, 2010, S. 135 – 137 zur Diskussion einer neuen gesamtdeutschen Verfassung nach Art. 146 GG im wiedervereinigten Deutschlands. Isensee gelangte zu dem Resultat, dass es für die Geltung einer Verfassung nicht darauf ankäme, ob diese ihren Ursprung im Willen des Volkes nachweisen könne, sondern ob sie heute vom Willen des Volkes getragen werde. Vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Bd., 2012, S. 636 – 641. 516 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 40.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
verantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik und für die Machtübernahme durch die nationalsozialistische Diktatur angesehen. Geprägt von diesen Erfahrungen entschied sich der Parlamentarische Rat erst nach mehreren Debatten für eine (sofortige) Besetzung des Amtes des Staatsoberhauptes zugunsten der westlichen Verfassungstradition,517 mit der Besetzung einer Einzelperson, der die Rolle „des Mahners, Beraters und Schlichters“ ausüben sollte, gelegentlich auch die des Kontrolleurs und der Legalitätsreserve.518 Abweichend zum Weimarer Reichspräsidenten einigten sich die Parlamentarier auf einen mit überwiegend repräsentativen Aufgaben ausgestatteten Bundespräsidenten, der durch ein eigens hierfür kreiertes Organ, die Bundesversammlung, gewählt wird. Ein eindeutig parlamentarisches Regierungssystem519 mit einer Begrenzung520 der Staatsmacht des Bundespräsidenten521 als ein sog. „nichtplebiszitäres Kontrastorgan“522 sowie einer Stärkung der demokratisch-parlamentarischen Regierungs517 Die Regierungssysteme westlich-demokratischer Staaten lassen sich grundsätzlich in ein parlamentarisches (mit dem Beispiel Deutschland, dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland) oder in ein präsidentielles (mit den Vereinigten Staaten von Amerika als Musterbeispiel) einteilen. Diese und nähere Ausführungen hierzu: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 35 bis 46 m. w. N.; Uhl, Das Staatsoberhaupt in der deutschen Verfassungsgeschichte, GWP 2012, 221, 222 – 227. 518 Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 91. 519 Obwohl der Begriff im Verfassungstext nicht auftaucht und der Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG sowohl plebiszitäre als auch repräsentative Elemente aufweist, wird das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere aus der Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag (vgl. Art. 67, 68, 69 Abs. 1 GG) geschlossen. Siehe hierzu Thedieck, Die Parlamentsfunktionen, JA 1988, 423, 423. 520 Die zentralen Rechte des Reichspräsidenten fehlen beim Bundespräsidenten. So fehlt neben der Befugnis zur Parlamentsauflösung das Recht, den Reichskanzler und damit auch das Kabinett zu entlassen sowie Volksentscheide über Gesetze herbeizuführen (Art. 73 Abs. 1 WRV). Ebenso lässt sich keine der zur Diktaturgewalt vergleichbare Regelung des Art. 48 WRV oder eine zur Oberbefehlsherrschaft über die Streitkräfte des Art. 47 WRV finden. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 7; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 632; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 4, S. 1600; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, vor Art. 54. 521 Wie bereits oben dargestellt, war in der Weimarer Verfassung die herausgehobene Stellung des Reichspräsidenten ein besonderes Charakteristikum. Vgl. Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1997, S. 50 f.; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 16; Willoweit/Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte, 8. Aufl. 2019, S. 353. Zu den Weimarer Präsidialregimen: Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 731 ff. 522 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 25; Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 8, Fn. 2; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 2; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54 ff., Rn. 5. Vgl. aber Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 95 f., wonach die zurückgenommene Stellung des Bundespräsidenten nicht Ausdruck einer durchdachten Konzeption, sondern das Ergebnis mehrerer Einzelfallentscheidungen gewesen sei,
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form523 mit einer „Staatsnotbremse“ und Abwehrmöglichkeiten für den Diktaturfall,524 sollte eine Schieflage zwischen hoher demokratischer Legitimation einerseits und vergleichsweise geringer Kompetenzen andererseits vermeiden.525 Hinsichtlich der Zusammensetzung des Wahlgremiums gingen der Entscheidung langanhaltende und kontroverse Diskussionen mit verschiedenen Optionen voraus. Durchgesetzt hat sich eine Bundesversammlung ohne eine direkte, separate Beteiligung des Bundesrates, die sich aus Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Ländern gewählt und entsandt werden, zusammensetzt. Einigkeit bestand darüber, das Amt des Bundespräsidenten mit einer besonderen Würde auszustatten, eine Volkswahl des Bundespräsidenten abzulehnen und ein Ausspracheverbot direkt vor dem Wahlakt des Bundespräsidenten festzuschreiben. Dies alles ist ein Indiz dafür, dass die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ den Bundespräsidenten bewusst durch ein besonderes Wahlverfahren mit einer breiten Legitimationsbasis bestimmen wollten. Carlo Schmid (SPD) stellte den von ihm erstmals in der 10. Sitzung der ersten Lesung des Hauptausschusses am 30. November 1948 verwendeten Begriff der „Kür“ in einen engen Zusammenhang mit der Würde des Amtes des Bundespräsidenten. Auch bei den anschließenden Ausführungen Hans-Christoph Seebohms (DP) schwang die dem Amt zugedachte Würde mit, wenn er von einer „Wahlkurie“ sprach. Ansonsten sprachen alle Parlamentarier ausnahmslos von einer „Wahl“ des Bundespräsidenten und griffen Schmids abweichende Formulierung weder begrifflich noch inhaltlich auf. Der unterbliebene Widerspruch seiner Nachredner zeigt, dass in den Debatten im Parlamentarischen Rat und den vorgeschalteten Ausschüssen in Bezug auf das Wahlgremium primär um dessen Zusammensetzung und konkret um die Beteiligung des Bundesrates gerungen wurde. Nicht ersichtlich ist, dass eine vertiefte dogmatische Auseinandersetzung geführt wurde oder es einen Konsens gab, welche konkrete Stellung die Parlamentarier in dem eigens kreierten Organ der Bundesversammlung hatten und wie diese staatsrechtlich einzuordnen ist. Der historischen Untersuchung ist aber zu entnehmen, dass den Parlamentariern eine würdevolle Einsetzung wichtig war, diese Einsetzung aber weit überwiegend sprachlich und faktisch als eine „Wahl“ in den Debatten artikuliert und normiert wurde. sodass erst rückblickend eine Wertung als bewusster Kontrastentwurf zum Weimarer Reichspräsidenten vorgenommen werden könne. 523 Allgemein hierzu: Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 8. 524 In der Diskussion über die Beteiligung des Präsidenten an der Regierungsbildung sowie über eine Befugnis zur Parlamentsauflösung wird das Bestreben der Nachkriegspolitiker nach Stärkung der parlamentarischen Regierungsform besonders deutlich. Hierzu: Niclauß, Der Weg zum GG, 1998, S. 187 f. 525 Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.2.
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Kap. 2: Abkehr von der Direktwahl des Bundespräsidenten
Nur wenn darüber hinaus verdeutlicht worden wäre, dass es auch um die Charakterisierung des Wahlorgans ging, könnte dies ein wichtiges Argument aus der Historie darstellen. So kann das isolierte Herausstellen der einmaligen, abweichenden Wortwahl Schmids einer „Kür“ aber keine alleinige Entscheidungsgrundlage für die Einordnung der Bundesversammlung als Organ sein, wie es das Votum des Bundesverfassungsgerichts suggeriert, zumal dies den abweichenden und weit überwiegenden Formulierungsbegriff einer „Wahl“ ausblendet. Es überzeugt nicht, einzelne Aussagen herauszugreifen, ohne den Kontext und die dahinterstehende Idee zu prüfen. Vielmehr wird aus der historischen Untersuchung nur deutlich, dass es den Mitgliedern auf eine würdige Einsetzung des Bundespräsidenten ankam, die die Bundesversammlung gewährleisten sollte. Auch gewisse parallele Entwicklungen bei der Normierung der DDR-Verfassung und der ursprünglichen Festlegung auf ein Ein-Personen-Staatsoberhaupt führen zu keinen verwertbaren Ergebnissen. Eine abschließende Qualifizierung und Charakterisierung der Bundesversammlung, allein gestützt auf die Analyse der historischen Verfassungsdokumente und Mitschriften, ist ohne eine eingehende Auseinandersetzung mit den Normen des Grundgesetzes für eine abschließende juristische Einordnung somit nicht ausreichend.
Kapitel 3
Die Charakterisierung der Bundesversammlung Wie in der Einleitung bereits dargestellt, haben sich die rechtswissenschaftliche Literatur und die einschlägigen Kommentierungen zu Art. 54 GG vor dem Urteilsspruch durch den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juni 20141 nur vereinzelt mit dem Charakter der Bundesversammlung auseinandergesetzt. Es fanden sich überwiegend Stimmen, die die Bundesversammlung als ein parlamentsähnliches Organ einordneten2 und den Mitgliedern der Bundesversammlung weitgehend die gleiche Stellung wie den Abgeordneten des Bundestages zubilligten.3 Demgegenüber hat Beate Braun in ihrer 1993 veröffentlichten Dissertation betont, dass die Aufgabe der Bundesversammlung auf die „formelle Wahl beschränkt“ bleibe und es sich bei dem Organ um ein „Akklamationsorgan“ handele; die Bundesversammlung als ein eigenständiges Entscheidungsorgan sei damals weder beabsichtigt noch werde es politisch angestrebt.4 In den juristischen Kommentierungen zu Art. 54 GG ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Wandel zu erkennen. Gleichlautend mit dem Bundesverfassungsgericht wird die Bundesversammlung nun weitgehend ohne nähere Auseinandersetzung als ein kürähnliches Organ bewertet. Zudem ist durch die Abkehr von der Position einer vergleichbaren Stellung der Versammlungsmitglieder mit den Parlamentariern auch eine restriktivere Zubilligung von Rechten für die
1
BVerfGE 136, 277, 277 ff. Vgl. abweichend Steinbeis, Die Bundesversammlung als Quasi-Parlament?, Verfassungsblog, 19. 11. 2013, https://verfassungsblog.de/bundesversammlung-als-quasi-parlament/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023, der angesichts des anhängigen Organstreitverfahrens, aber noch vor dem Urteilsspruch, sich eine Interpretation des Organs als eine denkbare Sichtweise dahingehend vorstellen konnte, dass die Bundesversammlung „ihrem hochtrabenden Namen zum Trotz“ keine Versammlung, sondern nur eine „besondere Art“ sei, aus Bundestag und Landtag eine Mehrheit zu generieren, worauf das Ausspracheverbot in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG hindeute. Als Konsequenz sei die Bundesversammlung als Organ selbst, jedoch nicht jedes einzelne Mitglied, Verfassungsorgan. 3 Vgl. bspw. v. Ooyen, Das Amt des Bundespräsidenten, 2015, S. 15; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 75. Siehe auch Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279, der betont, dass es sich um ein „Wahlorgan“ handele. Ebenso Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 29, der in Abgrenzung zu einem Kürorgan die Bundesversammlung als ein „reines Wahlorgan“ bewertet. 4 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 232 f. 2
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Versammlungsmitglieder zu beobachten.5 Bis heute bildet die Charakterisierung der Bundesversammlung jedoch keinen Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Literatur. Eine Schließung der Lücke ist daher angezeigt. Denkbar erscheint es, der Bundesversammlung entweder einen • parlamentsähnlichen Charakter, • kürähnlichen Charakter, • Charakter als ein „Organ sui generis“ (einem Organ eigener Art), oder • Charakter als „Organ mixtum compositum“, das sowohl kür- als auch parlamentsähnliche Züge in sich vereinigt, zuzusprechen.
A. Die Einordnung als kürähnliches Organ durch das Bundesverfassungsgericht Die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Juni 2014 getroffene Einordnung der Bundesversammlung als ein kürähnliches Organ in das ansonsten repräsentativ-parlamentarische Demokratiesystem der Bundesrepublik Deutschland ließ aufhorchen. So resümierte der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, einen „Hauch von Monarchie“ nach der Urteilsverkündung verspürt zu haben; auch ein Redakteur des SPIEGEL betitelte seinen Bericht mit: „Seit heute ein König“.6 Diese weitreichende verfassungsgerichtliche These begreift den Wahlakt weniger als demokratischen Prozess, sondern mehr als bloßes Zeremoniell im Dienst der Würde des Präsidentenamtes, die zugleich erhebliche Konsequenzen für das rechtliche Verständnis der einzelnen Bestimmungen über die Bundespräsidentenwahl haben kann. Wie eingangs erwähnt, war Ausgangspunkt für die erstmalige, eingehende Auseinandersetzung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Organ der Bundesversammlung und ihrer Mitglieder, deren Stellung und Aufgaben, die von NPDMitgliedern angestrengten Organstreitverfahren zur Wahl des Bundespräsidenten 2009 und 2010.7 Hierbei ging es – neben der These des Antragsgegners, wonach die 5 So etwa bei v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54 Rn. 31 f., aber noch anders in Vorauflage, siehe v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 54, Rn. 28; sowie Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 21. Eine solche Wertung vor dem bundesverfassungsgerichtlichen Urteil nahm bereits Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 54, Rn. 31 vor, der darüber hinaus von einem „exklusive[n] Kreationsorgan für die Wahl des Bundespräsidenten“ spricht. 6 Vgl. Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323 m. w. N. 7 BVerfGE 136, 277, 277 ff. Vgl. die Auflistung bisheriger Organstreitverfahren mit Beteiligung des Bundespräsidenten bei Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 71. Nach der Wahl Christian Wulffs (CDU) 2009 zum Bundespräsidenten war infolge seines
A. Die Einordnung als kürähnliches Organ durch das BVerfG
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Bundesversammlung keinen Charakter einer gewählten Volksvertretung habe und nur äußerlich Ähnlichkeiten mit einem Parlament aufweise8 – um die Fragestellungen, • wie weit die Geschäftsautonomie der Versammlung reicht, • ob die Versammlungsmitglieder vergleichbare Rede- und Antragsrechte wie Bundestagsabgeordnete besitzen, • über welche Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse der Präsident des Bundestages als Leiter der Bundesversammlung verfügt, • inwieweit die Bundesversammlung eine Kompetenz zur Überprüfung der Wahl der Landesvertreter besitzt, • ob Wahlbeobachter bei der Auszählung der Stimmen zugelassen werden müssen oder dürfen und • was das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG umfasst und wie weit dieses reicht.9 Die Beantwortung dieser Rechtsfragen hängt entscheidend von der verfassungsrechtlichen Einordnung der Bundesversammlung ab. Es wurde bereits die Diskrepanz aufgezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht das Wort „Kür“ nur zwei Mal unter Verweis auf Carlo Schmid (SPD) benutzt, die These eines kürähnlichen Organs in dem von Andreas Voßkuhle vorgetragenen Eingangsstatement jedoch den wesentlichen Begründungsansatz für das Urteil bildet, ohne die Bundesversammlung als ein kürähnliches Organ ausdrücklich zu benennen. Daraus könnte geschlossen werden, dass es sich bei der Einschätzung und Wertung im Eingangsstatement um eine eigene Positionierung des damaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten gehandelt hat und keine mehrheitliche Bewertung innerhalb des Spruchkörpers widerspiegelt. Tatsächlich handelt es sich nur um eine vermeintliche Diskrepanz, da in den Entscheidungsgründen selbst nur die gerügten Rechtsverletzungen beleuchtet und beurteilt werden, während es sich bei den Ausführungen im Eingangsstatement nach expliziter Betonung um „die allgemeinen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Charakter der Bundesversammlung“ handeln soll.10 Auch wird durch die im Folgenden aufzuzeigende Argumentationslinie des Bundesverfassungsgerichts im Urteilsspruch deutlich, dass der Spruchkörper insgesamt hinter der von Voßkuhle vorgetragenen CharakterisieRücktritts am 17. Februar 2010 eine Neuwahl des Bundespräsidenten bereits ein Jahr später notwendig. Beide gerügten Verfahrensverstöße wurden in einem Organstreitverfahren zusammengefasst. 8 BVerfGE 136, 277, 296 f. 9 Vgl. Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen Bundesversammlung am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 1 f. 10 Vgl. Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen Bundesversammlung am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 2.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
rung der Bundesversammlung steht. Daraus kann geschlossen werden, dass das höchste deutsche Verfassungsgericht die Bundesversammlung als ein Organ ansieht, das den Bundespräsidenten in einem kürähnlichen Verfahren bestimmt. Für die Einordnung der Bundesversammlung greifen das bundesverfassungsgerichtliche Eingangsstatement und die Urteilsbegründung primär auf zwei Argumentationslinien zurück. Zum einen sei der Bundespräsident als ein Erbe der konstitutionellen Monarchie zu verstehen, zum anderen resultiere aus der besonderen Würde des Bundespräsidentenamtes eine Unvergleichbarkeit der Bundesversammlung zum parlamentarischen Bundestag. Unberücksichtigt lässt das Bundesverfassungsgericht dabei die Tatsache, dass dem Bundespräsidenten im Gegensatz zum Reichspräsidenten eine ganz andere Aufgabenstellung zugebilligt wird und die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ eine bewusste Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung vollziehen wollten.
I. Der Bundespräsident als Erbe der konstitutionellen Monarchie? Die These des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Bundesversammlung ein kürähnliches Organ sei, wird im Eingangsstatement zum Urteil damit begründet, dass sich in der Wahl durch die Bundesversammlung „ein eigentümlicher, demokratisch veredelter Rückgriff auf das Erbe der konstitutionellen Monarchie [offenbart], der vom Verfassungsgeber aber so gewollt war und der der Bundesrepublik Deutschland letztlich gut getan hat.“11
Aus dieser Formulierung und Wertung wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht den Wahlakt als eine an die Königswahl erinnernde „Kür“ in Abgrenzung zu einer parlamentarischen Wahl bewertet.12 Daher wird die Bundesversammlung vom Bundesverfassungsgericht als kein dem Bundestag vergleichbares parlamentsähnliches Organ eingeordnet, sondern als ein Gremium, dessen alleinige Aufgabe in der „Kür“ des Bundespräsidenten besteht. In der von 1871 bis 1918 bestehenden konstitutionellen Monarchie des deutschen Kaiserreichs war die Macht des Monarchen durch die Verfassung beschränkt und geregelt. Die Regierung wurde jedoch weiterhin vom Monarchen und nicht von einer 11
Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3. Vgl. auch: LTO-Redaktion (Hrsg.), Erbe der konstitutionellen Monarchie, Legal Tribune Online, 10. 6. 2014, https://www.lto.de/recht/nachrichten/ n/bverfg-urteil-2-bve-2-09-10-bundesversammlung-bundespraesident-wahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323. 12 Zu dieser Wertung gelangen ebenso Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83 sowie Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323.
A. Die Einordnung als kürähnliches Organ durch das BVerfG
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Volksvertretung gelenkt und war vom Monarchen abhängig. Aus der dargestellten Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und den Diskussionen im Parlamentarischen Rat wird aber deutlich, dass die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ anknüpfend an die Weimarer Reichsverfassung die Abkehr vom monarchischen System beibehielten und die Stellung des Bundespräsidenten zugunsten des Parlamentes bewusst geschwächt haben. Es sind ferner keine Indizien ersichtlich, dass ein Wiederaufleben der im Kurfürstentum oben dargestellten praktizierten Kür oder eines kürähnlichen Verfahrens von den Mitgliedern im Parlamentarischen Rat gewollt und gemeint gewesen war. Die Formulierung im Eingangsstatement, wonach die Bundesversammlung ein eigentümlicher, demokratischer, veredelter Rückgriff auf das „Erbe der konstitutionellen Monarchie“ sei, kann vor diesem Hintergrund als unzutreffend bezeichnet werden. Gerade die bewusste und normierte Abkehr von der Kompetenzfülle des Reichspräsidenten zeigt ein ganz anderes Bild: Alle Macht geht vom Volke aus, das ist der Souverän des Grundgesetzes. Das Demokratieprinzip, die Gewaltenteilung, die Transparenz und die Öffentlichkeit als Machtbegrenzung kennzeichnen die Neuausrichtung im Grundgesetz. Das monarchistische System ist Geschichte und kein Anknüpfungspunkt für die rechtliche Einordnung der Bundesversammlung. Utz Schliesky tritt ebenfalls dem historischen Begründungsmuster des Bundesverfassungsgerichts entgegen. Er führt aus, dass „der Parlamentarismus zwar ein historisches Phänomen ist, das sich jedoch mit den jeweiligen verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert; ein modernes Parlament könne zwar nicht ohne historische Vorläufer verstanden werden, dürfe jedoch auch nicht mit historischen Erklärungsmustern […] erklärt werden.“13
Auf den von Hans-Christoph Seebohm im Parlamentarischen Rat aufgeworfenen Begriff einer „Wahlkurie“ geht das Bundesverfassungsgericht nicht ein. Stattdessen wird der im Parlamentarischen Rat durch den Abgeordneten Carlo Schmid (SPD) eher beiläufig verwendete Begriff der „Kür“ ausdrücklich bezugnehmend auf das alte deutsche Reichsrecht14 – ohne nähere Auseinandersetzung als wesentliche Begründung dafür herangezogen, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates die Bundesversammlung als ein kürähnliches Organ ausgestalten wollten. Aufgrund der zurückhaltenden Reaktion während der Diskussion im Parlamentarischen Rat und der Tatsache des Nicht-Weiter-Verfolgens dieses Gedankens im Hauptausschuss und auch von Schmid selbst, ist die ausgebliebene Diskussion über den Kürbegriff jedoch vielmehr Beleg dafür, dass gerade kein Rückgriff auf die konstitutionelle Monarchie erfolgen sollte. Vor dem Hintergrund der vorgelagerten Wahlkämpfe um das Amt des Reichspräsidenten erfolgte eine bewusste Abkehr von einer Volkswahl zu einer Einsetzung durch eine mit heterogenen Gruppen und föderal besetzten Bundesversammlung. Anstatt sich für die Charakterisierung der Bundesversammlung auf das Erbe der Monarchie zu beziehen, erscheint es schlüssiger, auf die integrierende 13 14
Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 204. Vgl. Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 403 m. w. N.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Funktion des Bundespräsidenten abzustellen. Sein Wahlakt stellt die aufeinandertreffenden politischen Gegensätze und Streitigkeiten dar, verbindet diese aber zugleich durch die Mehrheitsfindung in der Bundesversammlung.15 Daher sind die Diskussionen im Parlamentarischen Rat und die im Grundgesetz normierte Wahl durch die Bundesversammlung, einhergehend mit begrenzten Kompetenzen des Bundespräsidenten, als eine bewusste parlamentarische Stärkung in Kombination mit einer Abgrenzung zur Volkswahl nach der Weimarer Reichsverfassung und zu einem monarchischen Präsidenten zu werten,16 die der verfassungsgerichtlichen These entgegen steht.
II. Der Begründungsansatz der besonderen Würde des Bundespräsidentenamtes Die zweite Argumentationslinie des Bundesverfassungsgerichts ist das Abstellen auf die besondere Würde des Bundespräsidentenamtes, die sich auf das Verfahren und das Organ der Bundesversammlung auswirke. Im Organstreitverfahren trugen die Antragsgegner17 vor, dass die Bundesversammlung nur äußerlich Ähnlichkeiten mit einem Parlament aufweise, selbst jedoch kein dem Parlament vergleichbares Organ sei.18 Ferner stelle die Wahl des Bundespräsidenten keinen parlamentarischen Prozess dar.19 Diese Aspekte werden vom Bundesverfassungsgericht teilweise aufgegriffen, indem die Richter explizit betonen, dass Bundestag und Bundesversammlung andersartige Aufgaben innehaben.20 Während das Bundesverfassungsgericht zunächst – etwas widersprüchlich zu den weiteren Ausführungen – von der Bundesversammlung als einem „Wahlgremium“ spricht,21 wird wenig später betont, dass die Bundesversammlung ein „reines Kreationsorgan“ sei,22 dessen alleinige Aufgabe gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG in der 15
Ähnlich: Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 16 Ebenso: BVerfGE 136, 277, 310 f. 17 Als Leiter der Bundesversammlung, vgl. § 8 S. 1 BPräsWahlG, zugleich Präsident des Deutschen Bundestages, bevollmächtigte Norbert Lammert (CDU) den von 2002 bis 2006 als Direktor beim Deutschen Bundestag agierenden Wolfgang Zeh als Prozessvertreter. 18 BVerfGE 136, 277, 296. 19 Vgl. Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 20 BVerfGE 136, 277, 308. Siehe auch Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 21. 21 BVerfGE 136, 277, 312. 22 BVerfGE 136, 277, 309 und 318 sowie bestätigend in BVerfGE 138, 125, 125 ff. Vgl. auch Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 21; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7; Engelbrecht, Die Bundes-
A. Die Einordnung als kürähnliches Organ durch das BVerfG
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„Kür“ des Präsidenten liege.23 Die Bestimmungen zur Bundesversammlung seien daher weniger als ein echter Wahlakt, sondern vielmehr als ein Akt der „Kür“ ausgestaltet.24 Die Autorität und Würde des Bundespräsidentenamtes käme darin zum Ausdruck, dass das Amt vor allem auf eine geistig-moralische Wirkung angelegt sei.25 Dies komme auch in der Funktion der Öffentlichkeit der Bundesversammlung zum Ausdruck, welche „allein auf die Sichtbarkeit des Wahlaktes in seinen realen und symbolischen Dimensionen“ abziele.26 Hiermit korrespondiere auch das Wahlverfahren des Bundespräsidenten, das nicht nur ein Ergebnis hervorrufe, sondern „in seinen Abläufen die besondere Würde des Amtes unterstreichen“ solle.27 Folglich versammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 21; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127. 23 BVerfGE 136, 277, 309, 318. Siehe auch Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 1; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952 f.; Leisner, in: Sodan, GG, Beck’sche Kompakt-Kommentare, 4. Aufl. 2018, Art. 54, Rn. 3; Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 334; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 2; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 23; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 24 BVerfGE 136, 277, 312, 318. Vgl. auch Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87. 25 BVerfGE 136, 274, 311. Siehe auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323 m. w. N. 26 BVerfGE 136, 274, 314; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3. Vgl. auch Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127. 27 BVerfGE 136, 274, 312: Nach Einschätzung der Verfassungsrichter sei die besondere Würde des Amtes nicht Selbstzweck, sondern Grundlage für die dem Bundespräsidenten zugedachte Aufgabe integrierend in das Gemeinwesen zu wirken und zugleich die Einheit des Gemeinwesens sichtbar zu machen. Siehe auch das Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 1 ff.; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323 S. 2; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 36; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 1; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83, 85; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 950, 952; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
könne der verfassungsrechtliche Status der Versammlung und der Mitglieder auch nicht losgelöst von der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten beurteilt werden,28 zumal der „Gang in der Bundesversammlung weitgehend vorbestimmt“ sei.29 Daher seien die Rechte der Abgeordneten des Bundestages, mangels Vergleichbarkeit, nicht auf die „Wahlmänner“30 übertragbar.31 Im Ergebnis sei die Bundesversammlung – anders als der Bundestag – kein Ort politischer Auseinandersetzung oder des Meinungskampfs, der von Rede und Gegenrede geprägt sei,32 sondern berufe den Bundespräsidenten seiner Stellung entsprechend auf würdige Weise in sein Amt. Im Vordergrund stehe daher die Bewahrung der „zeremoniellen, symbolischen Bedeutung des Wahlakts“.33
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“ Für die weitere Untersuchung bedarf es – auf die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts und das Statement Schlieskys bezugnehmend – zunächst einer generellen Betrachtung der gegensätzlichen Prototyen von „Parlament“ und „Kürorgan“ samt ihrer Funktionen und Charakteristika, um die jeweiligen Unterschiede herausarbeiten zu können. 28 BVerfGE 136, 274, 312 f.; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 1 f. Siehe auch Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 29 BVerfGE 136, 277, 314; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 2 f. Vgl. auch Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 37; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 30 „Wahlmänner“ sind Personen jeglichen Geschlechts, die in einer indirekten Wahl für eine einzelne, konkrete Wahl eine Stimme haben. Sie werden hierzu von den Wahlberechtigten bestimmt. Die Versammlung der „Wahlmänner“ wird als Wahlmännerkollegium bezeichnet. Der Begriff der Wahlmänner erinnert an das alle vier Jahre stattfindende Präsidentschaftswahlverfahren in den USA. Bei diesem System der indirekten Wahl ist derjenige Sieger, der die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigt. Die Wahlmänner sind nicht an den Wählerwillen gebunden. 31 BVerfGE 136, 277, 312. Vgl. ebenso Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 32 BVerfGE 136, 277, 317. Siehe auch Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 33 BVerfGE 136, 277, 318; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3. Siehe auch Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323.
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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I. Die Funktionen und Charakteristika eines Parlamentes Im Parlamentarismus erfüllt das vom Volk demokratisch gewählte Parlament34 formal und je nach Verfassung tatsächlich eine zentrale Stellung mit verbrieften Kompetenzen und Aufgaben im politischen Prozess.35 Hierbei ist das Plenum der traditionelle Ort des öffentlichen Verhandelns und Entscheidens nach bestimmten Anwesenheits- und/oder Zustimmungsquoren mit einem hohen Formalisierungsgrad.36 In der Arbeitsgestaltung finden sich viele Eigenarten und Rituale, die von einer Kultur der öffentlichen Debatte bei gleichzeitiger Sicherung von informellen Verhandlungsräumen geprägt sind. Strukturell wird zwischen einem Redeparlament und einem Arbeitsparlament differenziert.37 Aufgrund der vielfältigen Aufgaben von Parlamenten ist es schwierig, feststehende, typische Parlamentsfunktionen zu bestimmen, die die Aufgaben- und Verantwortungsbereiche eines Parlamentes abschließend beschreiben,38 anhand derer 34 Der Begriff „Parlament“ stammt aus den französischen Wörtern „parler“ = reden und „parlement“ = Unterredung. Bei einem Parlament handelt es sich in repräsentativ-demokratischen Staaten um eine vom Volk demokratisch gewählte und politisch legitimierte Volksvertretungskörperschaft, die nach dem Mehrheitsprinzip die gesetzgebende Gewalt ausübt, unter anderem die Exekutive kontrolliert und aus einer Vielzahl von individuellen gleichberechtigten Repräsentanten besteht, die über ein freies Mandat verfügen. 35 Vgl. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 49 f. mit einer eingehenden Erläuterung der Definitionsmerkmale sowie der Struktur, der Organisation, der Größe und der Arbeitsweise von Parlamenten auf den S. 53 – 88 sowie S. 16, 42, 151 – 173, dort auch zur Begriffs- und Institutionengeschichte und zum Europäischen Parlament mit dem Hinweis, dass der Begriff Parlament auch Versammlungen umfassen kann, die nicht unmittelbar oder nur eingeschränkt vom Volk legitimiert wurden, wie beispielsweise das Parlament der Europäischen Union, das mangels eines Staatsvolkes und einer fehlenden Wahlgleichheit sowie aufgrund eines fehlenden unmittelbaren Initiativrechts auch keine volle Gesetzgebungskompetenz besitzt. 36 Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 66, 80 – 83. 37 Bei einem Redeparlament werden alle politischen Fragen in Diskussionen überwiegend im Plenum erörtert. In einem Arbeitsparlament findet ein Großteil der Arbeit in parlamentarischen Ausschüssen statt. In vielen Staaten wird eine Mischform beider Formen praktiziert. An der Spitze der parlamentarischen Organisation steht ein Vorsitzender entweder nach dem Modell des „Speaker“ nach englischem Vorbild oder das in der deutschen Parlamentarismustradition etablierte Modell eines Präsidenten. Beide repräsentieren das Parlament nach außen und leiten nach innen dessen Plenarsitzungen. Eingehend: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 66 f., 80 – 83. Von aktuellem Interesse ist dabei die Eilentscheidung des BVerfG zur Zeitspanne zwischen den einzelnen Lesungen im Bundestag. Im konkreten Fall sah das Gericht die Möglichkeit, dass eine zweite und dritte Lesung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gebäudeenergiegesetz (GEK) innerhalb der laufenden Sitzungswoche das grundgesetzlich garantierte Recht der Abgeordneten auf gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, vgl. BVerfG, Beschluss v. 5.7.23, 2 BvE 4/23. Im Rahmen der Folgeabwägung überwiege das Interesse an der Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Beteiligungsrechte gegenüber dem Eingriff in die Verfahrensautonomie des Deutschen Bundestages, der die Umsetzung des Gesetzgebungsverfahrens lediglich verzögere. 38 Vgl. Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 204.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
ein Abgleich mit der Bundesversammlung erfolgen könnte. Gleichwohl haben sich in der Wissenschaft mit dem Funktionskatalog nach Mills, den fünf Grundfunktionen nach Bagehot, den fünf Organisationscharakteristika nach Polsby sowie einem zeitgenössischen Funktionskatalog nach Schindler verschiedene Funktionskataloge und -systematiken etabliert, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Ein Abgleich dieser Kriterien auf Übereinstimmung ermöglicht eine Aussage darüber, ob die Bundesversammlung als ein (vollwertiges) Parlament zu charakterisieren ist. 1. Der Funktionskatalog nach Mills Der Funktionskatalog des Briten John Stuart Mills aus dem Jahr 1861 geht von wenigen Parlamentsfunktionen aus. Demnach sei zentrale Aufgabe von Parlamenten das Sprachrohr des Volkes zu sein, mit einem Plenum als Raum der öffentlichen Debatte, das die Regierung überwache und kontrolliere. Abweichend zu den späteren Funktionskatalogen ist für Mills weder die Ausführung von Gesetzen noch die Gesetzgebung eine unverzichtbare Aufgabe eines Parlamentes, da nach seiner Auffassung eine „vielköpfige Körperschaft“ hierfür ungeeignet sei. Vielmehr könne die Gesetzgebung besser von einem „Ausschuss“ mit einem erfahrenen und geübten Verstand geleistet werden.39 2. Die fünf Grundfunktionen eines Parlamentes nach Bagehot Da sich die weitreichenden Aufgaben- und Verantwortungsbereiche eines Parlamentes jedoch nicht immer unmittelbar aus der Verfassung ableiten ließen, stellte im 19. Jahrhundert der Brite Walter Bagehot in seiner Analyse der britischen Verfassung von 1867 einen auch noch in der heutigen Wissenschaft anerkannten Funktionenkatalog des Parlamentarismus auf.40 Zu den fünf (Grund-)Funktionen gehören demnach die Wahl-,41 die Gesetzgebungs-, die Kontroll-,42 die Repräsentations-43 sowie die Artikulations- und Informationsfunktion44, die ein Parlament jeweils in sich vereinigen müsse.45 39
Vgl. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 96 f. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 98. 41 Hierzu gehöre, dass die Parlamente Personen wie den Parlamentspräsidenten, hohe Richter oder vielfach in parlamentarischen Regierungssystemen den Regierungschef wählen und gleichzeitig den amtierenden Premierminister und sein Kabinett tragen. Vgl. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 98 m. w. N. 42 Die Kontrollfunktion umfasst parlamentarische Rechte wie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, um die Exekutive auf Effizienz und Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns zu kontrollieren, sowie Abwahlmöglichkeiten – wie in der Bundesrepublik das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 GG oder das Impeachment in den Vereinigten Staaten Amerikas. Darüber hinaus stellt auch das Budgetrecht als eines der ältesten Parlamentsrechte ein Kontrollinstrument dar, da die Aufgabenerfüllung nur im Rahmen der im 40
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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3. Die Organisationscharakteristika nach Polsby Nelson W. Polsby arbeitete in seinem wegweisenden Artikel über „legislature“ im „Handbook of Political Science“ aus dem Jahr 1975 fünf Kriterien zur Charakterisierung eines Parlamentes und zur Abgrenzung zu anderen staatlichen Organisationen heraus: Die Organisation müsse sich aus mehreren Mitgliedern zusammensetzen, eine formalisierte Debatte der Entscheidungsfindung pflegen, die Entscheidung durch Abstimmungen herbeiführen, ihre Legitimation in der Bevölkerung finden sowie ihr fortlaufend gegenüber verantwortlich sein.46 Abweichend zu den anderen dargestellten Ansätzen ist für Polsby die Arbeitsweise der Organisation und nicht die Funktion entscheidendes Kriterium. 4. Der zeitgenössische Funktionskatalog nach Schindler Peter Schindler hat in dem „Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages“ unterschiedliche zeitgenössische Funktionenkataloge dokumentiert.47 Bei einem unterschiedlichen Grad der Ausdifferenzierungen und der Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten ließen sich hierbei vier Hauptfunktionen erkennen: Die Wahlfunktion48, die Gesetzgebungsfunktion49, die Kontrollfunktion50, Haushalt zur Verfügung gestellten Mittel erfolgen darf. Durch das Interpellationsrecht müssen die Regierungsmitglieder dem Parlament Rede und Antwort stehen. Vereinzelt gehört zu den parlamentarischen Rechten auch ein Selbstauflösungsrecht mit der Herbeiführung von Neuwahlen. Vgl. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 38 – 40. 43 Die Repräsentationsfunktion beinhaltet, dass das Parlament die Gedanken und unterschiedlichen Auffassungen und Meinungen des Volkes zu allen Angelegenheiten, mit denen es konfrontiert wird, zum Ausdruck bringt. Näher hierzu Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 40 – 42. 44 Hierdurch soll das Parlament zum einen die in der Öffentlichkeit vorhandenen Auffassungen zum Ausdruck bringen, zum anderen das Volk informieren. 45 Vgl. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 34 f.; Ismayr, in: Andersen, Der Deutsche Bundestag, 2. Aufl. 2015, S. 31 – 44; Thedieck, Die Parlamentsfunktionen, JA 1988, 423 – 427. 46 Dargestellt bei Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 88 – 90 m. w. N. 47 Übersichtlich gegenübergestellt bei: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 100 – 102. 48 Sowohl die Wahl- als auch die Abwahlfunktion zielen auf die Macht des Parlaments, über die Besetzung politischer Ämter zu entscheiden und respektive Personen ihres Amtes zu entheben, oftmals verbunden mit einem Einfluss des Parlamentes auf die Zusammensetzung und den Bestand einer Regierung. Eingehend hierzu: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 106 – 113. 49 In der Gesetzgebungsfunktion kann das Parlament verbindliche Normen durch ein meist mehrstufiges Gesetzgebungsverfahren setzen. Näheres hierzu bei: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 113 – 122. 50 Als Kontrollfunktion bezeichnet man die Aufgabe von Parlamenten, die Handlungen anderer politischer Akteure zu prüfen oder mitzugestalten. Gegenstand der Kontrolle ist ins-
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
die Kommunikationsfunktion51. Innerhalb dieser vier parlamentarischen Hauptfunktionen nimmt Schindler weitere Auffächerungen vor.52 Insgesamt zeigen die Kriterien Schindlers eine hohe Übereinstimmung mit den Grundfunktionen nach Bagehot.53 5. Ein Abgleich mit der Bundesversammlung Die dargestellten Funktionskataloge kommen somit zu leicht variierenden Ergebnissen. Es zeigt sich, dass es bislang keine allgemeingültige Definition oder eine abschließende Aufzählung der Funktionen und Kriterien gibt, die ein Parlament zwingend erfüllen muss.54 Dies führt zu der Schwierigkeit, Parlamente allein anhand ihrer Funktionen zu definieren, zumal die Funktionsbereiche die situative oder strukturelle Erfüllung der parlamentarischen Aufgaben begrenzen.55 Zudem ist eine Flexibilität und Änderung der parlamentarischen Kompetenzen bei sich wandelnden Verhältnissen und Aufgaben innerhalb eines Staatsgefüges durchaus vorstellbar und wünschenswert. Folglich ist ein offenes Verständnis von Parlament und Parlamentarismus in der Parlamentarismustheorie angezeigt, das die Weiterentwicklung berücksichtigt und der aktuellen Situation folgen kann. Dies bedeutet, dass die Funktionen und dargestellten Kriterien eines Parlamentes zwar als gewichtige, aber nicht als alleinige Einordnungskriterien für eine Chabesondere die Arbeit der Regierung. Eingehend hierzu: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 122 – 129. 51 Die Kommunikationsfunktion umfasst die parlamentarische Aufgabe, die Interessen der Bevölkerung zu artikulieren und diese in den politischen Prozess einzubringen. Zudem stellt das Parlament seine Arbeit und Entscheidungen nach außen dar, wozu die öffentlichen Plenarverhandlungen sowie die vielfältigen Formen des Kommunikationsmanagements dienen. Vertiefend: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 129 – 135. 52 Eingehend dargestellt bei Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 204, 209 – 277, der in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland zwölf weitere Auffächerungen aufzeigt: Die Demokratiefunktion (S. 209 – 216), die Legitimationsfunktion (S. 216 – 220), die Vertretungs- bzw. Repräsentationsfunktion (S. 220 – 224), die Öffentlichkeitsfunktion (S. 224 – 231), die Gesetzgebungsfunktion (S. 231 – 236), die Wahl- und Organisationsfunktion (S. 236 – 243), die Kontrollfunktion (S. 243 – 249), die Regierungs- und Oppositionsfunktion (S. 249 – 254), die Mitwirkung an der europäischen Integration (S. 254 – 266), die Haushalts- und Finanzverantwortungsfunktion (S. 266 – 272), die Exekutivfunktion (S. 273 – 275) sowie die Entscheidungsfunktion in Sondersituationen (S. 275 – 277). Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sind das öffentliche Verhandeln von Argument und Gegenargument, die öffentliche Debatte und Diskussion wesentliche Elemente einer parlamentarischen Demokratie, um im parlamentarischen Verfahren den Ausgleich widerstreitender Interessen zu ermöglichen. Vgl. BVerfGE 136, 277, 313. 53 Ebenso: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 103 f., mit weiteren Erläuterungen. 54 Vgl. Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 204. 55 So auch: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 141 f.; Schliesky, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 204 – 208.
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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rakterisierung herangezogen werden können. Doch müsste die Bundesversammlung für eine mögliche Einordnung als ein parlamentsähnliches Organ von den oben herausgearbeiteten Kriterien zwar nicht alle, jedoch zumindest die wesentlichen Grundfunktionen eines Parlamentes erfüllen. Festzustellen ist, dass es sich bei der Bundesversammlung aufgrund der Aufgabenstellung und des in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierten Ausspracheverbots keinesfalls um ein vollwertiges Parlament handeln kann: Neben der ausschließlichen und lediglich temporären Konstituierung zur Wahl, erlässt die Bundesversammlung keine Gesetze und hat auch keine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive. Bezugnehmend auf das vorgestellte Modell Polsbys fehlt der Bundesversammlung aufgrund des Ausspracheverbots zudem eine der parlamentarischen Wahlentscheidung typische vorausgehende formalisierte Debatte und Aussprache. Diese soll im Plenum vielmehr unterbunden werden, um so einen würdigen Ablauf des Wahlaktes zu garantieren. Damit fehlen der Bundesversammlung das öffentliche Verhandeln mit einem Austausch der Argumente, Debatten und Diskussionen als wesentliche Elemente, um im parlamentarischen Verfahren den Ausgleich widerstreitender Interessen zu ermöglichen. Folglich erfüllt die Bundesversammlung mit der Wahl- und der Repräsentationsfunktion – in Bezug auf den Bundespräsidenten und nicht hinsichtlich der Regierung – nur zwei der fünf Grundfunktionen Bagehots. Allenfalls kann noch die Artikulations- und Informationsfunktion für die Bundesversammlung als erfüllt angesehen werden. Aufgrund der ausschließlichen Konstituierung der Bundesversammlung für die Wahl des Bundespräsidenten ist auch keine (fortlaufende) Verantwortlichkeit gegenüber der Bevölkerung gegeben, auch nicht hinsichtlich der weiteren Amtsführung des Bundespräsidenten. Da die Bundesversammlung nur einen Teil der Parlamentsfunktionen erfüllt, bedarf es entsprechend der Einordnungsthese des Bundesverfassungsgerichts als ein kürähnliches Organ der weiteren Prüfung, ob die Bundesversammlung die Funktionen und Charakteristika einer „Kür“ erfüllt.
II. Die Funktionen und Charakteristika eines Kürorgans Der Duden definiert die Kür (beziehungsweise „Kur“ oder „churi“) als ein veraltetes und weniger häufig gebrauchtes Wort für eine Wahl.56 In „Meyers Großes Konversations-Lexikon“ wird die Kür definiert als eine „Erwählung, Wahl“, herkommend aus der Königswahl im Deutschen Reich – da der Römische Kaiser
56 Daneben kann es sich, laut Duden – Die deutsche Rechtschreibung, 2000, S. 584, auch um eine Wahlübung im Sport, einen asiatischen Fluss sowie eine ärztliche Heilbehandlung handeln. Vgl. auch Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 106 f.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
deutscher Nationen bis 1806 durch die Kurfürsten beziehungsweise „Wahlfürsten“, lateinisch „Electores“, „gekoren“ wurde.57 1. Die Vergleichbarkeit mit der Kür im Heiligen Römischen Reich und dem Krönungsakt Die Kür war ein besonderes Recht, den deutschen König des Deutschen Reichs wählen zu dürfen.58 Dieses Recht stand seit dem 13. Jahrhundert den Kurfürsten59 des ehemaligen Deutschen Reiches beim Kurfürstentag60 zu.61 Wie bei allen germanischen Völkern wurde der König grundsätzlich bei einer förmlichen Wahl durch Stimmabgabe gewählt, sofern auch die Voraussetzung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie erfüllt war.62 Bis Anfang der frühen Neuzeit musste zwischen der Krönung63 zum römischdeutschen König, zum König eines anderen Reichsteils sowie der Krönung zum Kaiser – mit einem universalen Machtanspruch für das ganze Reich – differenziert 57
Meyers Großes Konversations-Lexikon (Hrsg.), Stichwort Kür, http://www.zeno.org/ Meyers-1905/A/Kur+%5B1%5D, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Ebenso: Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 485; Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 7 f. 58 Vgl. Pierer’s Universal-Lexikon (Hrsg.), Stichwort Kür, http://www.zeno.org/Pierer1857/A/Kur+%5B1%5D, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 59 Bei einem Kurfürsten (lateinisch elector oder princeps elector imperii) handelte es sich um einen der ursprünglich sieben, später neun und zuletzt zehn ranghöchsten Fürsten des Heiligen Römischen Reiches. Die Bezeichnung Kurfürst geht dabei auf das Wort „kur“ oder „kure“ für Wahl zurück, aus dem das hochdeutsche Wort „küren“ entstammt. Beim Fürstentum handelt es sich um eine unterhalb des Königtums stehende monarchische Herrschaftsform. Vgl. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 18, 105 – 107. Zur Entstehung des Kurfürstentums und der Kurfürstentümer insgesamt siehe Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 107 f., 115. Bei den Kurfürsten handelt es sich durch die Verzahnung von weltlicher und kirchlicher Macht oftmals um kirchliche Würdenträger. 60 Der Kurfürstentag hat sich erst im Spätmittelalter zu jener Wahlinstitution entwickelt, die die deutsche Verfassung über Jahrhunderte geprägt hat. Vgl. Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 208 f. 61 Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 485, 610; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 81 f., 106 f. Wenn nicht zu Lebzeiten eines Kaisers ein neuer römisch-deutscher König gewählt wurde, so trat nach dem Tod eines Kaisers eine kaiserlose Zeit (sog. Interregnum) ein. Das Versterben musste so schnell wie möglich dem Erzbischof von Mainz, dem Kurfürsten von Sachsen und dem Kurfürsten der Pfalz durch den kaiserlichen Hof mitgeteilt werden, die die Nachricht an die übrigen Kurfürsten und die anderen großen Fürsten des Reiches weitergaben. Die Regierung des Reiches übernahmen in dieser kaiserlosen Zeit die Reichsvikare nach der Festlegung der Goldenen Bulle gemeinsam mit den Kurfürsten von Sachsen und der Pfalz, um für die Zeit zwischen dem Tod des Kaisers bzw. Königs und der Bestimmung eines Nachfolgers die laufenden Geschäfte fortzuführen. 62 Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 7. 63 Ausführlich hierzu: Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 675 – 697.
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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werden.64 Der Ablauf der Kür sowohl des Kaisers als auch der Könige war hinsichtlich seiner Zeremonie und seines Symbolgehalts ab der frühen Neuzeit sehr ähnlich. Daher muss in der folgenden Darstellung nicht gesondert zwischen der Kür eines Königs oder der eines Kaiser differenziert werden. Seit dem Hochmittelalter wurde mit der Wahl zum römisch-deutschen König auch der Anspruch auf die Erhebung zum Kaiser verbunden, der jedoch nicht immer durchgesetzt werden konnte,65 da der Kaiser aus den Reihen der römisch-deutschen Könige gekürt wurde. In der Regel fand die Krönung zum römisch-deutschen König ein bis drei Wochen nach der Wahl statt und bestätigte den Wahlakt nur noch formal. Mehrmals wurde dieses Wahlverfahren variiert.66 Für das Verständnis einer „Kür“ wird im Folgenden der Ablauf eines solchen Wahlverfahrens ab dem 14. Jahrhundert, mit Frankfurt als neuem Traditionsort,67 überblicksartig dargestellt. a) Der Ablauf der damaligen Zeremonie Die Königs- und Kaiserwahl war ein komplexer Vorgang, der aus einer Reihe von politischen Entscheidungen und konstitutiven Formalakten bestand. Hierzu gehörten die Einberufung der Wahlversammlung, die Designation des Thronfolgers durch den alten König68 oder Absprachen und Auswahl eines Kandidaten, die Stimmabgabe („Kur“), die Akklamation („Vollbort“) des Volkes, der Empfang der königlichen Würdezeichen, die Krönung, die Königssalbung samt Thronbesteigung, die Huldigung,69 der Treueid und die symbolische Inbesitznahme des Reiches.70 64
Das Königtum stammt historisch aus dem germanischen Bereich, das Kaisertum aus dem römischen. Während die Könige die höchsten monarchischen Würdenträger in der Rangfolge eines souveränen Staates waren – jedoch nur über einzelne Reiche und Ländereien regierten – waren die Kaiser die Herrscher des gesamten Heiligen Römischen Reiches. Der Kaisertitel konnte ab dem Mittelalter regelmäßig nicht mehr vererbt werden. Der Nachfolger eines Königs war normalerweise der älteste Sohn, während zum Nachfolger des Kaisers meist der einflussreichste König eingesetzt wurde. Vgl. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 18. Auch war vielfach die weltliche und geistliche Macht in einer Hand vereint. 65 Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 49. 66 Eine vergleichende Auflistung der Veränderungen vom 11. Jahrhundert bis zum 14. Jahrhundert, als Ausdruck des endgültigen Wandels des spätmittelalterlichen Reichs zu einer Wahlmonarchie, der Aufstieg der Kurfürsten sowie eine Darstellung der einzelnen Königswahlen ab dem 10. Jahrhundert findet sich bei Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 145 ff. 67 Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 339 ff. mit einer eingehenden Darstellung auf den S. 142 ff. 68 Vgl. zur Designation bei Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 82 – 84. 69 Näheres zur Huldigung bei Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 98 – 103. 70 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 74.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Innerhalb eines Monats nach dem Tod des letzten Regenten musste der Kurfürst von Mainz das Wahlkollegium der Kurfürsten zusammenrufen, die mit Mehrheitswahlrecht71 einen neuen König und Kaiser wählten. Diese Vorgaben regelte seit 1356 die Goldenen Bulle72, die Königswahlordnung des Reiches.73 Die traditionelle Wahlstadt Frankfurt unterlag besonderen Verpflichtungen.74 Durch die Wahl erhielt
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Eine wesentliche Neuerung der Goldenen Bulle war, dass der König erstmals mit den Stimmen der Mehrheit gewählt werden konnte und nicht auf die Zustimmung aller (Kur-) Fürsten angewiesen war. Im Hoch- und Spätmittelalter hingegen war die Wahl im Konsens eine vorgenommene Huldigung, bei der die „Stimme Gottes“ sichtbar werden sollte. Da Gott aber nur eine Stimme hätte, musste die Wahl einmütig sein. Hierfür musste aber, damit es keinen König erster oder zweiter Klasse gab, noch fingiert werden, dass die Minderheit sich der Stimme enthalte, sodass letztlich „alle zugestimmt“ hatten. Deshalb reisten Wähler, die mit einem Kandidaten nicht einverstanden waren, gar nicht erst an oder zogen sich vor dem eigentlichen Wahlakt zurück. Diese Fürsten huldigten dem Gewählten zumeist später, was oftmals durch Zugeständnisse und Privilegien erkauft werden musste. Ein solches Verhalten konnte den Grundsatz des freien Wahlrechts jedes einzelnen Wählers wahren, ohne die rechtsförmliche Wahl selbst als zwiespältig erscheinen zu lassen. Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 432 ff.; Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 32; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 73, 112 f. 72 Hierbei handelte es sich um das in Urkundenform verfasste Gesetzbuch, das von 1356 an das wichtigste „Grundgesetz“ des Heiligen Römischen Reiches war. Es regelte vor allem die Modalitäten der Wahl und der Krönung der römisch-deutschen Könige und Kaiser durch die Kurfürsten bis zum Ende des Alten Reiches 1806. Hierbei wurden in großen Teilen jene Verfahren und Grundsätze niedergeschrieben, die sich in den hundert Jahren zuvor bei den Königswahlen herausgebildet hatten. War der Wille zur Macht stark genug oder genügend Einigkeit vorhanden, konnte es geschehen, dass sich die Kurfürsten auch über die Vorgaben der Goldenen Bulle hinwegsetzten. Beispiele hierfür sind die Fristsetzung für den Wahltag, das Wahlrecht des böhmischen Königs oder die Formulierung des Wahleides. Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 639. Ausführlich zum Aufbau der Goldenen Bulle siehe Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 113 f. 73 Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 653. Detailliert zum Verlauf der vorherigen ersten Königswahlerhebungen 1024, 1059, 1077 sowie 1125: Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 14 ff., 62 ff., 104 ff. und 143 ff. sowie insgesamt hierzu Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 98 ff.; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 112 – 115. 74 Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 339 ff. mit einer eingehenden Darstellung auf den S. 142 ff. Die Wahlstadt hatte in einer von Unruhen und Fehden erfüllten Zeit den Schutz der Königswähler mit Hilfe der regulären Stadtwache sowie eigens für die Zeit des Wahlkonvents angeworbener zusätzlicher Truppen zu gewährleisten. Zudem musste der Stadtrat den Schutzeid leisten, dass er die Kurfürsten und ihre Begleitung schütze, keine Fremden in die Stadt hineinlasse und ausweisen werde. Diskutiert wurde darüber hinaus, auch die Bürger Frankfurts eidlich hierzu zu verpflichten. Die Atmosphäre am Wahlort sollte „frey“, eine Stimmabgabe ohne Druck gewährleistet sein. Es bestanden Ängste vor einer Intervention unzufriedener Kandidaten und vor einer Einmischung benachbarter Territorialherren wie 1519, als der englische Gesandte Pace für den Fall eines Votums gegen Karl mit gewaltsamen Auseinandersetzungen angesichts der aufgeheizten Stimmung im Volke rechnete. Zu den Geschehnissen 1519 vertiefend: Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 486 f., 511 – 524; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 113.
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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der Gewählte alle Rechte eines Königs beziehungsweise die des zukünftigen Kaisers.75 Die Besonderheit der Kür zeigte sich in ihrer Durchführung, die von großem Zeremoniell und vielfacher Symbolik mit einem vorgeschriebenen Ablauf geprägt war. Der Wahltag begann mit dem Läuten der Kirchenglocken, während sich die Kurfürsten im Römer in Frankfurt versammelten,76 um ihr Festgewand anzulegen und in den Bartholomäus-Dom zu gehen. Während der folgenden katholischen Messe zogen sich die seit der Reformation evangelisch gewordenen Kurfürsten in das Konklave zurück. Am Tag der Stimmabgabe saßen bei dem entscheidenden Votum in der Kurkapelle der Frankfurter Bartholomäuskirche nur noch die Kurfürsten beisammen. Zu den vorangehenden Zeremonien (Messe, Wahleid) durfte jeder Kurfürst 16 Personen mitbringen. In die Kurkapelle nahm jeder Wähler fünf Begleiter mit, darunter zwei Notare, die dem Versprechen der Kurfürsten beiwohnten, den mehrheitlich gewählten König anzuerkennen und, falls man selbst Reichsoberhaupt werden sollte, die Wahlkapitulation77 zu beeiden. Erst nachdem alle Begleitpersonen die Kapelle verlassen hatten und die Tür vom Reichserbmarschall verschlossen worden war, fragte der Kurfürst, gleichzeitig Erzbischof von Mainz, unter Ausschluss der Öffentlichkeit78 die Kurstimmen auf dem Kurfürstentag in festgelegter Reihenfolge ab.79 Insbesondere in der Anfangszeit soll der Erzbischof von Mainz ein
75 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 114. Der Papst beanspruchte ein Recht auf Prüfung und Bestätigung des Gewählten. Von einer solchen Mitwirkung des Papstes ist in der Goldenen Bulle jedoch keine Rede und wurde deshalb von den Kurfürsten negiert. Vgl. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 113 f. 76 Während zunächst der Ort von Wahl und Krönung nicht zusammenfallen musste, war dies ab 1562 und erstmalig in Frankfurt der Fall. In Frankfurt sind nach den Vorschriften der Goldenen Bulle insgesamt 16 römisch-deutsche Könige (von Wenzel im Jahre 1376 bis Franz II. im Jahre 1792) gewählt worden. Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 75. 77 Seit 1519 legte der neu gewählte König einen Eid auf eine zuvor ausgehandelte „Wahlkapitulation“ gegenüber den Kurfürsten ab. Hierbei musste der neue König zusagen, dass er nicht beabsichtige, das Heilige Römische Reich seines Charakters einer Wahlmonarchie zu berauben, keine Rechte und Privilegien der Kurfürsten anzutasten, und versprechen, die Regelungen der Goldenen Bulle weiterhin zu beachten. Diese Bestätigung wurde nach der Kaiserkrönung wiederholt. Durch diese Vorgaben wird die Handschrift der Kurfürsten in der Golden Bulle sichtbar. Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 434, 736; sowie Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 114. 78 Dieser Öffentlichkeitsausschluss sei eine „Selbstverständlichkeit“ gewesen, ohne dass dies eine lange Tradition gehabt habe. Denn vor 1438 war der Wahlakt öffentlich und an keinen festen Ort gebunden. Vgl. hierzu auch die Abläufe der ersten Königserhebung in Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 433, 640; Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979. 79 Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 485 f. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 113 f. Somit war die Königswahl eine exklusiv kurfürstliche Angelegenheit.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Erststimmrecht,80 vergleichbar einem Vorschlagsrecht, sowie die Funktion einer Wahlleitung bei der Kür besessen haben.81 Doch auch wenn – ähnlich wie bei den Papstwahlen – die Entscheidung hinter verschlossenen Türen getroffen und nur die scheinbar harmonische Konsensentscheidung feierlich verkündet wurde, gingen dem Wahlakt rege und oftmals auch langwierige Verhandlungen voraus.82 Dies lag auch daran, dass Kandidaten mittels finanzieller Zusagen und Kostenerstattungen, militärischer Einschüchterung, aber auch beispielsweise durch Eheversprechen oder kirchenrechtliche Konzessionen der Kurie versuchten, eine Unterstützung durch die Kurfürsten zu erhalten. Auch die Kurfürsten selbst stellten – mal diskreter, mal als detailliert ausgearbeitete Rechnung – Forderungen für ihre Stimme oder für den Verzicht auf eine Kandidatur auf. Da die Forderungen und Versprechungen im Nachhinein aber nicht alle erfüllt wurden, ist umstritten, inwieweit diese die Wahl wirklich beeinflusst haben,83 zumal der letztlich Gewählte vielfach bereits vorher (mehrheitlich) feststand.84
80 Dessen Stimme brachte bei Stimmengleichheit die Entscheidung. Die herausgehobene Stellung des Mainzer Erzbischofs leitete sich aus dem „Primat“ ab, welches in den Kreisen der Mainzer Kirche nachweislich im 11. Jahrhundert vertreten wurde. Dieses Primat im strengen Sinne, so Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 30, 201 f., habe die Mainzer Kirche jedoch nicht besessen. Hieraus wurde ebenfalls das Krönungsrecht abgeleitet sowie die ranghöchste Position bei den anwesenden Geistlichen. Bei Abwesenheit des Mainzer Erzbischofs ging die Funktion auf den nächsten jeweils ranghöchsten Geistlichen über. Vgl. auch Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 74 – 76, der zusätzlich auf die günstige geographische Lage zu Aachen und der Zugehörigkeit zur Diözese Kölns verweist; sowie Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 86 f., 114. 81 Ursprünglich sollte allen Fürsten das Recht zur Wahl und Kür des Königs zustehen. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch eine Gruppe von sieben Kurfürsten herausgebildet, die zunächst ein Vorstimmrecht bei der Kür und später das alleinige Wahl- und Kürrecht bei der Königserhebung besaßen. So wurden die Stimmen einzeln nacheinander, zuerst die der geistlichen dann die der weltlichen Größen, abgegeben. Innerhalb dieser Gruppen dürfte der geistliche bzw. fürstliche Rang entscheidend gewesen sein. Vgl. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 81 f.; Stutz, Der Erzbischof von Mainz und die deutsche Königswahl, 1910. Vertiefend zu den Rängen: Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 8 ff., 30, 201 f. 82 Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 438; Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 507. 83 Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 501 ff., insbes. S. 503 f. So hat Friedrich Wilhelm II. von Preußen seine Forderungen von Anfang an offen erhoben und gab sich, weil eine rasche Erfüllung auf sich warten ließ, betont störrisch und versuchte den Wahltermin hinauszuschieben. Zwar gab es keine Verhaltensrichtlinien für einen Königskandidaten vor der offiziellen Wahl, jedoch schworen die Kurfürsten einen Eid, dass sie ihr Votum ohne jede geheime Absprache, Belohnung oder Entgelt treffen würden. Vgl. auch die Ausführungen zur „gekauften Wahl“ Richards von Cornwalls (1257) bei Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 188 – 203. 84 Vor den Wahlen 1562 und 1575 hatten bspw. alle Kurfürsten außer dem Pfälzer eindeutig – ohne juristische Verbindlichkeit – signalisiert, dass sie den Kandidaten des Kaisers wählen würden. Vgl. Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 507 f.
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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Bei der dem Wahlakt folgenden Krönung zeigte sich erneut sehr deutlich, dass bei einer Kür eine würdevolle, symbolische Zeremonie im Vordergrund stand. Hierzu lud der Erzbischof innerhalb eines Zeitraumes von drei Monaten in den Frankfurter Dom. Für die Krönung kniete der König nieder, es wurden Gebete gesprochen und im Anschluss nahm der König in seinem Betstuhl Platz. Nachdem der Gewählte in lateinischer Sprache die Übernahme seiner Regierungspflichten bestätigt hatte, fragte der Kurfürst von Mainz die Anwesenden, ob sie diesen Fürsten als König annehmen, seinen Befehlen gehorchen und sein Reich festigen wollten, worauf die Kurfürsten dieses bestätigten.85 Nach der anschließenden Salbung86 und dem Anlegen der Reichsinsignien, der Übergabe des Schwertes von Kaiser Karl dem Großen, dem Umhängen des Krönungsmantels und dem Aufsetzen der Reichskrone auf das Haupt des knienden Königs,87 legte der Gesalbte abermals einen Eid in deutscher und lateinischer Sprache ab. Mit einem Te Deum88, das von Kanonensalven und Glockengeläut begleitet wurde, und der Altarsetzung89 wurde der feierliche, rituelle Akt der Wahl abgeschlossen. Das anschließende Läuten der Glocken verkündete die Erhebung zum König für die Allgemeinheit und der Gewählte nahm die Glückwünsche der Kurfürsten entgegen.90 Ab 1338 legten die Kurfürsten fest, dass der von ihnen mehrheitlich Gewählte keiner päpstlichen Approbation seines Königtums mehr bedürfe.91 Nach der Krönung verließ der gewählte König die Kirche und wurde von der sich dort zufällig aufhaltenden Bevölkerung auf dem Balkon des Gebäudes, in dem später das Königsmahl stattfand,92 bejubelt. Den offiziellen Abschluss fanden die Feierlichkeiten wenige Tage nach der Krönung durch die öffentliche Huldigung der 85
Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 142 ff. Zur Rolle der Salbung in der Reflexion von Zeitgenossen siehe Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 741 – 748 sowie Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 57 – 60. 87 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 91 – 93. 88 Das Te Deum ist ein lateinischer feierlicher Lob-, Dank- und Bittgesang. 89 Dieses zentrale Element der spätmittelalterlichen Wahl wurde in der Goldenen Bulle ausgespart. Eingehend zur Altarsetzung: Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 655 ff. 90 Büttner, Der Weg zur Krone, Teilbd. 1, 2012, S. 114 ff., 433 ff. 91 Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 586 – 589, der hieraus ableitet, dass die Königs- und Kaiserkrönung im Mittelalter nur noch ein formaler Akt der Anerkennung des Status quo gewesen sei, aus dem die Kurie aber noch immer die alten Einflussmöglichkeiten auf das Römische Königtum abzuleiten wünschte. Erst 1558 kam es zu einer endgültigen Emanzipation von der Kurie, da nur die Kurfürsten den Stabwechsel von Karl auf Ferdinand unter Einbeziehung von Krönungselementen inszenierten. Damit wurde die Krönung zum Anhängsel der Wahl. Dennoch zelebrierte die Kurie intern die Fiktion, sie werde um die tatsächliche Genehmigung ersucht und erteile nach Prüfung des Wahlakts im geheimen Konsistorium die Zustimmung. 92 Näher hierzu u. a.: Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 95 – 97. 86
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Bürger, die dem Herrscher Treue und Gehorsam schworen. Stellvertretend für alle Untertanen des Heiligen Römischen Reiches geschah dies durch die Frankfurter Bürger – getrennt nach den 14 Stadtquartieren hinter ihrem jeweiligen Fahnenträger – auf dem Römerberg.93 Der neue Regent wiederum, der zu dieser Zeremonie auf einer eigens dazu vor dem Rathaus errichteten Holztribüne Platz nahm, versprach hierbei seinen Untertanen Schutz und bestätigte die Privilegien der freien Reichsstadt Frankfurt. Festzustellen ist, dass sich das Krönungszeremoniell der römisch-deutschen Herrscher im Laufe der Jahrhunderte von der profanen Erhebung des neuen Königs zu einem mehrere Monate dauernden Prozess entwickelte, dessen nach außen sichtbarer Höhepunkt die Krönung des Königs beziehungsweise des erwählten Kaisers war.94 In den Feierlichkeiten und Zeremonien vermischten sich im Laufe der Zeit volkstümliche, sakrale und politische Elemente, die den Charakter des Reiches als Wahlmonarchie widerspiegelten. Durch die aufwendige und prunkvolle Inszenierung der Feierlichkeiten sollte dem Volk und der Welt die Macht des jeweiligen Neugewählten gezeigt werden. Die Wahl selbst gewann im Zusammenhang mit der Ausbildung des Kurfürstenkollegs im Spätmittelalter eine immer stärkere Bedeutung, doch bildete das Ritual der Krönung auch weiterhin einen zentralen Bestandteil der Herrschererhebung, die zwar zeitlich hinausgezögert werden konnte, aber unverzichtbar blieb.95 Die Krönung selbst diente in Deutschland neben der Erhöhung des Herrschers auch der Inszenierung der Kurfürsten als „Säulen des Reichs“, die den neuen König erhoben.96 b) Die Einordnung und heutige Bewertung der damaligen Kür In der neueren Königswahlforschung wird die Kür als spezifische Wahlform der Stimmabgabe im Rahmen der Königserhebung beziehungsweise eine mit Wahlcharakter getroffene Auswahl mit sich anschließender Huldigung, Akklamation97 und Übergabe der Herrschaftszeichen bewertet, in denen sich das Wahlrecht manifestiert habe und in der der Königshuldigung eine besondere Bedeutung zuge93 Somit vollzog das Volk mit der Akklamation lediglich einen formellen Akt, der als Zustimmung des Volkes zur Wahlentscheidung der Kurfürsten betrachtet wurde. Vgl. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 79. 94 Die Wahl und die Krönung waren zwei aufeinander abgestimmte Akte, wobei Erstere die Voraussetzung für Letztere darstellte. Die Wahl wurde im Verlauf des Spätmittelalters immer wichtiger und die Krönung verlor an rechtlicher Bedeutung. Daher wurde die Wahl immer mehr zum entscheidenden und konstitutiven Akt des Herrschaftsantrittes, den die Krönung lediglich ergänzte und rituell zum Abschluss brachte. Obwohl die Wahl zum entscheidenden Akt des Herrschaftsantritts wurde, verlor die Krönung keineswegs an Bedeutung. Vgl. Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 699 m. w. N., 719, 737 f., 763. 95 Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 782. 96 So auch: Büttner, Der Weg zur Krone, Teilb. 2, 2012, S. 782, 785. 97 Vgl. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 85 f.
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kommen sei.98 Bei der damaligen Kür habe es sich um eine stufenweise fortgesetzte Wahl mit weit auseinanderliegenden Formalhandlungen aus Königswahl und -erhebung gehandelt. Gerade im Zeitraum bis 1198 habe man nicht zwischen der „Königswahl“ und der „Thronerhebung“ unterscheiden können, da die Königswahl ein Glied in einer Kette von Handlungen gewesen sei. Alle Handlungen zusammen hätten zur Thronerhebung gehört, sodass die eigentliche Wahlhandlung sich durchaus in den Weiheakt habe hineinziehen können.99 Zugleich hätte das Zeremoniell insgesamt eine gesamtgesellschaftlich bindende, integrierende und befriedende Wirkung gehabt. Die Kür sei somit ein Akt der Willenserklärung gewesen, durch den die in den vorangegangenen Wahlberatungen erzielte Willensbildung über die Person des Thronkandidaten ihren rechtsförmlichen Ausdruck durch einen gleichlautenden Kürspruch erhalten habe.100 Diese Willensbildung sei von den Teilnehmern der Wahlberatungen mitgetragen und verkündet worden. So gesehen sei die Kür einerseits ein Formalakt gewesen, der im Verhältnis zur Auswahl des Kandidaten und dem politischen Wahlakt von rechtsbekundender und deklaratorischer Natur gewesen sei und eine getroffene Entscheidung förmlich verkündet habe – andererseits stelle die Kür im Rahmen des Gesamtvorgangs zugleich den Charakter eines rechtsbegründenden Konstitutivaktes dar.101 Daher lautet eine schlussfolgernde These, dass es nicht gerechtfertigt sei, bereits „die Vorverhandlungen und den Prozess der Einigung der fürstlichen Wähler auf einen Kandidaten als eine Wahl zu betrachten.“102 Auch sei der Rechtsakt der Wahl durch die anschließenden Krönungsfeierlichkeiten lediglich noch einmal bestätigt worden und verliehe dem Neuerwählten sichtbar seine Legitimität.103 In der Neuzeit habe die – sich an die Wahl anschließende – Krönungszeremonie zunehmend an Bedeutung verloren. Durch diesen Bedeutungsverlust sei eine Wandlung der Krönungszeremonie von einem Recht schaffenden Akt zu einer bloßen Symbolfunktion erkennbar gewesen.104 Daher lautet eine These, dass durch die schrittweise Entfernung der neuzeitlichen Krönungen von der Tradition sich das 98
Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 9 f. m. w. N. Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 10 mit Verweis auf Mitteis, Die deutsche Königswahl, 1938, S. 15, 54. 100 Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 32; Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 73. 101 Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, S. 33. 102 Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 4, 2011, S. 87. 103 Reuter-Pettenberg: Bedeutungswandel der Römischen Kaiserkrönung in der Neuzeit, 1963, S. 2. Dass die Kurfürsten keinesfalls akklamierten, nachdem anderswo eine Entscheidung gefallen war, und dem Vollzug lediglich einen feierlichen Anstrich gaben, haben die Kurfürsten immer wieder energisch betont. Vgl. Gotthard, Säulen des Reichs – Die Kurfürsten, Teilbd. 2, 1999, S. 485. 104 Reuter-Pettenberg: Bedeutungswandel der Römischen Kaiserkrönung in der Neuzeit, 1963, S. 2. 99
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Zeremoniell den Menschen der Aufklärung als ein „sinnentleertes, mittelalterliches Rudiment“ dargeboten habe und dass mit den Krönungsfeierlichkeiten „in Wahrheit eine Pseudotradition fortgeschrieben“ wurde.105 Dieses „abgelebte Welttheater“ sei von der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit durchschaut und kaum noch ernst genommen worden.106 Aus der Beschreibung des Ablaufs sowie dessen geschichtswissenschaftlicher Deutung wird erkennbar, dass bei der Kür eines Königs oder Kaisers im Mittelalter – also der Kombination eines Wahlkonvents mit einem Krönungszeremoniell107 – der konkrete Wahlakt nicht durch eine Auswahl von Kandidaten geprägt war, sondern dass der zeremonielle Akt im Vordergrund stand, der vielfach eine zuvor getroffene Entscheidung nur bestätigte und legitimierte. 2. Keine Vergleichbarkeit mit dem päpstlichen Konklave Hinsichtlich der Kür können ferner Assoziationen mit der Papstwahl durch das päpstliche Konklave aufkommen, zumal die Kurfürsten- und die Papstwahl in ihren Anfängen auf den ersten Blick durchaus vergleichbare Bezüge und viele Gemeinsamkeiten aufwiesen und zeitweise bei der Königs- und Papstwahl die gegenseitige Bestätigung und Einsetzung in das Amt essentiell war.108 So wird die Kür der Kurfürsten in der Wissenschaft als verwandt mit kirchlichen Wahlen gesehen,109 zumal vielfach insbesondere auf katholischer Seite geistliches und weltliches Regiment zusammenfielen.
105 Dies unter dem Einfluss eines fortgeschrittenen Grades der Aufklärung und vor dem Hintergrund der Zerstörung der Majestätssymbole im revolutionären Frankreich sowie unmittelbar vor dem endgültigen Zusammenbruch des alten Reiches. Vgl. Haaser, Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt a. M. und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, in: Berns/Rahn, Zeremoniell als höfische Ästhetik im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, 1995, S. 600, 603. 106 Diese Interpretation von Helga Reuter-Pettenberg wird ebenfalls von Haaser, Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt a. M. und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, in: Berns/Rahn, Zeremoniell als höfische Ästhetik im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, 1995, S. 600 wiedergegeben, aber ihr bspw. auf S. 620 widersprochen. 107 Vgl. Haaser, Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt a. M. und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, in: Berns/ Rahn, Zeremoniell als höfische Ästhetik im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, 1995, S. 606. 108 Vgl. zu den Anfängen der diesbezüglichen altchristlichen Kirchenordnung Wolf, Konklave, 2017, S. 30 ff. 109 Siehe hierzu u. a. Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, 1979, u. a. S. 7 und S. 206 m. w. N. In der vorgenannten Literaturfundstelle wird auch eine Ansicht dargestellt, die das institutionelle Vorbild des Wahlverfahrens der Kurfürsten auch in den Formen der Urteilsverkündungen oder ähnlich zu den Formen der Beschlussfassung auf Hof- und Kurfürstentagen sieht.
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Über einen angemessenen Modus der Papstwahl wurde über Jahrhunderte gestritten. Ausdruck hierfür sind verschiedene Papstwahldekrete,110 in denen Genaueres zu den Abläufen festgelegt wurde.111 Anders als bei der Bundesversammlung waren die Zusammensetzung und die Arbeitsweise des Kardinalskollegiums als Wahlorgan ständigen Reformen unterworfen.112 Die Wahl des Papstes war ursprünglich eine Wahl des Bischofs von Rom, dem zusätzlich das Papstamt der römischen Weltkirche übertragen wurde. Sie erfolgte in ihren Anfängen durch die katholische Geistlichkeit113 und das Volk von Rom.114 Somit erfolgte die Wahl auch von zwei unterschiedlichen Gruppen, vergleichbar der heutigen Zusammensetzung der Bundesversammlung aus Bundestag und Bundesrat. Die Volksbeteiligung verkam jedoch immer mehr zu einer Laienaristokratie, es kam zu Ämterkauf und Vetternwirtschaft.115 Hinzu trat das Erfordernis der Einmütigkeit in den ersten zehn Jahrhunderten der Kirchengeschichte und die zeitweise Ernennung der Päpste durch den karolinischen, ottonischen, salinischen und staufischen Kaiser. Das Papstwahldekret des Papstes Nikolaus II. von 1059 schob diesen Verhältnissen einen Riegel vor und übertrug das Wahlrecht exklusiv an das Kardinalskollegium.116 Dies führte zum Ausschluss der Laienbeteiligung und zur Minderung des Einflusses der Kaiser auf die Papstwahl. Die hierdurch angestrebte neue Einmütigkeit blieb jedoch ein Mythos.117 Es gab immer noch Päpste und Gegenpäpste, die Spaltung der abendländischen Christen-
110 So hält Papst Johannes Paul II. (*1920, † 2005) 1996 in seinem Schreiben „ex pressis verbis“ fest, dass es neben den Normen des Codex Iuris Canonici (CIC) dem Papst zustehe, die Modalitäten der Papstwahl in Übereinstimmung mit dem Wandel der Zeit zu bestimmen. Dabei hält er an der Zahl von 120 Wählern fest, ebenso an dem Ausschluss der über 80Jährigen. Vgl. hierzu Melloni, Das Konklave, 2002, S. 132 ff. Anders als bei der Bundespräsidentenwahl versucht der Papst Einfluss auf die Zusammensetzung des Kardinalskollegiums zu nehmen, um so Weichenstellungen für seine Nachfolge vorzunehmen. 111 Über die vor dieser Festlegung eines neuen Wahlverfahrens durch Papst Nikolas II. (*zwischen 990 und 995, † 1061) vorherrschenden Verhältnisse im ersten Jahrtausend siehe ausführlich Melloni, Das Konklave, 2002, S. 21 ff. Erwähnt seien die Papstwahldekrete von 1059, 1179 und 1274, durch die Doppelwahlen weitgehend verhindert werden konnten. Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 96. 112 Vgl. dazu die ausführliche Bearbeitung der Zusammensetzung der acht Konklaven im Laufe des 20. Jahrhunderts und die tabellarische Aufstellung bei Melloni, Das Konklave, 2002, S. 141 ff., 158 f. 113 Die römische Geistlichkeit wurde um das Jahr 500 als „cardinalis“ bezeichnet, die an einer der 25 Hauptkirchen in Rom fest angestellt waren und dem Papst ansonsten beratend zur Seite standen. Dieses Kardinalskollegium, das das Mittelalter und die Neuzeit überdauert hat, ist vergleichbar dem Kurfürstenkollegium im Heiligen Römischen Reich. Vgl. ausführlich Schlaich, Das Recht der Papstwahl, JuS 2001, 319, 321 f. 114 Schlaich, Das Recht der Papstwahl, JuS 2001, 319, 321. 115 Schlaich, Das Recht der Papstwahl, JuS 2001, 319, 321. 116 Melloni, Das Konklave, 2002, S. 36. 117 Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 90.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
heit, der Bruch mit Byzanz wurde zementiert.118 Die Symbiose zwischen kirchlicher und weltlicher Macht, mit dem Papst an der Spitze, hatte keinen Bestand.119 Das dritte Laterankonzil von 1179 führte für die Papstwahl zur Straffung und leichteren Mehrheitsfindung die Zwei-Drittel-Mehrheit ein.120 Bei Verfehlen dieser Mehrheit – was bei der Papstwahl Wochen, Monate, in manchen Fällen sogar Jahre dauern konnte – wurde anders als in der Bundesversammlung, bei der die Anzahl der Wahlberechtigten unverändert bleibt, ein Kompromissverfahren eingeführt. Hierzu wurde das Wahlrecht auf eine kleine Gruppe von drei, fünf oder sieben Kardinälen übertragen, die unterschiedlichen „Parteien“ angehörten und sich zu verständigen hatten.121 Der heute geltende „Codex Iuris Cononici“ (CIC) regelt die Festlegung des Papstwahlgremiums nur in Grundzügen: „Die Kardinäle der heiligen römischen Kirche bilden ein besonderes Kollegium …“ (can. 349 CIC). Somit bleibt den Päpsten die detaillierte Regelungsmöglichkeit in Wahldekreten erhalten, vergleichbar der lückenhaften Normierung der Bundespräsidentenwahl in Art. 54 GG und der dem Bundesgesetzgeber eröffneten Regelungsermächtigung in Art. 54 Abs. 7 GG. Die Kardinäle blieben bis zum Beginn des Konklaves nicht unter sich und standen oft in regem Kontakt mit der Öffentlichkeit sowie zu den sie Unterstützenden. Erst mit dem Rückzug in die Abgeschiedenheit ließ die direkte äußerliche Beeinflussung nach. Heute sind sämtliche Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme zu unterlassen und Geheimhaltung über alles zu wahren, was in irgendeiner Weise die Wahl des Papstes betrifft, kurz vor, während und nach der Wahl.122 Dies ist per Eid zu versichern. Auch werden alle technischen Möglichkeiten genutzt, um ein Abhören der Sixtina, dem Ort des Konklaves, auszuschließen. Sämtliche Stimmzettel und Ergebnislisten sind unmittelbar nach jedem Wahlgang zu verbrennen. Gleiches gilt für private Aufzeichnungen während des Konklaves.123 Trotz aller Geheimhaltung unter Androhung kirchlicher Strafen dringen aber von jeder Papstwahl auch Informationen nach außen.124 Oft ist bekannt, welcher Kandidat in welchem Wahlgang wie viele Stimmen bekommen hat, welche Absprachen 118
Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 90. Melloni, Das Konklave, 2002, S. 33. 120 Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 94 f. 121 Dieses Kompromissverfahren wurde bspw. bei den Papstwahlen von Papst Honorius III. 1216 und Gregor IX. 1227 angewandt. Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 96. 122 Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 157. 123 Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 158 f. 124 So wird bei der Wahl von Joseph Ratzinger (*1927 † 2022) zum Papst 2005 von einem „verbotenen“ Tagebuch berichtet, das alle Details festgehalten hat und an die Öffentlichkeit gelangte. Über die Echtheit und die Autorenschaft dieses Tagebuchs wird vehement gestritten. Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 156 ff. 119
B. Generelle Betrachtung der Prototypen „Parlament“ und „Kürorgan“
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zwischen den Parteien getroffen, welchen „Preis“ ein Kandidat für Stimmen bezahlt und welche Pfründe und Ämter verteilt sowie versprochen wurden.125 Das Zusammentreten von Bundesversammlung und Konklave unterliegt jeweils einer engen zeitlichen Vorgabe. Die Zeitspanne von bis zu 30 Tagen für die Bundesversammlung nach Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG wird bei der Papstwahl unterschritten. Demnach beginnt die Papstwahl nach den Vorschriften des Papstwahldekrets von Papst Johannes Paul II., das „Universi dominici gregis“ von 1996, frühestens am 15. und spätestens am 20. Tag nach dem Tod oder Rücktritt des Papstes mit der Votivmesse für alle wahlberechtigten Kardinäle am Vortag im Petersdom. Anschließend begeben sich die Wahlberechtigten in den Apostolischen Palast und ziehen von dort – mit Chorkleidung versehen – in feierlicher Prozession in die Sixtinische Kapelle ein.126 Nachdem alle Nichtwahlberechtigten die Sixtina verlassen haben, beginnt der eigentliche Wahlakt, anders als in der Bundesversammlung, hinter verriegelten Türen.127 Das Wahlverfahren des Konklaves soll spätestens nach elf Tagen und 34 Wahlgängen abgeschlossen sein. Am fünften Tag, nach 13 erfolglosen Wahlgängen, wird die Wahlhandlung für einen Tag unterbrochen. Nach weiteren erfolglosen Wahlen sind weitere Unterbrechungen, Aussprachen und Ansprachen des ältesten Priesters vorgesehen. Soweit nach Ausreizen des Rahmens immer noch kein Ergebnis feststeht, kann mit absoluter Mehrheit über das weitere Verfahren abgestimmt werden.128 Das bisherige Wahlverfahren mit der Zweidrittelmehrheit wird entweder so lange fortgeführt, bis ein Ergebnis feststeht oder sich das Kardinalskollegium darauf einigt, das Wahlverfahren mit dem Quorum der absoluten Mehrheit der Stimmen fortzusetzen, oder mit den beiden Spitzenkandidaten aus dem unmittelbar vorherigen Wahlakt in eine Stichwahl einzutreten. Es genügt dann die absolute Mehrheit,129 wohingegen bei der Wahl des Bundespräsidenten im dritten Wahlgang schon die einfache Mehrheit gemäß Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG ausreicht. Erst mit der Reform von 1996 entfallen alle herrschaftlichen Symbole und Gesten aus dem Kaiserzeremoniell: Es gibt keinen tragbaren Sessel mehr, auf dem der Papst Platz nimmt und getragen wird, die Huldigung der Kardinäle und von zwölf Gläubigen, die das Volk Gottes symbolisieren,130 findet nicht mehr durch Fuß- und Ringkuss statt. Dafür kommt es zu einer Umarmung mit den Kardinälen, die die 125
Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 159. Den Ort der Papstwahl, die Sixtinische Kapelle, oder auch Sixta genannt, hat Papst Johannes Paul II. 1996 ausdrücklich in seiner „Universi dominici gregis“ für immer festgelegt. Vgl. Melloni, Das Konklave, 2002, S. 133 f. 127 Vgl. Melloni, Das Konklave, 2002, S. 135 f. mit weiteren Einzelheiten; Wolf, Konklave, 2017, S. 108. 128 Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 108 f. 129 Vgl. Melloni, Das Konklave, 2002, S. 139 f.; Wolf, Konklave, 2017, S. 109 f. 130 Vergleichbar mit der Huldigung der Vertreter der Frankfurter Bürger bei der Kaiserkrönung auf dem Römerplatz. 126
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Einbindung des Papstdienstes in die gesamte Kirche symbolisiert.131 Die „Kurinsignien“ und die „Kürhandlungen“ haben sich hier also länger gehalten als die, die mit Beendigung des Kaiser- und Königtums im weltlichen Bereich bereits Ende des 19. Jahrhunderts ihr Ende fanden. Stellt man die Papstwahl der Kaiserwahl und -krönung gegenüber, so zeigt sich in den Anfängen bis weit in die Neuzeit eine Vergleichbarkeit besonders auch im Krönungszeremoniell. Mit der heutigen Bundesversammlung sind jedoch kaum noch Gemeinsamkeiten ersichtlich. Weder bei den entscheidenden Gesichtspunkten des Stimmenquorums, der Anzahl der Wahlgänge, der öffentlichen Wahlhandlung noch bei den Funktionen und Aufgaben zeigen sich Übereinstimmungen.132 Von daher gibt es rechtshistorisch zwar gemeinsame Wurzeln, für die gegenwärtige Organeinordnung der Bundesversammlung lassen sich jedoch keine verwertbaren Vergleiche oder Ähnlichkeiten ableiten.
C. Analyse: Status der Bundesversammlung, Status der Mitglieder und Verfahrensregelungen als Kriterien für die staatsrechtliche Einordnung Nach der Erkenntnis, dass die Bundesversammlung weder ein vollwertiges Parlament noch ein reines Kürorgan darstellt, da sie immer nur einzelne Charakteristika beider Prototypen in sich vereinigt, bedarf es weiterer Kriterien für eine Charakterisierung der Bundesversammlung. Hierzu sind der Status der Bundesversammlung, der Status ihrer Mitglieder sowie die Verfahrensregelungen staatsrechtlich einzuordnen und zu analysieren. Vor dieser Prüfung soll jedoch zunächst beleuchtet werden, ob es im In- und Ausland vergleichbare Verfassungsorgane gibt und inwieweit Schlussfolgerungen für die Charakterisierung der Bundesversammlung möglich sind.
I. Vergleichbarkeit mit Verfassungsorganen im In- und Ausland Ein Kriterium für die staatsrechtliche Einordnung der Bundesversammlung können vergleichbare Verfassungsorgane im In- und Ausland sein. Innerhalb des Staatsgefüges der Bundesrepublik gibt es kein der Bundesversammlung vergleichbares inländisches Verfassungsorgan: In den Bundesrat – durch das jedes Bundesland nach Art. 50 GG bei der Gesetzgebung und Verwaltung des 131
Vgl. Wolf, Konklave, 2017, S. 148. So auch Melloni, Das Konklave, 2002, S. 135, der hervorhebt, dass sich das Wahlsystem der Papstwahl nicht unbedingt durch ein eigenes institutionelles Verfahren von den politischen Institutionen unterscheidet, sondern durch den spezifischen Charakter und den Inhalt. 132
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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Bundes, der politischen Willensbildung des Gesamtstaates sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirkt – werden, wie bereits kurz erwähnt, ausschließlich weisungsgebundene133 Regierungsvertreter entsandt. Anders als die Bundesversammlung debattiert und stimmt der Bundesrat über Gesetzesänderungen auf Bundesebene ab und kann Gesetzesinitiativen nach Art. 76 Abs. 1 GG einbringen. Durch das fehlende freie Mandat – konträr zur Bundesversammlung und auch zum Bundestag – und aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Ausgestaltung handelt es sich beim Bundesrat gerade um kein dem Bundestag entsprechendes parlamentarisches Verfassungsorgan.134 Vielmehr wird der Bundesrat entweder als eine Art zweite Kammer oder als eigenständiges Gesetzgebungsorgan des Bundes gesehen.135 Ebenfalls nicht vergleichbar mit der Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland erscheint die gleichnamige schweizerische Bundesversammlung, die aus zwei gleichgestellten aber getrennt verhandelnden parlamentarischen Kammern von Nationalrat und Ständerat besteht, aber weitere umfassende Kompetenzen besitzt und die Legislative bildet.136 Ebenso scheint die österreichische Bundesversammlung nur auf den ersten Blick mit der Bundesversammlung der Bundesrepublik vergleichbar. Hierbei ist zunächst die ähnliche Stellung im Verfassungsgefüge zu betonen,137 die gemäß Art. 38 B-VG ebenso föderativ aus Abgeordneten des Nationalrates und Mitgliedern des Bundesrates besteht, wobei letztere nach Art. 35 Abs. 3 B-VG von den Landtagen entsendet werden, aber nicht deren Mitglieder sein müssen.138 Ferner besitzen die Mitglieder der österreichischen Bundesversammlung ebenfalls Immunität nach Art. 57 B-VG beziehungsweise Art. 96 Abs. 1 B-VG. Die Aufgaben der österreichischen Bundesversammlung, die durch das Staatsoberhaupt einberufen wurde,139 133 Die Weisungsgebundenheit der Bundesratsmitglieder ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz normiert, sondern wird durch das Gebot der einheitlichen Stimmabgabe der einzelnen Länder, der Mitwirkung der Länder und nicht der einzeln entsandten Mitglieder nach Art. 50 GG, Art. 51 Abs. 2 und Abs. 3 GG sowie drittens aus dem Umkehrschluss aus Art. 53a Abs. 1 S. 3 GG und Art. 77 Abs. 2 S. 3 GG gesehen, die als Ausnahmeregelungen ausdrücklich eine Weisungsfreiheit im Gemeinsamen Ausschuss und im Vermittlungsausschuss normieren. 134 So auch: Schliesky, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 207 m. w. N. 135 Vgl. die konträren Positionen zum Bundesrat bspw. bei: Dörr, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 53. Edition: 15. 11. 2022, Art. 50, Rn. 8, oder als zweite Kammer, so BVerfGE 37, 363, 380. 136 Art. 148, 156 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 137 Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 456. 138 Die vergleichbare föderalistische Zusammensetzung ebenfalls betonend: Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 466 f. 139 Ausgenommen sind die Fälle, in denen das Staatsoberhaupt selbst Beratungsgegenstand der Versammlung ist, wie bspw. im Falle einer Anklage oder Absetzung, bei denen das Ein-
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
bestanden in einer gemeinsamen öffentlichen Sitzung zur Angelobung des Bundespräsidenten und in der Beschlussfassung über eine Kriegserklärung. Die österreichische Bundesversammlung wird neben dem National- und dem Bundesrat als ein drittes parlamentarisches Verfassungsorgan auf Bundesebene eingeordnet.140 Entscheidend ist, dass die österreichische Bundesversammlung nur von 1920 bis 1929 für die Wahl des österreichischen Bundespräsidenten zuständig war.141 Mit der Verfassungsreform von 1929 wurden dem österreichischen Staatsoberhaupt deutlich umfassendere Kompetenzen übertragen, sodass auch die heutige Bundesversammlung Österreichs andere Aufgaben wahrnimmt.142 Seit der Verfassungsreform wählt das österreichische Volk direktdemokratisch den Bundespräsidenten.143 Grund für die Verfassungsänderungen war die Absicht, die Schwächen und Fehler des rein parlamentarischen Regierungssystems durch die „Entmachtung“ des Nationalrates bei gleichzeitiger Stärkung der Exekutive zu beheben.144 Dem Vorbild der Verfassung der Weimarer Republik von 1919 folgend, wurde das Staatsoberhaupt als Stabilisator angesehen und als Gegengewicht zum Parlament konstruiert.145 Das noch
berufungsrecht auf den Bundeskanzler bzw. das Kollegium der drei Nationalratspräsidenten übergeht. 140 Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92. 141 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 288, 290 – 293 zur erheblichen Aufwertung der Stellung und Kompetenzen sowie einer Amtszeitverlängerung des österreichischen Bundespräsidenten von vier auf sechs Jahre durch die Verfassungsnovelle von 1929. 142 Zwar sind die Kompetenzen der österreichischen Bundesversammlung nicht unbeschränkt, im Ergebnis jedoch deutlich umfassender als die der Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn diese sich nach Art. 38 bis 40 B-VG – abgesehen von der Zuständigkeit über die Kriegserklärung nach Art. 38 B-VG – ausschließlich auf das Amt des Bundespräsidenten beziehen. Vgl. Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92. Die umfassenderen Kompetenzen wurden bislang nicht ausgeübt, da die österreichische Bundesversammlung seit 1945 lediglich zur Angelobung eines gewählten Bundespräsidenten zusammengetreten ist. 143 Die direktdemokratische Wahl war nicht unumstritten und wurde von der Sozialdemokratie durchgesetzt. Jedoch fand erst 1951 eine Bundespräsidentenwahl durch Volkswahl statt, da zuvor aufgrund besonderer Verfassungsbestimmungen und aufgrund instabiler Umstände die Wahl abweichend auf die Bundesversammlung übertragen worden war, wie es schon zuvor die Verfassung von 1920 geregelt hatte und es praktiziert wurde. Eine solche Verzögerung gab es, wie oben ausgeführt, auch in der Weimarer Republik, in der erstmalig 1925 die Reichspräsidentenwahl durch das Volk stattfand. Vertiefend zum „Verfassungskampf“, der in die Verfassungsreform mündete: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 291 – 293, 334, 459 f., 467. 144 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 455. 145 Dickinger, Der Bundespräsident im politischen System Österreichs, 1999, S. 52 ff.; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 455.
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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heute in der Fassung von 1929 geltende österreichische B-VG146 hat sich insbesondere in Bezug auf die Stellung des Staatsoberhauptes mit präsidialem Einschlag an Weimar orientiert.147 Diese Orientierung stellt ein weiteres wichtiges Argument gegen die Vergleichbarkeit der deutschen mit der österreichischen Bundesversammlung dar. Im Gegensatz dazu hat sich der Parlamentarische Rat für ein rein parlamentarisches Regierungssystem und für die Abschaffung einer Direktwahl des Bundespräsidenten ausgesprochen und hierin eine bewusste Abgrenzung zur Weimarer Reichsverfassung vollzogen. So war die Weimarer Verfassung für das Grundgesetz und für das heutige B-VG ein Verfassungsmodell, an dem sich die Gründer beider Staaten – unter umgekehrten Vorzeichen – orientierten.148 Eine ähnliche Unvergleichbarkeit gilt für das oben bereits angesprochene, in den Vereinigten Staaten von Amerika bestehende Electoral College (deutsch: „Wahlmännerkollegium“, wörtlich: „Wahlkollegium“), das nach Art. 2 der amerikanischen Verfassung alle vier Jahre den Präsidenten und Vizepräsidenten wählt. Die Wahlmänner wählen nach dem „Winner-takes-all“-Prinzip und können bei ihrer Wahlentscheidung in 24 von 26 Staaten – wie bereits aufgezeigt – entgegen dem Wählerwunsch abstimmen (sog. faithless elector). Der entscheidende Aspekt für die Unvergleichbarkeit mit der Bundesversammlung ist hierbei, dass das Electoral College als komplettes Gremium niemals gemeinsam an einem Ort zusammenkommt, sondern die Wahlmänner sich am Montag nach dem zweiten Mittwoch im Dezember in den Hauptstädten ihres jeweiligen Bundesstaates treffen. Ihr versiegelter Stimmzettel wird dem amtierenden amerikanischen Vizepräsidenten – zugleich Präsident des Senats – übersandt und am ersten Sitzungstag des neuen USKongresses, der in der Verfassung auf den 3. Januar festgesetzt wurde, in Anwesenheit beider Kammern von Repräsentantenhaus und Senat ausgezählt.149
146 Grund hierfür ist, dass das Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 nach 1945 für den staatlichen Neubeginn Österreichs wieder in Geltung gesetzt wurde. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 293, 467. 147 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 292 f., 455. 148 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 467, ferner eingehend zu den Kompetenzen des Bundespräsidenten Österreichs sowie einen umfassenden Rechtsvergleich mit dem deutschen Bundespräsidenten auf den S. 293 – 332, 468 – 507. 149 Eingehend: Lösche, Länderbericht USA. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, 2008.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
II. Auslegung der grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Normen sowie der Staatspraxis Mangels Vergleichbarkeit mit Verfassungsorganen im In- und Ausland bedarf es für die staatsrechtliche Einordnung einer Auslegung der Normen des Grundgesetzes, der einfachgesetzlichen Konkretisierungen sowie der Staatspraxis, bevor es zu einer abschließenden Einordnung und Qualifizierung kommen kann. Hierbei sind die bisherigen Erkenntnisse sowie die bundesverfassungsgerichtliche Argumentation einzubeziehen. 1. Das Ausspracheverbot (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG) Gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG wird der Bundespräsident ohne Aussprache gewählt. Das Ausspracheverbot ist die einzige verfassungsrechtliche Vorgabe für das Verfahren der Wahl, ihr kommt daher für die Charakterisierung der Bundesversammlung eine hohe Bedeutung zu. a) Der Sinn und Zweck des Ausspracheverbots nach der Preußischen Verfassung Das grundgesetzliche Ausspracheverbot wurde der Preußischen Verfassung vom 30. November 1920 entnommen.150 Art. 45 S. 1 der Preußischen Verfassung lautete: „Der Landtag wählt ohne Aussprache den Ministerpräsidenten.“ Nach Satz 2 ernannte der gewählte Ministerpräsident Preußens die Staatsminister. Die Regelung des Art. 45 der Preußischen Verfassung sollte bezwecken, dass staatsrechtlich die Regierung dem Landtag unabhängig gegenüberstand und der Ministerpräsident ohne inhaltliche Verpflichtung gegenüber dem Landtag entsprechend seiner Richtlinienkompetenz seine Regierungspolitik gestalten konnte. Aus diesem Grund sollte der Ministerpräsident seine Minister auch ohne Beeinflussung des Landtags bestimmen.151 Durch die Abhängigkeit der Regierung vom Landtag fand tatsächlich jedoch eine politische Aussprache zwischen den Parteien statt, die aufgrund der Normierung des Art. 45 der Preußischen Verfassung von der Öffentlichkeit hinter die Kulissen verlagert wurde.152 Die Öffentlichkeit erfuhr nur im Falle von Indiskretionen etwas über den Verhandlungsstand und durch das sich in der Wahl des Ministerpräsidenten ausdrückende Ergebnis. Die sich durchsetzende Partei 150 Hierauf ebenfalls hinweisend: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72. Vgl. auch Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 81 m. w. N., wonach die Wahl „ohne Aussprache“ ein Relikt Rousseau’schen Gedankenguts sei. Demnach sei die Wahl ohne Aussprache das Ideal einer demokratischen Entscheidung, die nach einer „Beratung des hinreichend informierten Volkes“ – bei der „die Staatsbürger keinerlei Verbindung untereinander haben“ – erfolge. 151 Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen, Kommentar, 1928, S. 139 f. 152 Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen, Kommentar, 1928, S. 140.
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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stellte den Ministerpräsidenten, sodass rein tatsächlich diesem auch ein Programm mit auf den Weg gegeben wurde. In der Praxis kann eine solche stillschweigende Verpflichtung eine viel schärfere Abhängigkeit begründen als offizielle Festlegungen.153 Ein Regieren im Preußischen Landtag war somit nur in Abhängigkeit zu den Parteien möglich. In einer Landtagssitzung am 30. Januar 1925 wurde der Versuch einer Umgehung des Ausspracheverbots durch einen Antrag, dass zunächst eine „Aussprache über das Programm derjenigen, die hier als Minister kandidieren wollen“ stattfinden solle, vom Präsidium abgelehnt.154 Das damalige Präsidium des Preußischen Landtags legte das Ausspracheverbot sehr weit aus. Der Vorläufer des grundgesetzlichen Ausspracheverbots in der Preußischen Verfassung bezweckte somit keine würdevolle, kürähnliche Einsetzung, sondern sollte die Unabhängigkeit des Ministerpräsidenten und seiner Minister bei der späteren Regierungsarbeit gewährleisten. Die Normierung eines Ausspracheverbots in der Preußischen Verfassung kann folglich – aufgrund der abweichenden Intention – nicht als Beleg herangezogen werden, dass es sich bei der Bundespräsidentenwahl nicht um eine Wahl, sondern eine kürähnliche Einsetzung handeln müsse. b) Der Sinn und Zweck des Ausspracheverbots nach dem Grundgesetz Das für alle Wahlgänge geltende Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG verfolgt nach einhelliger Ansicht in den Kommentierungen den Zweck, das Amt, die Person und die Autorität des zukünftigen Bundespräsidenten aus politischen Debatten und aus einer – möglicherweise unsachlichen – Personaldiskussion herauszuhalten.155 Das Amt und der Kandidat sollen vor persönlichen Angriffen und unsachlicher Kritik geschützt werden, sodass der Gewählte sein Mandat ohne Beschädigung seiner Person oder des Amtes antreten kann.156 Das Ausspracheverbot erscheint daher im Sinne einer wirksamen Ausübung der Integrationsfunktion des Präsidenten geboten.157 153
So auch: Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen, Kommentar, 1928, S. 140. Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen, Kommentar, 1928, S. 141. 155 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 239; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 33, S. 1611. 156 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 27; Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 239; Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 335; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 21. 157 So auch: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127. 154
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2014 wurde der Zweck des Ausspracheverbots dahingehend erweitert, dass Schutzzweck auch die Würde des Wahlaktes sei, der dem „parteipolitischen Streit enthoben sein soll“ und sich sowohl an die Mitglieder der Bundesversammlung als auch an die Kandidaten – unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur Versammlung – richte.158 Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass die Bundesversammlung als Forum für eine politische Auseinandersetzung oder jedenfalls für eine Selbstdarstellung missbraucht werden könne.159 Nur so werde der Bundespräsident auf eine Weise ins Amt gesetzt, die der „diesem Amt zukommenden Würde“ entspreche.160 Diese durch das Bundesverfassungsgericht erfolgte Erweiterung vermag nicht in Gänze zu überzeugen, denn durch die verfassungsgerichtliche Betonung einer „besonderen Würde des Wahlaktes“, ohne explizite normative Anknüpfung, wird dem formalen Wahlakt eine höhere Gewichtung gegenüber der demokratischen Legitimation des Staatsoberhauptes zugesprochen.161 Ferner resultiert aus dem Ausspracheverbot ein vorgelagerter informeller mehrheitsbeschaffender politischer Prozess, in dem ein Ausgleich zwischen den Interessen erfolgt.162 Anstatt die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung mit der Parteiendemokratie zu versöhnen, wird durch den Urteilsspruch und die Bezugnahme auf die Kurfürstenwahlen der Wahlakt gedanklich überhöht. Dennoch ist es richtig, dass sich aus dem Bundespräsidentenamt selbst eine besondere Würde ergibt, die ihren Niederschlag in einem diesen Ansprüchen gerecht werdenden Wahlablauf finden muss. Trotz der Ausstrahlung der besonderen Würde, auch auf das Wahlgremium und das Verfahren, erscheint das im Eingangsstatement
158 BVerfGE 136, 277, 315 sowie Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 98 f.; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 42; v. Coelln, in: Gröpl/ Windthorst/von Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 9; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 239; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 573; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 159 BVerfGE 136, 277, 315 f. Vgl. auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323. Differenzierend hierzu Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 81, die betonen, dass der einzige Schutzzweck des Ausspracheverbots in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG die „Dignität“ des Kreationsaktes als solche sei. Es sei ein Missverständnis, dass das Ausspracheverbot dem „Schutz“ der Bewerber und des späteren Amtsinhabers vor öffentlicher und diffamierender Diskussion dienen solle, da eine solche Debatte einer Person, die sich um ein hohes Verfassungsamt in einer Demokratie bewirbt, zuzumuten sei. 160 BVerfGE 136, 277, 317. Siehe auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323. 161 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72. 162 Vgl. Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 173.
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vorgetragene163 „Bewahren der zeremoniellen, symbolischen Bedeutung des Wahlakts“ zu stark gewichtet.164 Der verfassungsgeschichtliche Pathos, der darin zum Ausdruck kommt, wirkt aufgrund der gut durchdachten Regelungen des Grundgesetzes an dieser Stelle fast deplatziert.165 Die Bewertung der Wahlhandlung als eine zeremonielle Inszenierung wird der eigentlichen Bedeutung der demokratischen Legitimation des Staatsoberhauptes nicht gerecht.166 Mit dem Ausspracheverbot selbst kann die Notwendigkeit eines besonderen und würdevollen Verfahrens aus rein pragmatischen Gründen gerechtfertigt und normativ gestützt werden.167 Damit kann eine – damals von Seiten der NPD, zukünftig auch von anderen Parteien denkbare – Instrumentalisierung und Zweckentfremdung der Bundesversammlung zu einem Ort politischer Auseinandersetzung in gleicher Weise, jedoch dogmatisch überzeugender, auch zukünftig vorgebeugt und unterbunden werden. Insofern bedarf es für das Herausstellen der Besonderheit der Bundesversammlung und der besonderen Würde des Amtes – normativ gestützt auf Sinn und Zweck des Ausspracheverbots in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG – keines hauptsächlichen beziehungsweise alleinigen Rückgriffs auf historische Argumente für die Einordnung als Organ.168 Vielmehr soll das Ausspracheverbot bei der Wahl des Bundespräsidenten als ein Akt gesellschaftlicher Integration – bei den in der Bundesversammlung aufeinandertreffenden verschiedenen politischen Strömungen – wirken.169 Allein das Ausspracheverbot schützt aus sich heraus die Versammlung – entsprechend der Intention des Verfassungsgebers – vor der Gefahr, als Forum parteipolitischer Kontroversen missbraucht und entwürdigt zu werden.170 Das Verbot der Aussprache ist indes kein Spezifikum der Wahl des Bundespräsidenten. So wird der Bundeskanzler, der gerade nicht dem Parteienstreit enthoben ist und sich im vorherigen öffentlichen Wahlkampf mit den anderen Parteien und Po163 Vgl. Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen Bundesversammlung am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3. 164 In die gleiche Richtung wertend: Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 165 Vgl. auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323, der abweichend vom verfassungsrechtlichen Pathos spricht und hierzu ausführt, dass dieser nicht selbstverständlich sei und im Urteil dadurch zu rechtfertigen versucht werde, dass die besondere Würde des höchsten Staatsamtes wiederholt in den Mittelpunkt der Ausführungen gestellt wird. 166 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 239. 167 So auch: Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 326. 168 Ähnlich auch: Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 169 Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 170 So auch: Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 325.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
sitionen auseinandergesetzt hat, nach Art. 63 Abs. 1 GG ebenfalls ohne Aussprache vom parlamentarischen Bundestag gewählt.171 Das Ausspracheverbot nach Art. 63 Abs. 1 GG gilt aber nur im ersten Wahlgang, wenn der Personalvorschlag vom Bundespräsidenten kommt, der in einer möglichen zweiten und dritten Wahlphase kein Personalvorschlagsrecht mehr innehat.172 Als Umkehrschluss der Regelungen von Art. 63 Abs. 3 und Abs. 4 GG, die ab dem zweiten Wahlgang weder einen Wahlvorschlag des Bundespräsidenten noch ein Ausspracheverbot vorsehen, folgt, dass durch das Ausspracheverbot vorrangig die Autorität des Bundespräsidenten geschützt werden soll, der durch sein Vorschlagsrecht in die erste Wahlphase – außerhalb seiner sonst meist nur notariellen Ernennungsfunktion – aktiv eingebunden ist.173 Gleichwohl wird auch bereits der erste Wahlgang über den Personalvorschlag des Bundespräsidenten als ein Wahlakt und nicht als eine kürähnliche Handlung eingeordnet. Ebenso erfolgt die Wahl der Verfassungsrichter ohne Aussprache. Diese werden nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG im Plenum je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG auf Vorschlag des Wahlausschusses durch qualifizierte Mehrheitsentscheidung in geheimer Wahl gewählt. Die Intention des Ausspracheverbots bei der Richterwahl ist, die Kandidaten zu schützen und eine Politisierung dieser Wahl zu vermeiden, da einer „geräuschlosen“ Bestimmung von Richtern ein hoher Eigenwert zukommt.174 Doch abweichend zur Bundesver171
Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 240; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.1; Umbach, in: Umbach/ Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 21. Dieses wird teilweise nicht als Schutzvorschrift für den Bundespräsidenten ausgelegt. Bei seinem Wahlvorschlag für das Amt des Bundeskanzlers sei vielmehr die Zustimmung oder Ablehnung zur vorgeschlagenen Person zentral und nicht ein Schutz des Bundespräsidenten durch Huldigung seines Vorschlages. Die Autorität des Bundespräsidenten würde allenfalls durch eine Ablehnung seines Kanzlervorschlages tangiert, nicht jedoch durch eine mögliche Aussprache. 172 Mager/Holzner, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 63, Rn. 22, 26. Bislang wurden alle Bundeskanzler im ersten Wahlgang gewählt. A. A.: Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 63 (Stand: 2008), Rn. 28; Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 63 Rn. 22, die das Ausspracheverbot auch auf die weiteren Wahlgänge nach Art. 63 Abs. 3 und Abs. 4 GG beziehen wollen, obwohl der Bundespräsident bei neuen Kandidatenvorschlägen nicht mehr involviert ist, denn Art. 63 Abs. 1 GG bezwecke ausschließlich den Schutz des Kanzlerkandidaten und nicht (auch noch) den des Bundespräsidenten. So auch: Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 241. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich der Bundeskanzler ohnehin nicht einer auf ihn bezogenen Aussprache entziehen kann, was die parlamentarischen Debatten im Anschluss an Regierungserklärungen und insbesondere bei den Haushaltsdebatten zeigen. 173 So auch Epping, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 63 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 18; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 25. Abweichend auch den Kandidaten einbeziehend bspw.: Schröder, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2005, § 65, Rn. 15. 174 Mit Josef Christ wurde erstmalig, nach der Reform des Wahlverfahrens im Jahr 2015, am 5. September 2017, ein Richter am Bundesverfassungsgericht nicht durch den Wahlaus-
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sammlung betrifft das Ausspracheverbot nach § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG nur einen kleinen Bereich, nämlich die Wahl der Bundesverfassungsrichter bei ansonsten freier Debattenkultur im Bundestag und die dargestellte Ausnahme im ersten Wahlgang bei der Wahl des Bundeskanzlers. Ohnehin wird im Richterwahlausschuss über einen längeren Zeitraum über die Kandidaten diskutiert, sich also „ausgesprochen“. Die öffentliche Anhörung und Debatte im Europäischen Parlament gemäß Art. 17 Abs. 7 EUV bei der Besetzung der Ämter des Kommissionspräsidenten und der Kommissare verdeutlicht,175 dass ein Ausspracheverbot nicht zwingend für eine Überparteilichkeit steht oder gar für eine Besetzung hervorgehobener Stellungen für essentiell gehalten wird.176 Vielmehr stellt dies eine gesetzgeberische Entscheidung dar, die nicht per se inkompatibel mit der Einordnung, der Qualifizierung oder den Aufgaben eines Parlamentes oder anderer gewichtiger Gremien ist. Dem Bundesverfassungsgericht ist jedoch dahingehend zuzustimmen, dass aufgrund des Ausspracheverbots die Bundesversammlung nicht für eine parlamentarische Debattenkultur von Rede und Gegenrede konzipiert wurde. Die Kreation der Bundesversammlung als exklusives Organ für die Wahl des Bundespräsidenten sorgt für eine Distanz vom alltäglichen Politikbetrieb und vom Parteienstreit, sie ist Ausdruck der besonderen Würde und Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten.177 Unabhängig von der später im Rahmen des Ablaufs zu klärenden Frage der Bedeutung und Reichweite dieses Ausspracheverbots in Einzelfällen – auch unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Bindung aller Staatsgewalt an das schuss, sondern direkt vom Plenum des Deutschen Bundestages gewählt. Während in der Vergangenheit die Wahl im Bundesrat durch Plenumsentscheidung getroffen wurde, übertrug der Bundestag die Richterwahl auf einen 12-köpfigen Wahlausschuss, dessen Mitglieder nach den Regeln der Verhältniswahl bestimmt wurden. Über die Verfassungsmäßigkeit einer solchen indirekten Richterwahl, insbesondere ob es sich um eine Wahl „vom Bundestag“ handelt, wurde vehement gestritten, vom Bundesverfassungsgericht 2012 jedoch für verfassungsgemäß erklärt, da auch eine solche indirekte Wahl ohne Aussprache geeignet sei, die Autorität und Funktionsfähigkeit des Gerichts zu sichern. Vgl. BVerfGE 31, 230 ff.; Schröter, Richterwahl im Bundestag, Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht, 20. 7. 2017, https://www.juwiss.de/ 103-2017/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 175 Die Kandidaten für die EU-Kommission müssen sich zunächst einer Anhörung im Europäischen Parlament stellen, um ihre Einigung und Befähigung für das vorgeschlagene Amt unter Beweis zu stellen. Diese Anhörung wird meist durch entsprechende Ausschüsse des Europäischen Parlamentes durchgeführt und per Web-Stream über die Website des Europäischen Parlamentes auch öffentlich übertragen. Erst nach der erfolgreich bestandenen Anhörung kann der Kandidat durch das Plenum des Europäischen Parlamentes zum Mitglied der EU-Kommission gewählt werden. 176 So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 239; Pieper, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.1. 177 Ebenso: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 40; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861.
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Öffentlichkeitsgebot – hat das „parteiliche Bestellungsverfahren“ der Bundesversammlung in den letzten Jahrzehnten weder das Amt noch die Inhaber beschädigt. Sofern das bundesverfassungsgerichtliche Urteil auch bezweckt hatte, die Bundesversammlung von jeglicher parteipolitischer Auseinandersetzung freihalten zu müssen, finden sich insoweit keine überzeugenden Gründe für solche Befürchtungen. Stattdessen hätte das Bundesverfassungsgericht – in der bildlichen Formulierung Pehles – den oben im Eingangsstatement zitierten „weißen Fleck auf der verfassungspolitischen Landkarte“ mit „parteipolitischen Farben“ ausmalen können.178 Daher kann der Positionierung, wonach die Aufgabe der Bundesversammlung ausschließlich die „Kür“ des Bundespräsidenten durch zeremoniellen Wahlakt sei, in dieser Absolutheit nicht gefolgt werden.179 2. Der Kreationsakt (Art. 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 6 GG) sowie die demokratische Legitimation und Repräsentation (Art. 54 Abs. 3 GG) Die Bundesversammlungsmitglieder wählen und legitimieren als „Kreationsorgan“ nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG mit entsprechendem Mehrheitsquorum nach Art. 54 Abs. 6 GG in freier Stimmabgabe den Bundespräsidenten nach einem formalisierten Ablauf, über dessen Ordnungsgemäßheit der Sitzungsleiter in einer öffentlichen Sitzung wacht. Für diesen „Kreationsakt“ setzt sich die Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 3 GG „aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden“, zusammen.180 In Abgrenzung zu den permanent tagenden Parlamenten konstituiert sich die Bundesversammlung ausschließlich zu diesem Zweck181 und in der Regel einmal in fünf Jahren (vgl. Art. 54 Abs. 2 S. 1 GG). 178
Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 326. 179 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 128. 180 Vgl. v. Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland – Eine Einführung, 2017, S. 342; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner GG, 3. Aufl. 1999, S. 57; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 4; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 3; v. Ooyen, Das Amt des Bundespräsidenten, Fehldeutungen im parlamentarischen Regierungssystem, 2015, S. 15; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 241. 181 BVerfGE 136, 277, 312; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. Vgl. auch Jäger, Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan, in: Heckmann/Schenke/Sydow, Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, 2013, S. 220, der anregt, die Bundesversammlung als einen breit legitimierten Nationalkonvent, der die politischen Kräfte der Zeit vereinigt, auch mit anderen Aufgaben – wie bspw. Verfas-
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Der Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG „gewählt“ impliziert ein Wahlverfahren mit einer Wahlfreiheit.182 Ginge es tatsächlich um eine Akklamation eines Kandidaten in einem rein kürähnlichen Verfahren, ließe sich dies nicht mit dem Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG vereinbaren. Es erschließt sich deshalb nicht, weshalb das Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG von einer „Kür“ spricht. Auch die Möglichkeit der Bundesversammlungsmitglieder sich auf Grundlage von Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG einen Wahlvorstand zu wählen, passt nicht zu dem Akklamationsgedanken einer Kür. Ferner spricht gegen die Einordnung als kürähnliches Organ schon die nach Art. 54 Abs. 6 GG vorgesehene Option mehrerer Wahlgänge sowie die Möglichkeit, jeweils mehrere und neue Kandidaten aufzustellen. Man kann nicht von einer „vorgezeichneten Deklaration“ sprechen, wenn – wie bislang drei Mal vorgekommen183 – ein Kandidat in zwei Wahlgängen keine absolute Mehrheit nach § 54 Abs. 6 S. 1 GG erzielen, sondern erst im dritten Wahlgang lediglich eine relative Mehrheit nach Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG hinter sich vereinigen konnte. Sofern es sich tatsächlich um eine Kür durch die Bundesversammlung handeln würde, wäre zudem von höheren Zustimmungsquoren als die nach Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG normierte absolute Mehrheit in den ersten beiden Wahlgängen auszugehen. Wie das Zweidrittelerfordernis der gesetzlichen Mitgliederanzahl des Art. 79 Abs. 2 GG für die Änderung des Grundgesetzes zeigt, war und ist dem Grundgesetz ein höheres Zustimmungsquorum nicht fremd. Ferner sollte bei der Kür eines Kandidaten eine hohe Anwesenheitsquote Bedingung für die zu zelebrierende Akklamation sein. Jedoch schweigt sich das Bundespräsidentenwahlgesetz anders als die Geschäftsordnung des Bundestages über die Voraussetzungen einer Beschlussfähigkeit der Bundesversammlung aus.184 Abweichend zur dargestellten Königskür geschieht die Stimmabgabe in der Bundesversammlung zwar geheim, aber nicht hinter verschlossenen Türen. Diese Öffentlichkeit der Bundesversammlung ist ein signifikanter Unterschied zu einer Kür und spricht dafür, dass die Bundesversammlung gerade keine einem Konklave vergleichbare Versammlung ist, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Entscheidung getroffen hat, die dann öffentlichkeitswirksam und zeremoniell der Bevölkerung präsentiert wird. sungsänderungen – aufzuwerten, um eine Alternative zu geforderten Plebisziten zu erreichen und gleichzeitig die Nachteile von Volksabstimmungen auszuschließen. 182 So auch: Sauer, „Den wähle ich nicht!“, verfassungsblog.de, 7. 2. 2018, https://verfas sungsblog.de/den-waehle-ich-nicht/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 183 Eine Entscheidung erst im dritten Wahlgang fiel in der fünften Bundesversammlung 1969, Wahl von Gustav Heinemann (SPD), in der zehnten Bundesversammlung 1994, Wahl von Roman Herzog (CDU), und in der 14. Bundesversammlung 2010, Wahl von Christian Wulff (CDU). 184 Ein Grund dafür, dass eine bestimmte Anwesenheitsquote nicht gesetzlich normiert ist, könnte in der regelmäßig nur alle fünf Jahre stattfindenden Bundesversammlung und deren bedeutsamer Aufgabe liegen, sodass ohnehin von einer hohen Anwesenheit auszugehen ist.
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Zudem erscheint es nicht schlüssig, wenn das Bundesverfassungsgericht im Weiteren bei den Entscheidungsgründen von der Bundesversammlung als einem „Wahlgremium“185 und bei den Bundesversammlungsmitgliedern von „Wahlmännern“186 spricht, gleichzeitig aber betont, dass die Bundesversammlung nicht vergleichbar mit einem Parlament sei und den Versammlungsmitgliedern keine vergleichbaren Rechte zustünden. Denn Charakteristikum dieser indirekten Wahlform mittels Wahlmännern – wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten187 – ist die Ungebundenheit der Wahlmänner an den Wählerwillen. Ein solches freies Mandat, das Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 3 BPräsWahlG auch für die Bundesversammlung normiert, spricht gegen eine Wertung, dass ein bereits feststehender Kandidat lediglich „gekürt“ wird, selbst wenn der Gang in der Bundesversammlung in vielen Fällen weitestgehend vorhersehbar ist. Eine allein auf eine zeremonielle Kür fixierte Interpretation verträgt sich nicht mit einem ungebundenen Wahlgremium. Bezugnehmend auf die Kür im damaligen Heiligen Römischen Reich hat eine Wahl mehr Aufgaben als die reine Bestätigung einer zuvor bestimmten Person. Eine Wahlveranstaltung politisiert, mobilisiert die Wähler und legitimiert das politische System, sodass selbst in Diktaturen „Wahlen“ abgehalten werden, um den Anschein von Legitimität zu erzeugen, obwohl das politische Personal bereits im Vorfeld feststeht. Daher kann auch dann von einer Wahl in Abgrenzung zu einer Kür gesprochen werden, wenn die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung zu keiner Überraschung hinsichtlich des späteren Endergebnisses führen. In der Vergangenheit haben die Bundesversammlungsmitglieder durch eine Vielzahl an Kandidaturen in der Bundesversammlung mit ihrer geheimen Stimmabgabe eine Auswahl hinsichtlich ihrer Wahlentscheidung gehabt, sodass es zu mehreren Wahlgängen und knappen Entscheidungen, vereinzelt erst im dritten Wahlgang, kam. Obwohl die Ergebnisse der Abstimmung in der Bundesversammlung in der Vergangenheit in einigen Fällen vorhersehbar erschienen, wird anders als in der damaligen Kür in der Bundesversammlung keine vorangegangene bereits erzielte Wahlentscheidung nur lediglich rechtsförmlich durch einen gleichlautenden Ausspruch verkündet und bestätigt. Stattdessen ist die Abstimmung über die Wahlvorschläge in der Bundesversammlung die einzige Legitimationsgrundlage, selbst wenn es zuvor personelle Absprachen gegeben haben sollte. Solche vorangegangenen Absprachen sind auch keinem „gleichlautenden Kürspruch“ gleichzusetzen, der von den Bundesversammlungsmitgliedern lediglich „mitgetragen und verkündet“ wird. 185
BVerfGE 136, 277, 312. BVerfGE 136, 277, 312. 187 Die Wahlmänner sind hierbei Delegierte der Bundesstaaten, die im Electoral Collage alle vier Jahre den Präsidenten und Vizepräsidenten wählen. In jedem Bundesstaat werden die Wahlmänner (electors) nach einzelstaatlichen Regeln gewählt, wobei in fast allen Staaten das „Winner takes all“-Prinzip gilt, sodass die Partei mit der einfachen Mehrheit sämtliche diesem Staat zustehenden Wahlmänner entsendet. Lediglich in Nebraska und Maine (Stand: 2020) können die Wahlmänner auch abweichend aufgeteilt werden, was erstmals bei der Präsidentenwahl 2008 geschah. 186
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Eine solche Einordnung würde die Bedeutung der demokratischen Abstimmung der Bundesversammlungsmitglieder verkennen. Anders als die bundesverfassungsgerichtliche Positionierung kommt es daher in der Bundesversammlung nicht nur auf die „Sichtbarkeit des Wahlaktes in seinen realen und symbolischen Dimensionen“, sondern auch auf das Ergebnis der Wahlabstimmung an. Hierfür spricht, dass sich – ebenso wie im Bundestag und in den Landtagen – auch die Bundesversammlung in Fraktionen gliedert,188 um wirkungsvoller politische Interessen durchzusetzen. Die Durchsetzung des bestimmten aufgestellten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten stellt ein solches Interesse dar. Die Abstimmung über die Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten erscheint auch deshalb eher eine „echte Wahl“ und keine „Kür“. Diese Schlussfolgerung steht einer gänzlichen Unvergleichbarkeit der Bundesversammlung zum parlamentarischen Bundestag entgegen. Käme es allein auf die Sichtbarkeit der Wahl an, würde sich zudem die Frage stellen, welche Funktion die zeremonielle nachgelagerte Eidesleistung nach Art. 56 GG dann noch haben könnte. Dem Bundesverfassungsgericht ist jedoch zuzustimmen, dass der Bundesversammlung andersartige Aufgaben als dem Bundestag zugewiesen sind. Hieraus lässt sich aber nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Bundesversammlung trotz ihrer beschränkten Kompetenz in Gänze kein parlamentsähnliches Gremium sein kann. Im Ergebnis ist der Bundesversammlung, die in ihrem Ablauf dem parteipolitischen parlamentarischen Streit enthoben ist, durch ihre besondere Aufgabe als Kreationsorgan und ihrer Zusammensetzung ein besonderer, gesamtgesellschaftlich bindender, repräsentativer Charakter zuzusprechen. Dieser für eine Kürähnlichkeit der Bundesversammlung sprechende und gewichtige Aspekt kann aber nicht als alleiniges, entscheidendes Kriterium herangezogen werden. Stattdessen scheint mit dem damaligen Zeremoniell und der besonderen Symbolik im Ablauf der Kür im Kurfürstentum nur die Antrittsrede und die Eidesleistung des Bundespräsidenten ein Element einer Kür oder jedenfalls kürähnlich zu sein. Der Wahlakt der Bundesversammlung hingegen ist zu gewichtig, als dass er als bloßes Beiwerk eingestuft werden könnte. Der Kreationsakt der Wahl steht der Charakterisierung als rein kürähnliches Organ entgegen. 3. Die Stellung als Verfassungsorgan und verfassungsrechtliche Autonomie der Bundesversammlung Die Bundesversammlung ist gemäß ihrer Existenz und Kompetenz eine beschränkte Personenmehrheit, die nur zum Zwecke der Bundespräsidentenwahl einberufen wird, sich konstituiert und nach dieser Aufgabenerfüllung wieder
188 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
endet.189 Die Einordnung als oberstes Bundesverfassungsorgan leitet sich daraus ab und fußt darauf, dass sie unmittelbar vom Grundgesetz konstituiert und mit eigenen Kompetenzen ausgestattet ist.190 Die innerhalb des Fünften Abschnittes des Grundgesetzes zum Bundespräsidenten platzierten Regelungen zur Bundesversammlung, die Kompetenzbeschränkung auf die Wahl eines anderen Verfassungsorgans, der Status als einziges nicht „ständiges“ Bundesorgan191 sowie die Nichterwähnung in § 63 BVerfGG stehen dieser Qualifizierung nicht entgegen.192 Kennzeichen eines Parlamentes ist dessen Parlamentsautonomie. Dies bedeutet, in Unabhängigkeit zu anderen Staatsorganen eigenverantwortlich die eigenen Angelegenheiten regeln zu können und ist Ausdruck des in Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG angelegten Gewaltenteilungsprinzips.193 Diese Schutznormen für den Bundestag umfassen neben der Organisations- und der Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 GG), das Selbstversammlungsrecht (Art. 39 Abs. 3 GG), den Schutz vor Eingriffen von außen in die räumliche Integrität des Bundestages (Art. 40 Abs. 2 GG) oder dessen personellen Bestand (Art. 46 GG).194 Nur einige dieser Parlamentsautonomierechte stehen auch der Bundesversammlung zu: Die Bundesversammlung bedient sich des Bundestagspräsidenten zur Leitung der Geschäfte und der Sitzungen (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 BPräsWahlG), der damit die grundsätzliche Leitungsgewalt innehat. Er entscheidet durch die Bestimmung von Ort und Zeit über den Zusammentritt der Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 1 BPräsWahlG), sodass ihr kein eigenes Selbstversammlungsrecht zusteht. Ebenso nimmt der Bundestagspräsident gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT das Hausrecht sowie die Ordnungs- und Polizeigewalt für die Sitzung der Bundesversammlung wahr. Jedoch ist die Bundesversammlung in ihrem personellen Bestand geschützt (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 1 BPräsWahlG). Ferner hat die Bundesversammlung keinen wie in Art. 40 Abs. 1 GG für den Bundestag normierten Verfassungsauftrag zur Wahl eines eigenen Präsidenten, Vizepräsidenten 189
Vgl. Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 4. Vgl. u. a. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 278 f.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 39; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 82; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 1, S. 179 f. 191 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 4; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, S. 1602 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 1, S. 179 f. 192 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 40 m. w. N. 193 BVerfGE 80, 188, 219; BVerfGE 102, 224, 234 f.; BVerfGE 104, 310, 332; Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 1. Eingehend: Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, DV 1994, 157, 157 ff. 194 Vgl. Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 1. 190
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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oder Schriftführers, sondern nur das Recht und keine Pflicht, sich eine eigene Geschäftsordnung zu geben (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG).195 Durch das Zurückgreifen auf die personellen und finanziellen Ressourcen und Einrichtungen des Bundestages fehlt es der Bundesversammlung an einem eigenen Verwaltungsapparat, folglich an einer vollumfänglichen eigenen Organisationsautonomie, mithin einer vollumfänglichen Parlamentsautonomie. Diese nur teilweise der Bundesversammlung zugesprochene Autonomie in Verbindung mit ihrer Stellung als Verfassungsorgan spricht sowohl gegen eine Einordnung als ein ausschließliches kür- als auch parlamentsähnliches Organ. Wäre die Bundesversammlung allein ein kürähnliches Organ, so bedürfte diese nicht der Stellung eines obersten Verfassungsorgans mit einer in einigen Bereichen autonomen Selbstverwaltung und -organisation. Auch das dargestellte ausgeklügelte und ausführlich im Parlamentarischen Rat diskutierte und sodann verabschiedete Verfahren zur Zusammensetzung der Bundesversammlung nach Art. 54 Abs. 3 GG ist ein Indiz gegen die Annahme eines bloßen kürähnlichen Organs,196 dem es andererseits auch an den Charakteristika eines vollwertigen Parlamentes fehlt. 4. Die Unabhängigkeit und Nichtabwählbarkeit des Bundespräsidenten Eine vorzeitige Abwahl des Bundespräsidenten ist mangels institutioneller Abhängigkeit – abweichend zu Art. 43 Abs. 2 WRV – weder durch die Bundesversammlung noch durch ein anderes politisches Gremium möglich.197 Die Verfassung sieht eine Abwahl nicht vor.198 Einzig im bundesverfassungsgerichtlichen Anklageverfahren nach Art. 61 GG ist eine vorzeitige Amtsbeendigung möglich.199 Die nicht vorgesehene Abwählbarkeit des Bundespräsidenten – im Gegensatz zu der Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums gegen den Bundeskanzler nach Art. 67 GG – sowie dessen Unabhängigkeit200 gegenüber den Verfassungsor195 Vgl. Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 2. 196 Siehe hierzu die Beratungen im Parlamentarischen Rat, Kapitel 2, B. IV. 197 In der Weimarer Verfassung sah Art. 43 Abs. 2 WRV eine Abwahlmöglichkeit des Reichspräsidenten durch einen mit einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages beschlossenen Antrag und eine anschließende Volksabstimmung hierüber vor. 198 So auch: Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217, 218 sowie v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 2. 199 Das Bundesverfassungsgericht kann bei schuldhafter, vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes den Bundespräsidenten des Amtes für verlustig erklären bzw. durch einstweilige Anordnung nach Klageerhebung die Ausübung des Amtes untersagen. 200 Die Unabhängigkeit und Neutralität des Bundespräsidenten drückt sich in der fehlenden Abwahlmöglichkeit aus. Gleichwohl ist der Bundespräsident politischen Meinungen und Diskussionen ausgesetzt. Der Bundestag ist befugt über Handlungen des Bundespräsidenten zu debattieren und die Medien sind frei i. S. v. Art. 5 Abs. 1 GG zu berichten. Eine gewisse Verantwortlichkeit des Bundespräsidenten ist dadurch gegeben, dass die Anordnungen und
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
ganen und den politischen Parteien sprechen gleichfalls gegen eine rechtliche Einordnung der Bundesversammlung als ein rein kürähnliches Organ ohne echte Wahlfunktion. Auch die Richter der obersten Bundesgerichte zeichnen sich durch ihre Unabhängigkeit und durch eine nicht mögliche Abwählbarkeit aus. Gleichwohl stellt deren Wahl durch den Richterwahlausschuss gemäß § 125 Abs. 1 GVG unbestritten eine Wahl im juristischen Sinne dar. Vergleichbares gilt für die Richter am Bundesverfassungsgericht, die nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG i. V. m. § 5 Abs. 1 S. 1 BVerfGG je hälftig vom Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Zum Charakteristikum einer demokratisch legitimierten Wahl gehört somit nicht zwingend auch die Möglichkeit eines Entzugs des erteilten Mandats. Die Unabhängigkeit des Bundespräsidenten und seine Nichtabwählbarkeit sprechen daher nicht gegen eine Einordnung der Bundesversammlung als Wahlorgan. Eine andere Bewertung würde der verfassungsrechtlichen Rolle der Bundesversammlung nicht gerecht.201 5. Die Bedeutung der Ermächtigung zur näheren Ausgestaltung durch Bundesgesetz nach Art. 54 Abs. 7 GG Neben den Vorgaben aus dem Grundgesetz wird der einfache Gesetzgeber in Art. 54 Abs. 7 GG – Art. 41 Abs. 3 WRV entsprechend – ermächtigt, „das Nähere“ durch ein Bundesgesetz zu regeln.202 Regelungen über den persönlichen Status der Mitglieder der Bundesversammlung enthält das aufgrund dieser Ermächtigung erlassene „Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung“.203 Hierin wurden auch Statusfragen aufgenommen, die bei anderen Verfassungsorganen durch die Verfassung selbst geregelt worden sind.204 Verfügungen gemäß Art. 58 GG vom Bundeskanzler oder vom zuständigen Bundesminister gegengezeichnet werden müssen, wodurch der Bundespräsident zu einer sehr sorgfältigen Prüfung aller seiner Maßnahmen gezwungen ist. Vgl. hierzu Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 634 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 270; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 110 m. w. N. sowie S. 118; Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 1; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 7, S. 215. 201 So auch: Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidenten wahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 202 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 41; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 43; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 73. 203 Bei der Ermächtigung handelt es sich aufgrund der Formulierung des Art. 54 Abs. 7 GG um eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Das Gesetz enthält in seinem ersten Abschnitt die Vorschriften über die Bundesversammlung, Ort und Zeit ihres Zusam-
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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Die einschlägigen Kommentare äußern sich, soweit ersichtlich, nicht zu der Bedeutung der Ermächtigung im konstitutionellen Sinne – auch nicht hinsichtlich der vergleichbaren Normierungen des Art. 38 Abs. 3 und Art. 41 Abs. 3 GG. Das Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten erfüllt nicht den formellen, sondern nur den materiellen Verfassungsbegriff. Daher können diese Normen des einfachen Bundesrechts grundsätzlich auch keine konstitutive Wirkung entfalten.205 Durch die Ermächtigung in Art. 54 Abs. 7 GG wird das diesbezüglich ergangene Gesetz nicht in der Normenhierarchie zu einer Verfassungsnorm. Durch die ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers sind den Normierungen des Bundespräsidentenwahlgesetzes als Konkretisierungen der verfassungsrechtlichen Vorgaben jedoch eine gewisse „Verfassungsrangähnlichkeit“ einzuräumen, somit eine Art „Zwischenebene“ zwischen der Verfassung und dem Rang von Bundesgesetzen. Dass eine solche Bewertung möglich und zutreffend ist, lässt sich aus der vergleichbaren Einordnung beispielsweise des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ersehen, wonach der Bundestag sich eine Geschäftsordnung gibt. Hier wird der Geschäftsordnung überwiegend als „autonome Satzung“206 eine höherrangige Bewertung in Teilen der Literatur zuerkannt. Dieses wird damit begründet, dass die Geschäftsordnung des Bundestages einem Gesetz und Rechtsverordnungen207 gleichstehe oder durch die Bezeichnung „Verfassungssatzung“208, „ergänzendes (sekundäres) Verfassungsrecht“ oder als „unmittelbar verfassungsermächtigtes Recht“209 sogar höher einzustufen sei, als es üblicherweise einer Satzung in der Normenhierarchie zugebilligt wird. Für die Einordnung einer gewissen Verfassungsrangähnlichkeit spricht auch, dass der Parlamentarische Rat – anders als bei anderen Verfassungsorganen – keine dementritts, ihre Zusammensetzung sowie die Wahl der Landesmitglieder. Der zweite Abschnitt enthält die Regelungen über den Wahlvorgang. 204 Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 5. 205 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 59. 206 Vgl. BVerfGE 1, 144, 148; 44, 308, 315; Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 32; Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 40, Rn. 22. Vgl. auch die Formulierung bei Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 18 als „eigener Regelungstypus“ sowie bei Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 40, Rn. 41 als schlichte „Norm des Parlamentsrechts“. 207 Begründet wird dies damit, dass die Parlamentsautonomie als Legitimationsquelle der Geschäftsordnung wie die Gesetzgebungsbefugnis „gleichrangig“ auf die unmittelbare Volkswahl zurückzuführen sei, bspw. Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 34 m. w. N.; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 40, Rn. 43. Abweichend von einer Nachrangigkeit des Geschäftsordnungsrechts zumindest gegenüber Gesetzen aufgrund der leichteren Änderbarkeit und der relativen Schwäche hinsichtlich des Bindungsumfangs und der -dauer ausgehend: BVerfGE 1, 144, 148; Groh, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 40, Rn. 18; Morlok, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 17 f. 208 Magiera, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 40, Rn. 25. 209 Schliesky, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 40, Rn. 22.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
taillierten Regelungen zum Verfahren in der Verfassung selbst geregelt, sondern dies vielmehr offen gelassen hat und bewusst dem einfachen Bundesgesetzgeber Gestaltungsmöglichkeiten über den Verfahrensablauf und die Organinterpretation im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben überlassen wollte. Von der Ermächtigung hat der Bundesgesetzgeber erstmalig mit den Regelungen des Bundespräsidentenwahlgesetzes vom 25. April 1959 Gebrauch gemacht. Es ist davon auszugehen, dass nach dem Verstreichen lassen von 10 Jahren dasjenige festgeschrieben wurde, das sich als mehrheitsfähiger, gangbarer und praxisgerechter Ablauf und als Organinterpretation der Versammlung in den vorherigen Bundesversammlungen etabliert hatte. Daher sind die einfachgesetzlichen Bestimmungen des Bundespräsidentenwahlgesetzes gewichtige Auslegungsindizien für die Organeinordnung der Bundesversammlung: • Die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG), • die entsprechende Anwendung von für Bundestagsabgeordnete geltenden Normen, beispielsweise die zur Immunität sowie die zur Indemnität (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 BPräsWahlG) und • die Regelung zur geheimen Wahl (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG). Die dortigen Normierungen zeigen im Ergebnis allesamt, dass durch die einfachgesetzliche Zubilligung parlamentstypischer Rechte keine, wie vom Bundesverfassungsgericht behauptet, Unvergleichbarkeit der Bundesversammlung mit dem parlamentarischen Bundestag besteht. Vielmehr spiegeln diese die Vorstellungen des einfachen Gesetzgebers über die Bundesversammlung als ein eher parlamentsähnliches Organ wider. So spricht auch Fink davon, dass diese einfachgesetzlichen Normen Anwendung finden, weil es sich hierbei „um typische Rechte von Parlamentariern handelt, die ihrem Sinn und Zweck nach entsprechende Anwendung auf die Mitglieder der Bundesversammlung finden.“210
a) Die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages gem. Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG Die Bundesversammlung hat entsprechend der Regelung in § 8 S. 2 BPräsWahlG als oberstes Bundesorgan Geschäftsordnungsautonomie,211 die sich auch unmittelbar 210
Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 59. Eine Geschäftsordnung gilt als autonome Satzung, die nach überwiegend vertretener Auffassung nur ihre eigenen Angelegenheiten regeln, nicht aber Pflichten für Dritte verbindlich festlegen kann, vgl. BVerfGE 1, 144, 148. Mit der Geschäftsordnung des Bundestages werden also die innerparlamentarischen Spielregeln festgelegt, die bis ins Detail die Arbeit und die Arbeitsabläufe regeln. Näher hierzu: Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, 211
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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aus der Verfassungsorganqualität, der unmittelbaren Konstituierung aus der Verfassung sowie aus der Aufgabenzuweisung – der Wahl eines anderen Verfassungsorgans – ergibt.212 § 8 S. 2 BPräsWahlG kommt insoweit nur eine deklaratorische Funktion zu.213 Abweichend hierzu sieht das Bundesverfassungsgericht die Befugnis der Bundesversammlung, sich eine eigene Geschäftsordnung zu geben, nicht als Ausdruck eines originären verfassungsgebotenen Rechtes auf Selbstorganisation, sondern lediglich als Ausfluss der Bestimmung von Art. 54 Abs. 7 GG.214 Folglich spricht das Bundesverfassungsgericht der Bundesversammlung keine verfassungsunmittelbare Geschäftsordnungsautonomie zu, wodurch die gesamte Unklarheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich aufgezeigt und verstärkt wird und nicht zu überzeugen vermag. Die subsidiäre Geltung der Geschäftsordnung des Bundestages sei in § 8 S. 2 BPräsWahlG aus rein praktischen Gründen und nur „sinngemäß“ – nicht aber „entsprechend“ – angeordnet worden, da die Normen lediglich dem Sinn und der Aufgabenstellung der Bundesversammlung gemäß angewendet werden könnten.215 Der Wortlaut des § 8 S. 2 BPräsWahlG, der zunächst auf die sinngemäße Anwendbarkeit der Geschäftsordnung des Bundestages verweist, bedeutet, dass die Geschäftsordnung grundsätzlich Anwendung findet, aber situationsabhängig Abweichungen und Änderungen möglich und notwendig erscheinen können. Im Ergebnis kann hieraus eine Tendenz des Bundesgesetzgebers in Richtung einer diesbezüglichen Gleichstellung zum Bundestag, somit eine Nähe zu einer Parlamentsähnlichkeit, geschlossen werden, da die Geschäftsordnung des Bundestages klar auf eine Debattenkultur ausgelegt ist.216 S. 149 f.; Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 80 – 84. Siehe auch Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, DV 1994, 157, 157 ff. 212 Unerheblich ist, dass es kein ständiges Organ ist und nicht mit einem eigenen Abschnitt im Grundgesetz geregelt ist. Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 91 f.; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 94; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 1, S. 179. 213 Siehe Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 24, der darüber hinaus betont, dass gegen diese einfachgesetzliche Klarstellung keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken bestünden und es eine Selbstverständlichkeit und „unbezweifelbar“ sei, dass sich oberste Bundesorgane eine Geschäftsordnung geben können. 214 BVerfGE 136, 277, 313 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 236; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 15. 215 BVerfGE 136, 277, 296 f.; A. A.: Kunze, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG: Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, § 17, Rn. 11, der zwischen einer „sinngemäßen“ und einer „entsprechenden“ Anwendung keinen inhaltlichen Unterschied sieht. 216 So auch: Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Umbach, in: Umbach/ Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 22.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
In welchen Situationen in der Praxis konkret eine Grenze der sinngemäßen Anwendbarkeit zu ziehen ist und was dies im Einzelnen bedeutet, bleibt auslegungs- und interpretationsbedürftig. Um eine „Rosinenpickerei“ der Vorschrift in der Praxis zu vermeiden, sollten hierfür abstrakte Maßstäbe angelegt werden, die zum Abschluss dieser Detailanalyse zu formulieren sind. Die gewählte Formulierung des Gesetzgebers könnte neben der Tendenz zur Parlamentsähnlichkeit gleichzeitig zum Ausdruck bringen, dass in Situationen die kürähnlichen Aspekte in der Bundesversammlung überwiegen können, sodass die Geschäftsordnung des Bundestages nur mit Abweichungen und Modifikationen zur Anwendung kommen kann. Dies würde bedeuten, dass die Formulierung der sinngemäßen Anwendung auch dahingehend zu interpretieren ist, dass nach der Vorstellung des einfachen Gesetzgebers die Bundesversammlung neben überwiegend parlamentsähnlichen Elementen vereinzelt auch kürähnliche Elemente beinhaltet, somit möglicherweise als ein atypisches, besonderes Organ vorgedacht wurde. b) Die Regelung des Status der Mitglieder der Bundesversammlung Die durch Art. 54 Abs. 7 GG einfachgesetzlich konkretisierten Regelungen des Status der Mitglieder sind ebenfalls gewichtige Kriterien für die Charakterisierung der Bundesversammlung. Einzugehen ist hierbei auf das freie Mandat (§ 7 S. 3 BPräsWahlG), den Kündigungs-, Indemnitäts- und Immunitätsschutz (§ 7 S. 1, S. 2 BPräsWahlG) sowie die Regelung der geheimen Wahl (§ 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG). aa) Gewährleistung eines freien Mandats gemäß Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 3 BPräsWahlG Ebenso wie die Bundestagsabgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG haben die Bundesversammlungsmitglieder gemäß § 7 S. 3 BPräsWahlG ein freies Mandat, sind somit weder an Aufträge noch an Weisungen gebunden.217 Ebenso wenig kann das Mandat entzogen werden, auch wenn § 7 S. 1 BPräsWahlG nicht explizit auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verweist.218 Daher unterliegen Versammlungsmitglieder – ebenso wie Fraktionen – nicht den Weisungen der sie entsendenden Vertretungen. Es besteht mithin keine Verpflichtung, einer Wahlempfehlung nachzukommen.219 Das freie 217 Denn rechtlich handelt es sich bei der Bundesversammlung um eine Versammlung einzelner Mitglieder, die entweder aufgrund der Mitgliedschaft im Bundestag oder durch die Wahl von Landtagen ihr Mandat ausüben, auch wenn faktisch die Vertreter aus Gruppierungen stammen, die den politischen Parteien zuzurechnen sind. Hierauf ebenfalls hinweisend: Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 289. 218 Die Weisungsfreiheit gilt auch für die vom Land entsandten Personen, die sonst weisungsgebunden im Bundesrat für die Länder agieren. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 109. A. A. hierzu wohl: Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 5. 219 Vgl. Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 289; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 27,
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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Mandat wird durch die geheime Abstimmung i. S. d. § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG gewährleistet, somit kann auch die Einhaltung einer eventuell ausgesprochenen Fraktionsempfehlung nicht überprüft werden.220 Eine Einordnung zu einer kürähnlichen Bestimmung würde ein gesteuertes Verfahren im Sinne einer obligatorischen Kür eines Kandidaten voraussetzen. Dieses ließe von dem rechtlich geschützten Privileg, bei der Ausübung des Mandats nur dem eigenen Gewissen unterworfen zu sein, nichts übrig.221 Untermauert wird dies dadurch, dass der ein freies Mandat normierende § 7 S. 3 BPräsWahlG dem für die Bundestagsabgeordneten geltenden Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nachgeformt ist.222 Hierdurch hat der Gesetzgeber die Rechtsstellung der Bundesversammlungsmitglieder weitgehend derjenigen der Parlamentarier gleichgestellt. Folglich entspricht die einfachgesetzliche Gewährleistung des freien Mandats eher einer parlamentsähnlichen Interpretation. Unklar bleibt, warum das Bundesverfassungsgericht aus dem freien Mandat für die Bundestagsabgeordneten umfangreiche Antrags-, Rede- und Statusrechte herausliest und entwickelt, dies bei dem identischen Rechtsbegriff für die Mitglieder der Bundesversammlung jedoch ablehnt.223 Wie alle Verfassungsorgane ist auch die rechtsprechende Gewalt bei der Auslegung nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden.224 Statt einer normativen Anknüpfung begründet das Bundesverfassungsgericht diese Differenzierung trotz identischen Wortlautes mit der Notwendigkeit der Gewährleistung einer reibungslosen, würdevollen Wahl, fast schon im Sinne einer Akklamation.225 Schwierigkeiten könnte eine solche Auslegung im Falle einer durchaus denkbaren – wenn auch bislang nicht eingetretenen – Möglichkeit von unsicheren Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung S. 1608 f.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 23. Dennoch zeigt die Vergangenheit, dass insbesondere bei knappen Mehrheitsverhältnissen der von der Fraktion beschlossenen Wahlempfehlung weitgehend gefolgt wird, sodass rein tatsächlich auch bei der Wahl des Bundespräsidenten die Beschlüsse der Parteien bzw. Fraktionen eine entscheidende Rolle für die Wahlentscheidung der Mitglieder spielen. Dies ist auch der Hauptkritikpunkt der Volkswahlbefürworter, da die Präsidentenwahl unter den Parteien ausgemacht werde und die Versammlungsmitglieder rein akklamatorisch tätig würden. Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609 m. w. N.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 71. Eingehend zum „freien Mandat“ in Theorie und parlamentarischer Wirklichkeit siehe Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 75 – 77. 220 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 81. 221 Sauer, „Den wähle ich nicht!“, verfassungsblog.de, 7. 2. 2018, https://verfassungsblog. de/den-waehle-ich-nicht/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 222 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74. 223 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74. 224 Dies ebenfalls betonend: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74. 225 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
bereiten, bei denen um Mehrheiten formell und informell gerungen wird und die keine abschließende Mehrheit innerhalb eines Tages ermöglichen. In diesem Falle erscheint die Bundesversammlung erst recht parlamentsähnlicher.226 Dass die Gefahr einer fehlenden Einigung kein bloßes Gedankenspiel ist, zeigt der Blick auf die Anfangsjahre des Bundesverfassungsgerichts. Bei dem anfänglichen Erfordernis einer 3/4-Mehrheit im Wahlausschuss – das 1956 durch eine 2/3-Mehrheit ersetzt wurde – konnte über zwei Jahre kein politischer Kompromiss erzielt werden, wodurch die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts als wichtige Institution des Staates gefährdet wurde.227 Das einfachgesetzliche freie Mandat der Bundesversammlungsmitglieder ist somit als Indiz für eine gewisse Parlamentsähnlichkeit der Bundesversammlung zu werten. bb) Kündigungsschutz, Indemnität und Immunität gemäß § 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 1, S. 2 BPräsWahlG Für die Arbeits- und Funktionsfähigkeit der Bundesversammlung muss es jedem Mitglied möglich sein, ungehindert am Wahlvorgang teilzunehmen.228 Im Verfassungstext selbst werden den Bundesversammlungsmitgliedern jedoch keine Schutzrechte wie Indemnität nach Art. 46 Abs. 1 GG,229 Immunität nach Art. 46 Abs. 2 GG230 oder der arbeitsrechtliche Kündigungsschutz nach Art. 48 Abs. 2 GG 226
So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74. 227 Vgl. Schröter, Richterwahl im Bundestag, Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht vom 20. 7. 2017, https://www.juwiss.de/103-2017/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 228 So wird auch unterbunden, dass das Erscheinen in der Bundesversammlung durch Strafverfolgungsmaßnahmen oder auf andere Weise verhindert wird. Folglich hat der Bundesgerichtshof die vorläufige Entlassung zweier sich in Untersuchungshaft befindender Mitglieder der 2. Bundesversammlung zwecks Teilnahme an der Wahl angeordnet. Vgl. BVerfGE 136, 277, 314 f.; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 63 f. 229 Die Indemnität schützt die Parlamentarier davor, wegen ihrer Meinungsäußerung und ihres Abstimmungsverhaltens verfolgt zu werden und sichert so die Rede- und Handlungsfreiheit der Abgeordneten. Im Gegensatz zur Immunität reicht die Indemnität üblicherweise über die Mandatszeit hinaus und schützt so vor willkürlicher Verfolgung seitens der Exekutive. Vgl. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 75. Eingehend zur Indemnität der Bundestagsabgeordneten: Klein, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 17, Rn. 19 – 37, S. 569 – 577; Wiefelspütz, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 463 – 466. 230 Die Immunität beinhaltet den Schutz vor Verhaftung und Bestrafung aufgrund rechtswidrigen Verhaltens außerhalb des Parlamentes und endet mit dem jeweiligen Mandat. Während der Mandatszeit kann die Immunität nur auf Beschluss des Parlamentes nach einem genau geregelten Verfahren aufgehoben werden. Die Immunität ist Ausdruck der Souveränität des Parlamentes und seiner Unabhängigkeit von anderen politischen Instanzen. Die Immunität bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wird in der Regel bereitwillig aufgehoben. Vgl.
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zugestanden. Während alle Bundesversammlungsmitglieder, die zugleich Parlamentarier eines Landesparlamentes oder des Bundestages sind, über ihr Abgeordnetenmandat geschützt sind, gilt dies nicht für die Mitglieder, die keiner parlamentarischen Körperschaft angehören.231 Aus Art. 54 Abs. 3 GG entwickelte das Bundesverfassungsgericht – neben der Freiheit und der Gleichheit der Wahl – jedoch überzeugend die gleiche Stellung aller Versammlungsmitglieder.232 Den Ländervertretern in der Bundesversammlung ist dieselbe Stellung einzuräumen wie den Mitgliedern aus dem Bundestag, sodass eine Differenzierung verfassungsrechtlich unzulässig ist.233 Dieser Grundsatz findet einfachgesetzlich Ausdruck in § 7 BPräsWahlG. Demnach sind die Vorschriften der Indemnität und Immunität (Art. 46 GG), die Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 47 GG), das Recht auf ungehinderte Übernahme und Ausübung des Amtes (Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG) sowie der Kündigungsschutz (Art. 48 Abs. 2 S. 2 GG) auf die Mitglieder der Bundesversammlung entsprechend anzuwenden. Eine solche entsprechende Anwendung wäre aber auch ohne ausdrückliche Normierung schon von Verfassungs wegen geboten, da diese Rechte zum unverzichtbaren Kernbestand des Mandats gehören.234 Selbst das Bundesverfassungsgericht betont trotz anderer Schlussfolgerung, dass den Versammlungsmitgliedern ein Anspruch auf „gleiche Teilhabe an der Ausgestaltung des Wahlverfahrens“ zustehe.235 Wenn jedoch vom Gesetzgeber eine Kür im
Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 74 f. Für einen Rechtsvergleich mit der Immunität der Mitglieder der österreichischen Bundesversammlung siehe Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92 f. sowie Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 476 f. Näheres zur Immunität der Bundestagsabgeordneten: Klein, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 17, Rn. 38 – 56, S. 578 – 585; Wiefelspütz, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 466 – 480. 231 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 109; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 10; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 96 f. 232 BVerfGE 136, 277, 315. Vgl. auch Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 233 Vgl. BVerfGE 136, 277, 315, 317. 234 So auch: BVerfGE 136, 277, 315 m. w. N.; v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 31; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 32; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 59; Nierhaus/ Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 12. A. A. Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92, der betont, dass die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung keinen Verfassungsrang habe und diese einfachgesetzliche Gewährung auch wieder abgeschafft werden könne. 235 BVerfGE 136, 277, 318; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 33.
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Sinne einer „Akklamation“236 – also ohne jegliche parlamentsähnliche Rechte der Versammlungsmitglieder – angestrebt gewesen wäre, so bedürfte es keines Rechtes auf Teilhabe. Gleiches gilt für die Immunität und Indemnität. Die Indemnität schützt davor, aufgrund von Äußerungen im Parlament gerichtlich belangt zu werden. Wenn die Bundesversammlung gänzlich nicht parlamentsähnlich wäre und die Mitglieder ohnehin keinerlei Rede- und Antragsrechte hätten, liefe der Verweis in § 7 S. 1 BPräsWahlG ins Leere. Die Indemnität kann nur dann relevant sein, wenn auch ein Rederecht besteht. Der explizite Verweis in § 7 S. 1 BPräsWahlG auf Art. 46 GG ist auch kein Redaktionsfehler, sondern er wurde bewusst aufgenommen. In Immunitätsfragen werden die Bundesversammlungsmitgliedern den Bundestagsmitgliedern gleichgestellt, da gemäß § 7 S. 2 BPräsWahlG der Deutsche Bundestag über Immunitätsangelegenheiten der Bundesversammlung entscheidet. Den Versammlungsmitgliedern wird einfachgesetzlich ein ähnliches Schutz- und Teilhabeniveau gewährt, wie es für die Bundestagsabgeordneten in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG normiert ist. Im Ergebnis spricht die entsprechende Anwendung parlamentarischer Rechte über Art. 54 Abs. 7 GG auch auf die Bundesversammlungsmitglieder dafür, dass die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ die Bundesversammlung als ein Organ erschaffen wollten, das „inhaltlich-qualitativ eine echte Wahl“ ermöglichen soll.237 c) Die Regelung zur geheimen Wahl nach § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG Nach § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG wird mit verdeckten amtlichen Stimmzetteln gewählt. Dies bedeutet gemäß § 49 Abs. 1 S. 1 GO-BT, dass die Wahl geheim stattzufinden hat. Nur eine geheime Wahl kann eine unabhängige und freie Wahl sicherstellen.238 Sofern es sich bei der Bundesversammlung lediglich um eine „Kür“ handeln würde, bedürfte es keiner diesbezüglichen Normierung als Schutzvorschrift zur Ausübung des freien Mandats. Daher hebt auch die Regelung zur geheimen Wahl den parlamentsähnlichen Charakter der Bundesversammlung hervor.
236 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 232 f., die – wie oben ausgeführt – die Bundesversammlung als ein „Akklamationsorgan“ einordnet. 237 Vgl. Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 33. Vgl. auch BVerfGE 136, 277, 315, wonach dem Wahlrecht der Bundesversammlungsmitglieder immanent sei, „dass diese einen Anspruch auf ein Wahlverfahren haben, das diesen Namen verdient, mithin inhaltlich qualitativ eine echte Wahl ermöglicht“. 238 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 27; Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 289.
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6. Das Zurückgreifen auf Ressourcen des Bundestages (Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG i. V. m. §§ 1, 8 S. 1 BPräsWahlG) Das Zurückgreifen der Bundesversammlung auf personelle und finanzielle Ressourcen des Bundestages und der Bundestagsverwaltung ist ebenfalls ein Kriterium, das gegen eine gänzliche Unvergleichbarkeit von Bundesversammlung und Bundestag spricht. a) Der Rückgriff auf personelle Ressourcen Die Bundesversammlung hat keinen eigenen Präsidenten. Gemäß Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG ruft der Bundestagspräsident die Versammlung ein. Darüber hinaus fungiert der Bundestagspräsident, der zugleich oberste Dienstbehörde der Bundestagsbeamten ist, gemäß § 8 S. 1 BPräsWahlG zum einen als Sitzungsleiter und führt zum anderen die Geschäfte der Bundesversammlung. Die Bundesversammlung greift also auf die Dienste des Präsidenten des Bundestages zurück, zu dessen wichtigsten Aufgaben die Leitung der Plenarsitzungen gehört.239 Dieser Rückgriff erscheint auch sachgerecht, da der Bundestagspräsident gegenüber sonstigen politischen Spitzenämtern auf Bundesebene als einzige neutrale Person mit der Durchführung von Wahlen und der Sitzungsleitung vertraut ist. Denn sowohl mit der in der Verfassung normierten Einberufungspflicht als auch mit der Übernahme der Geschäfte der Bundesversammlung gehen vielfältige und verantwortungsvolle Einzelaufgaben und Maßnahmen zur verwaltungsmäßig-organisatorisch-technischen Vorbereitung und Durchführung der Versammlung einher. Dafür greift der Bundestagspräsident in der Praxis auf die Dienste der Bundestagsverwaltung und der Einrichtungen des Bundestages zurück.240 Ebenso werden regelmäßig diejenigen Abgeordneten des Bundestages zu Schriftführern eingesetzt, die diese Aufgaben auch im Parlament übernehmen.241 Sofern es sich bei der Wahl in der Bundesversammlung nur um eine reine Kür handeln würde, bedürfte es keines Rückgriffs auf einen in Fragen des Sitzungsablaufes versierten Bundestagspräsidenten und auf dessen Verwaltung. Ginge es allein um die Erfahrung in der Einberufung und Durchführung einer Versammlung, so hätte 239 Darüber hinaus gehört zu seinen vornehmsten Aufgaben die Entgegennahme aller eingebrachten Gesetzentwürfe, Vorlagen und Rechenschaftsberichte der politischen Parteien sowie die Überwachung des Parteispendengesetzes und die Regelung der Wahlkampfkostenerstattung. 240 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 63; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 13, S. 1603; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98. Eingehend zur Verwaltung des Deutschen Bundestages siehe Schindler, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 29, Rn. 1 – 100, S. 829 – 858. 241 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 76; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 29, S. 1609.
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jeder andere Präsident oberster Bundesorgane eine entsprechende Qualifikation vorzuweisen. Dennoch hat der Gesetzgeber diese Aufgaben ausdrücklich und allein auf den Bundestagspräsidenten übertragen. Somit kommt auch hierin eine besondere Nähe zum parlamentarischen Gremium, dem Bundestag, zum Ausdruck. b) Der Rückgriff auf finanzielle Ressourcen Auch die Finanzierung der Bundesversammlung durch das Parlament spricht für eine Nähe beider Bundesorgane. So werden die finanziellen Mittel für die Durchführung der Bundesversammlung im Haushalt des Deutschen Bundestages im „Einzelplan 02“ im Kapitel „0214 Bundesversammlung“ (bis zum Jahr 2015 im Kapitel 0204) eingestellt.242 Deren Hauptbestandteil sind die Entschädigungszahlungen, deren Höhe gemäß § 12 BPräsWahlG durch den Bundestagspräsidenten festgesetzt wird.243 § 12 BPräsWahlG normiert, dass die in Art. 48 Abs. 3 GG geltenden Bestimmungen sinngemäß auch für die Bundesversammlungsmitglieder Anwendung finden. Bei der 17. Bundesversammlung am 13. Februar 2022 wurde eine Aufwandspauschale in Höhe von 75,00 Euro je notwendigem Aufenthaltstag gewährt und Übernachtungs-, Flug- und Fahrtkosten in der Regel in tatsächlich angefallener Höhe erstattet.244 Grundsätzlich werden die Entschädigungszahlungen für die Teilnahme an der Bundesversammlung nur an die von den Landesparlamenten entsandten Mitglieder gezahlt, da der Aufwand für die Mitglieder des Deutschen Bundestages mit der Kostenpauschale nach § 12 Abs. 2 AbgG abgegolten ist.245
242 Für die Durchführung der Wahlen des Bundespräsidenten wurden 2012 und 2017 Mittel in Höhe von gerundet jeweils 899.000 Euro aus dem Bundeshaushalt aufgewendet. Diese Summe umfasst Ausgaben für Personal (in Höhe von 363.000 Euro im Jahr 2012 und von 261.000 Euro im Jahr 2017) und für die Verwaltung (in Höhe von 536.000 Euro im Jahr 2012 und 638.000 Euro im Jahr 2017). Die Kosten für die Durchführung einer Bundesversammlung sind im laufenden Haushaltsplan als Ansätze dargestellt und die IST-Zahlen sind im Haushaltsplan des übernächsten Jahres enthalten. 243 Diese Entschädigungen bestehen aus Tage- und Übernachtungsgeldern für anreisende Versammlungsmitglieder, einer Erstattung von Fahrtkosten und der am Ort entstandenen Nebenkosten. Außerdem besteht für die Mitglieder eine Unfallversicherung. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 109; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 81; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, 27, S. 1602 f., 1608; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 35; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 70. 244 Bei anderweitiger Übernachtung (beispielsweise bei Freunden) wurde 2017 eine Pauschale von 75,00 Euro gewährt. Im Jahr 2017 betrug die Aufwandspauschale 70,00 Euro, 2012 betrug sie 60,00 Euro. Am Ort entstandene Nebenkosten waren mit der Aufwandspauschale abgegolten. Die Erstattung eines etwaigen Verdienstausfalles ist nicht vorgesehen. 245 Erstattet werden den Abgeordneten jedoch auf Nachweis etwaige angefallene Kosten für einen Inlandsflug oder das Ticket für einen Schlafwagenzug, wie dies auch § 16 AbgG im üblichen Parlamentsbetrieb vorsieht.
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Im Falle einer vorzeitigen Bundesversammlung können die benötigten Haushaltsmittel beim Bundesministerium der Finanzen im Wege einer überplanmäßigen Ausgabe nach § 37 Bundeshaushaltsordnung beantragt werden. Eine nachträgliche Darstellung des Ansatzes im jeweils gültigen und veröffentlichten Haushaltsplan erfolgt nicht, sondern die IST-Zahlen werden im übernächsten Haushaltsplan dargestellt. c) Zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit Ein solches Zurückgreifen auf personelle und finanzielle Ressourcen des legislativen Bundestages für die Vorbereitung und Durchführung eines anderen Bundesorgans, der Bundesversammlung, ist mit dem in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Gewaltenteilungsprinzip vereinbar und stellt keinen Verfassungsverstoß dar. Denn dem Grundgesetz ist eine Gewaltenverschränkung nicht gänzlich fremd. So wird gemäß Art. 63 Abs. 1 GG der zur Exekutive zählende Bundeskanzler vom Bundestag als Legislative gewählt. Ferner kann die Bundesregierung als Exekutive gemäß Art. 76 Abs. 1 GG Gesetzesvorlagen in den parlamentarischen Bundestag einbringen. Ein Bundesminister, gleichfalls Teil der Exekutive, darf sein legislatives Bundestagsmandat behalten. Dies bedeutet auch keinen Machtmissbrauch einer Staatsgewalt, den der Gewaltenteilungsgrundsatz durch gegenseitige Kontrolle verhindern soll, da die Bundesversammlung die finanziellen und personellen Ressourcen des Bundestages nur temporär nutzt.246 7. Die steuerrechtliche Gleichbehandlung der Entschädigungszahlungen von Bundestagsabgeordneten und Bundesversammlungsmitgliedern Wie soeben dargestellt, werden sowohl die Zahlungen an die Parlamentarier als auch an die Mitglieder der Bundesversammlung aus Mitteln des Deutschen Bundestages finanziert, obwohl es sich um zwei unterschiedliche oberste Bundesorgane handelt. Ein weiteres Indiz für eine ähnliche staatsrechtliche Charakterisierung wäre es, wenn die jeweils vom Parlament bereitgestellten Finanzmittel für die Zahlung von Entschädigungszahlungen zum einen für die Bundestagsabgeordneten und zum anderen für die Bundesversammlungsmitglieder auch steuerrechtlich gleich behandelt würden.
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Abgesehen davon ist dieses Ergebnis auch aus rein praktischen Erwägungen sinnvoll. Es erscheint zudem ökonomisch im Sinne der staatlichen Verpflichtung zum sparsamen Umgang mit Steuergeldern unvertretbar, eine eigene Verwaltung allein für die Bundesversammlung zu unterhalten, da sich diese in der Regel gemäß Art. 54 Abs. 2 S. 1 GG nur alle fünf Jahre konstituiert und ihr zur Hälfte die Mitglieder des Deutschen Bundestages angehören. Aufgrund ähnlicher Abläufe von Bundesversammlung und Bundestag lassen sich des Weiteren viele Synergieeffekte erzielen, zumal die Bundestagsverwaltung mit der Organisation von Versammlungen und Wahlen vertraut ist.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Ergänzend zu den Aufwandsentschädigungen, die auch den Mitgliedern der Bundesversammlung ausgezahlt werden, erhalten die Parlamentarier zusätzliche monatliche Diäten, die einer unterschiedlichen steuerrechtlichen Behandlung unterliegen: Steuerfrei sind Aufwandsentschädigungen der Bundestagsabgeordneten, die für den durch das Mandat veranlassten Aufwand als Kostenpauschale gezahlt werden.247 Die Diäten der Bundestagsabgeordneten sind hingegen seit dem DiätenUrteil des Bundesverfassungsgerichts 1975 nicht mehr als pauschalierte Aufwandsentschädigungen freigestellt.248 Das BVerfG konstatierte, dass die vorgesehene Steuerfreistellung für die Entschädigungen der Abgeordneten gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Vor dem Hintergrund, dass es sich um eine Haupttätigkeit und nicht um eine ehrenamtliche Tätigkeit handelt, ordnete das BVerfG die Entschädigungen der Abgeordneten als Alimentation ein und forderte vom Gesetzgeber, diese der Besteuerung zu unterwerfen.249 Der Gesetzgeber reagierte auf dieses Urteil, indem er in § 22 EStG eine Nr. 4 einfügte und damit dem Verlangen des Bundesverfassungsgerichts entsprach.250 Die einkommenssteuerrechtliche Behandlung der Aufwandsentschädigungen der Bundesversammlungsmitglieder ist hingegen weder ausdrücklich gesetzlich geregelt, noch verhalten sich die steuerrechtlichen Kommentare – soweit ersichtlich – zu den Aufwandsentschädigungen der Mitglieder der Bundesversammlung. In der Praxis erfolgen steuerfreie Auszahlungen und keine gesonderte Mitteilung hierüber an das jeweils zuständige Finanzamt. Die Entschädigungszahlungen der Bundesversammlungsmitglieder könnten zunächst zu sonstigen Einkünfte i. S. d. § 22 Nr. 4 EStG führen. § 22 Nr. 4 EStG umfasst nach dem abschließenden Wortlaut251 nur Zahlungen auf Grundlage entsprechender Gesetze, worunter jedoch auch Entschädigungen fallen, die auf Grund des Abgeordnetengesetzes gezahlt werden. Gemäß § 12 BPräsWahlG erhalten die Mitglieder 247
Nacke, in: Brandis/Heuermann, Ertragssteuerrecht, 164. EL 2022, § 22 EStG, Rn. 176. BVerfG 5. 11. 1975 – 2 BvR 193/74, NJW 1975, 2331, 2331 ff.; Nacke, in: Brandis/ Heuermann, Ertragssteuerrecht, 164. EL 2022, § 22 EStG, Rn. 175; Neudenberger/Wernsmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 331. EL 2023, § 22 F 10; Wirfler, Beck’sches Steuer- und Bilanzrechtslexikon, Stand: 2022, Abgeordnete, Rn. 2. 249 Siehe auch: Neudenberger/Wernsmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 331. EL 2023, § 22 F 1, die insoweit von einer Besteuerungslücke sprechen. Weshalb das BVerfG § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG nicht in Erwägung gezogen hat, ist – gerade vor dem Hintergrund, dass sowohl Bundestagsabgeordnete als auch kommunale Mandatsträger einem freien Mandat nachgehen, letztere allerdings Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit beziehen sollen – wenig einleuchtend; in BT-Drs. 7/5531, S. 9 erwog zumindest der Gesetzgeber eine Einordnung unter § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG, lehnte sie allerdings ab. 250 BT-Drs. 7/5531, S. 8 f.; eingehend: Nacke, in: Brandis/Heuermann, Ertragssteuerrecht, 164. EL 2022, § 22 EStG, Rn. 175; Neudenberger/Wernsmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 331. EL 2023, § 22 F 10. 251 Neudenberger/Wernsmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 331. EL 2023, § 22 F 2; Schüler-Täsch, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, 2022, § 22 Rn. 400; Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, 41. Aufl. 2022, § 22 Rn. 161. 248
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der Bundesversammlung eine Entschädigung, deren Höhe der Präsident des Bundestages in sinngemäßer Anwendung der für die Mitglieder des Bundestages geltenden Bestimmungen festsetzt. Dies bedeutet, dass die in Art. 48 Abs. 3 GG geltenden Bestimmungen sinngemäß auch für die Bundesversammlungsmitglieder Anwendung finden. Hieraus folgt, dass sich auch die Aufwandsentschädigungen der Bundesversammlungsmitglieder dem Grunde nach, parallel zu denen der Bundestagsabgeordneten, nach dem Abgeordnetengesetz richten. Doch während gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 und S. 2 AbgG die Höhe der Entschädigungen der Bundesabgeordneten direkt im Gesetz festgelegt sind, wird die Höhe der Aufwandsentschädigungen für die Bundesversammlungsmitglieder abweichend nicht in einem Gesetz, sondern durch den Bundestagspräsidenten gemäß § 12 BPräsWahlG festgesetzt. Zudem erscheinen die monatlichen festen Diäten der Bundestagsabgeordneten nicht mit den Entschädigungszahlungen, bestehend aus Tage- und Übernachtungsgeldern für anreisende Versammlungsmitglieder, einer Erstattung von Fahrtkosten und der am Ort entstandenen Nebenkosten,252 vergleichbar. Auch der Sinn und Zweck spricht gegen eine Einordnung als sonstige Einkünfte i. S. v. § 22 Nr. 4 EStG. So werden in den Kommentaren im persönlichen Geltungsbereich des § 22 Nr. 4 EStG ehrenamtliche Mitglieder, wie in den kommunalen Vertretungen, explizit ausgenommen, da diese selbstständige Einkünfte i. S. v. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG erzielen.253 Jedoch könnten die Entschädigungszahlungen Einkünfte aus einer sonstigen, selbstständigen Arbeit i. S. d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG sein, wofür zunächst das freie Mandat der Bundesversammlungsmitglieder gemäß § 7 BPräsWahlG i. V. m. Art. 46 GG spricht. Nach vielfach vertretener Auffassung sind hierunter auch die Sitzungsgelder und andere Vergütungen aus der ehrenamtlichen Mitgliedschaft in kommunalen Vertretungsorgane umfasst,254 sodass hier eine gewisse Vergleichbarkeit gegeben sein könnte. Doch anders als bei den Mitgliedern kommunaler Vertretungsorganen sind die Entschädigungszahlungen an die Bundesversammlungsmitglieder mit ihrem Sinn und Zweck der Kostendeckung nicht als Vergütung zu verstehen. Mit der Zahlung von Tage- und Übernachtungsgeldern für anreisende Versammlungsmitglieder, der Erstattung von Fahrtkosten und den am Ort entstandenen Nebenkosten erfolgt allein eine Erstattung tatsächlich angefallener Kosten, die in dieser Form bei den Mitgliedern in kommunalen Vertretungsorganen nicht entstehen. So werden Übernachtungsgelder und Fahrtkosten nur tatsächlich anreisenden Versammlungsmitgliedern gewährt. Für diese differenzierte Auslegung spricht auch 252
Außerdem besteht für die Mitglieder eine Unfallversicherung. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 109; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 81; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, 27, S. 1602 f., 1608; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 70. 253 Vgl. Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, 41. Aufl. 2022, § 22 Rn. 161. 254 Meickmann/Wernsmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 331. EL 2023, § 18 Rn. B 358; Valta in Brandis/Heuermann, Ertragsteuerrecht, 164. EL 2022, § 18 EStG, Rn. 188; Wacker, in: Schmidt, EStG, 41. Aufl. 2022, § 18 Rn. 144.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
die Tatsache, dass die Mitglieder kommunaler Vertretungsorgane einen tatsächlich entstandenen Aufwand von ihrem Entgelt in Abzug bringen können, soweit entstandene Kosten etwaige steuerfrei gezahlte Entschädigungen übersteigen.255 Somit sind die Entschädigungszahlungen an die Bundesversammlungsmitglieder im Ergebnis nicht als eine Einkunft i. S. d. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zu werten, vielmehr können diese keinem steuerpflichtigen Tatbestand zugeordnet werden. Selbst wenn man die Entschädigungszahlungen § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zuordnen wollen würde, dürften dessen Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt sein. Wenngleich es das Gesetz versäumt, den Begriff der selbständigen Arbeit zu definieren, dürfte sich insbesondere im Umkehrschluss zu § 15 Abs. 2 S. 1 EStG und in Abgrenzung zu § 19 EStG (i. V. m. § 1 LStDV) folgende Definition ableiten lassen: Selbständige Arbeit ist diejenige Tätigkeit, mit der ein Steuerpflichtiger insbesondere durch seinen persönlichen Arbeitseinsatz, ohne weisungsabhängig zu sein, nachhaltig Gewinn erzielen will.256 Dass die Entschädigungszahlungen nur anlässlich einer vorübergehenden Tätigkeit erfolgen, dürfte wegen § 18 Abs. 2 EStG mit Blick auf die Nachhaltigkeit der Tätigkeit noch unschädlich sein, wenngleich aufgrund der nur einmaligen und in Anbetracht des fünfjährigen Rhythmus der Bundesversammlung kaum planbaren wiederholenden Teilnahme begründete Zweifel bestehen dürften. Jedenfalls dürfte aufgrund der mit der Teilnahme entstehenden Kosten auf der einen Seite und den in erster Linie kostendeckend ausgestalteten Entschädigungszahlungen auf der anderen Seite ein Gewinn weder angestrebt noch tatsächlich erzielt werden. Ungeachtet dessen, ob sich die Entschädigungszahlungen überhaupt einem steuerpflichtigen Tatbestand zuordnen lassen oder einen Besteuerungstatbestand erfüllen,257 wären die Entschädigungszahlungen an die Bundesversammlungsmitglieder wenigstens als steuerfreie Einnahmen i. S. d. § 3 Abs. 12 lit. a) EStG einzuordnen.258 Nach § 3 Abs. 12 lit. a) EStG sind Bezüge aus der Bundeskasse steuerbefreit, die in einem Bundesgesetz als Aufwandsentschädigung festgesetzt und im Haushaltsgesetz ausgewiesen werden. Wie dargestellt, werden die finanziellen Mittel für die Durchführung der Bundesversammlung, mit den Entschädigungszahlungen als Hauptbestandteil, im Haushalt des Deutschen Bundestages im „Ein255 Meickmann/Wernsmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 331. EL 2023, § 18 Rn. B 358. 256 Siehe auch H 15.6 EStH unter „Allgemeines“. 257 Zwar fehlt es nach der hier vertretenen Auffassung an einem Steuertatbestand für Entschädigungszahlungen an die Mitglieder der Bundesversammlung; nach Bergkemper, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, 315. EL 2022, § 3 Rn. 1 erfasst § 3 EStG indes sowohl steuerpflichtige als auch nicht steuerbare Einnahmen, sodass die Entschädigungen an die Bundesversammlungsmitglieder auch insoweit einer steuerrechtlichen Betrachtung unterzogen werden sollen. 258 Hinsichtlich etwaiger Reise- oder Umzugskosten sowie Trennungsgelder wäre indes § 3 Nr. 13 EStG die speziellere Vorschrift; siehe auch Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, 315. EL 2022, § 3 Nr. 12 Rn. 7.
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173
zelplan 02“ im Kapitel „0214 Bundesversammlung“ (bis zum Jahr 2015 im Kapitel 0204) eingestellt und als solche ausgewiesen. Durch § 12 BPräsWahlG finden die in Art. 48 Abs. 3 GG geltenden bundesgesetzlichen Bestimmungen des Abgeordnetengesetzes, die die Regelungen zu den Entschädigungen konkretisieren, sinngemäß auch für die Bundesversammlungsmitglieder Anwendung. Somit ist die steuerrechtliche Gleichbehandlung der jeweils vom Deutschen Bundestag bereitgestellten Finanzmittel für die nach § 3 Abs. 12 lit. a) EStG steuerfreie Auszahlung von Entschädigungen und Aufwandspauschalen zum einen für die Bundestagsabgeordneten und zum anderen für die Bundesversammlungsmitglieder ein weiteres Indiz für eine parlamentsähnliche Charakterisierung der Bundesversammlung.259
III. Zusammenfassende Gegenüberstellung der verschiedenen Aspekte 1. Die Ausgangslage In der rechtswissenschaftlichen Literatur wurde die Bundesversammlung vor dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts 2014 überwiegend als ein parlamentsähnliches Organ angesehen, mit der Zubilligung einer weitgehend vergleichbaren Stellung zu den Abgeordneten des Bundestages. In den juristischen Kommentierungen zu Art. 54 GG ist nach dem Urteil ein Wandel zu erkennen, wonach gleichlautend mit dem Bundesverfassungsgericht ohne nähere Ausführungen die Bundesversammlung nun weitgehend als ein kürähnliches Organ bewertet wird. Zur Einordnung und Neubewertung der Bundesversammlung als Organ bedurfte es mehrerer Schritte in einer Detailanalyse ausgehend von dem Ausspracheverbot (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG), dem Kreationsakt (Art. 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 6 GG), der Stellung der Bundesversammlung als Verfassungsorgan, der Unabhängigkeit des Bundespräsidenten bis hin zu den Bedeutungen und Ausgestaltungen der einfachgesetzlichen Regelungen aufgrund der Ermächtigung des Art. 54 Abs. 7 GG und dem Zurückgreifen auf die Ressourcen des Bundestages (Art. 54 Abs. 4 S. 2 i. V. m. dem BPräsWahlG). Nach der Untersuchung der beiden Prototypen „Parlament“ und „Kür“ kristallisiert sich schon bald heraus, dass die Bundesversammlung weder mit einem Parlament noch mit einem Kürorgan gleichzusetzen ist, sondern von beidem Teile in sich vereinigt. Die Bundesversammlung ist damit als ein atypisches Organ zu charakterisieren. 259 Wie dargestellt besteht eine praktische Relevanz in erster Linie nur für solche Bundesversammlungsmitglieder, die nicht zugleich Abgeordnete sind, weil deren Aufwand nach § 12 AbgG abgegolten ist und etwaige Flugkosten oder Schlafwagenkosten nach § 16 AbgG erstattet werden.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
2. Die wesentlichen Erkenntnisse Die Bundesversammlung beschränkt sich gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ausschließlich auf die Wahl des Bundespräsidenten ohne Aussprache. Sie erlässt keine Gesetze und übt keine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive aus. Aus dem verfassungsrechtlich verankerten Ausspracheverbot ist normativ mit der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts einschränkend herzuleiten, dass eine für ein Parlament typische Aussprache im Plenum unterbunden werden soll, um so einen würdigen Ablauf des Wahlaktes zu garantieren. Die Bundesversammlung erfüllt aufgrund der Aufgabenstellung und dem in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierten Ausspracheverbot mit der Wahl- und Repräsentationsfunktion nur zwei der fünf Grundfunktionen eines Parlamentes.260 Insbesondere fehlen die Gesetzgebungskompetenz und der Austausch von Argumenten sowie die öffentliche Debatte und Diskussion als wesentliche Elemente, um im parlamentarischen Verfahren den Ausgleich widerstreitender Interessen zu ermöglichen. Die Wahl in der Bundesversammlung ist jedoch auch kein rein zeremonieller Akt, der eine bereits feststehende vorherige Entscheidung und Willensbildung über den neuen Bundespräsidenten lediglich feierlich bestätigt und legitimiert, sodass die Bundesversammlung auch nicht als ein rein kürähnliches Organ bezeichnet werden kann. Es finden sich keine Indizien dafür, dass ein „zeremonielles, symbolisches“ Abnicken einer zuvor getroffenen Entscheidung vom Gesetzgeber bezweckt oder gewollt ist, der als Formalakt ohne jeglichen parlamentarischen Anteil im Verhältnis zur Auswahl des Kandidaten und dem politischen Wahlakt nur von rechtsbekundender und deklaratorischer Natur ist. Dies lässt sich weder historisch noch normativ herleiten. Auch wenn Carlo Schmid (SPD) im Parlamentarischen Rat zweimal von einer Kür gesprochen hat, so hat auch er betont, dass der Bundespräsident gewählt werde.261 Es sprechen – neben den beiden der Bundesversammlung übertragenen parlamentstypischen Funktionen – weitere gewichtige Indizien für einen parlamentsähnlichen Charakter. Hierzu gehört zum einen das Zurückgreifen auf finanzielle und personelle Ressourcen des Deutschen Bundestages262 sowie die steuerliche Gleichbehandlung der Entschädigungszahlungen von Bundestagsabgeordneten und Bundesversammlungsmitgliedern263, zum anderen die einfachgesetzliche Verweisung in Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 BPräsWahlG, der auf die Anwendbarkeit parlamentarischer Schutznormen des freien Mandats, des Kündigungsschutzes, der Immunität und Indemnität nach Art. 46, 47 und 48 Abs. 2 GG für die Bundesversammlungsmitglieder verweist264. Nicht zuletzt deutet auch die sinngemäße An260
Vgl. Kapitel 3 B. 5., S. 128 f. Vgl. Kapitel 2 B. IV. 2. a) aa) (2), S. 91 – 97. 262 Vgl. Kapitel 3 C. 6., S. 167 – 169. 263 Vgl. Kapitel 3 C. 7., S. 169 – 173. 264 Vgl. Kapitel 3 C. 5., S. 158 – 166. 261
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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wendung der Geschäftsordnung des Bundestages für die Bundesversammlung nach § 8 BPräsWahlG auf einen parlamentsähnlichen Charakter hin.265 Zudem spricht Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich von „gewählt“. Daher vermag die These des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Bundesversammlung mit dem parlamentarischen Bundestag nicht vergleichbar sei,266 aus normativer Betrachtung nicht zu überzeugen, zumal über Art. 54 Abs. 7 GG gewichtige einfachgesetzliche Normen eher ein parlamentsähnliches Organ vor Augen haben. Gegenteiliges lässt sich auch unter Beachtung der Funktion der Bundesversammlung als ein Organ mit der alleinigen Aufgabe der Bestimmung eines Bundespräsidenten nicht ableiten. Die Gegenüberstellung der einzelnen Kriterien zeigt, dass die überwiegende Anzahl von (vielfach einfachgesetzlichen) Normen für eine parlamentsähnliche Interpretation spricht. Dem stehen jedoch das Ausspracheverbot und die Würde des Wahlaktes in einem besonderen Gremium entgegen. Nicht zuletzt fehlt es der Bundesversammlung auch an den wesentlichen Aufgaben eines Parlamentes, Gesetze zu verabschieden sowie Kontrollrechte auszuüben.
IV. Die Einordnung der Bundesversammlung Wie die Analyse gezeigt hat, sprechen eine überwiegende Anzahl von (vielfach einfachgesetzlichen) Normen für eine parlamentsähnliche Interpretation, während gleichzeitig das Ausspracheverbot, die Würde des Wahlaktes und die fehlende Gesetzgebungskompetenz auf eine eher kürähnliche Charakterisierung hindeuten. Zwar lässt sich auch ein parlamentarisch-demokratisches Wahlverfahren mit der Würde des zu besetzenden Amtes in Einklang bringen, dennoch sind dem Sitzungsleiter mit Blick auf etwaige Personaldiskussionen sowie diesbezügliche Aussprachen und möglichen Diffamierungen wenig(er) korrigierende und lenkende Eingriffe möglich. Das Unterbinden offener personeller Debatten und „Aussprachen“ trägt zu der ganz besonderen, erhabenen und „demokratiefestlichen“ Stimmung bei, die in den bisherigen Bundesversammlungen geherrscht hat. Aus diesem Grund ist es geboten, für den (engeren) Wahlakt ein würdiges Verfahren ohne offene Diskussionen als erforderlich und vom Verfassungsgeber als gewollt anzusehen, das mit einer starken Stellung des Sitzungsleiters und beschränkten Rechten der Versammlungsmitglieder im Vergleich zu Parlamentsabgeordneten einhergeht. Dies erscheint mit Blick auf denkbar zukünftig pluralistische Entwicklungen in der Zusammensetzung der Bundesversammlung auch in der derzeit gefestigten Demokratie der Bundesrepublik Deutschland als angebracht. Dadurch ist es dem Sitzungsleiter möglich, offen ausgetragene politische Konflikte, die in die Parlamente gehören und dort nach den Regeln demokratischer Mehrheitsentscheidungen gelöst werden, von der Bundesversammlung fernzuhalten. Auch die personelle Zusammensetzung der 265 266
Vgl. Kapitel 3 C. 5. a), S. 160 – 162. Vgl. BVerfGE 136, 277, 304 f., 309 f., 312.
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
Bundesversammlung trägt zu dieser besonderen Stimmung – fern von politischen Auseinandersetzungen – bei, die in einzigartiger Weise das föderale Rückgrat der Bundesrepublik abbildet und den durch den Wahlakt bestimmten Organwalter des Verfassungsorgans „Bundespräsident“ als von Bund und Ländern gleichermaßen getragenes Staatsoberhaupt aller Deutschen zeigt. Daher reichen auch die zahlreichen einfachgesetzlichen Indizien, die im verfassungsrechtlichen Rahmen des Art. 54 GG eingebunden sind, nicht aus, um die Bundesversammlung als ein „parlamentsähnliches Gremium“ anzusehen – zumal als gewichtige Gegenargumente die Bundesversammlung weder parlamentstypisch unmittelbar vom Volk gewählt wird noch die für ein Parlament charakteristischen Gesetzgebungs-, Beratungs-, Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse innehat.267 Zwar zeigen die vergleichbaren Regelungen zum Ausspracheverbot bei der Wahl des Bundeskanzlers im ersten Wahlgang (Art. 63 Abs. 1 GG) und auch in den Landesverfassungen bei der Wahl der Ministerpräsidenten (bspw. Art. 29 NV, Art. 52 Abs. 1 LVerfG NRW, Art. 46 Abs. 1 S. 1 LV BW), dass ein Ausspracheverbot nicht dem Wesen eines parlamentarischen Wahlorgans widerspricht und unter Geltung üblicher parlamentarischer Regeln möglich ist. Dennoch ist in der Gesamtschau auch unter Berücksichtigung der verfassungsgeschichtlichen Diskussionen das Ausspracheverbot in Kombination mit der besonderen Würde des Amtes insgesamt als gewichtig einzuordnen. Dies zeigt sich auch darin, dass der Verfassungsgeber die nähere Ausgestaltung des Wahlverfahrens dem einfachen Bundesgesetzgeber überlassen hat, das Ausspracheverbot und die besondere Würde des Amtes sich jedoch direkt aus der Verfassung ergeben und daher auch dem Verfassungsgeber als elementar erschienen. Die besondere Bedeutung der kürähnlichen Anteile neben dem Fehlen der Gesetzgebungskompetenz und der Kontrollfunktion gleicht die weit überwiegende Anzahl einfachgesetzlicher parlamentsähnlicher Regelungen in einer abstrakten Betrachtung zu einem Gleichgewicht aus. Insgesamt ist deshalb festzustellen, dass das besondere „Kreationsorgan“ Bundesversammlung in Teilen sowohl parlamentsähnliche Elemente als auch kürähnliche Charakterzüge in sich vereinigt. Diese bewusste Konzeption des Gesetzgebers spricht dafür, die Bundesversammlung entweder als ein „Organ sui generis“ oder als ein „Organ mixtum compositum“ einzuordnen. 1. Die Abgrenzung zu einem „Organ sui generis“ Der Ausdruck „sui generis“ ist ein dem lateinischen entnommener Terminus und bedeutet wörtlich übersetzt „durch sich selbst eine Klasse werdend, einzig, besonders“. In der Wissenschaft werden juristische Sachverhalte, die nicht in ein vorzu267 So auch: Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 2, S. 1599 f.
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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findendes Korsett eingeordnet werden können, eigenständig eingeordnet und als „sui generis“ klassifiziert und dienen als Ausdruck für eine Abgrenzung von dem Üblichen oder Normalen.268 Auch im deutschen Vertragsrecht sprechen Juristen bisweilen von Verträgen „sui generis“. Hiermit wird ein Vertragstyp gekennzeichnet, der keinem der gesetzlich bestimmten Vertragsformen zuzuordnen ist. Es sollte jedoch nur dann auf diese Kategorie des „sui generis“ zurückgegriffen werden, wenn alle Möglichkeiten einer Zuordnung ergebnislos ausgeschöpft sind, das zu untersuchende Gebilde in bereits vorhandene oder zu verbindende Kategorien einzuordnen.269 Das Bundesverfassungsgericht stufte die EU 1994 in seinem Maastricht-Urteil270 wegen der fehlenden Staatlichkeit – unter Verwendung des neugebildeten Begriffs – als einen „Staatenverbund“ ein, quasi als einen Verband „sui generis“. Die EU stelle weder einen Bundesstaat noch einen Staatenbund dar, sondern ein einzigartiges völkerrechtliches Gebilde.271 Die EU als ein „Organ sui generis“ zu bezeichnen, erscheint gerechtfertigt, da dieses ein Gebilde mit eigenständigen Organen und Kompetenzen darstellt, das auch nicht aus verschiedenen bereits bestehenden Formen zusammengesetzt oder nachgebildet ist. Deutlich wird dies beispielsweise an dem Europäischen Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten zusammensetzt, oder an dem Ministerrat, der themenbezogen aus den entsprechenden Fachministern der Mitgliedstaaten besteht. Selbst die EU-Kommission als „Hüterin der Verträge“ ist Exekutive und Legislative zugleich und das EU-Parlament hat nur begrenzte Gesetzgebungskompetenzen, aber entscheidende Mitbestimmungsrechte bei der Verabschiedung des Haushaltes und der Besetzung der EU-Kommission.272 Hierbei handelt es sich um Ausformungen staatlicher Gewalt, die weder ein Vorbild abbilden noch Vergleichbares darstellen, also etwas wirklich Neues kreieren. Im Gegensatz zur EU greift die Bundesversammlung hingegen in der Ausgestaltung auf historische Muster hinsichtlich ihrer kürähnlichen Aspekte zurück und vereinigt gleichzeitig parlamentsähnliche Kompetenzen und Regelungen des Bun-
268
Isensee, Europäische Nation?, 2009, S. 255. So im Ergebnis auch Isensee, Europäische Nation?, 2009, S. 255: „Wo die vertrauten Begriffe versagen, hilft sich der Jurist mit der Qualifikation als Sache sui generis.“ 270 BVerfGE 89, 155, 213. 271 Einerseits fehlt der EU die Staatlichkeit, sodass sie nicht als Bundesstaat angesehen werden kann, andererseits geht sie über die Verbundenheit in einem reinen Staatenbund hinaus. Um die EU trotzdem zu erfassen, qualifiziert sie das Bundesverfassungsgericht als Gebilde „sui generis“ und führte hierfür den neuen Begriff des Staatenverbundes ein. Staatsrechtler diskutieren ebenfalls, ob das schweizerische Regierungssystem, das gegenwärtig als einziger Staat der Welt eine Direktorialregierung hat, als Typus „sui generis“ zu klassifizieren sei. Vgl. hierzu u. a. Loewenstein, Verfassungslehre, 4. Aufl. 2000, S. 120. 272 Zu den Organen und Kompetenzen der Europäischen Union siehe bspw. Hobe, Europarecht, 10. Aufl. 2020, S. 76 – 105. 269
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Kap. 3: Die Charakterisierung der Bundesversammlung
destages in sich. Daher ist die Bundesversammlung nach obiger Definition kein „Organ sui generis“. 2. Die Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ Dem historischen Willen Rechnung tragend – bei gleichzeitiger Differenzierung zu den bestehenden Organen – erscheint es angemessen, die Bundesversammlung als ein vereinigendes Organ, als ein Gebilde „mixtum compositum“ zu bewerten. Denn auch wenn die Bundesversammlung eine Vielzahl parlamentsähnlicher Züge beinhaltet, Vorschriften des Bundestages sinngemäß Anwendung finden und die Bundesversammlung damit die Wahl- und Repräsentationsfunktion erfüllt, so fehlen ihr mit der Gesetzgebungs-, der Kontroll- sowie der Artikulations- und Informationsfunktion drei ganz wesentliche Charakteristika eines Parlamentes. Stattdessen wurden in der Bundesversammlung parlamentarische Elemente mit Elementen einer früheren Kaiserkrönung, einer Kür, „gemixt“. Diese Besonderheit findet Ausdruck in den normativen Bestimmungen und entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Die Bundesversammlung verbindet die beiden Elemente von Parlament und Kür so miteinander, dass ein Organ entsteht, das in seiner Form zwar einzigartig und mit keinem anderen Verfassungsorgan im In- oder Ausland vergleichbar ist, dabei jedoch kein völlig neues Gebilde darstellt. Vielmehr vereint es bereits Vorhandenes miteinander, „mixt“ quasi Historisches mit Vorbefindlichem im Grundgesetz, konkret mit einzelnen Regelungen des Bundestages. Dieses neue Gebilde, die Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“, ist eigenständig und keiner bestehenden Staatsgewalt zuzuordnen, es ist eine Art „Zwitterwesen“. Allein die Beispiele der Rechnungshöfe als selbstständige und unabhängige oberste Behörden oder die Aufgabenbereiche und Sanktionsmöglichkeiten der unabhängigen Datenschutzbeauftragten auf Bundes- und Landesebene zeigen, dass dem deutschen Staatsgefüge auch Zwitterformen, die keine eindeutige Zuordnung zu einer der drei Staatsgewalten zulassen, nicht gänzlich fremd sind. Somit knüpft die Bundesversammlung auch diesbezüglich an bereits Vorhandenes an, beziehungsweise finden auch in jüngerer Zeit diesbezügliche Kreationen eine Fortsetzung. Wie bereits dargestellt sprach Carlo Schmid (SPD) in der 10. Sitzung im Parlamentarischen Rat in einem anderen Zusammenhang beiläufig von einer „Kür“ durch die Bundesversammlung273, während andere Mitglieder anschließend diese Formulierung weder übernahmen noch darauf eingingen.274 Hans-Christoph Seebohm (DP) verwendete in einem späteren Wortbeitrag in dieser Sitzung den Begriff der „Wahlkurie“, in einem weiteren Wortbeitrag erst die Formulierung „gekürt“ und
273
Vgl. Kapitel 2 B. IV. 2. a) aa) (2), S. 91 – 97. 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 290 f. 274
C. Status der Bundesversammlung, der Mitglieder und Verfahrensregelungen
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zwei Sätze später „gewählt“. Diese Wortwahl in einem so engen zeitlichen Zusammenhang dürfte Seebohm nicht unbeabsichtigt verwendet haben. Obgleich keine Diskussion über diese Begrifflichkeiten oder über eine Charakterisierung der Bundesversammlung stattgefunden hat, ist davon auszugehen, dass den Mitgliedern im Parlamentarischen Rat durch die Verwendung unterschiedlicher Beschreibungen bewusst war, dass die Bundesversammlung sowohl kür- als auch parlamentsähnliche Anteile in sich vereinigt. Diese Einschätzung fand dann möglicherweise im verwendeten Begriff der „Wahlkurie“ ihren Ausdruck. Denn aus dem Begriff „Wahlkurie“ kann der Rückschluss gezogen werden, dass Seebohm bereits zur damaligen Zeit „Wahl“ und „Kür“ sprachlich miteinander vereinigen und in einen Zusammenhang stellen wollte. Dies obgleich nach dem strengen Wortlaut zum einen unter „Kurie“ der Versammlungsort zu verstehen ist und zum anderen „Kür“ und „Kurie“ auch nicht auf denselben Wortstamm zurückzuführen sind, da „Kurie“ aus dem Lateinischen, jedoch „Kür“ aus dem Alt-/ und Mittelhochdeutschen stammt. 3. Das Abgrenzungskriterium für parlaments- und kürähnliche Anteile im Ablauf des Wahlverfahrens der Bundesversammlung Die Charakterisierung der Bundesversammlung als ein Organ, das kürähnliche und parlamentsähnliche Anteile in sich vereinigt, eröffnet dem Bundestagspräsidenten in seiner Sitzungsleitung gleichzeitig gewisse Freiräume und Ermessensspielräume im Rahmen der verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Möglichkeiten.275 Die Ausübung dieses Ermessens bei der Sitzungsleitung ist jedoch zwingend vom Verfahrensschritt abhängig und hat sich nach der jeweiligen Situation und den Gegebenheiten auszurichten. Aus den vorangegangenen Ergebnissen lässt sich eine Abgrenzung wie folgt vornehmen: • Ein Verfahrensschritt im Ablauf der Bundesversammlung ist parlamentsähnlich, wenn es sich um einen Willensbildungsprozess handelt, dessen Ergebnis noch nicht feststeht, der noch Veränderungen beinhalten kann, dessen konkreter Ausgang noch offen ist. • Der kürähnliche Charakter schlägt in einem Verfahrensschritt der Bundesversammlung dann durch, wenn es sich um einen Akt der Fortführung oder Vollendung eines bereits feststehenden Ergebnisses handelt, der den Gesamtkomplex einer Willensbildung zum würdevollen Auftakt oder Abschluss bringt und meist nach außen, an die Öffentlichkeit, gerichtet ist. Die Zuordnung der einzelnen Verfahrensschritte im Ablauf der Bundesversammlung als kür- oder als parlamentsähnlich wird im folgenden Kapitel chronologisch vorgenommen und nochmals in einer kompakten Übersicht in der Zusammenfassung in Thesen in Kapitel 5 auf Seite 366 dargestellt. 275 Auch wenn dem Bundesverfassungsgericht in der Argumentationskette nicht zuzustimmen ist, so ist dessen Ergebnis in der Frage der Ermessensfreiräume zutreffend.
Kapitel 4
Verfassungsfragen zum Status der Mitglieder und zum Ablauf einer Bundesversammlung unter Berücksichtigung ihres Charakters als „Organ mixtum compositum“ Anknüpfend an die Einordnung der Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ wird im Folgenden die Zusammensetzung und der vollständige und chronologische Ablauf einer Bundesversammlung von der Vorbereitung bis zu deren Schließung unter Berücksichtigung der im vorangegangenen Kapitel entwickelten abstrakten Abgrenzungskriterien von kür- und parlamentsähnlichen Verfahrensschritten dargestellt. Ferner ist hierbei auf verfassungsrechtliche Einzelprobleme einzugehen. Der Ablauf der Bundesversammlung richtet sich nach den gesetzlichen Vorgaben: Aus der Verfassung selbst ergeben sich neben dem bereits angesprochenen Ausspracheverbot und der Bestimmung der Bundesversammlung als Wahlorgan (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG) auch Festlegungen zur Zusammensetzung der Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 3 GG), zu den Wählbarkeitsvoraussetzungen der Kandidaten (Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG), zu den Voraussetzungen einer fünfjährigen Amtszeit sowie zu der Begrenzung auf eine einmalige Wiederwahl (Art. 54 Abs. 2 GG), zu den Einberufungsfristen (Art. 54 Abs. 6 GG) und den Mehrheitserfordernissen in den einzelnen Wahlgängen (Art. 54 Abs. 6 GG).1 Mit dem Bundespräsidentenwahlgesetz hat der Bundesgesetzgeber 1959 von der Ermächtigung des Art. 54 Abs. 7 GG Gebrauch gemacht und die dortigen Regelungen seitdem mehrfach revidiert.2 Die ersten beiden
1 Vgl. auch die formale Kritik an Art. 54 GG bei v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 39, wonach die Vorschrift wichtige Aussagen über das Amt des Bundespräsidenten mit Regelungen zur Bundesversammlung vermische und eine Aufteilung auf zwei Artikel wünschenswert gewesen wäre. Ferner enthalte die Grundgesetznorm Details, die in einem Gesetz oder einer Geschäftsordnung passender gewesen wären, während wichtige Regelungen, wie bspw. die Statusrechte der Mitglieder oder die Öffentlichkeit der Sitzung, einfachgesetzlich ausgestaltet wurden. 2 Gesetz vom 25. April 1959 (BGBl. 1959, I, S. 230) mit der Änderung des § 2 BPräsWahlG sowie drei Änderungen mit dem Gesetz vom 24. Juni 1975 (BGBl. 1975, I, S. 1593, 1599), dem Gesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004, I, S. 1950) mit den Änderungen der §§ 7 und 13 BPräsWahlG sowie den Änderungen vom 12. Juli 2007 (BGBl. 2007, I, S. 1326). Zu den Gesetzesmaterialien und dem parlamentarischen Beratungsgang siehe die umfangreichen Verweise auf die Drucksachen des Bundestages bei: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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Bundesversammlungen 1949 und 1954 erfolgten hingegen nach den Wahlgesetzen zum ersten3 und zweiten4 Bundestag.5
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung Die Bundesversammlung besteht gemäß Art. 54 Abs. 3 GG paritätisch aus „geborenen“ Mitgliedern des Bundestages sowie den „gekorenen“ Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder gewählt werden.6 Diese unitarische und föderative Struktur der Bundesversammlung spiegelt die wesentlichen Elemente einer repräsentativen Demokratie sowie der Bundesstaatlichkeit wider, die die Bundesrepublik prägen.7 Durch diese Zusammensetzung genießt der Bundespräsident – nach dem Bundestag – die zweitstärkste Legitimationsgrundlage aller deutschen Verfassungsorgane.8 Die Bundesversammlung konstituiert sich im Unterschied zu den anderen Staatsorganen des Bundes jeweils neu für die anstehende Wahl des protokollarisch an höchster Stelle9 stehenden Bundespräsidenten.10 Im Bundespräsidentenwahlgesetz ist insbesondere geregelt, dass die Bundesregierung – nach der letzten amtlich festgestellten Bevölkerungsanzahl – die Anzahl der Mitglieder festsetzt, die jeder Landtag in die Bundesversammlung entsendet. Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 38, 53 und Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 58. 3 §§ 24, 25 des Gesetzes vom 15. 6. 1949, abgedruckt: BGBl. 1949, I, S. 21; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 41. 4 §§ 58, 59 des Gesetzes vom 8. 8. 1953, abgedruckt: BGBl. 1953, I, S. 470; Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 253 f. 5 Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 5. Vgl. hierzu die Beschreibung des Verfahrensablaufes vor Erlass des BPräsWahlG bei: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 110 – 112. 6 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 11, S. 1602; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 95; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 12; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 182. 7 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 95; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 181. 8 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 271; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 2, S. 202. 9 Die protokollarisch höchste Position des Bundespräsidenten kommt auch im Bundeshaushalt zum Ausdruck, in dem der Einzelplan des Bundespräsidenten an erster Stelle im Bundeshaushalt steht. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 40; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 13; Pieper, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 3. 10 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 1, S. 1599.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
I. Die nach Art. 54 Abs. 3 GG geborenen Mitglieder Den Bundestagsabgeordneten fällt die Mitgliedschaft in der Bundesversammlung „kraft Amtes“ zu. Somit erwerben alle Mitglieder des Bundestages mit ihrem Bundestagsmandat zugleich auch ein Mandat für die Mitgliedschaft in der Bundesversammlung,11 auch wenn sie zunächst nur für den Bundestag gewählt wurden.12 Dies gilt unabhängig davon, ob sie ein Direktmandat, einen Listenplatz oder das Mandat als Überhang- oder Ausgleichsmandat nach § 6 Abs. 2, Abs. 4 und Abs. 5 BWahlG erhalten haben.13 In der Bundesversammlung unterliegen die Bundestagsmitglieder dann in ihrer besonderen Funktion als „Wahlmänner“ den Regelungen der Bundesversammlung.14
II. Die nach Art. 54 Abs. 3 GG gekorenen Mitglieder Die von den 16 Volksvertretungen der Länder „gekorenen“ Mitglieder repräsentieren das föderale Element der Bundesversammlung.15 Die Landtage wählen die Mitglieder der Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 3 GG nach den Grundsätzen der Verhältniswahl.16 11 Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 9; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 11, S. 1602. Vgl. auch Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93 mit dem Hinweis, dass die mit der Funktionsfähigkeit des Parlamentes gerechtfertigte Sperrklausel einer vollständigen Spiegelung der im Volk vertretenen Auffassung entgegensteht. Dies könne jedoch durch die in der Praxis übliche Berufung von parteilosen Persönlichkeiten bei den „gekorenen“ Mitgliedern etwas ausgeglichen werden. 12 Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 241. 13 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 31; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 73. Ferner hat ein Versterben eines Bundestagsabgeordneten keine Auswirkungen auf die Anzahl der „geborenen“ Mitglieder, da unmittelbar eine andere Person nachrückt. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 90. 14 Vgl. Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 31; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83. 15 Vgl. den konträren Standpunkt von Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 242 m. w. N., wonach das föderative Element derzeit nicht verwirklicht werde. Dieser führt an, dass die Geschichte der Bundesversammlung zeige, dass die Landesvertreter lediglich „Anhängsel“ der Bundestagsabgeordneten in der Bundesversammlung seien, sich den Vorstellungen der Bundespartei willenlos fügten und daher nicht als Repräsentanten ihrer Länder, sondern vielmehr allein als Vertreter der Parteien aufträten. Verstärkend käme hinzu, dass die Auswahl der Präsidentschaftskandidaten in der Praxis bereits zuvor ausschließlich von den Parteigremien der Bundesparteien vorgenommen worden sei und die Kandidaten erst anschließend, spätestens in der Bundesversammlung, vorgeschlagen würden. 16 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989,
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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Die Voraussetzungen der Wählbarkeit zur Bundesversammlung entsprechen nach § 3 BPräsWahlG denen der Wählbarkeit zum Bundestag. Demnach ist gemäß § 15 i. V. m. § 13 BWahlG wählbar, wer am Wahltag seit mindestens einem Jahr Deutscher i. S. v. Art. 116 Abs. 1 GG ist, das 18. Lebensjahr vollendet hat, nicht von dem Wahlrecht oder der Wählbarkeit ausgeschlossen wurde oder die deutsche Staatsangehörigkeit ausgeschlagen hat. Nicht wählbar sind Mitglieder des Bundestages, da sie bereits kraft ihres Mandats Mitglieder der Bundesversammlung sind.17 Die Landesvertreter selbst müssen nicht den Landtagen angehören (vgl. Art. 54 Abs. 3 GG i. V. m. § 3 BPräsWahlG). Daher haben die in den Landtagen vertretenen Parteien die Möglichkeit, Regierungsmitglieder ohne Parlamentsmandat, Bürger und Prominente18 – gleich ob „Landeskind“ oder nicht – zu wählen.19 In der Praxis benennen die Landesparlamente jedoch überwiegend Landtagsabgeordnete und Regierungsmitglieder.20 Dabei ist die Inkompatibilität nach Art. 55 GG unbeachtlich, da die Bundesversammlung weder eine gesetzgeberische Körperschaft darstellt noch
§ 59, Rn. 11, S. 1602; Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217, 218. Siehe auch die Kritik von v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 2, wonach die Länderbeteiligung aufgrund des Einflusses der politischen Parteien und deren Zentralismus lediglich auf dem Papier bestehe und die Ländervertreter von den Parteiführern für ihre längst getroffene Entscheidung vereinnahmt würden. 17 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 49. 18 Vgl. auch Morlok, Die Bundespräsidenten-Kür – „Die Wahl-Praxis ist rechtswidrig“, Spiegel online, 21. 5. 2009, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundespraesidentenkuer-die-wahl-praxis-ist-rechtswidrig-a-626139.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023, der richtigerweise darauf hinweist, dass selbst im Falle des Fehlens einer solchen Kompetenzzuweisung der Kandidatennominierungen durch die Parteien in den Landesparlamenten kein Vorschlag eines Bürgers berücksichtigt werden müsse. Zwar gehöre zu den übergeordneten Wahlgrundsätzen die Allgemeinheit der Wahl, woraus prinzipiell ein Teilhaberecht für jedermann resultiere, jedoch sei das Vorschlagsrecht eng mit dem Recht wählen zu dürfen verbunden, sodass es für das Recht eines Außenstehenden auf Einreichen von Wahlvorschlägen einer ausdrücklichen Regelung bedürfe. 19 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 24; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 91 f.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 49; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 219; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 28; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 2; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 6; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22; Wellkamp, Die Volkswahl des Bundespräsidenten, BayVBl. 2002, 267, 267. 20 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 50; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 10; Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/ v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 44; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 14; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 62.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
es sich bei ihr um eine Regierungstätigkeit handelt.21 Somit kann rechtlich auch ein amtierender Bundespräsident, ein Präsidentschaftskandidat im Rahmen seines Bundestagsmandats oder als Landesvertreter ebenso wie der Bundesratspräsident – selbst im Falle einer Vertretung des Bundespräsidenten aufgrund einer vorzeitigen Amtsbeendigung – Mitglied der Bundesversammlung sein.22 1. Die Festlegung der Anzahl der Landesvertreter durch die Bundesregierung Die Anzahl der Bundesversammlungsmitglieder sowie deren Verteilung auf die einzelnen Länder stellt gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 bis 3 BPräsWahlG die Bundesregierung durch Beschluss fest,23 teilt dies den Landtagen mit und verkündet es gemäß § 2 Abs. 1 S. 4 BPräsWahlG im Bundesgesetzblatt.24 Hierbei wird von der gesetzlichen Mitgliederanzahl des Bundestages von 598 Abgeordneten nach § 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG unter Hinzuzählen von Überhang- und Ausgleichsmandaten sowie der letzten amtlich festgestellten Bevölkerungszahl der Länder zum Zeitpunkt der Be-
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Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 108; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2005, § 61, Rn. 63; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 55 (50. Edition: 15. 2. 2022), Rn. 1.2. 22 So waren die späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP), Heinrich Lübke (CDU), Walter Scheel (FDP), Karl Carstens (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) bei ihrer (ersten) Präsidentschaftskandidatur durch ihr Bundestagsmandat auch zugleich geborene Mitglieder der Versammlung. Horst Köhler wurde als Landtagsvertreter Baden-Württembergs von der CDU entsandt. Doch auch eine Nominierung eines amtierenden Bundespräsidenten als Landesvertreter steht Art. 55 Abs. 1 GG nicht entgegen, da die Inkompatibilitätsvorschriften lediglich die Unvereinbarkeit des Amtes des Bundespräsidenten mit der Mitgliedschaft in einer Regierung oder gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes betreffen, worunter die Bundesversammlung als reines Wahlgremium nicht fällt. Jedoch wird die Mitgliedschaft eines amtierenden Bundespräsidenten als Landesdelegierter in einer Bundesversammlung als „schlechter politischer Stil“ bewertet. Vgl. Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 54, Rn. 6; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.5 ff. m. w. N. 23 Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 11, S. 1602. Siehe auch Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 94, die aufgrund des Wortlautes „das Nähere“ in Art. 54 Abs. 7 GG schlussfolgert, dass der Bundesgesetzgeber auch die Gesetzgebungskompetenz für die Regelung der Ausgestaltung der Wahl der Landesvertreter habe. 24 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 51; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 9; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 19, S. 1605 f.; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 35; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 182.
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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schlussfassung ausgegangen.25 Zugleich wird damit die paritätische Zusammensetzung nach Art. 54 Abs. 3 GG aus Ländervertretern und Bundestagsmitgliedern hergestellt. Der jeweils auf ein Bundesland entfallende Anteil richtet sich nach dem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.26 Bei der Ermittlung der Bevölkerungszahlen bleiben Ausländer i. S. d. § 2 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes nach § 2 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG unberücksichtigt.27 Die Besonderheit der Bundesversammlung als ein jeweils ad hoc zusammentretendes Wahlorgan bringt es mit sich, dass es auf die jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in den Landtagen zu dem Zeitpunkt ankommt, in dem diese die Wahl vorzunehmen haben (vgl. § 2 Abs. 2 BPräsWahlG).28 Angesichts eines möglichen längeren Zurückliegens der letzten Landtagswahlen entspricht das Ergebnis nicht unbedingt der tatsächlichen aktuellen Zustimmung in der Bevölkerung zu den einzelnen Parteien, worin jedoch kein Legitimationsdefizit zu sehen ist.29 25 Hierbei kommt es auf die Wahlberechtigung der Betroffenen nicht an. Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 9; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 19, S. 1605 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 182. 26 Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Kessel, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 19, S. 1605 f.; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 96; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 2. Folglich variierte in der Vergangenheit die Anzahl der von den einzelnen Ländern entsandten Vertreter. Vgl. hierzu die Übersicht der Verschiebungen bei Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 54 sowie bei Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.4 zur Verteilung der Landesvertreter auf die einzelnen Bundesländer bei der 16. Bundesversammlung am 12. Februar 2017. 27 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 54; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 29; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 182, wobei letzterer auf das damals noch gültige, aber zum 31. 12. 2014 außer Kraft getretene Ausländergesetz verweist. 28 Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, E, Rn. 76, S. 675 f. 29 Dies wird teilweise – bspw. von Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 94 f. – kritisiert. Dennoch sind keine Vorschläge ersichtlich, wie mögliche Verschiebungen des politischen Meinungsbildes in der Bevölkerung bei Landtagen, die bereits vor längerer Zeit gewählt wurden und deren Zusammensetzung nicht mehr aktuellen Umfragen entspricht, Berücksichtigung bei der Wahl der Landesvertreter für die Bundesversammlung finden könnten. Eine Bewertung als Legitimationsdefizit ist aber abzulehnen, wie der Vergleich mit den parlamentarischen Abgeordneten zeigt. Die Bundestags- und Landtagsmitglieder sind für die Dauer der Legislaturperiode unabhängig von evtl. wechselnden Mehrheiten gleich stark legitimiert. Die Legitimation der Mitglieder der Bundesversammlung gilt auch unter dem Aspekt, dass Gesetze fortlaufend modifiziert oder aufgehoben werden können. Vgl. hierzu Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 241.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
2. Die „unverzügliche“ Wahl der Landesvertreter Nach der „rechtzeitigen“ Feststellung und Beschlussfassung der jeweiligen Landesquote durch die Bundesregierung und der anschließenden Bekanntgabe, haben die Landtage die Wahl der Landesvertreter „unverzüglich“ i. S. v. § 2 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG vorzunehmen.30 Auf die Festlegung genauer Fristen hat der Gesetzgeber verzichtet.31 Dies ermöglicht ein flexibles und an die individuelle Situation in den einzelnen Bundesländern angepasstes Handeln. Die Zeitspanne zwischen Bekanntmachung durch die Bundesregierung und Zusammentreten der Bundesversammlung war bisher unterschiedlich. Mehrfach lagen noch Landtagswahlen zwischen diesen beiden Terminen.32 Da auch ein in der laufenden Bundestagswahlperiode wegfallendes Überhangmandat durch eine nachrückende Person von der Parteiliste ersetzt wird,33 sind nur wenige Ausnahmekonstellationen denkbar, in denen es zu einer ungleichen Vertreteranzahl kommen könnte.34 Die frühere Problematik eines Wegfalls eines Überhangmandats zwischen der Bekanntmachung der Mitgliederanzahl der Bundesversammlung nach § 2 Abs. 1 S. 4 BPräsWahlG und dem Wahltermin, hat sich durch die 2013 erfolgte Neuregelung der §§ 6 Abs. 4, Abs. 5, 48 Abs. 1 BWahlG weitgehend erledigt.35 Wenn es gleichwohl zu einer Ungleichheit kommen sollte, 30 Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 55; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 46; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 29. 31 Das Grundgesetz sieht jedoch in Art. 54 Abs. 4 GG für den Fall einer vorzeitigen Beendigung der Amtszeit des Bundespräsidenten vor, dass die Bundesversammlung spätestens 30 Tage nach diesem Zeitpunkt zusammentreten muss. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber für die Vorbereitung der Wahl des Bundespräsidenten eine Frist von 30 Tagen für ausreichend erachtet. Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 14; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 32 So erfolgte 1964 die Bekanntmachung durch die Bundesregierung am 22. April, bevor die Bundesversammlung sich am 1. Juli 1964 konstituierte. Am 26. April wählte BadenWürttemberg seinen neuen Landtag, der am 10. Juni die Wahl der Mitglieder der Bundesversammlung vornahm. Ähnlich war es bei der 6. Bundesversammlung 1974. Die Bekanntmachung durch die Bundesregierung erfolgte am 11. Februar, der Zusammentritt der Bundesversammlung war am 15. Mai. Am 3. März fanden in Hamburg Bürgerschaftswahlen statt. Die neue Bürgerschaft wählte ihre Mitglieder zur Bundesversammlung am 17. April 1974. Vgl. Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 14; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 182. 33 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 52. 34 Vgl. die Auflistung denkbarer, aber eher unwahrscheinlicher Fälle bei Fischer, Die verfassungswidrige Wahl des Bundespräsidenten, NVwZ 2005, 416, 417. 35 In einem diesbezüglichen Fall 2004 – vertiefend hierzu Fischer, Die verfassungswidrige Wahl des Bundespräsidenten, NVwZ 2005, 416 – 418 – verstarb nach der Bekanntgabe der auf die Bundesländer entfallenden Mitgliederzahl eine Bundestagsabgeordnete, für die niemand nachrückte, sodass den 602 Bundestagsabgeordneten 603 Ländervertreter gegenüberstanden. Die Staatspraxis hat auf den Zeitpunkt der Bekanntmachung am 21. Januar 2004 i. S. v. § 2
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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wäre es grundsätzlich geboten, die Bundesversammlung bei Zusammentritt auch um einen Vertreter der Länderseite zu verkleinern,36 wofür es jedoch kein praktikables Verfahren gibt.37 Dies führt dazu, dass eine ungleiche Vertreterzahl in Ausnahmefällen hingenommen werden muss.38 Für bevorstehende Landtagswahlen regelt § 2 Abs. 2 S. 2 BPräsWahlG, dass bei einer unterbliebenen Wahl des alten Landtages der neue Landtag die Mitglieder wählt, auch wenn damit dem gesetzlichen Gebot der Unverzüglichkeit nicht nachgekommen wird.39 Sofern der neue Landtag nicht mehr rechtzeitig wählen kann, tritt nach § 2 Abs. 2 S. 3 BPräsWahlG an seine Stelle der Ausschuss, der die Rechte des Landtages gegenüber der Regierung bis zum Zusammentritt des neuen Landtages wahrnimmt beziehungsweise ein vom Landtag für die Wahl der Mitglieder der Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG abgestellt und hingenommen, dass dieses Ergebnis Art. 54 Abs. 3 GG widerspricht. Diskutiert wurde in der Staatspraxis, ob für solche Sonderfälle Vorsorge getroffen werden müsse. Seit der 2013 geltenden Neuregelung des § 48 Abs. 1 BWahlG verbleiben nur noch wenig denkbare Ausnahmesituationen, sodass ein Auseinanderfallen hingenommen werden kann und muss, insbesondere da eine nur noch minimale Abweichung – anders als noch 2004 – kaum entscheidungsrelevant ist. Vgl. auch überzeugend Fischer (Die verfassungswidrige Wahl des Bundespräsidenten, NVwZ 2005, 416, 416 ff.), der in einer vertieften Auseinandersetzung die Handhabung im Jahr 2004 als eine Verfassungsdurchbrechung einordnet und sich mit den Rechtsfolgen auseinandersetzt. Die Verfassungswidrigkeit ergebe sich daraus, dass die Bundesversammlung kein permanentes Organ und somit der entscheidende Zeitpunkt für die paritätische Zusammensetzung nach Art. 54 Abs. 3 GG ihre Eröffnung sei. Folglich könne durch die Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt oder durch die Wahl der Landtage keinesfalls ein „verfestigter Zustand“ herbeigeführt werden, der nachträglich nicht mehr beseitigt werden könne. Ein denkbarer Ansatz, die Abweichung vom Wortlaut zu rechtfertigen, sei, Art. 54 Abs. 3 GG so auszulegen, dass er einer Ungleichheit der Sitzzahl nicht entgegensteht, soweit gravierende Praktikabilitätsgesichtspunkte dies verhinderten – welche in dem vorliegenden Fall nicht ersichtlich seien. Siehe konträr hierzu Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 52; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 211 – 213, die § 2 Abs. 1 S. 1, S. 2 BPräsWahlG dahingehend auslegen, dass nach dem Feststellungszeitpunkt eintretende Veränderungen unberücksichtigt bleiben sollen und eine Überzahl der Ländervertreter nicht als verfassungswidrig anzusehen sei. 36 So zur alten Rechtslage (das weggefallene Überhangmandat eines ausgeschiedenen Abgeordneten in der laufenden Bundestagswahlperiode wurde so lange nicht durch einen Nachrücker ersetzt, bis die Überhangmandate der betroffenen Partei in dem betroffenen Bundesland „abgebaut“ waren): BVerfGE 97, 317, 318 ff.; Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 272, 282; Ipsen, Wahlrecht im Umbruch, JZ 2002, 469, 470; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 95 f. m. w. N. 37 Wen ein Mandatswegfall konkret beträfe und in welchem Verfahren dies festgestellt werden könnte, ist vollkommen unklar. Denkbar wäre eine Reduzierung um einen Landesvertreter, aus dessen Bundesland das weggefallene Mandat stammt. Dies würde voraussetzen, dass es sich bei dem weggefallenen Mandat um eine Person mit gleicher Parteizugehörigkeit handelt, was jedoch insbesondere bei kleineren Parteien auseinanderfallen kann. 38 So auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54 Rn. 22. 39 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 221.
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Bundesversammlung gebildeter Ausschuss.40 Wenn trotz dieser Möglichkeiten eine rechtzeitige Wahl nicht gelingt, bleiben nach § 2 Abs. 2 S. 4 BPräsWahlG die auf das jeweilige Land entfallenden Sitze unbesetzt. Das Interesse der Länder, an der Bundespräsidentenwahl teilzunehmen, ist jedoch in der Regel so hoch, dass der Fall nicht besetzter Sitze eines Bundeslandes aufgrund nicht rechtzeitiger Wahl bislang noch nicht eingetreten und auch zukünftig nicht zu erwarten ist. Diese Regelung freibleibender Sitze in § 2 Abs. 2 S. 4 BPräsWahlG ist jedoch aufgrund der von der Anzahl her ins Gewicht fallenden „Unwucht“ unvereinbar mit der in Art. 54 Abs. 3 GG festgelegten gleichen Personenanzahl von Bundes- und Landesvertretern.41 Zwar würde auch ein Aufrücken anderer Landeslisten eine paritätische Zusammensetzung wieder herstellen, jedoch bliebe die demokratische Beteiligung des fehlenden Bundeslandes grundsätzlich geschwächt. Ferner scheidet eine Nichtberücksichtigung der entsprechenden Anzahl von Bundestagsabgeordneten aufgrund deren Zugehörigkeit zur Bundesversammlung als „geborene“ Mitglieder aus. Mit den in § 2 Abs. 2 S. 2 und S. 3 BPräsWahlG genannten Instrumenten hat der Gesetzgeber die Länder in die Lage versetzt, auch in besonderen Situationen kurzfristig ihre Vertreter zu wählen. Deshalb muss für die Wahrung des Art. 54 Abs. 3 GG in absehbaren Fällen, in denen das neugewählte Parlament eine Wahl seiner Landesvertreter nicht gewährleisten kann, eine Wahl der Mitglieder noch durch den alten Landtag erfolgen – auch wenn dann eine tatsächliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses in dem jeweiligen Land keine Berücksichtigung mehr finden kann.42 In der Praxis wird jedoch versucht werden, die Wahl vorrangig durch den neu gewählten Landtag sicherzustellen.43 Aufgrund der den Landesparlamenten zur Verfügung stehenden verschiedenen Möglichkeiten, ihre Mitglieder für die Bundesversammlung zu wählen, erscheint eine Nichtberufung von Mitgliedern eines Bundeslandes und damit eine Nichtberufung von Mitgliedern eines Bundeslandes und damit eine nicht paritätische Zusammensetzung auch in Ausnahmefällen grundsätzlich nicht hinnehmbar. § 2 Abs. 2 S. 4 BPräsWahlG ist deshalb verfassungskonform als eine Garantie der paritätischen Zusammensetzung der Bundesversammlung auszulegen. Nur bei bewusster Missachtung, wenn etwa eine Landesvertretung keine Vertreter entsendet,
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Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 46; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 20, S. 1606; Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 335 f. 41 Die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit dieser vorsorglichen Regelung des Bundesgesetzgebers mit Art. 54 Abs. 3 GG anzweifelnd: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 213. 42 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 222. 43 So wählte der im Februar 1999 gewählte Hessische Landtag bereits in seiner ersten Plenarsitzung im April die Mitglieder für die am 23. Mai 1999 zusammentretende Bundesversammlung. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 222.
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um die Konstituierung der Bundesversammlung zu verhindern, bleiben als „ultima ratio“ die Sitze unbesetzt. 3. Die Zusammensetzung der Wahllisten Bei der Aufstellung der Vorschlagslisten kommt nach § 4 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG die Geschäftsordnung des jeweiligen Landtages zur Anwendung. Für die Entsendung in die Bundesversammlung stellen die in einem Landtag vertretenen Parteien gemäß § 4 Abs. 1 und Abs. 3 BPräsWahlG je eine eigene Vorschlagsliste auf. Die Wahl erfolgt nach den Grundsätzen der Verhältniswahl.44 Durch die Verhältniswahl wird im Gegensatz zur Mehrheitswahl sichergestellt, dass keine politische Gruppierung eines Landesparlamentes unberücksichtigt bleibt. Hierdurch finden auch die Minderheits- beziehungsweise Oppositionsparteien in der Bundesversammlung eine relative Berücksichtigung, sodass die von den Volksvertretern der Länder gewählten Bundesversammlungsmitglieder den jeweiligen Parteienproporz widerspiegeln.45 Gleichzeitig kommen aber auch hier nur Parteien zum Zuge, die in den Landtagen die Fünf-Prozent-Hürde überwunden haben.46 Die Sitze werden den Bewerbern entsprechend der Reihenfolge ihrer Namen auf der Vorschlagsliste zugewiesen, wie dies die aufstellenden Fraktionen beziehungsweise die sonstigen Gruppierungen vorher festgelegt haben.47 Das genaue Sitzverteilungsverfahren ist nicht gesetzlich geregelt. Im Bundesgesetz ist nur normiert, dass jeder Abgeordnete eine Stimme hat (§ 4 Abs. 2 BPräsWahlG), die Wahllisten48 geschlossen49 sind und die Verteilung der Sitze nach 44 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 55; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 91; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Fink, in: Huber/ Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 47. 45 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 215; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 9; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 23, S. 1607; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 183; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 62. 46 Hierin sieht Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 94 eine Durchbrechung der grundgesetzlich gewährleisteten Chancengleichheit aller Parteien, die zum Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlamentes – insbesondere zur Regierungsbildungsfähigkeit – gerechtfertigt werde, jedoch für die Wahl des Bundespräsidenten weder hinsichtlich der Zusammensetzung der Bundesversammlung noch für den Wahlakt aufgrund des Repräsentationscharakters geboten sei. 47 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84. 48 Eine sog. Wahlliste bzw. Parteiliste enthält die Kandidaten eines gemeinsamen Wahlvorschlages mit festgelegter Reihenfolge. Die Listenwahl ist ein Wahlverfahren, bei dem die Kandidaten einer Partei auf einer gemeinsamen Liste zur Wahl antreten und entweder von den
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
der Zahl der jeweils den einzelnen Wahlvorschlägen zugefallenen Stimmen im Höchstzahlverfahren d’Hondt gemäß § 4 Abs. 3 BPräsWahlG erfolgt.50 Daher ist es unzulässig, die Ländervertreter für die Bundesversammlung plebiszitär zu wählen oder diese von der Landesregierung benennen zu lassen.51 Verfassungsrechtlich unbedenklich wird der letzte Sitz im Falle gleicher Höchstansprüche im Zählverfahren vom Landtagspräsidenten gelost.52 a) Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Einheitslisten und deren Abstimmung „en bloc“ Abweichend zur Grundkonstellation in § 4 Abs. 3 BPräsWahlG werden in einigen Landtagen aus Gründen der Vereinfachung die Mitglieder der Bundesversammlung durch Einheitslisten gewählt,53 deren Zusammenstellung zuvor zwischen den im
Wahlberechtigten entsprechend der festgelegten Reihenfolge (sog. starre Liste) oder innerhalb der Liste von den Wahlberechtigten frei gewählt werden können (sog. freie Liste). Vgl. Schubert/Klein, Das Politiklexikon, 8. Aufl. 2021. 49 Bei der sog. geschlossenen Liste bzw. streng gebundenen Liste oder starren Liste wird die Reihenfolge der Kandidaten von der Partei festgelegt. Der Wähler verfügt über eine Listenstimme, mit der er für die Liste als Ganzes abstimmt. Bei der freien bzw. offenen Liste hingegen verfügt der Wähler über eine begrenzte Anzahl an Stimmen, die er nach Belieben auf die Kandidaten verteilen (das sog. Panaschieren) oder sogar neue Kandidaten einfügen und vorhandene streichen kann. Bspw. in der Schweiz erhält der Wähler hierfür (neben den Wahlzetteln der einzelnen Parteien) einen leeren Wahlzettel und kann sich selbst eine Wahlliste zusammenstellen. Bei einer sog. lose gebundenen Liste hat sich der Wähler zwar für eine Liste zu entscheiden. Innerhalb der gewählten Liste kann er aber Einfluss nehmen, z. B. durch Vorzugsstimmen für einen oder mehrere Bewerber, wobei die Möglichkeiten der Wähler je nach Wahlrecht unterschiedlich sind. In der Bundesrepublik Deutschland sind freie Listen bei Kommunalwahlen in den meisten Bundesländern verankert. Die Listen bei den meisten Landtagswahlen sowie bei der Bundestagswahl sind hingegen starr. Vgl. Schubert/Klein, Das Politiklexikon, 8. Aufl. 2021. 50 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 91; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 14; v. Ooyen, Das Amt des Bundespräsidenten, 2015, S. 15 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 182. 51 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 49. 52 Wie hier auch: Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 47; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 34. 53 So 2009 in den Volksvertretungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und SachsenAnhalt. Auf diese Weise wurden insgesamt 470 von 612 der von Länderparlamenten bestimmten Mitgliedern gewählt. 2010 wurde zusätzlich noch in Thüringen über eine einheitliche Liste und über jeweils einen nach Gruppen getrennten Ersatzkandidaten abgestimmt, sodass die Wahl durch eine Einheitsliste 490 von 622 Mitgliedern betraf. Vgl. BVerfGE 136, 277, 283 f., 286; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.1; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 241.
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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Landtag vertretenen Parteien vereinbart wurde.54 Das Verfahren der Einheitsliste kann nur praktiziert werden, wenn darüber Einigkeit zwischen den im Landtag vertretenen Parteien herrscht.55 Einigen sich die Landtagsfraktionen auf eine einzige, von allen Fraktionen gemeinsam aufgestellte Vorschlagsliste, wird über diese insgesamt abgestimmt. Die Kandidaten auf dieser Liste werden jeweils einer Gruppe (einer Partei oder Wählervereinigung) zugeordnet und Ersatzkandidaten für jede dieser Gruppen gesondert ausgewiesen, die in gegebenenfalls freiwerdende Plätze der jeweiligen Gruppe nachrücken. Hierbei erhalten die Kandidaten die Plätze, die sich aus einer streng nach Fraktionszugehörigkeit vollzogenen Wahl ergeben würden. Ziel des Verfahrens ist die möglichst exakte Abbildung der politischen Zusammensetzung des jeweiligen Landtages, die mit der Zustimmung zur Einheitsliste auch gewährleistet ist.56 Für die Ersatzkandidaten sind Unterlisten vorgesehen, sodass im Falle einer Nichtannahme einer Wahl oder des Ausscheidens eines Mitglieds nicht der nächste Bewerber derselben Vorschlagsliste berücksichtigt wird, sondern immer derjenige mit der gleichen Parteizugehörigkeit. Wie viele Vertreter jede Partei in die Bundesversammlung schickt, steht damit schon vor der Wahl aufgrund der Verteilung der Mandate auf die im Landtag vertretenen Fraktionen fest.57 Von einzelnen Stimmen wird die Bestimmung der Mitglieder der Bundesversammlung mittels solcher Einheitslisten als ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahlfreiheit angesehen, da dieses Konstrukt – das sich allenfalls bei den zu besetzenden Plätzen als Liste auffassen lasse – die Plätze für eventuelle Nachrücker fraktions- und nicht personengebunden vergebe. Argumentiert wird, dass ein solches Wahlverfahren dem einzelnen Landtagsabgeordneten keine Wahl zwischen einzelnen Listen lasse, sondern seine Abstimmungsmöglichkeiten auf Ablehnung oder Zustimmung der Einheitsliste reduziere.58 Darüber hinaus hätte ein von einem einzelnen Abgeordneten eingereichter Wahlvorschlag nur eine 54 Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.1. 55 Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 94; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 23, S. 1607. 56 BVerfGE 136, 277, 296. 57 Vgl. Wieland, Die Bundesversammlung als Gesamtkunstwerk: Wählen die Falschen den Richtigen?, Legal Tribune Online, 18. 3. 2012, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bun despraesidentenwahl-bundesversammlung-nicht-verfassungswidrig/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 58 So auch die Positionierung der NPD als Antragsteller im Organstreitverfahren. Vgl. BVerfGE 136, 277, 291 f.; 138, 125, 127. Ferner werden diese Bedenken vereinzelt auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum geteilt. Siehe hierzu Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 55; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.1; v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 3.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
geringe Aussicht auf Erfolg, sodass das demokratische Recht der einzelnen Abgeordneten, abweichend eine „Konkurrenzliste“ zu wählen, quasi unterbunden werde und der Abgeordnete seine Gestaltungsmacht verliere.59 Ferner handele es sich bei der Einheitsliste letztlich auch nicht um eine einzige Vorschlagsliste, sondern aufgrund der Unterlisten tatsächlich um getrennte Listen, die nur formal in einer Liste zusammengeführt worden seien.60 Ein solches Wahlverfahren verstoße gegen § 4 Abs. 5 BPräsWahlG.61 Eine Parallele kann zu einer ähnlichen Konstruktion im Sozialrecht gezogen werden, den Sozialwahlen. Kingreen hält die „Friedenswahlen“ als gängige Praxis62 bei den Sozialwahlen für verfassungswidrig, bei denen ebenfalls Einheitslisten aufgestellt werden.63 Bei den Sozialwahlen gelten etwa die für die Vertreterversammlung Vorgeschlagenen als Gewählte, wenn aus der Gruppe der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber nur eine Vorschlagsliste aufgestellt ist oder auf mehreren Vorschlagslisten insgesamt nicht mehr Bewerber aufgeführt werden, als Mitglieder zu wählen sind.64 § 28 Abs. 1 Sozialversicherungswahlordnung spricht in diesem Zusammenhang von „Wahlen ohne Wahlhandlungen“. Bei diesen „Friedenswahlen“ sei die demokratische Legitimation nicht gegeben, da es keine Rückführung auf den Willen oder auf die Verantwortung gegenüber dem Volk gäbe. Denn eine personelle 59 Morlok, Die Bundespräsidenten-Kür – „Die Wahl-Praxis ist rechtswidrig“, Spiegel online, 21. 5. 2009, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundespraesidenten-kuer-die-wahlpraxis-ist-rechtswidrig-a-626139.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 60 BVerfGE 136, 277, 291; 138, 125, 127 f. Vgl. Wieland, Die Bundesversammlung als Gesamtkunstwerk: Wählen die Falschen den Richtigen?, Legal Tribune Online, 18. 3. 2012, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bundespraesidentenwahl-bundesversammlung-nichtverfassungswidrig/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Mit einer Unterliste stellen die Fraktionen sicher, dass im Falle eines Ausfalls einer auf der gemeinsam gewählten Liste nicht der nächstfolgende Kandidat nachrückt, sondern der nächstfolgende der jeweiligen Fraktion, sodass sich der Parteienproporz durch einen Ausfall nicht verändert. 61 Mit der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Abstimmungen der Landtage über Einheitslisten befasste sich das Bundesverfassungsgericht 2014. Vgl. BVerfGE 136, 277, 292; 138, 125, 130. Der dem Gericht zur Entscheidung vorgelegte Sachverhalt betraf die Feststellung der Fehlerhaftigkeit der Wahl der Delegierten der Volksvertretungen in einem anderen Bundesland und wurde mit dem Urteil vom 10. Juni 2014 – sowie mit einer Bestätigung dieser Entscheidung am 16. Dezember 2016 – mangels Antragsbefugnis bereits als unzulässig zurückgewiesen. Demnach sei der Antragsteller auf der Zulässigkeitsebene schon nicht antragsbefugt. Eine Entscheidung in der Sache ist damit aus formalen Gründen nicht ergangen. Hierauf ebenfalls hinweisend: Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84. 62 Bei den Sozialwahlen 2017 war dies die Regel. In der Krankenversicherung fanden Urwahlen nur bei fünf Ersatzkassen statt, bei allen anderen, gut 100 Krankenkassen wurden die Verwaltungsräte durch „Friedenswahlen“ bestimmt. Vgl. Kingreen, Die Qual der Wahl: Sozialwahlen in der Sozialversicherung, in: JöR, Bd. 67, 2019, S. 145. 63 Kingreen, Die Qual der Wahl: Sozialwahlen in der Sozialversicherung, in: JöR, Bd. 67, 2019, S. 146 – 150. 64 Kingreen, Die Qual der Wahl: Sozialwahlen in der Sozialversicherung, in: JöR, Bd. 67, 2019, S. 145.
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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Legitimation wird nach dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) entweder durch Wahlen vermittelt oder durch Bestellungsakte von ihrerseits demokratisch legitimierten Amtswaltern, die jeweils eine ununterbrochene Legitimationskette zum Volk vorweisen.65 Eine solche ununterbrochene Legitimationskette weisen demgegenüber die Landtagsabgeordneten, die ihren Wählern gegenüber rechenschaftspflichtig sind und sich bei jeder Landtagswahl dem Wahlvolk (erneut) stellen müssen, auf. Zwar ist richtig, dass § 4 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG als Normalfall mehrere Vorschlagslisten vorsieht und sich allein aus dem Wortlaut dieser Norm („wenn mehrere Vorschlagslisten vorliegen“) ergibt, dass bereits der Gesetzgeber von alternativen Möglichkeiten zur Bestimmung der Ländervertreter ausgegangen ist. Dennoch hieß es explizit in der Gesetzesbegründung des Ursprungsgesetzes, dass auch die Wahl nach einer gemeinsamen Vorschlagsliste zulässig sei.66 Da den Abgeordneten das Recht zusteht, eine eigene Vorschlagsliste vorzulegen, sind sie in ihrem Wahlverhalten nicht allein darauf reduziert, der Liste zuzustimmen oder sie abzulehnen. Sofern für diese eigene Vorschlagsliste keine Mehrheit erzielt werden kann, handelt es sich um eine Minderheitenposition, die in einer Demokratie der Mehrheit unterliegt und somit keine Rechte des Unterlegenen verletzt.67 Ferner ist eine solche Verfahrensweise in Parlamenten nicht unüblich, wenn im Wahlgremium Konsens über eine Entscheidung herrscht, wie etwa die Wahlen der Bundesverfassungsrichter, des Präsidenten des Bundesrechnungshofes oder die der Datenschutzbeauftragten auf Bundes- und Länderebene zeigen.68 Wie das Bundesverfassungsgericht in diesem Kontext zu Recht anmerkt, beinhaltet das Recht zur Wahl des Bundespräsidenten kein Abwehrrecht in Bezug auf die Verhinderung der Teilnahme versammlungsfremder Personen, sodass selbst bei Annahme einer Rechtswidrigkeit der „en bloc“-Wahl der Erfolgswert der organschaftlichen Wahl der rechtmäßig gewählten Landesvertreter nicht verletzt wird.69 65 Vergleiche grundlegend zur demokratischen Legitimation, die einen „Zurechnungszusammenhang“ aller staatlichen Handlungen zwischen dem Volk und den staatlichen Organen meint: BVerfGE 130, 76, 123. 66 BT-Drs. 3/358, 4. So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 55; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 29; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.1. 67 So auch: Wieland, Die Bundesversammlung als Gesamtkunstwerk: Wählen die Falschen den Richtigen?, Legal Tribune Online, 18. 3. 2012, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ bundespraesidentenwahl-bundesversammlung-nicht-verfassungswidrig/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 68 Hierauf ebenfalls verweisend: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 55; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.1. 69 So auch: BVerfGE 136, 277, 292 ff.; 138, 125, 132; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Die Wahl der Mitglieder der Bundesversammlung über eine Einheitsliste, auf die sich alle im Landtag vertretenen Fraktionen geeinigt haben und die die Zusammensetzung des Landtages abbildet, stellt keinen Verfassungsverstoß dar.70 Auch werden die Grundsätze der Verhältniswahl beachtet. Es gibt keine Verfassungspflicht für konkurrierende Listen. Auch im Falle der Wahl „en bloc“ ist die ununterbrochene demokratische Legitimationskette durch die ihrerseits demokratisch legitimierten Landtagsabgeordneten gegeben. b) Die Wahl der Landesvertreter für eine gesamte Legislaturperiode Die Landesvertreter wählen ihre Vertreter für eine konkrete Bundesversammlung, sodass im Falle eines mehrmaligen Zusammentretens der Versammlung in einer Wahlperiode die Landtage die sie repräsentierenden Mitglieder grundsätzlich neu zu wählen haben.71 In der Praxis haben die Landtage daher – da die Bundespräsidenten in der Regel ihre Amtszeit nicht vorzeitig beenden und nur eine Bundesversammlung pro Legislaturperiode zu erwarten ist – diese Wahlen während der Legislaturperiode oder in zeitlicher Nähe des Zusammentritts einer Bundesversammlung durchgeführt.72 Wie bereits erwähnt, stellt die Bundesregierung nach § 2 Abs. 1 BPräsWahlG rechtzeitig vor dem Zusammentreten der Bundesversammlung die Anzahl der jeweiligen Ländervertreter neu fest. Grund dafür ist, dass es durch signifikante Veränderungen der Bevölkerungspopulation auch während einer Legislaturperiode zu Verschiebungen der auf jedes Land entfallenden Mitgliederzahlen kommen kann, wie auch durch Veränderungen der Anzahl der Bundestagsmitglieder nach Bundestagswahlen. Somit stellt sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit, wenn Landtage die Mitglieder der Bundesversammlung für die Dauer ihrer gesamten Legislaturperiode bereits im Vorhinein wählen, um eventuell auftretende zeitliche Engpässe zu vermeiden. Art. 54 Abs. 3 GG legt nur die gleiche Anzahl der Mitglieder des Bundestages und der der Volksvertretungen der Länder fest und regelt das hier in Rede stehende Problem nicht. Es verbleibt bei der einfachgesetzlichen Regelung des § 2 70 So auch: Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 22.1; Wieland, Die Bundesversammlung als Gesamtkunstwerk: Wählen die Falschen den Richtigen?, Legal Tribune Online, 18. 3. 2012, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bun despraesidentenwahl-bundesversammlung-nicht-verfassungswidrig/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. A. A. v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 3. 71 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 208. 72 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 53. Allerdings hatten die Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestages (2009 – 2013) an zwei Bundesversammlungen mitzuwirken (2010, 2012) und die Landtagsabgeordneten Bayerns, Hessens und Niedersachsen die Landesvertreter für drei Bundesversammlungen zu wählen (2009, 2010, 2012).
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Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG. Aus dieser ergibt sich die Intention des Gesetzgebers, dass jeweils nach Bekanntmachung der Anzahl der jeweiligen Ländervertreter eine unverzügliche Wahl der Mitglieder durch die Landtage stattfinden soll,73 wodurch eine mehrmalige Teilnahme von Vertretern der Länder ohne erneute Wahl durch die Landtage in Frage gestellt sein könnte. Maßstab der Auslegung können nur verfassungsrechtliche Bestimmungen sein, soweit sie gegen eine „Vorab-Wahl“ mit der Konsequenz einer möglicherweise mehrmaligen Teilnahme von Landesvertretern an der Bundesversammlung sprechen. Zum einen kommt Art. 54 Abs. 3 GG zum Tragen: Er ist zumindest dann verletzt, wenn kein Vorbehalt für den Fall der Veränderung der auf das Land entfallenden Mitgliederzahl erfolgt, um der Anforderung nach einer paritätischen Besetzung Genüge zu tun.74 Daneben findet sich keine spezielle Verfassungsnorm, die die angesprochene Fallkonstellation aufnimmt. Zum anderen bleibt der allgemeine Rückgriff auf das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG, das im Kern besagt, dass es für jegliches staatliches Handeln einer ununterbrochenen Legitimationskette zum Volk bedarf. Die Legitimationskette ist jedoch auch dann gegeben, wenn die Wahl der Landesvertreter – wie parallel bei den Bundestagsabgeordneten die Bundestagswahl – schon einige Zeit zurückliegt. Deshalb besteht kein Demokratiedefizit, da ihr Mandat für die Bundesversammlung an das Ende der Legislaturperiode des jeweiligen Landtages gekoppelt ist und nicht unkalkulierbar zeitlich fortdauert. Insoweit trifft das Demokratieprinzip keine näheren Vorgaben oder Beschränkungen für die hier maßgebliche Fragestellung des Zeitpunktes der Wahl, sondern erweist sich als offen für eine Auslegung einer „Vorab-Wahl“. Eine Wahl der Landesvertreter für eine gesamte Legislaturperiode – soweit sie sich für eine Anpassung an veränderte Umstände offen zeigt – ist damit verfassungsgemäß. Es besteht auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, soweit ersichtlich, keine gegenteilige Meinung in dieser Frage. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr, wie bereits herausgestellt, explizit aus Art. 54 Abs. 3 GG die gleiche Stellung aller Bundesversammlungsmitglieder entwickelt, sodass eine unterschiedliche Behandlung verfassungsrechtlich unzulässig ist.75 Da das Mandat in der Bundesversammlung für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages an das Ende ihres Bundestagsmandats geknüpft ist – wodurch sie mehrfach an Bundes73
So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 210. Wie hier im Ergebnis auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 57; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 210; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 29; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 29; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 64. A. A.: Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84, der ausführt, dass erst nach der Bekanntmachung der Sitzkontingente für die einzelnen Länder eine Wahl im Landtag durchgeführt werden könne, sodass eine Wahl vorher weder zulässig noch aufgrund der Möglichkeit der Verschiebung von Mehrheitsverhältnissen sinnvoll sei. 75 Vgl. BVerfGE 136, 277, 315, 317. 74
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
versammlungen teilnehmen dürfen, ohne erneut vom Volk durch eine Wahl legitimiert worden zu sein – ist auch eine mehrmalige Teilnahme der Gewählten eines Landtages ohne erneute Wahl zulässig.76 Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es daher, wenn ein Landesparlament auf die in der gleichen Legislaturperiode bereits gewählten Bundesversammlungsmitglieder beziehungsweise auf Listen ohne erneute Wahl zurückgreift. Ebenso ist es verfassungsgemäß, dass die Wahl der Landesvertreter für eine gesamte Legislaturperiode erfolgt, ohne dass bereits eine Wahl des Bundespräsidenten anberaumt ist. Eine abweichende Praxis kann entgegen der Intention des § 2 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG deshalb bei Einhaltung der paritätischen Zusammensetzung, das heißt gegebenenfalls unter Nachbesserung der Anzahl der zu Entsendenden, nicht als Verfassungsverstoß ausgelegt werden. c) Die Benennung von Personen des öffentlichen Lebens Legitimationsbedenken könnten sich dadurch ergeben, dass die Landesparlamente regelmäßig prominente Staatsbürger in die Bundesversammlung entsenden, die oftmals in der Politik keine aktive Rolle spielen oder gespielt haben. Hierdurch erfahren Prominente eine besondere Ehrung, gleichzeitig erhoffen sich die Parteien eine positive Rückwirkung in der Öffentlichkeit durch deren Benennung.77 Häufig möchten sich die Parteien auch mit den „vermeintlich Angesagten“ schmücken und eine besondere gesellschaftliche Verankerung der Partei verdeutlichen. Bei knappen Mehrheitsverhältnissen kann das Ergebnis daher von den Voten einer „bunt“ zusammengesetzten Gruppe von „Wahlmännern“ abhängen – von Schauspielern bis zu Sportgrößen. Die Entsendung von Nichtparlamentariern wurde von Bündnis 90/Die Grünen begrüßt, da dadurch eine „demokratische Öffnung des Verfahrens für Menschen außerhalb des politischen Lebens“ ermöglicht werde.78 Vereinzelt wird kritisiert, dass dies mit einer demokratischen „Vertretung des Volkes“ wenig zu tun habe, es sei denn, man erkläre den Bekanntheitsgrad durch und in den Medien zur Volksrepräsentanz.79 76 Dies gilt unabhängig davon, dass Landtagsabgeordnete nur mittelbar demokratisch legitimiert sind – im Gegensatz zu den unmittelbar demokratisch legitimierten Bundestagsabgeordneten. 77 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 91 f.; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84; Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 34. Vgl. auch die Auflistung prominenter Landesvertreter in den letzten Jahren bei Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 50 sowie Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 219. 78 BT-Drs. 12/6105 vom 10. November 1993, S. 4. 79 Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939.
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Der Wortlaut des Art. 54 GG und Art. 20 Abs. 2 GG steht einer Entsendung von Prominenten beziehungsweise Nichtmitgliedern des entsprechenden Landesparlamentes nicht explizit entgegen. Verfassungsrechtlich problematisch ist dabei auf den ersten Blick jedoch, dass das Staatsvolk in den Ländern keinen unmittelbaren Einfluss darauf ausüben kann, von wem es in der Bundesversammlung vertreten wird.80 Schließlich können sich solche Vertreter ohne Mandat nur auf eine mittelbare Legitimation durch den Landtag berufen, was die Distanz zwischen Volk und Wahl vergrößert.81 Zudem ist bei der geheimen Wahl des Bundespräsidenten bei Personen des öffentlichen Lebens, die nicht in die Partei- und Fraktionsarbeit eingebunden sind, unklar, ob diese im Sinne der aufstellenden Partei wählen.82 Hier kann erst recht keine Fraktionsdisziplin ausgeübt werden, auch bestehen keine sonstigen Möglichkeiten, Einfluss auf eine entsprechende Stimmabgabe durch die Parteien auszuüben. Michael Nierhaus führt an, dass insbesondere die Medienberichterstattung über die Bundespräsidentenwahl bisweilen den Eindruck erwecke, „die Bundesversammlung degeneriere zu einer Art Presseball oder Ball des Sports“ und sich deshalb dafür ausspricht, einfachgesetzlich sicherzustellen, dass ausschließlich Mitglieder mit einem Mandat von den Landtagen und Bürgerschaften in die Bundesversammlung gewählt werden.83 Ebenso plädiert Stephan Seltenreich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit einer Direktwahl des Bundespräsidenten für die Besetzung der Bundesversammlung ausschließlich mit Landesvertretern, die zugleich Landtagsmandate innehaben, um als Kompromiss zu einer fehlenden Direktwahl wenigstens die Landesvertreter stärker als bislang vom Volk zu legitimieren.84 Das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG normiert, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, die sog. Volkssouveränität. Demokratische Legitimation heißt also, dass jedes staatliche Handeln und alle staatlichen Akteure ihren Ausgangspunkt im Willen des Volkes haben darauf gründen. Die Formulierung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verdeutlicht, dass die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland jedoch nur ausnahmsweise durch das Staatsvolk selbst, vielmehr im Rahmen der repräsentativen Demokratie zumeist „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ ausgeübt wird. Die Parlamente als staatliche Organe gewährleisten die personell demokratische Legitimation der Bundesversammlung, bilden die notwendige Legitimationskette zum Volk und
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Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 242. In diese Richtung ebenfalls gehend: Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 95. 82 So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 219. 83 Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 47. 84 Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 250, der zugleich kritisch anmerkt, dass dann „der Parteienoligarchie in die Hände gespielt“ werde. 81
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stellen daher das erforderliche „Prinzip der individuellen Berufung der Amtswalter durch das Volk oder durch volksgewählte Organe“ sicher.85 Die dargestellte Kritik an der Entsendung von Nichtparlamentariern verkennt, dass als Ausfluss des Demokratieprinzips verfassungsrechtlich lediglich die Wahl durch das Landesparlament verlangt und deshalb eine mittelbare Legitimation der von den Landesvertretern Entsandten aufgrund der gewahrten durchgängigen Legitimationskette grundsätzlich ausreichend und verfassungsgemäß ist.86 Ein Parallelproblem stellt sich unter anderem dann, wenn staatliche Aufgaben durch Selbstverwaltungskörperschaften oder andere Organisationen der Selbstverwaltung wahrgenommen werden, wie dies beispielsweise bei der mittelbaren Staatsverwaltung der Fall ist.87 Anders als bei der Bundesversammlung werden diesen Körperschaften staatliche Aufgaben zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung nicht durch die Verfassung, sondern lediglich durch Gesetz zugewiesen. Auch diese Körperschaften haben die Befugnis zu verbindlichem Handeln mit Entscheidungscharakter gegebenenfalls sogar gegen Außenstehende. Sofern eine Rückkoppelung an das Volk durch die Einbindung der nicht unmittelbar legitimierten Entscheidungsträger mittels eines gesetzlichen Rahmens und einer ununterbrochenen Legitimationskette sowie einer staatlichen Aufsicht gewährleistet ist, wird auch bei den Selbstverwaltungskörperschaften kein demokratisches Legitimationsdefizit gesehen. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte hier, dass die organisierte Beteiligung der Betroffenen an den sie unmittelbar berührenden Entscheidungen das demokratische Prinzip sogar stärke.88 Die durchgängige Legitimationskette ist das aus dem Demokratieprinzip zu fordernde hinreichende Legitimationsniveau89 bei den Landesvertretern. Dem Parlamentarischen Rat war – wie dargestellt – eine gleichberechtigte Beteiligung demokratisch legitimierter Ländervertreter bei der Wahl des Bundespräsidenten essentiell. Hierfür kam der Bundesrat aufgrund seiner weisungsabhängigen und zahlenmäßig kleinen Besetzung jedoch nicht in Frage. Darüber hinaus präsentiert er nicht ein Landesparlament, sondern nur die Landesregierung. Aus der Entstehungsgeschichte ist erkennbar und war in der damaligen Zeit auch nicht anders zu denken, dass die Landesparlamente unmittelbar demokratisch legitimierte Politiker in die Bundesversammlung berufen. Die gesellschaftliche Entwicklung hat im Laufe der Jahre dazu geführt, dass die Bevölkerung umfänglicher 85
Vgl. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 210. In die gleiche Richtung argumentierend: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 95. 87 Zu nennen sind hier etwa die Industrie- und Handelskammern (zur Zwangsmitgliedschaft, vgl. BVerfGE 15, 235, 240 f.), die Ärztekammern (vgl. BVerfGE 33, 125, 156 ff.) oder die Wasser- und Bodenverbände (vgl. BVerfGE 107, 59 ff.). 88 BVerfGE 107, 59, 92. 89 Vgl. BVerfGE 93, 37, 66 f. in einer Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holsteins. 86
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und detailreicher über die politische Arbeit informiert wird, die Medien die Arbeit der Politiker stärker beobachten und mittels diverser Gesprächsrunden und Interviews sowie Stellungnahmen und Meinungen von Fachleuten die Bevölkerung eingehend informieren und die Politik kritisch begleiten. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Parteien der Länderparlamente bei ihrer Wahl neben direkt demokratisch legitimierten Berufspolitikern auch ehemalige Berufspolitiker, Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, aus Fachverbänden, Verbraucherverbänden, NGOs, von Interessenvertretungen, des Sports sowie verdiente Bürger, Künstler und Schauspieler in die Bundesversammlung berufen und ihnen damit Anerkennung und Respekt zollen. Die Wahl des Bundespräsidenten ist auch verstärkt ein Ereignis geworden, an dem die Bevölkerung dank Radio, Fernsehen und Internet live und durchgängig teilhat und das für die Bevölkerung durch die Teilnahme Prominenter an Attraktivität gewinnen kann. Diese Entwicklung und die Öffnung des politischen Raumes auch in medialer Hinsicht waren für den Parlamentarischen Rat seinerzeit nicht vorhersehbar, unterstreichen aber zugleich den kürähnlichen Anteil im Ablauf der Bundesversammlung. Da die Bundesversammlungsmitglieder ein freies Mandat erhalten und damit unabhängig agieren, ist die Auswahl der Mitglieder für die Abbildung des Wählerwillens in der Bundesversammlung essentiell. Es kann demnach durchaus zu einem Demokratiedefizit kommen, wenn sich die durch Wahlen zum Ausdruck gebrachten politischen Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung nicht abbilden und damit das politische Meinungsbild der Bevölkerung durch die nur mittelbar legitimierten Landesvertreter nicht ausreichend repräsentiert wird. Ein starkes Indiz dafür wäre, wenn ein Kandidat einer Partei oder Fraktion, die über die Mehrheit in der Bundesversammlung verfügt, durchfällt und ein Kandidat einer Minderheitenpartei oder -fraktion gewählt würde. Die oftmals nicht parteipolitisch aktiven Prominenten lassen sich zwar nicht immer einem politischen Meinungsspektrum zuordnen, gleichwohl werden sie von den einzelnen Parteien der Länderparlamente berufen und auf einer Parteiliste geführt. Dadurch liegt es bereits im ureigenen Interesse der einzelnen Parteien, als Mitglieder in die Bundesversammlung solche Personen zu wählen, bei denen sie von einer großen Nähe zu ihrer Partei und damit auch zu dem von ihnen präferierten Kandidaten ausgehen können. Auch wenn es bei einer Bundesversammlung auf jede Stimme ankommen kann, so ist das Ausmaß durch die paritätische Zusammensetzung faktisch begrenzt. Gleichwohl bleibt dieses Spannungsfeld zwischen dem freien Mandat und der Abbildung des Wählerwillens bei zunehmender Berufung von Landesvertretern aus dem nicht politischen Umfeld bestehen. Als „Lösung“ dieses Spannungsfeldes wird vielfach zu Recht nicht eine Verfassungsänderung gesehen, da sich die vom Parlamentarischen Rat in langwierigen Verhandlungen und Überlegungen austarierte gleichmäßige Behandlung und Partizipation der Bevölkerung auf Bundes- und Länderebene bewährt hat. Gesetzt wird auf das Vertrauen in die demokratisch gewählten Volksvertreter, hinsichtlich ihrer
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Verantwortung bei der Auswahl der Bundesversammlungsmitglieder die grundsätzlichen Interessen des Verfassungsgebers zu wahren. 4. Die Annahmeerklärung des gewählten Vertreters Nach der erfolgten Wahl der Landesvertreter durch die Landtage fordert der Präsident des jeweiligen Landtages die Gewählten auf, innerhalb von zwei Tagen schriftlich die Annahme der Wahl zu erklären (§ 4 Abs. 4 S. 1 BPräsWahlG). Die Mitgliedschaft der gekorenen Mitglieder beginnt gemäß § 4 Abs. 4 S. 2 BPräsWahlG mit dem Eingang der Annahmeerklärung der Wahl beim Präsidenten des Landesparlamentes und wirkt bis zur Beendigung der Versammlung (§ 9 Abs. 5 BPräsWahlG) fort.90 Dies führt dazu, dass die Mitgliedschaft regelmäßig mehrere Wochen beziehungsweise Monate vor der Einberufung und Konstituierung beginnt.91 Lässt der Gewählte die Annahmefrist erklärungslos verstreichen, so wird eine Annahme der Wahl fingiert (§ 4 Abs. 4 S. 3 BPräsWahlG). Nimmt der Gewählte hingegen die Wahl ausdrücklich nicht an oder scheidet er nachträglich aus, so tritt gemäß § 4 Abs. 5 S. 1 BPräsWahlG der nächste nicht gewählte Bewerber der gleichen Vorschlagsliste ein.92 Im Falle einer Erschöpfung der gleichen Vorschlagsliste geht der Sitz auf die Liste über, auf die die nächste Höchstzahl entfällt (vgl. § 4 Abs. 5 S. 2 BPräsWahlG). Den Eintritt als Listennachfolger stellt der Präsident des Landtages gemäß § 4 Abs. 5 S. 3 BPräsWahlG fest, der den Nachrückenden ebenfalls zur Annahme der Wahl binnen zwei Tage auffordert (§ 4 Abs. 5 S. 4 i. V. m. § 4 Abs. 4 BPräsWahlG). Im Falle einer Wahl für die gesamte Legislaturperiode muss der Gewählte die Möglichkeit haben, sich für jede Bundesversammlung erneut zu erklären, da die persönliche Annahmeerklärung im Falle einer nochmaligen Einberufung der Bundesversammlung nicht fortwirkt, wobei auch hier die Annahmefiktion bei Fristverstreichung gilt. Das Abstimmungsergebnis für die Landesvertreter wird im Anschluss gemäß § 4 Abs. 6 BPräsWahlG von den Landtagspräsidenten an den Bundestagspräsidenten übermittelt. 90 In Abgrenzung zu den geborenen Mitgliedern stellen Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 96, Fn. 337 sowie Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92, richtigerweise fest, dass der Beginn der Mitgliedschaft der Bundestagsmitglieder in der Bundesversammlung im Gegensatz zu den Landesvertretern gesetzlich nicht geregelt ist und für eine Klarstellung eine Konkretisierung notwendig sei. Als Zeitpunkt schlagen beide die Bestimmung von Ort und Zeitpunkt gem. § 1 BPräsWahlG vor. Offen bleibt jedoch, für welche Konstellation die exakte Festlegung relevant wird, da der Beginn der Mitgliedschaft der Bundestagsabgeordneten in der Bundesversammlung – bspw. für die ohnehin aus dem Abgeordnetenmandat folgende Immunität und Indemnität – keine Relevanz aufweist. 91 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 59. 92 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 59.
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Ein kürähnlicher Anteil ist weder bei der Aufstellung der Vorschlagslisten – bei der möglicherweise auch Personen des öffentlichen Lebens benannt werden – gegeben noch bei der Abstimmung selbst, der anschließenden Annahmeerklärung des gewählten Vertreters oder etwaigen Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl. Der Prozess der Wahl der Landesvertreter erfolgt allein nach den Regelungen des Bundespräsidentenwahlgesetzes und den Geschäftsordnungen der jeweiligen Landtage, die ausschließlich parlamentsähnlich geprägt sind. 5. Die Einspruchsmöglichkeiten gegen die Gültigkeit der Wahl Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl der Landesvertreter kann jedes Mitglied des benennenden Landtages sowie jeder in eine Vorschlagsliste aufgenommene Bewerber binnen zwei Tagen nach der Verkündung des Wahlergebnisses beim Präsidenten des Landtages erheben (§ 5 S. 1 BPräsWahlG).93 Hierüber muss der Landtag unverzüglich, spätestens jedoch eine Woche vor Zusammentreten der Bundesversammlung entscheiden (§ 5 S. 2 BPräsWahlG). Lediglich für den Fall, dass der jeweilige Landtag bis zur Konstituierung der Bundesversammlung keine rechtzeitige Prüfung mehr durchführen konnte, geht die Zuständigkeit hierfür auf die Bundesversammlung direkt über, deren Entscheidung gemäß § 5 S. 3 und S. 4 BPräsWahlG vom Bundestagspräsidenten vorbereitet wird.94 Die Bundesversammlung hat somit lediglich eine „Notkompetenz“ für den Fall, dass keine rechtzeitige Prüfung im jeweiligen Landtag mehr erfolgen konnte.95 Im Zuge der in der 14. Bundesversammlung 2010 beantragten Feststellung einer fehlerhaften Zusammensetzung96 stellte sich die Frage, ob eine Einspruchsmöglichkeit gegen die Landesvertreter auch von Landtagsvertretern eines anderen Bundeslandes geltend gemacht werden kann. Der damalige Bundestagspräsident Lammert lehnte die begehrte Feststellung nach der Versammlungseröffnung mit der Begründung ab, dass eine Aussprache über die Gültigkeit der Wahl durch das Ausspracheverbot nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG nicht zugelassen sei. Darüber hinaus
93 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 60; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84 f.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 69. 94 Vgl. auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 60; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, 25, S. 1602 f., 1608. 95 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 10. Wohl a. A.: Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 61, der ausführt, dass aufgrund der Autonomie der Bundesversammlung dieser die Mandatsprüfung ihrer Mitglieder selbst obliege. 96 Im Zuge der 14. Bundesversammlung wurde gerügt, dass die Wahl nach Einheitslisten zu einer fehlerhaften Zusammensetzung geführt habe.
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könne durch die Regelung des § 5 S. 1 BPräsWahlG der Einspruch ohnehin nicht von Landesvertretern anderer Länder erhoben werden.97 Für die verfassungsrechtliche Bewertung dieses Vorgehens ist zunächst zu berücksichtigen, dass Mitglieder anderer Landtage gemäß § 5 S. 1 BPräsWahlG ausdrücklich normativ keine Möglichkeit zum Einspruch zugebilligt bekommen haben. Allenfalls könnte sich aus § 5 S. 3 und S. 4 BPräsWahlG eine erweiterte subsidiäre Wahlprüfungskompetenz der Bundesversammlung ergeben, um im Falle eines nicht eingelegten Einspruches gegen die Wahl in einem Landesparlament nicht einen möglicherweise evidenten Verfassungsverstoß hinnehmen zu müssen.98 Eine solche Argumentation ist jedoch abzulehnen, weil die Bundesversammlung nur eine ganz begrenzte „Notkompetenz“ zur Überprüfung der Wahlen in den Länderparlamenten hat, soweit dort der „Fehler“ bereits mit einem Einspruch angezeigt wurde und nur aus Zeitgründen nicht beschieden werden konnte. Mögliche Fehler des Wahlverfahrens in den Länderparlamenten betreffen nur die Repräsentation dieses Landes in der Bundesversammlung, nicht aber die Rechte der Delegierten anderer Länder, sodass Rügen und Einsprüche – bis auf die zeitliche Notkompetenz – ausschließlich innerhalb und gegenüber dem eigenen Landesparlament erhoben werden können.99 Da der Bundesversammlung nur ein Prüfungsrecht im Rahmen dieser eng umgrenzten Notkompetenz zugestanden wird, besteht auch kein Recht zur Überprüfung der Mitgliedschaft einzelner Bundestagsabgeordneter durch die Versammlung.100 Die Mitgliedschaft von Bundestagsabgeordneten in der Bundesversammlung ergibt sich unmittelbar aus ihrem (tatsächlichen) Mandat im Bundestag, und nur der Bundestag selbst kann hierüber entscheiden: Die Rechtmäßigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ist ausschließlich im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens nach Art. 41 GG überprüfbar.101 Trotz der umfassenden
97 BVerfGE 136, 277, 286 f. In der streitgegenständlichen Bundesversammlung wurde weiter vom Bundestagspräsidenten vorgetragen, dass es vor der Abstimmung über eine Geschäftsordnung der Bundesversammlung für eine mündliche Begründung oder Aussprache in der Versammlung keine Rechtsgrundlage gebe – auf diese Argumentation wird noch näher einzugehen sein. Im vorliegenden Sachverhalt erfolgte nach der Entscheidung des Bundestagspräsidenten eine Abstimmung über die Geschäftsordnung, die eine sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages mit der Maßgabe vorsah, dass eine mündliche Begründung und eine Aussprache über Geschäftsordnungsanträge und andere Anträge nicht stattfindet. 98 Vgl. BVerfGE 136, 277, 294. 99 So ebenfalls argumentierend: BVerfGE 136, 277, 296. 100 Vgl. BVerfGE 136, 277, 304. 101 Grund hierfür ist, dass die Wahlprüfung der Gewährleistung der tatsächlichen Abbildung des Volkswillens am Beginn der Legitimationskette vom Bundestag zu weiteren Staatsorganen dient und sich nicht aus einem organschaftlichen Recht des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergibt. Vgl. BVerfGE 136, 277, 305; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83 f. Eingehend
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Rechte der Bundestagsmitglieder billigt Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG den einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages kein Recht zur Feststellung der rechtmäßigen Zusammensetzung der Bundesversammlung zu.102 Da dieses Überprüfungsrecht schon nicht dem einzelnen gewählten Abgeordneten im parlamentarischen Bundestag zusteht, kann dies – unter dem Gesichtspunkt der weitgehend gleichen Rechtsstellung aller Mitglieder in der Bundesversammlung – auch nicht den einzelnen Mitgliedern der Bundesversammlung zugebilligt werden.103 Daher sind von anderen Landtagen bestimmte Mitglieder der Bundesversammlung, Bundestagsabgeordnete oder sonstige Wahlberechtigte nicht einspruchsberechtigt. Ebenfalls aus anderen Rechtsgebieten ist der Grundsatz einer Selbstbetroffenheit geläufig,104 sodass es seine Richtigkeit hat, wenn der Rechtsschutz den unmittelbar Betroffenen vorbehalten bleibt – mit der Konsequenz, dass bestimmte Aspekte gegebenenfalls unüberprüft bleiben.105 Auch das ausweitende Rechtsinstitut der Popularklage kann hier nicht greifen. Es hat seine größte praktische Bedeutung in der Sonderform der Verbandsklage, in der anerkannte Fachverbände aus Naturschutz und anderen Bereichen, wie zum Beispiel Verbraucherverbände, eine Klagebefugnis erhalten. Diese Sonderrechte sind jedoch ausdrücklich normiert und können nicht als allgemeine Rechtsprinzipien verstanden werden.106 Eine solche Befugnis normiert weder Art. 54 GG noch § 5 BPräsWahlG. Hier ist nur das Notprüfungsrecht geregelt. Der Grundsatz der Selbstbetroffenheit als Klagebefugnis kann aber nur durch eine ausdrückliche Regelung modifiziert werden, wie es § 5 S. 3 BPräsWahlG im Falle der notwendigen „Eilzuständigkeit“ vorsieht. Somit bleibt es bei dem Grundsatz der Selbstbetroffenheit, was auch überzeugt, da die jeweiligen Landtage am sachnächsten selbst beurteilen können, ob die Entsendung der Landesvertreter rechtswirksam erfolgt ist. Auch der Bundestag ist deshalb für die Wahlprüfung selbst zuständig, da bei der Wahl der Bundestagsmitglieder kein Landtag „dazwischengeschaltet“ ist. zur Wahlprüfung im Deutschen Bundestag: Kretschmer, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 13, Rn. 1 – 68, S. 441 – 465. 102 Vgl. auch BVerfGE 136, 277, 305. 103 So auch BVerfGE 136, 277, 305 und Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 84. 104 Bspw. im Rahmen der Selbstbetroffenheit einer Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 2 BVerfGG oder im Baurecht im Rahmen der Drittanfechtungsklage einer erteilten Baugenehmigung für den Nachbarn zur Vermeidung von Popularklagen. 105 So auch: Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidenten wahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 106 Vgl. bspw. § 64 des Bundesnaturschutzgesetzes oder § 15 des Behindertengleichstellungsgesetzes.
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Aus Gründen der Rechtssicherheit sieht § 5 S. 1 BPräsWahlG die kurze Einspruchspflicht von zwei Tagen sowie eine Zuständigkeit der Bundesversammlung über den Einspruch nur in Ausnahmefällen vor. Im Ergebnis steht der Bundesversammlung außerhalb der Ausnahme des § 5 S. 3 BPräsWahlG weder ein Recht auf Überprüfung der Wahl einzelner Mitglieder zu, noch besteht – als Folge davon – eine Pflicht, eine solche Prüfung im Falle der Beantragung vorzunehmen.107 Ein solches Begehren ist vielmehr unzulässig, ein diesbezüglicher Antrag ist vom Bundestagspräsidenten zurückzuweisen.
III. Zum Fraktionsstatus in der Bundesversammlung Zur ordnungsgemäßen Zusammensetzung der Bundesversammlung gehört die bereits aufgegriffene Feststellung, dass sich auch die Bundesversammlung in Fraktionen gliedert.108 Die Frage, ab welcher Stärke sich die Mitglieder zu Fraktionen zusammenschließen können, ist für die Bundesversammlung weder im Grundgesetz noch im Bundespräsidentenwahlgesetz geregelt. Für den Bundestag gilt die Fünf-ProzentKlausel gemäß § 10 GO-BT und § 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG. Die Fünf-Prozent-Klausel auf Landesebene ergibt sich, mit teilweise kleineren Besonderheiten und Ausnahmen, aus den Landeswahlgesetzen und teilweise auch aus den Landesverfassungen selbst.109 107 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85 mit Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 108 So auch: Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609. 109 Die Fünf-Prozent-Klausel bezieht sich auf die gültigen Stimmen, während die Klausel in der Landesverfassung Berlins auf die abgegebene Stimmenanzahl bezogen wird. In Berlin genießt die Fünf-Prozent-Klausel sogar Verfassungsrang. Vgl. Art. 39 Abs. 2 Verf. BE. Siehe auch die Kritik von v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 2 an der für Bundes- und Landtagswahlen geltenden 5%Klausel, die sich auch auf die Bundesversammlung auswirkt. Denn hierdurch würden bei der Bundesversammlung Millionen Wählerstimmen der letzten Bundestags- und Landtagswahl unter den Tisch fallen, obwohl der mit der Sperrklausel bezweckte Schutz der Funktionsfähigkeit der Parlamente zwecks Bildung einer stabilen Regierung für die Bundesversammlung „überflüssig“ sei. Denn in der Bundesversammlung werde keine Regierung gewählt, die vom fortlaufenden Vertrauen der Mehrheit abhängig sei, sondern einmalig mit – gegebenenfalls relativer – Mehrheit der Bundespräsident für eine gesamte Amtszeit. Diese Aussperrung kleinerer Parteien und ihrer Wähler sei eine ungerechtfertigte massive Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien und der Gleichheit der Wählerstimmen. Dieser Kritik sind u. a. Gründe der Praktikabilität entgegenzuhalten. Die Sperrklausel ist ein notwendiges und sinnvolles Instrument, einer Zersplitterung der Parlamente entgegenzuwirken, welches auch für die Zusammensetzung der Bundesversammlung Geltung beanspruchen darf. Eine Berücksichtigung von Kleinstparteien lässt sich angemessen in der Zusammensetzung der Bundesversammlung nicht ohne unverhältnismäßigen Aufwand unterbringen. Auch scheint dies nicht geboten, da in der Bundesversammlung die Wählerstimmen von 93 % bis 98 % vertreten sind
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Zur Möglichkeit eines Fraktionsstatus in der Bundesversammlung kann zunächst darauf verwiesen werden, dass jede Fraktion im Bundestag oder im Landtag auch in der Bundesversammlung Fraktionsstatus genießt. Damit ist eine gewisse Parallelität gegeben, die sich im Bundestag beziehungsweise in den Landesparlamenten manifestiert hat. Hätte in der Bundesversammlung etwas anderes gelten sollen, wäre der Gesetzgeber in seiner Regelungskompetenz gefragt gewesen oder die Bundesversammlung hätte mit ihrer Geschäftsordnungsautonomie Abweichendes beschließen können. Stattdessen spricht die nach § 8 S. 2 BPräsWahlG sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages dafür, dass auch die Fraktionsbildungen, wie sie in § 10 GO-BT normiert sind, sinngemäß Anwendung finden sollen. Die Bildung von Fraktionen entspricht dem praktischen Bedürfnis. Dies zeigt sich beispielsweise bei den in den „Fraktionen“ durchgeführten „Probeabstimmungen“ vor der Bundespräsidentenwahl. Obwohl die Versammlungsmitglieder ein freies Mandat besitzen, werden Informationen und unverbindliche Wahlempfehlungen in größeren „Blöcken“, in Fraktionen, getroffen. Dies kann nicht mit Einzelpersonen oder wahllos zusammengestellten Gruppierungen geschehen. Da den Fraktionsbildungen keine rechtlichen Untersagungsgründe entgegenstehen und ansonsten auf die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages verwiesen wird, spricht nichts gegen eine solche Handhabung auch auf der Ebene der Bundesversammlung, obwohl hier ansonsten keine vergleichbaren Debatten und Abstimmungen wie im Bundestag geführt werden.
IV. Der Immunitätsschutz der Bundesversammlungsmitglieder § 7 S. 1 BPräsWahlG i. V. m. Art. 46 Abs. 2 GG bestimmt, dass die Mitglieder der Bundesversammlung während der Dauer der Mitgliedschaft Immunität genießen und aufgrund ihres Mandates vor Strafverfolgung geschützt sind. Damit ist die Parallelität zu den Bundestagsabgeordneten wie beim Fraktionsstatus auch für die Immunität gegeben.110 Die Immunität der Bundesversammlungsmitglieder bezweckt den Schutz der Bundesversammlung vor Strafverfolgung ihrer Mitglieder aufgrund – möglicherweise erfundener – Beschuldigungen und hieraus resultierender Festnahmen. Sinn und Zweck der Immunität ist vor allem der Schutz der Versammlung und deren und die verbleibenden, nicht berücksichtigten Wähler meist keine geschlossene Gruppe darstellen. Ferner erscheint es unwahrscheinlich, dass sich bei einer wie auch immer gearteten Beteiligung von Kleinstparteien ein abweichendes Ergebnis ergeben würde, da sich die Randund Splittergruppen in der Regel auf unterschiedliche „Lager“ verteilen, sodass am Gesamtergebnis der Wahl in der Regel keine Abweichung feststellbar sein dürfte. 110 Vgl. dazu die Ausführungen zum Deutschen Bundestag bei Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S. 283 – 288.
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reibungslose Durchführung. Nicht im Vordergrund steht das einzelne Versammlungsmitglied.111 Anschuldigungen und Verhaftungen gab es beispielsweise vor wichtigen Abstimmungen im 19. Jahrhundert und insbesondere zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung Anfang des 20. Jahrhunderts.112 1. Die zeitliche Dauer des Immunitätsschutzes Der Immunitätsschutz gilt nur für die Dauer der Mitgliedschaft und beginnt bei den gewählten Mitgliedern ab Eingang der schriftlichen Annahmeerklärung der Wahl.113 Aufgrund des Schutzes der Bundesversammlung und nicht des einzelnen Mitglieds wirkt die Immunität nicht (unbegrenzt) fort, auch wenn die Wahl des Bundespräsidenten beispielsweise gerichtlich angefochten oder für unwirksam erklärt wurde.114 Entscheidend ist nicht ein rechtsgültiger Wahlakt, sondern der Zeitpunkt, an dem die Versammlung tatsächlich vom Sitzungsleiter für beendet erklärt wird, auseinandergeht und eine Wiedereinberufung nicht mehr möglich ist.115 2. Die organschaftliche Zuständigkeit für die Immunitätsaufhebung Für die Aufhebung der verfassungsrechtlich garantierten Immunität bedarf es eines Gremiums, das im Falle eines entsprechenden Antrages entscheidet.116 111
Eingehend zum Schutzzweck und zur verfassungstheoretischen Herleitung der Immunität: Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S. 66 – 68. 112 Zur Entwicklung der Immunität in Deutschland siehe Butzer, Immunität im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S. 47 – 66. 113 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 31; Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 29, 37; Lange, Das parlamentarische Immunitätsprivileg als Wettbewerbsvorteil, 2009, S. 165 f. A. A.: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 82; Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 62, die die Schutzvorschriften erst ab dem Zeitpunkt des Zusammentritts der Versammlung festlegen. 114 Vgl. BVerfGE 136, 277, 295; 138, 125, 130 f. Der Antragsteller Udo Pastörs (NPD) hatte beim 1. Strafsenat des OLG Saarbrückens Revision eingelegt und – mit Verweis auf das eingeleitete Organstreitverfahren und der behaupteten Ungültigkeit der Wahl des Bundespräsidenten in der 15. Bundesversammlung – beantragt, das Revisionsverfahren bis zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung auszusetzen. Diesem Begehren wurde nicht stattgegeben, die Immunität endet zusammen mit der Mitgliedschaft in der Bundesversammlung mit der Erklärung des Bundestagspräsidenten, dass er die Bundesversammlung schließe. Vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 13. 3. 2014 – Ss 50/13, BeckRs 2014, 119362. 115 So im Ergebnis auch OLG Saarbrücken, Beschluss vom 13. 3. 2014 – Ss 50/13, BeckRs 2014, 119362 mit Verweis u. a. auf OLG Rostock, Beschluss vom 16. 8. 2013 1 – Ss 57/13, BeckRs 2013, 14504. 116 Über die Aufhebung der dem Bundespräsidenten gem. Art. 60 Abs. 4 i. V. m. Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG zugesprochenen Immunität entscheidet der Deutsche Bundestag. Vertiefend zur Immunität des Bundespräsidenten im In- und Ausland: Hömig, Angemessener Immunitätsschutz des Bundespräsidenten, ZRP 2012, 110, 110 – 113 mit einer verfassungsrechtlichen
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Jahrzehntelang war die Frage der Zuständigkeit für den Zeitraum nach Eingang der schriftlichen Annahmeerklärung bis zur Konstituierung der Bundesversammlung nicht geklärt. Diese Frage stellte sich im April 2004, zwei Monate vor dem Einberufungstermin der Bundesversammlung, bei dem sozialdemokratischen Stadtentwicklungssenator der Stadt Berlin.117 Die Bundesversammlung selbst scheidet für diesen Zeitraum schon allein aufgrund ihres noch nicht Bestehens in den versammlungsfreien Zeiträumen aus.118 Ebenso wenig kann ein mögliches Unterorgan der Bundesversammlung mangels Existenz eingesetzt werden.119 Eine Entscheidung über einen entsprechenden Antrag müsste jedoch bis zur Konstituierung der Bundesversammlung getroffen beziehungsweise im Vorfeld der Bundesversammlung durchgeführt werden, um den Schutz der Bundesversammlung und die Gewährleistung eines reibungslosen Ablaufes am Tag der Konstituierung sicherzustellen. Auch ein Nachrücken eines Ersatzmitgliedes wäre unter Umständen ansonsten nicht mehr möglich. Nach dem Grundsatz der Selbstbetroffenheit ist die Bundesversammlung grundsätzlich selbst für Immunitätsangelegenheiten ihrer Mitglieder zuständig.120 Der Gesetzgeber hat im Jahr 2007 in § 7 S. 2 BPräsWahlG die Zuständigkeit für Immunitätsangelegenheiten der Bundesversammlung auf den Bundestag übertragen.121 Mit der gesetzlichen Regelung werden die Bundesversammlungsmitglieder und verfassungspolitischen Kritik; Hokema, Immunität von Staatsoberhäuptern, 2002; Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 35; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 116 – 118; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 7, S. 216; Tangermann, Die völkerrechtliche Immunität von Staatsoberhäuptern, 2002; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 12 ff. 117 Lange, Das parlamentarische Immunitätsprivileg als Wettbewerbsvorteil, 2009, S. 165 f. Vertiefend zu dieser Problematik: Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 90 – 94. 118 So auch: Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 91, 93; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 117; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 60, Rn. 43. 119 Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 90 f. mit der rechtlichen Auslegung und dem Plädoyer für die Errichtung eines aus Mitgliedern des Bundestages sowie der Landtage benannten Besetzung eines Immunitätsausschusses der Bundesversammlung auf S. 93. Vgl. auch Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 66. 120 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 82; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 97; Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 65. 121 Durch einen neu eingefügten Halbsatz in § 7 S. 2 BPräsWahlG wird seit Juli 2017 (BGBl. 2007, I, S. 1326) auf die entsprechende Anwendung der sonstigen Bestimmungen immunitätsrechtlichen Inhalts (§ 107 GO-BT, Anlage 6 GO-BT) verwiesen. Auslöser für diese einfachgesetzliche Klarstellung, wonach die beim Bundestagspräsidenten eingehenden Schreiben der Staatsanwaltschaft unmittelbar an den zuständigen Immunitätsausschuss des
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
hinsichtlich ihrer Immunität den Bundestagsabgeordneten gleichgestellt und es entscheidet ein Verfassungsorgan, der Bundestag, in Immunitätsangelegenheiten eines anderen Verfassungsorgans, der Bundesversammlung.122 Die in § 7 S. 2 BPräsWahlG getroffene Regelung der Aufgabenzuweisung an den Bundestag ist auch zweckmäßig.123 Für die Delegierung an den Bundestag spricht, dass bereits die Hälfte der Versammlungsmitglieder dem Bundestag angehört, für die ein Antrag auf Aufhebung der Immunität ohnehin vom Bundestag zu entscheiden ist. Gegen eine Aufsplittung der Zuständigkeit auf den Bundestag beziehungsweise dessen Gremien für die Mitglieder des Bundestages und auf die Landtage für die von den Länderparlamenten gewählten Mitglieder der Bundesversammlung spricht, dass Organe der Länder in dieser Angelegenheit über Mitglieder eines Bundesorganes entscheiden würden. Denn die Gewählten gehören nach der Annahme der Wahl der Bundesversammlung an und unterliegen nach dem Grundsatz der Selbstbetroffenheit dem Recht der Bundesversammlung. Insofern durchbricht diese Regelung nicht diesen Grundsatz, sondern stellt eine Ergänzung für den Zeitraum außerhalb des Bestehens der Bundesversammlung dar. Es bestünde zudem die Gefahr, dass eine heterogene Entscheidungspraxis angesichts uneinheitlichen Landesrechts und unterschiedlicher Verfahrensweisen entsteht, aus der Ungleichbehandlungen der Betroffenen resultieren könnten.124 In den Fällen, in denen die Aufhebung der Immunität eines Landtagsabgeordneten beantragt wird, der zugleich Mitglied der Bundesversammlung ist, ist nach dem Grundsatz der Selbstbetroffenheit der Immunitätsausschuss auf Bundesebene ausschließlich zuständig. Die dadurch entstehende parallele Zuständigkeit von Bundestag und Landtag wird insofern aufgelöst, als die nunmehr zeitweise bestehende Zugehörigkeit zu einem Bundesorgan gegenüber der eines Landesorgans Vorrang Bundestages weiterzuleiten sind, waren drei Fälle im Umfeld der 12. Bundesversammlung 2004. Näher hierzu: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 90; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 37 sowie vertiefend zum Gesetzgebungsverfahren: Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 61, 67 f. 122 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 82; Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 61 – 69, der auf S. 67 ausführt, dass bei der Unterrichtung und der Möglichkeit einer Stellungnahme der Länder mit Nordrhein-Westfalen und Bremen lediglich zwei Bundesländer gegen eine Zuständigkeitsübertragung an den Bundestag einwandten, dass grundsätzlich jedes Verfassungsorgan selbst über seine eigenen Angelegenheiten zu entscheiden habe. Der vorgeschlagenen Alternative, wonach vor der Handlungsfähigkeit der Bundesversammlung der Immunitätsausschuss des Bundestages lediglich eine im Anschluss von der Bundesversammlung zu bestätigende, vorbereitende Entscheidung treffen solle, wurde aus praktischen Erwägungen nicht gefolgt. 123 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 97. 124 Winkelmann, Die Immunität der Mitglieder der Bundesversammlung, ZParl 2008, 61, 67.
A. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung
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genießt – somit die Zuständigkeit des Landtages bis zum Schließen der Bundesversammlung ruht.125 Da die Immunität die Arbeitsfähigkeit und den Bestand des jeweiligen Organs und nicht das einzelne Mitglied schützt, spielt es keine Rolle, dass ein Landtagsabgeordneter hauptamtlich und ein Mitglied der Bundesversammlung seine Aufgabe lediglich ehrenamtlich wahrnimmt. Hiervon unberührt bleibt indes die Zuständigkeit der Länderparlamente für Fragen der landesrechtlichen Immunität ihrer Landtagsabgeordneten außerhalb des Zeitraumes ihrer Zugehörigkeit zur Bundesversammlung. Dies hat zur Folge, dass ein (erneuter) Antrag auf Aufhebung der Immunität eines Landtagsabgeordneten erst nach nach dem Schließen der Bundesversammlung entschieden werden und diese Entscheidung abweichend zu einer eventuell vorherigen des Bundestages ausfallen kann. Ähnlich vollzieht sich die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten, die stets durch den Bundestag gemäß Art. 60 Abs. 4 i. V. m. Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG und somit nicht durch die Bundesversammlung erfolgt.126 Auch dies ist verfassungsrechtlich geboten, da der Bundestag als parlamentarisches und dauerhaft bestehendes Verfassungsorgan am sachnächsten diese Immunitätsangelegenheiten einheitlich für die Bundesversammlungsmitglieder und den Bundespräsidenten wahrnehmen kann.127 Diese Entscheidung ist auch im Hinblick auf die Zuständigkeit zur Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung durch den Bundestagspräsidenten naheliegend und sachgerecht.128
125 Da die Sitzung der Bundesversammlung bislang innerhalb eines Tages geschlossen wurde, erscheint es zudem auch praktikabel, dass eine nicht ad-hoc zu treffende Entscheidung über die Aufhebung der Immunität außerhalb dieses Zeitrahmens erst in den Folgetagen auf Landesebene getroffen wird. 126 In der achten Sitzung des Hauptausschusses im Parlamentarischen Rat kam der Gedanke auf, die Bundesversammlung über die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten entscheiden zu lassen. Dies wurde jedoch im Hinblick auf den großen Aufwand des erneuten Zusammentritts mit Mitgliedern aus der gesamten Bundesrepublik sowie aufgrund der Ansicht, dass dieser Fall ohnehin selten eintreten werde, abgelehnt. Vgl. Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 276. Unter dem Gesichtspunkt der Selbstbetroffenheit könnte man auch auf den Gedanken kommen, dass der Bundespräsident als Verfassungsorgan selbst über die Aufhebung seiner Immunität entscheiden kann. Er verfügt jedoch als „Ein-Mann-Organ“ weder über einen entsprechend ausgelegten Verwaltungsunterbau noch könnte eine unbefangene Entscheidung ergehen und ist daher keine ernsthafte Option. 127 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 82. 128 So auch: Lange, Das parlamentarische Immunitätsprivileg als Wettbewerbsvorteil, 2009, S. 166.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung Wie sich aus Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 BPräsWahlG ergibt, liegt die gesamte Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Bundesversammlung – mit Ausnahme der Wahlen in den Landtagen und der vorausgegangenen Festlegung der Anzahl der jeweils in den Bundesländern zu wählenden Landesvertreter durch die Bundesregierung – im Zuständigkeitsbereich des Bundestagspräsidenten.129 Zur Vorbereitung gehört die gesamte verwaltungsmäßig-organisatorisch-technische Durchführung samt Unterrichtung der Öffentlichkeit.130 Dies umfasst beispielsweise die angesprochene Bereitstellung der erforderlichen Haushaltsmittel durch die Aufstellung eines Haushaltsplanes für die Bundesversammlung, die Vorbereitung der Sitzungsunterlagen für die Mitglieder, den Druck der Stimmkarten, die Erstellung eines Verzeichnisses der Mitglieder und eines Sitzplanes sowie gegebenenfalls die Anmietung von Sitzungsräumen für die Fraktionen, um einen reibungs- und störungsfreien Ablauf der Versammlung gewährleisten zu können.131 Dazu stehen dem Bundestagspräsidenten die personellen Ressourcen des Bundestages zur Verfügung, wie die Vizepräsidenten im Vertretungsfall, die Schriftführer sowie weiteres für die Durchführung der Bundesversammlung notwendiges Personal. Im gesamten Prozess der Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung treten keinerlei kürähnliche Aspekte zu Tage. Es handelt sich um Willensbil129 Der Bundestagspräsident wird in sein Amt in der konstituierenden ersten Sitzung des neugewählten Bundestages gewählt, zu der der bisherige Bundestagspräsident, vgl. § 1 Abs. 1 GO-BT, spätestens am 30. Tag nach der Wahl (vgl. Art. 39 Abs. 2 GG) einberuft. Obwohl weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung des Bundestages normiert, kommt für das Amt des Bundestagspräsidenten nur ein Mitglied des Bundestages in Betracht. Denn die erforderliche Abgeordneteneigenschaft des Präsidenten ist mehr als nur eine parlamentstypische oder gewohnheitsrechtliche Prämisse. Sie ergibt sich aus § 7 Abs. 6 GO-BT, der für die Stellvertreter des Präsidenten eine Mitgliedschaft in einer Fraktion vorschreibt, sodass dieses erst recht für den Bundestagspräsidenten gelten muss. Ferner müsse dieser nach überwiegender Meinung der stärksten Fraktion angehören, was aus §§ 11 und 12 GO-BT begründet wird. Vgl. Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 654 – 657; Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 27, Rn. 1, S. 795. Zum Bundestagspräsidenten insgesamt siehe die Kommentierungen zu Art. 40 GG sowie u. a. Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 654 – 689; Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 27, S. 795 – 807; Ismayr, Bundestagspräsident und Präsidium, 3. Aufl. 2004; Schick, Der Bundestagspräsident: Amt, Funktionen, Personen, 10. Aufl. 1990; Wermser, Der Bundestagspräsident, 1984; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 152 m. w. N. 130 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 63. 131 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 63; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 13, S. 1603; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85 f.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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dungsprozesse, deren Ergebnisse noch nicht feststehen und Veränderungen unterliegen und die damit dem Spektrum der Parlamentsarbeit zuzuordnen sind.
I. Die Pflicht zur Einberufung Nach Ablauf der regulären Wahlperiode und im Falle eines vorzeitigen Endes der Amtszeit des Bundespräsidenten hat der Bundestagspräsident die Bundesversammlung nach den Vorgaben des Art. 54 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GG einzuberufen. Detailliertere Regelungen zu dieser „Geschäftsbesorgung“ finden sich teils in Art. 54 GG und teils im – gemäß der Ermächtigung nach Art. 54 Abs. 7 GG erlassenen – Bundespräsidentenwahlgesetz.132 1. Der Ablauf der fünfjährigen Wahlperiode Eine Einberufung erfolgt zum Ende der Amtszeit des Bundespräsidenten, die im Normalfall automatisch mit dem Ablauf des fünften Jahrestages des tatsächlichen Amtsantrittes endet133 und bewusst ein Jahr mehr als die vierjährige Wahlperiode des Bundestages nach Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG und des Bundeskanzlers umfasst.134 Damit wird zugleich die mögliche Vermittlerfunktion des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung sowie dessen Unabhängigkeit gestärkt und die Wahrscheinlichkeit einer gleichzeitigen Beendigung der Amtsperioden von Bundespräsident und Bun132 BGBl. 1959, I, S. 230, mit der Modifikation durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 24. Juni 1975, BGBl. 1975, I, S. 1593, zuletzt geändert am 12. Juli 2007. Beim BPräsWahlG handelt es sich um eine nähere Ausgestaltung des seit 10. Juli 1953 in Kraft getretenen Art. 54 Abs. 7 GG. Vgl. hierzu auch Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 35. 133 Es kommt somit nicht auf den Wahltag oder den Tag der Annahmeerklärung an. Seit dem vorzeitigen Amtsverzicht des zweiten Bundespräsidenten Heinrich Lübke (CDU) begannen die Amtszeiten der späteren Bundespräsidenten für lange Zeit jeweils zum 1. Juli. Seit der 15. Bundesversammlung vom 18. März 2012, mit der Wahl Joachim Gaucks (parteilos) als Nachfolger für den zurückgetretenen Christian Wulff (CDU), begannen die Amtszeiten jeweils zum 18. März. Die regulär ausscheidenden Bundespräsidenten räumen spätestens vor der letzten Nacht der fünfjährigen Wahlperiode den Amtssitz, da sie ab Mitternacht nicht mehr Hausherr sind. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 85; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 226, 228, 265; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 40. 134 Die von der SPD bereits in der Nationalversammlung vorgeschlagene fünfjährige Amtszeit des Staatsoberhauptes hat sich erst im Parlamentarischen Rat durchgesetzt und wurde in Art. 54 Abs. 2 S. 1 GG normiert. Die Möglichkeit einer nur einmaligen Wiederwahl des Bundespräsidenten soll eine verselbstständigte Machtstellung des Bundespräsidenten verhindern, aber zugleich eine gewisse Kontinuität an der Staatsspitze gewährleisten. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 18; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 17 f.; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 50; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 34.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
destag verringert.135 Alle zwei Wahlakte fallen daher ohne vorzeitige Neuwahlen rechnerisch nur alle 20 Jahre in einem Jahr zusammen.136 Bei kurz aufeinander folgenden Wahlen von Bundestag und Bundespräsident besteht die Gefahr, dass die Kandidatenauslese für das Amt des Bundespräsidenten durch gleichzeitig laufende Koalitionsverhandlungen beziehungsweise durch einen Bundestagswahlkampf bestimmt und damit in besonderer Weise in einen nicht gewollten parteipolitischen Zusammenhang gestellt werden könnte – wenngleich in der Praxis die Wahl des Bundespräsidenten ohnehin nicht frei von parteipolitischen Interessen abläuft.137 Ferner soll die Regelung bewirken, dass der Bundespräsident sich idealerweise schon einige Zeit im Amt befindet, wenn nach den Bundestagsneuwahlen der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt wird.138 Eine in der Literatur immer wieder geforderte Verlängerung der fünfjährigen Amtszeit kann nach allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen nur für die Zukunft und nicht in der laufenden Wahlperiode erfolgen. Eine Verlängerung der Amtszeit müsste sich an dem aus dem Demokratieprinzip folgenden Grundsatz der
135 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 83; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 633; Füsslein, in: Leibholz/ Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 406; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 16, S. 1604; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 101. 136 Bis auf die unvermeidbare Kollision „zum Start“ der Bundesrepublik 1949 ist es dennoch 1969, 1994, 2009 und 2017 zu zeitlich nah beieinanderliegenden Bundestags- und Bundespräsidentenwahlen in einem Jahr gekommen. Von den genannten Jahren wurde 1969 eine direkte Kollision beider Wahlen vermieden, da Bundespräsident Heinrich Lübke (CDU) einige Monate vor Ablauf seiner zweiten Amtsperiode zurücktrat, sodass die Wahl seines Nachfolgers vor der Bundestagswahl möglich wurde und das Einbeziehen der Präsidentenwahl in den Wahlkampf sowie in die folgenden Koalitionsverhandlungen vermieden werden konnten. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 83; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 35; Herzog, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 20; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 7. 137 Dass die Einbeziehung der Besetzung des Amtes des Bundespräsidenten in Koalitionsüberlegungen trotzdem nicht auszuschließen ist, lässt sich an mehreren Beispielen belegen: Bereits der erste Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) kam infolge einer Koalitionsvereinbarung in sein Amt. 1959 wurde Heinrich Lübke (CDU) im Hinblick auf dessen voraussichtliches Verhalten bei künftigen Regierungsbildungen gewählt. Die sozialdemokratische Unterstützung für den christdemokratischen Kandidaten Lübke 1964 wurde als Signal für die anbahnende Große Koalition aus CDU und SPD gewertet, ebenso die Wahl Gustav Heinemanns (SPD) 1969 als Antizipation für die sozialliberale Regierung. 1998 vereinbarte die rot-grüne Bundesregierung im Koalitionsvertrag, dass man „mit einem gemeinsamen Personalvorschlag in die Bundesversammlung 1999“ gehe und der SPD ein Vorschlagsrecht hierfür zustehe. Vgl. u. a.: Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 35; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 261; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 16, S. 1604. 138 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 633.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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zeitlichen Begrenzung messen lassen und ginge mit einer Änderung des Art. 54 Abs. 2 GG einher.139 2. Die Amtszeitverlängerung im Verteidigungsfall Eine Ausnahme von der Einberufungspflicht nach der fünfjährigen Amtszeit des Bundespräsidenten sieht das Grundgesetz nur im Verteidigungsfalle vor. In einem nach Art. 115a Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 GG genau geregelten Verfahren wird die Feststellung des Verteidigungsfalles vom Bundespräsidenten nach Art. 115a Abs. 3 S. 1 GG im Bundesgesetzblatt verkündet.140 Nach dieser Feststellung endet gemäß Art. 115h Abs. 1 S. 2 die Amtszeit des amtierenden Bundespräsidenten automatisch erst neun Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles141, um in dieser besonderen Ausnahmesituation keine Vakanz entstehen zu lassen.142 3. Die Einberufung bei vorzeitiger Amtsbeendigung Bereits vor Ablauf der fünfjährigen Amtszeit des Bundespräsidenten hat der Bundestagspräsident eine Bundesversammlung einzuberufen, wenn die Amtszeit vorzeitig endet. Art. 54 Abs. 4 GG geht von der Möglichkeit einer vorzeitigen Amtsbeendigung aus, ohne jedoch Beendigungsgründe aufzuzählen. In Betracht kommen der Tod des
139 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 18; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 20; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 38; Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217, 218. Eine bis zu siebenjährige Amtszeit des Bundespräsidenten – entsprechend der des Reichspräsidenten – erscheint als maximale Wahlperiode dem Demokratieprinzip noch zu entsprechen. 140 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 176. 141 Dasselbe gilt für die Befugniswahrnehmung durch den Bundesratspräsidenten, falls während des Verteidigungsfalles das Amt des Bundespräsidenten aus anderen Gründen vorzeitig endet. Anders als in der Weimarer Verfassung hat das Staatsoberhaupt aber keinerlei Befehlsgewalt über die Streitkräfte. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 7; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 179, 181; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 20; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 101; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 20. 142 Nach nicht unumstrittener Auffassung soll eine Neuwahl des Bundespräsidenten – regulär durch die Bundesversammlung und nicht durch den Gemeinsamen Ausschuss nach Art. 53a GG – erfolgen können, sofern die Umstände dies zulassen. Hierdurch wird sichergestellt, dass es im Verteidigungsfall durch ein Amtszeitende nicht zu einer Periode ohne Staatsoberhaupt kommt oder ein Amtswechsel in einer Staatskrise erforderlich wird. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 87 m. w. N.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 179 f, 182, 262.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Bundespräsidenten, der Verlust seiner Wählbarkeit,143 ein Amtsenthebungsverfahren nach Art. 61 GG144, die Aberkennung des Amtes durch Urteil gemäß Art. 61 GG, sein Rücktritt145 sowie auch schwerste Gebrechen oder Geisteskrankheit, die die Amtsausführung dauerhaft unmöglich machen.146 a) Fall der Beendigung durch ein Amtsenthebungsverfahren, Art. 61 GG Eine Pflicht des Bundestagspräsidenten zur vorzeitigen Einberufung einer Bundesversammlung besteht, wenn das Bundesverfassungsgericht eine vorsätzliche Amtspflichtverletzung im Rahmen der Präsidentenanklage festgestellt und den Amtsinhaber gemäß Art. 61 Abs. 2 S. 1 GG, § 56 Abs. 2 BVerfGG seines Amtes für verlustig erklärt hat.147 Die Rechtswirkung tritt im Augenblick der Urteilsverkündung ein, sodass der Bundesratspräsident gemäß Art. 57 GG die Befugnisse des Bundespräsidenten bis zu einer Neuwahl wahrnimmt.148 Bei einer vorsätzlichen Verletzung des Grundgesetzes oder eines anderen Bundesgesetzes kann das Bundesverfassungsgericht – im Interesse der Autorität des Amtes – die Ausübung des Amtes umgehend durch vorläufige Anordnung untersagen (vgl. Art. 61 Abs. 2 S. 2 GG).149 143 Denkbar ist eine Entmündigung oder eine strafgerichtliche Aberkennung der Fähigkeit der Bekleidung von öffentlichen Ämtern unter den Voraussetzungen von Art. 60 Abs. 4 i. V. m. Art. 46 Abs. 2, 4 GG. Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 57. 144 Vgl. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 634; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 266 f.; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 57 f.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 19. 145 Bisher haben Heinrich Lübke (CDU) im Oktober 1968 mit Wirkung zum 30. Juni 1969 (zweieinhalb Monate vor Amtszeitende), Horst Köhler (CDU) am 31. Mai 2010 (Rücktritt nach knapp sechs Monaten seiner zweiten Amtszeit) und Christian Wulff (CDU) am 17. Februar 2012 (nach 20 Monaten Amtszeit) mit sofortiger Wirkung das Amt vorzeitig ruhen lassen. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 269. 146 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 133 m. w. N. 147 Die Weimarer Reichsverfassung sah die Präsidentenanklage in Art. 59 WRV vor. Vertiefend hierzu u. a.: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 119 – 129. 148 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 20; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 38; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 266; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 59. Zur Frage, inwieweit es sich hierbei um eine Beendigung oder um eine vorübergehende Verhinderung handelt, vgl. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 634. 149 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 634. Der Gesetzgeber wollte in Bezug auf den Bundespräsidenten lediglich eine rechtliche Abberufungsmöglichkeit
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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Zu einem solchen Amtsenthebungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kommt es aufgrund eines jeweils vom Bundestag und Bundesrat mit einer Zweidrittelmehrheit gefassten Beschlusses (vgl. Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG).150 b) Fall der Beendigung durch einen Rücktritt Tritt der Bundespräsident von seinem Amt zurück, so ist ebenfalls die Bundesversammlung zur Wahl eines Nachfolgers vorzeitig einzuberufen. Die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ haben einen Rücktritt im Grundgesetz bewusst nicht geregelt.151 aa) Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Rücktritts Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines jederzeitigen freiwilligen152 Rücktritts mit der Rechtsfolge der Beendigung der Amtszeit ist bei einem Wahlamt auf Zeit in einem demokratischen Rechtsstaat stets gegeben. In § 51 BVerfGG wird klargestellt, dass ein Rücktritt das Verfahren nach Art. 61 GG unberührt lässt.153 Damit wird die Möglichkeit eines Rücktritts einfachgesetzlich vorausgesetzt.154 Dies spiegelt den gesetzgeberischen Willen wider. schaffen, die durch die genaue Beschreibung in Art. 61 GG und die Einhaltung einer dreimonatigen Frist nach § 50 BVerfGG gegen Missbrauch geschützt ist. 150 Zum engen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der Präsidentenanklage mit der Ministeranklage sowie zur Kritik, dass diese aufgrund der geringen realen Macht des Präsidenten überflüssig sei und dem Ansehen des Amtes schade, vgl. Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 35; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 119 – 122. 151 Eine zwischenzeitlich von den Mitgliedern im Hauptausschuss ausdrücklich formulierte Regelung für einen Rücktritt des Präsidenten fand im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit. Vgl. die 10. Sitzung des Hauptausschusses vom 30. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 10, S. 307 sowie Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 268 m. w. N. 152 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Rücktritt in bestimmten Situationen gibt es nicht – diese lässt sich auch nicht aus dem Amtseid herleiten. Oftmals ist es eine persönliche oder politische Entscheidung des Amtsinhabers. 153 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 59; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 102; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 20; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 88. 154 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 268. Beim Ausscheiden aus dem Amt erhält der Bundespräsident einen Ehrensold ohne Bezug auf die Länge der Amtszeit oder sein Alter. Die Bezüge nach der Amtszeit, das Übergangsgeld, der Ehrensold und das Witwenund Waisengeld werden durch das Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten im Einzelnen geregelt. Die Amtsbezüge selbst ergeben sich unmittelbar aus dem Haushalt und werden jährlich durch das Haushaltsgesetz festgesetzt.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
bb) Die Anforderungen an eine Rücktrittserklärung Die vorzeitige Einberufungspflicht der Bundesversammlung ist jedoch von der Wirksamkeit der Rücktrittserklärung abhängig, sodass der Bundestagspräsident zu prüfen hat, ob und welche formalen Anforderungen an die Erklärung des Bundespräsidenten zu stellen sind. Da ein freiwilliger Rücktritt nicht durch Rechtsvorschriften konkretisiert wurde, obliegt es aber dem Amtsinhaber grundsätzlich selbst, diesen der Würde des Amtes entsprechend zu vollziehen.155 Anders als beim Bundeskanzler oder bei Bundesministern – deren Rücktritt keine Selbstentpflichtung darstellt, sondern auf Wunsch des Betroffenen durch ein anderes Verfassungsorgan, den Bundespräsidenten, erfolgt – bedarf es zur Beendigung des Präsidentenamtes keiner Mitwirkung weiterer Personen oder Gremien. Die Rücktrittserklärung benötigt für ihre Wirksamkeit auch keiner Bestätigung, beispielsweise durch den Bundestagspräsidenten. Da der Bundespräsident auch nach seiner Wahl weder ernannt oder in das Amt eingesetzt wurde, gilt dies auch für den Rücktritt.156 Der Rücktritt ist eine ausschließlich dem Bundespräsidenten zustehende, einseitige Möglichkeit der Amtsbeendigung, ohne dass hierfür Gründe vorgetragen werden müssen.157 Der Rücktritt kann – im Rahmen der Grenzen der Verfassungsorgantreue – auch mit „sofortiger Wirkung“ erfolgen.158 Auch wenn ein Rücktritt des Bundespräsidenten nicht gesetzlich geregelt ist, ergeben sich aus der Verfassungsorgantreue Anforderungen hinsichtlich der Form und des Adressaten für die Gültigkeit eines Rücktritts, die sich unmittelbar auf die Frage der vorzeitigen Einberufungspflicht einer Bundesversammlung durch den Bundestagspräsidenten auswirken. (1) Kein Schriftformerfordernis Aus der Verfassungsorgantreue ergibt sich kein Schriftformerfordernis, dessen Einhaltung der Bundestagspräsident zu prüfen hätte. Die Art und Weise sowie die Form des Rücktritts sind lediglich eine Frage des Stils.159 155
Vgl. auch Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 268; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 20. Siehe jedoch auch Mehlhorn (Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 476 m. w. N.), der darauf verweist, dass in Österreich weiterhin Stimmen erhoben werden, die eine Rücktrittsmöglichkeit verneinen. 156 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 269. 157 A. A. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 281 – 289, der am Beispiel der Rücktritte von Horst Köhler (CDU) und Christian Wulff (CDU) Mindestanforderungen an die Plausibilität des Rücktrittsgrundes erhebt. Auch führt er die Problematik der Vakanzen an, die sich aus den unverzüglich eintretenden Rücktritten ergeben haben, obwohl das Grundgesetz eine Zeit ohne gewählten Bundespräsidenten möglichst vermeiden wollte und den Präsidenten des Bundesrates in Art. 57 GG als seinen Vertreter für solche Fälle vorsieht. 158 Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 20. 159 Horst Köhler (CDU) und Christian Wulff (CDU) informierten jeweils kurz vor der öffentlichen Rücktrittserklärung telefonisch die anderen Verfassungsorgane. Im Anschluss an
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Vielmehr prüft der Bundestagspräsident, ob die Rücktrittserklärung, als eine einseitige Willenserklärung, die Grundsätze der Eindeutigkeit und Endgültigkeit erfüllt.160 Es genügt eine eindeutig formulierte mündliche Rücktrittserklärung, die einen anschließenden Rücktritt vom Rücktritt ausschließt.161 Aus Gründen der Klarheit ist jedoch die Schriftform wünschenswert, um Missverständnisse hinsichtlich eines nur angedrohten statt eines tatsächlichen Rücktritts auszuschließen und Unklarheiten über Inhalt und Tragweite einer mündlichen Erklärung im Affekt vorzubeugen.162 Gesetzlich vorgeschrieben ist sie jedoch nicht. Der Bundestagspräsident hat auch Handlungen des Bundespräsidenten als Rücktrittserklärung auszulegen, die automatisch eine Beendigung der Amtszeit bewirken, etwa der Verzicht auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Annahme eines gegen die Inkompatibilitätsvorschriften des Art. 55 Abs. 1 GG verstoßenden Amtes stellt jedoch keine konkludente Verzichtserklärung dar.163 (2) Der Adressat der Rücktrittserklärung Aus dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue ergibt sich eine Pflicht des Bundespräsidenten, über den Rücktritt zu informieren und – da es sich bei der Rücktrittserklärung um eine erklärungs- und empfangsbedürftige Willenserklärung handelt164 – dass die Erklärung den richtigen Adressaten erreicht.165 Nur dann besteht die Einberufungspflicht der Bundesversammlung. Mangels Regelung zum Rücktritt enthält das Grundgesetz auch keine Vorgabe, wem gegenüber der Bundespräsident seinen Rücktritt erklären muss.166 Der richtige Adressat einer als gültig zu wertenden Rücktrittserklärung hat sich ebenfalls an der Verfassungsorgantreue zu messen. Die Bundesversammlung als Adressat einer Rücktrittserklärung, dem actuscontrarius-Gedanken folgend, konstituiert sich nur zur Durchführung der Wahl des die mündliche Rücktrittserklärung wurde eine schriftliche nachgeschoben. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86. 160 Vgl. Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4. 161 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 273; Schaefer, Die Vakanz an der Spitze des Bundes: Zur verfassungsrechtlichen Schwebelage nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten, DÖV 2012, 417, 420. 162 So: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 273. 163 Wie hier auch Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 44. 164 Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 273; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 44. 165 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 275. A. A. Butzer, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86 sowie Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 102, die beide Informationspflichten aus der Verfassungsorgantreue verneinen und eine solche lediglich als eine Stil- und Respektfrage gegenüber den anderen Verfassungsorganen einordnen. 166 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86 m. w. N.; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 59.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Bundespräsidenten und steht daher nur in diesem engen Zeitraum als Erklärungsempfänger zur Verfügung.167 Weiter in Betracht kommen die höchsten staatlichen Organe sowie deren Vorsitzende. Die Bundesregierung scheidet als Adressatin aus, da der Rücktritt keine gegenzeichnungsbedürftige Anordnung oder Verfügung des Bundespräsidenten darstellt und die Bundesregierung auch nicht am Wahlakt beteiligt war.168 Gleiches gilt für den Bundesrat, der gemäß Art. 56 GG nur bei der Vereidigung des Bundespräsidenten beteiligt ist und gemäß Art. 50 GG lediglich eine Vertretung auf Länderebene darstellt. Der Bundesratspräsident, der im Vertretungsfalle gemäß Art. 57 GG die Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten wahrnimmt, ist nicht allein deswegen als richtiger Adressat anzusehen. Aufgrund seiner Position als Sitzungs- und Geschäftsleiter der Bundesversammlung und zugleich als höchster Vertreter des das Volk repräsentierenden Bundestages erscheint der Bundestagspräsident als geeigneter und notwendiger Empfänger einer Rücktrittserklärung.169 Er ist auch derjenige, der aufgrund des Rücktritts eine neue Bundesversammlung einzuberufen hat, die Wahl des neuen Bundespräsidenten leitet, das Wahlergebnis bekannt gibt und den Amtseid abnimmt.170 Sicherlich ist es auch erforderlich, dass der Bundespräsident umgehend die Öffentlichkeit informiert, die jedoch grundsätzlich nicht im juristischen Sinne Empfänger einer Rücktrittserklärung sein kann.171 Vereinzelt wird angenommen, dass eine amtliche Veröffentlichung erfolgen müsse, auch ohne dass dies gesetzlich vorgeschrieben ist.172 Eine allein gegenüber Medienvertretern abgegebene Rücktrittserklärung als Information der Öffentlichkeit ist nicht ausreichend, da das Volk 167 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 44. 168 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 274. 169 So auch: Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, vor Art. 54, Rn. 4; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 38; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 277; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 102. 170 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 277; Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 59; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 102. 171 Eine öffentliche Aussage – selbst als amtliche Erklärung – bleibt aus den angeführten Gründen defizitär und kann lediglich als Ankündigung oder als eine nachträgliche Erklärung eines Rücktritts gewertet werden. Gleichwohl kann und muss – trotz bestehenden Rechtsmangels, aus Gründen der Funktionsfähigkeit des Staates – auch ein faktischer Rücktritt durch eine Erklärung nur gegenüber der Öffentlichkeit akzeptiert werden, sofern dies mit einer Verweigerung der Weiterführung der Amtsgeschäfte einhergeht. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 273; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 103; Schaefer, Die Vakanz an der Spitze des Bundes: Zur verfassungsrechtlichen Schwebelage nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten, DÖV 2012, 417, 420. 172 So auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 44.
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nicht durch die Medien repräsentiert und vertreten wird.173 Die breite Öffentlichkeit wird durch die Medien lediglich informiert. Aufgrund der Bedeutung und des Gewichts eines solchen Rücktritts und aus Respekt gegenüber den anderen Verfassungsorganen ist es angezeigt und nicht nur eine Frage des Stils, nach dem Bundestagspräsidenten auch den Bundesratspräsidenten als seine Vertretung (Art. 57 GG) sowie den Bundeskanzler und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vor der Mitteilung an die Öffentlichkeit zu informieren.174 Im Anschluss an die Rücktrittserklärung obliegt dem Bundestagspräsidenten die Pflicht, das Wahlverfahren zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten innerhalb der vorgegebenen Fristen durchzuführen. c) Die zeitlich befristete Verhinderung Abzugrenzen von der Amtsbeendigung sind die Fälle der zeitlich befristeten Verhinderung, die nicht zu einer Einberufung einer Bundesversammlung führt. Eine solche liegt vor, wenn der Bundespräsident aus natürlichen oder juristischen Gründen zeitlich befristet nicht in der Lage ist, sein Amt vollumfänglich auszuüben.175 Dazu gehören beispielsweise eine Erkrankung oder, nach vereinzelt vertretener Auffassung, ein längerer Auslandsaufenthalt176 sowie – in begrenzten Fällen – eine Befangenheit177, eine Suspendierung im Rahmen eines Anklageverfahrens nach Art. 61 GG oder eine Entführung.178 173
So ebenfalls: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 276. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 20; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 86; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 40; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 102. 175 Eine absolute Unfähigkeit zur Wahrnehmung aller Amtsgeschäfte ist nicht zu verlangen. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 132, 135 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 6, S. 209 m. w. N. zur Problematik der Feststellung des Vertretungsfalles. 176 Die Auffassung, einen Staatsbesuch im Ausland als Verhinderung einzuordnen, ist abzulehnen, weil der Bundespräsident sich gerade im Dienst befindet und dort amtliche Funktionen ausübt – ebenso der Einwand, dass der Bundespräsident im Ausland nicht in der Lage sei, Bundesgesetze nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG auszufertigen, weil die Gesetze in seinem Amtssitz in Deutschland bereitlägen. Zum einen kann der Bundespräsident die Weisung erteilen, dass er die Prüfung und Ausfertigung nach seiner Rückkehr vornimmt, ferner ist es nicht unüblich, wichtige Unterlagen mit auf Dienstreisen zu nehmen. Darüber hinaus kann der Bundespräsident aufgrund der technischen Möglichkeiten auch bei längeren Auslandsaufenthalten Aufgaben erledigen und Regelungen für sich überschneidende Termine treffen. 177 Hierbei handelt es sich um eine juristische Verhinderung, die jedoch nur in engen Grenzen anerkannt werden kann, da es dem Bundespräsidenten zuzutrauen ist, dem Amt entsprechend angemessen (bspw. auch bei Ordensverleihungen gegenüber Familienangehörigen) zu agieren. Hierbei ist die Einschätzung und die Feststellung der Befangenheit dem Bundespräsidenten selbst zu überlassen, wobei er sich an § 18 und marginal an § 19 BVerfGG orientieren kann. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und 174
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In all diesen Fällen liegt kein dem Rücktritt vergleichbarer Fall vor, sodass der Bundestagspräsident keine Bundesversammlung mit dem Ziel einer Neuwahl einberufen darf. d) Exkurs: Die interimistische Befugniswahrnehmung durch den Bundesratspräsidenten Für den Fall einer Verhinderung beziehungsweise bei einer Vakanz hat das Grundgesetz in Art. 57 GG normiert, dass bis zu einer Neuwahl des Bundespräsidenten der Bundesratspräsident die Befugnisse wahrnimmt.179 Dieser führt alle Geschäfte des Bundespräsidenten180 selbstständig durch und unterliegt allen dem Amt zukommenden Pflichten, ohne jedoch selbst in das Amt einzutreten. Seine Vertretungsgeschäfte werden dem Amt zugerechnet. Der Vertretungsfall beginnt mit dem Eintritt der Verhinderung oder der vorzeitigen Beendigung des Amtes. Die Vertretung ist vom Gesetzgeber zeitlich nicht begrenzt und kann theoretisch bis zum Ende der fünfjährigen Wahlperiode, bis zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten andauern. Bei einer längerfristigen Verhinderung des Bundespräsidenten ohne Aussicht auf eine Wiederaufnahme seines Dienstes sollte eine vorzeitige Einberufung der Bundesversammlung mit der Neuwahl des Bundespräsidenten erwogen werden.181 Dies setzt einen Rücktritt des
der Republik Österreich, 2010, S. 133; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 57, Rn. 7; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 6, S. 209. 178 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 633 f.; Herzog, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Art. 57 (Stand: Januar 2009), Rn. 14; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 132. 179 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 634; Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 35. Eine geschäftsführende Amtsführung durch den Bundespräsidenten selbst, wie sie in Art. 69 Abs. 3 GG für die Mitglieder der Bundesregierung vorgesehen ist, ist hingegen nicht zulässig. Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 59. Zur Kritik an der Befugniswahrnehmung durch den Bundesratspräsidenten siehe die Stellungnahme von Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 131 f. 180 Der Bundespräsident hat ein verfassungsrechtliches Amt inne, ist aber weder juristische Person des öffentlichen Rechts noch Behörde noch Beamter noch steht er in einem öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 1; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, vor Art. 54, Rn. 4; Fink, in: Huber/ Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 39; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 12; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 13; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 130; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54 ff., Rn. 10, die den Bundespräsidenten in ein besonderes öffentlich-rechtliches Amtsverhältnis einordnen, sowie Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 16 mit einer Darstellung der Unterschiede. 181 Eingehend Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 137 – 139 m. w. N.
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Amtsinhabers voraus. Die Vertretung endet, wenn der Bundespräsident seinen Dienst wieder antritt oder ein neuer Bundespräsident gewählt ist. Die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ haben sich hinsichtlich der Vertretungsregelung des Bundespräsidenten im Grundgesetz bewusst von der Weimarer Reichsverfassung abgegrenzt. In der Weimarer Republik erfolgte die Vertretung gewöhnlich durch den Reichskanzler. Bei einer längeren Verhinderung des Reichspräsidenten bestimmte Art. 51 WRV i. V. m. dem Reichsgesetz vom 10. März 1925, dass der Präsident des Reichsgerichts die Befugnisse des Reichspräsidenten übernahm.182 Bei der Entstehung des Grundgesetzes war der föderale Bezug des Bundesratspräsidenten und die Stärkung der Länder ein entscheidendes Kriterium für die geänderte Vertretungsregelung.183
II. Die Bestimmung von Ort, Zeitpunkt und Dauer der öffentlich tagenden Bundesversammlung Zur Aufgabe des Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter gehört nach Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG, § 1 BPräsWahlG die Festlegung von Ort und Zeit der öffentlich tagenden Versammlung im Rahmen der Vorgaben der Verfassung.184 Traditionell trifft der Bundestagspräsident die Entscheidung nach vorausgegangener Verständi182 Nach dem Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) am 28. Februar 1925 wurde dieser zunächst vom parteilosen Reichskanzler Hans Luther vertreten. Nach Inkrafttreten des nach Art. 51 Abs. 1 S. 2 WRV vorgesehenen Gesetzes am 10. März 1925 (RGBl. I, S. 17) trat der Präsident des Reichsgerichts, Walter Simons, an dessen Stelle. Das Gesetz über die Änderung der Reichsverfassung vom 17. Dezember 1932 (RGBl. I, S. 547) verfestigte diese Regelung, sodass auch weiterhin der Reichspräsident im Falle der Verhinderung oder einer vorzeitigen Beendigung der Präsidentschaft bis zur Durchführung einer neuen Wahl durch den Präsidenten des Reichsgerichts vertreten wurde. Der Mehrheitsbeschluss bei den Verfassungsberatungen im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee sah ähnlich wie die Weimarer Verfassung zunächst eine Befugniswahrnehmung durch den Präsidenten des Verfassungsgerichts vor, während eine Minderheit eine Vertretung durch den Bundesratspräsidenten vorschlug (Art. 79 Abs. 1 HChE). Diesbezüglich erkannte bereits der Verfassungskonvent, dass eine Vertretung durch den Präsidenten des Verfassungsgerichts zu Schwierigkeiten führen könnte, wenn es zur Anklage des Präsidenten i. S. v. Art. 85 HChE kommen sollte. Hier würde dann der oberste Verfassungsrichter an der Ausübung seines Richteramtes aufgrund von möglichen Interessenkollisionen gehindert sein, weil er an einem Urteilsspruch mitwirken müsste, durch den er selbst zum Vertreter des Angeklagten werden würde. Vgl. Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz, Bericht über den Verfassungskonvent, 1948, S. 42; Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 2, 1996, Nr. 14, S. 549 sowie Nr. 10, S. 318 und Nr. 12, S. 380 – 382. 183 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 218 m. w. N. 184 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 26; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 6; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, S. 1602 f.; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 13; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184.
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gung mit dem Präsidium, dem Ältestenrat185 sowie mit den Fraktionen bereits sehr frühzeitig, um eine ausreichende Vorbereitungszeit zu ermöglichen.186 Der Bundestagspräsident ist dabei an etwaige Beschlüsse des Parlamentes nicht gebunden.187 Die Bekanntgabe von Ort und Zeit erfolgt durch den Bundestagspräsidenten im Bundesgesetzblatt. 1. Die Festlegung des Ortes der Bundesversammlung Aus der Verfassung sowie dem Bundespräsidentenwahlgesetz ergibt sich kein fester Ort für das Abhalten der Bundesversammlung, sofern er im Inland gelegen ist.188 Der Bundestagspräsident hat sich bei seiner Ermessensentscheidung nach § 1 BPräsWahlG lediglich daran zu orientieren, dass ein ordnungsgemäßer Ablauf der Versammlung gewährleistet ist.189 185 Der Ältestenrat des Bundestages besteht gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 12 S. 1 GO-BT aus dem Präsidenten, seinen Stellvertretern und 23 weiteren von den Fraktionen zu benennenden Mitgliedern. Seine Aufgabe ist es, nach § 6 Abs. 3 GO-BT über die inneren Angelegenheiten des Bundestages zu beschließen und den Präsidenten bei der Führung der Geschäfte – etwa bei der Festlegung der Termine und der Tagesordnungen der Bundestagssitzungen, § 20 Abs. 1 GO-BT – zu unterstützen, § 6 Abs. 2 S. 1 GO-BT. Über den Ältestenrat nehmen die Fraktionen Einfluss auf die Amtsführung des Präsidenten und auf die inneren Angelegenheiten des Bundestages, insbesondere auf den Arbeitsplan des Bundestages, auf die Gestaltung und Dauer einer Aussprache und als Beratungsorgan in Geschäftsordnungsfragen. Der Ältestenrat hat deshalb in der Führungsstruktur des Bundestages eine herausragende Stellung und ist das „eigentliche politische Organisations- und Leitungsgremium der gesamten Parlamentsarbeit“. Vgl. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 162; Roll, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 28, Rn. 1 – 57, S. 809 – 828 sowie Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 157 f. m. w. N. 186 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 66; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 232; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 14, S. 1603. Parallelen finden sich bei der Einberufung des Bundestages zu seiner ersten Sitzung, gemäß § 1 Abs. 1 GO-BT durch den bisherigen Bundestagspräsidenten. Vgl. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 140. 187 Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 6; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 232; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 74. 188 Dies gebietet sich aus völker- und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 26; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 101; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 66; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 232; Herzog, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 38; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 31; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 17, S. 1605. Siehe auch Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, 1997, S. 224 f., der darauf verweist, dass sich auch aus der Festlegung Berlins als Hauptstadt in Art. 2 Abs. 1 S. 1 des Einigungsvertrages keine Notwendigkeit für die Auswahl der Hauptstadt ergebe. 189 Vgl. Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 38.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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Traditionell haben die Bundestagspräsidenten den Ort des Sitzes der Bundesregierung, Bonn beziehungsweise Berlin, als den Versammlungsort gewählt.190 Entsprechend dieser Prärogative war das Bundeshaus in Bonn Tagungsort der ersten Bundesversammlung 1949,191 im Zeitraum zwischen 1954 und 1969 die Ostpreußenhalle Berlins.192 Aufgrund von Protesten der Regierung der Sowjetunion193 und späterer „brieflicher Klarstellung“ der drei Westmächte an den Bundeskanzler im Jahr 1971 fanden die Bundesversammlungen zwischen 1974 und 1989 im großen Saal der Beethovenhalle in Bonn statt, der damaligen provisorischen194 Bundeshauptstadt.195 Seit 1994 – im Zuge der Wiedervereinigung 1990 und nach der 25190 Anders als die wechselnden Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober trägt die Ortswahl der Bundesversammlung föderalen Gesichtspunkten keine Rechnung. Entsprechende Überlegungen wurden nie realisiert. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 66; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 233. 191 Diese wurde nicht vom Bundestagspräsidenten, sondern von den Ministerpräsidenten der Länder einberufen. Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 38; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 17, S. 1605; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 192 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. Dieser Wahlort wurde von der FDP am 28. April 1954 beantragt und stieß in der folgenden Bundesversammlung 1959 auf starke Bedenken der CDU/CSU-Fraktion, da sie befürchtete, dass die Abhaltung in Berlin als außenpolitisch „provokatorischer Akt“ gewertet werden könnte. Vgl. hierzu Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 102. 193 Die Sowjetunion protestierte gegen Berlin als Tagungsort der Bundesversammlung 1959 sowie 1964 und 1969. 1969 ließen sie sogar Düsenjäger im Tiefflug über die Messehalle heulen. Zudem gab es Verkehrsbehinderungen, scharfe Kontrollen auf den Autobahnen und weitere Protestnoten. Ebenso sah die DDR in der Abhaltung der Bundespräsidentenwahl in Berlin eine Provokation und richtete zahlreiche Protestnoten nach Bonn und West-Berlin und verhängte bereits ab dem 8. Februar 1969 ein Durchreiseverbot für alle Mitglieder der Bundesversammlung am 5. März 1969. Ferner kam es ab Anfang März 1969 zu erheblichen Verkehrsbehinderungen auf den Autobahnen durch fast tägliche Sperrungen für mehrere Stunden. Dennoch konnte die Bundesversammlung wie geplant stattfinden. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 103 – 106; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 233; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 36. 194 Bonn war von 1949 bis 1990 provisorische Bundeshauptstadt und bis zum Umzug der Regierung 1999 nach Berlin Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundespräsident sowie die Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung hatten dort ihren Sitz. Bonn ist noch heute zweiter Regierungssitz Deutschlands. Zur damaligen Bestimmung der Bundeshauptstadt und der Konkurrenz zwischen Bonn und Frankfurt, siehe u. a.: Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, S. 348. 195 Auslöser für den Wechsel von Berlin nach Bonn als Wahlort der Bundesversammlung war die endgültige Regelung und die Beendigung des Streites durch das Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971, das zwischen Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien und den USA geschlossen wurde und in der Anlage II festlegte, dass keine Sitzungen, Verfassungs- und Amtsakte der Bundesversammlung und auch keine Plenarsitzungen des Bundestages oder des Bundesrates in Berlin stattfinden durften. Somit schied Berlin als Wahlort bis zur Aufhebung der Beschränkungen im Vorfeld der Wiedervereinigung am 11. Juni 1990 aus. Die damalige Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) entschied sich daraufhin
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
jährigen Zwangspause durch das Viermächteabkommen – hat die Bundesversammlung ihren Platz wieder in Berlin im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes gefunden.196 Im Jahr 2022 fand die Bundesversammlung aufgrund der hohen Anzahl an Bundesversammlungsmitgliedern und zur Einhaltung von Abstandsregelungen im Zuge der COVID-19-Pandemie abweichend im Parlamentsgebäude Paul-Löbe-Haus im Berliner Regierungsviertel statt.197 Aufgrund der sich inzwischen verfestigten Übung in den letzten 25 Jahren kann man nunmehr von Berlin als traditionellem Tagungsort sprechen. Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 1 BPräsWahlG ermöglicht grundsätzlich auch die Wahl eines anderen Ortes. 2. Die Festlegung des Datums der Bundesversammlung Seit der 7. Bundesversammlung 1979 bis zur vorzeitigen Beendigung der Amtszeit durch den Rücktritt von Horst Köhler (CDU) am 31. Mai 2010 hatten sich die damaligen Bundestagspräsidenten als Wahltermin jeweils für den „Verfassungstag“, den 23. Mai, entschieden, verbunden mit einem Amtsantritt des Neugewählten zum 1. Juli.198
für Bonn als Tagungsort der 6. Bundesversammlung im Jahr 1974, auch wenn andere Orte damals und auch in späteren Jahren diskutiert wurden und verfassungsrechtlich möglich gewesen wären. So bewarb sich vor der 8. Bundesversammlung 1984 die Stadt Frankfurt erfolglos als Austragungsort. Gleichzeitig wies Renger auf die fortbestehende Verbundenheit mit Berlin hin: „Die Berliner und ihre Stadt, unser Berlin, werden uns an unsere Aufgabe erinnern, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Dieser von den Alliierten angeordnete Verzicht, in der ehemaligen Reichshauptstadt die Wahl des Bundespräsidenten zu vollziehen, sollte nicht als Preisgabe des in der Präambel des Grundgesetzes enthaltenen nationalen Gebotes der Wiedervereinigung verstanden werden. Vgl. Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 11; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 17, S. 1605; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 36; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 106. 196 Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36; Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, 1997, S. 225. 197 Die Gesamtzahl der Mitglieder der 17. Bundesversammlung am 13. Februar 2022 betrug 1.472 Delegierte. 198 Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 62; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 220; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 30; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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a) Die verfassungsrechtliche Fristvorgabe Nach der Vorgabe des Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG ist der Bundestagspräsident hinsichtlich des Wahldatums nur „rückwärts“ gebunden.199 Die Bundesversammlung muss im Normalfall – also bei Auslaufen der fünfjährigen Wahlperiode – spätestens 30 Tage vor Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten zusammentreten. Die Nominierung eines frühestmöglichen Zeitpunktes findet sich weder im Grundgesetz noch einfachgesetzlich im Bundespräsidentenwahlgesetz, sodass die Festlegung des Wahldatums grundsätzlich im Ermessen des Bundestagspräsidenten steht.200 Die Festlegung eines Endpunktes für das Zusammentreten der Bundesversammlung bedeutet jedoch keinen unbeschränkten Ermessensspielraum im Hinblick auf eine frühe Einberufung.201 Ermessensleitend hat der Bundestagspräsident zu berücksichtigen, dass die Autorität des Amtsträgers leidet beziehungsweise es einer politischen Abwahl ähnelt, wenn bereits sehr frühzeitig ein Nachfolger feststeht („Lame Duck“).202 Eine ermessensfehlerhafte Entscheidung durch eine zu frühe Terminfestlegung ist dann anzunehmen, wenn durch eine vorzeitige Wahl eines neuen Bundespräsidenten die Autorität des Amtsinhabers bewusst untergraben oder die Auswirkungen anstehender Landtagswahlen auf die Zusammensetzung der Bundesversammlung absichtlich umgangen werden sollen.203 Auch im Falle einer
199
Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 2. 200 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 89; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 95; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 15, S. 1604. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 31. Bedingt durch einen fehlenden eigenen Tagungsraum bis 1994 musste der Bundestagspräsident sich früh festlegen, um eine rechtzeitige Reservierung der Tagungsstätte vorzunehmen. Durch die Benutzung des Plenarsaales im Reichstagsgebäude als Tagungsort ist dieser Grund seit 1994 entfallen. Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 13, S. 1603. 201 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 202 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 26; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 65; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 231; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 2; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 72. 203 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 51; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36, der dies jedoch nur bejaht, sofern im fraglichen Bundesland erdrutschartige Veränderungen zu erwarten und die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung knapp seien, anderenfalls könne man „nur von einer Taktlosigkeit sprechen“. Vgl. auch Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 78, der lediglich evidente Missbrauchsgrenzen ausreichen lassen möchte. In allen anderen Fällen stünden allenfalls „verfassungspolitische Klugheitserwägungen“ einer frühzeitigen Terminierung entgegen.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
angestrebten Wiederwahl verbietet jedenfalls der „politische Takt“ gegenüber dem sich im Amt befindenden Präsidenten, einen Termin zu frühzeitig festzulegen.204 Im Falle einer unvorhersehbaren vorzeitigen Amtsbeendigung – unabhängig ob Rücktritt, Tod, Aberkennung des Amtes nach Art. 61 Abs. 2 S. 1 GG oder Wegfall der Wählbarkeit – gilt ebenfalls die Einberufungsfrist der Bundesversammlung von spätestens 30 Tagen nach dem Beendigungszeitpunkt.205 Diese Frist soll eine längere Vakanz und damit Vertretungszeit durch den Bundesratspräsidenten vermeiden.206 Naturgemäß kann sich in diesem Fall nicht das Problem einer zu frühen Einberufung der Bundesversammlung ergeben.207 Ist der Eintritt des Rücktritts als feststehender Termin bekannt – zum Beispiel in der Form, dass der Bundespräsident seinen Rücktritt zu einem festen in der Zukunft liegenden Datum erklärt hat –, wäre eine Einberufung auch schon vor Eintritt dieses Ereignisses möglich, da es sich bei der 30-Tages-Frist um eine Festlegung des letztmöglichen Wahltages handelt.208 Der Vorteil einer solchen Situation gegenüber einem Rücktritt mit sofortiger Wirkung liegt darin, dass die Bundesversammlung mit weniger Zeitdruck vorbereitet und auch der Auswahl neuer Kandidaten ein größerer zeitlicher Rahmen eingeräumt werden kann.209 Nicht zulässig wäre es, auch im Falle einer Erkrankung des 204
Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36. Es stehen also bei einer unvorhersehbaren vorzeitigen Beendigung der Amtszeit des Bundespräsidenten höchstens 29 Tage für die gesamte Vorbereitung bis zur Durchführung der Wahl zur Verfügung, für die normalerweise mehr Zeit eingeplant wird. Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59 Rn. 21, S. 1606 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 206 Erstmals musste die Bundesversammlung im Jahre 2010 innerhalb der 30-Tage-Frist nach dem Rücktritt von Horst Köhler (CDU) einberufen werden, ebenso im Jahre 2012 nach dem Rücktritt von Christian Wulff (CDU). Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 25. 207 2010 und 2012 wurden die 30 Tage nahezu ausgeschöpft, was mit den zuvor noch zu erfolgenden Wahlen der Mitglieder für die Bundesversammlung durch die Länder erklärbar ist. Da Heinrich Lübke seinen Rücktritt am 14. Oktober 1968 zum 30. Juni 1969 ankündigte, war ausreichend Vorbereitungszeit gegeben. Vgl. Kellerhoff, Als Lübke den Köhler machte, Welt, 31. 5. 2010, https://www.welt.de/politik/deutschland/article7862004/Als-Luebke-den-Ko ehler-machte.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 208 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 52; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36. 209 In der Vergangenheit begannen die Vorbereitungen für eine reguläre Bundesversammlung bereits etwa ein Jahr vor dem Amtszeitende. Im Falle eines Rücktritts mit sofortiger Wirkung muss die Bundesversammlung daher durch die 30-Tages-Frist unter höchstem Zeitdruck organisiert werden, eine nicht rechtzeitig erfolgte Einberufung kann durch ein Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG gerügt werden. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 62; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 25.1. 205
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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Amtsinhabers ohne Hoffnung auf Genesung, bereits eine Bundesversammlung einzuberufen und einen neuen Bundespräsidenten zu wählen, solange dieser nicht offiziell von seinem Amt zurückgetreten ist.210 b) Die Terminierung bei anstehenden Landtags- und Bundestagswahlen Die Frage eines Ermessensfehlgebrauchs wurde in der Vergangenheit dann diskutiert, wenn zwar eine den gesetzlichen Vorgaben konforme Terminierung erfolgte, jedoch bei einer anderen, ebenfalls gesetzlich möglichen Terminierung noch ein neu gewählter Landtag zum Zuge kommen könnte.211 Vielfach wird vorgetragen, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht die Zusammensetzung der Bundesversammlung dann am ehesten dem Willen des Volkes entspreche und der gewählte Bundespräsident zudem am stärksten legitimiert sei, wenn die Wahlen kurz vor seinem Amtsantritt stattfinden.212 Dem ist entgegenzuhalten, dass die demokratische Legitimation – wie dargestellt – zu jedem Zeitpunkt einer Wahlperiode gleich groß ist, da die Volksvertretungen für eine gesamte Wahlperiode gewählt werden.213 Parallel dazu unterscheidet sich die demokratische Legitimation eines Gesetzes auch nicht dadurch, ob es zu Beginn oder erst zum Ende einer Wahlperiode verabschiedet wird.214 Gleiches muss für die Wahl des Bundespräsidenten gelten, unabhängig vom Zeitpunkt seiner Wahl und seines Amtsantrittes. 210 Siehe auch Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 95, der betont, dass selbst eine Rücktrittsankündigung durch den Amtsinhaber keine bindende politische Absichtserklärung sei, zu einem bestimmten Termin sein Amt auch tatsächlich niederlegen zu müssen, sodass für eine Einberufung der Bundesversammlung zunächst das Wirksamwerden der Rücktrittserklärung abgewartet werden müsse. Vgl. jedoch Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36, der im Falle eines todkranken Präsidenten, den die Ärzte bereits aufgegeben haben, ein vorzeitiges Zusammentreten der Bundesversammlung nur als „grobe Taktlosigkeit“, aber nicht als verfassungswidrige Handlung einordnet. Ebenfalls sei im Falle eines bedingungslos erklärten Rücktritts zu einem bestimmten Termin das Zusammentreten der Bundesversammlung vor diesem Termin nicht verfassungswidrig, gegebenenfalls sogar wünschenswert und angezeigt. 211 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 15, S. 1604. Wiederholt lagen in der Zeitspanne zwischen der Bekanntmachung der Zahl der zu wählenden Ländervertreter durch die Bundesregierung und dem Zusammentreten der Bundesversammlungen Landtagswahlen. So erfolgte am 22. April 1964 die Bekanntmachung der Zahl der Ländervertreter mit der Terminierung der Bundesversammlung für den 1. Juli 1964. Am 26. April 1964 wählte Baden-Württemberg einen neuen Landtag, der am 10. Juni seine Landesvertreter wählte. Ähnlich lief es auch bei der 6. Bundesversammlung 1974 ab, bei der die Bekanntmachung am 11. Februar mit einer Terminierung für den 15. Mai 1974 erfolgte und die Hamburger Bürgerschaft am 3. März 1974 gewählt wurde. Die neu gewählte Bürgerschaft wählte ihre Mitglieder für die Bundesversammlung am 17. April. 212 Vgl. Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 50; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 77. 213 Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 72 m. w. N. 214 Hierauf ebenfalls verweisend: Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 77. A. A. v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Ferner ergibt sich aus der Verfassung keine Verpflichtung zu einer letztmöglichen Terminierung. Denn für die Gewährleistung einer paritätischen Besetzung in der Bundesversammlung ordnet § 2 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG an, dass nach der Bekanntgabe der Zahl der jeweils zu wählenden Landesvertreter die derzeitigen Landtage ihre Wahl „unverzüglich“ vorzunehmen haben.215 Lediglich der neue Landtag wählt die Landesvertreter, wenn am Tag der Bekanntmachung i. S. v. § 2 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG kein Landtag mehr besteht oder der alte Landtag vor Ablauf seiner Wahlperiode die Wahl nicht mehr vornehmen konnte. Selbst eine Nichtbesetzung von Landessitzen durch eine fehlende rechtzeitige Wahl i. S. v. § 2 Abs. 2 S. 4 BPräsWahlG ist nach dem Bundespräsidentenwahlgesetz möglich. Diese Regelung ist aber – wie dargestellt – unvereinbar mit Art. 54 Abs. 3 GG und allein schon aus Gründen der demokratischen Legitimation für das betroffene Bundesland unbedingt zu vermeiden.216 Im Ergebnis besteht daher zwar grundsätzlich keine Pflicht zur letztmöglichen Terminierung, da die Landtage ohnehin unverzüglich ihre Vertreter wählen. Jedoch ist der Ermessensspielraum des Bundestagspräsidenten dann beschränkt, wenn die Gewährleistung der paritätischen Besetzung durch einen frühen Einberufungstermin gefährdet ist. Einzelne Landtagswahlen oder die Bundestagswahl können zu einem veränderten Ergebnis führen, wenn es zu „erdrutschartigen“ Veränderungen des politischen Meinungsbildes kommt oder bei bevölkerungsreichen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Bayern veränderte Mehrheiten gewählt werden und gleichzeitig in der Bundesversammlung knappe Mehrheiten herrschen.217 In solchen Fällen kann eine ermessenleitende Entscheidung für eine Terminfestlegung dergestalt zu sehen sein, dass anstehende Wahlen im Bund oder im Land nicht übergangen werden des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 3, der als Beispiel die Legitimität der 130 FDPVertreter der Bundesversammlung 2012 als „höchst zweifelhaft“ bezeichnete, da sie nach den damaligen Umfragen unter fünf Prozent gerutscht waren. 215 Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 15, S. 1604. 216 Im Falle einer bevorstehenden Landtagswahl im Vorfeld einer Bundesversammlung muss der vorherige Landtag die Wahl der Mitglieder der Bundesversammlung durchführen, sofern nicht sichergestellt werden kann, dass der neu gewählte Landtag die Wahl nach seiner Konstituierung noch rechtzeitig durchführen kann. Bei der kurzfristig einzuberufenden Bundesversammlung am 18. März 2012, nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, waren im Saarland sowie in Nordrhein-Westfalen die Wahlen der Landesvertreter durch den neuen Landtag nicht möglich. So wählte im Saarland der bereits aufgelöste Landtag (vgl. Art. 67 Abs. 1 S. 2 SaarlVerf) und in Nordrhein-Westfalen der alte Landtag noch vor seiner Auflösung (Wahl der Vertreter am 28. Februar, Auflösung des Landtages am 14. März und Neuwahl des Landtages am 13. Mai 2012). Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 58. 217 Relevanz kann dies insbesondere in den bevölkerungsreicheren Ländern NordrheinWestfalen, Bayern, Baden-Württemberg oder Niedersachsen haben. Vgl. Butzer, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 65; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 9; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 10, 14, 16, S. 1603 f.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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sollten, da sie die Zusammensetzung der Bundesversammlung und damit auch die anstehende Wahlentscheidung beeinflussen können.218 Unabhängig von der Frage einer möglichen verfassungsrechtlichen Verpflichtung sollte es dem Bundestagspräsidenten ein Anliegen sein, zeitnahe Wahlen zu berücksichtigen,219 zumal aus Art. 54 Abs. 5 GG – der wegen der Abschaffung einer bundestagslosen Zeit obsolet geworden ist220 – der Wille des Gesetzgebers deutlich wird, die am zeitnächsten legitimierten Volksvertretungen an der Bundesversammlung mitwirken zu lassen.221 Bei einer unmittelbar bevorstehenden Konstituierung des Bundestages oder der eines Landtages eines bevölkerungsreichen Bundeslandes ist der Bundestagspräsident ermessensreduzierend verpflichtet, dies bei der Terminfestlegung zu berücksichtigen,222 sofern das Datum im Rahmen des verfassungsrechtlich festgelegten Endzeitpunktes liegt.
218 Nicht nur in solchen Fällen, sondern jeweils hierfür eintretend: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 219 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 65; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 31; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98. 220 Durch das nahtlose Ineinandergreifen der Wahlperioden auf Grund der Änderung des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG im Jahr 1976 (BGBl. 1976, I, S. 2381 ff.) ist der klärende Art. 54 Abs. 5 GG obsolet geworden. Die frühere Regelung war erforderlich, solange es zwischen dem Ende der Legislaturperiode und dem Beginn der Amtszeit des neugewählten Bundestages eine parlamentslose Zeit geben konnte. Während nach der jetzigen Regelung des Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG die Wahlperiode des Bundestages erst mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages zu Ende ist und die Frist des Art. 54 Abs. 4 GG zur Einberufung einer Bundesversammlung gem. Art. 54 Abs. 5 GG erst mit dem ersten Zusammentritt des neuen Bundestages zu laufen beginnt, endete nach der früheren Regelung die Wahlperiode vier Jahre nach der konstituierenden Sitzung oder mit der Auflösung des Bundestages nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG bzw. Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 65, 67 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 234; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 53; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 30; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 15; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 26; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 79 – 81. Vgl. auch Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 37, der meint, dass diese Vorschrift bei der seinerzeitigen Verfassungsänderung vermutlich versehentlich nicht gestrichen wurde. 221 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 65. Hieraus sogar eine verfassungsrechtliche Pflicht ziehend: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98. 222 Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 88 f.; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 50; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 231; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 97, die jeweils meinen, dass ein Nichtab-
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
c) Die Rechtsfolgen bei Fristversäumnis oder Nichteinberufung Ein Fristversäumnis oder ein Nichteinberufen der Versammlung stellt einen Verfassungsverstoß gegen Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG dar. Dieser kann im Rahmen eines Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG gerügt werden.223 Diese Verletzung der verfassungsrechtlichen Fristvorgabe führt weder zu einer Ungültigkeit der Bundespräsidentenwahl noch zu einer Unwirksamkeit inzwischen erfolgter Amtshandlungen wie Ernennungen und Gesetzesunterzeichnungen nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG. Das Ergebnis, die Bundespräsidentenwahl für ungültig zu erklären, würde bei einem Fristverstoß schon allein mit dem Sinn und Zweck der in Art. 54 Abs. 4 GG geregelten zeitnahen Wiederbesetzung des Bundespräsidentenamtes kollidieren.224 Ein Fristversäumnis, das die 30-Tage-Frist überschreitet, führt deshalb nur zu einem zu rügenden Verfassungsverstoß, jedoch nicht – im Rahmen eines Organstreitverfahrens, wie später noch darzulegen ist – zu einer Ungültigkeit der Bundespräsidentenwahl. Ein Verfassungsverstoß in Form eines Fristversäumnisses kann wegen des Zeitablaufes nicht geheilt werden. Bei gänzlicher Nichteinberufung der Bundesversammlung besteht das verfassungsrechtliche Gebot, diese unverzüglich nachzuholen. 3. Die Öffentlichkeit der Sitzung Für die einberufene Bundesversammlung wurde der im Grundgesetz zwar nicht ausdrücklich normierte, sich jedoch aus dem in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Demokratieprinzip ergebende Öffentlichkeitsgrundsatz nicht ausdrücklich festgeschrieben.225 Dies ist abweichend zum Bundestag, für den der Öffentlichkeitsgrundsatz unter Bezugnahme auf Art. 42 Abs. 1 GG in § 19 GO-BT ausdrücklich aufgenommen wurde.
warten bevorstehender Konstituierungen des Bundestages oder von Landtagen missbräuchlich oder sogar verfassungswidrig sei. 223 So ebenfalls v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 25 Fn. 132. Siehe auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 62; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 24; und Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184, die diese verfassungsrechtliche Fristvorgabe als „Soll-Vorschrift“ interpretieren. 224 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 62; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 6; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 51; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 36; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 95; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 73. 225 Eingehend Schmidt, Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 131 ff.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
231
Während – wie oben ausgeführt – im Bundestag der öffentliche Austausch von Argumenten, die öffentliche Debatte und die Diskussion eng mit dem Rederecht in Verbindung stehen und wesentlich für eine parlamentarische Demokratie sind,226 erfüllt – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – die Öffentlichkeit in der Bundesversammlung eine andere Funktion.227 Einleitend führte Voßkuhle in seinem Eingangsstatement ergänzend aus: „(…) Nach Art. 54 Abs. 1 GG findet die Wahl ,ohne Aussprache‘ statt. Eine Personal- oder Sachdebatte über oder mit dem Kandidaten soll gerade ausgeschlossen werden. Dementsprechend hat auch die Öffentlichkeit für die Bundesversammlung eine andere Funktion als für den Bundestag. Es kommt allein auf die Sichtbarkeit des Wahlaktes in seinen realen und symbolischen Dimensionen an. (…) Alles in allem offenbart sich in der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung ein eigentümlicher, demokratisch veredelter Rückgriff auf das Erbe der konstitutionellen Monarchie, der vom Verfassungsgeber aber so gewollt war und der der Bundesrepublik Deutschland letztlich auch gut getan hat.“228
Die in Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 54 Abs. 3 S. 3 GG für den Bundestag und den Bundesrat normierte öffentliche Debatte ist Ausdruck der essentiellen Bedeutung der Öffentlichkeit im demokratischen Staatsgefüge. Darauf aufbauend ergibt sich die Frage, ob nach Verfassungsrecht zumindest (teilweise) die parlamentarische Öffentlichkeit auf die Teile der Bundespräsidentenwahl erstreckt werden muss, die eindeutig parlamentarischen Charakter aufweisen. Trotz der im Vergleich zum Bundestag mit der Wahl des Bundespräsidenten nur singulären Aufgabe der Bundesversammlung und ausgehend von Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG, wonach der Bundespräsident ohne Aussprache zu wählen ist, überlagert und bindet Art. 20 Abs. 2 GG mit seinem verankerten Demokratieprinzip und dem eingeschlossenen Öffentlichkeitsgrundsatz auch das Verfassungsorgan der Bundesversammlung, zumindest für die Teile, die in der Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ parlamentsähnlich sind.229 Es bedarf deshalb keiner – teilweise angenommenen – analogen Anwendung von Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 52 Abs. 3 S. 3 GG, die die Öffentlichkeit der Sitzung von Bundestag und 226 BVerfGE 136, 277, 313; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 227 Vgl. BVerfGE 136, 277, 314; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. Vgl. auch v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 27, wonach das der Bundesversammlung anhaftende Zeremonielle nach öffentlicher Partizipation verlange. 228 Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3. 229 So im Ergebnis auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 69; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 35, S. 1612; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 78.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Bundesrat normieren.230 Denn aufgrund der essentiellen Bedeutung der Öffentlichkeit als demokratisches Verfassungsprinzip lässt sich der Gedanke der „staatlichen Öffentlichkeit“ zu einem allgemeinen Verfassungsgrundsatz verdichten, der grundsätzlich an die gesamte Staatstätigkeit adressiert ist und diese bindet.231 In der Folge stellt sich die Einschränkung staatlicher Öffentlichkeit als begründungsbedürftige Ausnahme dar. Der allgemeine Öffentlichkeitsgrundsatz beansprucht unmittelbare Geltung und stellt die Begründung von konkreten Öffentlichkeitsgeboten für die parlamentarischen Teile der Bundesversammlung dar. Lediglich die Debatte um die Kandidaten der Bundespräsidentenwahl ist in der Bundesversammlung normativ ausgeschlossen (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG). Dies ist unter dem Gesichtspunkt eines würdevollen Ablaufes der Bundespräsidentenwahl insofern kein Verstoß gegen den allgemeinen Verfassungsgrundsatz des Öffentlichkeitsgebotes, soweit Debatten über die Kandidaten an anderen Stellen zuvor öffentlich geführt wurden.232 Insofern bedarf Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG der verfassungskonformen Auslegung, dass das normierte Ausspracheverbot – wie dargestellt – nur im Sitzungssaal der Bundesversammlung und während der Wahlhandlung Geltung beansprucht, aber weder räumlich noch zeitlich ausgedehnt werden kann. Da die Kandidaten der Bundespräsidentenwahl in den Medien oder auch auf Parteiebene beleuchtet und diskutiert werden, ist dem Öffentlichkeitsgebot Rechnung getragen und kann in der Wahlversammlung unterbleiben. Für alle weiteren parlamentarischen Teile der Bundespräsidentenwahl ist die Öffentlichkeit herzustellen, soweit bei Abwägung mit anderen Verfassungsprinzipien, wie etwa der Wahrung des Wahlgeheimnisses, das Öffentlichkeitsprinzip nicht eingeschränkt wird.233 Der zitierten Aussage Voßkuhles kann daher nicht gefolgt werden. Er übersieht den allgemeinen Verfassungsgrundsatz der Öffentlichkeit, der mit der Geltung des Grundgesetzes Einzug gehalten hat, als ein an die gesamte Staatstätigkeit adressiertes und bindendes Verfassungsprinzip. Es wird dem Grundgesetz nicht gerecht, die konstitutionelle Monarchie als Ausgangslage für die Wahl durch die Bundesversammlung anzunehmen, die lediglich um demokratische Aspekte angereichert, 230 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 69; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 32. Die Pflicht zur Öffentlichkeit hingegen aus einer Analogie zu Art. 42 Abs. 1 S. 1 und Art. 52 Abs. 3 S. 3 GG herleitend: Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54 Rn. 55 sowie Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609. 231 So auch: Schmidt, Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 173 ff., 474. 232 Vergleichbare Überlegungen sind von Schmidt (Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 209 ff., 257 ff., 290 ff., 477) in Bezug auf das verfassungsrechtliche Gebot der Öffentlichkeit der Ausschusssitzungen des Bundestages geführt worden. Auch hier wird dem Öffentlichkeitsgrundsatz dann Genüge getan, wenn entweder in den Ausschusssitzungen oder in der sich anschließenden Bundestagsplenartagung die Öffentlichkeit gegeben ist. 233 Zur Frage, inwieweit der Öffentlichkeitsgrundsatz mit dem normierten Ausspracheverbot im Falle eines kurzfristig nominierten, unbekannten Kandidaten in Einklang gebracht werden kann, siehe die späteren Ausführungen zum Umfang des Ausspracheverbots.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
233
„veredelt“ wurde. Wie die historische Analyse gezeigt hat, war es vom Verfassungsgeber nicht gewollt, dass eine kürähnliche Einsetzung durch ein nur demokratisch angereichertes Organ erfolgen sollte. Auch die Kompetenzen des Bundespräsidenten wurden völlig neu – abgrenzend von der Machtfülle des Reichspräsidenten – normiert. Eine Vergleichbarkeit mit der konstitutionellen Monarchie ist dadurch bewusst ausgeschlossen worden. Ferner fußt Voßkuhles Aussage, dass die Auslegung als „eigentümlicher, demokratisch veredelter Rückgriff auf das Erbe der konstitutionellen Monarchie“ der Bundesrepublik Deutschland letztlich auch gut getan habe, auf keiner juristischen Argumentationsgrundlage, sondern spiegelt allein eine subjektive Empfindung wider. Folglich findet der Öffentlichkeitsgrundsatz auch für das „Organ mixtum compositum“ Anwendung, sodass die Öffentlichkeit nur in begründeten Ausnahmefällen gänzlich ausgeschlossen werden kann. Das Öffentlichkeitsprinzip, das zugleich als Kontrolle der Repräsentation und der Herrschaftsübertragung dient,234 bietet zudem die Gewähr eines korrekten Wahlablaufs und bildet das Vertrauen hierauf.235 Auch die in der Bundesversammlung geübte Praxis, zur Auszählung der Stimmen und zur Ermittlung des Ergebnisses der einzelnen Wahlgänge Schriftführer aus der Mitte der Bundesversammlung aus verschiedenen Fraktionen zu wählen, die sich gegenseitig kontrollieren, entspricht den vom Grundsatz der Öffentlichkeit geforderten Kriterien der Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des Wahlvorgangs.236 4. Die Zeitdauer einer Bundesversammlung und die Möglichkeit der Vertagung Die Sitzungen der Bundesversammlung haben aufgrund ihres bislang reibungslosen Ablaufes stets nur wenige Stunden gedauert und wurden innerhalb eines Tages beendet.237 Die Tagung kann jedoch auch einen längeren Zeitraum umfassen, soweit dies zur Wahl eines Bundespräsidenten nötig ist. Denkbar sind beispielsweise Fälle, dass ein gewählter Kandidat durch unerbetene Unterstützer eine Mehrheit erhält und deshalb die zweitägige Annahmefrist des § 9 Abs. 4 BPräsWahlG ausschöpft238 und 234
Vgl. Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 173. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 236 BVerfGE 130, 367, 371; 136, 277, 323. 237 Es muss jedoch auch eine Zeitspanne für Beratungen und gegebenenfalls Probeabstimmungen innerhalb der Fraktionen („Zählappelle“) vorgesehen werden, sodass die tatsächliche Inanspruchnahme der Mitglieder – unter Berücksichtigung eines Anreise- und eines Abreisetages – zumeist drei bis vier Tage beträgt. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 64; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 26, S. 1608; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98. 238 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 64; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 230. 235
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
die Bundesversammlung gemäß § 9 Abs. 5 BPräsWahlG erst nach der Annahme der Wahl beziehungsweise bei einer Ablehnung erst nach einem erneuten Wahlakt mit anschließender Annahmeerklärung für beendet erklärt werden kann.239 Die zeitliche Fristvorgabe des Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG bezieht sich lediglich auf die Konstituierung der Bundesversammlung und gibt – bis auf den Endpunkt der Wahlannahme – keine weiteren Zeiträume für die Beratung und den Wahlakt selbst vor.
III. Probeabstimmungen und die vorsorgliche Verzichtserklärung der Landesvertreter Gewöhnlich treffen sich die einzelnen Fraktionen240 vor der Konstituierung und Eröffnung der Sitzung der Bundesversammlung – meist am Vortag, gegebenenfalls auch noch am Morgen der Konstituierung. In der Regel überprüft dabei die einzelne Fraktion durch einen Zählappell die Vollständigkeit ihrer Mitglieder.241 Üblich ist, dass bereits im Vorfeld der Bundesversammlung die vom Landtag nominierten Personen eine Verzichtserklärung unterzeichnen, um kurzfristig im Fall einer Erkrankung oder des Nichterscheinens des Mitgliedes die Teilnahme eines Ersatzkandidaten zu ermöglichen und somit eine Stimmenverschiebung in der Bundesversammlung zu verhindern.242 Neben der Feststellung der Vollständigkeit der Mitglieder finden häufig auch Probeabstimmungen statt. Oftmals haben sich einzelne Fraktionen auf einen Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten geeinigt. Ziel dieser Probeabstimmungen ist es dann, die Zustimmung der Mitglieder für den favorisierten Wahlvorschlag in Erfahrung zu bringen und je nach Ausgang die Geschlossenheit einer Fraktion nach außen zu tragen oder auch eine Empfehlung zur Abstimmung auszusprechen.243 Wie bereits ausgeführt, verfügen alle Bundesversammlungsmitglieder nach Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 3 BPräsWahlG über ein freies Mandat. Sie sind weder an Aufträge noch an Weisungen gebunden und daher auch in ihrem Ab239
Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 25; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 64; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 30; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 98. 240 Wie dargestellt, gliedert sich auch die Bundesversammlung in Fraktionen. So auch: Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609. 241 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 70; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609. 242 Da die 17. Bundesversammlung am 13. Februar 2022 während der COVID-19-Pandemie stattfand, wurden für den Fall von Corona-Erkrankungen 99 Ersatzmitglieder benannt. 243 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609.
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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stimmungsverhalten frei.244 Die Freiheit, einer eventuell ausgesprochenen Fraktionsempfehlung nicht nachzukommen, wird durch die geheime Abstimmung i. S. d. § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG geschützt.245 Für die Bundestagsabgeordneten garantiert Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG das freie Mandat und schützt vor unzulässigen Einflussnahmen aus verschiedenen Richtungen, sei es durch Interessengruppen, durch Parteien und Fraktionen oder durch die Exekutive.246 Das freie Mandat ist ein elementares Recht in der repräsentativen Demokratie.247 Obwohl § 7 S. 3 BPräsWahlG nicht explizit auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verweist, sind alle Bundesversammlungsmitglieder den Bundestagsabgeordneten hinsichtlich ihrer Weisungsfreiheit gleichgestellt, sodass dies auch für die von den Landesparlamenten gewählten Mitglieder des „Organ mixtum compositum“ gilt.248 Zu Recht leitet das Bundesverfassungsgericht aus Art. 54 Abs. 3 GG – neben der Freiheit und der Gleichheit der Wahl – auch die gleiche Stellung aller Versammlungsmitglieder ab.249 Weder können – wie die Bundestagsabgeordneten im Deutschen Bundestag – die von den Landtagen gewählten Mitglieder der Bundesversammlung vertraglich auf ihr freies Mandat verzichten, noch können sie sich zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten verpflichten. Entsprechende Vereinbarungen sind nichtig. Zählappelle und eine mögliche Pflicht der Landesvertreter zum Unterschreiben einer vorsorglichen Verzichtserklärung stehen im Spannungsverhältnis mit dem freien Mandat, das jedoch auch verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkungen im Rahmen der Fraktionsdisziplin unterliegen kann.250 Die Fraktionsdisziplin ist Ausdruck der Erwartung, dass sich der Einzelne – im Interesse der Durchsetzbarkeit der gemeinsamen politischen Zielvorstellung – der Meinung der Fraktionsmehrheit anschließt.251 Auch sollen Fraktionen ihre Mitglieder dazu anhalten können, ihre eigenen Überzeugungen gegebenenfalls zurückzustellen, soweit dabei kein direkter 244
Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 109. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 81; Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 289; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 27, S. 1608 f.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 23. 246 BVerfGE 134, 141, 172; BVerwGE 152, 241, 245. 247 Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 929. 248 Die Weisungsfreiheit gilt auch für die vom Land entsandten Personen, die sonst weisungsgebunden im Bundesrat für die Länder agieren. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 109. A. A. hierzu wohl: Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 5. 249 BVerfGE 136, 277, 315. Vgl. auch Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 250 Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 929. 251 Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 929; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 11. 245
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
oder indirekter Zwang, etwa durch Androhung rechtlicher Sanktionen, angewendet wird.252 Zulässig wäre es dann, wenn der Abgeordnete aus freien Stücken der Mehrheitsentscheidung seiner Fraktion folgt.253 Ein gegen das freie Mandat verstoßender Fraktionszwang wird hingegen dann angenommen, soweit der Abgeordnete verbindlich verpflichtet wird, im Sinne des Mehrheitsbeschlusses seiner Fraktion abzustimmen und eine Zuwiderhandlung mit Sanktionen belegt wird, die über den noch zulässigen Rahmen hinausgehen.254 Weil die Grenzen zwischen dem (noch) zulässigen und dem bereits unzulässigen Fraktionszwang fließend sind, muss die Abgrenzung darauf ausgerichtet sein, einen Interessensausgleich zwischen dem berechtigten Bestreben der Fraktion nach einem geschlossenen Auftreten einerseits und der Entscheidungsfreiheit des Mitgliedes als individuellem Teil der Versammlung andererseits zu finden.255 1. Zur Zulässigkeit von Zählappellen Soweit die Grundsätze von Fraktionszwang und -disziplin den Probeabstimmungen zugrunde gelegt werden, sind Probeabstimmungen ebenfalls zulässig. Den einzelnen Fraktionen stehen gerade keine Zwangs- und Sanktionierungsmaßnahmen wegen der fehlenden Überprüfbarkeit des Abstimmungsverhaltens des einzelnen Mitgliedes aufgrund der geheimen Wahl und wegen des Auseinandergehens nach der erfolgten Wahl zur Verfügung, sodass das freie Mandat jedes einzelnen Mitgliedes der Bundesversammlung gemäß § 7 S. 3 BPräsWahlG gewährleistet ist. Probeabstimmungen sind auch zwischen den einzelnen Wahlgängen während einer Unterbrechung der Bundesversammlung möglich. Diese geben nur ein Stimmungsbild wider und lassen keine Rückschlüsse auf das individuelle Abstimmungsverhalten bei der Wahl des Bundespräsidenten zu. Da Probeabstimmungen zu den üblichen Verfahren im Bundestag gehören, ist diesbezüglich ein parlamentsähnlicher Charakter der Bundesversammlung gegeben.
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Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 929 f. Vgl. Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 929. 254 Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 930; Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 38 (94. EL, Januar 2021), Rn. 215 f. 255 Da alle Mitglieder in der Bundesversammlung gleichberechtigt sind, kann es für die Abgrenzung auch keinen Unterschied machen, ob ein Versammlungsmitglied durch ein Direktmandat als Bundestagesabgeordneter oder durch eine Wahl eines Landesparlamentes Mitglied der Bundesversammlung geworden ist. 253
B. Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung
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2. Zur Zulässigkeit vorsorglicher Verzichtserklärungen der Landesvertreter Die Durchführung von Zählappellen zur Feststellung, dass alle Mitglieder einer Fraktion zur Bundesversammlung erschienen sind, ist als Information der Fraktion zulässig. Anders sieht es jedoch mit einer vorsorglichen Unterzeichnung einer Verzichtserklärung der Landesvertreter für den Fall ihres Nichterscheinens aus. Eine solche Erklärung stellt sowohl einen verfassungswidrigen Eingriff in das freie Mandat des Bundesversammlungsmitgliedes aus § 7 S. 3 BPräsWahlG als auch einen Verstoß gegen die gleiche Stellung aller Bundesversammlungsmitglieder dar. Allein aus den tatsächlichen Vorgaben entsteht eine zumindest ungleiche Situation zwischen den Bundestagsmitgliedern und den von den Landtagen gewählten Mitgliedern der Bundesversammlung, wenn sie an der Teilnahme der Wahl des Bundespräsidenten gehindert sind. In den Bundestag rückt ein Kandidat der Liste nur nach, wenn ein Bundestagsabgeordneter endgültig aus seinem Amt ausscheidet. Im Fall einer absehbaren Verhinderung eines Bundestagsabgeordneten existiert daher für diesen kein Ersatz, so dass dessen Sitz frei bleibt. Anders sieht es bei den von den Landtagen ausschließlich für die Wahl des Bundespräsidenten gewählten Mitgliedern der Bundesversammlung aus. Sofern sie nach ihrer Berufung absehbar nicht teilnehmen können, besteht die Möglichkeit, dass ein Ersatzkandidat nachrückt. Aus dem freien Mandat – ebenso wie aus der Unentziehbarkeit des Bundestagsmandates – ergibt sich jedoch, dass die Mitgliedschaft eines Landesvertreters in der Bundesversammlung nach einer erfolgten und nicht angefochtenen Wahl durch das Landesparlament endgültig ist.256 Eine vorsorgliche, verbindliche Verzichtserklärung würde gegen das freie Mandat verstoßen: Eine Fraktion könnte gegebenenfalls ihrem Mitglied einseitig und missbräuchlich die Zugehörigkeit zur Bundesversammlung entziehen, obwohl die Wahl der Landesvertreter nach Art. 54 Abs. 3 GG den Landtagen zugewiesen ist. Eine Erklärung zum Verzicht auf die Mitgliedschaft in der Bundesversammlung im Falle einer Verhinderung kann daher nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Ein verfassungswidriger Fraktionszwang liegt auch dann vor, wenn im Vorfeld der Wahl bei dem Landesvertreter seine Bereitschaft für einen späteren Verzicht von der Fraktion abgefragt oder zur Bedingung für seine Wahl gemacht und gegebenenfalls vertraglich festgehalten würde. Erneut kann hierbei auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der aus Art. 54 Abs. 3 GG hergeleiteten identischen Stellung aller Versammlungsmitglieder angeführt werden: Es kann keine einseitige Verpflichtung geben, die ausschließlich für
256 Vgl. in Bezug auf die Bundestagsabgeordneten: Hollo, Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin, JuS 2020, 928, 928.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
die von den Landtagen entsandten Mitglieder gilt, jedoch nicht für die geborenen Mitglieder, deren Mitgliedschaft aus dem Bundestagsmandat resultiert.257 Die Tatsache, dass sich die Mitgliedschaft in der Bundesversammlung allein auf die Wahl des Bundespräsidenten beschränkt, kann dieses Ergebnis nicht in Frage stellen. So bewirkt diese einzige Aufgabe, dass das Mandat des gewählten Landesvertreters im Falle seiner Erkrankung am Tag der Bundesversammlung ersatzlos entfällt und auch keine weitere Mitwirkungsmöglichkeit besteht – während die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag eine ganze, mehrjährige Legislaturperiode mit vielen Abstimmungen bedeutet. Dies erscheint – entsprechend der gleichen Stellung aller Versammlungsmitglieder – verfassungsgemäß, da ein erkranktes Bundesversammlungsmitglied aus den Reihen des Bundestages ebenfalls nicht nachbesetzt wird. Insbesondere stellt die fehlende Nachbesetzung von Erkrankten auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der paritätischen Zusammensetzung der Bundesversammlung dar, da sich die gleiche Anzahl auf die ursprüngliche Zusammensetzung und nicht auf den späteren Zeitpunkt der Konstituierung oder der Stimmabgabe bezieht. Eine wirklich freiwillige Erklärung bleibt unbenommen, auch eine geäußerte Bitte an ein Bundesversammlungsmitglied, eine absehbare Verhinderung zur Nachberufung eines Ersatzkandidaten mitzuteilen, stößt auf keine Bedenken.
C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung Vor der Eröffnung der Bundesversammlung war es bislang üblich, dass alle Versammlungsmitglieder zu einer Morgenandacht eingeladen und gegebenenfalls weitere Zählappelle und Probeabstimmungen in den Fraktionen abgehalten wurden, bevor sich die Bundesversammlungsmitglieder am späten Vormittag am Ort der Bundesversammlung trafen. Die Bundespräsidentenkandidaten verfolgten, sofern sie nicht Mitglied der Bundesversammlung sind, diese in der Regel als Zuschauer von der Tribüne aus. Entsprechend der jahrzehntelangen Tradition betritt der Präsident des Bundestages258 als Sitzungsleiter i. S. v. § 8 S. 1 BPräsWahlG oder einer seiner Stellvertreter als einer der Letzten den Sitzungssaal und bittet die Mitglieder Platz zu nehmen. Die 257 BVerfGE 136, 277, 315. Vgl. auch Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 258 Der Bundestagspräsident rangiert trotz fehlender ausdrücklicher Festlegung nach allgemeiner Auffassung protokollarisch an zweiter Stelle nach dem Bundespräsidenten. Ihm folgen, in hier nicht zu untersuchender Reihenfolge, der Bundeskanzler, der Bundesratspräsident und schließlich der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 59 f.
C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung
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Sitzordnung entspricht der des Bundestages.259 Sodann eröffnet der Bundestagspräsident mit einer Eröffnungsansprache unter Nennung besonderer Ehrengäste die Sitzung.260 Die Sitzungseröffnung mit einer Begrüßung der Ehrengäste sowie der Eröffnungsrede durch den Bundestagspräsidenten im Rahmen einer Bundesversammlung ist im Schwerpunkt kürähnlich. Hierbei stehen das Zeremoniell und das Vereinigende im Vordergrund, die durch die hohe Anzahl der Mitglieder und die paritätische Besetzung aus Bundestagsmitgliedern und Landesvertretern auch symbolisch verkörpert werden. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um einen Willensbildungsprozess, sondern um einen würdevollen und einen nach außen an die Öffentlichkeit gerichteten, repräsentativen Akt.
I. Die Konstituierung der Bundesversammlung Nach der Eröffnungsrede des Bundestagspräsidenten erfolgt die formelle Konstituierung. Diese besteht aus der Bestätigung der Zahl der Mitglieder und ihrer Wahl durch die Landesparlamente, der Feststellung der Beschlussfähigkeit, dem Beschluss über eine eigene Geschäftsordnung oder der sinngemäßen Übernahme der Geschäftsordnung des Bundestages sowie unter Heranziehung der §§ 8 und 9 GO-BT der Wahl der Schriftführer, die später den ordnungsgemäßen Wahlvorgang begleiten und die Zählkommission bilden.261
259 Gemäß der Tradition aus der französischen Revolution sitzen grundsätzlich die „Linken“ vom Vorsitzenden aus gesehen links, daneben die „Rechten“. Vgl. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 82 mit Erläuterungen und einer Typologie der Sitzordnungen in Parlamenten. 260 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95. Eine Tradition, wonach das älteste Mitglied der Bundesversammlung diese eröffne, wie dies in der 12. Bundesversammlung 2004 in Bezug auf den früheren Ministerpräsidenten Hans Filbinger (CDU) behauptet wurde, gibt es nicht. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 69. Anders ist dies bei der konstituierenden Sitzung des neugewählten Bundestages, in der bis 2017 das Mitglied des Bundestages mit dem höchsten Lebensalter die erste Sitzung des Bundestages als Alterspräsident eröffnete. Seit der Änderung der Geschäftsordnung am 1. Juni 2017 wird der neugewählte Deutsche Bundestag in der konstituierenden Sitzung von dem diesem Parlament am längsten angehörenden Mitglied als Alterspräsident eröffnet (§ 1 Abs. 2 GO-BT). Vgl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Dienstältester Abgeordneter soll künftig Alterspräsident werden, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw22-de-alterspraesi dent-507540, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023 sowie Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 27, Rn. 4, S. 796; Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 107. 261 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 70; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 29, S. 1609.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Bei der Konstituierung der Bundesversammlung handelt es sich um einen parlamentsähnlichen Verfahrensschritt, der noch vor dem eigentlichen Wahlakt steht und in dem konkrete Abläufe im Verfahren der Wahl geregelt werden. Die Bundesversammlung hat sich selbst diese Regeln zu geben, über die im Rahmen eines Willensbildungsprozesses diskutiert und abgestimmt werden kann und deren Ergebnisse noch offen sind. 1. Die Feststellung der Beschlussfähigkeit Die Beschlussfähigkeit der Versammlung ist vom Versammlungsleiter festzustellen. Hierzu ist zu ermitteln, ob eine hinreichende Anzahl der Mitglieder zur Bundesversammlung erschienen ist.262 Ein abweichendes Quorum für die Beschlussfähigkeit der Bundesversammlung ist nicht normiert,263 sodass, im Falle der sinngemäßen Übernahme der Geschäftsordnung des Bundestages, diese mit dem Inhalt Anwendung findet, dass hierfür mehr als die Hälfte der Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sein muss (vgl. § 45 Abs. 1 GO-BT).264 Die Beschlussfähigkeit kann gemäß § 45 Abs. 2 GO-BT bezweifelt werden. Die Sitzungen der Bundesversammlung konnten bisher aufgrund ihrer Einmaligkeit, Bedeutung und Kürze mit einer hohen Anwesenheits- und Abstimmungsquote stattfinden.265 Eine solche ist auch weiterhin zu erwarten. Die Frage der Beschlussfähigkeit umfasst – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – richtigerweise nicht die Überprüfung, ob die Wahl der Landesvertreter frei von Rechtsfehlern durchgeführt wurde.266 Im Falle einer solchen Rüge findet die Prüfung regelmäßig – abweichend zur Regelung des Bundestages nach Art. 41 GG, wie dargestellt – bereits in den Landesparlamenten statt.
262 Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 41; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 263 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87. 264 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 29, S. 1609. 265 So wurden in der 13. Bundesversammlung 2009 lediglich eine, bei der 14. Bundesversammlung 2010 zwei, bei der 15. Bundesversammlung 2011 acht und bei der 16. Bundesversammlung 2017 sieben Stimmen nicht abgegeben. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 214. 266 Vom Bundesverfassungsgericht wurde festgestellt, dass sich die Bundesversammlung grundsätzlich nicht mit einer fehlenden Beschlussfähigkeit aufgrund einer fehlerhaften Zusammensetzung einer Landesliste auseinandersetzen muss. Somit wurde eine geforderte subsidiäre Wahlprüfungskompetenz aus § 5 S. 3 BPräsWahlG verneint. Vgl. BVerfGE 136, 277, 294, 316 sowie Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86.
C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung
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2. Der Beschluss über die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages (§ 8 S. 2, Hs. 1 BPräsWahlG) Über Jahrzehnte wurden im Rahmen der Konstituierung der Bundesversammlung Beschlüsse gefasst, dass die Geschäftsordnung des Bundestages gemäß § 8 S. 2, Hs. 2 BPräsWahlG sinngemäß zunächst ohne weitere Modifikation für die gesamte Sitzung Anwendung findet.267 Diese Bestimmung einer Übernahme der Geschäftsordnung eines anderen Verfassungsorgans löst keine verfassungsrechtlichen Bedenken aus, sondern entspricht einer praktikablen Handhabung.268 Seit der 13. Bundesversammlung 2009 beschlossen die jeweiligen Bundesversammlungen jedoch die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung dahingehend zu modifizieren, dass Geschäftsordnungsanträge und andere Anträge ausschließlich schriftlich zu stellen sind und eine mündliche Begründung sowie eine Aussprache hierüber nicht stattfinden.269 Weil weder in Art. 54 GG noch im Bundespräsidentenwahlgesetz einschränkende Vorgaben über die Art und Weise der Antragstellung zu finden sind, stellt eine solche Modifikation eine zulässige Ausgestaltung der Geschäftsordnungsautonomie dar. Diese Art der Modifikation der Geschäftsordnung des Bundestages ist als Beschlussfassung einer eigenen Geschäftsordnung i. S. v. § 8 S. 2, Hs. 2 BPräsWahlG zu deuten.270 Da eine solche Geschäftsordnung eine Antragstellung nicht grundsätzlich ausschließt, sondern nur deren Modalitäten ausgestaltet, werden auch keine Minderheiten- oder Beteiligungsrechte der Mitglieder der Bundesversammlung verletzt. Ob eine mündliche Begründung eines (Geschäftsordnungs-)Antrages im Plenum und eine anschließende Debatte unter das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG zu subsumieren sind und in diesem Fall ohnehin verfassungswidrig wären, kann aufgrund der zulässigen beschränkenden Regelung im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie zu diesem Zeitpunkt noch zurückstehen.271 Klärungsbedürftig sind jedoch die vom Bundesverfassungsgericht behandelten Sachfragen aus der 13. und 14. Bundesversammlung von 2009 beziehungsweise 267
Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 88; Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 279; Burkiczak, Die Aufhebung der Immunität von Mitgliedern der Bundesversammlung, VBlBW 2006, 90, 92; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 29, S. 1609; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 94; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 35; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 268 So auch: Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54, Rn. 25 (Januar 2009). 269 Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 270 So auch: BVerfGE 136, 277, 321; 138, 125, 134; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 69. 271 Vgl. hierzu die Ausführungen zum Umfang des Ausspracheverbots in Kapitel 4 D. II. 2., S. 266 – 290.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
2010, die sich mit den Fragen beschäftigten, ob die Geschäftsordnung der vorherigen Bundesversammlung eine Fortwirkung entfaltet und ob Anträge in der Reihenfolge ihres Eingangs besprochen und behandelt werden müssen.272 Am Tag vor dem Zusammentreten der 13. Bundesversammlung am 22. Mai 2009 wurden vom Antragsteller gemeinsam mit weiteren Mitgliedern der Bundesversammlung Anträge eingereicht, wonach neben einem Beschluss „Vorstellung der Kandidaten“ auch ein Beschluss über eine eigene Geschäftsordnung als Tagesordnungspunkt aufgenommen werden sollte. Über diese in der Ostlobby des Bundestages ausgelegten Anträge wurde eine Aussprache beantragt.273 Zeitlich nachgelagert wurde ein von der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung getragener Antrag eingereicht, der die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages mit der Maßgabe vorsah, dass Geschäftsordnungsanträge und andere Anträge nur schriftlich gestellt werden könnten und eine mündliche Begründung sowie eine Aussprache hierüber nicht stattfinde. Der Bundestagspräsident als Sitzungsleiter führte nach Feststellung der Beschlussfähigkeit zum ersten Antrag aus, dass es bisher noch keine Geschäftsordnung gebe, weil die der vorherigen Bundesversammlung keine Fortwirkung entfalte. Für Wortmeldungen oder Aussprachen hierüber fehle es an einer tatsächlichen rechtlichen Grundlage.274 Sodann wurde über den zeitlich später eingebrachten Mehrheitsantrag hinsichtlich der Geschäftsordnung abgestimmt. Er wurde angenommen und anschließend der zeitlich zuerst eingebrachte Antrag mehrheitlich abgelehnt. Der weitere Antrag des Antragstellers bezüglich der Aufnahme eines Tagesordnungspunktes „Vorstellung der Kandidaten“ wurde wegen seines offenkundigen Verstoßes gegen das Ausspracheverbot nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG vom Bundestagspräsidenten nicht zugelassen.275 Bei der 14. Bundesversammlung am 30. Juni 2010 reichte ein Antragsteller insgesamt drei Anträge ein. Unter anderem wurde eine erneute Abstimmung über eine Geschäftsordnung, die den Kandidaten die Gelegenheit zur mündlichen Vorstellung geben sollte, beantragt.276 Von der Mehrheit wurde ein schriftlicher Antrag 272
Vgl. BVerfGE 136, 277, 277 ff. Vgl. das Protokoll zur 13. Bundesversammlung vom 23. Mai 2009, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/191424/3ea3b84229ab6e62fdd99e8c9b840758/proto koll_13_bundesversammlung-data.pdf?msclkid=e335f0dbbf1c11ec89ca18a54ed1b95d, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 274 Vgl. BVerfGE 136, 277, 284 f.; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 860 und das Protokoll zur 13. Bundesversammlung vom 23. Mai 2009, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/191424/3ea3b84229ab6e62fdd99e8c9b84 0758/protokoll_13_bundesversammlung-data.pdf?msclkid=e335f0dbbf1c11ec89ca18a54ed1 b95d, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 275 BVerfGE 136, 277, 284 f.; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 860. 276 Daneben stellte der Antragsteller einen Antrag auf das Recht zur Benennung eines Wahlbeobachters – der mehrheitlich durch Abstimmung abgelehnt wurde – sowie einen An273
C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung
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auf Erlass einer Geschäftsordnung wie in der 13. Bundesversammlung eingereicht. Eine Abstimmung über den Antrag einer Kandidatenvorstellung wurde vom Sitzungsleiter erneut aufgrund seines „offensichtlichen Verstoßes“ gegen Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG nicht zugelassen, während der Mehrheitsantrag für eine wie in der letzten Bundesversammlung verabschiedeten Geschäftsordnung mehrheitlich angenommen wurde. a) Kein Fortwirken der alten Geschäftsordnung Geschäftsordnungsbeschlüsse der vorherigen Bundesversammlung wirken nicht in die nächste Bundesversammlung fort, da sich die Bundesversammlung zu jeder Versammlung neu konstituiert und nur einmalig stattfindet.277 Selbst für den Deutschen Bundestag gilt nach dem Grundsatz der Diskontinuität, dass auch die Geschäftsordnung nur für die jeweilige Legislaturperiode gilt und in der ersten Sitzung neu beschlossen werden muss, wie vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.278 Ferner ist § 8 S. 2 BPräsWahlG gerade nicht so formuliert, dass die Geschäftsordnung des Bundestages „so lange“ Anwendung findet, bis sich die Bundesversammlung eine eigene Geschäftsordnung gegeben hat.279 Die Regelung des Gesetzgebers des auf Grundlage von Art. 54 Abs. 7 GG erlassenen § 8 S. 2 BPräsWahlG ist so auszulegen, dass die Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß Anwendung findet, um die Zeit zu überbrücken, in der sich die Bundesversammlung noch keine eigene Geschäftsordnung gegeben hat.280 Sobald die Bundesversammlung dann einen Beschluss über eine eigene oder über eine Übernahme der Geschäftsordnung des Bundestages gefasst hat, tritt diese an die Stelle der Geschäftsordnung des Bundestages. Somit gilt eine beschlossene Geschäftsordnung nur für die jeweilige Bundesversammlung und nicht für zukünftige.281 Mit dieser Auslegung gibt es durch die gesetzliche Bestimmung – vergleichbar wie der für Gesetze geltende Diskontinuitätsgrundsatz – keine Regelungslücke, kein Gewohnheitsrecht oder eine ständige Übung für einen „geschäftsordnungslosen“
trag auf Beschluss der Feststellung einer nicht ordnungsgemäß erfolgten Entsendung von Wahlmännern in zehn Bundesländern. Letzterer Antrag wurde vom Bundestagspräsidenten mangels bei den Landtagspräsidenten erhobener Einsprüche ebenso wie eine Wortmeldung mit dem Ziel der Antragsbegründung nicht zugelassen. Vgl. Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 860. 277 So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 294. 278 Vgl. BVerfGE 1, 144; Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 140 f.; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10, Rn. 29, S. 348 f. 279 BVerfGE 136, 277, 321; 138, 125, 134. 280 So auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 69. 281 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 294.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Zeitraum dahingehend, dass bestimmte Regelungen aus der vorangegangenen Bundesversammlung übernommen werden können.282 Das Bundesverfassungsgericht nimmt abweichend hierzu jedoch an, dass die Geschäftsordnung des Bundestages auch in der Konstituierungsphase der Versammlung nicht zum Tragen komme, sofern erkennbar sei, dass die Bundesversammlung von ihrem Recht zum Erlass einer eigenen Geschäftsordnung Gebrauch machen werde.283 § 8 S. 2 BPräsWahlG sei „gerade nicht so formuliert, dass die Geschäftsordnung des Bundestages solange zur Anwendung kommt, bis sich die Bundesversammlung eine eigene Geschäftsordnung gibt.“ Bei dieser Auffassung bleibt das Verfassungsgericht aber die Erklärung schuldig, woran es diese Verwirkung und die erkennbare Absicht der Bundesversammlung festmacht.284 Diese ablehnende Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu einem Rederecht schon vor einer Beschlussfassung über die Geschäftsordnung, die jegliche Redebefugnis auch von Geschäftsordnungsanträgen ausschließt, könnte mit der Absicht erklärbar sein, der NPD auch über die Hintertür eines Geschäftsordnungsantrages kein Podium in der Bundesversammlung zukommen zu lassen.285 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, wonach der spätere Mehrheitsantrag auf den Ausschluss eines Rederechtes gerichtet sei, kann eine solche Vorgehensweise nicht rechtfertigen, weil ein noch nicht feststehendes Beschlussergebnis antizipiert wird.286 Ferner kann die in § 8 S. 2 BPräsWahlG getroffene Formulierung „sofern“ anstelle von „solange“ so verstanden werden, dass die Geschäftsordnung des Bundestages – die in § 29 GO-BT ein Rederecht normiert – sinngemäß Anwendung
282 Aus diesem Grund gilt die oben diskutierte Neutralitätspflicht des Bundestagspräsidenten nach § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT auch schon sinngemäß für die Eröffnungsrede – somit auch schon vor Behandlung des Tagesordnungspunktes „Geschäftsordnung“. So ebenfalls: Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammerts-eroeffnungsre de-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 283 BVerfGE 136, 277, 321; 138, 125, 134. 284 So auch schon: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 574. 285 So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 238. 286 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 8; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 237 f. Vgl. aber BVerfGE 136, 277, 320 f. wonach es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im vorliegenden Organstreitverfahren rechtens gewesen sei, dass über den von der Mehrheit getragenen Antrag zur Geschäftsordnung vorrangig und ohne Worterteilung abgestimmt wurde, da der Mehrheitsbeschluss erkennbar das Ziel gehabt habe, generell keine Redebeiträge zuzulassen.
C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung
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finden soll, wenn (noch) keine eigene Geschäftsordnung der Bundesversammlung existiert.287 So verständlich die dahinterstehende mögliche Absicht des Bundestagspräsidenten sowie des Bundesverfassungsgerichts sein mag, extremen Positionen und Ansichten keine Plattform bieten zu wollen, so wenig überzeugend ist sie in dogmatischer Hinsicht. Der Bundestagspräsident kann eine missbräuchliche Nutzung mittels Wortentziehung unterbinden und so rechtskonform im Rahmen seiner Sitzungsleitung das gewünschte Ergebnis erzielen.288 Es bedarf keiner verfassungs- und gesetzesübersteigenden interpretatorischen Umpolung der Bundesversammlung von einem „Organ mixtum compositum“ zu einem Kürorgan. b) Keine Pflicht zur Antragsbehandlung nach Eingang Aufgrund der Geltung des § 8 S. 2 BPräsWahlG und der oben festgestellten Nichtfortwirkung der alten Geschäftsordnung findet bei der Konstituierung der Bundesversammlung zunächst die Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß Anwendung. Diese regelt in § 29 GO-BT, dass Geschäftsordnungsanträge grundsätzlich vorrangig zu behandeln sind. An diese Festlegung ist der Vorsitzende der Bundesversammlung gesetzlich gebunden.289 Nicht vorgeschrieben und auch nicht vorgesehen ist eine Behandlung der eingereichten weiteren Anträge nach deren Eingang. Vielmehr steht es unter Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit sowie der Neutralitätspflicht im Ermessen des Sitzungsleiters, die Reihenfolge der Anträge zu ordnen, zu gewichten und selbstständig eine zweckmäßige Abfolge festzusetzen. Eine Verpflichtung zu einer Abstimmung von Anträgen nach Eingangsdatum oder Uhrzeit lässt sich weder verfassungsrechtlich noch einfachgesetzlich begründen. Die Entscheidungen des Bundestagspräsidenten müssen sich allein an seiner Funktion als Sitzungsleiter zur Durchführung der Bundespräsidentenwahl ausrichten. Sie dürfen nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen und haben die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben sowie die Gleichbehandlung aller Mitglieder der Bundesversammlung zu beachten. Eine nach Zweckmäßigkeit sortierte Abfolge der Anträge verstößt grundsätzlich nicht gegen das Recht auf eine Gleichbehandlung aller Bundesversammlungsmitglieder. Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Minderheitenschutzes liegt jedoch dann vor, 287 Vgl. BVerfGE 136, 277, 290. Zu dieser Auffassung ebenfalls gelangend: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 574. 288 Hierauf ebenfalls verweisend: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 238. 289 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 238. Auch aus Ermessensgründen ist es geboten, zuerst die Anträge zu behandeln, die das Verfahren der Bundesversammlung betreffen. Vgl. BVerfGE 136, 277, 297.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
wenn der Sitzungsleiter die Reihenfolge der Antragsbehandlung und deren Abstimmung als sachfremde Erwägung allein an den zu erwartenden Mehrheitsverhältnissen ausrichtet.290 Aufgrund der auch kürähnlichen Anteile in der Bundesversammlung ist dem Bundesverfassungsgericht im Ergebnis darin zuzustimmen, dass dem Bundestagspräsidenten in der Bundesversammlung weitergehende Befugnisse zustehen als bei der Leitung von Sitzungen des Bundestages.291 Diese ergeben sich aus der Charakterisierung der Bundesversammlung als ein „Organ mixtum compositum“ und der Möglichkeit solche Anträge, die nicht die Durchführung der Wahl an sich betreffen oder offensichtlich nicht im Einklang mit der Verfassung stehen, nicht zur Abstimmung zu stellen. Dies ist selbst im Lichte der eingeschränkten Funktion der Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ mit der ausschließlichen Aufgabe der Wahl des Bundespräsidenten nicht zu beanstanden.292 Doch selbst wenn man dem Bundestagspräsidenten abweichend nicht weitergehende, sondern nur die gleichen Rechte wie bei der Sitzungsleitung im Bundestag zuspräche, so könnte er auch dann solche Anträge, die nicht die Durchführung der Wahl an sich betreffen oder nicht im Einklang mit Normierungen des Grundgesetzes oder des Bundespräsidentenwahlgesetzes stehen, ablehnen und nicht zur Abstimmung zulassen.293 Eine abweichende Reihenfolge der Behandlung der nicht die Geschäftsordnung betreffenden Anträge durch den Sitzungsleiter verstößt nicht gegen das Recht auf Gleichbehandlung aller Bundesversammlungsmitglieder.294 Eine Gewichtung und Sortierung der Anträge beeinträchtigt grundsätzlich auch nicht das Recht der Kandidaten auf Chancengleichheit im Rahmen der Wahl.295 Wegen des Ausspracheverbots des Art. 54 Ab. 1 S. 1 GG hat der Versammlungsleiter Anträge, die hiergegen verstoßen, zurückzuweisen und eine Abstimmung 290 So aber BVerfGE 136, 277, 290, 297 f.; 138, 125, 134, die eine an den zu erwartenden Mehrheitsverhältnissen ausgerichtete Abstimmungsreihenfolge als „sachgemäß“ einordnet. Dies sei insbesondere vorliegend der Fall gewesen, da eine abweichende Abstimmungsreihenfolge das Ziel des von der Mehrheit unterstützten Antrages einer nur schriftlichen Behandlung von Anträgen unterlaufen hätte. 291 Vgl. BVerfGE 136, 277, 317. Siehe auch: Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 38; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 951; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7. 292 Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86 formulierend aus BVerfGE 136, 277, 318. 293 Dies wird aber durch das BVerfG wenig überzeugend damit begründet, dass hierdurch „die zeremonielle, symbolische Bedeutung des Wahlakts“ gewahrt werden soll. Vgl. Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen Bundesversammlung am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3 sowie Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 39; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 2018, Art. 54, Rn. 74. 294 Vgl. BVerfGE 136, 277, 314; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 295 BVerfGE 136, 277, 284.
C. Die Sitzungseröffnung und Konstituierung der Bundesversammlung
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nicht zuzulassen. Ein Ermessen ist ihm in dieser Hinsicht wegen des drohenden Verfassungsverstoßes nicht gegeben.296 Etwaige Verfehlungen der Sitzungsleitung können im Wege eines Organstreitverfahrens überprüft werden, wobei sich der Bundestagspräsident im Falle einer (temporären) Vertretung etwaige Verfehlungen seiner Stellvertreter zurechnen lassen muss. 3. Die Möglichkeit zur Verabschiedung einer eigenen Geschäftsordnung (§ 8 S. 2, Hs. 2 BPräsWahlG) Wie im Rahmen der Charakterisierung der Bundesversammlung dargestellt, hat die Bundesversammlung als oberstes Bundesorgan Geschäftsordnungsautonomie, die sich auch unmittelbar aus der Verfassungsorganqualität, der unmittelbaren Konstituierung aus der Verfassung sowie aus der Aufgabenzuweisung der Wahl eines anderen Verfassungsorgans ergibt.297 Hieraus folgt, dass sich die Bundesversammlung auch ohne die explizite Normierung in § 8 S. 2, Hs. 2 BPräsWahlG eine eigene Geschäftsordnung geben könnte. Hierzu bedarf es eines ausdrücklichen Beschlusses der Bundesversammlung. In diesem Zusammenhang könnten die Mitglieder der Bundesversammlung ferner einen Wahlvorstand wählen.298 Diese Befugnis folgt nicht aus einem der Bundesversammlung und ihren Mitgliedern durch die Verfassung übertragenen Recht, sondern aus dem auf Grundlage von Art. 54 Abs. 7 GG erlassenen § 8 S. 2 BPräsWahlG.299
296 So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 238. Hierunter fallen auch als „Geschäftsordnungsantrag“ bezeichnete Vorlagen, die aber tatsächlich keine Regelung der Geschäftsordnung zum Gegenstand haben. Als Beispiel zu nennen ist hier der Antrag der NPD, den Kandidaten die Möglichkeit einer bis zu 30-minütigen Vorstellung zu geben. Vgl. BVerfGE 136, 277, 277 ff. Eine solche Vorstellung im Plenum stellt einen Verstoß gegen Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG dar. 297 A. A. BVerfGE 136, 277, 316; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 32, wonach die Befugnis der Mitglieder zu einem Beschluss einer Geschäftsordnung und der Wahl eines Wahlvorstandes nicht aus einem der Bundesversammlung und ihren Mitgliedern durch die Verfassung übertragenen Recht folge, sondern allein aus § 8 S. 2 BPräsWahlG. 298 BVerfGE 136, 277, 277 ff.; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 299 So auch BVerfGE 136, 277, 316.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
4. Die Wahl des Sitzungsvorstandes und der Schriftführer (§ 8 S. 2, Hs. 1 BPräsWahlG i. V. m. §§ 2, 3 GO-BT) Der Sitzungsvorstand im Sinne des § 8 BPräsWahlG besteht gemäß Absatz 1 aus dem Bundestagspräsidenten sowie zwei Schriftführern. Hinsichtlich der Vizepräsidenten, die auch bei der Bundesversammlung als Stellvertreter des Bundestagspräsidenten fungieren, gilt im Falle einer sinngemäßen Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages der Rechtsgedanke des § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT. Danach hat jede Fraktion das Recht, mindestens eine Person als Vizepräsidenten im Präsidium des Bundestages300 zu stellen und am Geschäftsgang teilzuhaben. In diesem Fall kollidieren die Teilhaberechte mit dem Recht, über interne Personalfragen als freier Mandatsträger selbst zu entscheiden und den von einer Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten für das Präsidium des Bundestages abzulehnen.301 Für den Fall, dass eine Fraktion im Sitzungsvorstand des Bundestages nicht durch einen Vizepräsidenten vertreten ist, steht es der Bundesversammlung gleichwohl frei, ein Mitglied dieser Fraktion in seinen Sitzungsvorstand zu wählen. Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Wahl des Kandidaten durch die anderen Bundesversammlungsmitglieder, sodass es keinen uneingeschränkten Anspruch auf Stellung eines Vizepräsidenten in der Bundesversammlung gibt.302 Zwar ist die Mitwirkung aller Fraktionen in den verantwortlichen Aufgabenbereichen der Bundesversammlung wünschenswert und im Sinne eines demokratischen Konsenses anzustreben,303 aber es besteht keine verfassungsrechtliche Verpflichtung dazu.304 300 Das Präsidium des Deutschen Bundestages wacht u. a. über die Einhaltung der Verhaltensregeln im Parlament, nicht über organisatorische Aufgaben, die für den Bundestag wahrgenommen werden, Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 110. 301 So scheiterte bspw. Lothar Bisky (Linkspartei) bei der Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten 2005 drei Mal. Seine Fraktion bat seinerzeit den Ältestenrat des Bundestages um einen weiteren Wahlgang, dem dieser zustimmte. Mit dem vierten Nein des Bundestages war Biskys Scheitern endgültig besiegelt, sodass der Posten des Vizepräsidenten der Fraktion mehrere Monate unbesetzt blieb. Im April 2006 erhielt dann Petra Pau (Linkspartei) eine ausreichende Mehrheit im Bundestag. Vgl. auch Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 110 f. 302 So auch das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf einen angestrebten Vizepräsidentenposten der AfD im Bundestag. Vgl. Beschl. v. 22. 3. 2022, Az. 2 BvE 9/20. 303 So auch Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 143 f. Denn u. a. wahre das Präsidium nach § 7 Abs. 1 GO-BT die Würde und die Rechte des Bundestages und repräsentiere das Parlament nach außen. Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass einzelne Fraktionen von der Mitwirkung an der Arbeit weitgehend ferngehalten werden. Dies hätte zur Folge, dass die Wahlentscheidung der Bürger durch politische Mitwirkungsvorbehalte zwischen den Fraktionen unterlaufen werden könnte. Ein Präsidium ist mit einer vakanten Position eines Vizepräsidenten zwar unvollständig, aber gleichwohl arbeitsfähig. Eine vorübergehende oder dauerhaft fehlende vollständige Besetzung ist von Verfassungs wegen hinzunehmen. Eingehend hierzu auch Sauer, „Den wähle ich nicht!“, verfassungsblog.de, 7. 2. 2018, https://verfas sungsblog.de/den-waehle-ich-nicht/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023 m. w. N. Auch setzt eine effektive Beteiligung einer Fraktion keine Vertretung im Präsidium voraus, zumal die
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Zum Ende der Konstituierung der Bundesversammlung findet gemäß § 8 S. 2, Hs. 1 BPräsWahlG i. V. m. §§ 2, 3 GO-BT die Wahl der Schriftführer (vgl. § 9 GOBT) und des Sitzungsvorstandes statt. Als Schriftführer in der Bundesversammlung wurden bislang regelmäßig diejenigen Abgeordneten eingesetzt, die diese Aufgaben auch im Bundestag übernehmen,305 Parteien ohne Fraktionsstärke bleiben außen vor. Diese Handhabung ist jedoch keinesfalls zwingend. Die Bundesversammlung darf aufgrund ihrer Geschäftsordnungsautonomie auch eine explizit abweichende Regelung treffen. Denkbar ist, dass etwa eine bei der Bundestagswahl an der 5%-Klausel gescheiterte Partei in mehreren Landesparlamenten vertreten ist und daher Vertreter in die Bundesversammlung entsendet. Diese Partei, die eine Fraktion bildet, stellt jedoch im Bundestag keine Schriftführer und ist somit in der Bundesversammlung von der Begleitung der Wahl und der anschließenden Auszählung des Wahlergebnisses ausgeschlossen. Der Ausschluss dieser Fraktion ergibt sich lediglich daraus, dass sie keine Fraktion im Bundestag stellt. Im Falle einer sinngemäßen Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages gilt auch der Rechtsgedanke des § 3 GO-BT. Danach können die Schriftführer gemeinsam auf Grund eines Vorschlages der Fraktionen gewählt werden. Bei der Festlegung der Zahl der Schriftführer und ihrer Verteilung auf die Fraktionen ist § 12 GOBT zu beachten. Demnach ist die Zusammensetzung im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen. Aus Gründen der Gleichbehandlung und Teilhabe aller Fraktionen der Bundesversammlung ist eine entsprechende Zuweisung von Schriftführern unter Zugrundelegung des für den Bundestag errechneten Schlüssels angezeigt. Dabei bleibt die Zahl der Schriftführer des Bundestages unverändert, kann jedoch um eine errechnete Zahl entsprechenden Amtsträger zu unparteiischer Geschäftsführung verpflichtet sind. Eine Abwahl eines Vizepräsidenten ist mit absoluter Mehrheit möglich, siehe Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 110. 304 Vgl. den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. 3. 2022, Az. 2 BvE 9/20, der klarstellt, dass es dem freien Wählerwillen der Bundestagsabgeordneten unterliegt, den Fraktionsvorschlag für einen Posten im Bundestagspräsidium mit der notwendigen Mehrheit zu wählen oder abzulehnen. Gleiches hat bei der Wahl des Sitzungsvorstandes und der Schriftführer der Bundesversammlung zu gelten. 305 Die Schriftführer werden gem. Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG vom Bundestag auf Vorschlag der Fraktionen gewählt. Die Schriftführer im Bundestag – in der 19. Wahlperiode waren es 62 Personen und in der laufenden 20. Wahlperiode sind es 66 – sind frei sich an den Sitzungstagen abzuwechseln. Der Sitzungsvorstand des Bundestages wird jeweils aus dem Bundestagspräsidenten und von zwei rechts und links neben ihm sitzenden Schriftführern gebildet. Ein Schriftführer gehört in der Regel der Koalitionsfraktion, der andere Schriftführer der Oppositionsfraktion an. Die Schriftführer unterstützen den Präsidenten bei der Sitzungsleitung, indem sie Anträge und Wortmeldungen entgegennehmen, Schriftstücke verlesen, eine Rednerliste führen, die Korrekturen des Plenarprotokolls überwachen und die Abstimmungsergebnisse feststellen. Aufgrund der großen Anzahl an Schriftführern wird in der Regel auf ein Verlesen aller Namen verzichtet, stattdessen liegt eine Namensliste sowohl beim Sitzungsvorstand als auch an den Meldetischen aus.
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für die unberücksichtigte Fraktion in der Bundesversammlung aufgestockt werden, mindestens um die Zahl eins. Vergleichbar wie im Fall der Bundestagsvizepräsidenten steht das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung der Schriftführer unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Bundesversammlung nach einer entsprechenden Antragstellung. So hat auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 22. März 2022 in einem vergleichbaren Fall im Deutschen Bundestag zutreffend entschieden:306 „Die Reichweite des Mitwirkungsrechts aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG wird durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht einer Fraktion aus § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT, im Präsidium mit mindestens einem Vizepräsidenten vertreten zu sein, steht unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten.“ „Die Wahl nach Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG ist frei. Ein Recht der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auf Steuerung und Einengung der Wahl nach Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG durch prozedurale Vorkehrungen scheidet daher aus.“
Parallel dazu gibt es für eine Fraktion auch in der Bundesversammlung keinen uneingeschränkten Anspruch auf eine Stellung von Schriftführern. Dies ergibt sich auch aus dem Selbstorganisationsrecht der Bundesversammlung. Bei der Abwägung der kollidierenden Rechte auf Teilhabe und Minderheitenschutz überwiegt dabei – wie auch im Bundestag aufgrund der auch repräsentativen Aufgaben der Vizepräsidenten und Schriftführer – im Ablauf der Bundesversammlung das Recht der Bundesversammlungsmitglieder, über ihre Repräsentation durch eine freie Wahl zu entscheiden. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verweigerung von Schriftführern der Würde der Bundesversammlung zuträglich ist.
II. Die Pflicht zur politischen Neutralität des Versammlungsleiters Um die „Würde des Hauses“307, die Ehre und das Ansehen der Versammlungsmitglieder zu wahren, haben sich der Bundestagspräsident sowie seine Vizepräsidenten bei der Leitung der Sitzung und bei etwaigen Ordnungsmaßnahmen vom Grundsatz parteipolitischer Neutralität leiten zu lassen.308 Dieses ergibt sich normativ aus der – im Anschluss noch näher zu beleuchtenden – Geschäftsordnung gemäß § 8 S. 2 BPräsWahlG i. V. m. § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT. Demnach wahrt der Bundestagspräsident die Rechte der Bundesversammlung, fördert dessen Arbeit, 306
BVerfG, Urteil vom 22. März 2022, 2 BvE 9/20. Die „Würde des Hauses“ lässt sich mit der hohen Formalisierungsdichte insbesondere der Sitzungen erklären, bei der sich Gepflogenheiten und Rituale ergeben haben, die sich in modernen Organisationsformen nicht wiederfinden. In diesen Ritualen wird das Besondere der Körperschaft vermittelt, die „Würde des Hauses“. Vgl. Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 80. 308 Vgl. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 146 f. 307
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wahrt die Ordnung im Haus und leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch. Die Geschäftsordnung des Bundestages konkretisiert durch ihre sinngemäße Anwendung gemäß § 8 S. 2 BPräsWahlG zugleich die verfassungsrechtliche Neutralitätspflicht des Bundestagspräsidenten als Wahlleiter der Bundespräsidentenwahl. Die Bindung des Versammlungsleiters an die Neutralitätspflicht ist insbesondere auch bei der Beachtung des Ausspracheverbots des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG gefordert, mit dem politische Debatten aus der Bundesversammlung ferngehalten werden sollen. 1. Die Rüge einer Verletzung der Chancengleichheit Im Vorfeld der 13. Bundesversammlung am 23. Mai 2009 wurde der Vorwurf – des späteren Antragstellers im vorliegenden Organstreitverfahren gegenüber dem Sitzungsleiter – laut, dass die Gewährleistung und die Wahrung der Chancengleichheit aller Kandidaten als verletzt anzusehen sei.309 Begründet wurde dies damit, dass im Vorfeld der Wahl im Internetauftritt des Bundestages nur die Vorstellungsseite des NPD-Kandidaten entfernt, stattdessen die Kandidatenvorstellung auf einige wenige Daten beschränkt und ein Link zur persönlichen Internetseite des Kandidaten gesetzt worden sei.310 Die Gewährleistung und Wahrung der Chancengleichheit durch die staatlichen Stellen gilt im Vorfeld, während und nach der Wahl. Die Begrenzung der Kandidatenvorstellung auf der Homepage des Bundestages auf wenige Sätze sowie ein Link für weitergehende Informationen stellt keine Verletzung der Chancengleichheit dar, solange alle Kandidaten vergleichbar behandelt werden. Insbesondere resultiert aus der Chancengleichheit und dem Neutralitätsgebot kein Anspruch, eine bestimmte Textlänge auf der Homepage des Bundestages veröffentlichen zu dürfen. Dies stellt auch dann keine besondere Härte dar, wenn es sich um relativ unbekannte Kandidaten handelt. Auch sie haben im Vorfeld der Wahl alle Möglichkeiten, sich dem Wahlvolk zu präsentieren, die den weiteren Kandidaten ebenfalls zur Verfügung stehen. Sie können sich beispielswiese für Interviews anbieten, Artikel in Medien verfassen und ihre Homepage und Social Media entsprechend gestalten. Inwieweit dazu Interesse oder Anfragen bestehen, ist keine Frage des Gleichheitsgrundsatzes soweit hierzu allen Kandidaten in gleicher Weise die Möglichkeiten offenstehen. Gleiches hat für die Homepage des Deutschen Bundestages zu gelten, über dessen Inhalt und des zur Verfügung stehenden Platzes der Bundestag für alle Kandidaten „ohne Ansehen der Person“ nach einheitlichen Kriterien frei entscheiden kann. Es besteht kein Anrecht auf einen bestimmten Umfang oder eine Sonderbehandlung aufgrund des Status „unbekannter Kandidat.“
309 310
BVerfGE 136, 277, 290 f. BVerfGE 136, 277, 284.
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2. Die Rüge einer parteiischen, politischen Eröffnungsrede Diskutiert wurde ferner eine Verletzung der politischen Neutralitätspflicht des seinerzeitigen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) durch seine vielfach sehr gelobte Begrüßungsansprache in der Bundesversammlung am 12. Februar 2017. In seiner Rede sprach er sich gegen das Erstarken nationalistischer und protektionistischer Politik in den USA, in Europa und Deutschland, gegen die vom damals frisch gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump verfolgte „America first“-Politik und für eine internationale Zusammenarbeit sowie für die Europäische Union aus.311 Ohne die entsandten Wahlvertreter der AfD direkt zu benennen,312 konnte eine Bezugnahme zur AfD auch durch die Betonung der Wichtigkeit der Holocaust-Erinnerungskultur für das internationale Ansehen Deutschlands als eine Replik auf die Rede Björn Höckes (AfD)313 sowie als eine Antwort auf die seinerzeitigen populistischen Strömungen gewertet werden.314 Verfassungsrechtlich problematisch war, dass mit Albrecht Glaser von der AfD ein Vertreter dieser kritisierten politischen Strömung zur Wahl stand und die Er-
311 Lammerts Eröffnungsrede vom 12. 2. 2017 ist veröffentlicht unter: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zur Eröffnung der 16. Bundesversammlung am 12. Februar 2017 im Reichstagsgebäude in Berlin, https://www. bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2017/003-492714, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 312 Dass in der Fernsehübertragung während der Eröffnungsrede Lammerts immer wieder Versammlungsmitglieder der AfD eingeblendet wurden, verstärkte die Interpretation und den Effekt eines politischen Statements. Die Kameraführung kann dem Bundestagspräsidenten jedoch nicht zugerechnet werden. Entscheidend ist daher allein die Formulierung der Eröffnungsrede. 313 In dieser Rede am 17. Januar 2017 forderte Höcke eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Diese vielfach kritisierte Rede ist im Wortlaut wiedergegeben unter: Tagesspiegel-Redaktion (Hrsg.), Höcke-Rede im Wortlaut, „Gemütszustand eines total besiegten Volkes“, https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-gemuetszustand-einestotal-besiegten-volkes/19273518.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 314 Lammert trug u. a. wie folgt vor: „Die wirklich großen Herausforderungen können unter den Bedingungen der Globalisierung allesamt nicht mehr von den Nationalstaaten allein bewältigt werden. […] Das gilt gewiss für jedes einzelne Land in Europa, aber auch für unser großes Partnerland jenseits des Atlantiks, in dem vor wenigen Wochen ein vom Volk direkt gewähltes Staatsoberhaupt zugleich die Regierungsverantwortung übernommen hat. Jeder Versuch, diese Herausforderungen je einzeln zu bewältigen, schafft mindestens so viele neue Probleme, wie damit angeblich gelöst würden.“ Diese klare politische Aussage Lammerts wird seitens der AfD politisch bestritten und auch in der folgenden Aussage Lammerts ist in der Gesamtbetrachtung des politischen Kontextes, mit einem massiven Erstarken der rechtspopulistischen AfD zum damaligen Zeitpunkt, ein Bezug zur AfD sowie eine gleichzeitige politische Botschaft zu sehen: „Wir Europäer werden nur durch das Teilen von Souveränität einen möglichst großen Rest von dem bewahren können, was früher die Nationalstaaten mit Erfolg reklamierten und heute allenfalls rückwärtsgewandte Zeitgenossen irrig für sich beanspruchen, nämlich unabhängig von anderen die eigenen Angelegenheiten selbstständig regeln zu können. Deshalb brauchen wir die Union der europäischen Staaten.“
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öffnungsrede vor den versammelten Mitgliedern der Bundesversammlung als eine Art Negativwerbung für den Kandidaten der AfD gedeutet werden konnte.315 Die in § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT normierte Neutralitätspflicht für den Bundestagspräsidenten soll verhindern, dass der Sitzungsleiter sein Leitungsrecht in der Bundesversammlung, der große öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, zu politischen Zwecken missbraucht.316 Die nach Eröffnung der Bundesversammlung am Beginn stehende Begrüßungsansprache ist Teil der Verhandlungsleitung und die einzige mündliche Einlassung vor dem Wahlakt. Sie ist damit bereits von dem Neutralitätsgebot umfasst.317 In einer parteiischen Rede könnte eine Beeinflussung der Bundesversammlungsmitglieder gesehen werden, die die Wahlchancen einzelner Kandidaten mindert oder erhöht – und im Falle einer Wahl des zuvor Kritisierten könnte gleichzeitig das Ansehen und die Autorität des Bundespräsidentenamtes insgesamt beschädigt werden.318 Die Eröffnungsrede muss daher im Einklang mit dem Neutralitätsgebot stehen und ist nicht frei von zu beachtenden Grenzen. Es könnte eine Vergleichbarkeit mit der durch das Bundesverfassungsgericht als zulässig beurteilten Bezeichnung von NPD-Angehörigen als „Spinner“ durch den parteilosen Bundespräsidenten Joachim Gauck gegeben sein.319 Dies ist aber zu verneinen. Das Amt des Bundespräsidenten stellt ein politisches Amt dar, woraus politische Freiräume resultieren, während die Sitzungsleitung der Bundesversammlung durch den Bundestagspräsidenten ein rein verwaltungstechnisches Amt darstellt, sodass für die Sitzungsleitung ein strengerer Maßstab als für das politische Amt des Bundespräsidenten gelten muss. So hat auch das Bundesverfassungsgericht betont, dass an andere Staatsorgane strengere Anforderungen zu stellen sind als an das Bundespräsidentenamt.320 315 So auch: Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/ lammerts-eroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 316 Vgl. auch Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/ lammerts-eroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 317 Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammertseroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 318 Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammertseroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 319 Vgl. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. 6. 2014: BVerfGE 136, 323, 336 ff. 320 BVerfGE 136, 323, 324 f. Vgl. auch BVerfGE 133, 100, 100 ff.
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Aus dem in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierten Ausspracheverbot ergibt sich ferner die Festlegung des Verfassungsgebers, dass die Bundesversammlung, anders als der Bundestag, als Wahlgremium gerade kein politisches Forum ist, in dem politische Argumente ausgetauscht und hitzige Debatten geführt werden. Daher wird die Grenze des Neutralitätsgebotes des Sitzungsleiters dann überschritten, wenn die Äußerungen als parteiisch wertend und unmissverständlich als Kritik an einem oder mehreren zur Wahl stehenden Kandidaten verstanden werden müssen. In diesem Fall könnte der Kritisierte den starken Wunsch auf eine Gegenrede verspüren, weil er sich persönlich angegriffen fühlt. Das ist ihm jedoch aufgrund des grundgesetzlich normierten Ausspracheverbots vor der Wahl verwehrt. Da eine parteiische Rede durch einen zur Neutralität Verpflichteten einen wertenden Bezug zu einzelnen zur Wahl stehenden Kandidaten herstellt, ist eine solche Ansprache als vom Ausspracheverbot umfasst anzusehen. Ort solcher Debatten ist der Bundestag und nicht die Bundesversammlung. Eine parteiische Rede des Bundestagspräsidenten in der Bundesversammlung verletzt daher zum einen die Neutralitätspflicht und stört die verfassungsrechtlich austarierte Struktur innerhalb der Verfassungsinstitutionen.321 Ein solcher Verstoß des Sitzungsleiters kann auch nicht damit abgeschwächt werden, dass eine Beeinflussung aufgrund der gefestigten Überzeugung der Mitglieder unwahrscheinlich und deshalb möglicherweise noch nicht die Erheblichkeitsschwelle aus Art. 54 GG überschritten sei, da die Mitglieder trotz der politischen Eröffnungsrede frei in ihrer Wahlentscheidung blieben. Mit dieser Argumentation läge lediglich ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT, aber (noch) keine Verletzung des verfassungsmäßig garantierten freien Wahlrechts der Bundesversammlungsmitglieder aus Art. 54 GG vor.322 Zum einen handelt es sich bei der Frage der gefestigten Überzeugung der Mitglieder um eine bloße, nicht überprüfbare Vermutung. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Mitglieder der Bundesregierung zutreffend festgestellt, dass diese als Inhaber eines Regierungsamtes schon dann ihr Neutralitätsgebot verletzen, wenn sie am politischen Meinungskampf teilnehmen, insbesondere im Falle eines Rückgriffs auf die mit dem Regierungsamt verbundene Autorität und die damit verbundenen Möglichkeiten.323 Parallel hierzu ist eine parteipolitische Rede des Bundestagspräsidenten als Teilnahme am politischen Meinungskampf und damit als Verstoß gegen sein Neutralitätsgebot zu werten.
321 So im Ergebnis auch: Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungs blog.de/lammerts-eroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-derdas/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 322 So aber: Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/ lammerts-eroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 323 BVerfGE 138, 102, 102 ff.
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Art. 54 GG schützt gleichzeitig das freie Wahlrecht und die Chancengleichheit aller Bundespräsidentschaftskandidaten. Diese werden bei bewussten verbalen Angriffen verletzt. Durch eine solche politische Rede könnten Gräben aufgerissen werden, die die integrierende Aufgabe des späteren Bundespräsidenten erschweren. Für den Bundestagspräsidenten, der in seiner Funktion als Sitzungsleiter gerade nicht am politischen Meinungskampf teilnimmt, sind daher noch höhere Maßstäbe an seine Sitzungsleitung als beispielsweise zu Äußerungen von Bundesministern zu stellen. Die strenge politische Neutralitätspflicht der Leitung der Bundesversammlung ist Ausdruck dessen, dass es sich um ein verwaltungstechnisches und nicht um ein politisches Amt handelt. Im Bundestag darf sich der Bundestagspräsident politisch nur in seiner gleichzeitigen Funktion als Abgeordneter im Plenum und dann auch nicht vom Sitzplatz des Bundestagspräsidenten äußern. Dies bleibt ihm in seinem Amt als Bundestagspräsident verwehrt, unabhängig davon, ob mit der Rede eine wichtige Debatte angestoßen wird. Daraus folgend ist dem Sitzungsleiter der Bundesversammlung erst recht keine Möglichkeit für eine politische Äußerung eröffnet.324 Es ist ein Vergleich zum Bundeswahlleiter – der zwar Beamter, hingegen weder Vorsitzender eines Verfassungsorgans noch ein vom Volk gewählter Abgeordneter ist – zu ziehen, der ebenfalls keine politische Äußerung oder eine Wahlempfehlung abgeben darf. Insoweit kann sich der Bundestagspräsident als Teil der Staatsgewalt nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG berufen. Da es dem Bundestagspräsidenten verwehrt ist, seine politische Position und seine Grundüberzeugungen in seiner Funktion als Wahlleiter der Bundesversammlung zu äußern, hat Leuschner exemplarisch aufgeführt, mit welchen Inhalten der Bundestagspräsident seine Eröffnungsrede der Bundesversammlung füllen darf: „historische Abrisse, Aufgaben und Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten beschreiben, die verfassungsrechtliche Lage und ihre Gründe darlegen, insbesondere etwa die zur indirekten Wahl des Bundespräsidenten. Er könnte auch allgemein verfassungsrechtlich garantierte Staatsstrukturprinzipien erörtern, wohl vor allem das Demokratieprinzip.“325
Schwierig ist eine Abgrenzung zu dem die Neutralitätspflicht verletzenden politischen Statement, wenn es um die Betonung und Interpretation von Verfassungsprinzipien geht. Ausführungen und Erinnerungen im Rahmen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung und ein Hervorheben ihrer Strukturen stellen per se 324 Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammertseroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 325 Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammertseroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023.
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kein parteiisches Statement dar. Wer sich für die Demokratie einsetzt, ergreift nicht Partei. Ein Statement gegen die NPD kann nicht als eine Verletzung der Neutralitätspflicht betrachtet werden, wenn sie keinen Kandidaten aufgestellt und das Bundesverfassungsgericht die NPD für verfassungsfeindlich erklärt hat, sie aber wegen ihrer fehlenden Erfolgsaussichten einer Umsetzung der verfassungsfeindlichen Ziele nicht nach Art. 21 Abs. 2 GG verboten hat.326 Denn im Fall einer für verfassungsfeindlich erklärten Partei ist im Sinne der Verteidigung der Demokratie eine Parteinahme möglich und verletzt nicht das Parteienprivileg nach Art. 21 GG. In allen anderen Fällen verbietet sich eine solche. Das verfassungsrechtliche Leitbild der wehrhaften Demokratie ist darauf beschränkt, verfassungswidrige Bestrebungen abzuwehren, sodass beispielsweise Äußerungen, die die Weltpolitik und die Weltwirtschaft betreffen – mangels einer eindeutig vorgeschriebenen Wirtschaftsordnung im Grundgesetz –, nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern unzulässig wären.327 Unzulässig und nicht mit dem Neutralitätsgebot vereinbar sind ferner Aussagen, die für den verständigen Zuhörer Kritik an einer Person oder Partei üben, deren Namen zwar nicht genannt werden, die jedoch aus dem Gesagten heraus eindeutig identifizierbar sind. Solche Ausführungen überschreiten die Grenze einer neutralen Darstellung. Dabei besteht die Gefahr, dass Grenzen sukzessive überschritten werden und spätere Bundestagspräsidenten mit dem Hinweis auf die ohne kritische Reaktion gebliebene Eröffnungsrede gleichfalls das Neutralitätsgebot hintenanstellen.328 Bezugnehmend auf die eingangs aufgeworfene und in der Fußnote ausschnittsweise wiedergegebene Eröffnungsrede Lammerts bei der Bundesversammlung 2017 hat dieser mit seiner Formulierung von „rückwärtsgewandten Zeitgenossen“ seine politische Position und Grundüberzeugung zum Ausdruck gebracht. Insgesamt hat Lammert eine klare politische Gegenrede zu aufkommenden nationalistischen Bestrebungen in Deutschland gehalten – auch im Vergleich zu seiner Eröffnungsrede in 326 BVerfGE 107, 339, 339 ff.: Die NPD „strebt nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Anhänger die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an. Sie zielt auf eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären „Nationalstaat“. Dieses politische Konzept missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen Volksgemeinschaft nicht angehören, und ist mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip unvereinbar. (…) Es fehlt jedoch an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt.“ 327 Das deutsche Grundgesetz lässt formal jede Wirtschaftsordnung zu, sofern diese das Grundgesetz und insbesondere die Grundrechte beachtet. Daher wären sowohl eine voll entwickelte und dauerhafte Zentralverwaltungswirtschaft ebenso wie eine freie Marktwirtschaft ohne staatliche Regularien und sozialpolitische Absicherungen ausgeschlossen. 328 So Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammertseroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023, der ebenfalls – trotz aller politischer Sympathien – im Falle des Hinwegsehens über einen solchen Verstoß die Gefahr sieht, dass das Gebot der Neutralität in späteren Eröffnungsreden immer weiter umgangen werden könnte.
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der Bundesversammlung 2012. Dies musste im Kontext der Ausführungen zur deutschen Politik als indirekte, aber unmissverständliche Missbilligung der AfD und ihres Kandidaten verstanden werden, sodass die Rede in ihrer Schärfe eine Verletzung der Neutralitätspflicht darstellt. Zugleich wurden das freie Wahlrecht und die Chancengleichheit des AfD-Kandidaten Albrecht Glaeser verletzt. Aufgrund der großen Relevanz der Bundesversammlung ist nicht zu befürchten, dass eine strenge Auslegung der Neutralitätspflicht dazu führt, dass die Bundesversammlung zu einer inhaltsleeren Versammlung mit der nur noch technischen Funktion der Wahl verkommt. Im Ergebnis ist es dem Sitzungsleiter nicht gänzlich verwehrt, aktuelle politische Fragestellungen anzusprechen. Dennoch ist eine Grenzziehung auch unter dem Aspekt starker verfassungsrechtlicher Institutionen wichtig. 3. Die Vorgehensmöglichkeiten gegen den Sitzungsleiter Wie die Ausführungen zeigen, sind verschiedene Situationen denkbar, in denen der Sitzungsleiter in der Bundesversammlung gegen die selbst gegebene Geschäftsordnung der Bundesversammlung verstößt, die Neutralitätspflicht durch seine Eröffnungsrede verletzt oder beispielsweise eine Bundesversammlung schon weit vor dem Ablauf der Wahlperiode mit dem Ziel einberuft, die aktuelle Mehrheitskonstellation für die kommende Wahl zu „sichern“. Die Frage, wer Entscheidungen des Versammlungsleiters kontrolliert, war bereits Gegenstand der mündlichen Verhandlung des vom Bundesverfassungsgericht 2014 entschiedenen Organstreitverfahrens.329 a) Die ermessensfehlerhafte Einberufung Eine aus Sicht der Versammlungsmitglieder ermessensfehlerhaft – beispielsweise die gesetzlichen Fristvorgaben missachtende – einberufene Bundesversammlung kann von deren Mitgliedern nicht verhindert werden, da die Bundesversammlung erst nach ihrer Konstituierung Beschlüsse fassen kann. Ferner weist das Grundgesetz in Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG die Zuständigkeit der Einberufung nebst vorbereitender Maßnahmen gemäß §§ 1, 4 Abs. 6 BPräsWahlG ausdrücklich dem Bundestagspräsidenten zu. Eine Entbindung des Sitzungsleiters von der Festlegung des Einberufungstermins ist nicht möglich. Eine durch das Grundgesetz zugewiesene Zuständigkeit kann gemäß Art. 79 Abs. 2 GG nur mit einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit der Mitglieder von Bundestag und Bundesrat geändert werden – und ist daher der Entschei329 Vgl. Knapp, Nach Klage der NPD Wahl des Bundespräsidenten auf dem Prüfstand, Tagesspiegel, 11. 2. 2014, https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-klage-der-npd-wahl-desbundespraesidenten-auf-dem-pruefstand/9466752.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023.
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dungskompetenz der Bundesversammlung entzogen. Gleiches gilt für Bestimmungen des Bundespräsidentenwahlgesetzes, für das der Bundestag die Gesetzgebungskompetenz innehat. Somit kann die Bundesversammlung in diesen Fällen nur im Nachhinein eine Rechtsverletzung des Sitzungsleiters im Rahmen eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht rügen. b) Das Recht von Wahl und Abwahl des Bundestagspräsidenten durch den Bundestag Während sich für die Bundesversammlung die Frage nach der Möglichkeit einer Abwahl des Bundestagspräsidenten – soweit ersichtlich – in der Praxis noch nicht gestellt hat, gab es bereits zwei diesbezügliche Situationen im Deutschen Bundestag: 1949 wurde ein Misstrauensantrag im Bundestag gegen den Bundestagspräsidenten an den Geschäftsordnungsausschuss überwiesen.330 Dabei wurde festgestellt, dass weder ein Misstrauens- noch ein Missbilligungsantrag gegen ein Mitglied des Präsidiums331 i. S. v. § 5 GO-BT zulässig sei.332 Ebenfalls als unzulässig angesehen und eine Abstimmung hierüber verweigert wurde 1950 ein Antrag im Bundestag, wonach der Bundestagspräsident sein Amt zur Verfügung stellen sollte.333 Auf Länderebene kam es im Mai 1997 zu einer Rücktrittsaufforderung durch mehrere Berliner Abgeordnete an den Präsidenten im Berliner Abgeordnetenhaus, der dieser jedoch nicht nachkam.334 Weder für den Bundestag noch für die Bundesversammlung sieht eine verfassungsrechtliche Norm oder ein davon abgeleitetes Gesetz eine Abwahl des Bundestagspräsidenten oder seiner Stellvertreter beziehungsweise die Wahl eines neuen Leiters ausdrücklich vor.335 Gegebenenfalls könnte durch die Geschäftsordnung des 330 1. Wahlperiode, 11. Sitzung vom 30. September 1949. Abrufbar unter: Deutscher Bundestag (Hrsg.), 1. Wahlperiode, 11. Sitzung vom 30. 9. 1949, http://dipbt.bundestag.de/doc/ btp/01/01011.pdf, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 331 Das Präsidium besteht aus dem Bundestagspräsidenten sowie den Vizepräsidenten, in der Regel je einem aus den im Bundestag vertretenen Fraktionen. 332 Vgl. dazu Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 144 f.; Wermser, Der Bundestagspräsident, 1984, S. 22; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 153. Missbilligungsanträge gegen den Reichstagspräsidenten wurden in der Weimarer Republik hingegen als zulässig angesehen und ein entsprechender Antrag am 22. Juli 1924 im Reichstag gestellt, der jedoch ohne Aussprache zur Abstimmung gestellt und dann abgelehnt wurde. Vgl. Sperling, Die Befugnisse des Reichstagspräsidenten, 1929, S. 10. 333 Vgl. dazu 1. Wahlperiode, 47. Sitzung vom 16. März 1950. Abrufbar unter: Deutscher Bundestag (Hrsg.), 1. Wahlperiode, 47. Sitzung vom 16. 3. 1950, http://dipbt.bundestag.de/doc/ btp/01/01047.pdf, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023; Wermser, Der Bundestagspräsident, 1984, S. 22. 334 Vgl. Der Tagesspiegel Nr. 15994 v. 30. 5. 1997, S. 1 und 11; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 153. 335 Vgl. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 144. Einige Bundesländer sehen hingegen eine Abwahl des Landtagspräsidenten ausdrücklich vor. Vgl. Art. 69 Abs. 2
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Bundestages, die gemäß § 8 S. 2 BPräsWahlG sinngemäß für die Bundesversammlung Anwendung finden kann, eine solche Möglichkeit eröffnet sein. aa) Regelungen in der Geschäftsordnung des Bundestages Der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter werden gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT vom Bundestag für die gesamte Wahlperiode des Deutschen Bundestages gewählt.336 Mangels einer weitergehenden Regelung wird vereinzelt daraus gefolgert, dass der Bundestagspräsident – außer durch eigenen freiwilligen Rücktritt – vom Bundestag nicht abgesetzt werden könne.337 Dies wird mit dem besonderen Charakter des „gerecht und unparteiisch“ auszuübenden Amtes i. S. v. § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT sowie mit dem Eigenschutz – um die Aufgabe als Schiedsrichter und Schützer der Minderheiten im Parlament zu gewährleisten – begründet, sodass selbst zu missbilligende Entscheidungen für den Bundestagspräsidenten folgenlos blieben.338 Aus der Regelung des § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT, der Wahl für die Dauer der Wahlperiode, kann jedoch nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass damit eine Abwahl gänzlich ausgeschlossen wurde. Diese Bestimmung regelt nur den störungsfreien Normalfall. Da das Plenum des Bundestages und dessen Vorsitzender, der Bundestagspräsident, die Sitzungsgewalt lediglich kraft Übertragung durch das Parlament in eigener Verantwortung und unparteiisch gemäß § 7 GO-BT i. V. m. §§ 36 ff. GO-BT ausübt,
LV Brandenburg, Art. 29 Abs. 2 LV Mecklenburg-Vorpommern, Art. 18 Abs. 4 LV Niedersachsen, Art. 49 Abs. 5 LV Sachsen-Anhalt. 336 Die Wahl des Präsidenten des Bundestages findet in der ersten Sitzung des neu gewählten Bundestages statt, der gem. § 2 Abs. 2 S. 1 GO-BT von der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederanzahl i. S. v. Art. 121 GG gewählt wird. Vgl. Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 152 m. w. N. 337 So bspw. Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 27, Rn. 3 f., S. 795 f., der dies historisch mit dem Verweis auf die Geschäftsordnung begründet. So wären in der Geschäftsordnung des Reichstages des Norddeutschen Bundes sowie in der Geschäftsordnung der Nationalversammlung vom 6. Februar 1919 der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter zunächst nur für vier Wochen und danach für die übrige Dauer gewählt worden. Hingegen hätte bereits die Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922 in § 14 normiert, dass der Präsident für die gesamte Dauer der Legislaturperiode gewählt worden sei. Der Bundestag habe sich dieser Entscheidung angeschlossen, sodass aus dieser historischen Entwicklung auf eine Unabsetzbarkeit des Präsidenten während einer Wahlperiode zu schließen sei. Daher seien Abwahl und Misstrauensantrag unzulässig. Zum Meinungsstand siehe Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 657 – 660. 338 Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 152 f. m. w. N.
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muss das Parlament dieses übertragene Recht aus dem actus contrarius-Gedanken auch widerrufen können.339 Dies überzeugt, weil der Bundestagspräsident gemäß § 7 Abs. 1 GO-BT den Bundestag vertritt, die Geschäfte regelt und „die Würde und die Rechte des Hauses wahrt“, sodass er als „symbolische und offizielle Personifizierung des Parlaments“ auftritt.340 bb) Intentionen des Gesetzgebers und demokratische Grundsätze Aus diesem Gedanken heraus wird nach verbreiteter Auffassung auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung eine Abwahl des Bundestagspräsidenten für möglich gehalten.341 Eine Abwahlmöglichkeit entspricht grundlegenden demokratischen und parlamentarischen Grundsätzen und folgt aus dem Selbstorganisationsrecht des Bundestages sowie aus der Parlamentsautonomie. Deshalb folgt aus der imperativen Formulierung in Art. 40 Abs. 1 GG, wonach der Bundestag seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter „wählt“, zum einen die Verpflichtung, einen Präsidenten zu wählen, gleichzeitig folgt hieraus auch die Autonomie des Parlamentes und das Recht, sich selbst zu organisieren und zu verwalten.342 Die Entscheidungsfreiheit über den organisatorischen Vorsitz ist somit Ausdruck der Souveränität und Unabhängigkeit der parlamentarischen Körperschaft.343 Demnach besteht für die Bundesversammlung auch ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung aufgrund demokratischer Grundsätze die Möglichkeit, den Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter abzuwählen. Ein Bundestagspräsident im Amt, der nicht das Vertrauen mindestens der überwiegenden Mehrheit des Hauses besitzt, wäre ein parlamentarisch unhaltbarer Zustand. Daher sollte der Bundestagspräsident in diesem Fall auch aus eigenem Interesse – wie in der Vergangenheit
339 So auch: Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 9. 340 Vgl. BVerfGE 1, 115 f.; Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 146 f. Konsequenterweise ist deshalb der Bundestagspräsident und nicht der Bundestag in einem Organstreitverfahren über den Umfang der Rechte des Bundestages hinsichtlich seiner Sitzungsgewalt Antragsgegner, der gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT ein durch die Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestatteter anderer Beteiligter i. S. v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfG ist. So auch: BVerfGE 84, 320, 320 f.; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 154 m. w. N. 341 Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 110 f.; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 153 m. w. N. 342 Vgl. Bücker, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 27, vor Rn. 1, S. 795. 343 So auch: Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 68.
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geschehen344 – zurücktreten, um keinen ernsthaften Konflikt zwischen sich und dem Haus zu entfachen.345 Vielfach wird die Abwahl jedoch beschränkt im Sinne eines konstruktiven Misstrauensvotums, sodass diese nur durch die gleichzeitige Wahl eines neuen Präsidenten möglich sein soll.346 Diese Einschränkung überzeugt jedoch nicht: Die Intention des Gesetzgebers beim konstruktiven Misstrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 GG war – mit Blick auf die Weimarer Zeit – die Vermeidung einer „kanzlerlosen“ Zeit. Anders als der nicht vom Parlament gewählte Vizekanzler sind die Vizepräsidenten des Bundestages demokratisch legitimiert. Zudem zeigt die Vertretungsregelung durch den Alterspräsidenten gemäß § 1 Abs. 2 GO-BT, dass dieser so lange das Amt führt, bis ein neugewählter Präsident oder einer seiner Stellvertreter die Sitzungsleitung übernimmt. Auch wenn ein neuer Bundestagspräsident ausdrücklich gewählt werden muss und kein Vizepräsident automatisch zum Bundestagspräsidenten aufrückt, wird damit deutlich, dass das Präsidium durch die Vizepräsidenten – in der Anzahl der Fraktionen – im Bundestag arbeitsfähig bleibt. c) Die Übertragbarkeit der Abwahlmöglichkeit auf die Bundesversammlung und das Recht zur Bestimmung eines neuen Versammlungsleiters Klarheit besteht zunächst darin, dass es bei einer möglichen Übertragbarkeit des gefundenen Ergebnisses auf die Bundesversammlung nur um eine zulässige Abwahl des Bundestagspräsidenten hinsichtlich seiner Sitzungsleitung der Bundesversammlung gehen kann. Die Sitzungsleitung im Bundestag wird hierdurch nicht tangiert. Mit den Argumentationslinien des Bundesverfassungsgerichts – wonach die Bundesversammlung kein „klassisches“ Parlament sei und dem Präsidenten des Bundestages als Leiter der Bundesversammlung für die Bewahrung der „zeremoniellen, symbolischen Bedeutung des Wahlakts“ weitgehende Befugnisse zustünden, die nur durch sachfremde Erwägungen beschränkt seien347 – wäre eine Abwahlmöglichkeit des Bundestagspräsidenten als Versammlungsleiter zu verneinen.348 344 Erich Köhler (CDU) am 10. Oktober 1950, Eugen Gerstenmaier (CDU) am 24. Januar 1969, Rainer Barzel (CDU) am 25. Oktober 1984 und Philipp Jenninger (CDU) am 11. November 1988. 345 Vgl. Wermser, Der Bundestagspräsident, 1984, S. 22; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 153. Siehe auch Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 111, die zur Vermeidung von Unsicherheiten und Streitigkeiten für eine explizit normierte Abwahlmöglichkeit in der Geschäftsordnung am Beginn einer Wahlperiode plädieren. 346 Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 153 m. w. N. 347 Vgl. BVerfGE 136, 277, 317 f.; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3 sowie Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 38 und Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Pehle, Wel-
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Eine solche Auslegung verkennt jedoch, dass auch der Bundesversammlung, jedenfalls in Teilen, ein Selbstorganisationsrecht zusteht. So ergibt sich aus dem Recht des § 8 BPräsWahlG, sich eine eigene Geschäftsordnung geben zu können, auch die Möglichkeit, mit einfachem Mehrheitsbeschluss die sinngemäße Anwendung entsprechender Normen aus der Geschäftsordnung des Bundestages in veränderter Form zu übertragen. Auch nach einem Beschluss über die sinngemäße Anwendung kann gemäß § 126 GO-BT im Einzelfall mit einer Zweidrittelmehrheit von der beschlossenen Geschäftsordnung abgewichen werden. Für den Bundestag differenziert § 1 GO-BT zwischen dem „bisherigen Präsidenten“, der den neugewählten Bundestag einberuft, und dem „neugewählten Präsidenten“. Das Bundespräsidentenwahlgesetz hingegen spricht ausschließlich vom „Präsidenten des Bundestages“ (vgl. §§ 1, 8 BPräsWahlG). Die Wahl des Präsidenten ist gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 GO-BT ein elementares Recht des Deutschen Bundestages. Anders als im Bundestag ist in der Bundesversammlung weder eine Wahl der Sitzungsleitung vorgesehen, noch wird der Bundesversammlung ein gesetzliches Vorschlagsrecht hierfür zugebilligt. Stattdessen ergibt sich die Sitzungsleitung aus dem Bundespräsidentenwahlgesetz. Daher greift für die Bundesversammlung auch nicht der im Bundestag anzuwendende actus contrarius-Gedanke, wonach auch die Abwahl möglich sein muss, die nach den gleichen Regeln wie bei einer Wahl zu erfolgen hat. Zwar zeigt die Formulierung in § 8 S. 1 BPräsWahlG, wonach der Präsident des Bundestages die Sitzungen und Geschäfte der Bundesversammlung leitet, den einfachen gesetzgeberischen Willen, dass die Bundesversammlung über die Person der Sitzungsleitung im Regelfall nicht entscheiden soll und verweist in § 8 S. 2 BPräsWahlG nur darauf, dass auf den Geschäftsgang die Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß Anwendung finden kann. Es wird jedoch kein Bezug auf die Person der Sitzungsleitung oder auf die Wahl des Präsidenten nach § 2 GO-BT genommen. Diese gesetzlich abweichenden Regelungen zwischen Bundestag und Bundesversammlung zeigen, dass eine Kompetenz über die Entscheidung der Sitzungsleitung der Bundesversammlung nicht gänzlich entzogen wird. Die Mitglieder der Bundesversammlung können bereits auf den Ablauf der Bundesversammlung Einches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 323. 348 Auf die in der mündlichen Verhandlung angerissene Frage, wer Entscheidungen des Versammlungsleiters kontrollieren könne, wenn dieser ein Diskussionsverbot in der Bundesversammlung verhängt habe, führte das Bundesverfassungsgericht im Urteil – insofern konsequent – aus, dass die Bundesversammlung keine Kontrolle über den Versammlungsleiter ausüben könne. Vgl. BVerfGE 136, 277, 320; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Knapp, Nach Klage der NPD Wahl des Bundespräsidenten auf dem Prüfstand, Tagesspiegel, 11. 2. 2014, https://www.tages spiegel.de/politik/nach-klage-der-npd-wahl-des-bundespraesidenten-auf-dem-pruefstand/ 9466752.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023.
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fluss nehmen, indem sie sich eine Geschäftsordnung geben und einen Wahlvorstand wählen.349 Diese Kompetenz wird durch den Verfassungsgrundsatz der Autonomie der Bundesversammlung dergestalt erweitert, auch den Versammlungsleiter abweichend von den einfachgesetzlichen Nominierungen im Bedarfsfall selbst neu zu bestimmen, den gesetzlich vorgegebenen Sitzungsleiter abzuwählen, das heißt eine ex nunc wirkende Abwahl des Bundestagspräsidenten zu beschließen, und stattdessen einen Stellvertreter oder jemanden aus der Mitte der Bundesversammlung zum Sitzungsleiter zu wählen. Dies würde keine Umgehung der für den Regelfall gegebenen gesetzlichen Vorgaben bedeuten. Der Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ steht aufgrund der Autonomie, die mit Verfassungsrang einem Bundesgesetz vorgeht, eine eigene Entscheidung über die Person der Sitzungsleitung zu, insofern kommt hier der parlamentsähnliche Teil der Bundesversammlung zum Tragen.350 Da die Bundesversammlung ihre Autonomie erst nach der Konstituierung erlangt, können die gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG mit der Wahl des Bundespräsidenten betrauten Mitglieder die Sitzungsleitung der Bundesversammlung mit einfachem Mehrheitsbeschluss erst abwählen, sich auf einen anderen Leiter einigen oder einen der Bundestagsvizepräsidenten an dessen Stelle treten lassen,351 nachdem die Einberufung gemäß § 1 BPräsWahlG und auch die Sitzungs- und Geschäftsleitung der Bundesversammlung gemäß § 8 BPräsWahlG (zunächst) in der Hand des Bundestagspräsidenten lag. Bis zur Konstituierung greift die gesetzliche Regelung, dass die organisatorische Vorbereitung und Durchführung nicht beim Organ der Bundesversammlung, sondern ausschließlich beim Präsidenten des Bundestages angesiedelt sind.352 Da jedoch gewährleistet bleiben muss, dass jedenfalls eine für die Sitzungsleitung befugte Person verbleibt, ist eine Abwahl der Sitzungsleitung nur mit einer gleichzeitigen Wahl eines neuen Sitzungsleiters zulässig.353 Auch diese Ein-
349 Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. Diese Rechte leiten sich aus dem auf Grundlage von Art. 54 Abs. 7 GG erlassenen § 8 S. 2 BPräsWahlG ab. 350 Nimmt die Bundesversammlung diese eigene Entscheidung über die Sitzungsleitung für sich in Anspruch, so wäre eine Abwahl gleich nach der Konstituierung oder auch sonst zu jedem Zeitpunkt vor Beginn der eigentlichen Wahlhandlung denkbar. Hierüber wäre als parlamentsähnlicher Teil eine Aussprache als ein möglicher (neuer) Tagesordnungspunkt möglich. Eine solche Aussprache vor dem Beginn des Wahlprozedere verstößt insbesondere nicht gegen Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG, wie die weiteren Ausführungen zum Umfang des Ausspracheverbots noch zeigen werden. Soweit die Bundesversammlung jedoch schon in das Wahlprozedere ohne Aussprache eingetreten ist, kann ein gegebenenfalls vorher ausgelöstes Verhalten des Bundestagspräsidenten nur noch nachträglich sanktioniert werden. 351 So auch Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 7. 352 Ein mögliches Fehlverhalten des Bundestagspräsidenten als Auslöser einer Abwahl kann im Nachhinein im Rahmen eines Organstreitverfahrens untersucht werden. 353 Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 7. Vergleichbar dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler gemäß Art. 67 Abs. 1 GG.
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schränkung der konstruktiven Abwahl zeigt die Vergleichbarkeit mit dem Bundestag354 zu diesem Zeitpunkt im Ablauf der Bundesversammlung. Aufgrund der Neukonstituierung jeder Bundesversammlung ist es dieser selbst nicht möglich, für zukünftige Bundesversammlungen eine vom Bundespräsidentenwahlgesetz abweichende Entscheidung zu beschließen. Hierzu wären vom Bundesgesetzgeber Änderungen vorzunehmen.
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens Der Geschäftsgang des Wahlverfahrens nach der Konstituierung umfasst den Rahmen der Wahl, das heißt die der Wahl vor- und nachgelagerten Sitzungsabläufe von der Eröffnung bis zum Schließen der Bundesversammlung.
I. Die Ankündigung der Tagesordnung und Bestätigung durch Nichtwiderspruch Der Geschäftsgang der Bundesversammlung richtet sich nach der Tagesordnung, die vom Bundestagspräsidenten im Vorfeld der Einberufung festgelegt und an die Mitglieder versandt wird. Anders als im Bundestag, in der die vorher versandte Tagesordnung jeweils zu Beginn der Sitzung durch einen gesonderten Tagesordnungspunkt „Feststellung der Tagesordnung“ behandelt wird, ergeht über die Tagesordnung der Bundesversammlung kein gesonderter Beschluss.355 Vielmehr kommt die Tagesordnung nur dann explizit zur Sprache, wenn ein Widerspruch ergeht oder ein Antrag auf eine Änderung oder Erweiterung gestellt wird. Insoweit fasst die Bundesversammlung keinen ausdrücklichen Beschluss, sondern sie wird durch Nichtwiderspruch beziehungsweise durch eine rügelose Einlassung bestätigt.
II. Der Sitzungsablauf Im Rahmen des Sitzungsablaufes der 15. und 16. Bundesversammlung wurden durch entsprechende Anträge Rechtsfragen gestellt, die auch Untersuchungsge354 Gemeint ist das konstruktive Misstrauensvotum des Bundeskanzlers gem. Art. 67 Abs. 1 GG. 355 Vgl. die Sitzungsprotokolle der bisherigen Bundesversammlung: https://www.bundes tag.de/parlament/aufgaben/bundesversammlung/bundesversammlungen_seit_1949, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023.
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens
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genstand im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht waren.356 Neben Fragen der Geschäftsordnungsautonomie der Bundesversammlung wurden auch Fragen nach einem Vorstellungsrecht von (unbekannten) Kandidaten in der Bundesversammlung sowie nach einem generellen Rede- und Antragsrecht der Bundesversammlungsmitglieder aufgeworfen. 1. Die verfassungsrechtliche Bestimmung eines Ausspracheverbots (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG) Eine Aussprache impliziert nach dem Wortverständnis ein Aufeinandertreffen und/oder eine Darstellung von zumeist unterschiedlichen Positionen, für die durch eine sich anschließende Diskussion im Falle einer Klärung ein für alle Seiten zufriedenstellendes Ergebnis oder auch ein Kompromiss gefunden wird. Ausgangssituation für eine Aussprache sind demnach meist eine oder mehrere abweichende Meinungen. Eine solche Klärung oder Diskussion ist vom Ausspracheverbot umfasst. Wie bereits ausgeführt, verfolgt das für alle Wahlgänge in der Bundesversammlung geltende Ausspracheverbot den Zweck, zum einen das Amt, die Person und die Autorität des zukünftigen Bundespräsidenten aus politischen Debatten und aus einer möglicherweise unsachlichen Personaldiskussion herauszuhalten.357 Zum anderen verhindert es, dass die Bundesversammlung bei dem Wahlakt zu einem Forum parteipolitischer Kontroversen missbraucht und ihr Ansehen beschädigt wird.358 Damit dient das Ausspracheverbot nicht ausschließlich dem Schutz des Kandidaten und des Amtes des Staatsoberhauptes, sondern insbesondere auch der „Dignität des Kreationsaktes“.359 Eine Missachtung des Ausspracheverbots berührt nach allgemein geteilter Auffassung nicht die Wirksamkeit der sich anschließenden Wahl des Bundespräsidenten – parallel zu der Regelung des Art. 63 Abs. 1 GG. Damit wird aber die verfassungsrechtliche Vorgabe des Ausspracheverbots zu einer reinen Ordnungsvorschrift herabgestuft.360
356
Vgl. BVerfGE 136, 277, 277 ff. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 239; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 33, S. 1611. 358 Vgl. Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 325. 359 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 27, der auf die „Würde des Wahlakts“ abstellt, sowie Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 81. 360 So in Bezug auf Art. 63 Abs. 1 GG auch: Epping, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 63 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 17. 357
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2. Der Umfang dieses Ausspracheverbots Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Auffassung, dass sich der Umfang des Ausspracheverbots im Sitzungsablauf der Bundesversammlung umfassend sowohl auf die Personal- und Sachdebatte als auch auf die Kandidaten selbst erstrecke.361 Diese Interpretation hat zur Folge, dass sich das Ausspracheverbot sowohl auf den Kern als auch auf den Rahmen, die Rahmenhandlungen der Bundespräsidentenwahl, bezieht. Die Bundesversammlung ist auch hinsichtlich ihrer Zusammensetzung ein „Organ mixtum compositum“ aus hälftig Bundestagsabgeordneten und hälftig von den Länderparlamenten Gewählten. Soweit diese Gewählten einem parlamentarischen Gremium entstammen, muss ihnen ein Debatten-, Antrags-, Rede- und Diskussionsverbot besonderes befremdlich vorkommen. Gerade die Demokratie lebt von einer Debattenkultur, vom Meinungsaustausch, was sich durch alle parlamentarischen Gremien zieht und sich in fast allen gesellschaftlichen Schichten durchgängig widerspiegelt. Nur dort, wo dies ausdrücklich ausgeschlossen oder notwendig ist, kann und muss darauf verzichtet werden. Es ist einer Demokratie und damit ihrer Organe, wie der Bundesversammlung, deshalb immanent, diese Grundpfeiler einer Meinungs- und Beschlussfindung an all den Stellen im Ablauf der Wahlhandlung zu praktizieren und einzusetzen, wo immer dies möglich ist. Dies bedeutet, dass nur dann der würdevolle Ablauf beeinträchtigt, das Amt oder ein Kandidat beschädigt werden kann, wenn der engere Kern, die Wahlhandlung als solche betroffen ist. In den anderen Bereichen des Wahlumfeldes ist dem Wesen von Parlamentarismus und Demokratie Rechnung tragend das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG einschränkend und nicht extensiv – wie es das Bundesverfassungsgericht meint – auszulegen. Ausgeschlossen ist demnach nur eine Aussprache nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG soweit diese die (konkrete) Wahlhandlung im eigentlichen, im engeren Sinne betrifft. Dieses Ergebnis des Ausspracheverbots wird in den folgenden Untersuchungen als Auslegungsmaxime zugrunde zu legen sein. a) Hinsichtlich einer Aussprache über die zur Wahl stehenden Kandidaten Dem Bundesverfassungsgericht ist zuzustimmen, dass sich das Ausspracheverbot auf die Kandidaten erstreckt, denn dies betrifft den Kern der Wahl. Dieses Verbot umfasst beispielsweise Debatten im Plenum über die Eignung und die Person des Kandidaten. Ein solcher Meinungsaustausch, jegliche politische Positionierung und Aussprache ist vom Verbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG uneingeschränkt umfasst. Diese „Auseinandersetzung“ im Plenum unmittelbar vor dem Wahlakt selbst wäre verfassungswidrig und somit zu untersagen. 361
Vgl. BVerfGE 136, 277, 315.
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens
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Dies betrifft jedoch nicht eine kritische Auseinandersetzung mit den Kandidaten in anderen Gremien, in der Öffentlichkeit oder in der Presse im Vorfeld der Bundesversammlung.362 Diese ist von der Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt. Somit auch denkbar und nicht ausgeschlossen erscheint eine öffentliche Debatte außerhalb der Versammlung.363 Denn diese tangiert nicht direkt den Kern, die unmittelbar bevorstehende Wahlhandlung. Auch eine Verständigung der Versammlungsmitglieder, meist fraktionsintern, ist in gesonderten Räumlichkeiten selbst zwischen den Wahlvorgängen zulässig.364 Ebenso wenig verstößt die vielfach übliche vorherige „Probeabstimmung“ in den Fraktionsräumen gegen das Ausspracheverbot.365 b) Hinsichtlich einer organisatorisch-technischen Sachdiskussion Der Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG bezieht das Ausspracheverbot in der Bundesversammlung – entsprechend der erarbeiteten Auslegungsmaxime – nur auf den Wahlakt selbst. Auch die Formulierung „wird ohne Aussprache gewählt“ legt dies nahe. Das Ausspracheverbot ist nicht dahingehend gefasst, dass die Bundesversammlung gänzlich ohne Aussprache zusammentritt beziehungsweise tagt. Entgegen der bundesverfassungsgerichtlichen Auffassung sind daher organisatorisch-technische Sachdiskussionen im Plenum – da sie nicht den Wahlakt selbst, sondern nur den Rahmen betreffen – nicht vom Ausspracheverbot umfasst.366 Auch handelt es sich hierbei, entsprechend der obigen Definition einer Aussprache, gerade nicht um einen Meinungsaustausch über politische Positionen. Sachliche Anträge oder Stellungnahmen betreffen nicht die Person der Kandidaten oder die konkrete Handlung der Wahl selbst, sondern nur vor- oder nachgelagerte organisatorischtechnische Aspekte, somit nur den äußeren Rahmen des Wahlaktes. Hierzu gehören beispielsweise Fragen zur Geschäfts- und zur Tagesordnung oder solche Debatten, die nicht direkt vor dem oder während des Wahlaktes geführt werden und somit nicht
362 Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 40; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 33, S. 1611; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 573. Die absichtliche vollständige Vorverlagerung der rechtlichen und politischen Auseinandersetzung in das Vorfeld dient dazu, die Würde des Wahlvorgangs als auch die des Amtes zu schützen. Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 88. 363 Vgl. Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 1; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 245; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17. 364 Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 243. 365 Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 243 m. w. N. 366 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 64; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 22.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
die „Dignität des Kreationsaktes“, das Amt oder den würdevollen Wahlprozess tangieren.367 Dieses Auslegungsergebnis ändert sich auch nicht dadurch, dass vielfach in der Literatur das in Art. 63 Abs. 1 GG normierte Ausspracheverbot über den Personalvorschlag zur Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten auf Personal- und Sachfragen erstreckt wird.368 Das Ausspracheverbot des Art. 63 Abs. 1 GG erfüllt – wie oben gesehen – eine andere Funktion als das in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG. Aus dem Umkehrschluss der Regelungen von Art. 63 Abs. 3 und Abs. 4 GG, die kein Ausspracheverbot vorsehen, ergibt sich zudem, dass durch das Ausspracheverbot gemäß Art. 63 Abs. 1 GG vorrangig die Autorität des aktiv in die erste Wahlphase eingebundenen Bundespräsidenten und weniger die des Kanzlerkandidaten im Blickpunkt steht.369 Das Ausspracheverbot in Art. 63 Abs. 1 GG dient primär nur der Integritätsfunktion des präsidialen Vorschlags, der in diesem speziellen Fall Personalfragen und organisatorisch-technische Fragen mit umfasst.370 c) Hinsichtlich eines Rede- und Antragsrechts der Versammlungsmitglieder Im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wurde die Frage diskutiert, ob das Ausspracheverbot auch ein generelles Antragsrecht371 der Versammlungsmitglieder mit anschließender Aussprache unterbindet oder nur das Recht zur Begründung und Erläuterung der von ihnen gestellten Anträge372 mit anschließender Abstimmung untersagt. In der streitgegenständlichen Bundesversammlung wurden alle Anträge vom Bundestagspräsidenten unterbunden – mit Ausnahme der Zulassung von Wahlbe367
Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 27; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 98 f. m. w. N.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 72; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 235; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 34; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 22. 368 So bspw. Epping, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 63 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 17; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63 Rn. 25; Schröder, in: Huber/ Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 63 Rn. 32. 369 So auch Epping, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 63 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 18; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 63, Rn. 25. A. A. bspw.: Schröder, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2005, § 65, Rn. 15, die auch den Schutz des Kandidaten einbeziehen. 370 Mager/Holzner, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 63 Rn. 13. 371 Eingehend zum Antrags-, Rede- und Vorschlagsrecht von Bundestagsabgeordneten siehe Schreiner, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 18, Rn. 4 – 48, S. 594 – 605. 372 BVerfGE 136, 277, 277 ff. Wie dargestellt handelte es sich hierbei um Anträge für einen Entwurf einer eigenen Geschäftsordnung, der Aufnahme eines Tagesordnungspunktes zur Vorstellung der Kandidaten, der Feststellung einer nicht ordnungsgemäßen Wahl von Mitgliedern durch die Volksvertretungen der Länder sowie zur Zulassung von Wahlbeobachtern.
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obachtern, worüber abgestimmt wurde – und weder zu einer mündlichen Erläuterung und Aussprache noch zu einer Abstimmung zugelassen.373 Das Bundesverfassungsgericht hat die Verweigerungen des Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter, die sich in der 10., 13., 14. und 15. Bundesversammlung ähnlich so zugetragen hatten,374 für nicht verfassungswidrig erklärt. Soweit man im Gegensatz dazu kein generelles Rede- und Antragsrechts befürwortet, ist dieses nach den bisherigen Ergebnissen eines modifizierten Ausspracheverbots und durch die Aufgaben der Bundesversammlung funktional begrenzt auf allgemeine und Geschäftsordnungsangelegenheiten, das heißt auf Verfahrensfragen, die den Rahmen und nicht den eigentlichen Wahlvorgang betreffen.375 Innerhalb dieser Bereiche stehen den Mitgliedern dann ein dem Bundestag vergleichbares Rede- und Antragsrecht zu. Daraus folgt auch, dass es einen „Eingriff in den unentziehbaren Kernbereich des Rederechts“ darstellen könnte, sofern sich die Bundesversammlung eine Geschäftsordnung gibt, die für diese Bereiche lediglich eine schriftliche Antragstellung ohne Möglichkeit einer Aussprache gestattet. Dies würde eine unverhältnismäßige und unsachgemäße Beschränkung bedeuten, die dem Wesen von Parlamentarismus und Demokratie widerspricht.376 Das Bundesverfassungsgericht lehnt generell ein Antrags-, Rede- und Ausspracherecht der Bundesversammlungsmitglieder im Plenum der Bundesversammlung ab und nimmt damit den Mitgliedern der Bundesversammlung – wie auch der Vorsitzende Richter Voßkuhle anmerkte – die Chance, konfliktreiche Situationen selbst zu lösen.377 Der Bundesversammlung sollte daher unter diesem Aspekt ein – zumindest modifiziertes – Antrags- und Rederecht eingeräumt werden, um gegen Verfahrensentscheidungen der Versammlungsleitung in der Bundesversammlung vorgehen zu können.
373
Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 126. 374 Dort stellte das Versammlungsmitglied der DVU, Helmut Wolf, den Antrag, die Kandidaten für das Bundespräsidentenamt zur Erklärung gegenüber der Bundesversammlung zu verpflichten, dass sie frei von Belastungen mittelbarer oder unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR seien. Vgl. Butzer, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73. 375 Vgl. BVerfGE 136, 277, 289, wonach die Antragsteller ebenfalls Fragen der Beschlussfähigkeit, der Zulässigkeit von Wahlvorschlägen und auf Prüfung der Delegiertenwahlen in den Ländern hierunter gefasst wissen wollten. 376 So auch die Positionierung der Antragsteller. Vgl. BVerfGE 136, 277, 290. 377 Vgl. auch Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidenten wahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Die Zuerkennung eines solchen Rechts378 könnte sich aus Art. 54 GG und der Mitgliedschaft in der Bundesversammlung, aus der Rechtsstellung der Bundesversammlungsmitglieder, dem Charakter und der Eigenschaft der Bundesversammlung, aus den Regelungen über das freie Abgeordnetenmandat und dem damit eng verbundenen Rederecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG analog oder aus Verfassungsgewohnheitsrecht ergeben.379 Das Bundesverfassungsgericht führt in seiner Begründung aus, dass anderes nur für den Fall gelten könne, wenn begründete Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl bestünden.380 Weiter einschränkend legt es dar, dass eine Aussprache in der Regel nicht erforderlich sei, da durch Art. 54 Abs. 7 GG die Einzelheiten des Wahlverfahrens durch einfaches Gesetz geregelt seien, und daher nicht mündlich in der Bundesversammlung erörtert werden müssten.381 Dem ist entgegenzuhalten, dass sich nicht alle denkbaren Situationen im Vorfeld einfachgesetzlich normieren lassen und es der Bundesversammlung möglich sein muss, darauf zu reagieren. Auch für eine Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“ – das neben Elementen einer Kür viele parlamentarische Elemente enthält – gehören Sachdiskussionen und Aussprachen über organisatorische Fragen zu urdemokratischen Grundprinzipien. Das Gericht begründet seine Ablehnung mit der Kernthese, dass die Aufgabe der Bundesversammlung allein in der „Kür“ des Präsidenten durch zeremoniellen Wahlakt liege und die Bundesversammlung, anders als der Bundestag, kein Ort der politischen Auseinandersetzung sei, sondern den Bundespräsidenten in einer würdigen Art und Weise in das Amt setzen solle.382 Im Bundestag, als der gewählten Vertretung des Volkes, seien die Fragen der Staatsführung, insbesondere der Gesetzgebung, in Rede und Gegenrede der einzelnen Abgeordneten zu erörtern. Dies werde verdeutlicht in Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG, wonach der Bundestag „verhandelt“.383 378 Vgl. Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 126. Vertiefend zur Redeordnung im Bundestag: Schönberger, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 100 f. 379 So die Argumentation des Prozessbevollmächtigten Peter Richter für den Antragsteller Udo Pastörs (NPD). Vgl. BVerfGE 136, 277, 288 f. 380 BVerfGE 136, 277, 309, 320. Siehe auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127. 381 BVerfGE 136, 277, 316 f. 382 BVerfGE 136, 277, 317; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73. 383 Das öffentliche Verhandeln von Argumenten, die öffentliche Debatte und Diskussion sind wesentliche Elemente einer parlamentarischen Demokratie und gewährleisten den Ausgleich widerstreitender Interessen. Die Redefreiheit der Abgeordneten ist im Bundestag eine unverzichtbare Voraussetzung für die Wahrnehmung ihrer parlamentarischen Aufgaben. Mit der in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG normierten Geschäftsordnungsautonomie werden die Bundestagsabgeordneten in die Lage versetzt, die Bedingungen für die Wahrnehmung ihrer eigenen Rechte und denen des Parlamentes in seiner Gesamtheit unter Beachtung eines Ausgleiches
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens
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Die Mitglieder der Bundesversammlung könnten nicht auf die Rechte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages zurückgreifen, da der Gang der Geschäfte in der Bundesversammlung weitgehend vorherbestimmt und wegen der andersartigen Aufgabe der Bundesversammlung nicht auf sie übertragbar sei.384 Nur für die Mitglieder des Bundestages sei die Redefreiheit des Abgeordneten eine unverzichtbare Voraussetzung für die Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben und bestimmen den Status als Abgeordneten wesentlich mit.385 Den Bundesversammlungsmitgliedern stehe lediglich das Recht zu Kandidaten vorzuschlagen, Verfahrensanträge zu stellen und zu wählen, jedoch kein allgemeines Rederecht. aa) Aus Art. 54 GG und der Mitgliedschaft in der Bundesversammlung Zuvörderst ist noch einmal herauszustellen, dass das Ausspracheverbot nur eine parlamentstypische öffentliche Aussprache über die Kandidaten verbietet, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der direkten Wahlhandlung steht, alles Weitere wie organisatorische Anträge und die Aussprachen hierüber nicht umfasst sind. Das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG schließt ein Rede- und Antragsrecht der Bundesversammlungsmitglieder nicht per se aus. Ihm lässt sich kein allgemeines, zusätzliches Verbot für die parlamentsähnlichen Elemente der Versammlung entnehmen.386 Aus dem begrenzten Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG kann vielmehr nur das hier in Rede stehende punktuelle Rede- und Antragsrecht hergeleitet werden.387 von Repräsentation und Funktion selbst festzulegen. Vgl. BVerfGE 136, 277, 313; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 384 Vgl. BVerfGE 136, 277, 309, 312; 138, 125, 133; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 2 f.; sowie Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. A. A.: Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 70, der den Versammlungsmitgliedern ähnliche Rechte wie den Bundestagsabgeordneten zubilligt. 385 BVerfGE 136, 277, 313. 386 So auch Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 387 Ein Antrags- und Rederecht der Bundesversammlungsmitglieder aus Art. 54 GG wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Bundesversammlungsmitglieder nicht vom Volk gewählt werden, dieses auch nicht unmittelbar repräsentieren, sondern als alleinige Aufgabe mit der Bundespräsidentenwahl betraut sind. Trotz dieser Unterschiedlichkeit ergibt sich keine gänzliche Unvergleichbarkeit der Bundestagsmitglieder gegenüber den Mitgliedern der Bundesversammlung. Beide stellen Teile der repräsentativen Demokratie dar. Anders sah dies Wolfgang Zeh als Bevollmächtigter des Bundestagspräsidenten im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Vgl. BVerfGE 136, 277, 296; 138, 125, 129 f. Siehe auch Hillgruber,
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
bb) Aus der Rechtsstellung der Bundesversammlungsmitglieder, dem Charakter und der Eigenschaft der Bundesversammlung Für ein sich aus der Rechtsstellung der Bundesversammlungsmitglieder nach § 7 S. 1 BPräsWahlG, dem Charakter und der Eigenschaft der Bundesversammlung ergebendes Rederecht ist Voraussetzung, dass sich dieses in einem kollegial strukturierten Verfassungsorgan schon allein aus dem Wesen von Parlamentarismus und Demokratie ergibt und daher nicht gesondert normiert werden muss.388 Im Falle von Anträgen zur Geschäftsordnung, zum Ablauf der Bundesversammlung sowie insbesondere bei streitigen Sachverhalten überwiegt der parlamentsähnliche Anteil im „Organ mixtum compositum“. Auch kann es vorkommen, dass beispielsweise der Ablauf der Bundesversammlung nicht im Vorfeld geklärt werden konnte und eine mündliche Erörterung notwendig macht. In diesem Falle nähert sich die Bundesversammlung dem parlamentarischen Bundestag an. Auch der Verweis in § 7 S. 1 BPräsWahlG auf das Indemnitätsrecht nach Art. 46 Abs. 1 GG ergibt nur dann einen Sinn, wenn in der Bundesversammlung grundsätzlich geredet und debattiert werden kann. Bei der Bundesversammlung handelt es sich nicht um ein „reines Wahlorgan“, selbst wenn dessen ausschließliche Aufgabe in der Wahl des Bundespräsidenten besteht. Die parlamentarische „Note“ der Bundesversammlung kann auch nicht dadurch eingeschränkt werden, dass – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – die Öffentlichkeit der Bundesversammlung allein „die Sichtbarkeit des Wahlaktes in seinen realen und symbolischen Dimensionen“ beinhalte.389 Es ist richtig, dass die Bundesversammlung nicht auf eine aus Rede und Gegenrede bestehende öffentliche Debatte angelegt ist, sodass weitgehend einer unterschiedlichen Öffentlichkeitsfunktion im Bundestag und in der Bundesversammlung zuzustimmen ist.390 Doch bezieht sich das hier in Rede stehende Recht im „Organ mixtum compositum“ gerade nicht auf diesen kürähnlichen Teil der Bundesversammlung oder auf den Kern der Wahlhandlung, sondern auf die vor- und nachgelagerten Handlungen des konkreten Wahlaktes. Damit läuft dieser Argumentationsstrang des Bundesverfassungsgerichts ins Leere.391 Demnach kann aus dem Charakter und der Eigenschaft der BundesBegrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 950; Kühnreich, Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, 1997, S. 224; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127, die jeweils eine differenzierte Meinung vertreten. 388 BVerfGE 136, 277, 289; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.2; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 126. 389 Vgl. BVerfGE 136, 277, 312. 390 So auch Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 574. 391 Aussprache- und Mitwirkungsrechte billigt das Bundesverfassungsgericht der Bundesversammlung nur dann zu, soweit diese zur Wahrnehmung des Wahlrechts „erforderlich“ sind.
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versammlung ein diesbezügliches Rede- und Antragsrecht für diesen Teil des Wahlverfahrens aus dem Wesen von Parlamentarismus und Demokratie abgeleitet werden. cc) Aus den Regelungen über das freie Abgeordnetenmandat aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG analog Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG billigt dem Wortlaut sowie der Gesetzessystematik nach den einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages umfassende Rechte zu.392 Ein entsprechendes Rede- und Antragsrecht ist für Bundesversammlungsmitglieder nicht normiert, es könnte sich jedoch aus dessen analoger Anwendung ergeben. Hierfür müssten die drei Analogievoraussetzungen kumulativ vorliegen: Ein vergleichbarer Status mit den Bundestagsabgeordneten, eine planwidrige Regelungslücke und kein Analogieverbot. Eine generelle Vergleichbarkeit ist grundsätzlich nur bedingt gegeben, weil den Versammlungsmitgliedern über das ihnen von Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG unmittelbar zuerkannte Wahlrecht hinausgehende Rechte nur ganz begrenzt zugestanden werden und in keiner Weise an die umfangreichen Rechte und Aufgaben der Bundestagsabgeordneten heranreichen.393 Die normierten Rechte der Bundesversammlungsmitglieder umfassen neben der Befugnis auf Teilnahme am Wahlakt (Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG) nur noch das Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben (§ 8 S. 2 BPräsWahlG) sowie einen Sitzungsvorstand nebst Schriftführer zu wählen (§ 8 S. 2 BPräsWahlG i. V. m. §§ 8, 9 GO-BT).394 Diese Unterschiedlichkeit ist jedoch nicht durchschlagend, da sich das in Rede stehende Antrags- und Rederecht nur auf die spezielle parlamentsähnliche Rahmenhandlung der Wahl bezieht. Und hierin bestehen keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Bundestags- und Bundesversammlungsmitgliedern, wie es bereits das Ergebnis zum Umfang des Ausspracheverbots in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG aufgezeigt hat. Ebenso wie im Deutschen Bundestag können Entscheidungen in der Bundesversammlung, beispielsweise aus den Bereichen Geschäftsordnung sowie Vgl. BVerfGE 136, 277, 314; 138, 125, 133 sowie Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 31; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/v. Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85 f. 392 Hierzu zählt auch das Recht zur Feststellung der rechtmäßigen Zusammensetzung des Deutschen Bundestages. Vgl. BVerfGE 136, 277, 305. 393 BVerfGE 136, 277, 309; 138, 125, 133; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 950 f.; Nierhaus/ Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 12; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127. 394 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 23.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
aus Wahlen von Sitzungsvorstand und Schriftführern, eine politische Dimension entwickeln. Mit Geschäftsordnungsbeschlüssen können Positionen mit politischem Inhalt unterdrückt oder an den Rand geschoben werden. Ferner können sich in der Bundesversammlung trotz des Ausschlusses einer öffentlichen Willensbildung über den Wahlakt selbst anderweitige Erläuterungs- oder Informationsfunktionen gegenüber der Öffentlichkeit ergeben.395 Mit diesen Annahmen kann zur Erfüllung der Aufgaben der Bundesversammlung eine mündliche Erörterung von Verfahrensfragen erforderlich sein.396 In diesem Sektor der Rahmenhandlung und nicht den Kern der Bundespräsidentenwahl betreffend sind Bundestag und Bundesversammlung durchaus vergleichbar. Gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke spricht, dass zum einen § 7 BPräsWahlG nicht gänzlich auf Art. 38 GG verweist, Teile daraus, die Auftragsund Weisungsfreiheit der Bundesversammlungsmitglieder, in § 7 S. 3 BPräsWahlG ausdrücklich normiert sind.397 Im Weiteren hat der Gesetzgeber im Rahmen des nach Art. 54 Abs. 7 GG eingeräumten Gestaltungsspielraums die Verfahrensstruktur der Bundesversammlung dahingehend begrenzt, dass gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 BPräsWahlG Wahlvorschläge nur schriftlich eingereicht werden dürfen,398 somit für diesbezügliche mündliche Anträge in der Bundesversammlung kein Raum ist. Weitergehend wurde in den letzten Bundesversammlungen die sinngemäße Übernahme der Geschäftsordnung des Bundestages mit der Modifikation beschlossen, dass alle Anträge schriftlich zu stellen sind. Somit liegt eine bewusste Regelung vor, die keinen Raum für eine planwidrige Regelungslücke lässt. Darüber hinaus bleibt wegen der zu Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG getroffenen Auslegung, dass das Ausspracheverbot sich nur auf den begrenzten Kernbereich der
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A. A.: Zeh als Bevollmächtigter für den Antragsgegner. Vgl. BVerfGE 136, 277, 297. BVerfGE 136, 277, 297. 397 So auch: BVerfGE 136, 277, 296; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 85. 398 BVerfGE 136, 277, 320; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87. Diese zulässige Konkretisierung ist eine Reaktion auf die 2. Bundesversammlung, in der die Möglichkeit eines mündlichen Kandidatenvorschlages von einem Mitglied dazu missbraucht worden war, den amtierenden und erneut kandidierenden Bundespräsidenten Theodor Heuss (FDP) persönlich anzugreifen. Max Reimann von der KPD, seinerzeit Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag, griff mit einer scharfen Rede den zur Wiederwahl stehenden Heuss an und riet von seiner Wiederwahl ab. Nachdem Reimann trotz mehrfacher Ermahnungen durch den damaligen zweiten Bundestagspräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Hermann Ehlers (CDU), mit dem Hinweis darauf, dass Reimanns Äußerungen einen Verstoß gegen das Ausspracheverbot darstellen, seine Rede nicht beendete, entzog Ehlers ihm das Wort. Zum Zeitpunkt der 2. Bundesversammlung am 17. Juli 1954 war der bereits später erfolgreiche Antrag der Bundesregierung zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD gem. Art. 21 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Bis zum Urteilsspruch am 17. August 1956 nahm die KPD aufgrund des Parteienprivilegs nach Art. 21 GG uneingeschränkt am politischen Leben teil. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 126. 396
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Wahlhandlung bezieht, für eine Regelungslücke kein Raum, weil eine solche gerade nicht besteht. Auch wenn man das alles ausblendet, bleibt wegen der zu Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG getroffenen Auslegung des nur begrenzten Verbots auf den Kernbereich der Wahlhandlung für eine Regelungslücke über die Geschäftsordnung kein Raum, weil es hierzu gerade diese Regelungsmöglichkeit gibt. Ob darüber hinaus von einem Analogieverbot gesprochen werden kann, das primär im Strafrecht seine Bedeutung erlangt, kann vom Ergebnis her offengelassen werden. Ein offensichtliches Verbot ist jedenfalls nicht ersichtlich und falls man dies in diesem Falle gleichwohl bejahen würde, wäre es nur ein weiterer Punkt gegen das Vorliegen der Voraussetzungen einer analogen Anwendung von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. dd) Aus Verfassungsgewohnheitsrecht Für ein verfassungsgewohnheitsrechtlich bestehendes Rederecht könnten die Worterteilungen in der 2., 8. und 10. Bundesversammlung an einzelne Bundesversammlungsmitglieder sprechen und implizieren, dass die damaligen Versammlungsleiter mit einem entsprechenden Rechtsbewusstsein von einem solchen Rederecht ausgingen.399 Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine punktuelle Gestattung im Rahmen des Gestaltungsermessens der Sitzungsleitung und daraus lässt sich noch keine generelle Übung und ein entsprechendes Rechtsbewusstsein herleiten. Vielmehr unterstreicht diese Handhabung, dass die Bundesversammlung parlamentsähnliche Züge beinhaltet und in diesem Fall dem Bundestagspräsidenten ein entsprechender Ermessensspielraum im Rahmen von Art. 54 Abs. 1 GG zuzugestehen ist. Auch lässt sich keine Staatspraxis feststellen, die für ein dem Verfassungsgewohnheitsrecht entspringendes Rede- und Antragsrecht der Versammlungsmitglieder spricht.400 Ein generelles Rede- und Antragsrecht aus Verfassungsgewohnheitsrecht ist daher für den parlamentsähnlichen Teil der Versammlung nicht gegeben.401
399
BVerfGE 136, 277, 289 f. Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 401 So auch: Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidenten wahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Generell wird darüber hinaus ein fehlendes Bedürfnis angeführt und darauf verwiesen, dass sich für die Bundesversammlung eine vergleichbare Funktion und Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte wie im Bundestag sowie eine vergleichbare Normierung wie in Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG gerade nicht finden lässt und Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG eine solche unterbinden soll. So etwa: Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 574. 400
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
ee) Zwischenergebnis Es bleibt festzuhalten, dass für die Mitglieder in der Bundesversammlung – als „Organ mixtum compositum“ aus Art. 54 GG und aus dem Charakter und der Eigenschaft der Bundesversammlung – ein Antrags- und Rederecht zu Fragen, die sich auf die Rahmenhandlungen und nicht auf den Kern der Wahlhandlung beziehen, besteht. Diese umfassen beispielsweise Fragen zur Geschäftsordnung, zur Sitzungsleitung, zur Unterbrechung und zu weiteren organisatorischen Fragen, soweit sie den Rahmen der Wahl und nicht den eigentlichen Wahlakt betreffen. d) Hinsichtlich einer eigenen Vorstellung der Kandidaten Die Anträge in der 10., 13., 14. und 15. Bundesversammlung, den Kandidaten die Gelegenheit zu einer bis zu 30-minütigen Vorstellung vor der Bundesversammlung zu geben, führten zu der Frage, ob und wie weit Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG einer Kandidatenvorstellung entgegensteht.402 aa) Eines bekannten beziehungsweise im Vorfeld nominierten Kandidaten Ein entsprechender Antrag auf eine bis zu 30-minütige Vorstellung vor und in der Bundesversammlung wurde vom Bundestagspräsidenten in der 14. und 15. Bundesversammlung mit Verweis auf einen „ganz offensichtlichen“ Verstoß gegen das in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierte Ausspracheverbot weder zur Abstimmung noch zur mündlichen Begründung zugelassen.403 Nach der Argumentation des Antragstellers ist Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG nicht absolut zu verstehen, ferner beinhalte eine persönliche Vorstellung gerade keine Diskussion über den Kandidaten und sei daher mangels Aussprache nicht vom Verbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG umfasst. Zudem wird argumentiert, dass § 9 Abs. 1 S. 3, Hs. 1 BPräsWahlG fälschlicherweise – genauso wie das Grundgesetz – davon ausgehe, dass nur allgemein bekannte Persönlichkeiten vorgeschlagen würden und das Gesetz lediglich von einer Entbehrlichkeit, nicht aber von einem Verbot einer Vorstellung ausgehe.404 Vom Prozessbevollmächtigten des Bundestagspräsidenten als Antragsgegner wurde § 9 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG dahingehend ausgelegt, dass durch das Erfordernis eines schriftlichen Wahlvorschlages, der lediglich die zur Bezeichnung des 402 Vgl. Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 126. 403 BVerfGE 136, 277, 287, 294, wonach nach dem Vortrag des Antragstellers über gleichartige Anträge in der 10. und 13. Bundesversammlung abgestimmt worden sei und in der 10. Bundesversammlung sogar eine vorherige mündliche Begründung erfolgte. Vgl. auch Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 126. 404 BVerfGE 136, 277, 291.
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Vorgeschlagenen erforderlichen Angaben enthalten dürfe, die Intention des Gesetzgebers zur Verhinderung einer Personaldebatte in der Bundesversammlung deutlich zum Ausdruck komme.405 Deshalb seien auch frühere Anträge in der 10. und 11. Bundesversammlung mit Verweis auf Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG nicht zur Abstimmung gestellt worden.406 Ferner entspreche diese Vorgehensweise der „parlamentarischen Übung“, wonach dem Bundestagspräsidenten die Beurteilung und Entscheidung über die Zulässigkeit der Anträge obliege, was auch in § 127 Abs. 1 S. 1 GO-BT zum Ausdruck komme, sodass auftretende Zweifel über die Auslegung der Geschäftsordnung vom Präsidenten zu entscheiden seien.407 Dieser Argumentation hat sich im Ergebnis auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen und darüber hinaus betont, dass sich das Ausspracheverbot auch an die Kandidaten selbst richte, woraus zu schließen sei, dass auch eine eigene Vorstellung der Kandidaten ausgeschlossen ist.408 Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass die Bundesversammlung zum Forum politischer Auseinandersetzung unter den Kandidaten oder für eine politische (Selbst-)Darstellung genutzt werde.409 Hierin kommt der Kürgedanke, der sich durch die gesamte bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung wie ein roter Faden zieht, deutlich zum Ausdruck. Konsequent schlussfolgert das Bundesverfassungsgericht daher, dass es den Bundesversammlungsmitgliedern obliege, sich die für ihre Wahlentscheidung erforderlichen Informationen außerhalb der Bundesversammlung zu beschaffen und der Ort der Bundesversammlung kein Ort von Debatten sein könne und dürfe.410 Der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts ist im Ergebnis zuzustimmen. Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG steht einer persönlichen Kandidatenvorstellung und Diskussion entgegen,411 das Ausspracheverbot kommt hier voll zur Geltung. Eine 405
BVerfGE 136, 277, 297. BVerfGE 136, 277, 298. 407 BVerfGE 136, 277, 298; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 107. 408 BVerfGE 136, 277, 315 f.; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 34; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.1; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 409 BVerfGE 136, 277, 316; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87. 410 BVerfGE 136, 277, 316; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 573; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 127; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 411 Vereinzelt wird in der Literatur vertreten (vgl. bspw. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5), dass eine bloße Vorstellung der Kandidaten durch das Ausspracheverbot nicht ausgeschlossen sei. Schwierig ist eine Linienziehung in der Praxis, was eine solche Kandidatenvorstellung ohne anschließende Aussprache überhaupt umfassen darf. Um einen Eindruck von dem Kandidaten und seinem späteren Amtsverständnis erhalten zu können, würden die nur wesentlichen Angaben zur Person keinen Mehrwert bringen. Die einfachgesetzliche Normierung des § 9 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG bestimmt, dass schriftliche Wahlvorschläge lediglich die zur Bezeichnung des Vorgeschlagenen erforderlichen Angaben 406
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unmittelbar dem Wahlakt vorgeschaltete Vorstellung der eigenen Person würde sich auf die Dignität des Wahlaktes auswirken und das Amt sowie die Kandidaten möglicherweise persönlichen Angriffen und unsachlicher Kritik aussetzen, ohne dass diese – nach Beendigung ihrer Vorstellung – nochmal Gelegenheit haben, durch eine Gegenrede erwidern zu können.412 Ferner ergibt sich aus dem Amt des Bundespräsidenten selbst eine besondere Würde, die ihren Niederschlag in einem reibungslosen, befriedeten Wahlablauf finden muss. Der Ausschluss eines dem Wahlakt unmittelbar vorgelagerten, am Ort der Bundesversammlung stattfindenden Vorstellungsrechts der Kandidaten selbst ist daher auch im Sinne der Integrationsfunktion des Präsidenten geboten. Eine Kandidatenvorstellung würde nur dann sinnvoll erscheinen und einen Mehrwert bieten, wenn sie mit einer offenen Aussprache verbunden wäre, da anderenfalls das Bild des Kandidaten einseitig durch seine persönliche Selbstdarstellung geprägt bleiben würde.413 Dies würde aber die besondere Kreation der Bundesversammlung als exklusives – die Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten unterstreichendes – Organ für die Wahl des Bundespräsidenten negieren und zugleich die gewünschte Distanz zum alltäglichen Politikbetrieb und zum Parteienstreit aufheben.414 Relevant ist jedoch der Einwand der Antragsteller, dass das Ausspracheverbot auf der Erwartung beruhe, dass die Kandidaten frühzeitig benannt werden und somit ein vorzeitiges Informieren der Versammlungsmitglieder über die Kandidaten möglich sei.415 Es muss daher geklärt werden, ob abhängig vom Bekanntheitsgrad eine Differenzierung vorgenommen werden muss und ob eine solche restriktive Auslegung auch dann aufrechterhalten werden kann, wenn kurzfristig ein den Versammlungsmitgliedern kaum bekannter Kandidat vorgeschlagen wird.
enthalten dürfen. Daher würde auch eine Vorstellung der Kandidaten mit den Informationen des schriftlichen Wahlvorschlages keine zusätzlichen Informationen für die Wahlentscheidung erbringen. 412 A. A.: Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 81, die betonen, dass die Bewerber durch das Ausspracheverbot gerade nicht vor einer öffentlichen und gegebenenfalls auch diffamierenden Diskussion geschützt werden sollen, sondern allein die Dignität des Wahlakts. Ferner seien solche Begleitumstände Personen zuzumuten, die sich um ein hohes Verfassungsamt in einer Demokratie bewerben. 413 Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.1. 414 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Kommentar zum GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 40; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 83; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 415 So auch: Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.1.
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bb) Teleologische Reduktion bei unbekannten Kandidaten und kurzfristiger Nominierung Auch das Bundesverfassungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung des Organstreitverfahrens Bedenken geäußert, wie denn mit dem Ausspracheverbot umzugehen sei, wenn es nur sehr begrenzte Möglichkeiten des Miteinander-Sprechens gebe, der Sitzungsleiter mit einer konfliktbeladenen Situation konfrontiert werde oder im Falle einer Pattsituation sich ein völlig neuer Kandidat zur Wahl stelle.416 Die Antragsgegner meinten, dass die Sitzung unterbrochen werden müsse um eine politische Auseinandersetzung in der Bundesversammlung zu vermeiden und diese ein „befriedeter Prozess“ bleibe.417 Da das Ausspracheverbot grundsätzlich für alle Wahlgänge gilt,418 stellt sich die Frage, ob es dann eine teleologische Reduktion des Ausspracheverbots geben muss, wenn ein zusätzlicher oder statt der Kandidaten aus dem ersten Wahlgang ein „Überraschungskandidat“ aufgestellt wird.419 Über diesen kann sich die Versammlung gegebenenfalls ad hoc keine eigene Meinung bilden, da der Wahlvorschlag nach § 9 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG nur die für den Vorgeschlagenen notwendigen Angaben enthalten darf. In diesem Fall gilt die vereinzelt für das Ausspracheverbot herangezogene Begründung gerade nicht, dass eine Debatte „den Erkenntniswert der Mitglieder des Gremiums kaum mehr beeinflussen“ könne.420 Anders als bei den im Vorfeld der Bundesversammlung nominierten Kandidaten wären die Versammlungsmitglieder in diesem Falle zu einem „blinden Votum“ gezwungen.421 Sollte tatsächlich eine Kandidatenentscheidung erst in der Bundesversammlung fallen – was bislang noch nicht eingetreten ist –, müsste der Bundestagspräsident nach einer strengen Auslegung des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG eine sachliche Aussprache untersagen. Doch um eine fundierte Wahlentscheidung treffen zu können, sind gewisse Informationen und Kenntnisse über den Kandidaten unerlässlich. Diese notwendige Unterrichtung und Informationsbeschaffung wird bei der üblichen Kan416
Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 417 Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 418 Vgl. Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 55; Herzog, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 40. 419 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 246. 420 So nämlich: Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217, 218. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Wahl lediglich ein Schlussakt hinter einer vorherigen öffentlichen Debatte darstellt und kein knappes Wahlergebnis zu erwarten ist. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 246. 421 Ein „blindes Votum“ resultiert daraus, dass bei einer solchen Konstellation kaum die Möglichkeit zur umfassenden Informationsbeschaffung über die Person besteht. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 246.
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didatennominierung im Vorfeld der Bundesversammlung oft intensiv durch die Berichterstattung in den Medien von außen sowie durch fraktionsinterne Unterrichtungen von innen geleistet.422 Im Falle einer kurzfristigen Nominierung besteht keine dieser Möglichkeiten. Zum Umgang mit einer solchen Situation sind zwei Möglichkeiten denkbar. Erstens besteht die Möglichkeit, die Sitzung zu unterbrechen, um dem Kandidaten die Möglichkeit zu geben, sich den einzelnen Fraktionen vorzustellen. Zweitens kommt vor diesem Hintergrund ein Abweichen vom Grundsatz eines Vorstellungsverbotes in Betracht. Letzteres könnte wegen des Gebots der Chancengleichheit aller Kandidaten als wesentlichem Bestandteil der demokratischen Grundordnung und des mit Verfassungsrang versehenen passiven Wahlrechts und das alle Staatsorgane bindende verfassungsrechtliche Öffentlichkeitsgebot erforderlich sein.423 Dies müsste im Wege einer praktischen Konkordanz mit der strikten Geltung des Ausspracheverbots im Wahlverfahren im engeren Sinne zum Ausgleich gebracht werden.424 Über die Notwendigkeit einer Vorstellung kann der Versammlungsleiter nicht allein entscheiden, sondern die Bundesversammlung insgesamt muss hierzu gehört werden.425 Gleichzeitig muss bei der praktischen Konkordanz im Blick sein, dass gegebenenfalls aussichtslose – mangels oder bei fehlender konkreter Einschätzungsmöglichkeit – Kandidaten diese Sonderkonstellation missbrauchen, um auf der großen Plattform der Bundesversammlung – gegebenenfalls zum Nachteil anderer Kandidaten – eine Vorstellung in eigener Sache zu erreichen. Der Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG kennt keine Differenzierung nach dem Bekanntheitsgrad oder den Erfolgsaussichten der Kandidaten. Zudem mag es für die Sitzungsleitung in den meisten Fällen schwierig einzuschätzen sein, ob eine solche Vorstellung für die Wahlentscheidung wichtig sein könnte. Daher gebieten solche Fälle unter Beachtung des Ausspracheverbots nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG eine verfassungskonforme Auslegung bei einer fehlenden Regelung in der Geschäftsordnung dahingehend, dass auf Antrag die Bundesversammlung per einfachem Mehrheitsbeschluss selbst darüber entscheidet, ob die Versammlung unterbrochen werden muss und der unbekannte Kandidat sich außerhalb des Sitzungssaales, etwa auf Fraktionsebene, den einzelnen Mitgliedern vorstellen darf und interne Kandi422 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 233. Aufgrund des Ausspracheverbots ist es derzeit üblich, dass die zuvor benannten Kandidaten im Vorfeld einzelne Fraktionen aufsuchen, um für ihre Kandidatur zu werben. Problematisch könnte hierbei sein, dass nicht alle Versammlungsmitglieder Teil einer Fraktion sind oder sich nicht alle Fraktionen mit jedem Kandidaten beschäftigen, sodass einige Bundesversammlungsmitglieder ohne hinreichende Personenkenntnis ihre Stimme abgeben, was im Sinne eines demokratischen Wahlaktes kaum wünschenswert erscheint. So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 247. 423 Vgl. BVerfGE 136, 323, 323 ff. 424 Vgl. BVerfGE 136, 277, 291; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 126. 425 So auch die Auffassung der Antragsteller im hier relevanten Organstreitverfahren. Vgl. BVerfGE 136, 277, 291.
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datenbefragungen stattfinden. Die Mitglieder der Versammlung geben also Auskunft darüber, ob sie Informationen über den Kandidaten benötigen oder nicht.426 Dieses Auskunftsersuchen und die interne Kandidatenbefragung müssen – soweit möglich – weitgehend den üblichen Befragungen nachgebildet werden und dürfen nicht unmittelbar, sondern müssen – unter Beachtung des Ausspracheverbots – deutlich getrennt von dem Wahlakt und auch außerhalb der Räumlichkeiten der eigentlichen Wahl stattfinden. Eine solche Vorgehensweise steht im Einklang mit Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG und ist aus Gründen der Chancengleichheit der Kandidaten, einer fundierten Wahlentscheidung und nach dem Öffentlichkeitsgebot erforderlich. Eine solche interne Kandidatenbefragung verstößt dann nicht gegen den oben erörterten, auch für die Bundesversammlung geltenden Öffentlichkeitsgrundsatz, wenn hierbei die Berichterstattungsöffentlichkeit in Form der amtlichen oder nichtamtlichen Berichterstattung gewahrt ist.427 Da der Kandidat der Öffentlichkeit nicht vorgestellt wurde, ist auch bei den Vorstellungsrunden der Fraktionen dem Öffentlichkeitsgebot Rechnung zu tragen.428 Es gilt der Grundsatz, dass, wenn eine Öffentlichkeitsbeteiligung nicht im Vorfeld möglich war, diese bei einer internen Kandidatenbefragung nachzuholen ist.429 Deshalb dürfen in diesem Fall die Fraktionssitzungen nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Der zeitlichen und räumlichen Not folgend kann die Öffentlichkeit zum einen durch die die Bundespräsidentenwahl verfolgenden Medienvertreter zum anderen durch die Beteiligung des anwesenden Publikums hergestellt werden. Somit sind den Fraktionen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, in denen ausreichend Medienvertreter und interessierte Personen Platz und Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Grundsätzlich muss den anwesenden Medien und der interessierten Öffentlichkeit im gleichen Umfang wie bei der Beobachtung der Sitzung der Bundesversammlung Zugang gewährt werden. Nur räumliche Kapazitäten und unausweichliche zeitliche Engpässe dürfen hierbei zu Beschränkungen führen. 426 Es könnte die Gefahr bestehen, dass die Mehrheit einen Vorstellungsbeschluss ablehnt, um unliebsamen Kandidaten ihre Chance zu nehmen, sich bekannt zu machen. Einer solchen Missachtung des Minderheitenschutzes kann aber entgegengehalten werden, dass, wer die Chance auf Einreichung einer frühzeitigen Kandidatur mit einer entsprechenden Vorberichterstattung in den Medien versäumt hat oder absichtlich nicht wahrnimmt, keine weitergehenden Vorteile hieraus ziehen darf. Daher ist es gerechtfertigt, wenn die Bundesversammlung mit einfacher Mehrheit über die Notwendigkeit des Aussetzens der Versammlung und über das weitere Verfahren entscheiden kann. 427 Zu den Begriffen der amtlichen und nichtamtlichen Berichterstattung im Rahmen der Berichterstattungsöffentlichkeit von Parlamentsausschüssen vgl.: Schmidt, Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 321 ff., 335 ff. 428 Vgl. erneut diese grundsätzlichen Gedanken in Bezug auf die Öffentlichkeit in den Ausschüssen des Bundestages, soweit keine substanzielle Diskussion im Plenum geführt wird, bei Schmidt, Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 209 ff. 429 Vgl. so im Ergebnis auch die Aussage von Schmidt (Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 290 – 375, 376) für Ausschusssitzungen, wenn im Plenarsaal keine Aussprache erfolgt. Im Falle eines erheblichen und evidenten Verstoßes gegen die gebotene Ausschussöffentlichkeit sei der Beschluss wegen Art. 20 Abs. 3 GG nichtig.
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Die Bundesversammlung hat auch die Möglichkeit, ihr Vorgehen im Fall einer Nominierung eines Überraschungskandidaten bereits vorher in der Geschäftsordnung zu regeln. Sie hat dabei das Ausspracheverbot zu beachten, so dass eine Vorstellung nicht im Plenum und zwingend außerhalb der Räumlichkeiten der eigentlichen Wahl stattzufinden hat. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass im Falle einer kurzfristigen Nominierung eines unbekannten Kandidaten und bei fehlender Regelung in der Geschäftsordnung der Bundesversammlung das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG verfassungskonform dergestalt ausgelegt werden kann, dass die Bundesversammlung mehrheitlich durch eine Abstimmung feststellt, ob eine Vorstellung für die Stimmabgabe notwendig ist. In diesem Fall obliegt es dem Sitzungsleiter die Sitzung zu unterbrechen, sodass sich der Kandidat außerhalb des Sitzungssaales unter Beachtung des Öffentlichkeitsgebotes den Fragen der Bundesversammlungsmitglieder – üblicherweise im Rahmen von Fraktionszusammenkünften – stellen kann. e) Die Vorverlagerung der Debatte durch das fehlende Vorstellungsrecht und die Berichterstattung Das in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierte Ausspracheverbot führt dazu, dass Vorbereitungen und Absprachen zur Wahl des Bundespräsidenten ausschließlich im Vorfeld und meist in internen Parteigremien erfolgen.430 Über die Geeignetheit der Kandidaten wird zudem im Vorfeld der Bundesversammlung in den Medien und in der Gesellschaft intensiv diskutiert, so insbesondere 2010.431 Daraus leitet sich vereinzelt der Vorwurf ab, dass die Wahl selbst oftmals nur noch der Vollzug der Entscheidung der Fraktionen – den politischen Mehrheitsverhältnissen entsprechend – sei, was es nach den Vorstellungen der Verfassungsgeber gerade nicht sein sollte.432 Folglich laufe das Ausspracheverbot nahezu leer und sei – auch wenn es der eindeutige Wortlaut hergebe – nicht mehr zeitgemäß.433 430 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 24. 431 2010 standen Christian Wulff (CDU), Joachim Gauck (parteilos), Lukrezia Jochimsen (Linkspartei) und Frank Rennicke (NPD) zur Wahl. 432 So auch: Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 325. Vgl. auch die Kritik von v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 3, der beschreibt, dass zwar die Wahl der Landesvertreter und der Zusammentritt der Bundesversammlung ein feierliches Schauspiel bilde und dort lediglich das vollzogen werde, was „oben“ längst entschieden sei. Die Bundespräsidentenwahl stelle eine reine Veranstaltung der Parteien dar, deren Vorsitzende dort ihre Macht demonstrierten. Daher sei die Bundesversammlung eine großangelegte öffentliche Inszenierung, zu der auch die Wahl bekannter Schauspieler und Sportler als gewählte Ländervertreter beitrage. So soll, laut obiger Fundstelle, Joachim Gauck (parteilos) bei seiner zweiten Kandidatur 2012 nach dem Anruf der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Taxifahrer gesagt haben: „Sie fahren jetzt den neuen Bundespräsidenten“.
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Untermauert wird die Kritik damit, dass das Ausspracheverbot zu einer Machtausweitung der Parteien führe mit der Folge einer weiteren Entfremdung von der Bevölkerung sowie einer Verstärkung der fehlenden Transparenz für den Bürger.434 Auch verhindere das Ausspracheverbot nicht, dass es zu Koalitionsabsprachen über Kandidaten und sogar Verknüpfungen der Bundespräsidenten- mit der Kanzlerwahl gegeben habe und geben werde.435 Legitim ist es, dass sich die Gesellschaft und insbesondere die Mitglieder der Bundesversammlung im Vorfeld über die Persönlichkeit des Kandidaten informieren, seine politischen, moralischen und gesellschaftlichen Ansichten und Überzeugungen kennen lernen und sich davon überzeugen, dass er in der Lage ist, die gesellschaftlichen Strömungen zusammenzuführen, zu einigen und zu repräsentieren.436 Daher müssen die Versammlungsmitglieder die Fülle an Informationen sichten und sich mit der von Parteien und Medien selektierten Informationsberichterstattung auseinandersetzen, um eine fundierte Wahlentscheidung treffen zu können.437 Denn oftmals stehen nur die von den großen Fraktionen unterstützten Kandidaten im Fokus der Berichterstattung, auch weil die Medien diesen die besten Chancen auf eine Wahl einräumen.438 Dadurch erfahren die von kleineren Parteien
433
Vgl. Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 27.1; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 23. 434 Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 573; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 243; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 24. 435 Vertiefend hierzu: Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280 f.; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 261. Ein solch wichtiges politisches Amt wie das des Bundespräsidenten spielt auch im Zusammenhang mit Koalitionsvereinbarungen oft eine Rolle und erregt deshalb in der Öffentlichkeit verstärktes Interesse. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 99; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 96; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 243; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186. 436 Vgl. Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 129. 437 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74 und Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 129. Diese Aussage bejahend und kritisch kommentierend: Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 246 f. 438 Vgl. Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 44; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 128 f.
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und Fraktionen nominierten Kandidaten weniger Aufmerksamkeit, wodurch sie tendenziell benachteiligt sein könnten.439 Vereinzelt wird zudem vorgetragen, dass das normierte Ausspracheverbot aufgrund der dadurch erforderlich werdenden öffentlichen Präsentation der Kandidaten in den Medien dazu führe, dass eine Art Eigenwerbung erfolgen müsse, sodass nicht medienaffine Kandidaten geringere Chancen hätten.440 Der Verfassungsgeber sei davon ausgegangen, dass die Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten bereits bekannt seien und sich deswegen nicht „beweisen“ müssten – die Kandidaten stünden zur Wahl, biedern sich aber nicht zur Wahl an.441 Eine solche Vorverlagerung in die Öffentlichkeit kann jedoch dem Ansehen des künftigen Bundespräsidenten mehr schaden als eine Erörterung in einer parlamentarischen und kontrollierten Debatte in der Bundesversammlung,442 insbesondere bei emotional geführten Diskussionen in der Öffentlichkeit.443 Gleichwohl steht die grundgesetzlich geschützte öffentliche Berichterstattung und Diskussion in keinem Gegensatz zum Ausspracheverbot, denn dieses schützt nicht vor Debatten über die Kandidaten außerhalb des Geltungsbereiches des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG. Solche Debatten im Vorfeld und außerhalb der Bundesversammlung sind dem eingegrenzten 439 So auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 325; Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 129; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 23, 25. 440 Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 245 mit dem Hinweis auf die Diskussionen des Kandidatenvorschlages Steffen Heitmann (CDU) 1994, ein in der ehemaligen DDR aufgewachsener evangelischer Theologe, Kirchenjurist und ehemaliger Politiker. Dieser war Wunschkandidat des Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) für das Amt des Bundespräsidenten 1994. Nach umstrittenen Äußerungen – zur Rolle der Frau, zum Holocaust und über Ausländer –, die von Kritikern als ultrakonservativ oder sogar reaktionär angesehen wurden, verzichtete Heitmann am 25. November 1993 auf eine Kandidatur. Die in der Bundesversammlung 1994 notwendige Unterstützung durch die FDP war bereits zuvor ungewiss. Vgl. auch Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329, 1330. Zu den Vorgängen der Bundespräsidentenwahl 1994 ebenfalls: Billing, Der Kampf um die Besetzung des höchsten Staatsamtes: Auswahl und Wahl des Bundespräsidenten 1994, in: ZParl 1995, 595, 595 ff.; Decker, Das Präsidentenamt in der Parteiendemokratie, in: Gehne/ Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, 2010, S. 51; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 243. 441 Ebenso: Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939. 442 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 99; Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329, 1330; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 573; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 239. Ausführlich und zu den Debatten von 1959, 1979 und 1993. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 82. 443 Helmut Lindemann sah in seinem Modell für eine solche Diskussion einen Zeitraum von maximal 14 Tagen vor. Vgl. Lindemann, Das antiquierte GG, 1966, S. 196 f., 225, 229 f., 240. Siehe außerdem Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 223 f.
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Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG grundsätzlich nicht unterworfen, sondern unterliegen der Presse- und Meinungsfreiheit.444 f) Die Vereinbarkeit des Ausspracheverbots mit einem „Vorstellungswahlkampf“ 2004, aber auch 2009 und 2010, konnte beobachtet werden, dass die aufgestellten Kandidaten im Vorfeld der Bundespräsidentenwahl eine Art Wahlkampf führten.445 So gab es Auftritte auf Versammlungen und Talkrunden, Buchpräsentationen sowie Einzel- und Fraktionsgespräche mit Bundesversammlungsmitgliedern, die offensichtlich eine Steigerung des Bekanntheitsgrades und die Darstellung der eigenen Qualifikation für das höchste Staatsamt zum Ziel hatten.446 Ein solcher von den Kandidaten selbst initiierter oder von der Presse unterstützter Wahlkampf in Form eines „Vorstellungswahlkampfes“ könnte jedoch bereits in einem Spannungsverhältnis zum Ausspracheverbot stehen.447
444 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 225. Es ist ein urdemokratisches Prinzip und Ausdruck der Pressefreiheit, dass bei einer demokratischen Wahl über Kandidaten diskutiert und debattiert werden darf, nur soll der Prozess mit der Auseinandersetzung der Kandidaten aufgrund der besonderen Würde des Amtes am Wahltag selbst im Organ der Bundesversammlung abgeschlossen sein. Zur Vermeidung von Beschädigungen durch eine Kandidatenberichterstattung ist ein glaubwürdiger und verantwortungsvoller Journalismus gefordert, der sich an der Würde des Amtes orientiert. Vgl. auch Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Dichgans, Vom GG zur Verfassung, 1970, S. 62; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99 f.; Seltenreich, Zur Volkswahl des Bundespräsidenten, KritJ 1995, 238, 243; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186. 445 Billing, Der Kampf um die Besetzung des höchsten Staatsamtes: Auswahl und Wahl des Bundespräsidenten 1994, in: ZParl 1995, 595, 598 ff.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.3. Vgl. auch Pehle, Welches Verständnis hat das Bundesverfassungsgericht vom „höchsten Amt im Staate“?, GWP 2014, 321, 326 zu den geführten Diskussionen im Vorfeld der Bundesversammlungen. 446 Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2938. Für eine verantwortungsvolle Stimmabgabe ist es erforderlich, dass die vorgeschlagenen Kandidaten den Versammlungsmitgliedern hinreichend bekannt sind. Das Ausspracheverbot in der Versammlung führt zwangsläufig dazu, dass sich die Mitglieder über unbekanntere Kandidaten auf andere Weise die für ihre Stimmabgabe entscheidenden Informationen beschaffen, sodass sich die Diskussionen gezwungenermaßen in das Vorfeld der Versammlung verlagern müssen. Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 244. 447 Da es sich hierbei weniger um eine inhaltlich politische Positionierung der Kandidaten im Gegensatz zu Landtags- oder Bundestagswahlen handelt, erscheint es zur Verdeutlichung und Abgrenzung angemessen, im Folgenden von einem „Vorstellungswahlkampf“ zu sprechen.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
aa) Die bisherigen Verhaltensweisen von Kandidaten Als amtierender Bundespräsident betrieb Horst Köhler (CDU) 2009 in staatsmännischen Reden „Wahlkampf“ für seine Wiederwahl.448 Bereits 1999 bereiste die bis dahin unbekannte Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, Dagmar Schipanski, nominiert von der CDU/CSU, intensiv das Land.449 Einigen Stimmen in der Literatur erscheint es mit dem Amt des Bundespräsidenten generell unvereinbar, „Wahlkampf“, besonders für eine Wiederwahl, zu betreiben.450 Es bestehe die Gefahr, dass der jeweilige Gegenkandidat als unqualifiziert dargestellt werde und persönlichen Angriffen ausgesetzt sei.451 Im Zuge der ausgeprägten Medienöffentlichkeit hat jedoch ein erheblicher Wandel in der Gesellschaft stattgefunden, sodass eine Bundespräsidentenwahl ohne vorherige mediale Darstellung und ohne einen „Vorstellungswahlkampf“ der Kandidaten kaum mehr denkbar erscheint.452 Aus dieser Entwicklung heraus wirkt solch eine Art von „Vorstellungswahlkampf“ im Vorfeld einer Bundesversammlung fast schon konse448 Vertiefend hierzu: Gloe, Der Kampf um das höchste Amt im Staat – Die Wahl des Bundespräsidenten im Mai 2009 in: Gloe/Reinhardt (Hrsg.), Politikwissenschaft und Politische Bildung – Nationale und internationale Perspektiven, 2010, S. 85 – 98. 449 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 243. 2004 waren die Kandidaten der großen Parteien Gesine Schwan (SPD) und Horst Köhler (CDU) der Bevölkerung ebenfalls weitgehend unbekannt, sodass deren Wahlkampf eher als eine Vorstellung einzuordnen ist. Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.3. Ein Gegenbeispiel dazu ist die 17. Bundesversammlung am 13. Februar 2022, die gezeigt hat, dass eine Debatte im Fall eines zur Wiederwahl stehenden und in der Bevölkerung anerkannten Präsidenten auch kaum stattfinden kann. Die Wahl in zeitlicher Nähe der sich zuspitzenden außenpolitischen Verwerfungen mit Russland und kurz vor dem Kriegsbeginn mit der Ukraine (sowie zum Ende der Ära der Kanzlerschaft von Angela Merkel) taten ihr Übriges dazu, eine Debatte auch in den sozialen Medien zurückzudrängen. Vielmehr dürfte eine Konstante eines bewährten Bundespräsidenten im Amt – nach Antritt einer neuen Bundesregierung und dem Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel nach fast 16 Jahren – dem Wunsch der Bevölkerung und Politik in dieser aufwühlenden Zeit entsprochen haben. Den übrigen Kandidaten blieb damit ein Bekanntwerden bzw. eine „Eigenwerbung“ weitgehend verwehrt. 450 Jäger, Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan, in: Heckmann/ Schenke/Sydow, Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, 2013, S. 217 f.; Kloepfer, Verfassungsrecht: Bd. I, 2011, § 17, Rn. 33; Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939. 451 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 240; Wellkamp, Die Volkswahl des Bundespräsidenten, BayVBl. 2002, 267, 269. 452 So auch Prenzel, Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot noch zeitgemäß?, MIP 2016, 126, 129. Vgl. aber Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.5, der bei klaren Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung an der Sinnhaftigkeit eines solchen umfassenden „Wahlkampfes“ zweifelt. Doch selbst bei knappen Mehrheitsverhältnissen seien die Versammlungsmitglieder parteilich vielfach so gebunden, dass es trotz geheimer Wahl eher aussichtslos erscheine, einzelne Mitglieder zu einer anderen Entscheidung zu bewegen, sodass es vielfach die Medien seien, die einen „Zweikampf“ in ihrer Berichterstattung imitieren.
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens
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quent und logisch.453 So lange ein Kandidat andere Mitbewerber nicht herabsetzt, sondern die eigene Persönlichkeit thematisiert und um Sympathie wirbt, ist ein solcher „Vorstellungswahlkampf“ nach den bisherigen Ergebnissen nicht grundsätzlich als verfassungsrechtlich bedenklich einzustufen.454 bb) Kein vorwirkendes Neutralitätsgebot Jedoch könnte das Ausspracheverbot in der Bundesversammlung eine Wirkung dahingehend entfalten, die die Kandidaten an ein vorwirkendes Neutralitätsgebot zur Wahrung der Würde des Amtes bindet. Der Kandidat soll nicht nur – wie die demokratischen Vertreter der Parteien – die Wählerschaft repräsentieren, sondern weit darüber hinaus sein Amt in bürger- und parteiübergreifender Neutralität wahrnehmen.455 Diese Neutralität bedeutet jedoch keine apolitische Ausrichtung.456 Es ist vielmehr Ausdruck eines demokratischen Grundverständnisses, sich als Kandidat in der Öffentlichkeit vor einem Wahlakt zu präsentieren. Die Öffentlichkeit gewinnt so einen Eindruck von der Person und seiner Eignung für das höchste deutsche Staatsamt.457 Dabei sind dessen Vorstellungen über das Amt und die Art, wie er es ausfüllen wird, neben seinen gesellschaftlichen Einstellungen und Überzeugungen sowie seinen politischen Auffassungen von hohem Interesse.458
453 Bezweifelt wird der Sinn und der Vorteil einer solchen Vorverlagerung in einer parlamentarischen Demokratie jedoch von: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 245. 454 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 243; Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.3. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass das Ausspracheverbot einen vorgelagerten Vorstellungswahlkampf der Kandidaten gerade bezweckt. 455 Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939. 456 So auch v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 9. Zwar steht der parteipolitischen Neutralität des Präsidenten eine Befugnis zur immanenten öffentlichen Äußerung in Form von öffentlichen Reden, dem Mahnen, Warnen und Ermuntern nicht entgegen, sondern wird sogar erwartet. Jedoch entspricht es verfassungsrechtlicher Erwartung nach gefestigter Verfassungstradition, dass der Bundespräsident eine gewisse Distanz zu den Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wahrt und sich aus tagespolitischen Streitfragen heraushält. Denn als Ein-Person-Organ, das über den Parteigrenzen steht und mittels integrativer Ausfüllung seines Amtes zu einem gesellschaftlichen Vorbild werden kann, eignet sich der Bundespräsident in besonderem Maße zur Projektion kollektiver Sehnsüchte, sodass ihm zusätzlich eine „charismatische Legitimation“ zuwachsen kann. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 9 m. w. N.; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, vor Art. 54, Rn. 3. 457 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 245. 458 Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.3.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Dem Verständnis des Bundespräsidentenamtes steht jedoch eine parteipolitische Kampagne, ähnlich einem Bundes- oder Landtagswahlkampf, entgegen.459 Gerade ein polarisierender und möglicherweise spaltender Wahlkampf war ein Grund für die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“, sich gegen eine Direktwahl des Bundespräsidenten zu entscheiden.460 Diese Bedenken fallen umso stärker ins Gewicht, wenn ein möglicher Kandidat bereits Amtsinhaber ist, wie Horst Köhler (CDU) bei seiner Wiederwahl 2009 und Frank-Walter Steinmeier (SPD) 2022.461 Ein amtierender Bundespräsident kann als „Herausforderer“ nur einen moderaten Wahlkampf betreiben, da er weiterhin als Staatsoberhaupt in partei- sowie gesellschaftspolitischer Hinsicht neutral seine Amtsgeschäfte fortzuführen hat.462 Insofern ist die Stellung des Bundespräsidenten nicht vergleichbar mit der des Bundeskanzlers, da dieser aufgrund seiner verfassungsbegründenden, umfangreichen Kompetenzen und seiner Stellung gerade nicht zu Neutralität verpflichtet ist.463
459 So auch: Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.3. 460 So sind auch die immer wieder aufkommenden Forderungen nach einer Direktwahl des Bundespräsidenten kritisch zu sehen. Denn die Ausgestaltung des Wahlverfahrens hat großen Einfluss darauf, wer sich für eine Wahl zur Verfügung stellt. Ferner besteht zwischen dem Wahlverfahren und der verfassungsrechtlichen Ausstattung mit Rechten und Befugnissen ein enger Zusammenhang. Zwar ist die repräsentative Demokratie keineswegs per se inkompatibel mit punktuellen direktdemokratischen Elementen, jedoch verschiebt sich durch eine Volkswahl mit der Änderung von Art. 54 Abs. 1 GG – auch bei Verzicht weiterer Kompetenzübertragungen auf den Bundespräsidenten – faktisch das Verfassungsgefüge hin zu einer anderen Interpretation der bisherigen Amtsführung. Mit einer Volkswahl des Bundespräsidenten ginge damit auch eine Gewichtsverlagerung einher. Der Bundespräsident wäre von der parlamentarischen Legitimation abgekoppelt und durch die direkte Abhängigkeit vom Wahlvolk auf die gleiche Legitimationsbasis wie der Bundestag gestellt und hätte eine stärkere Legitimation als der Bundeskanzler. Eine solch verstärkende demokratische Legitimation steht konträr zur Stellung und zur Kompetenz des Bundespräsidenten und ist daher überschießend. Eine Direktwahl würde damit die informelle und auch die formelle Kompetenzaufteilung zwischen den Verfassungsorganen zugunsten des Bundespräsidenten in Richtung einer „Präsidentialisierung“ des politischen Systems verändern. Eine solche architektonische Verschiebung des nach über 70 Jahren vielfach gelobten und etablierten Verfassungsgefüges ist daher besonders begründungsbedürftig. Eine solche Änderung widerspräche dem Willen des Verfassungsgebers und wäre ein Experiment mit ungewissem Ausgang. 461 Die Wiederwahl Köhlers war insofern ein Novum, als alle bisherigen Amtsinhaber nur dann für eine Wiederwahl zur Verfügung standen, wenn diese als sicher erschien. Vgl. Decker, Das Präsidentenamt in der Parteiendemokratie, in: Gehne/Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, Festschrift für Ulrich von Alemann, 2010, S. 49. 462 Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939. Daneben lässt ein enger Terminkalender, der meist schon über Monate feststeht, kurzfristige „Wahlkampf-Termine“ kaum zu. Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.4. 463 Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939.
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens
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Gleiches gilt für den Präsidenten der USA,464 da auch von ihm keine überparteiliche Neutralität verlangt wird.465 Ein Herausforderer gegen einen amtierenden Bundespräsidenten mag den Vorteil haben, sich noch nicht durch die Zwänge des Amtes neutral verhalten zu müssen und dürfte gegebenenfalls die Amtsführung des derzeitigen Staatsoberhauptes kritisch kommentieren.466 Ein „Wahlkampf“ im Vorfeld der Bundesversammlung, vergleichbar den Wahlkämpfen der Spitzenkandidaten bei den Bundestagswahlen ist zudem schon deshalb nicht sinnvoll, weil der Bundespräsident keine partei-politischen Entscheidungen zu treffen hat.467 Im Ergebnis lässt sich weder aus dem Ausspracheverbot nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG noch aus dem Neutralitätsgebot des Bundespräsidenten eine konkrete verfassungsrechtliche Schranke als rote Linie herleiten, die die Art der Kandidatenvorstellung oder der Kandidatenpositionierung im Vorfeld einer Bundesversammlung nicht überschreiten darf. Gestützt wird diese Auffassung durch die Inkompatibilitätsvorschriften des Art. 55 GG, auf die später noch genauer eingegangen wird, die ihre Wirkung erst zum Amtsantritt entfalten und somit keine konkrete Vorwirkung beinhalten können. Bei offensichtlichen Entgleisungen wäre denkbar, dass die den Kandidaten bislang unterstützenden Personen ihre Unterstützung aus Verärgerung zurückziehen, auch wenn die in Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG normierten Wählbarkeitsvoraussetzungen nicht auf bestimmte Persönlichkeits- oder Charaktereigenschaften abstellen.468 464 Vertiefend zum Staatspräsidenten der USA: Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 21 – 23 sowie Rn. 26 m. w. N. mit dem Hinweis, dass viele südund lateinamerikanische Staaten nach dem amerikanischen Vorbild ein präsidiales Regierungssystem mit einem die Exekutivgewalt ausübenden Präsidenten eingeführt haben. Auch zahlreiche afrikanische Staaten, die ehemals französische Kolonie waren, haben denselben Weg eingeschlagen. 465 Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939. 466 Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 14.4. 467 Ebenso: Leisner, Volkswahl des Staatsoberhaupts – Ein Weg in die Präsidialdemokratie?, NJW 2009, 2938, 2939, der hierin aufkommende Züge einer Präsidialdemokratie sieht. 468 Dabei handelt es sich weniger um eine verfassungsrechtliche Frage, sondern vielmehr um eine Stilfrage der Kandidaten, die möglicherweise Aufschluss über die Interpretation und Ausübung eines späteren Bundespräsidentenamtes gibt. Dies kann für die Bundesversammlungsmitglieder bei ihrer Stimmabgabe Gewicht haben. Ausgehend von einem abweichenden Ergebnis, wonach ein Vorwahlkampf nicht nur eine Frage des Stils der Kandidaten ist, sondern aus der Verfassung eine Beschränkung erwachse, wäre ein einzig denkbarer normativer Anknüpfungsakt die Würde des präsidialen Amtes selbst und dessen spätere vermittelnde, integrale Funktion. Der „Vorstellungswahlkampf“ der Kandidaten müsste sich dann hieran orientieren und entsprechend der Würde des Amtes gestaltet werden, sodass sich bspw. eine persönliche Kritik an anderen Kandidaten verbietet. Ein Folgeproblem einer solch strengen Interpretation wäre die Frage, wer über die Einhaltung des Nichtüberschreitens einer dann schwierig zu benennenden „roten Linie“ wachen müsste und welche Konsequenzen, von wem festgelegt und ausgesprochen, in diesem Falle dem Kandidaten drohen würden. Eine solche Grenzziehung erscheint schwer praktikabel und noch schwieriger zu beurteilen. Ebenfalls
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Gegen Entgleisungen wie Beleidigungen und Verleumdungen steht der normale Rechtsweg offen. Der moderate „Vorstellungswahlkampf“ stellt deshalb kein unzulässiges Unterlaufen des Ausspracheverbots dar. Vielmehr führt die Vorverlagerung dazu, dass die Bundesversammlung auch zukünftig nicht zu einem Ort politischer Auseinandersetzungen wird und der Gewählte nach einem würdevollen Wahlverfahren in sein Amt eingesetzt werden kann.
III. Die Rechte und Pflichten des Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter Im Rahmen der gemäß § 8 S. 1 BPräsWahlG zugewiesenen Zuständigkeit des Bundestagspräsidenten für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Bundesversammlung stellt sich nach Klärung der Rechte der Bundesversammlungsmitglieder die Frage, welche Rechte und Pflichten dem Bundestagspräsidenten und seinem Sitzungsvorstand im Rahmen der Sitzungsleitung obliegen und zustehen. Elementare Pflicht der Sitzungsleitung ist es, für eine ordnungsgemäße Durchführung der Wahl Sorge zu tragen. Dazu gehört, dass alle Mitglieder der Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 6 GG am Wahlakt teilnehmen können und die Stimmen nach den Grundsätzen einer freien und gleichen Wahl abgegeben und gewertet werden.469 Dazu ist die Würde der Versammlung zu wahren und die ihr zugewiesene Aufgabe zu fördern.470 1. Die Sitzungsleitung gemäß sinngemäßer Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages § 8 S. 2 BPräsWahlG normiert für die Befugnisse der Sitzungsleitung als Regelfall die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages. Somit müsste der effektive Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG auch Rechtsmöglichkeiten gegen verhängte Sanktionen gewährleisten. Eine solche Beurteilung und Feststellung wäre – aufgrund der Betrauung mit der Vorbereitung der Versammlung – wohl dem Bundestagspräsidenten oder alternativ und letztendlich dem Bundesverfassungsgericht zuzusprechen. Aus § 9 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG wird jedoch der Wille des Gesetzgebers deutlich, wonach zum einen der Sitzungsvorstand die Wahlvorschläge zu prüfen hat und nicht der Bundestagspräsident als Einzelperson entscheiden soll. Dies ist auch geboten, um möglicherweise willkürliche Entscheidungen durch eine einzelne Person zu vermeiden. Über die Zurückweisung eines Wahlvorschlages müsste dann nach § 9 Abs. 2 S. 2 BPräsWahlG die Bundesversammlung selbst entscheiden. 469 Vgl. Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen Bundesversammlung am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3 sowie Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 470 Vgl. BVerfGE 1, 115, 116; Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 6.
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stehen ihr für die Bundesversammlung grundsätzlich alle Befugnisse zu, die ihm diese Geschäftsordnung zuweist. Zur Wahrung der gleichen Stimmenwertung sowie des gleichen Teilhaberechts muss der Bundestagspräsident daher innerhalb der gesetzlichen Vorgaben als alleinige Beschränkung471 willkürfreie Entscheidungen treffen – frei von sachfremden Erwägungen.472 In der Bundesversammlung, die nur partiell parlamentsähnliche Anteile in sich trägt und im Gegensatz zum Bundestag keine politischen Entscheidungen trifft, die eine ausführliche Debatte erfordern, müssen die Rechte des Sitzungsleiters entsprechenden Modifikationen unterzogen werden, um sachgerechte Entscheidungen treffen zu können.473 Das betrifft beispielsweise die Sichtung der Anträge, deren Prüfung auf Vereinbarkeit mit dem Ausspracheverbot oder die Einhaltung des Beschlusses der Bundesversammlung über ausschließlich schriftlich zu stellende Anträge. Die Sitzungsleitung muss darüber hinaus ohne vorherige Worterteilung Anträgen die Abstimmung verweigern können, die sich auf die Durchführung der Wahl als solche beziehen – also den Kern der Wahlhandlung betreffen und somit unter das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG fallen – um die Dignität des Wahlaktes zu wahren.474 Daher ist die Sitzungsleitung auch befugt, die Prüfung der Zulässigkeit von Anträgen nach modifizierten Maßstäben vorzunehmen und Anträge nicht nach Eingang, sondern – willkürfrei und sachbezogen – nach einer zweckmäßigen Reihenfolge zu behandeln.475 Hieraus resultieren die modifizierten und weitergehenden Befugnisse unter Beachtung des für die Bundesversammlung geltenden Ausspracheverbots und einer der Würde des Staatsorgans gerecht werdenden Wahl. Dieses Ergebnis der weitergehenden Befugnisse lässt sich auch mit der Tatsache begründen, dass die Bundes471 Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3. Vgl. auch Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, S. 1602 f.; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 13; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 1, S. 184. 472 Vgl. BVerfGE 104, 310, 331; 108, 251, 276; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 862. 473 Vgl. Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 474 Siehe auch: BVerfGE 136, 277, 318; 138, 125, 133; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 73; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 574; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 862. 475 Vgl. BVerfGE 136, 277, 318.
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versammlung wegen der Erfüllung nur zwei der fünf Charakteristika eines Parlamentes nicht mit diesem gleichgesetzt werden kann. „Frei schwebende“ Befugnisse der Sitzungsleitung sind jedoch abzulehnen. Maßstab ist die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung, die den Sitzungsleiter an die Vorgaben der Sitzungsleitung des Bundestages verweist und unter Beachtung der modifizierten Vorgaben das Ziel eines würdevollen, angemessenen und störungsfreien Sitzungsablaufes hat.476 Eine solche Handhabung spiegelt sich auch in der Gesetzesbegründung zum Bundespräsidentenwahlgesetz wider, bei der bewusst von einer detaillierten Regelung der Sitzungsleitung abgesehen wurde, „damit insbesondere dem Präsidenten des Bundestages die Handlungsfreiheit bleibt, die die jeweilige Lage [zur Wahrung eines würdevollen Ablaufs der Wahl] erfordert“.477 2. Das Hausrecht Für die Sicherstellung eines solchen Sitzungsablaufes stehen dem Bundestagspräsidenten gemäß § 8 S. 2 BPräsWahlG i. V. m. § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT das Hausrecht sowie die Ordnungs- und Polizeigewalt zu,478 wie dies Art. 40 Abs. 2 GG ebenso für die Sitzungen des Bundestages vorsieht.479 Das Hausrecht umfasst sowohl Eingriffe in die parlaments- als auch in die kürähnlichen Anteile der Bundesversammlung, da es zu jedem Zeitpunkt den Schutz der Versammlung vor Störungen im Ablauf von außen und innen gewährleisten soll.480 So wurden auch die Hygiene476
Vgl. BVerfGE 136, 277, 317; Eingangsstatement zur Urteilsverkündung in Sachen „Bundesversammlung“ am 10. Juni 2014 (2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10), S. 3 sowie Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 8.2; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 38; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 951. 477 BT-Drs. 3/358, S. 5. Vgl. auch Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 862. 478 Eingehend zum Begriff und zum Umfang der Organisationsgewalt siehe Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, DV 1994, 157, 157 ff. 479 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 26; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 70; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17. Eingehend zum Bundestagspräsidenten als Dienstherr und Verwaltungsbehörde sowie als Teil der Bundestagsleitung: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 7; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 77; Versteyl, Der Bundestagspräsident und die parlamentarische Disziplinargewalt, NJW 1983, 379, 379 – 381; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 156 – 158. 480 Das Zurückgreifen auf diese Handlungsmöglichkeiten verträgt sich mit dem Charakter als „Organ mixtum compositum“, da insbesondere im Rahmen des Geschäftsgangs jenseits des Wahlverfahrens das parlamentsähnliche überwiegt. Hinsichtlich des Teils der Bundesversammlung, der keinen parlamentsähnlichen Charakter aufweist, greift das Hausrecht aufgrund der Wahrung der Rechte und der Würde der Bundesversammlung in gleicher Weise.
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maßnahmen, die Einhaltung von Abstandsregelungen, die Masken- und die Testpflicht für die während der COVID-19-Pandemie stattgefundene Bundesversammlung im Jahr 2022 auf das Hausrecht gestützt. Das Hausrecht erstreckt sich dabei auf das gesamte Gebäude der hierin tagenden Bundesversammlung – somit beim derzeitigen Versammlungsort in Berlin auf das gesamte Reichstagsgebäude beziehungsweise auf das im Jahr 2022 genutzte Parlamentsgebäude Paul-Löbe-Haus. Es gilt in gleichem Maße im Falle der Anmietung von zusätzlichen oder anderen Räumlichkeiten für die Durchführung der Bundesversammlung, wenn ein rechtmäßiges Mietverhältnis besteht und der Mietzweck gegenüber dem Vermieter offengelegt wurde.481 Gegenüber Zuhörern und Sitzungsteilnehmern als versammlungsfremden Personen steht dem Bundestagspräsidenten die Disziplinargewalt i. S. v. § 36 GO-BT nicht zu, weil die Geschäftsordnung als intraparlamentarische Rechtsnorm nur für die Versammlungsmitglieder Bindung entfaltet.482 Dennoch kann der Sitzungsleiter sich diesen gegenüber auf die Ordnungsgewalt gemäß § 41 Abs. 1 GO-BT – als Konkretisierung des Hausrechts – stützen. Er kann demnach auch Nichtmitgliedern gegenüber unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung eines ungestörten Sitzungsablaufs ergreifen.483 3. Die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen Zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und zur Verhinderung und Beseitigung von Störungen im Geschäftsgang der Bundesversammlung gehört die Möglichkeit der Verhängung von Ordnungsmaßnahmen. Zu diesen Ordnungsmaßnahmen zählen die auch im Bundestag denkbaren Optionen des Ausspruches einer Rüge484, der Erteilung eines Sach- und Ordnungsrufes, der Wortentziehung und der Verhängung eines Ordnungsgeldes.485 Auch hier ist der Sitzungsleitung ein notfalls größerer Ermessensspielraum zuzubilligen. Insgesamt überwiegt bei der Verhängung von Ordnungsmaßnahmen der parlamentarische Charakter der Bundesversammlung. 481 Somit tritt das Hausrecht des Eigentümers hinter das der Sitzungsleitung zurück. Gleichzeitig übt die Exekutive Verwaltungstätigkeit durch den Bundestagspräsidenten als Organ der Legislative aus, wodurch der Grundsatz der Gewaltenteilung mit der Zweckverfolgung, die Legislative mit eigenen Befugnissen vor Einflüssen auf die Parlamentsautonomie zu schützen, durchbrochen wird. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 110; Köhler, Die Polizeigewalt des Parlamentspräsidenten im deutschen Staatsrecht, DVBl. 1992, 1577, 1577 ff.; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 154 f. 482 Vgl. BVerfGE 1, 144, 148; Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 154. 483 Vgl. Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 154. Eingehend zu möglichen Disziplinarmaßnahmen im Rahmen parlamentarischer Debatten im Bundestag siehe Schürmann, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 637 – 648. 484 BVerfGE 60, 374, 381 ff. 485 Brocker, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 40 (53. Edition, Stand: 15. 11. 2022), Rn. 8.2.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
4. Das Ausschlussrecht von Bundesversammlungsmitgliedern Für die Verhinderung von Störungen von innen heraus sieht § 38 GO-BT einen bis zu 30-tägigen Sitzungsausschluss für Bundestagsabgeordnete vor,486 sodass sich die Frage stellt, ob die normierte sinngemäße Übernahme der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für die Sitzung der Bundesversammlung aus verfassungsrechtlicher Perspektive eine Einschränkung erfahren muss. Im Falle der Zulässigkeit eines Sitzungsausschlusses eines Bundesversammlungsmitgliedes kollidiert dessen Recht zur Sitzungsteilnahme mit dem Recht und der Verpflichtung der Sitzungsleitung zur Wahrung und Durchsetzung einer ordnungsgemäßen Bundesversammlung. Da selbst ein temporärer Sitzungsausschluss in der Bundesversammlung möglicherweise einem gänzlichen Ausschluss von der bislang nur eintägig tagenden Bundesversammlung gleichkommt, erscheint dieser ungleich folgenschwerer als ein auf 30 Tage begrenzter Ausschluss eines für vier Jahre gewählten Abgeordneten im Bundestag.487 Das Mitverfolgen der Bundesversammlungssitzung durch den Ausgeschlossenen wäre aufgrund der Öffentlichkeit der Sitzung und der Übertragung in Funk und Fernsehen zwar auch von außerhalb des Versammlungssaales möglich, dennoch darf ein solcher Ausschluss aus der Bundesversammlung durch den Sitzungsvorstand nur als ultima ratio bei schwerwiegenden Verstößen und Beeinträchtigungen des Fortgangs der Versammlung in Betracht kommen und unterliegt einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.488 Tatbestandlich setzen Ordnungsmaßnahmen eine (erhebliche) Verletzung der Ordnung oder der Würde der Bundesversammlung voraus.489 Deshalb ist es hinzu486
Bei Nichtbefolgen des Ausschlusses durch ein Bundesversammlungsmitglied kommt der strafrechtliche Tatbestand des Hausfriedensbruchs nach § 123 StGB in Betracht. Vgl. Wilrich, Der Bundestagspräsident, DÖV 2002, 152, 155. 487 Zudem wird hinsichtlich des Ausschlusses im Bundestag vertreten, dass dieser, wenn er über den laufenden Sitzungstag hinausgeht, den Bundestagsabgeordneten in seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, weil ein Verhalten des Abgeordneten über das zur Beseitigung der Störung notwendige Maß hinaus sanktioniert werde und ihn seines statusrechtlich zugebilligtem Stimmrechts beraube. Vgl. Schönberger/Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 112 m. w. N. 488 Vergleichbares sieht Schmidt (Ausschussöffentlichkeit im Bundestag, 2021, S. 407 f.) für die Beschränkung bzw. für den Ausschluss störender Zuschauer von öffentlichen Ausschusssitzungen des Bundestages vor. Er verweist u. a. auf § 5 Abs. 2 und Abs. 3 der Hausordnung des Bundestages, die beispielsweise die Verhaltenspflichten von Besuchern regeln, wie die zugewiesenen Sitzplätze einzunehmen, Beifall- und Missfallensbekundungen, Zwischenrufe und Verletzungen von Ordnung und Anstand zu unterlassen, um den Ablauf der Sitzungen nicht zu stören. Bereits in diesem Fall sind die ergriffenen Sanktionen immer nur als ultima ratio verfassungsrechtlich unbedenklich. 489 Unter einer Verletzung der Ordnung wird im Bundestag die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Regeln und Normen der Parlamentspraxis verstanden, deren Befolgung als Grundlage des innerparlamentarischen Lebens gilt. Eine Einschränkung parlamentarischer Rechte kann nur zugunsten von Gütern von Verfassungsrang erfolgen, zu denen
D. Der Geschäftsgang der Bundesversammlung jenseits des Wahlverfahrens
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nehmen, dass für einen Ausschluss eines Mitglieds der Bundesversammlung sogar strengere Zulässigkeitsmaßstäbe gelten als im Bundestag. Doch gerade im kürähnlichen Anteil der Bundesversammlung kann die Wahrung der Sitzungsordnung gegenüber den Rechten des einzelnen Versammlungsmitgliedes überwiegen. Im Falle des gänzlichen Ausschlusses eines Bundesversammlungsmitgliedes ist eine andere Möglichkeit der Stimmabgabe anzubieten und sicherzustellen. Dieses elementare Recht aus Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG muss gewahrt werden, ansonsten würde der vollkommene Ausschluss von der Wahl in der Regel über das notwendige Maß der Aufrechterhaltung der Sitzungsordnung hinausgehen. 5. Das Recht zur Vertretung durch die Bundestagsvizepräsidenten Bei bisherigen Bundesversammlungen wurde der Bundestagspräsident zeitweise von einem seiner Vizepräsidenten vertreten.490 Parallel zu den obigen Ausführungen zur Möglichkeit der Abwahl einer Sitzungsleitung ist Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 BPräsWahlG, wonach die gesamte Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung im Zuständigkeitsbereich des Bundestagspräsidenten liegt, nicht als höchstpersönliche Verpflichtung des Bundestagspräsidenten auszulegen, sodass eine Vertretung durch einen Bundestagsvizepräsidenten ohne weiteres möglich ist. Soweit die Bundesversammlung eine abweichende Regelung ins Auge fassen will, kann sie die Vertretung aufgrund ihres Autonomierechts eigenständig beschließen, indem sie einen entsprechenden Antrag zur Abstimmung stellt. Darüber hinaus sieht im Falle der sinngemäßen Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages § 2 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 7 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GO-BT ausdrücklich die Möglichkeit einer Vertretung durch die Vizepräsidenten vor. Auch die Wahl einer Stellvertretung aus der Mitte der Bundesversammlung ist aufgrund des Autonomierechts entweder durch eine in diesem Punkt modifizierte Übernahme der Geschäftsordnung des Bundestages oder, sofern ein Beschluss über die unveränderte sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages entsprechend der
insbesondere die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages gehört. Reiner Parlamentsbrauch kann eine Einschränkung hingegen nicht rechtfertigen. Vgl. Schönberger/ Schönberger, Die AfD im Bundestag, JZ 2018, 105, 112 f. mit Anwendungsbeispielen aus der parlamentarischen Praxis. 490 Vgl. die Protokolle der Bundesversammlungen sowie Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 70; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 18, S. 1605. Siehe auch Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 3. Aufl. 2012, S. 152 f., der darauf verweist, dass sich der Präsident in der Praxis mit seinen Vizepräsidenten häufig alle zwei Stunden in der Leitung der Sitzungen abwechselt. Eingehend zu den Bundestagsvizepräsidenten: Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 689 – 693. Dieses Recht zur Vertretung umfasst die gesamte Sitzungsdauer und auch die „Nachbereitung“ der Bundespräsidentenwahl, etwa die Veranlassung der Eidesleistung nach § 11 BPräsWahlG.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Regelung des § 126 GO-BT bereits erfolgte, eine Änderung mit einer Zweidrittelmehrheit möglich.491 Sofern der Bundestagspräsident für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert, ist eine solche Vertretung zur Wahrung der Neutralität der Sitzungsleitung zwingend geboten.492
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung Das Wahlverfahren – von dem Einreichen von Wahlvorschlägen, deren Prüfung, dem Ablauf der Wahl bis zur Feststellung des Ergebnisses – ist die eigentliche und zugleich einzige Aufgabe der Bundesversammlung. Das Wahlverfahren an sich hat der Gesetzgeber in § 9 BPräsWahlG geregelt. Die Wählbarkeit als persönliche Voraussetzung zur Bekleidung des Amtes, die im Rahmen der Wahlvorschläge vom Sitzungsvorstand geprüft wird, hat gemäß der Stellung des Amtes als Staatsorgan im Grundgesetz Eingang gefunden.
I. Das Einreichen der Wahlvorschläge Im Anschluss an die Konstituierung der Bundesversammlung gibt der Bundestagspräsident die Wahlvorschläge, die bis dahin schriftlich bei ihm eingereicht wurden, in alphabetischer Reihenfolge bekannt (vgl. § 9 Abs. 1 S. 1 BPräsWahlG).493 Ein Wahlvorschlag kann, sobald das Datum der Einberufung feststeht, bereits weit vor Beginn der Bundesversammlung, aber auch kurzfristig, spätestens bis zum Beginn des jeweiligen Wahlvorgangs abgegeben werden.494
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Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99. 492 So auch Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 70; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 17 f., S. 1605 mit dem Hinweis, dass in der 7. Bundesversammlung 1979 der damalige Bundestagspräsident Karl Carstens (CDU) erfolgreich gegen die damalige Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) kandidierte und die Sitzungsleitung deshalb von den (nicht kandidierenden) Vizepräsidenten übernommen wurde. 493 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 24. 494 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 28; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 295; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 33.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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1. Das Vorschlagsrecht eines jeden Bundesversammlungsmitgliedes Nach § 9 Abs. 1 S. 1 BPräsWahlG kann jedes Mitglied der Versammlung, ohne Einhaltung eines Quorums,495 beim Präsidenten des Bundestages Wahlvorschläge einreichen.496 Da die Verfassung das Wahlvorschlagsrecht nur aktiv Wahlberechtigten zuspricht, ist die Vorgabe, die Wahlvorschläge von Nichtversammlungsmitgliedern ausschließt, verfassungsgemäß.497 Ein einzelnes Versammlungsmitglied könnte sich folglich auch selbst nominieren.498 Nicht möglich ist das Einreichen eines Kandidatenvorschlages durch Partei- oder Fraktionsvorsitzende, die der Bundesversammlung nicht angehören.499 In der Praxis wurde die Auswahl möglicher Kandidaten bislang ausnahmslos von Fraktionen500 und nicht von einzelnen Mitgliedern getroffen und ist stark parteipolitisch und -taktisch bestimmt.501 So erfolgt die Nominierung der Kandidaten meist durch das oberste Parteigremium und geht auf Absprachen zwischen Parteien und Fraktionen, häufig einiger weniger Spitzenpolitiker, zurück.502 Eine breite Diskus495 Anders ist dies bei den Wahlvorschlägen zur Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 Abs. 3 und Abs. 4 GG. Hier muss der Vorschlag gem. § 4 S. 2 GO-BT von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestages umfassen, unterzeichnet sein. 496 Vgl. Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 295; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 96; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.2. 497 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87. Vgl. auch BVerfG Beschluss vom 14. 3. 2012 – 2 BvQ 14/12, in dem ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt wurde, weil das Selbstvorschlagsrecht nur den aktiv Wahlberechtigten zusteht. 498 Die Zulässigkeit einer Selbstnominierung ergibt sich aus dem Grundsatz der Freiheit der Wahl und dem hieraus resultierenden freien Wahlvorschlagsrecht. 499 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 296. 500 Wie im Bundestag und in den Landtagen gliedert sich auch die Bundesversammlung in Fraktionen, s. o. Parteilose Mitglieder sind außerordentlich selten. Vgl. Kessel, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 28, S. 1609. 501 Jäger, Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan, in: Heckmann/ Schenke/Sydow, Verfassungsstaatlichkeit im Wandel, 2013, S. 213 – 219; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 31, S. 1610; Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 276. Erstmals 2012 wurde mit Joachim Gauck ein parteiloser Kandidat gewählt, auf den sich zuvor ein koalitionsübergreifender Kreis verständigt hatte. Seine Wahl war sicherlich auch auf den frühen Rücktritt von Christian Wulff, die Kandidatur Gaucks bereits 2010 und seine Beliebtheit in der Bevölkerung zurückzuführen. Siehe zudem Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 277 mit einer Übersicht – S. 278 f. – der Kandidaten und der Ergebnisse der Bundespräsidentenwahlen bis zur 15. Bundesversammlung am 18. März 2012. 502 In der Regel beschließen die Parteien schon weit im Voraus, ob und wen sie vorschlagen möchten. Kurzfristig unterbreitete Wahlvorschläge gab es in der Historie 1959 mit der Kandidatur von Heinrich Lübke (CDU) am 15. Juni 1959 gut zwei Wochen vor der Versammlung
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
sion über den Kandidatenvorschlag findet kaum oder nur in den jeweiligen Bundestagsfraktionen statt, sodass mit der Festlegung auf einen Kandidaten eine Vorentscheidung gefallen ist, die vielfach parteiintern nur noch abgesegnet wird.503 Es ist bislang nicht vorgekommen, dass ein aufgestellter Kandidat – den eine oder mehrere Parteien unterstützen, die über eine Mehrheit an Abgeordneten im Deutschen Bundestag verfügen – später nicht mit der erforderlichen Mehrheit gewählt wurde.504 a) Die Zulässigkeit des Aufstellens nur eines Kandidaten In der 9. Bundesversammlung am 23. Mai 1989 stand der Christdemokrat Richard von Weizsäcker505 zur Wiederwahl. Dieser hatte vor allem mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges parteiübergreifend Lob und Anerkennung erhalten. Bei seiner Wiederwahl stand zum ersten und bislang einzigen Mal nur ein einziger Kandidat zur Wahl.506 In einer Demokratie bedeutet eine Wahl indes nicht zwangsläufig eine Auswahl, sondern kann auch in der Zustimmung oder Ablehnung eines Vorschlags zum
am 1. Juli 1959, dies aufgrund der von Konrad Adenauer (CDU) am 7. April 1959 erklärten und am 5. Juni 1959 zurückgezogenen Kandidatur; ebenfalls kurzfristig die Kandidatur von Annemarie Renger (SPD) am Vortag der Bundesversammlung am 23. Mai 1979 nach dem Rückzug von Carl Friedrich von Weizsäcker, des parteilosen Philosophen und Atomphysikers. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 71. Kritisiert wird von Diemert, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2005, 108, 110, 112, dass durch diesen Auswahlprozess teilweise Kandidaten ohne Ansehen auf persönliche Verdienste „verschlissen“ und altgediente Politiker zu Kandidaten gekürt werden. 503 So auch: Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 95. 504 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 232. Von den bislang 12 Bundespräsidenten bei 17 Bundesversammlungen wurden viele mit knapper Mehrheit gewählt. Mit Theodor Heuss (FDP) in seiner zweiten Amtsperiode ab 1954, Richard von Weizsäcker (CDU) 1984 sowie 1989, Joachim Gauck (parteilos) 2012 und Frank-Walter Steinmeier (SPD) 2017 und 2022 fanden nur vier Kandidaten um das höchste Staatsamt im Ergebnis eine aus Regierungs- und Oppositionsparteien übergreifende Unterstützung. Jedoch verfügten die Parteien der Regierungskoalition auf Bundesebene jeweils über eine absolute Mehrheit der Stimmen auch in der Versammlung, sodass ihr Kandidat ohnehin eine Mehrheit hinter sich hätte vereinigen können. Hieraus folgert Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 95, dass die Wahlmänner auf Landesebene allein als „Verstärkungsbataillone der Bundestagsfraktionen“ hinsichtlich ihrer Parteien aufträten. Hierfür spreche zudem die Sitzordnung in der Bundesversammlung, die regionale Bezüge nicht mehr erkennen lasse, sondern sich an den Fraktionen orientiere. 505 Richard von Weizsäcker war der erste Bundespräsident, der bei seiner Wahl in der 8. Bundesversammlung am 23. Mai 1984 von den seinerzeit beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD unterstützt wurde. 506 Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 37, S. 1612 f.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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Ausdruck kommen.507 Somit ist die Abstimmung über nur eine aufgestellte Person zulässig, sofern es jedem Mitglied der Versammlung offenstand, einen Kandidaten vorzuschlagen.508 b) Das Aufstellen eines Gegenkandidaten bei einer Wiederwahl Wunsch eines sich zur Wiederwahl stellenden Bundespräsidenten ist es, als Bestätigung für sein Wirken in der ablaufenden Amtszeit mit einer (ähnlich) großen Mehrheit wiedergewählt zu werden.509 Öffentlich wurde darüber diskutiert, ob im Aufstellen eines Gegenkandidaten dem Ansehen des Bundespräsidenten Schaden zugefügt werde.510 Schließlich kollidiere die Rolle des amtierenden Präsidenten, der Respekt vor seiner Amtsführung erwartet, mit der Rolle des Kandidaten, der sich dem offenen Wettbewerb zu stellen hat. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich ein Kandidat für ein öffentliches Amt auch öffentlicher Kritik und einer Auseinandersetzung mit der bisherigen Amtsführung stellen muss. Vor einer angestrebten Wiederwahl wird der Bundespräsident meist den Zuspruch hinsichtlich seiner Amtsführung und auch die Mehrheitskonstellationen in der Bundesversammlung prüfen.511 Einem populären und allseits respektierten Amtsinhaber die Wiederwahl zu verwehren, ist keine rechtliche, sondern eine moralische Frage.512 507
So auch: Wieland, Die Bundesversammlung als Gesamtkunstwerk: Wählen die Falschen den Richtigen?, Legal Tribune Online, 18. 3. 2012, https://www.lto.de/recht/hintergruen de/h/bundespraesidentenwahl-bundesversammlung-nicht-verfassungswidrig/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 508 Ebenso ist es zulässig, dass ein Bundesversammlungsmitglied mehrere Kandidaten nominiert, da mit der Nominierung nicht die Absicht bekundet wird, den nominierten Kandidaten mit seiner Stimme auch zu unterstützen. Zudem besteht aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Begrenzung für eine maximale Anzahl an Kandidatenvorschlägen. 509 Jedoch fand bspw. der Wunsch Walter Scheels (FDP) 1979 nach einer Wiederwahl keine Berücksichtigung, da für die in der Zwischenzeit die Mehrheit stellende neue Koalition die Geltendmachung ihres Einflusses auf die Besetzung des höchsten Staatsamtes von ausschlaggebender Bedeutung war. In vereinzelten Fällen war die Verständigung auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten eine Vorwegnahme einer späteren Regierungskoalition auf Bundesebene. 510 Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 206 f. Doch lediglich bei der Wiederwahl Richard von Weizsäckers (CDU) gab es aufgrund der parteiübergreifenden Zustimmung keinen Gegenkandidaten. Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 18.1. 511 Anders zuletzt jedoch Frank-Walter Steinmeier (SPD), der seine Bereitschaft zu einer zweiten Amtszeit bereits vor der Bundestagswahl 2021 öffentlichkeitswirksam zu einem Zeitpunkt erklärte, als die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung 2022 noch völlig offen waren. 512 Eingehend hierzu: Decker, Das Präsidentenamt in der Parteiendemokratie, in: Gehne/ Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, 2010, S. 49 – 54. Vgl. Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329, 1330, der ausführt, dass der Amtsbonus die Chancengleichheit verschiebe und die demokratische Fairness bedrohe.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
2. Das Prüfungsrecht des Sitzungsvorstandes Der Sitzungsvorstand prüft jeden einzelnen Wahlvorschlag gemäß § 9 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG auf Einhaltung der formellen Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 BPräsWahlG sowie auf Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG und gibt die bis dato eingereichten Wahlvorschläge mündlich in alphabetischer Reihenfolge in der Bundesversammlung bekannt.513 Das Einreichen von Wahlvorschlägen und die Prüfung der Wählbarkeitsvoraussetzung durch den Sitzungsvorstand stellen klassisch parlamentarische Vorgänge dar. Aufgrund der Möglichkeit, dass jedes einzelne Mitglied bis zum Beginn der Stimmabgabe einen Kandidaten benennen oder eine Kandidatur zurückgezogen werden kann, sind laufende Veränderungen und neue Prüfungen möglich. a) Die Einhaltung der Anforderungen nach § 9 Abs. 1 BPräsWahlG Wahlvorschläge sind gemäß § 9 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG schriftlich und mit der Zustimmung des Vorgeschlagenen beim Bundestagspräsidenten einzureichen.514 Eine Zustimmungserklärung des Vorgeschlagenen muss beigefügt werden, um – wie auf der zweiten Bundesversammlung 1954 vor Inkrafttreten dieser Regelung geschehen – Nominierungen von Personen auszuschließen, die ihrer Nominierung nicht zugestimmt haben.515 Der Wahlvorschlag darf lediglich die zur Bezeichnung des Kandidaten erforderlichen Angaben enthalten (vgl. § 9 Abs. 1 S. 1 BPräsWahlG).516 Somit ist in der Regel ausschließlich der Name anzugeben, nicht aber eine 513 Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 248; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 29, 34, S. 1609 – 1612; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 3, S. 185. 514 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 96; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, 30, S. 1602 f., 1610; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 3, S. 185. 515 1954 benannte der Abgeordnete Max Reimann für seine Partei, die KPD, zu Beginn der Sitzung völlig unerwartet den Heidelberger Soziologen Alfred Weber, der von seiner Nominierung selbst überrascht wurde und nachträglich telefonisch seine Bereitschaft verweigerte. Das Erfordernis einer vorherigen Zustimmungserklärung für eine Kandidatur soll somit die generelle Bereitschaft zur Übernahme des Amtes signalisieren. Eine solche vorherige Zustimmung entbindet jedoch nicht von einer späteren ausdrücklichen Annahme der Wahl. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95 f.; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 30, S. 1610; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 61; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 82. 516 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 71; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023,
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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Begründung, ein Lebenslauf, eine Laudatio, die Aufzählung von Qualifikationen oder eine Parteizugehörigkeit, soweit damit bereits eine Eindeutigkeit gegeben ist.517 Ebenso wie das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG dient auch diese Regelung dem Zweck, das Amt und die Wahl des Bundespräsidenten weitgehend aus dem politischen Meinungsstreit herauszuhalten.518 Mangels Vorgaben ist die Einreichung von Wahlvorschlägen an keine Frist gebunden, insbesondere sieht § 9 Abs. 1 BPräsWahlG keine Begrenzung vor.519 Wahlvorschläge können sowohl vor als auch nach Beginn der konstituierenden Sitzung bis zum Beginn der Wahlhandlung,520 außerdem gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG vor einem möglichen zweiten und dritten Wahlgang eingereicht werden, sofern die erforderliche Mehrheit im vorherigen Wahlgang nicht erreicht wurde.521 b) Das Vorliegen der Wählbarkeitsvoraussetzungen nach Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG Wählbar als Bundespräsident ist gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG jeder Deutsche, der das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag besitzt sowie das vierzigste Lebensjahr vollendet hat. Diese vom Sitzungsvorstand zu prüfenden Wählbarkeitsvoraussetzungen sind gleichlautend mit der Regelung des Art. 41 Abs. 2 WRV. Auch der
Art. 54, Rn. 54; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 30, S. 1610; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99. 517 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39; Nierhaus/ Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 18; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 82. 518 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87. 519 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39. 520 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39. Im Interesse einer zügigen Wahlhandlung wird vom Bundestagspräsidenten empfohlen, dass die Wahlvorschläge bereits am Vorabend des Wahltages vorliegen sollten, da vor Beginn der Wahlhandlung noch Stimmkarten mit den Namen der Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge gedruckt werden müssen. Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 31, S. 1610. 521 Einen neuen Wahlvorschlag im zweiten oder dritten Wahlgang der Bundesversammlung hat es bislang noch nicht gegeben. Jedoch kann – wie der 1925 in der Weimarer Republik durch Volkswahl gewählte Reichspräsident Paul von Hindenburg – auch ein Kandidat gewählt werden, der in einem ersten Wahlgang nicht zur Wahl stand. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 96; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 31, S. 1610; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 3, S. 185; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 82.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Entwurf in Art. 75 Abs. 3 HChE regelte in ähnlicher Weise die Wählbarkeitsvoraussetzungen.522 Die Voraussetzungen müssen zum Zeitpunkt der Wahl, demnach beim ersten Wahlgang, erfüllt sein und sind abschließend geregelt.523 Die in Art. 55 GG normierten Inkompatibilitäten kommen nicht für die Kandidatur und die Wahl, sondern nur für die Amtsausübung zum Tragen und entfalten ihre Wirkung erst mit dem Amtsantritt.524 Daher ist auch der Amtsantritt der maßgebliche Zeitpunkt für die Beendigung kollidierender Ämter und nicht der Zeitpunkt der Wahl beziehungsweise die Annahme der Wahl.525 Dementsprechend steht weder die Mitgliedschaft in einer
522
55. 523
Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 48,
Vgl. Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 18; v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 44; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/v. Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Fink, in: Huber/ Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 31; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 249; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 24; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 16; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 15; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 60; Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 2; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 27. 524 Die Gefahr einer Funktionsvermischung oder Funktionsverschiebung, dem dieser Grundsatz vorbeugen soll, wird durch eine Kandidatur noch nicht begründet. Somit betrifft diese Vorschrift nicht schon im Vorfeld die Stellung von Kandidaten für dieses Amt. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 44; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 85. So auch festgestellt im sog. Herzog-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, in dem eine Vorwirkung des Art. 55 GG ausgeschlossen wurde, soweit der Bundespräsidentschaftskandidat Richter am Bundesverfassungsgericht sei. Hierbei sah das Bundesverfassungsgericht keine unzulässige Funktionsvermischung und teilte die Bedenken an einer präsidialen Neutralität nicht, da der Richter am Bundesverfassungsgericht ähnlich neutral sein müsse. Vgl. BVerfGE 89, 359, 362 f.; Epping, Die Selbstablehnung von Richtern am BVerfG, DVBl 1994, 449, 453. Bislang ist auch kein Rücktritt vom aktuell bestrittenen Amt mit der Zustimmungserklärung zur Kandidatur, also vor der Wahl zum Bundespräsidenten, erfolgt. Unterlegene Kandidaten, wie der damalige Bundesverteidigungsminister Gerhard Schröder (CDU) 1969 oder der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) 1994, führten ihre Ämter nach der erfolglosen Kandidatur fort. Lediglich für den Fall, dass zwischen Annahmeerklärung und Amtsantritt ein längerer Zeitraum liegt, wird über eine „Vorwirkung“ des Art. 55 Abs. 1 GG diskutiert. Vgl. dazu Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 290 m. w. N., ferner zur sonstigen Staatspraxis und zu den Zeitpunkten, zu denen die gewählten Bundespräsidenten Heinrich Lübke (CDU), Gustav Heinemann (SPD) und Roman Herzog (CDU) ihre Rücktritte als Bundesminister bzw. Richter vom Bundesverfassungsgericht erklärten. 525 Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 15.2.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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Volksvertretung oder einer Regierung noch beispielsweise eine Zugehörigkeit zum Richterkollegium des Bundesverfassungsgerichts526 einer Wählbarkeit entgegen.527 Die Übernahme der maskulinen Form des Art. 54 GG „Jeder Deutsche“ aus der Weimarer Reichsverfassung ist geschlechtsneutral zu verstehen528 und schließt die Wählbarkeit jeder Person unabhängig von deren Geschlecht ein.529 Dies ergibt sich schon aus der Gleichstellung von Mann und Frau530 durch Art. 3 Abs. 2 GG.531 aa) Die Voraussetzung „deutsche Staatsangehörigkeit“ i. S. v. Art. 116 GG Eine Wählbarkeitsvoraussetzung nach Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG ist der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit i. S. v. Art. 116 GG.532 Hierbei unterscheidet das Grundgesetz nicht, ob die Staatsangehörigkeit von Geburt an bestand oder später 526
Vgl. BVerfGE 89, 359, 362 ff. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 44. 528 Das letzte ausschließlich einem Mann vorbehaltene Amt als Staatsoberhaupt war – nach umstrittener Ansicht – das des Kaisers nach der Reichsverfassung von 1849, wenngleich es auch zur Weimarer Reichsverfassung noch vereinzelte Stimmen gab, die das passive Wahlrecht auf Männer beschränken wollten. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 249 m. w. N.; Hubrich, Das demokratische Verfassungsrecht des Deutschen Reichs, S. 91. 529 In der Vergangenheit traten bereits mehrere Frauen an, auch wenn keine von ihnen zur Bundespräsidentin gewählt wurde: 1979 Annemarie Renger (SPD) für die SPD, 1984 Luise Rinser (parteilos) für die Grünen, 1994 Hildegard Hamm-Brücher (FDP) für die FDP, 1999 Dagmar Schipanski (CDU) für die CDU und Uta Ranke-Heinemann (parteilos) für die damalige PDS (heute: Linkspartei), 2004 und 2009 Gesine Schwan (SPD) für die SPD, 2010 Lukrezia Jochimsen (Linkspartei) für die Linkspartei sowie 2012 Beate Klarsfeld (parteilos) ebenfalls für die Linkspartei und Stefanie Gebauer (Freie Wähler) 2022 für die Freien Wähler. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 46; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 6. 530 Art. 3 Abs. 2 GG ist als sog. binäres Geschlechtsmodell auszulegen, während abweichend das Bundesverfassungsgericht auch weitere geschlechtliche Identitäten hierunter subsumiert. Das sog. dritte Geschlecht ist ebenfalls nach Art. 3 Abs. 2 GG vor Diskriminierung geschützt. Vgl. eingehend Kischel, in: BeckOK GG, Art. 3 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 219, 219b. 531 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 46; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 31; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 249; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 25; Jekewitz, in: AKGG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 6; Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 2. 532 Demnach ist Deutscher nach Abs. 1, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches mit Stand vom 31. 12. 1937 aufgenommen wurde. Die in Abs. 2 aufgeführten Personengruppen sind zwar nicht Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, können diese Eigenschaft durch Einbürgerung jedoch erwerben. Vgl. Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 31; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 5; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 30. 527
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
erworben wurde,533 auch wenn die bisherigen Bundespräsidenten allesamt gebürtige Deutsche waren.534 Ebenso wenig spielt der letzte gewöhnliche Aufenthaltsort eine Rolle.535 Der Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung hatte bei Entstehen der Weimarer Reichsverfassung ursprünglich vorgesehen, dass der Reichspräsident seit mindestens zehn Jahren deutscher Staatsbürger sein müsse, während die DNVP sogar verlangt hatte, dass diese bereits von Geburt an zu bestehen habe.536 Mit Rücksicht auf die Deutschen in abgetretenen Gebieten, aber auch um die Möglichkeit offen zu halten, Auslandsdeutsche zum Reichspräsidenten wählen zu können, wurde in Art. 41 Abs. 2 WRV auf nähere Einschränkungen verzichtet.537 Dies ermöglichte eine Kandidatur des zunächst staatenlosen Adolf Hitler für die NSDAP, der über die Ernennung zum Regierungsrat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangte.538 Aufgrund dieser Erfahrungen diskutierte der Herrenchiemseer Verfassungskonvent bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes zwar eine Mindestwohnsitzdauer, verwarf diese aber letztlich.539 533 Anders beim amerikanischen Staatspräsidenten, der die Staatsangehörigkeit bereits vom Zeitpunkt der Geburt an innehaben muss. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 45; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 249; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 25; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 95; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 29. 534 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 45; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 25; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 6. 535 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 45; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 31. 536 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 60 m. w. N. 537 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 60; Gmelin, Einführung in das Reichsverfassungsrecht, 1929, S. 108. 538 Adolf Hitler wurde 1925 von Österreich ausgebürgert und war fortan staatenlos. Der braunschweigische Ministerpräsident Dietrich Klagges (NSDAP) ernannte ihn kurz vor den Präsidentenwahlen 1932 zum Regierungsrat, sodass Adolf Hitler durch die Ernennung zum Beamten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Vgl. Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 60, Fn. 69 sowie Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 928 – 931, der diese „Schein-Ernennung“ Hitlers zum Staatsbeamten als rechtswidrig einordnet, da die Berufung nicht dem Ziel des Eintritts in den öffentlichen Dienst, sondern ausschließlich der Nebenwirkung des Erwerbes der Staatsangehörigkeit des Deutschen Reiches zugunsten Adolf Hitlers diente. 539 Der christdemokratische Abgeordnete Hermann von Mangoldt plädierte in der dritten Lesung des Hauptausschusses für einen mindestens fünfjährigen Wohnsitz im Gebiet des Deutschen Reiches, um eine gewisse innenpolitische Vertrautheit gewährleisten zu können. Vgl. die 49. Sitzung der dritten Lesung des Hauptausschusses vom 9. 2. 1949. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 2, Nr. 49, S. 1552. Siehe auch Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1999, S. 60 f.; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 400; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 50.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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bb) Die Voraussetzung „Mindestalter von 40 Jahren“ Das Mindestalter für die Wählbarkeit von 35 Jahren für den Reichspräsidenten (Art. 41 Abs. 2 WRV) wurde für den Bundespräsidenten um fünf Jahre auf das 40. Lebensjahr540 hochgesetzt (Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG).541 Dies wurde zum einen mit der gestiegenen Lebenserwartung begründet, zum anderen mit der Notwendigkeit, zu jungen und ehrgeizigen Politikern im Amt des Bundespräsidenten entgegenwirken zu müssen.542 Die monarchistischen Vorgängerverfassungen hatten – aufgrund der Vererbung des Kaisertitels – auf ein Mindestalter verzichtet.543 Entscheidend für die Altersgrenze ist der Wahltag – auf das Alter im Zeitpunkt des Wahlvorschlages kommt es nicht an.544 cc) Die Voraussetzung „Innehaben des Wahlrechts zum Bundestag“ Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG nennt als dritte Voraussetzung das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag. Dieses findet seine rechtlichen Grundlagen in Art. 38 Abs. 2 und Abs. 3 GG i. V. m. den §§ 12 ff. BWahlG.545 Dem Wortlaut ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob darunter das aktive oder das passive Wahlrecht zu verstehen ist. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BWahlG bedarf es für das aktive Wahlrecht zum Bundestag neben der Vollendung des achtzehnten Lebensjahres eines am Wahltag seit mindestens drei Monaten bestehenden Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland, sofern kein Ausnahmetatbestand nach § 2 Abs. 2 BWahlG greift.546 Durch Verweis des § 12 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG auf § 13
540
Als bislang jüngster Bundespräsident wurde 2010 Christian Wulff von der CDU gewählt, der elf Tage zuvor seinen 51. Geburtstag feierte. Als ältester Bundespräsident wurde 2012 der parteilose Joachim Gauck in seinem 72. Lebensjahr gewählt. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 47; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 26. 541 § 3 Abs. 1 BVerfGG sieht ein identisches Mindestalter für Richter am Bundesverfassungsgericht vor. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 251; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 34, S. 1611 f. 542 Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 20; Diemert, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2005, 108, 110. 543 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 251. 544 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 47; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 33; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 251; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 23; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 26. 545 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 48; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 32; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 27; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 34, S. 1611 f.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 31. 546 Vgl. Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 31.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
BWahlG sind darüber hinaus diejenigen vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen, die infolge eines Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzen.547 § 15 BWahlG regelt das passive Wahlrecht. Wählbar ist demnach derjenige, der die Voraussetzungen des aktiven Wahlrechts erfüllt und dem nicht gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkannt wurde. Diese Voraussetzungen, die ein Bundestagsabgeordneter erfüllen muss, der als Vertreter seines Wahlkreises und seiner Partei die Belange des demokratischen Staatswesens wahrnehmen möchte, haben erst recht für einen von der Bundesversammlung zu wählenden Kandidaten zu gelten, der sich für das höchste Amt im Staat bewirbt.548 Es ist nicht denkbar, dass an einen Bundestagsabgeordneten höhere Anforderungen gestellt werden als an den höchsten Repräsentanten des Staates. Art. 54 Abs. 1 GG ist somit zwingend so auszulegen, dass der Bundestagspräsident nur einen Kandidaten zur Wahl des Bundespräsidenten zulassen darf, der auch das passive Wahlrecht besitzt. dd) Die Beschränkung der anschließenden Wiederwahl nach Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG Bereits in Art. 76 Abs. 1 S. 2 HChE war eine einmalige Wiederwahl des Bundespräsidenten vorgesehen und hat schlussendlich auch in Art. 54 Abs. 2 GG Ein-
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Die weiteren bis zum Änderungsgesetz vom 18. 6. 2019 (BGBl. 2019, I, S. 834) geltenden Beschränkungen wurden vom Bundesverfassungsgericht am 29. 1. 2019 (Az.: 2 Bv 62/ 14) als mit dem Grundgesetz unvereinbar aufgehoben: Man durfte unter keiner Betreuung gem. § 13 Nr. 2 BWahlG a. F. stehen noch sich gem. § 13 Nr. 3 BWahlG a. F. aufgrund einer Anordnung nach § 63 StGB i. V. m. § 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden. Zur alten Rechtslage siehe Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 32; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 250. Siehe auch Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 94, der die damalige Beschränkung als zulässige Konkretisierungen der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG eingeschätzt hat. 548 So im Ergebnis auch v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17 mit der Begründung, dass nur derjenige das höchste Staatsamt bekleiden könne, der auch andere öffentliche Staatsämter besetzen und als Wahlbürger über deren Besetzung mitbestimmen könne, sowie Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 289; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4. Zur bisherigen Auseinandersetzung zum alten Recht siehe Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 23, der im Ergebnis eine Wählbarkeit solcher Personen, die die zusätzlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 BWahlG nicht erfüllen, für das Bundespräsidentenamt ausschließt. Dogmatisch zu erreichen sei ein solches Ergebnis entweder über eine Auslegung des Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG als Anforderung an ein passives Wahlrecht zum Bundestag oder alternativ – und von Roman Herzog präferiert – die Auslegung, wonach sich Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG auf Personen, denen die Bekleidung öffentlicher Ämter aberkannt wurde, nicht beziehe. Siehe hierzu auch Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 27 m. w. N.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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gang gefunden.549 Damit haben sich die „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ von der Regelung in Art. 43 Abs. 1 WRV verabschiedet, die eine unbegrenzte Wiederwahl des Reichspräsidenten zuließ.550 Der dahinterstehende Gedanke, einen übermäßig langen Einfluss einer Einzelperson im Amt zu vermeiden, zeigt zugleich den republikanischen Zuschnitt des Amtes des Bundespräsidenten.551 Der „Fiktion eines Wahlkaisers“ durch Kettenwahl, also eines über mehr als ein Jahrzehnt dauernden Einflusses einer einzelnen Person auf die Staatspolitik, wird damit ein Riegel vorgeschoben552 und ist Ausdruck des Bestrebens, bereits im Ansatz einen Amtsmissbrauch durch eine lang andauernde Amtsinhaberschaft auszuschließen.553 Vergleichbar einer Ineligibilitätsvorschrift ist dem Bundespräsidenten die Kandidatur im Anschluss an eine zweite Wahlperiode verwehrt.554 Der Bundestagspräsident hat daher einen entsprechenden Wahlvorschlag für die Bundesversammlung als unzulässig zurückzuweisen.555 549 Diese Beschränkung der Wiederwahl kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass der Bundespräsident vorzeitig vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit zurücktritt und sich vom Bundesratspräsidenten vertreten lässt und er deshalb am Tag der Neuwahl nicht mehr Präsident ist. Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 23. 550 Vgl. Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 87; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 34. 551 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 253; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 103; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 89. Eine Wahl auf Lebenszeit wäre daher aufgrund des durch die Ewigkeitsklausel nach Art. 79 Abs. 3 GG geschützten republikanischen Prinzips – auch im Falle einer verfassungsändernden Mehrheit i. S. v. Art. 79 Abs. 2 GG – verfassungswidrig. Hierauf ebenfalls hinweisend: Kunig, Der Bundespräsident, Jura 1994, 217, 218. 552 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 88; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 8; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 103; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 48. 553 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 253; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 41. 554 Vielfach finden sich auch Forderungen jegliche Wiederwahlmöglichkeit auszuschließen und somit die Amtszeit auf eine Periode zu beschränken sowie damit einhergehend die Forderung nach einer Verlängerung dieser einmaligen Amtszeit. Vgl. hierzu u. a. Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 47 – 49. 555 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 44; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 43; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 253; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 21; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 11; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 19; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 46. Eine solche Amtszeitbegrenzung sieht das Grundgesetz sonst für kein anderes oberstes Bundesorgan, somit auch nicht für den Bundeskanzler, vor. Lediglich einfachgesetzlich ist bspw.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
(1) Die Wiederwahl nach zwischenzeitlicher Unterbrechung Die eindeutige Formulierung des Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG „anschließend“ steht einer erneuten dritten Amtsperiode eines Bundespräsidenten nicht entgegen,556 sofern die Amtsperiode eines anderen Bundespräsidenten dazwischen lag.557 Formulierungen wie der Ausschluss einer „späteren“ oder „weiteren“ Wiederwahl hätten zur Eindeutigkeit geführt, dass einem Bundespräsidenten eine dritte Amtsperiode zu jedem späteren Zeitpunkt verwehrt ist. So hat der Gesetzgeber für die Wiederwahl des Bundesdatenschutzbeauftragten in § 11 Abs. 3 S. 2 BDSG mit der Formulierung einer einmaligen Wiederwahl eine absolute Begrenzung auf zwei Amtszeiten festgelegt.558 Die Historie spricht ebenfalls für eine solche Auslegung einer zulässigen erneuten Wiederwahl. Bereits der Abgeordnete Hans-Christoph Seebohm (DP) erkannte, dass der der heutigen Regelung entsprechende Art. 76 S. 2 HChE eine erneute zweimalige Präsidentschaft nach einer Unterbrechung zulasse. Dies stieß im Hauptausschuss auf keinen Widerspruch.559 Erst relativ spät im Organisationsausschuss wurde auf Anregung des Abgeordneten Max Becker (FDP) Satz 2 mit dem Wort „anschließend“ ergänzt, das (zwischenzeitlich) bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates seit 1970 die Wiederwahl für Richter am Bundesverfassungsgericht nach § 4 Abs. 2 BVerfGG bei einer grundsätzlich zwölfjährigen Amtszeit ausgeschlossen. 556 Ebenso Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 89 f., die sich gleichzeitig verwundert über diesen Streit zeigen und dies mit einer gesteigerten „Angst“ von Teilen der Staatsrechtslehre gegenüber dem Staatsoberhaupt erklären. 557 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 89; v. Coelln, in: Gröpl/Windthorst/v. Coelln, GG, 5. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 6; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 3; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 253 – 258; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 103; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186 m. w. N. Hieran zweifelnd: Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 4; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 3. A. A.: Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 8, der aufgrund des Telos der Vorschrift in der Entstehungsgeschichte die Norm dahingehend interpretiert, dass diese stets eine dritte Kandidatur verhindere. Daher sei die Wortwahl als „sprachlich verunglückte doppelte Einschränkung auszulegen“. Ferner komme aufgrund des fortgeschrittenen Alters oftmals eine dritte Kandidatur nach einer in der Regel fünfjährigen Unterbrechung aus biologischen Gründen kaum in Frage. Das Argument des Lebensalters kann jedoch bei der gestiegenen Lebenserwartung heutzutage kaum durchschlagen, besonders wer als „junger“ 40/50-Jähriger ins Amt gewählt wurde. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat gezeigt, dass man auch mit 72 Jahren das Amt antreten und über die gesamte Amtsdauer ausfüllen kann. 558 § 11 Abs. 3 BDSG: „Die Amtszeit der oder des Bundesbeauftragten beträgt fünf Jahre. Einmalige Wiederwahl ist zulässig.“ Die Amtszeitbegrenzung ist unabhängig davon, ob sie sich an die vorherige unmittelbar anschließt oder nicht. Vgl. Ziebarth, in: Sydow/Marsch, DSGVO/ BDSG, § 11 BDSG Rn. 10 m. w. N. 559 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl. 2008, Art. 54, Rn. 50; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 406; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 575; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 28.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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gefallen war.560 Daher sprechen sowohl der Wortlaut als auch der Wille des Gesetzgebers dafür, dass eine Wiederwahl bei zwischenzeitlicher Unterbrechung zulässig und beabsichtigt ist.561 Der Zielsetzung einer bewussten Machtbegrenzung des Bundespräsidenten durch eine ununterbrochene, lang andauernde Amtsinhaberschaft trägt die Unterbrechung der personellen Kontinuität an der Staatsspitze ausreichend Rechnung.562 Unterschiedliche Auffassungen bestehen hinsichtlich der Dauer der Unterbrechung, ob zwingend eine vollständige fünfjährige Wahlperiode zwischen der zweiten und dritten Amtszeit liegen muss. Die historische Auslegung für eine vollständige Wahlperiode beruft sich vor allem auf die Äußerung Seebohms.563 Nicht vertretbar erscheint nach dieser Auffassung, lediglich eine halbe Amtszeit für ausreichend zu erachten, um die weitere nicht als „anschließende“ Wiederwahl zu betrachten, zumal dies willkürlich und widersprüchlich zur Zielsetzung sowie zur historischen Auslegung ist. Gegen eine verkürzte Amtszeit spricht ferner der Wortlaut des Art. 54 Abs. 2 GG, der in seinem vorangehenden Satz 1 die fünfjährige Amtszeit des Bundespräsidenten festlegt. Dies muss dann auch der Zeitraum sein, für den ein anderer, zwischenzeitlicher Bundespräsident das Amt üblicherweise auszufüllen hat. Andererseits wird eine Gefahr zu einem missbräuchlichen Verhalten gesehen, wenn der „Zwischenamtierende“ durch vorzeitigen Rücktritt wenige Wochen vor Ablauf der fünfjährigen Amtszeit eine Wiederwahl seines Vorgängers verhindern kann.564 Bei einer nur um wenige Wochen verkürzten Amtszeit eines „Zwischenamtierenden“ müsste der Bundestagspräsident, der über die Zulässigkeit eines Wahlvorschlages befindet, seine Entscheidung an der Frage ausrichten, ob die Verkürzung der Amtszeit des Vorgängers um wenige Wochen dazu führen kann, dass dies als eine sich an die vorherige Amtszeit anschließende zu bewerten ist.565 560 Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 406; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 575. 561 So auch v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21. 562 Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21. 563 Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 397, 406; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 575. 564 Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 575. Zu denken ist hier an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der nach zwei Amtszeiten in den Jahren 2000 und 2008 als Präsident nicht mehr wiedergewählt werden konnte, jedoch 2012 nach einer „Karenzzeit“ als Ministerpräsident erneut zum Präsidenten Russlands gewählt wurde. 565 Dies auch problematisierend: v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 44; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 103 f.; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 575; Waldhoff/ Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 91 mit Hinweisen zur Prüfungsmöglichkeit durch das Bundesverfassungsgericht.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Die von den „Müttern und Vätern des Grundgesetzes“ grundsätzlich für möglich gehaltene Wiederwahl nach einer Interimszeit eines anderen Bundespräsidenten gilt es dabei zu beachten, ebenso, dass die Regelung des Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG missbräuchlich von einem Bundespräsidenten ausgenutzt werden könnte.566 Dies wäre dann der Fall, wenn die Einsetzung eines „Statthalters“ für einen kürzeren Zeitraum erfolgt, um dann den vorherigen Bundespräsidenten der Bundesversammlung zur Wiederwahl vorzuschlagen.567 Es dürfte kein Zusammenwirken von altem und neuem Bundespräsidenten vorliegen. Dieses nachzuweisen und einen kausalen Zusammenhang herzustellen, dürfte schwierig sein. Ob zudem ein solcher Plan aufgeht, kann in der pluralistisch besetzten Bundesversammlung hinsichtlich der benötigten Stimmenmehrheit durchaus bezweifelt werden, soweit dies nicht einhellig von den Mitgliedern mitgetragen wird.568 (2) Exkurs: Reformvorschläge zur Wiederwahl und zur Amtszeit Ein Wahlamt ist auf einen festen Zeitraum beschränkt, um durch einen erzwungenen regelmäßigen Wechsel die Amtsmacht zu begrenzen. Diskutabel ist, ob eine Amtszeitbegrenzung des Bundespräsidenten in seinem überwiegend repräsentativen Amt, insbesondere bei einer fehlenden Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers, überhaupt erforderlich erscheint.569 Das Amt ist jedenfalls nach dem Grundgesetz so ausgestaltet, dass eine Präsidialdiktatur unwahrscheinlich erscheint.570 Es gibt jedoch immer wieder Forderungen, entweder die Begrenzung der
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So auch v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 21; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 44; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 41; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4. Vgl. auch die parallele Diskussion in Österreich und die dortige Ermächtigung der österreichischen Bundeswahlbehörde nach § 8 BPWahlG über die Entscheidung, ob ein missbräuchliches Verhalten unter Abwägung des Einzelfalls vorliegt, bei Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 347 f. 567 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 44; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 21; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 103. Keinerlei Einschränkungen aufgrund des eindeutigen Wortlautes vornehmend: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 257. Differenzierend: Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 20, der in einem Rücktritt, der erkennbar dem Ziele dient, dem früheren Präsidenten ein Comeback zu ermöglichen, nur dann einen Hinderungsgrund sieht, wenn es sich „um ein von vornherein geplantes eindeutiges Unterlaufen“ der Beschränkung von Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG handelt. 568 Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 91. 569 Dahingehend ebenfalls: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 254; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 47. 570 So auch: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 474.
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Wiederwahl gänzlich abzuschaffen571 oder keine Wiederwahlmöglichkeit – gegebenenfalls unter Verlängerung der Amtszeit auf einmalig sieben Jahre – vorzusehen.572 Auch stellt sich die Frage, inwieweit die Wiederwahlmöglichkeit einer überparteilichen Amtsführung entgegensteht.573 Denn – neben der Möglichkeit der Veränderung von politischen Mehrheiten in der Bundesversammlung – besteht die Gefahr, dass im Hinblick auf die eigenen Wiederwahlchancen Rücksichtnahmen die Amtsführung beeinträchtigen.574 Selbst ein korrekt agierender Präsident, der sich um eine zweite Amtszeit bewirbt, nährt das Misstrauen, dass taktisches, parteipolitisches Handeln seine Amtsführung beeinflussen könnte.575 Ein solcher Anschein sollte jedoch bereits vermieden werden. Kaltefleiter sah insbesondere bei dem Bundespräsidenten Heinrich Lübke576 diese Tendenz und dachte daher über eine Grundgesetzänderung nach, die eine Verlängerung der Amtszeit ohne eine Wiederwahlmöglichkeit vorsah.577 Eine fehlende Wiederwahlmöglichkeit könnte nach Kaltefleiter dazu beitragen, dass parteipolitische Absprachen – die dem Selektionsprozess einer Wahl immanent seien – entfielen und insbesondere den Parteien ein mögliches Sanktionsmittel genommen würde.578 Das Selektionssystem der Wahl durch die Parteien stelle eine unvermeidbare Belastung für jeden Präsidenten dar.579 Ein solcher Verdacht ist aber auch schon bei der ersten Wahl durch eine Rückbindung des Bundespräsidenten gegenüber denjenigen denkbar, die diesen demokratisch legitimiert haben. Es hat sich gezeigt, dass dies nicht per se ein Makel sein 571 So gab es nach den Amtszeiten von Theodor Heuss (FDP) und Richard von Weizsäcker (CDU) Überlegungen, die Begrenzung der Wiederwahlmöglichkeit abzuschaffen, die jedoch nicht in einer – verfassungsrechtlich zulässigen – Verfassungsänderung mündeten. Vgl. Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 254; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 88; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 67; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 48. 572 Hierfür eintretend bspw. Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329, 1330. Vgl. auch Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 633; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186 m. w. N. 573 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 633. 574 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 255. Vgl. auch Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329, 1330, der in der Möglichkeit der Wiederwahl ein Sanktionsmittel der Parteien zur Beeinflussung der Amtsführung des Bundespräsidenten sah. 575 Isensee, Braucht die Republik einen Präsidenten?, NJW 1994, 1329, 1330. 576 Ein Porträt für die Amtszeit des zweiten Bundespräsidenten ist u. a. zu finden bei: Scholz/Süskind, Von Theodor Heuss bis Horst Köhler, 2004, S. 158 – 194 mit einer Liste von Veröffentlichungen von und über seine Person auf den S. 514 f. 577 Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 206 f. 578 Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 207. 579 Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, 1970, S. 207 f.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
muss, sondern dass die Amtsinhaber durchaus parteipolitisch unabhängig ihr Amt führen.580 Und auch umgekehrt wird eine Gesamtschau auf die Amtsführung bei den politisch Verantwortlichen, unabhängig von Einzelentscheidungen, vorgenommen. So wurde auch ein aus Sicht der Bundesregierung eher unbequemer Bundespräsident wie Horst Köhler (CDU), der zwei Gesetzen seine Zustimmung verweigerte,581 wiedergewählt.582 Bundespräsident Steinmeier überzeugte „seine“ Partei, die SPD, nach gescheiterten Verhandlungen einer Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP davon, Verhandlungen für die einzige aus dem Wahlergebnis noch mögliche Regierung, einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, aufzunehmen, obgleich die SPD diese Option vorher für sich ausgeschlossen hatte. Auch er wurde am 13. Februar 2022 mit einer breiten Zustimmung wiedergewählt. Der Vorteil einer einmaligen Wiederwahl ist die Möglichkeit im Sinne einer personellen Kontinuität, insbesondere einem angesehenen und beliebten Bundespräsidenten, die Chance einer weiteren Amtszeit zu ermöglichen, ohne dass dieser sich erneut in das Staatsamt einarbeiten und sein persönliches Amtsverständnis finden muss.583 Zudem reicht eine fünfjährige Amtszeit nicht immer aus, alle selbst gesteckten Ziele in Staat und Gesellschaft sowie die völkerrechtliche Repräsentation im gewünschten Umfang abzuarbeiten. Gleichzeitig verhindert die Begrenzung auf eine einmalige Wiederwahl, dass starke Präsidentenpersönlichkeiten länger Einfluss auf die Staatspolitik nehmen, und damit eine quasi monarchische Verfassungsentwicklung im Sinne eines „Ersatzmonarchen“ durch häufige Wiederwahl implementieren.584 580
Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 255. Im Oktober 2006 unterzeichnete Horst Köhler das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung nicht, da es aus seiner Sicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar war. Das Gesetz, das eine Privatisierung der Flugsicherung vorsah, wurde daraufhin zurückgezogen. Ebenfalls 2006 verweigerte Köhler seine Unterschrift für das Verbraucherinformationsgesetz: Seiner Einschätzung nach sollten mit diesem Gesetz grundgesetzwidrig Aufgaben des Bundes an die Gemeinden übertragen werden. Siehe auch die Übersicht aller bisherigen Gesetzeszustimmungsverweigerungen bis zum Jahre 2006: Spiegel-Redaktion (Hrsg.), Das achte Nein, Spiegel Online, 8. 12. 2006, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundespraesidenten-dasachte-nein-a-453425.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023 sowie Welt.de-Redaktion (Hrsg.), Chronik: Warum Bundespräsidenten Gesetze nicht unterschrieben, Welt.de, 24. 10. 2006, https://www.welt.de/politik/article89568/Chronik-Warum-Bundespraesidenten-Gesetzenicht-unterschrieben.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 582 Bei Köhlers Wiederwahl am 23. Mai 2009 wurde er aus dem bürgerlichen Lager, bestehend aus 614 Vertretern für CDU, CSU, FDP und Freie Wähler, unterstützt und erhielt bereits im ersten Wahlgang mit 613 Stimmen die erforderliche Mehrheit. 583 Vgl. die ARD-Talkshow „Sabine Christiansen“ vom 24. 6. 2007 und Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/ v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 40, 48. 584 Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 1956, S. 633; Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/ v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 48; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 4, S. 204. 581
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Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler (CDU) sprach sich 2007 für eine Verlängerung der präsidialen Amtsdauer – ohne Wiederwahlmöglichkeit – aus.585 Bereits in der von 1971 bis 1973 eingesetzten Enquête-Kommission wurde über eine einmalige Amtszeit von sieben Jahren diskutiert, die letztendlich jedoch nicht aufgegriffen wurde.586 Der Verfassungsgeber hat bewusst durch Abkopplung von Bundespräsidenten- und Bundestagswahl eine Entzerrung sichergestellt, um die Wahl des Bundespräsidenten möglichst aus dem Strudel parteitaktischer Wahlmanöver herauszuhalten. Auch wenn die fünfjährige Amtszeit nicht verhindert, dass Parteiführungen – teilweise auch unter koalitionspolitischen Gesichtspunkten – den Präsidentenkandidaten bestimmen, so ist eine Verlängerung jedenfalls auf acht Jahre aufgrund der vierjährigen Wahlperiode des Bundestages abzulehnen.587 Daher ist allenfalls eine Ausdehnung der Amtszeit auf sechs oder – wie zu Zeiten des Reichspräsidenten nach Art. 43 WRV – auf sieben Jahre in Betracht zu ziehen. Eine solch verlängerte Amtszeit kann indes möglicherweise im Falle einer Erkrankung oder erkennbarer Amtsmüdigkeit sowohl für den Bürger als auch für den Amtsinhaber unvorteilhaft sein. Entscheidend ist aber, dass die demokratische Legitimation – und somit das Mitspracherecht des Bürgers – abnimmt, je länger die Amtszeit beträgt. Aufgrund der Ablehnung der Volkswahl sollte konsequenterweise die Mitwirkung des Volkes auf der indirekt-demokratischen Ebene durch eine Amtszeitverlängerung nicht weiter eingeschränkt werden.588 Ferner hat sich in der Verfassungspraxis die These, wonach ein nur auf eine Amtszeit beschränkter Bundespräsident unabhängiger agieren könne, nicht bestätigt. Es ist nicht festzustellen, dass die bisherigen Bundespräsidenten in ihrer zweiten Amtszeit anders als zuvor und unabhängiger ihr Amt ausfüllten.589 Ohnehin erreichten mit Theodor Heuss (FDP), Heinrich Lübke (CDU), Richard von Weizsäcker (CDU), Horst Köhler (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) bislang nur fünf von zwölf Bundespräsidenten eine angestrebte zweite Amtszeit.590 585 Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 47. Zu dieser Diskussion ebenso: Fromme, Die Volkswahl des Bundespräsidenten ist kein Risiko, RuP 2004, 18, 21 f. 586 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186. 587 Hefty, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29. Juni 2007, S. 1; Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/ v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 48 f. 588 Nierhaus, Braucht die Bundesrepublik Deutschland ein volksgewähltes Staatsoberhaupt?, in: Detterbeck/Rozek/v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, 2009, S. 49. 589 So auch: Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 255. 590 Bei der Wahl für eine zweite Amtsperiode von Richard von Weizsäcker (CDU) gab es keinen Gegenkandidaten, während bei der Wiederwahl von Theodor Heuss (FDP) die KPD einen Gegenkandidaten benannte, auf den lediglich 12 Stimmen entfielen. Bei der Wieder-
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Überzeugende Argumente und eine Notwendigkeit, die grundgesetzlichen Regelungen der Wiederwahl oder die Amtszeit des Bundespräsidenten zu ändern, sind daher nicht ersichtlich. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte erscheint die fünfjährige Amtsperiode – mit einmaliger Wiederwahlmöglichkeit – ein angemessener Kompromiss für das formal höchste Amt in der Bundesrepublik.591 ee) Keine weiteren Eignungskriterien Das Grundgesetz schreibt keine Eignungskriterien für Bewerber fest, sondern lediglich die ausgeführten Beschränkungen auf eine einmalige Wiederwahl und die drei näher beschriebenen Wählbarkeitsvoraussetzungen592.593 Weder die Vorbildung, noch die Familie, die Herkunft, das Aussehen, rhetorische Begabung, Intelligenz oder Charakter sind in der Verfassung als Auswahlkriterium vorgegeben. Wie auch bei der Berufung in andere Staatsämter sind Eignungskriterien nicht Gegenstand von grundgesetzlichen oder gesetzlichen Bestimmungen. Unabhängig davon haben die rund zwei Monate anhaltenden Diskussionen im Vorfeld des Rücktritts von Bundespräsident Christian Wulff (CDU) verdeutlicht, dass jenseits der grundgesetzlichen Wählbarkeitsvoraussetzungen hohe Anforderungen an die Amtsinhaber gestellt werden, die es bereits bei der Kandidatenaufstellung zu beachten gilt. So werden von Medien und Bürgern persönliche Integrität, Redegewandtheit, Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit erwartet.594 Von Bedeutung können auch eine gewisse Weitläufigkeit und Erfahrung mit dem politischen Geschäft sein. Daher ist bereits bei der Auswahl der Kandidaten durch die Fraktionen wahl Heinrich Lübkes (CDU) stellte die FDP einen Gegenkandidaten auf, auf den 123 Stimmen entfielen. Für eine zweite Kandidatur Horst Köhlers (CDU) gab es keine überparteiliche Zustimmung. So stellte die SPD erneut Gesine Schwan (SPD) auf, die bereits fünf Jahre zuvor gegen ihn kandidiert hatte und die Partei „Die Linke“ stellte den Schauspieler Peter Sodann (parteilos) zur Wahl. Bei der Wiederwahl Frank-Walter Steinmeiers (SPD) gab es zwar drei Gegenkandidaten, jedoch erreichte der Amtsinhaber im ersten Wahlgang 71,0 % der Stimmen. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 256; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 8; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 18.1. Walter Scheel (FDP) trat nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten 1974 angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung 1979 nicht zur Wiederwahl an. 591 A. A.: Schwarz, Die Zeit vom 17. 4. 2008, S. 2, der in den beiden Amtszeiten Richard von Weizsäckers eine abfallende, pejorative Tendenz sieht. Differenzierend hierzu: Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 21. 592 Vgl. Kapitel 4 E. I. 2. b) aa) – cc), S. 303 – 306. 593 Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 23, der die einmalige Wiederwahlmöglichkeit als eine vierte Wählbarkeitsvoraussetzung deutet. 594 So wurde über die Kandidatur Joachim Gaucks (parteilos) im Vorfeld seiner Wahl vielfach geurteilt, dass er gut reden könne, kein Berufspolitiker sei, dafür aber authentisch, glaubwürdig und eine starke Persönlichkeit, sodass er die Voraussetzungen für das Amt erfülle. Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 15.1.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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und Parteien und bei der Einreichung der einzelnen Wahlvorschläge durch die Mitglieder der Bundesversammlung darauf zu achten, in der Bevölkerung akzeptierte und von ihrer Persönlichkeit uneingeschränkt geeignete Kandidaten zu nominieren beziehungsweise vorzuschlagen, die in der Lage sind, ermutigend und ausgleichend die verschiedenen Interessen und Meinungen in der Gesellschaft zu bündeln.595 Dies und nicht parteitaktisches Kalkül sollte auch ein entscheidendes Kriterium der Bundesversammlung bei ihrer Wahl sein. Wie im Rahmen der Eidesleistung noch kurz ausgeführt wird, stellen die Inkompatibilitätsvorschriften des Art. 55 GG kein Wählbarkeitshindernis dar, sondern entfalten erst nach der Wahl durch die Bundesversammlung ihre Wirkung. Müsste ein Kandidat bereits mit seiner Aufstellung entsprechende berufliche und im Privaten liegende Inkompatibilitäten mit dem Amt beseitigen und seinen Arbeitsplatz aufgeben, würde dies letztlich dazu führen, dass aussichtsreiche Kandidaten – wegen der Ungewissheit des Wahlausgangs – von einer Kandidatur für das Amt absehen könnten.596 Hinzu kommt, dass oftmals ein beachtlicher Zeitraum zwischen Kandidatenaufstellung, Wahl und Amtsantritt liegen kann, in dem der designierte Bundespräsident dann selbstständig seinen Lebensunterhalt bestreiten müsste.597 c) Sonstige Ablehnungsgründe gegenüber einem Kandidaten Auch ohne gesetzliche Normierung ist es aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten geboten, einen Wahlvorschlag nur aus rechtlichen Gründen zurückzuweisen. Politische oder weltanschauliche Gründe spielen keine Rolle.598 Somit ist eine Zurückweisung nur möglich, sofern die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 GG beziehungsweise die des § 9 Abs. 1 S. 1 und S. 3 BPräsWahlG nicht erfüllt sind.599 d) Das Zurückweisungsrecht von Wahlvorschlägen gemäß § 9 Abs. 2 BPräsWahlG Die rechtliche Prüfung, ob die Wahlvorschläge den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen, obliegt dem Sitzungsvorstand. Über die Zurückweisung eines Wahl595
So auch: Diemert, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2005, 108, 110. BVerfGE 89, 359, 362; v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 33; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 252 m. w. N.; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 24; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 16; Pieper, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 15.2. 597 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 252 m. w. N. 598 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 28; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39. 599 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39. 596
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
vorschlages entscheidet gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG die Bundesversammlung selbst, die bei ihrer Entscheidung auf die fachliche Kompetenz des Sitzungsvorstandes zurückgreift.600 Werden keine rechtlichen Bedenken gegen einzelne Vorschläge erhoben, so stellt der Sitzungsleiter fest, dass die Kandidatenvorschläge den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen.
II. Der Wahlablauf Nachdem die eingereichten Wahlvorschläge vom Sitzungsvorstand geprüft und bekannt gegeben wurden, erläutert der Sitzungsleiter das Abstimmungsverfahren,601 gibt die Regularien der Wahl bekannt und eröffnet – sofern es über den Ablauf des Wahlverfahrens keine Fragen gibt – den Wahlakt durch Aufruf der Bundesversammlungsmitglieder in alphabetischer Reihenfolge.602 Die Wahl erfolgt ausschließlich mit den ausgegebenen amtlichen Stimmzetteln, die für jeden Wahlgang unterschiedliche Farben aufweisen.603 Die amtlichen Stimmzettel enthalten die zugelassenen Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge sowie eine Spalte „Enthaltungen“. Der Bundestagspräsident als Sitzungsleiter entscheidet im eigenen Ermessen, ob zwischen den einzelnen Wahlgängen Beratungsbedarf besteht und gegebenenfalls eine Unterbrechung der Wahl angeordnet wird.604 Neben der Besprechung und Abstimmung über das Prozedere des Wahlablaufes überwiegt auch bei dem konkreten Wahlvorgang der parlamentarische Charakter der Bundesversammlung. Dieser tritt besonders dann zu Tage, wenn im ersten Wahlgang keine Mehrheit für einen der Kandidaten zu erwarten ist. Die Möglichkeit eines zweiten oder dritten Wahlgangs verdeutlicht, dass die Wahl gerade kein Akt der Fortführung und Vollendung eines bereits feststehenden Ergebnisses darstellt, die würdevoll zum Abschluss gebracht wird, sondern dass es sich hier um eine offene 600 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 95; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 54; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 39; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 33; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 99. 601 Dieses Verfahren ist nicht im BPräsWahlG geregelt, sondern richtet sich nach §§ 49 ff. GO-BT. 602 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 70; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 29, S. 1609. Bei dem Namensaufruf werden nachgerückte Mitglieder, die kurzfristig für gewählte Versammlungsmitglieder eintreten und nicht mehr im Namensverzeichnis alphabetisch aufgeführt werden konnten, am Schluss der Namensliste aufgerufen. 603 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 96. 604 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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Willensbildung handelt, deren Ergebnis noch nicht absehbar ist. Abgeschwächt mag dies dann sein, wenn im Vorfeld der Wahl eine klare Mehrheit für einen Kandidaten erwartet wird oder nur ein Kandidat nominiert wurde,605 wobei auch hier das konkrete Ergebnis der geheimen Wahl noch offen ist. 1. Die Gewährleistung einer geheimen Wahl Die bereits angesprochene geheime Wahl des Bundespräsidenten gemäß Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG wird durch die Schriftführer sichergestellt: Die amtlichen Stimmzettel dürfen erst nach dem Vorzeigen des Wahlausweises und vor Betreten der Wahlkabine nach Namensaufruf an die Mitglieder der Bundesversammlung ausgehändigt werden (vgl. § 49 Abs. 1 S. 2 GOBT). Nach der Stimmabgabe auf dem Wahlzettel werden diese in einen geschlossenen Wahlumschlag gesteckt, den Schriftführern der Wahlausweis abgegeben und der Wahlumschlag vor den Augen der Schriftführer in die dafür vorgesehene Wahlurne gelegt (§ 49 Abs. 1 S. 3, 4 GO-BT). Nach § 49 Abs. 2 GO-BT i. V. m. § 56 Abs. 6 Nr. 4 BWO haben die Schriftführer einen Wähler zurückzuweisen, wenn dieser seinen Stimmzettel außerhalb der Wahlkabine ausgefüllt oder gefaltet hat. Er kann jedoch den Wahlakt anschließend erneut ordnungsgemäß vollziehen.606 Für Wahlen im Bundestag regelt die Bundeswahlordnung die nähere Ausgestaltung und besagt in § 56 Abs. 2 S. 2 BWO, dass in der Wahlkabine zur Gewährleistung des unverzichtbaren Wahlgeheimnisses und der Wahlfreiheit nicht fotografiert oder gefilmt werden darf. Für die Bundesversammlung gilt nur die Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß, jedoch nichts darüber hinaus, sodass somit die Bundeswahlordnung in der Bundesversammlung keine Anwendung findet. Da der Bundestagspräsident alle Maßnahmen für eine ordnungsgemäße Wahl zu treffen hat, gehört dazu auch die Gewährleistung der freien und geheimen Stimmabgabe i. S. d. Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG. Aufgrund seines Hausrechts kann der Bundestagspräsident entsprechende Anweisungen erteilen. So wies Bundestagspräsident Lammert im Rahmen der Erläuterung des Wahlablaufes bei der 15. und 16. Bundesversammlung 2012 und 2017 ausdrücklich darauf hin, dass das für die Versammlungsteilnehmer während der gesamten Sitzung im Saal und in der Osthalle geltende Fotografier- und Filmverbot auch während des Aufenthaltes in der Wahlkabine zur Anwendung komme.607 Die von Bundestagspräsi605 So bei der Wiederwahl Richard von Weizsäckers (CDU) durch die 9. Bundesversammlung am 23. Mai 1989. Als einzig nominierter Kandidat erhielt er im 1. Wahlgang 84,9 % der Stimmen. 606 Siehe dazu Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 35, S. 1612. 607 So hieß es in der 15. Bundesversammlung 2012 (abgedruckt: https://www.bundestag.de/ resource/blob/486536/b60d794cc47739263947ec30b87516ba/04-Stenografischer-Bericht-data.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
dent Lammert gegebenen Anweisungen zur Durchführung der geheimen Wahl stellen keinen Verstoß gegen das Öffentlichkeitsprinzip dar, denn die Bundesversammlung wird in den Medien für jedermann übertragen. Unter Beachtung der Geheimhaltung der Wahl bei der Stimmabgabe und der Auszählung darf über die Versammlung als solche auch von einzelnen Bundesversammlungsmitgliedern in den sozialen Netzwerken – unter Beachtung des Fotografier- und Filmverbotes – berichtet werden.608 Nachdem alle Versammlungsmitglieder die Gelegenheit hatten, ihre Stimmen abzugeben, wird die Abstimmung vom Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter geschlossen.609 2. Das Auszählen der Stimmen Nach dem Schließen des jeweiligen Wahldurchgangs erteilt der Sitzungsleiter – wie bereits kurz angesprochen – den Schriftführern den Auftrag, mit der Auszählung der Stimmen zu beginnen.610 Ein Stimmzettel wird als ungültig gewertet, wenn dieser kein, mehr als ein Kreuz oder handschriftliche Zusätze enthält.611 Für eine mögliche Nachprüfung sind die Wahlzettel aufzubewahren.612 a) Stimmen für einen nicht auf der Stimmkarte verzeichneten Kandidaten In den ersten beiden Bundesversammlungen 1949 und 1954 war es möglich, dass Bundesversammlungsmitglieder einen nicht offiziell benannten Kandidaten durch eine handschriftliche Namensangabe auf dem Wahlzettel wählen konnten und dies pdf, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023): „Schließlich darf ich Sie – außer dem Hinweis, den Sie in Ihren Unterlagen gefunden haben – noch einmal darum bitten, dass Sie als Versammlungsteilnehmer während der gesamten Sitzung hier im Saal und auch draußen in der Osthalle, in der sich die Wahlkabinen befinden, weder fotografieren noch filmen.“ Ferner in der 16. Bundesversammlung 2017 (abgedruckt: https://www.bundestag.de/resource/blob/510436/48ff8e1 d0bac5c4c3cf294843346f86d/04-Stenographischer-Bericht-data.pdf, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023): „Deswegen bitte ich im Übrigen im Umfeld der Wahlkabinen noch sorgfältiger die Empfehlung zu beachten, die wir Ihnen ja ohnehin mit auf den Weg gegeben hatten, hier in der Bundesversammlung während des Wahlaktes nicht zu fotografieren oder zu filmen.“ 608 So auch Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 41; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 5; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 17. 609 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 96 f. Zuvor fragt der Sitzungsleiter und bittet um das Anzeigen beim Sitzungsvorstand, ob jemand im Saal anwesend ist, dessen Name noch nicht aufgerufen wurde, der aber darlegen kann, dass er zur Stimmabgabe berechtigt ist. 610 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 97; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 76. 611 Bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses wird die Sitzung unterbrochen. Auf die Fortführung der etwa 45-minütigen Sitzungsunterbrechung weist ein Klingelzeichen hin. 612 Vgl. Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, S. 181 f.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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als eine gültige Stimmabgabe gewertet wurde.613 Seit der Verabschiedung des Bundespräsidentenwahlgesetzes Ende April 1959 gilt die Regelung des § 9 Abs. 3 S. 2 BPräsWahlG, wonach Stimmzettel, die andere als in den zugelassenen Wahlvorschlägen benannte Personen aufweisen, ungültig sind.614 Es handelt sich dabei um eine verfassungskonforme Ausgestaltung des Wahlablaufes im Kompetenzrahmen des Art. 54 Abs. 7 GG, die garantiert, dass ausschließlich vom Sitzungsvorstand auf ihre Wählbarkeitsvoraussetzungen überprüfte Kandidaten zur Wahl stehen und die Einführung und rechtzeitige Nominierung eines Kandidaten in einem Folgewahlgang garantiert ist.615 Würde eine Mehrheit der Bundesversammlungsmitglieder sich absprechen und einen nicht vorgeschlagenen Kandidaten im ersten oder zweiten Wahlgang mit der erforderlichen absoluten Mehrheit wählen, verhindert Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 9 Abs. 3 S. 2 BPräsWahlG die Wahl dieser Person, da die Stimmen allesamt ungültig sind.616 In diesem Fall kommt auch keine andere Wahl zustande, sodass die Anhänger dieser Person die Möglichkeit haben, diese für den nachfolgenden Wahlgang rechtsgültig vorzuschlagen. Würden die Mitglieder der Bundesversammlung mehrheitlich im dritten Wahlgang einen nicht zugelassenen Kandidaten durch handschriftliche Namensangabe wählen, so wäre dieser Kandidat ebenfalls wegen der Ungültigkeit dieser Stimmen nicht gewählt, auch wenn er die dann nur noch erforderliche relative Mehrheit erreicht hätte. Gewählt wäre in diesem Fall gemäß Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG der Kandidat mit den zweitmeisten Stimmen, der dann die relative Mehrheit aufweist.617 613 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 76; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 31, S. 1610. 614 Damit reagierte der Gesetzgeber auf die Stimmenwertung für nicht zugelassene Kandidaten in den ersten beiden Bundesversammlungen. Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 55; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186. Somit verloren in der 3. Bundesversammlung am 1. Juli 1959 all die Stimmzettel ihre Gültigkeit, die mit Bemerkungen und Kommentaren versehen waren. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 96. 615 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 96; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 76; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 87; Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 41. Eine solche Konstellation, dass eine zunächst nicht vorgeschlagene Person die Mehrheit der Stimmen erhält, erscheint im Parteienstaat jedoch eher von theoretischer Natur. Ferner käme es bei einem tatsächlich mehrheitlich getragenen Wahlvorschlag nicht zu einer Ablehnung durch Mehrheitsbeschluss der Bundesversammlung i. S. d. § 9 Abs. 2 S. 2 BPräsWahlG. Hier kommen nur Fälle einer unterbliebenen Benennung als Kandidat in Betracht, obwohl der Sitzungsleiter zuvor die vorgeschlagenen Kandidaten benannt und auf die Möglichkeit weiterer Kandidaturbenennungen hingewiesen hat, oder einer Person, die die Wählbarkeitskriterien zuvor nicht erfüllte. 616 So auch: Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 41. 617 Vgl. dazu Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 41.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Die Gleichheit aller Stimmen ist nur gewährleistet, wenn allen Mitgliedern der Bundesversammlung die zur Wahl stehenden Personen zuvor mitgeteilt wurden und entsprechend auf den amtlichen Stimmzetteln abgedruckt sind. Nur so können die Bundesversammlungsmitglieder im Rahmen ihres freien Mandates sich für oder gegen einen Kandidaten entscheiden. Zudem würden anderenfalls das vorgelagerte Prüfungsrecht des Sitzungsvorstandes und das Zurückweisungsrecht der Bundesversammlung aus § 9 Abs. 2 S. 1, S. 2 BPräsWahlG unterlaufen. Aus diesen Gründen ist der Wortlaut des Art. 54 Abs. 6 GG teleologisch dahingehend auszulegen, dass das Auszählen der Stimmen auf die rechtsgültig vorgeschlagenen Kandidaten begrenzt ist. Insofern handelt es sich bei § 9 Abs. 3 S. 2 BPräsWahlG um eine zulässige Begrenzung des Art. 54 Abs. 6 GG. Zum anderen ist die Regelung als zwingend anzusehen, um die Rechte der Bundesversammlung auf eine gleiche und freie Wahl zu gewährleisten. Eine Beschränkung der Wahlfreiheit ist auch wegen der Regelung des § 9 Abs. 1 S. 1 BPräsWahlG nicht gegeben, da jedes Mitglied der Bundesversammlung beim Präsidenten des Bundestages schriftlich Wahlvorschläge für die Wahl des Bundespräsidenten einreichen kann. Die Regelung hinsichtlich einer offiziellen Kandidatur unterstützt auch ein geordnetes Wahlverfahren und fördert ein die Würde des Bundesorgans widerspiegelndes Verfahren. Anderenfalls könnte die mögliche Wahl einer nicht offiziell kandidierenden Person dazu führen, dass eine anschließende Überprüfung ergibt, dass die Wählbarkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Dies führt zur vermeidbaren Folge, dass die Wahl des Bundespräsidenten wiederholt werden muss. Gleichzeitig verdeutlichen diese Regelungen zum Wahlvorgang auch den parlamentsähnlichen Charakter der Bundesversammlung. b) Die Frage nach dem Recht auf Entsendung eines Wahlbeobachters In der 14. Bundesversammlung 2010 wurde ein Antrag zur Entsendung von „Wahlbeobachtern“, ohne Gelegenheit zur mündlichen Begründung von der Bundesversammlung mehrheitlich abgelehnt.618 Ein Recht der Bundesversammlungsmitglieder, bei der Stimmauszählung anwesend zu sein oder jedenfalls eine Person zur Wahlbeobachtung zu bestimmen, könnte sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG analog i. V. m. dem aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG fließenden Rechtsstaatsprinzip sowie aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ergeben.619 Das Bundesverfassungsgericht hat in einem die 15. Bundesversammlung betreffenden Eilverfahren im Jahre 2012 entschieden620 618 Der damalige Antrag der NPD-Mitglieder Udo Pastörs, Holger Apfel und Johannes Müller lautete: „Jeder Wahlvorschlagsträger darf eine Person benennen, die nach jedem Wahlgang bei der Auszählung der Stimmen als Beobachter anwesend ist.“ Vgl. BVerfGE 136, 277, 287. 619 So die Argumentation des Antragstellers im Organstreitverfahren. Vgl. BVerfGE 136, 277, 294; 138, 125, 130. 620 BVerfGE 130, 367, 367 ff.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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und in seiner Entscheidung von 2014 bestätigt,621 dass einem Mitglied der Bundesversammlung kein Recht auf Entsendung eines Wahlbeobachters zustehe. Das Grundgesetz habe dem einzelnen Bundesversammlungsmitglied kein Recht übertragen, als Wahlbeobachter der Ermittlung der Wahlergebnisse beizuwohnen.622 Dem Bundesverfassungsgericht ist darin zuzustimmen, dass ein subjektives Recht für die Bundesversammlungsmitglieder nicht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG analog i. V. m. dem aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG fließenden Rechtsstaatsprinzip herzuleiten ist. Hierbei handelt es sich um Normierungen zum allgemeinen Wahlrecht. Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung unterscheidet sich jedoch in Teilen grundlegend davon,623 sodass Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG für die Mitglieder im „Organ mixtum compositum“ nicht unmittelbar anwendbar ist. Zudem lässt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip kein subjektives Recht auf Entsendung eines Wahlbeobachters herleiten, ebenso wenig aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, die sich nicht auf die Auszählung bezieht.624 Ferner lässt sich ein solches Recht auch nicht aus Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG herleiten, noch kennt die Geschäftsordnung des Bundestages ein subjektives Recht auf eine Wahlbeobachtung.625 Ein solches Recht könnte sich jedoch ergeben, wenn sich die Bundesversammlung über § 8 S. 2 BPräsWahlG eine eigene Geschäftsordnung gibt und ein entsprechendes Recht dort normiert.626 Der Gesetzgeber hat durch die Gestaltung des Wahlvorgangs bereits Bedingungen der Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit geschaffen. Diese reichen von der Kontrolle der Stimmabgabe, über die Ausgabe der Stimmzettel bis zum Einwurf der Stimmzettel im Umschlag in die Wahlurne sowie die Auszählung der Stimmen und die Ermittlung des Ergebnisses durch die Schriftführer, die als Mitglieder des Bundestages auch gleichzeitig geborene Mitglieder der Bundesversammlung sind.627 Da die Schriftführer des Bundestages in der
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BVerfGE 138, 125, 135. BVerfGE 130, 367, 369 f.; 136, 277, 322; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 623 So auch die Argumentation der Antragsgegner. Vgl. BVerfGE 136, 277, 298. 624 BVerfGE 130, 367, 369 f.; 136, 277, 322 f.; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 625 So auch: BVerfGE 130, 367, 370; 136, 277, 322; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 626 In diesem Falle ergäbe sich ein solches Recht ausschließlich durch diese Geschäftsordnung. So im Ergebnis auch: BVerfGE 130, 367, 370; 138, 125, 135; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (Stand: 2016), Rn. 44. 627 BVerfGE 136, 277, 298; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 622
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Regel die Zählkommission der Bundesversammlung bilden und unterschiedlichen Fraktionen angehören, ist eine gegenseitige Kontrolle sichergestellt.628 Abweichend zur bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung steht das Recht auf Entsendung eines Wahlbeobachters zwar nicht einem einzelnen Bundesversammlungsmitglied, jedoch jeder Fraktion zu, die keinen Schriftführer in der Bundesversammlung stellt. Eine nur in einzelnen Landesparlamenten vertretene Partei muss nicht zwangsläufig auch die 5%-Hürde für den Bundestag überschritten haben. Wenn eine Partei an der 5%-Hürde bei der Bundestagswahl (knapp) scheitert, aber mehrfach in den Landtagen vertreten ist, kann diese nach der derzeitigen Handhabung keinen Schriftführer in die Bundesversammlung entsenden. Daher findet diese Fraktion bei der Auszählung des Wahlergebnisses keine Berücksichtigung. Selbst wenn davon ausgegangen werden kann, dass durch die anderen Parteien die gegenseitige Kontrolle bei der Auszählung sichergestellt und gewährleistet ist, billigt der Rechtsgedanke aus § 2 Abs. 1 S. 2 GO-BT ein Recht auf Entsendung eines Wahlbeobachters dieser nicht in der Zählkommission berücksichtigten Fraktion zu. Mangels repräsentativer Aufgaben eines Wahlbeobachters durch die reine Beobachtung der Stimmenauszählung beziehungsweise des Wahlvorganges überwiegen die grundgesetzlichen Minderheitsrechte. Daher ist jede Fraktion, die nicht im Bundestag vertreten ist und keinen Schriftführer stellt, berechtigt, einen Wahlbeobachter für die Stimmauszählungen zu benennen.629 Dieses Recht zur Entsendung gebietet die jeder Fraktion zustehende Teilhabe, der Minderheitenschutz sowie das Recht auf Chancengleichheit. Es ist zugleich Ausfluss des parlamentsähnlichen Charakters dieses Teils der Bundespräsidentenwahl. Aufgrund des dargestellten Selbstorganisationsrechts und der der Bundesversammlung zugebilligten Autonomie darf kein außenstehender Dritter mit der Wahlbeobachtung betraut werden – die Auszählung erfolgt ausschließlich durch Bundesversammlungsmitglieder. Aus den genannten Gründen ist einem Antrag auf Entsendung eines „Wahlbeobachters“ vom Sitzungsvorstand bei einer Fraktion, die nicht durch einen Schriftführer vertreten ist, zu entsprechen. Dies gilt nicht bei einem Antrag durch ein einzelnes Mitglied. 628 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 629 Das Recht einer jeden Fraktion auf die Benennung eines Wahlbeobachters steht nicht im Gegensatz zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. 3. 2022, Az. 2 BvE 9/20, der die freie Wahlentscheidung der Bundestagsabgeordneten hinsichtlich der Wahl der Vizepräsidenten hervorhebt und es damit verfassungsrechtlich als unbedenklich ansieht, wenn eine im Bundestag vertretene Fraktion keinen Vizepräsidenten stellt. Im Bundestag nimmt der für eine ganze Legislaturperiode gewählte Vizepräsident auch repräsentative Aufgaben für den Bundestag wahr. Bei der reinen Beobachtung der Auszählung der Stimmen bei der Bundespräsidentenwahl hingegen hat der Wahlbeobachter keine darüber hinausgehenden Aufgaben oder Funktionen. Aus diesem Grund überwiegt der Minderheitenschutz, das Teilhaberecht und die Chancengleichheit aller in der Bundesversammlung vertretenen Fraktionen für diese einmaligen Wahlvorgänge gegenüber der freien Wahlentscheidung hinsichtlich der Ausgestaltung des Selbstorganisationsrechts, sodass das Recht der Bundesversammlungsmitglieder bei dieser besonderen Sachlage ggf. zurücktreten muss.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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c) Exkurs: Das Stimmrecht der Berliner Vertreter bis 1990 Die Berliner Abgeordneten nahmen im geteilten Deutschland an allen Bundesversammlungen teil, jedoch war deren Stimmrecht in der Bundesversammlung anfänglich umstritten.630 Während die Berliner Vertreter bei der 1. Bundesversammlung nicht stimmberechtigt waren, wurden ihre Stimmen in der 2. Bundesversammlung 1954 in einer Urne gesondert gesammelt und gezählt, dann aber dem allgemeinen Wahlergebnis zugerechnet.631 Für die 3. Bundesversammlung 1959 vertrat die Bundesregierung die Auffassung, dass die Berliner Vertreter kein Stimmrecht hätten, während der damalige Präsident der Bundesversammlung Eugen Gerstenmaier (CDU) einen gegenteiligen Standpunkt gegen die eigene, christdemokratisch geführte Bundesregierung einnahm und die Berliner Stimmen uneingeschränkt mitzählen ließ.632 Dagegen haben seinerzeit weder die Westmächte noch die Sowjetunion protestiert.633 So verfuhren die Sitzungsleiter auch in den folgenden Bundesversammlungen, die Bundesregierung gab keine widersprechende Erklärung mehr ab.634 630 Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Kessel, in: Die Bundesversammlung 1949 – 2004, 2009, S. 15; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 183. 631 Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 254; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 183; Stöve, Die Bundesversammlung mit dem Entwurf eines Ausführungsgesetzes gemäss Artikel 54 Absatz 7, 1956, S. 89 ff.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 68. 632 Gerstenmaier stützte seine Entscheidung auf Ziffer 4 des Genehmigungsschreibens der Alliierten vom 12. Mai 1949, in dem das Berliner Stimmrecht ausdrücklich nur für den Bundestag und Bundesrat, nicht jedoch für die Bundesversammlung ausgeschlossen wurde. Wegen des Verbots dieses bundesdeutschen „Gouvernement“ blieb den Berliner Vertretern im Bundestag und Bundesrat ein Stimmrecht versagt. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts in Berliner Fragen hing jeweils von der politischen Tragweite des Falles ab. Konträr zur Position der Bundesregierung stellte am 21. Mai 1957 das Bundesverfassungsgericht, siehe BVerfGE 7, 1, 1 ff., fest, dass Berlin ein Land der Bundesrepublik sei und infolgedessen das Grundgesetz auch in Berlin gelte, sofern alliierte Vorbehalte nicht dagegen stünden. Möglicherweise standen hinter der gegensätzlichen Auffassung der christdemokratisch geführten Regierung politische Interessen, da die Berliner Abgeordneten überwiegend SPD-Mitglieder waren. Vgl. Anders, Zur Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1970, 253, 254; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 99 – 101; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 38, S. 1613 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 183 – dort auch vertiefend zur rechtlichen Einordnung in Bezug auf die Interpretation des Genehmigungsschreibens der Drei Mächte zum Grundgesetz –; sowie Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 65 – 68; Weber-Fas, Der Verfassungsstaat des GG, 2002, S. 41. 633 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 38, S. 1613 f.; Scholz/Süskind, Die Bundespräsidenten, 2004, S. 36; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 183. Vgl. nochmals die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Mai 1957, BVerfGE 7, 1, 1 ff. 634 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 38, S. 1613 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 3, S. 183.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Dieser Streit um das Stimmrecht der Berliner Abgeordneten ist spätestens mit der Wiedervereinigung und mit der Aufhebung der Vorbehalte zum Grundgesetz am 11. Juni 1990 durch die Alliierten obsolet geworden.635 3. Die Feststellung der erforderlichen Mehrheit und die Bekanntgabe des Ergebnisses Nach Beendigung der Stimmauszählung durch die Schriftführer stellt der Sitzungsleiter – nach Wiedereröffnung der unterbrochenen Sitzung – das Ergebnis des jeweiligen Wahlgangs fest und gibt dieses der Versammlung öffentlich bekannt, ebenso, ob ein Kandidat eine ausreichende Anzahl an Stimmen hinter sich vereinigen konnte. Ähnlich wie bei der Kanzlerwahl sieht das Grundgesetz für die Wahl des Bundespräsidenten in den verschiedenen Wahlgängen unterschiedliche Mehrheitserfordernisse vor. a) Die Ergebnisse des ersten und eines zweiten Wahlgangs Im ersten und zweiten Wahlgang ist gemäß Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG gewählt, wer i. S. v. Art. 121 GG die Mehrheit der Stimmen der gesetzlichen Mitgliederanzahl der Bundesversammlung auf sich vereinigt. Maßgebend ist weder die Zahl der anwesenden Mitglieder in der Bundesversammlung, noch werden die Stimmen nach Landesvertretern und Bundestagsabgeordneten differenziert oder separat ermittelt, nur die Summe aller Stimmen ist für das Quorum der absoluten Mehrheit entscheidend.636 Es ist daher für die je hälftig besetzte Bundesversammlung unerheblich, ob die Bundestagsabgeordneten oder die Ländervertreter mehrheitlich für einen Kandidaten gestimmt haben, da alle Stimmen gleichwertig zählen.637 635 Der seitdem gegenstandslose § 13 BPräsWahlG wurde durch Gesetz vom 12. 7. 2007 (BGBl. 2007, I, S. 1326) aufgehoben. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 101; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 53. 636 Alle Stimmkarten kommen in ein und dieselbe Wahlurne und unterscheiden sich äußerlich nicht. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 43; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 35; Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 337; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 13. 637 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 43; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 56. Vgl. auch Decker, Das Präsidentenamt in der Parteiendemokratie, in: Gehne/Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, 2010, S. 56 f., der sich mit Verweis auf Italien für ein höheres Quorum der Wahl des Bundespräsidenten von Zwei-Drittel in den ersten beiden Wahlgängen und einer absoluten Mehrheit im dritten Wahlgang ausspricht, um einen höheren Konsens und eine Verständigung auf eine parteiübergreifende Kandidatur zu fördern.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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Erreicht kein Bewerber im ersten Wahlgang das notwendige Quorum des Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG, so schließt sich unmittelbar ein zweiter an,638 selbst wenn absehbar ist, dass auch dann kein Kandidat diese Mehrheit erreichen wird. Art. 54 GG sieht – anders als bei der Kanzlerwahl in Art. 63 Abs. 3 und Abs. 4 S. 1 GG – keine zeitliche Zäsur zwischen den Wahlgängen vor.639 Die Einführung eines neuen Kandidaten oder der Wunsch einer Fraktion nach einer Beratung können Gründe für eine Sitzungsunterbrechung sein. Das hohe Zustimmungserfordernis ist Ausdruck der vom Verfassungsgeber gewünschten Konsensfindung für den Bundespräsidenten und unterstreicht das Bestreben, für das Staatsoberhaupt eine breite Unterstützung und Zustimmung zu erhalten.640 b) Das Ergebnis eines dritten Wahlgangs Wenn die erforderliche absolute Mehrheit in zwei Wahlgängen nicht erreicht wird641 oder der Kandidat die Wahl nicht annimmt, schließt sich ein dritter Wahlgang an.642 Gewählt ist gemäß Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG, wer „in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt.“ 638 Vgl. Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 337. Wie stets beim Quorum einer absoluten Mehrheit ist unbeachtlich, wie viele Mitglieder sich an der Abstimmung beteiligen, entscheidend ist das Erreichen des erforderlichen Mehrheitsergebnisses. Gleichwohl ist das Quorum Ausdruck einer hohen Präsenz der Bundesversammlungsmitglieder, was in der Vergangenheit auch der Fall war. Vgl. dazu Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77 sowie Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186. 639 Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 43. 640 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 291; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28. 641 Theodor Heuss (FDP) und Heinrich Lübke (CDU) bei ihrer jeweils ersten Kandidatur sowie Johannes Rau (SPD) erhielten im zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit. Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 293; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12. 642 Bislang gab es in der fünften Bundesversammlung 1969, bei der Wahl von Gustav Heinemann (SPD), bei der Wahl von Roman Herzog (CDU) in der zehnten Bundesversammlung 1994 sowie bei der 14. Bundesversammlung 2010, der Wahl von Christian Wulff (CDU), einen dritten Wahlgang. Heinemann ist im dritten Wahlgang mit einer einfachen Mehrheit (512 von 1036 Stimmen) gewählt worden, während Herzog (696 von 1324 Stimmen) und Wulff (625 von 1244 Stimmen) im dritten Wahlgang eine absolute Mehrheit erzielten. Das Ausscheiden chancenloser Kandidaten oder eine Umorientierung der Versammlungsmitglieder kann also dazu führen, dass ein Bewerber erst in einem späteren Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht, obwohl sie dann nicht mehr notwendig ist. Vgl. Butzer, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (Stand: 2016), Rn. 293; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 12; Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 337 f.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.1. Die Anregung, den dritten Wahlgang als
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Diese Formulierung hat in der Literatur zu unterschiedlichen Auslegungen geführt, in denen zum einen eine „einfache“643 als auch eine „relative“ Mehrheit644 für die Wahl des Bundespräsidenten für erforderlich erachtet wird. Die Begrifflichkeiten „einfache“ Mehrheit und „relative“ Mehrheit unterscheiden sich vom Ergebnis her nur dann, wenn mehr als zwei Kandidaten zum dritten Wahlgang antreten. Bei zwei zur Wahl stehenden Bewerbern ist unzweifelhaft derjenige gewählt, der mehr Stimmen als sein Mitbewerber auf sich vereinigen kann. Er erreicht damit sowohl die einfache als auch die relative Mehrheit.645 Bei mehr als zwei Kandidaten ist bei dem – geringeren – Erfordernis einer relativen Mehrheit der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt, unabhängig davon, in welcher Höhe Gegenstimmen auf seine Mitbewerber entfallen. Demgegenüber ist bei einer einfachen Mehrheit der Kandidat nur dann gewählt, wenn er die Mehrzahl der abgegebenen Stimmen im Vergleich zu der Gesamtzahl der auf die Gegenkandidaten entfallenen Stimmen erzielt hat. Die Zahl der Anwesenden bildet den Ausschlag,646 ungültige Stimmen und Enthaltungen bleiben bei beiden Mehrheiten unberücksichtigt und haben somit keinen Einfluss auf das Ergebnis. Die Formulierung des Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG – „der meisten Stimmen“ – ist dahingehend auszulegen, dass eine relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen
eine Stichwahl der beiden erfolgreichsten Kandidaten zu praktizieren, findet keine Stütze im Grundgesetz. Vgl. hierzu auch Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 96. 643 Für das Erfordernis einer „einfachen“ Mehrheit im dritten Wahlgang sprechen sich bspw. aus: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 96. 644 Für die Interpretation des Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG als „relative“ Mehrheit aussprechend: Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 86; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 13; Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 44; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 96; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28; v. Arnim, Der Bundespräsident – Kritik des Wahlverfahrens und des finanziellen Status, NVwZ 2012, 1, 2: Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 83; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 474; Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 61. Vgl. insbes. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 35, der auf falsche Auslegungen verweist und klarstellt, dass dem Wortlaut nach die „relative Mehrheit“ erforderlich sei und nicht die „einfache Mehrheit“. So auch: Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 8. 645 So auch Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 337, der als Konsequenz jedoch Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG wohl dahingehend interpretiert, dass es sich hierbei um eine einfache oder relative Mehrheit abhängig davon handelt, ob zwei oder mehrere Kandidaten zur Wahl stehen. Vgl. auch Marschall, Parlamentarismus, 3. Aufl. 2018, S. 86. 646 Vgl. abweichend v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 28, der von einer „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“ spricht, sowie ebenfalls abweichend Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 19, die von einer relativen Mehrheit im Sinne einer Anwesenheitsmehrheit sprechen.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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ausreichend ist. Diese geringere Anforderung647 nach zwei gescheiterten Wahlgängen trägt der Praktikabilität Rechnung und vermeidet einen „Verfassungsstillstand“.648 Der Gefahr, dass die stärkste Fraktion, die nicht über die absolute Mehrheit verfügt, die ersten beiden Wahlgänge in der Gewissheit kompromisslos verstreichen lässt, weil sie glaubt, eine entsprechende Mehrheit im dritten Wahlgang zu erreichen, kann jedoch durch eine vorherige Verständigung der Oppositionsfraktionen auf einen gemeinsamen Kandidaten entgegengewirkt werden.649 Anders als bei der Wahl des Bundeskanzlers normiert Art. 54 GG – wie erwähnt – keine genaue zeitliche Vorgabe für das Ansetzen eines dritten Wahlgangs. Es obliegt allein dem Bundestagspräsidenten zu entscheiden, inwieweit zwischen den weiteren Wahlgängen Beratungsbedarf besteht.650 Diese dürften aufgrund der Tatsache, dass die Bundesversammlung kein permanentes Organ ist,651 zeitnah erfolgen.
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Anders als bei der Kanzlerwahl, bei dem das Staatsoberhaupt eine Ermessensentscheidung zwischen der Ernennung eines Minderheitenkanzlers und der Auflösung des Bundestages nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG im Falle einer Wahl mit nur einfacher Mehrheit zusteht, ist der Bundespräsident vollumfänglich legitimiert. Eine absolute Mehrheit für den Bundespräsidenten erscheint auch nicht zwingend erforderlich, sondern lediglich wünschenswert für eine allseitige Anerkennung. Schließlich droht dem Bundespräsidenten nicht die Abwahl durch Neuwahl eines Nachfolgers wie dies das jederzeit mögliche konstruktive Misstrauensvotum gegenüber dem Bundeskanzler nach Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG vorsieht. Vgl. Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 341. 648 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 29; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 86. Siehe auch Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 291, der ausführt, dass es sich hierbei auch um eine Einladung an die relativ stärkste „Fraktion“ handeln könnte. Dies wird jedoch relativiert, da das Spekulieren auf einen Erfolg im dritten Wahlgang riskant sei, da unklar ist, ob Kandidaturen zurückgezogen werden und wie sich die Stimmen dann anschließend verteilen. Siehe auch Köhne, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2008, 95, 97 f., der ein Quorum von einer Zweidrittelmehrheit fordert. 649 So auch: Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 338. Dies kritisch sehend und daher für eine Stichwahl zwischen den zwei erfolgreichsten Kandidaten spätestens nach dem zweiten Wahlgang mit dem Erfordernis einer absoluten Mehrheit der anwesenden Mitglieder plädierend: Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 96. 650 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 13. Eine Stimmengleichheit im dritten Wahlgang führt zu einem weiteren Wahlgang. 651 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 44. Neben der Bundesversammlung kennt das Grundgesetz den Gemeinsamen Ausschuss nach Art. 53a GG als weiteres nicht permanent existierendes Organ. Vgl. Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 76.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
aa) Die Mindeststimmenanzahl ab dem dritten Wahlgang Zu klären ist, ob sich aus der Formulierung des Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG, wer „die meisten Stimmen auf sich vereinigt“, neben der relativen Mehrheit noch eine Mindeststimmenanzahl ab dem dritten Wahlgang ableiten lässt. Der Wortlaut kann so verstanden werden, dass von einem „Mehr“ im Gegensatz zu einem „Weniger“ ausgegangen wird, somit die Anzahl der „Ja-Stimmen“ im Falle nur einer (verbliebenen) Kandidatur die der „Nein-Stimmen“ überwiegen müsste.652 Der Wortlaut ließe sich auch so auslegen, dass mit der Formulierung der „meisten Stimmen“ erkennbar von einer Auswahl zwischen wenigstens zwei Kandidaten ausgegangen wird und der Fall von lediglich einer Kandidatur vom Wortlaut nicht unmittelbar erfasst ist.653 Ferner könnte die Formulierung „vereinigt“ dafür sprechen, dass ab dem dritten Wahlgang lediglich den Stimmen rechtliche Bedeutung zukommt, die sich auf einen Kandidaten „vereinigen“, also für und nicht gegen einen Kandidaten abgegeben wurden.654 Es bleibt zunächst festzuhalten, dass der Wortlaut nicht eindeutig ist. Der Verfassungsgeber wollte durch die geringeren Anforderungen an die Mehrheitsverhältnisse im dritten Wahlgang die Wahl möglichst zu einem Abschluss bringen. Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik besitzt die „Regierungsstabilität“ einen hohen Stellenwert. Dies bringen auch Art. 67 GG bezüglich des konstruktiven Misstrauensvotums und Art. 68 GG bezüglich der Vertrauensfrage deutlich zum Ausdruck.655 Das Erfordernis des Überwiegens der „Ja-Stimmen“ gegenüber der Gesamtzahl der „Nein-Stimmen“ ist abzulehnen, da anderenfalls Minderheitsgruppierungen durch Zurückziehen ihres/ihrer Kandidaten oder durch ihre faktische Nichtteilnahme die Wahl blockieren könnten.656 Gleiches gilt im Falle einer einzigen Kandidatur ab dem dritten Wahlgang, wenn die Nein-Stimmen die Ja-Stimmen überwiegen und 652 Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 576. 653 So auch: Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 576. 654 Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 576 ff., der sich vergleichend in einem Exkurs mit Art. 70 Abs. 3 S. 3 der thüringischen Landesverfassung und mit der Diskussion um die Wahl Bodo Ramelows im Dezember 2014 auseinandersetzt – dem ersten Ministerpräsidenten, der der Partei ,Die Linke‘ angehört. Bei dessen Wahl stand eine Kandidatur als einziger Kandidat in einem dritten Wahlgang im Raume und hierzu wurden konträre Positionen über ein Erfordernis einer Mindeststimmenanzahl von Wolfgang Zeh und Martin Morlok vertreten. 655 Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 576, 578. 656 Dies verdeutlicht folgendes Beispiel: Sofern bei drei Kandidaturen der Kandidat A 496, Kandidat B 400 und Kandidat C 300 Stimmen auf sich vereinigen, so wäre A gewählt – nichts anderes kann gelten, wenn B und C ihre Kandidaturen zurückziehen und den 496 Stimmen für A jedoch 700 „Nein-Stimmen“ gegenüberstehen.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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damit durch die fortlaufende Abgabe von Nein-Stimmen eine Wahl gleichfalls blockiert werden könnte.657 Somit bleibt festzuhalten, dass derjenige Kandidat gewählt ist, der auch nur über eine Stimme mehr verfügt als jeder andere Kandidat, auch wenn dieser insgesamt weniger Stimmen auf sich vereinigt als weitere Kandidaten zusammen erhalten, selbst wenn mehr Nein-Stimmen als Ja-Stimmen vorhanden sind.658 bb) Der Fall der Stimmengleichheit im dritten Wahlgang Trotz der hohen Mitgliederanzahl der Bundesversammlung zeigt die Vergangenheit, dass knappe Ergebnisse im dritten Wahlgang möglich sind.659 Wie mit einer Stimmengleichheit im dritten Wahlgang umzugehen ist,660 bedarf mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung einer Auslegung.661 Weder Art. 54 Abs. 6 GG noch das Bundespräsidentenwahlgesetz sehen für einen solchen Fall eine Regelung vor.662 Dass bei der Entstehung des Grundgesetzes weitere Wahlgänge für möglich gehalten wurden, zeigt die Tatsache, dass der Parlamentarische Rat – wie dargestellt – eine Entscheidung per Los ausdrücklich verworfen hat.663 Im Ergebnis wären bei einer Stimmengleichheit oder bei der Nichtannahme der Wahl im dritten Wahlgang weitere Wahlgänge mit dem Erfordernis einer relativen Mehrheit so lange 657
Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 77; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 578 f.; Reich, in: Magdeburger Kommentar zum GG, 1998, Art. 54, Rn. 10. 658 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 292 m. w. N. 659 So lagen in der 5. Bundesversammlung 1969 im dritten Wahlgang zwischen dem Siegenden Gustav Heinemann (SPD) und dem Zweitplatzierten Gerhard Schröder (CDU) nur sechs Stimmen und im ersten Wahlgang der 12. Bundesversammlung 2004 zwischen Horst Köhler (CDU) und Gesine Schwan (SPD) lediglich 15 Stimmen. 660 Da zuvor die absolute Mitgliedermehrheit bei einem Ausgang fünfzig zu fünfzig nicht erreicht wird, wird die Problematik um eine Stimmengleichheit erst ab dem dritten Wahlgang relevant. Vgl. Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 338 f. 661 Vgl. Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 339, der sich dafür ausspricht, dass der Verfassungsgeber oder der einfache Gesetzgeber zur Vermeidung von Unklarheiten für die letzte Wahlphase eine verbindliche Regelung bei Stimmengleichheit treffen müsse. 662 So auch: Diemert, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2005, 108, 108 f.; Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 339. 663 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 29; Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 78; Diemert, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2005, 108, 109; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 290; Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 397, 403; Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 578; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
zulässig und anzusetzen, bis sie erreicht ist.664 Neben der Historie spricht auch die Formulierung in Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG dafür, dass dem dritten Wahlgang weitere folgen können. Trotz des Wortes „einem“ kann die Formulierung „wer in einem weiteren Wahlgang“ mit dem Verständnis des Wortes „einem“ als unbestimmtem Artikel, auch nicht einengend auf zwingend nur einen noch folgenden Wahlgang verstanden werden. Falls dies beabsichtigt war, wäre eine eindeutige Formulierung im Sinne von „in einem weiteren letzten Wahlgang“ zu erwarten gewesen. Über den Wortlaut des § 9 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG hinausgehend dürfen auch bei mehr als drei Wahlgängen weiterhin neue Wahlvorschläge eingebracht werden.665 Denn Ziel des Wahlverfahrens ist, am Ende zu einem Ergebnis zu kommen, in dem ein (neuer) Bundespräsident gewählt ist. Selbst wenn damit letztlich vielleicht das „Sitzfleisch“ bei einer Pattsituation entscheidet,666 wahrt diese Vorgehensweise die Wahlgrundsätze und vermeidet den nicht gewollten Verfassungsstillstand.667 664
Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280 m. w. N.; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 57; Fritz, in: BKGG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 290; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 35; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 100; Müller, in: Model/Müller, GG, 11. Aufl. 1996, Art. 54, Rn. 2; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 19; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.1; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186. 665 Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Hartmann/Kempf, Staatsoberhäupter in der Demokratie, 2011, S. 96; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 35; Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 289; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 87; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186 m. w. N. Vgl. auch Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.2, der dies aus einer analogen Anwendung von § 9 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG für weitere Wahlgänge entnimmt. Siehe auch v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 29, der neue Wahlvorschläge angesichts des verfassungsrechtlich normierten Ausspracheverbots als nicht unproblematisch einordnet. Wie aus dem bisher Erarbeiteten hervorgeht, gilt das Ausspracheverbot in einem solchen Fall jedoch nicht absolut. 666 Vgl. jedoch die kritischen Anmerkungen zu einer denkbaren Vielzahl an Wahlwiederholungen von Magsaam, Mehrheit entscheidet – Ausgestaltung und Anwendung des Majoritätsprinzips im Verfassungsrecht des Bundes und der Länder, 2014, S. 341 f.: Die Erfahrungen hätten gezeigt, dass Wahlwiederholungen – auch aufgrund von Parteibindungen – selten zu anderen Ergebnissen führen würden und ein „immer aussichtsloser und unwürdiger“ erscheinendes Wahlverfahren drohe. Ferner würde ein abweichendes und zu einer Ein-StimmenMehrheit führendes Ergebnis in einem weiteren Wahlgang lediglich zeigen, dass ein mürbe gewordener Abgeordneter entgegen seiner in den vorherigen Wahlgängen zum Ausdruck gekommenen Meinung nun einen anderen – ihn wenig überzeugenden – Kandidaten gewählt habe, um dem „scheinbar unendlichen Treiben ein Ende zu bereiten“. Ein solcher Ablauf würde nicht zu mehr Stabilität, Akzeptanz, Würde und Ansehen des neuen Bundespräsidenten beitragen als ein Losentscheid. 667 Diemert, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2005, 108, 108 f. Auch im Falle einer dadurch möglicherweise gegebenen Vakanz vertritt der Bundesratsvorsitzende den Bundespräsidenten „geschäftsführend“ so lange, bis sich die Bundesversammlung auf einen
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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cc) Exkurs: Die Kritik an der relativen Mehrheit ab dem dritten Wahlgang Als Kritikpunkt wird vorgetragen, dass das Erfordernis der relativen Mehrheit ab dem dritten Wahlgang – abweichend zu einer absoluten Mehrheit der Stimmen i. S. v. Art. 121 GG – eine unzulässige Abschwächung der Legitimationsgrundlage bedeute, da in der Regel die stärkste Fraktion ohne Kompromissbereitschaft die beiden ersten Wahlgänge abwarten und ihren Kandidaten in einem der folgenden Wahlgänge durchbringen könne.668 Die relative Mehrheit ab dem dritten Wahlgang führe nicht unbedingt dazu, dass die Wahl des Bundespräsidenten auf einer breiten Vertrauensbasis beruhe. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass weder die Würde des Amtes noch die Autorität des Amtsträgers davon tangiert wurden, mit welcher Mehrheit in welchem Wahlgang eine Wahl zustande kam.669 Die Beendigung des Wahlverfahrens mit einer relativen Mehrheit im dritten oder späteren Wahlgang ist unter dem Aspekt der Stabilität des Systems jedoch wünschenswert. Eine tatsächlich breite Zustimmung in der Versammlung, die sich regelmäßig auch im Volk widerspiegeln sollte, erhielte der Bundespräsident erst bei einem höheren absoluten Quorum. Das Grundgesetz kennt die qualifizierte Mehrheit, also die Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen der Mitglieder nur in besonderen Konstellationen.670 Ein solches Quorum – in allen Wahlgängen – müsste zu parteiund fraktionsübergreifenden Kandidatennominierungen ohne parteitaktische Überlegungen und Absprachen führen. Ein solcher Kandidat müsste die Zustimmung in verschiedenen politischen Lagern erhalten und hierdurch nochmals unabhängiger und überparteilicher agieren können.671 Da diese hohen Anforderungen bei der wachsenden Parteienvielfalt oftmals schwieriger zu erreichen sind, erscheint es sinnvoll, die relative Mehrheit ab dem dritten Wahlgang unter dem Aspekt der Stabilität des Systems beizubehalten.
Kandidaten mehrheitlich geeinigt hat und dieser sein Amt antritt. Vgl. allgemein dazu Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, ZJS 2015, 573, 578. 668 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 165; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 96; Kühne, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2008, 95, 97. 669 Rütters, Direktwahl des Bundespräsidenten, ZParl 2013, 276, 280. Ferner kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch ein Kandidat mit Unterstützung mehrerer kleinerer Parteien erfolgreich sein kann. 670 So bspw. bei der Änderung des Grundgesetzes gem. Art. 79 Abs. 2 GG oder bei dem Beschluss in Bundestag oder Bundesrat nach Art. 61 Abs. 1 S. 3 GG auf Erhebung der Anklage und damit einer Prüfung der Absetzbarkeit des Staatsoberhauptes bei einem vorsätzlichen Verfassungs- oder Gesetzesverstoß. 671 Vgl. Kühne, Direktwahl des Bundespräsidenten?, RuP 2008, 95, 98.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
c) Die Bekanntgabe des Ergebnisses Im Rahmen der Bekanntgabe des Wahlergebnisses verliest der Sitzungsleiter die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen, die Enthaltungen sowie die ungültigen und anschließend die Anzahl der auf die einzelnen Kandidaten entfallenen Stimmen. Mit der geheim durchgeführten Wahl geht einher, dass das Wahlergebnis nicht bereits vorab beispielsweise über soziale Netzwerke veröffentlicht werden darf672 oder – wie in der 13. Bundesversammlung am 23. Mai 2009 geschehen – sichtbar Blumensträuße oder eine Blaskapelle das Ergebnis vorwegnehmen. Die Bekanntgabe ist ausschließlich Aufgabe des Sitzungsleiters. Dennoch ist es geübter Brauch, dass die Fraktionsvorsitzenden im Vorfeld der Bekanntgabe informiert werden.673 Sanktionsmöglichkeiten im Falle eines frühzeitigen Nachaußendringens der Wahlergebnisse gibt es jedoch nicht.674 Ebenso wenig berührt ein solcher Verstoß die Gültigkeit der Wahl. Die geschilderten Vorkommnisse haben jedoch dazu geführt, dass zur Vermeidung Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, die zur allgemein geübten Praxis wurden. Hierzu gehört, dass den bei der Auszählung beteiligten Schriftführern das Mitführen von Handys in den Auszählungsraum verboten ist.675 Das Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten sagt jedoch nichts über eine Verschwiegenheitspflicht von Wahlhelfern. Die „Geheimschutzordnung“ für Verschlusssachen gilt ebenso wenig und die geheime Wahl nach § 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG betrifft nur die Durchführung und nicht die Bekanntgabe des Wahlergebnisses. Gleichwohl kann der Bundestagspräsident im Vorfeld Vorsichtsmaßnahmen gegen ein vorzeitiges Bekanntwerden des Wahlergebnisses anordnen und sich hierbei auf sein Hausrecht und die Ordnungsgewalt gemäß § 8 S. 2 BPräsWahlG i. V. m. § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT stützen,676 da er die Versammlung vor äußeren und 672 So verrieten zwei Mitglieder 2010 das Wahlergebnis Christian Wulffs zum Bundespräsidenten vor der offiziellen Bekanntgabe über die Social-Media-Plattform Twitter (mit heutigem Namen X). Vgl. Dichmann, Twittern in der Bundesversammlung, Deutschlandfunk, 17. 3. 2012, https://www.deutschlandfunk.de/twittern-in-der-bundesversammlung.761.de.html? dram:article_id=114580, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 673 Vgl. LTO-Redaktion (Hrsg.), Bundespräsidentenwahl: Wulffs Weg ins Präsidialamt führt durch juristische Hintertür, Legal Tribune Online, 30. 6. 2010, https://www.lto.de/recht/ nachrichten/n/bundespraesidentenwahl-wulffs-weg-ins-praesidialamt-fuehrt-durch-juristischehintertuer/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 674 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 76. 675 Dichmann, Twittern in der Bundesversammlung, Deutschlandfunk, 17. 3. 2012, https:// www.deutschlandfunk.de/twittern-in-der-bundesversammlung.761.de.html?dram:article_ id=114580, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 676 Vgl. abweichend Kuhn, Devise Dichthalten, Süddeutsche Zeitung, 30. 6. 2010, https:// www.sueddeutsche.de/digital/twitter-in-der-bundesversammlung-devise-dichthalten-1.966793, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023, wonach als Konsequenz aus der „Twitter-Panne“ bei der Bundesversammlung 2009 der Ältestenrat später dafür gestimmt hatte, alle Schriftführer ihre Handys vor der Auszählung abgeben zu lassen.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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inneren Störungen zu schützen hat. Auch die Bekanntgabe des Ergebnisses gehört zur Sitzungsleitung i. S. d. Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 1 BPräsWahlG und zum offiziellen Ablauf einer Bundesversammlung. Ein anderweitig durchgesickertes Ergebnis stört den würdevollen Charakter der Bundesversammlung, missbilligt den gebührenden Respekt vor der Wahl des Bundespräsidenten und untergräbt die Sitzungsautorität des Bundestagspräsidenten. Bei der zentralen Ergebnisbekanntgabe überwiegt der würdevolle, kürähnliche Anteil der Bundesversammlung.
III. Die Annahmeerklärung, die Antrittsrede und das Schließen der Bundesversammlung Das Wahlverfahren endet nach der Bekanntgabe des Ergebnisses erst mit dem Schließen der Bundesversammlung durch den Sitzungsleiter, dem zuvor oftmals eine Erklärung zur Annahme der Wahl und gegebenenfalls eine Antrittsrede vorgelagert ist.677 Bei der Annahmeerklärung des Gewählten, dessen Antrittsrede und der Schlussworte des Bundestagspräsidenten mit dem anschließenden Schließen der Versammlung überwiegt der kürähnliche Charakter der Bundesversammlung als „Organ mixtum compositum“. Es handelt sich hierbei um die abschließenden Handlungen zum bereits feststehenden Wahlergebnis, die den Gesamtkomplex der Stimmabgabe zu einem würdevollen Abschluss bringen und insbesondere an die Öffentlichkeit gerichtet sind. 1. Die Annahmefrist Der Bundestagspräsident als Sitzungsleiter hat den Gewählten aufzufordern, trotz der bereits erfolgten Zustimmungserklärung zur Kandidatur, ihm gegenüber binnen zwei Tagen die Annahme der Wahl ausdrücklich zu erklären (vgl. § 9 Abs. 4 S. 1 BPräsWahlG).678 Die Frist beginnt ab Mitteilung des Ergebnisses.679 Schöpft der Gewählte die Überlegungsfrist voll aus, so müssen die Bundesversammlungsmitglieder bis zu zwei Tage zusammenbleiben und (untätig) warten, da erst mit der Annahme der Wahl die Versammlung beendet werden kann (§ 9 Abs. 5 677
Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 30. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 97; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 88; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 12, S. 1602 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 3, S. 185. 679 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 100. 678
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
BPräsWahlG).680 Lässt der Gewählte die Frist ohne Annahmeerklärung verstreichen, gilt die Wahl gemäß § 9 Abs. 4 S. 2 BPräsWahlG als abgelehnt.681 In diesem Falle und im Falle einer ausdrücklichen Ablehnung muss zeitnah ein neuer Wahlgang mit den verbliebenen und/oder neuen Kandidaten erfolgen.682 2. Die Annahmeerklärung des Gewählten Nach der erfolgten Wahl hat der Gewählte nach § 9 Abs. 4 BPräsWahlG grundsätzlich eine Frist von zwei Tagen für die Annahmeerklärung. Bisher haben die Gewählten stets unmittelbar nach der Übermittlung des Wahlergebnisses und einer entsprechenden Frage durch den Bundestagspräsidenten die Annahme der Wahl vor der Bundesversammlung erklärt.683 Das Bundespräsidentenwahlgesetz statuiert keine Pflicht zur Annahme, sie lässt sich auch nicht aus der vorherigen schriftlichen Zustimmungserklärung zur Kandidatur ableiten.684 Dies ist verfassungsgemäß und nicht zu beanstanden. Es sind Situationen denkbar, in denen trotz erteiltem Einverständnis zur Kandidatur und dem Erreichen einer Mehrheit aufgrund von knappen Mehrheitsverhältnissen, von nicht
680 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 88; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 48; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 19. 681 Diesbezügliche „Erklärungen“ werden zutreffend als unwiderruflich gewertet. Vgl. Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 54; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 36; Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 290. 682 Zwar ist im Grundgesetz nicht explizit der Fall geregelt, dass ein gewählter Kandidat trotz ausreichender Mehrheit seine Wahl nicht annimmt. Jedoch ergibt sich aus dem Wortlaut, dass bei einer Ablehnung nach dem ersten oder zweiten Wahlgang ein erneuter stattfinden muss, bei dem ggf. weiterhin die absolute Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung erreicht werden muss. Aber auch im Falle einer Ablehnung nach dem dritten Wahlgang ergibt der Wortlaut, wie ausgeführt, dass ein erneuter Wahlgang – mit dem Erfordernis der relativen Mehrheit – stattzufinden hat und nicht derjenige mit der nächst höheren Stimmenzahl als „zweiter Sieger“ zum Präsidenten gewählt ist. Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 97; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 48; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.3. 683 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 30; Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 97; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 79; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 48; Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 290; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.5. Ob die Erklärung gegenüber der Sitzungsleitung oder vor der Bundesversammlung abgegeben werden muss, ist nicht eindeutig geregelt. Vgl. Ipsen, Die Bundespräsidentenwahl 2010 – eine Nachlese, Nds. VBl. 2010, 289, 290. 684 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 54; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 47.
E. Das Wahlverfahren der Bundesversammlung
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gewünschten Wählerstimmen extremistischer Parteien oder aus persönlichen Gründen, der Gewählte die Wahl nicht mehr annehmen möchte.685 Bei einer Neuwahl wegen einer vorzeitigen Beendigung des Amtes gemäß Art. 57 GG muss der Gewählte bereits bei der Annahme der Wahl inkompatible Tätigkeiten i. S. v. Art. 55 GG beendet haben, da in diesem Fall die Annahme der Wahl zugleich den Zeitpunkt des Amtsbeginns darstellt.686 Soweit für den designierten Bundespräsidenten im „Normalfall“ der Amtsantritt auf einen späteren Zeitpunkt fällt, stellen sich diese Fragen der Inkompatibilität auch erst dann,687 wie später noch ausführlich dargestellt wird. 3. Die traditionelle Antrittsrede des neu- oder wiedergewählten Bundespräsidenten Im Falle einer sofortigen Annahmeerklärung erhält der designierte Bundespräsident in der Regel noch die Gelegenheit, an die Versammlung einige Worte zu richten.688 Im Falle einer Wiederwahl wurde bislang auf die nach Art. 56 GG vorgesehene gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat zwecks erneuter Eidesleistung verzichtet. Der wiedergewählte Bundespräsident kann daher die noch tagende Bundesversammlung für eine ausführliche Ansprache nutzen, wozu sonst der Staatsakt der Eidesleistung Gelegenheit gibt.689 685 So auch: Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 47. Bspw. machte Roman Herzog (CDU) 1994 seine Kandidatur davon abhängig, dass sich die erforderliche Mehrheit in der Bundesversammlung auch ohne Stimmen rechtsradikaler Parteien abzeichnete. Da die Wählbarkeitsvoraussetzungen im Grundgesetz und im BPräsWahlG eindeutig und abschließend geregelt sind, schließt die Nichtannahme einer Wahl die Wählbarkeit in einem späteren Wahlgang nicht aus und ist auch nicht rechtsmissbräuchlich. Vielmehr ist es eine Frage des politischen Stils und eine Entscheidung der Versammlungsmitglieder, ob diese nochmals einen Kandidaten aufstellen und wählen möchten, der zuvor seine Wahl abgelehnt hat. Theoretisch kann er erneut nominiert werden und zur Wahl antreten. Vgl. Decker, Das Präsidentenamt in der Parteiendemokratie, in: Gehne/Spier (Hrsg.), Krise oder Wandel der Parteiendemokratie?, 2010, S. 52 f.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 28.4. 686 Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 54 (53. Edition: 15. 11. 2022), Rn. 15.2. 687 So wurde bspw. Walter Scheel (FDP) am 15. Mai 1974 zum Bundespräsidenten gewählt, agierte jedoch nach dem Rücktritt Willy Brandts (SPD) noch vom 7. Mai 1974 bis zum 16. Mai 1974 als geschäftsführender Bundeskanzler. Der Beginn seiner Amtszeit war der 1. Juli 1974. 688 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 97; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 79; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 36; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 39, S. 1614. 689 Jedoch verzichtete Richard von Weizsäcker (CDU) nach seiner Wiederwahl 1989 auf eine längere Ansprache vor der Bundesversammlung, da für den nächsten Tag eine längere
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
4. Das Schließen der Versammlung Nachdem der Gewählte die Annahme erklärt und gegebenenfalls die Möglichkeit einer feierlichen Ansprache genutzt hat, schließt der Bundestagspräsident nach einem kurzen Schluss- und Dankeswort die Sitzung der Bundesversammlung (§ 9 Abs. 5 BPräsWahlG).690 Mit dem Schließen der Bundesversammlung ist diese aufgelöst und kann in dieser Form nicht erneut einberufen werden.691
F. Exkurs: Rechtsschutzmöglichkeiten Das Ersuchen von Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes während und im Nachgang der Bundesversammlung stellt einen Willensbildungsprozess dar, der erst mit der Entscheidung des Sitzungsvorstandes, der Bundesversammlung oder eines gerichtlichen Urteils über das Ersuchen feststeht. Demzufolge ist das Ersuchen von Rechtsschutz nicht dem kürähnlichen, sondern dem parlamentarischen Teil zuzuordnen.
I. Beanstandungen im Vor- und Umfeld der Bundesversammlung Wie bereits herausgearbeitet, ist eine Aussprache über Kandidaten im Plenum der Bundesversammlung verfassungswidrig, nicht jedoch eine über Geschäftsordnungsanträge. Für die Abgabe der Stimmen und für ihre Auszählung bedarf es grundsätzlich keines Rede- und Antragsrechts der Bundesversammlungsmitglieder.692 Etwas anderes gilt, wenn in der Bundesversammlung selbst begründete
Rede des Bundespräsidenten anlässlich des Staatsaktes zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes vorgesehen war. Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 39, S. 1614. 690 Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 36; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 84. Noch vor dem gemeinsamen Singen der deutschen Nationalhymne bedankt sich oftmals der Bundestagspräsident in seiner Schlussansprache bei den Schriftführern, den Mitarbeitern der Bundesverwaltung und der Länderparlamente für die Mithilfe bei der Durchführung der Bundesversammlung sowie bei den Versammlungsmitgliedern für einen reibungslosen Ablauf. In der Regel findet im Anschluss noch ein Empfang statt. 691 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 30; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 36; Nettesheim, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 63, Rn. 15; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 84. 692 Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86 m. w. N.
F. Exkurs: Rechtsschutzmöglichkeiten
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Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl aufgeworfen werden.693 Hierüber muss es die Möglichkeit einer Aussprache geben. Gleiches gilt für eine zu Protokoll gegebene Rüge eines Bundesversammlungsmitgliedes hinsichtlich einer Unregelmäßigkeit im Wahlablauf. Beanstandungen, die sich auf einen Sachverhalt im Vorfeld beziehen, für welchen das Gesetz ein Verfahren bereits vorsieht – beispielsweise bei der Wahl der Landesvertreter – dürfen zu Protokoll gegeben werden. Über deren Inhalt hat der Sitzungsleiter die Bundesversammlungsmitglieder zu informieren und gegebenenfalls eine Aussprache anzusetzen.
II. Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes im Nachgang der Bundesversammlung Zeitlich nachgelagerten Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes im Rahmen der Bundespräsidentenwahl könnte ein einzelner Bürger gegebenenfalls nur im Wege einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG geltend machen. Es mangelt jedoch an der Beschwerdebefugnis, da bei einem Bürger weder die Verletzung eines eigenen Grundrechts noch eines anderen in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG aufgeführten Rechts in Betracht kommt. Eine Verfassungsbeschwerde wäre daher bereits unzulässig.694 Beanstandungen durch die Versammlungsmitglieder sind im Nachgang der Bundesversammlung denkbar, wenn der Sitzungsleiter beispielsweise einer solchen nicht stattgegeben, seine politische Neutralitätspflicht i. S. d. § 8 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG i. V. m. § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT verletzt hat oder eine Aussprache verweigert wurde. Überprüfungen dieser Art sind weder im Grundgesetz noch im Bundespräsidentenwahlgesetz geregelt.695 Gleichwohl muss es aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten auch ohne ausdrückliche Normierung eine Überprüfungsmöglichkeit geben,
693 So auch: BVerfGE 136, 277, 316 f.; Burghart, in: Leibholz/Rinck, GG, Art. 54 (71. EL: April 2016), Rn. 43. 694 So auch: BVerfGE Beschl. v. 22. 5. 2010 – 2 BvR 1783/09 –, Rn. 2; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 8. Vgl. die kritische Anmerkung Morloks (Bundespräsidenten-Kür, Die „Die Wahl-Praxis ist rechtswidrig“, https://www.spiegel.de/ politik/deutschland/bundespraesidenten-kuer-die-wahl-praxis-ist-rechtswidrig-a-626139.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023), wonach das fehlende Klagerecht der Bürger eine „gravierende Schwäche der Bundespräsidentenwahl“ sei, da Wahlfehler nicht in einem förmlichen Prüfungsverfahren, wie bspw. ein Verstoß gegen die geheime Wahl, geltend gemacht werden könnten. 695 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 80; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 100.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
da anderenfalls eklatante Fehler bei der Wahl ohne Konsequenzen bleiben würden.696 Eine solche Rechtslage kann nicht gewollt sein. So ist im Ergebnis der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuzustimmen, die diese Rechtslücke schließt.697 Für gesetzlich nicht geregelte Überprüfungsmöglichkeiten kommen die sofortige Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht analog § 48 BVerfGG698 oder eine Prüfung durch den Bundestag nach Art. 41 GG unter analoger Anwendung der Regelungen des Wahlprüfungsgesetzes in Betracht,699 wobei das Prüfungsergebnis des Bundestages auch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten muss.700 1. Die Wahlprüfung Nach Beendigung der 14. Bundesversammlung erhob das Bundesversammlungsmitglied Udo Pastörs (NPD) gegen die Wahl Einspruch beim Bundestag. Der Bundestagspräsident teilte dem Antragsteller mit, dass der Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig beschlossen habe, dass der Einspruch keinen Anwendungsfall der Wahlprüfung nach Art. 41 GG darstelle und deshalb nicht nach dem Wahlprüfungsgesetz zu entscheiden sei.701
696 So fragte auch der Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber in der mündlichen Verhandlung des Organstreitverfahrens, ob es wirklich sein könne, dass eklatante Fehler bei der Wahl zu keinerlei Konsequenzen führten. Darauf antwortete Wolfgang Zeh für die Antragsgegner, dass in diesen Fällen eine analoge Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundestag denkbar sein könnte. Andreas Voßkuhle gab jedoch zu bedenken, dass der Bundestag, der die Hälfte der Bundesversammlungsmitglieder stelle, damit zum Kontrolleur in eigener Sache würde. Voßkuhle schlug stattdessen einen Organstreit mit zurückgenommenem Kontrollmaßstab vor: Nur bei evidenten Missbrauchsfällen solle Karlsruhe einschreiten, damit nicht jede Wahl durch einen Verfassungsstreit delegitimiert werden könne. Dem stimmte Zeh zu. Vgl. Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 697 Vgl. BVerfGE 136, 277, 288. Jedoch können sich Mitglieder der Bundesversammlung nicht auf Art. 19 Abs. 4 GG berufen, weil dieser keinen Rechtsschutz im staatsorganisationsrechtlichen Bereich umfasst. So auch BVerfGE 29, 108, 118; 21, 362, 369 f.; 45, 63, 78; 61, 82, 101 ff. 698 Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 108. 699 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 299; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 5, S. 186; Stöve, Die Bundesversammlung mit dem Entwurf eines Ausführungsgesetzes gemäss Artikel 54 Absatz 7 GG, 1956, S. 111 ff. 700 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 80; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 100. 701 BVerfGE 136, 277, 288; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 951.
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Im hierauf folgenden Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hat der Bevollmächtigte des Antragstellers Pastörs die Auffassung vertreten, dass eine fehlerhafte Wahl eines von einem Landtag gewählten und entsandten Mitglieds die Unwirksamkeit der Wahl des Bundespräsidenten zur Folge habe. Demnach müsse das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Organstreitverfahrens eine Wahlwiederholung anordnen.702 Ein objektives Klarstellungsinteresse bestünde auch nach Beendigung der Versammlung fort und habe möglicherweise die Unwirksamkeit aller vom Bundespräsidenten unterzeichneten Gesetze zur Folge. Der Grundsatz, wonach in einem Organstreitverfahren nur Feststellungsurteile ergehen könnten,703 gelte vorliegend nicht, da die Wahl des Bundespräsidenten nicht auf andere Weise einem Wahlprüfungsverfahren unterzogen werden könne. Insbesondere stehe das Verfahren nach Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG nicht zur Verfügung. Eine bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit der Wahl genüge nicht dem effektiven Rechtsschutz, sodass ausnahmsweise im Organstreitverfahren ein rechtsgestaltendes Urteil ergehen müsse.704 Eine Wahlanfechtung – so der Bevollmächtigte des Antragstellers – sehe das Bundespräsidentenwahlgesetz nicht vor.705 Bei der Bestimmung der Landesvertreter für die Bundesversammlung handelt es sich um eine organinterne Wahl, die als mittelbare Wahl keine Mitwirkungsrechte der Bürger vorsieht. Somit können Meinungsverschiedenheiten über den Ablauf oder das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl nur als Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten der Versammlung selbst oder als Streitigkeit anderer oberster Bundesorgane in ihrem Verhältnis zur Bundesversammlung verstanden werden.706 Eine Wahlprüfung in Form eines Organstreitverfahrens direkt beim Bundesverfassungsgericht ist somit angemessen und lässt den Rückgriff auf Analogien entfallen.707 Zunächst ist festzustellen, dass das Organstreitverfahren keine rechtsgestaltende Wirkung hat, sodass das Gericht keine bestimmte Maßnahme aufheben, für nichtig erklären oder den Antragsgegner zu einem bestimmten Verhalten verpflichten kann.708 Auch ein auf objektive Rechtsprüfung gerichteter Antrag mit gestaltender 702
BVerfGE 136, 277, 292; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 951. 703 BVerfGE 136, 277, 296. 704 BVerfGE 136, 277, 293. 705 BVerfGE 136, 277, 296. So auch Fischer, Die verfassungswidrige Wahl des Bundespräsidenten, NVwZ 2005, 416, 418, der betont, dass selbst im Falle der Verfassungswidrigkeit einer Bundespräsidentenwahl diese als wirksam anzusehen sei, da es keine Anfechtungsmöglichkeit mit der Rechtsfolge der Herbeiführung einer Unwirksamkeit gebe. 706 Ebenso: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 80; Kretschmer, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 13, Rn. 20. 707 So auch: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 107; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 100. 708 So auch: BVerfGE 1, 351, 371; 20, 119, 129; 136, 277, 301; 138, 125, 131; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsi-
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Wirkung ist im Organstreitverfahren nach § 64 BVerfGG nicht statthaft.709 Stattdessen kann nur festgestellt werden, dass der Antragsteller in seinen organschaftlichen Rechten verletzt wurde (vgl. § 67 S. 1 BVerfGG).710 Ausgehend von der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung, dass die Aufzählung in § 63 BVerfGG nicht abschließend ist, kann der Bundesversammlung als Ganzes – aber auch den einzelnen Mitgliedern711 – die Parteifähigkeit als Antragsteller oder Antragsgegner in einem Organstreitverfahren zuerkannt werden, auch wenn die Bundesversammlung weder in § 63 BVerfGG explizit benannt ist, noch ein „ständiges“ Verfassungsorgan darstellt.712 Dies stützt sich auf das höherrangige Grundrechtsgebot der Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG denten, JA 2014, 950, 952; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 860. 709 BVerfGE 20, 134, 140; 80, 188, 212; 118, 277, 318 f.; 136, 277, 302; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. Vgl. auch Fischer, Die verfassungswidrige Wahl des Bundespräsidenten, NVwZ 2005, 416, 418, der ausführt, dass selbst im Falle einer Statthaftigkeit von rechtsgestaltenden Anträgen im Organstreitverfahren mit der Intention der Herbeiführung einer Unwirksamkeit schon regelmäßig keine Entscheidungserheblichkeit gegeben sei. Sofern eine verfassungswidrige Wahl des Bundespräsidenten angenommen würde, sei mit der abweichenden Auffassung für die Rechtsfolge der Nichtigkeit auch hier entscheidend, ob die Schwelle der Entscheidungserheblichkeit überschritten werde. Liege eine solche Überschreitung nur im Bereich einer rechnerischen Möglichkeit ohne entsprechende Auswirkung auf das Wahlergebnis vor, so seien mit dem Verfassungsinteresse an der Handlungsfähigkeit der Staatsorgane einerseits und der eines fehlerfreien Wahlvorgangs andererseits zwei widerstreitende verfassungsrechtliche Gebote gegeneinander abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sei zu berücksichtigen, dass eine Nichtigkeit der Wahl Fragen nach der Wirksamkeit bereits vorgenommener Hoheitsakte aufwerfe, deren Aufhebung gravierende Folgen nach sich ziehen könne, sodass oftmals das Bestandsinteresse als das gewichtigere anzusehen sei und damit überwiege. 710 Vgl. BVerfGE 136, 277, 302; 138, 125, 132; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 711 Die Frage der Parteifähigkeit einzelner Versammlungsmitglieder vor dem Bundesverfassungsgericht ergibt sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG entweder als oberstes Bundesorgan oder jedenfalls über die Alternative als „andere Beteiligte“, die nach Art. 54 Abs. 3 und 6 GG mit dem eigenen Recht ausgestattet sind, an der Bundesversammlung teilzunehmen und an der durchzuführenden Wahl des Bundespräsidenten mitzuwirken. Weitere Rechte ergeben sich aus dem BPräsWahlG sowie der Geschäftsordnung des Bundestages bzw. der Bundesversammlung, bspw. § 7 S. 1, § 9 Abs. 1 S. 1 BPräsWahlG. Vgl. Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952. 712 Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 39; Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 1; Ehlers, Organstreitverfahren vor dem BVerfG, Jura 2003, 313, 316; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 12; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 37; Jülich, Die Wahl des Bundespräsidenten, DÖV 1969, 92, 93, Fn. 29; Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 35; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 94 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 I 1, S. 179. Dies verneinend und ohne praktische Relevanz einschätzend: Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 54, Rn. 20.
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sowie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1, S. 2 GG und eines effektiven Rechtsschutzes.713 Zu einem Einspruch der Wahl der Ländervertretung ist nach § 5 S. 1 BPräsWahlG – wie ausführlich erläutert – grundsätzlich jedes Mitglied des jeweiligen Landtages und jeder in eine Vorschlagsliste aufgenommene Bewerber berechtigt um sicherzustellen, dass für die durch die Wahl unmittelbar Betroffenen Rechtsschutz besteht.714 Zu einer Entscheidung über einen Einspruch gegen die Wahl in einem Bundesland ist die Bundesversammlung nur befugt, wenn und soweit der Landtag über den Einspruch gemäß § 5 S. 3 BPräsWahlG nicht mehr rechtzeitig entscheiden konnte.715 Art. 41 GG und § 2 Abs. 2 WahlPrG listen die Einspruchsberechtigten bei der Wahlprüfung von Mitgliedern des Bundestages abschließend auf. Die Wahlprüfung nach Art. 41 GG dient „der Gewährleistung des – gemessen am Wahlrecht – ordnungsgemäßen personellen Ausdrucks des Volkswillens am Beginn der Legitimationskette vom Bundestag zu den weiteren Staatsorganen“716 und ist nicht ein den einzelnen Mitgliedern kraft ihres durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Status zustehendes organschaftliches Recht.717 Im Wahlprüfungsverfahren gemäß Art. 41 GG ist der einzelne Abgeordnete daher nicht einspruchsberechtigt (vgl. Art. 2 Abs. 2 WahlPrG) und vor dem Bundesverfassungsgericht nur insoweit antragsbefugt, als seine eigene Mitgliedschaft bestritten wird (§ 48 Abs. 1 BVerfGG).718 Daher kann Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auch nicht analog auf die Mitglieder der Bundesversammlung angewendet werden.719 Zudem ist dem Argument Voßkuhles zuzustimmen, vorgetragen in der mündlichen Verhandlung, dass bei einer analogen Zuweisung einer Wahlprüfungsbeschwerde an den Bundestag beziehungsweise an den Bundestagspräsidenten, dieser zum Kontrolleur in eigener Sache werde,720 zumal auch eine organinterne Wahl im
713
Vgl. BVerfGE 13, 54, 81; BVerfGE 136, 277, 294; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 952; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 76. 714 BVerfGE 136, 277, 304; 138, 125, 132. 715 BVerfGE 136, 277, 304 f., 319.Vgl. auch Kapitel 4 II. 5., S. 201 – 204. 716 BVerfGE 136, 277, 304 m. w. N. 717 Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 718 BVerfGE 136, 277, 305. 719 Vgl. BVerfGE 136, 277, 305. 720 Vgl. Knapp, Wahl des Bundespräsidenten auf dem Prüfstand, Tagesspiegel, 11. 2. 2014, https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-klage-der-npd-wahl-des-bundespraesidenten-aufdem-pruefstand/9466752.html, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023; Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungs blog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesidentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Hinsichtlich der in der mündlichen Verhandlung geführten Diskussion vgl. die Wiedergabe einzelner Aussagen oben in der Fn. 694.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Bundestag nicht dem Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 GG unterliegt.721 Eine entsprechende Anwendung würde somit auch eine Überprüfung der organinternen Wahl in der Bundesversammlung ausschließen. Ferner kommt im angesprochenen Verfahren hinzu, dass es im Kern nicht um die Überprüfung der Zusammensetzung der Bundesversammlung ging – wofür § 5 BPräsWahlG Möglichkeiten vorsieht – sondern um die Überprüfung der Präsidentenwahl selbst.722 Darüber hinaus werden auch keine organschaftlichen Rechte von Bundesversammlungsmitgliedern verletzt, weil der Bundesversammlung weder die Pflicht noch die Befugnis zukommt, in anderen als den in § 5 S. 3 BPräsWahlG vorgesehenen Fällen über die Gültigkeit der Wahl ihrer Mitglieder zu befinden.723 Daher kann weder im konkreten Fall noch grundsätzlich von einem Selbstprüfungsrecht von Verfassungsorganen ausgegangen werden.724 Dieses Ergebnis stützt der Vergleich mit dem Bundesrat, der ebenfalls nicht die formelle Ordnungsgemäßheit der Entsendung der Vertreter einzelner Länder überprüfen kann.725 Ebenso wenig hat das Bundesverfassungsgericht ein organschaftliches Selbstprüfungsrecht, sondern lediglich eine Befugnis zur Überprüfung aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.726 Auch ist den Parlamenten der Bundesländer nicht ausnahmslos eine Wahlprüfung vorbehalten, sondern – der Rechtslage der Weimarer Reichsverfassung (Art. 31 WRV) entsprechend – gesonderten Wahlprüfungsgerichten (vgl. § 37 Abs. 1 S. 2 BremWahlG sowie § 1 HessWahlPrG). Mangels eines allgemeinen Selbstprüfungsrechts von Verfassungsorganen ist zu schlussfolgern, dass es expliziter Regelungen bedurft hätte, sofern abweichend der Bundesversammlung eine solche Befugnis zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Entsendung ihrer Mitglieder zukommen soll.727 Eine solche Regelung gibt es nicht. Vielmehr spricht die Ausnahmeregelung des § 5 S. 3 BPräsWahlG sowie die oben dargestellten Vergleiche mit den anderen obersten Verfassungsorganen sowie der Grundsatz der Gleichheit aller Mitglieder der Bundesversammlung gegen ein Selbstprüfungsrecht.728 Daher hat die Bundesversammlung Prüfungsrechte nur hinsichtlich der 721 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 82; Kretschmer, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 13, Rn. 20. 722 So auch: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 80. 723 BVerfGE 136, 277, 305, 319. 724 So im Ergebnis auch: BVerfGE 136, 277, 305; sowie Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 56; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 725 Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 58; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. Ferner haben die Länder Bremen und Hamburg gesonderte Wahlprüfungsgerichte. BVerfGE 136, 277, 305 f. 726 BVerfGE 65, 152, 154; 131, 230, 233. 727 Vgl. BVerfGE 136, 277, 306. 728 BVerfGE 136, 277, 306.
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Zusammensetzung, soweit diese ihr durch Gesetz explizit – wie die angesprochene Notzuständigkeit in § 5 S. 3 BPräsWahlG – zugebilligt wurden.729 Bezugnehmend auf den Vortrag des Antragsstellers liegt auch keine Verfälschung des Erfolgswerts der Stimme vor. Selbst bei einem angenommenen Wahlfehler auf Landesebene lässt sich hieraus kein Recht ableiten, die Wahl des Bundespräsidenten in einer zahlenmäßig ins Gewicht fallenden geringeren Besetzung – als von Art. 54 Abs. 3 GG vorgesehen – durchzuführen.730 Denn die dort normierte paritätische Zusammensetzung dient dazu, das Staatsvolk in seiner föderalen Gliederung gleichwertig zu repräsentieren, sodass ein Ausschluss von Landesvertretern eines ganzen Bundeslandes hiermit nicht vereinbar wäre.731 Ein Ausschluss von mehr als einzelnen Mitgliedern führt zur Verfassungswidrigkeit der Wahl des Bundespräsidenten.732 Ferner ist die Frage der Beschlussfähigkeit vorliegend nicht tangiert, da sich diese nach der Zahl der anwesenden Mitglieder richtet und nicht die Frage umfasst, ob die Landesvertreter in der Bundesversammlung rechtsfehlerfrei gewählt wurden und rechtmäßig der Bundesversammlung angehören.733 Eine bereits gemäß § 9 Abs. 5 BPräsWahlG beendete Bundesversammlung ändert nichts an diesem Ergebnis,734 da sich die Rechtsschutzgewährung dadurch nicht erledigt hat, zumal andererseits kein Rechtsschutz gegen Maßnahmen in der Bundesversammlung erlangt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet auch im Falle einer Präsidentenanklage gemäß Art. 61 GG, sodass es konsequent erscheint, die Entscheidungskompetenz über Zweifelsfragen, die mit der Stellung, Person und Wahl des Präsidenten zusammenhängen, beim Bundesverfassungsgericht zu vereinen.735
729 Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86. 730 BVerfGE 136, 277, 306, 319; Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Bundesversammlung, JuS 2014, 860, 861. 731 So auch: BVerfGE 136, 277, 306 f. m. w. N.; Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 56; Hillgruber, Begrenzte Rechte der Mitglieder der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten, JA 2014, 950, 953. 732 Vgl. BVerfGE 136, 277, 319. 733 BVerfGE 136, 277, 307. 734 Es widerspräche der Konzeption verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes in Art. 93 Abs. 1 S. 1 GG, den Rechtsschutz zugunsten der Bundesversammlung auszuschließen. Insofern ist vom „Fortbestand“ der Bundesversammlung für das Organstreitverfahren auszugehen. Eine unbegrenzte Rechtsunsicherheit besteht aufgrund der sechsmonatigen Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht. Vgl. BVerfGE 136, 277, 299 f. m. w. N. 735 So auch: Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 108. Die Anzahl der erwartbaren Fälle und somit der zusätzliche Arbeitsaufwand des Bundesverfassungsgerichts erscheinen überschaubar.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Insgesamt hat die Überprüfung in Form eines Organstreitverfahrens anstelle einer Überprüfung durch den Bundestag zu erfolgen, sodass nur ein auf objektive Rechtsprüfung gerichteter Antrag im Organstreitverfahren nach § 64 BVerfGG statthaft ist. 2. Die Überprüfung der Verletzung der Neutralitätspflicht des Sitzungsleiters Im Falle der angestrebten Überprüfung und Feststellung einer die Neutralitätspflicht verletzenden Eröffnungsrede des Bundestagspräsidenten könnte ebenfalls ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG in Betracht gezogen werden. Hierbei ist die Verletzung des passiven Wahlrechts eines Kandidaten zu rügen. Ein Verfahren könnte dann zum Erfolg führen, wenn die Kandidatur des gerügten Kandidaten nicht schon offenkundig aussichtslos war und die Möglichkeit bestanden hat, dass die Bundesversammlungsmitglieder durch die Eröffnungsrede in ihrer Wahlentscheidung entscheidend beeinflusst wurden.736 Ein ebenfalls denkbarer Antrag mit dem Ziel der Feststellung der Ungültigkeit der Wahl des Bundespräsidenten durch die Verletzung der Neutralitätspflicht des Sitzungsleiters ist mit der obigen Begründung, wonach ein Antrag mit gestaltender Wirkung im Organstreitverfahren nach § 64 BVerfGG nicht statthaft ist, bereits unzulässig.737
G. Im Nachgang: Die Eidesleistung des Gewählten Nach dem Schließen der Bundesversammlung veranlasst der Bundestagspräsident gemäß § 11 BPräsWahlG die Eidesleistung des Bundespräsidenten in der Regel in einer gesonderten Sitzung.
736 Vgl. Leuschner, Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?, Verfassungsblog.de, 12. 2. 2017, https://verfassungsblog.de/lammertseroeffnungsrede-zur-bundesversammlung-gegen-trump-und-afd-darf-der-das/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 737 Im Falle einer abweichenden Rechtsauffassung könnte der Antrag im Organstreitverfahren mit dem Ziel der Feststellung der Ungültigkeit der Wahl aufgrund einer Verletzung der Neutralitätspflicht durch den Sitzungsleiter – entsprechend der Begründung im vorherigen Abschnitt – an der Erheblichkeit scheitern und somit für unzulässig erklärt werden oder in der Begründetheit in der Abwägung zwischen einer fehlerfreien Wahl und der Handlungsfähigkeit der Staatsorgane erfolglos bleiben.
G. Im Nachgang: Die Eidesleistung des Gewählten
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I. Die Eidesleistung nach Art. 56 GG Der Bundespräsident leistet seinen Eid gemäß Art. 56 S. 1 GG unter der Leitung des Bundestagspräsidenten vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates.738 Die Eidesleistung in feierlichem Rahmen bringt die Wahl zu einem würdevollen Abschluss, der sich auch nach außen an die Öffentlichkeit richtet. Es handelt sich damit um einen rein kürähnlichen Akt. Die Teilnahme des Bundesrates verdeutlicht dessen Bedeutung für das Zusammenwirken und für die Einheitlichkeit staatlichen Handelns des Bundes und der Länder, nachdem der Bundesrat am Verfahren zur Wahl des Bundespräsidenten selbst nicht beteiligt war.739 Bundestag und Bundesrat sind zudem die beiden Organe, mit denen der künftige Bundespräsident – etwa bei der Gegenzeichnung oder bei der Ausfertigung von Gesetzen nach Art. 58 GG und den Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 Abs. 1 GG – verstärkt zusammenarbeiten wird.740 Vertretern anderer Verfassungsorgane steht es frei, dem Staatsakt beizuwohnen – so sind oftmals Vertreter der Bundesregierung sowie der höchsten Gerichte und Verwaltungen anwesend.741 Eine Eidesleistung vor oder zeitnah zum Amtsbeginn erscheint erstrebenswert, es ist rechtlich jedoch unerheblich, wann der Bundespräsident den Amtseid leistet.742 Vergleichbares gilt für den Bezug des Amtssitzes, ob und wann ein Einzug erfolgt, ebenso in welcher Form sich die Amtsübernahme vollzieht.743 Für die Formulierung des Amtseides des Bundespräsidenten diente Art. 42 WRV als Vorlage. Zunächst umstritten, aber letztendlich durchgesetzt hat sich im Organisationsausschuss744 und im Hauptausschuss745 abweichend zu Art. 78 HChE, dass 738
Vgl. auch Burkiczak, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, JuS 2004, 278, 280; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 3, S. 185. 739 Vgl. Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 238 m. w. N.; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 56, Rn. 4; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 104. 740 Vgl. Braun, Die Bundesversammlung, 1993, S. 97 f. 741 Daher gilt die Eidesleistung als eine der repräsentativsten Staatsakte der Bundesrepublik und Ausdruck eines gelebten Respektes und der gegenseitigen Hochachtung der Staatsund Verfassungsorgane. Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 41, S. 1615; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 104; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 29 II 3, S. 185. 742 A. A.: Rausch, Der Bundespräsident, 2. Aufl. 1984, S. 61, der ausführt, dass die Eidesleistung erst nach Ablauf der Amtszeit des Vorgängers vorgenommen werden könne. In der Regel findet die Eidesleistung am Tag des Amtsantritts statt. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 84. 743 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 53. 744 Neunte Sitzung des Organisationsausschusses vom 1. 10. 1948. Abgedruckt bei Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 11, S. 337 f.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
die Eidesformel746 mit der religiösen Beteuerung als Regelfall schon im Grundgesetz formuliert wird und der Bundespräsident auch zum „aktiven“ Schutz der Verfassung und nicht lediglich, wie nach der Weimarer Reichsverfassung, zu dessen Verteidigung verpflichtet ist.747 In Art. 42 WRV war die „Beifügung einer religiösen Beteuerung“ lediglich „zulässig“. 1. Die Funktion der Eidesleistung Mit dem Gelöbnis auf die Verfassung schließt der Amtseid an die Tradition der monarchischen Staatsoberhäupter der konstitutionellen Epoche sowie an die Weimarer Republik an.748 Vielfach wird dem Verfassungseid eine doppelte Bedeutung zugeschrieben. Zum einen bekräftigt das Staatsoberhaupt mit dem Gelöbnis die Wahrung der Verfassung, zum anderen verpflichtet er sich, Angriffe auf die Verfassung abzuwehren. Nach der berühmten Formel Labands war der Kaiser zum „Hüter der Reichsverfassung“ bestellt.749 Mit gleicher Intention leitete der Reichspräsident aus seinem Amtseid auch
sowie in der zwölften Sitzung des Organisationsausschusses vom 8. 10. 1948. Dokumentiert in der 22. Sitzung des Organisationsausschusses vom 24. 11. 1948. Abgedruckt bei Büttner/ Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, Nr. 16, S. 482 f. 745 Achte Sitzung des Hauptausschusses vom 24. 11. 1948. Dokumentiert bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, Nr. 8, S. 267 – 270. 746 Entgegen manchen Überlegungen können aus diesem Eid weder ungeschriebene noch Notfallkompetenzen abgeleitet werden. Vgl. Kilian, Der Bundespräsident als Verfassungsorgan, JuS 1988, S. L 33, L 35. 747 Füsslein, in: Leibholz/Mangoldt, JöR, Bd. 1, 1951, S. 408; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 206. 748 Während die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und die Fürsten seiner Gliedstaaten einen Eid leisteten, wurde diese Tradition im Reich von 1871 für den Deutschen Kaiser nicht übernommen. In der Weimarer Verfassung war jedoch die Eidesleistung des Reichspräsidenten erneut vorgesehen. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 104 m. w. N. Auch die deutschen Kaiser, denen in der Bismarck’schen Reichsverfassung ein Eid nicht ausdrücklich auferlegt war, hatten beim Regierungsantritt aus freien Stücken ein Verfassungsgelöbnis abgelegt. Siehe auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 316 sowie näher zum Verfassungseid der preußischen Könige im Bd. III: Bismarck und das Reich, 1963, S. 52 f., 55, 163 f., 165 und über das Verfassungsgelöbnis der deutschen Kaiser ebenda S. 1012 f. 749 Im Grundgesetz und besonders nach der Etablierung eines starken Bundesverfassungsgerichts 1951 als ein justiziables Modell des Verfassungsschutzes kommt einem Bundespräsidenten keine primäre Position des Hütens der Verfassung mehr zu. Dies schließt nicht aus, dass der Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung i. S. eines „Mithüters der Verfassung“ dem Bundespräsidenten weiterhin anvertraut sein kann, wobei selbst dies teilweise bestritten wird. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 12, 14; Jekewitz, in: AK-GG, 2001, vor Art. 54, Rn. 12; Waldhoff/Grefrath, in: Berliner Kommentar, Art. 54 (Stand: 2009), Rn. 57.
G. Im Nachgang: Die Eidesleistung des Gewählten
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die Pflicht sowie das Recht ab, Hüter der Verfassung zu sein.750 Die Wirkung als Verfassungs- und Diensteid erstreckt sich heutzutage mehr in die Sphäre des Moralisch-Ethischen, in die Feierlichkeit des Versprechens und in eine persönliche Verantwortlichkeit und Treue gegenüber den übernommenen, an anderer Stelle festgelegten Pflichten des Amtes.751 Durch das Erhebende der zeremoniellen Eidesleistung wird die Repräsentationsund Integrationsfunktion des Bundespräsidenten besonders unterstrichen und durch den zeremoniellen Ablauf der kürähnliche Charakter der Eidesleistung verdeutlicht.752 Der Amtseid selbst begründet konstitutiv keine zusätzlichen, sondern bekräftigt lediglich die sich aus der Verfassung ergebenden Rechte und Pflichten,753 verdeutlicht eine Verpflichtung dem Volk gegenüber und das Versprechen, dem Eidesinhalt gemäß zu handeln.754 Eine Strafbewehrung geht mit einem Bruch des Eides nicht einher.755
750 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 316, 322 f. A. A.: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 208, wonach auch der Reichspräsident keine weiteren Kompetenzen aus dem Amtseid herleiten konnte. 751 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 56, Rn. 2 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 207 f. 752 Der oftmals zeitlich etwa fünf Wochen nachgelagerte Staatsakt mit der Eidesleistung im Zentrum wird umrahmt von Ansprachen des scheidenden und des neuen Bundespräsidenten sowie des Bundestags- und des Bundesratspräsidenten. Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands und letztmalig 1999 fand dieser Staatsakt im Plenarsaal des Bundestages in Bonn statt, bereits 1994 und seit 2004 regelmäßig im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin. Der Staatsakt wird in Fernsehen und Rundfunk übertragen und endet mit dem Singen der Nationalhymne. Vgl. Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 41, S. 1615; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105 f. m. w. N. 753 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 107; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 208. 754 Acker, Die staatsrechtliche Stellung des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 36. Hierdurch sollen zusätzlich Gewissensbedenken beim Eidesbruch und eine psychologische Hemmschwelle errichtet werden. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 56, Rn. 3; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 207. 755 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 56, Rn. 3; Herzog, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 56 (Stand: Januar 2009), Rn. 4; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
2. Die Eidesformel und die Rechtsfolgen einer Weigerung Die religiöse Beteuerung als Regelfall zeigt die verfassungsrechtliche Einbettung in ein christlich geprägtes Staatsverständnis. Durch die in Art. 56 S. 2 GG normierte Möglichkeit des Weglassens der religiösen Beteuerung wird auch der grundgesetzlich geschützten Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 140 GG, Art. 136 Abs. 4 WRV Rechnung getragen.756 Die Eidesformel ist im Grundgesetz wörtlich normiert, was Abweichungen vom Eidestext unzulässig macht.757 Dies gilt auch für das Wort „schwören“, das nicht durch ein „geloben“ oder eine andere Art der Beteuerung ersetzt werden darf.758 Konflikte könnte es dann geben, falls einem Bundespräsidenten aus Glaubensüberzeugungen ein „schwören“ erschwert oder unmöglich ist. Dann würde der mit Verfassungsrang versehene Amtseid mit dem als Privatperson zustehenden Grundrecht der Glaubensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG kollidieren. Der Gewählte, der das höchste Staatsamt freiwillig übernommen hat, ist jedoch an diese Art der Beteuerung – solange die Verfassung ein „schwören“ verlangt – gebunden.759 Die Ablegung des Eides macht die Verfassung zur Pflicht, ohne davon jedoch die Berechtigung zur Amtsübernahme oder die Gültigkeit von Amtshandlungen abhängig zu machen. Folglich hat der Eid keinen Einfluss auf den Beginn oder auf das Recht zur Ausübung des Bundespräsidentenamtes,760 er ist vielmehr eine der ersten Amtspflichten.761
756 Vgl. BVerfGE 33, 23, 27; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 206 mit dies anzweifelnden Quellen in der Fußnote. 757 Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 56, Rn. 4. Die in Art. 56 GG mit religiöser Beteuerung aufgenommene Eidesformel – „So wahr mir Gott helfe“ – bedeutet, dass es trotz aller Bemühungen nicht nur aus eigener Kraft gelingt, das Versprochene einzulösen, es mit Gott eine außenstehende Kraft gibt, deren Hilfe erbeten werden kann und vor der sich der Glaubende ebenfalls zu verantworten hat. Die religiöse Beteuerung soll hierbei verstärkend wirken und in Zeiten der Not die Besinnung und Orientierung an „überpositiven“ Werten ermöglichen, die den „Müttern und Vätern des Grundgesetzes“ nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur wichtig und naheliegend waren. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105 m. w. N. 758 Vertiefend zu dieser Problematik: Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 105 f. m. w. N. 759 So auch Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 106, der besonders betont, dass der Eid zwingend in seiner im Grundgesetz normierten Weise geleistet werden muss. Ein Kandidat für das Bundespräsidentenamt sollte sich dessen bewusst sein. 760 Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 107. 761 Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 3.
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Wie zu Zeiten der Weimarer Republik hat die Eidesleistung somit keine konstitutive, sondern lediglich affirmative Bedeutung, sodass die Ableistung des Amtseides weder eine Vorbedingung für die Amtsausübung noch eine Voraussetzung für die Entstehung von Amtspflichten ist.762 Das Staatsoberhaupt verletzt jedoch mit einer Eidesverweigerung eine Amtspflicht und eine vorsätzlich-schuldhafte Nichtableistung stellt einen Verfassungsverstoß dar, der ein Anklageverfahren nach Art. 61 GG nach sich ziehen kann.763 3. Zur Frage der Eidesleistung bei der Wiederwahl Im Falle einer direkten Wiederwahl hat die Staatspraxis von einer erneuten Vereidigung abgesehen.764 Wird der Bundespräsident nach Beendigung der Amtszeit und einer Unterbrechung noch einmal wiedergewählt, dann besteht unstreitig die Verpflichtung zur erneuten Eidesleistung, da in diesem Fall der Bundespräsident aus seinen mit seinem ersten Eid übernommenen Amtspflichten entlassen wurde, sodass eine erneute Inpflichtnahme erforderlich ist.765 Die Handhabung eines Verzichts einer erneuten Vereidigung bei einer unmittelbar anschließenden Wiederwahl ist hingegen in der Staatsrechtslehre umstritten. Diejenigen, die eine erneute Vereidigung für nicht erforderlich halten, berufen sich auf den Wortlaut des Art. 56 GG, der besagt, dass der Eid „bei Amtsantritt“ zu leisten sei.766 Bei einer Wiederwahl erfolge jedoch kein neuer Amtsbeginn, sondern die Amtsausübung werde lediglich fortgesetzt. Die stärkeren Argumente sprechen aber für eine erneute Eidesleistung auch bei einer sich direkt anschließenden Wiederwahl. Normativ unterscheidet der Wortlaut des Art. 56 GG nicht zwischen einer erstmaligen und einer erneuten Wahl. Darüber hinaus werden nach einer Bundestagswahl der Bundeskanzler und alle Minister zu 762 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 264; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 39; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 316. 763 Ansonsten werden keine (weiteren) Sanktionen an die Verweigerung der Eidesleistung geknüpft. Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 207. Nach der Weimarer Verfassung konnte der Reichstag auf eine Eidesweigerung ebenfalls mit einer Präsidentenanklage reagieren. Siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 316; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 208. 764 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 56, Rn. 8; Fink, in: Huber/ Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 56, Rn. 12; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 56, Rn. 6. Auch bei der Wiederwahl Frank-Walter Steinmeiers (SPD) durch die 17. Bundesversammlung am 13. 2. 2022 wurde auf eine erneute Eidesleistung verzichtet. 765 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 56, Rn. 13; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 56, Rn. 6. 766 Vgl. Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 39; Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 42, S. 1615 m. w. N.; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 38.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Beginn der neuen Legislaturperiode nach Erhalt ihrer Urkunden gemäß Art. 64 Abs. 2 i. V. m. Art. 56 GG vereidigt, unabhängig davon, ob sie in der abgelaufenen Wahlperiode bereits das Kanzleramt und das gleiche oder ein anderes Ministeramt wahrgenommen haben. Bei dem Bundeskanzler wird normativ sogar auf die Eidesformel des Bundespräsidenten verwiesen und somit eine weitere Parallelität gezogen. Obgleich der Bundespräsident grundsätzlich keine Ernennungs- und Entlassungsurkunde erhält und der Bundeskanzler und die Minister im Gegensatz zu ihm am Ende der Legislaturperiode aus ihren Ämtern entlassen werden, enden und beginnen die erste und zweite Amtsperiode des Bundespräsidenten zu festgelegten Terminen, so dass ein vergleichbarer Sachverhalt vorliegt und eine erneute Vereidigung des Bundespräsidenten angezeigt ist. Zum anderen gebieten auch der kürähnliche Charakter dieses Aktes und die Bedeutung sowie Symbolik der Eidesleistung die erneute Eidesleistung zu Beginn der zweiten Amtsperiode: Dieses würdevolle Zeremoniell schließt das Wahlverfahren des Bundespräsidenten ab und verleiht dem damit verbundenen Staatsakt aufgrund der Einbeziehung des Bundesrates eine besonders hervorgehobene Funktion.767 Ferner gebietet der Grundsatz der Öffentlichkeit des Wahlvorgangs einen erneuten Staatsakt, dessen Abschluss – aufgrund der medialen Übertragung – die gesamte Öffentlichkeit beiwohnen kann. Hierdurch wird der „Bedeutung des Amtes und der Persönlichkeit des Amtsinhabers“ in einer besonders würdigen Form „der Selbstdarstellung unseres Staates“ gedacht und erneut in das Bewusstsein gerufen.768 Mit der zweiten und letzten Wahlperiode beginnt ein neuer Abschnitt, der keine bloße Fortführung der ersten Amtszeit, sondern einen erneuten Vertrauensbeweis darstellt, der auch vom Bundespräsidenten mit den aus dem Eid bekräftigten Verpflichtung bestätigt werden muss. 4. Zur Frage der Eidesleistung im Vertretungsfalle Die Frage der Ableistung eines Eides im Rahmen einer nach Art. 57 GG notwendigen Stellvertretung des Bundespräsidenten durch den Bundesratspräsidenten ist gesetzlich ebenfalls nicht geregelt. Eine Notwendigkeit hierfür besteht jedoch nicht. Der Bundesratspräsident hat bereits in seiner Funktion als Ministerpräsident
767
A. A. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 106 f., wonach eine nochmalige Eidesleistung keinen weiteren Zweck oder keine zusätzliche Funktion hinsichtlich der ersten Eidesleistung erfüllen würde und dem damit verbundenen Staatsakt keine besondere Bedeutung bemesse. Ferner plädiert Mehlhorn mit Verweis auf den hohen Stellenwert des Eides dafür, diesen nur dann abzuleisten, wenn die Eidesleistung explizit vorgeschrieben ist, um die große Bedeutung beibehalten zu können. 768 Kessel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 59, Rn. 42, S. 1615 m. w. N.
G. Im Nachgang: Die Eidesleistung des Gewählten
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einen vergleichbaren Amtseid abgeleistet.769 Er übernimmt die Befugnisse des Bundespräsidenten lediglich in der Vertretungszeit, ohne selbst in dessen Status einzutreten. Auch kann diese Funktion aufgrund des turnusgemäßen Wechsels vom Präsidenten des Bundesrates maximal für ein halbes Jahr wahrgenommen werden und geht – je nach Zeitpunkt – gegebenenfalls auch schon bald auf den Nachfolger über. Dieser zeitlich vorgegebene Wechsel, der regelmäßig eintritt, zeigt zudem den nur vorübergehenden Charakter des Vertretungsfalles auf. Eine Präsentation des Vertreters des Bundespräsidenten in feierlichem Rahmen findet daher ebenfalls nicht statt. Es ist somit folgerichtig, keine Vereidigung vorzusehen, die auch aufgrund des bereits geleisteten Eides des Ministerpräsidenten entbehrlich ist.770
II. Auswirkungen der Inkompatibilitäten nach Art. 55 Abs. 1 und Abs. 2 GG auf die Eidesleistung Für den Fall, dass die neue Amtszeit des Gewählten gemäß § 10 BPräsWahlG unmittelbar mit der Annahme der Wahl beginnt,771 muss der Gewählte vor der Annahmeerklärung alle inkompatiblen Ämter niederlegen.772 In den anderen Fällen bleibt nach der Annahme der Wahl bis zum Amtsbeginn im Regelfall genügend Zeit für eine ordnungsgemäße Niederlegung der Ämter, weil zwischen dem Wahltermin und dem Amtsantritt gemäß Art. 54 Abs. 4 S. 1, Hs. 1 GG mindestens 30 Tage liegen. Ausgehend vom Wortlaut „der Bundespräsident“ bezieht sich die Inkompatibilität auf den Amtsinhaber und nicht auf einen designierten Präsidenten.773 769 Bspw. sieht Art. 31 Niedersächsische Verfassung folgenden Amtseid für die Mitglieder der niedersächsischen Landesregierung vor: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Volke und dem Lande widmen, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und die Niedersächsische Verfassung sowie die Gesetze wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber allen Menschen üben werde.“ 770 Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 138 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 5, S. 208. So muss der Vertreter keinen Eid ableisten, da Art. 56 GG nicht analog anwendbar ist und der Eid etwas Höchstpersönliches darstellt. Der Bundesratspräsident hat aber einen bereits als Mitglied der Landesregierung vor dem Landtag abgelegt. Die fehlende Eidesverpflichtung des Stellvertreters zeigt zudem, dass die Verfassung die Befugniswahrnehmung durch den Bundesratspräsidenten als ein Provisorium begreift, zumal zeitlich befristet. 771 So zuletzt beim Amtsbeginn von Joachim Gauck (parteilos) am Tag der Bundesversammlung am 18. März 2012 nach dem Rücktritt von Christian Wulff (CDU). 772 Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 55 (50. Edition: 15. 2. 2022), Rn. 2.1. So muss etwa ein Amt als Ministerpräsident und das Mandat in einem Landtag vorher aufgegeben werden. Wie die Niederlegung zu erfolgen hat, richtet sich in diesem Fall nach den einschlägigen landesverfassungsrechtlichen Vorschriften. 773 Unbillig wäre es, bereits einem Kandidaten, der noch keine Gewissheit über den Ausgang der Wahl hat, zur Aufgabe von Ämtern oder seiner beruflichen Stellung zu verpflichten.
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
Somit können die Inkompatibilitätsvorschriften erst zum Amtsantritt ihre Wirksamkeit entfalten.774 Die Inkompatibilitäten umfassen nach Art. 55 Abs. 1 GG775 die „politischen“ und nach Art. 55 Abs. 2 GG776 die „beruflichen“ Inkompatibilitäten.777 Bestehen InFerner würde Art. 55 GG bei einer solchen Interpretation zu einer in Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG nicht normierten Wählbarkeitsvoraussetzung. In gleicher Weise kann die Auffassung nicht überzeugen, die den Zeitpunkt – durch die Konstruktion eines „Anwartschaftsrechts“ auf das Amt – auf die Annahme der Wahl vorverlegt. Erst ab Amtsbeginn trägt der Gewählte die Rechte und Pflichten des Amtes, die konstitutive Trennung von Amt und Person wird schlicht negiert. So auch: v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 55 Rn. 5; Heun, in: Dreier, GG, 2015, Art. 55, Rn. 12 m. w. N.; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 55, Rn. 5. Vgl. aber Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 55, Rn. 10, der mit Verweis auf Art. 54 Abs. 1 GG der Auffassung ist, dass mit der Bezeichnung Bundespräsident auch der sich zur Wahl stellende Kandidat gemeint sein könne. 774 So auch BVerfGE 89, 359, 362 sowie Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 55, Rn. 11. 775 Nach Art. 55 Abs. 1 GG darf der Gewählte weder der Regierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes angehören und muss ein solches Amt zwingend niederlegen, gleiches gilt für die Leitung oder Mitgliedschaft im Aufsichtsrat eines auf Erwerb gerichteten Unternehmens nach Art. 55 Abs. 2 GG. Als gesetzgebende Gewalt ist neben dem Bundestag auf Bundesebene auch der Bundesrat umfasst (Art. 55 Abs. 1 GG). Aus dem besonderen Rang und der Rechtsstellung des Bundespräsidenten verbietet sich die Zugehörigkeit zu jedweder Volksvertretung, auch auf kommunaler Ebene. Vgl. Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 107 f. m. w. N.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 4, S. 204; Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, vor Art. 55, Rn. 18. A. A.: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Kommentar zum GG, 2008, Art. 55, Rn. 8; Epping, Die Trennung von Amt und Mandat – Die parlamentarische Grundposition von Bündnis 90/ Die Grünen und die Regierungsbeteiligung: Schlägt die Wirklichkeit den Anspruch?, DÖV 1999, 529, 529 ff.; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 55, Rn. 4. Über den Wortlaut hinaus ist mit Blick auf den Zweck der Norm das Verbot auch auf eine Mitgliedschaft im Europäischen Parlament und andere auf EU- oder internationaler Ebene durch Wahlen besetzte Ämter sowie sonstige politische Ämter entsprechend anzuwenden, soweit diese angesichts des Standes der Integration für die innerstaatliche Gesetzgebung oftmals einen dem Bundestag vergleichbaren Stellenwert besitzen. Hinsichtlich einer Mitgliedschaft im Europäischen Parlament regelt § 22 Europawahlgesetz den Verlust des Mandats im Falle der Wahl zum Bundespräsidenten. Vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 55 (50. Edition: 15. 2. 2022), Rn. 1.1. 776 Art. 55 Abs. 2 GG dehnt die Inkompatibilität dahingehend aus, dass der Bundespräsident weder ein besoldetes Amt noch ein Gewerbe oder einen Beruf ausüben darf. Hierbei ist jedes Amt im statusrechtlichen Sinne betroffen, folglich Ämter als Beamter, Soldat, Richter und kirchlicher Würdenträger. Durch das Verbot der Ausübung müssen – anders als die Rechtsfolge in Art. 55 Abs. 1 und Abs. 2, Hs. 2 GG, die eine absolute Unvereinbarkeit normieren – solche Ämter nicht niedergelegt, sondern die sich hieraus ergebenden Rechte und Pflichten für den Zeitraum der Präsidentschaft ruhend gestellt werden. Auch Richter am Bundesverfassungsgericht, die mangels ausdrücklicher Erwähnung in Art. 55 Abs. 1 unter Art. 55 Abs. 2 GG fallen, müssen somit ihr Amt ruhen lassen. Eine Amtsaufgabe ist nicht notwendig. Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 55 (Stand: 2009), Rn. 3; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 109 f.
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kompatibilitäten bei einem unmittelbaren Amtsantritt nach erfolgter Wahl darf der Bundestagspräsident als Leiter der Bundesversammlung und als Erklärungsadressat die Annahmeerklärung aufgrund seiner Verfassungsbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nicht annehmen. Anderenfalls würde er an einem Verfassungsverstoß mitwirken.778 Wenn die inkompatiblen Ämter des Bundespräsidenten bei der gewöhnlichen Konstellation eines späteren Amtsantrittes – unabhängig von der Eidesleistung – bis dahin dennoch nicht aufgegeben wurden, ruht weder das Bundespräsidentenamt bis zum Verzicht auf diese Ämter noch tritt der Verlust der inkompatiblen Ämter von Verfassungs wegen ein.779 Dafür spricht zum einen der von Art. 44 WRV abweichende Wortlaut („darf nicht“ statt „kann nicht“).780 Zum anderen müsste in Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG, der die Voraussetzungen der Wählbarkeit enumerativ festlegt, normiert sein, dass die Beachtung der Inkompatibilität eine Wahlvoraussetzung ist beziehungsweise ein Verstoß gegen die Inkompatibilitätsregelungen zum Verlust des Bundespräsidentenamtes führt.781 Vielmehr hat die Weiterführung eines nicht mit dem Amt des Bundespräsidenten zu vereinbarenden Amtes oder einer damit unvereinbaren gewerblichen Tätigkeit keinen unmittelbaren Einfluss auf die Wirksamkeit der Amtsführung des Bundespräsidenten.782
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Vgl. Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 55, Rn. 11. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 55 (50. Edition: 15. 2. 2022), Rn. 2.5. 779 Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 55 (Stand: 2009), Rn. 6. Ein automatisches Erlöschen oder ein „zur Ruhe kommen“ der mit dem Amt des Bundespräsidenten unvereinbaren Tätigkeiten scheitert, weil für Rechtswirkungen dieser Art aus beamten-, gesellschafts-, arbeits- und vertragsrechtlichen Gründen sehr oft die Einhaltung bestimmter Formvorschriften und Fristen erforderlich ist und konkludentes Handeln für sie meist nicht ausreicht. Ferner lässt das Grundgesetz nicht erkennen, welche dieser Tätigkeiten oder Ämter im Kollisionsfalle enden oder erlöschen müssten. Ein Amtsverzicht kann wegen der Bedeutung dieser Entscheidung nur durch ausdrückliche und bestimmte Erklärung erfolgen. Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 55 Rn. 7; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 55 (Stand: 2009), Rn. 6; Heun, in: Dreier, GG, 2015, Art. 55, Rn. 14; Nierhaus/Brinktrine, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 55, Rn. 6. 780 So auch: v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 55 Rn. 7; Heun, in: Dreier, GG, 2015, Art. 55, Rn. 14 m. w. N. 781 Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 55, Rn. 14. 782 Vgl. v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 55 Rn. 5. Die Beachtung der Inkompatibilitätsregeln des Art. 55 GG ist eine verfassungsrechtliche Pflicht und kann mit den im Grundgesetz vorgesehenen Instrumenten durchgesetzt werden. So kann gegen den Bundespräsidenten ein Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG oder eine Präsidentenanklage gemäß Art. 61 Abs. 1 GG geführt werden. Unbeachtlich ist, dass es sich in solchen Fällen nicht um die Amtsführung des Bundespräsidenten, sondern um die sich aus seinem Amtsverhältnis ergebenden persönlichen Rechtspflichten handelt. Weder Art. 61 Abs. 1 GG noch Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG beschränken die Verfassungsprozesse auf solche Fragen. Vgl. Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 55 (Stand: 2009), Rn. 7; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 55 (50. Edition: 15. 2. 2022), Rn. 2.3. 778
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Kap. 4: Verfassungsfragen zum Ablauf einer Bundesversammlung
H. Der Zeitpunkt des Amtsbeginns Der Beginn der Amtszeit des von der Bundesversammlung gewählten Bundespräsidenten ist im Grundgesetz nicht explizit geregelt, dieser ergibt sich (indirekt) aus § 10 BPräsWahlG.783 Demnach beginnt die Amtszeit mit der Beendigung der des Vorgängers, jedoch nicht vor Eingang der Annahmeerklärung des neu gewählten Bundespräsidenten beim Bundestagspräsidenten.784 Das Amt des Vorgängers endet regulär mit dem Ablauf des fünften Jahrestages des Amtsantritts.785 Einer besonderen Ernennung oder Urkunde bedarf es nicht, was die Höchstrangigkeit des Bundespräsidentenamtes unterstreicht.786 Meist liegt zwischen der Annahmeerklärung und dem Amtsantritt noch eine mehrtägige Übergangszeit.787 Die Übergangszeit entfällt, wenn das Amt des Bundespräsidenten vakant war oder sich die Wahl eines neuen Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung bis zum Amtszeitende oder darüber hinaus verzögert hat. In diesen Fällen beginnt das Amt des Gewählten sogleich mit dem Zeitpunkt der Annahmeerklärung zur Wahl i. S. v. § 10 BPräsWahlG.788 Stirbt ein Bundespräsident, nachdem bereits ein Nach783
Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 84. 784 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 263; Fink, in: Huber/Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 36; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 4; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 54, Rn. 7; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 101; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 II 4, S. 204. 785 Die fünf Jahre werden ab dem Eingang der Annahmeerklärung des Bundespräsidenten beim Bundestagspräsidenten unter Beachtung der §§ 187, 188 BGB berechnet, sofern die Wahlannahme erst nach dem Ablauf der Amtszeit des Vorgängers erfolgt. Vgl. Umbach, in: Umbach/Clemens, GG, 2002, Art. 54, Rn. 40, 42. Seit 2012 ist der 18. März der Tag des Amtsbeginns. 786 Der Bundespräsident ist somit die einzige Amtsperson, bei der weder der Beginn noch das Ende der Amtszeit urkundlich festgehalten und verbrieft werden. Vgl. Fink, in: Huber/ Voßkuhle, GG, 8. Aufl. 2023, Art. 54, Rn. 36; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 264; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 51; Heun, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 54, Rn. 39; Mehlhorn, Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich, 2010, S. 101. 787 Vgl. Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 86; Fromme, Die Volkswahl des Bundespräsidenten ist kein Risiko, RuP 2004, 18, 18. 788 So geschehen zuletzt bei den auf Rücktrittserklärungen folgenden Amtszeiten von Christian Wulff (CDU) 2010 und Joachim Gauck (parteilos) 2012, die ihre Annahmeerklärungen unmittelbar nach der Wahl abgegeben hatten, sodass unmittelbar am Wahltag ihr Amtsbeginn war. Vgl. Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 79, 84. Zur Annahmeerklärung Wulffs als amtierender Ministerpräsident von Niedersachsen siehe LTO-Redaktion (Hrsg.), Bundespräsidentenwahl: Wulffs Weg ins Präsidialamt führt durch juristische Hintertür, Legal Tribune Online, 30. 6. 2010, https://www.lto. de/recht/nachrichten/n/bundespraesidentenwahl-wulffs-weg-ins-praesidialamt-fuehrt-durchjuristische-hintertuer/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. Wie ausgeführt, ist die Ablegung des Amtseides die erste Amtspflicht, aber keine Voraussetzung für den Beginn des Bundespräsi-
H. Der Zeitpunkt des Amtsbeginns
355
folger gewählt worden ist, so tritt der designierte Bundespräsident gleichfalls sein Amt vorzeitig an – sofern bei ihm keine Hinderungsgründe für einen früheren Amtsbeginn vorliegen – ohne dass es einer zwischenzeitlichen Vertretung bedarf.789
dentenamtes. Vgl. Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 13. Aufl. 2022, Art. 54, Rn. 3; Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 263; Herzog, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 54 (54. EL: Januar 2009), Rn. 53. 789 Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 265 m. w. N.
Kapitel 5
Zusammenfassung und Ausblick A. Die Erkenntnisse aus der Historie 1. Der erste Reichspräsident Friedrich Ebert – der zugleich als Kontroll- und Ersatzorgan des Reichstages agierte und eine dem Kaiser äquivalente Stellung innehatte – wurde abweichend zur Festlegung in Art. 41 WRV nicht durch Volkswahl bestimmt, sondern durch eine Wahl der Nationalversammlung am 11. Februar 1919 vorläufig in sein Amt berufen. Auch in den Folgejahren wurde aufgrund von Unruhen sowie grundsätzlichen Bedenken gegen das Institut der „Volkswahl“ diese immer wieder hinausgezögert und es gab Bestrebungen, sie gänzlich abzuschaffen und den Bundespräsidenten parlamentarisch einzusetzen. Neben Vorbehalten an einem starken Staatsoberhaupt durch eine Volkswahl traten Bedenken an der erforderlichen Reife des Wahlvolkes für eine verantwortungsvolle Wahl.1 2. Durch den Tod des Reichspräsidenten Ebert im Februar 1925, somit noch vor dem regulären Ende der zwischenzeitlich durch den Reichstag verlängerten Amtszeit, kam es sechs Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 23. März 1925 erstmalig zu der in Art. 41 WRV vorgesehenen Volkswahl. Aufgrund der fortbestehenden Skepsis der im Reichstag vertretenen Verfassungsparteien gegenüber einer Volkswahl und dem starken Verlangen auf eine Einflussnahme auf die Auswahl der Kandidaten, wurden hohe Anforderungen an die Wahlvorschläge gestellt, sodass ausschließlich größere im Reichstag vertretene Parteien einen Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten benennen konnten. Im ersten Wahlgang erhielt kein Kandidat die erforderliche absolute Mehrheit. Zum zweiten Wahlgang am 26. April 1925 konnten die antirepublikanischen Rechtsparteien den 77-jährigen parteilosen kaiserlichen Feldmarschall Paul von Hindenburg zu einer „überparteilichen“ Kandidatur für den „Reichsblock“ überzeugen, der mit einer relativen Mehrheit von 48,3 % der Stimmen zum ersten, aber auch zum einzigen mittels einer Volkswahl erkorenen Reichspräsidenten gewählt wurde.2 3. Durch das Erstarken der Nationalsozialisten zum Ablauf der siebenjährigen Amtszeit Hindenburgs 1932 stand eine aussichtsreiche Kandidatur Adolf Hitlers 1 2
Vgl. Kapitel 2 A. II. – III. 2. b), S. 38 – 47. Vgl. Kapitel 2 A. III. 2. c), S. 48 – 51.
A. Die Erkenntnisse aus der Historie
357
(NSDAP) im Raum. Nachdem es den demokratischen Kräften nicht gelungen war, eine erneute Volkswahl zu vermeiden, überredeten sie Hindenburg als „kleineres Übel“ zu einer erneuten Kandidatur und unterstützten ihn erfolgreich. Hindenburg wurde am 10. April 1932 im zweiten Wahlgang im Alter von 84 Jahren mit 53 % der Stimmen wiedergewählt. Nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 mit dessen Ernennung zum Reichskanzler und dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 wurde noch am selben Tag das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigt.3 4. Die Volkswahl des Reichspräsidenten wurde zusammen mit dessen umfassenden Kompetenzen in Exekutive und Legislative von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates rückblickend als mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik gemacht. Deshalb vollzogen die Mitglieder eine bewusste Abkehr von der Volkswahl und dem Dualismus der parlamentarischen Regierungsverantwortung mit plebiszitär-präsidialen Vollmachten in Exekutive und Legislative an der Staatsspitze. Dieser Dualismus, bei dem mit Reichstag und Reichspräsident zwei oberste Staatsorgane jeweils aus Volkswahlen hervorgingen, sich beide auf ihre direktdemokratische Legitimation berufen konnten und im legislativen und exekutiven Bereich konkurrierende Zuständigkeiten besaßen, sollte sich so nicht im Grundgesetz wiederfinden. Diese Abkehr drückt sich zum einen durch die deutliche Beschneidung präsidialer Kompetenzen aus und zum anderen durch die fehlende direktdemokratische Legitimation. Somit stattete der Parlamentarische Rat den Bundespräsidenten nur mit überwiegend repräsentativen Kompetenzen und dessen Amt mit einer besonderen Würde aus. Gleichzeitig sollte ein eindeutig parlamentarisches Regierungssystem mit einer Begrenzung der Staatsmacht des Bundespräsidenten als ein sog. „nichtplebiszitäres Kontrastorgan“ sowie einer Stärkung der demokratisch-parlamentarischen Regierungsform mit einer „Staatsnotbremse“ und Abwehrmöglichkeiten für den Diktaturfall eine Schieflage zwischen hoher demokratischer Legitimation einerseits und vergleichsweise geringer Kompetenzen andererseits vermeiden. Erst nach mehreren Debatten – die so zeitgleich auch in der DDR geführt wurden4 – entschied sich der Parlamentarische Rat für eine (sofortige) Besetzung des Amtes des Staatsoberhauptes.5 5. Für die Einsetzung des Staatsoberhauptes wurde mit der Bundesversammlung ein besonderes, föderal und paritätisch besetztes Gremium geschaffen. Hinsichtlich der Zusammensetzung des breit legitimierten Wahlgremiums gingen der Entscheidung langanhaltende und kontroverse Diskussionen mit verschiedenen Optionen voraus. Durchgesetzt hat sich eine Bundesversammlung ohne separate Beteiligung des Bundesrates, die sich aus Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Ländern gewählt und entsandt 3
Vgl. Kapitel 2 A. IV. – V., S. 52 – 57. Vgl. Kapitel 2 B. V., S. 107 – 116. 5 Vgl. Kapitel 2 B. IV., S. 77 – 107. 4
358
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
werden, zusammensetzt. Einigkeit bestand im Parlamentarischen Rat darin, dass ein Ausspracheverbot in der Bundesversammlung im Grundgesetz festzuschreiben sei.6 6. Eine vertiefte dogmatische Auseinandersetzung zur Frage, wie die eigens kreierte und ausschließlich mit der Wahl des Bundespräsidenten befasste Bundesversammlung einzuordnen ist, fand jedoch zu keinem Zeitpunkt weder während der Beratungen im Herrenchiemseer Verfassungskonvent noch in den Ausschüssen und im Plenum des Parlamentarischen Rates statt. Carlo Schmid (SPD) stellte den von ihm erstmals in der 10. Sitzung des Hauptausschusses am 30. November 1948 beiläufig verwendeten Begriff der „Kür“ in einen engen Zusammenhang mit der Würde des Amtes des Bundespräsidenten. Auch bei den anschließenden Ausführungen Hans-Christoph Seebohms (DP) zur Bundesversammlung schwang die dem Amt zugedachte Würde mit, wenn er von einer „Wahlkurie“ sprach und hierdurch erstmalig die beiden Begriffe „Wahl“ und „Kurie“ verband. In einem weiteren Wortbeitrag wählte er erst die Formulierung „gekürt“ und zwei Sätze später „gewählt“. Ansonsten sprachen alle Parlamentarier ausnahmslos von einer „Wahl“ durch die Bundesversammlung. Hätten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates die staatsrechtliche Einordnung als eine elementare Frage betrachtet, hätte sich hieraus eine Diskussion entwickelt, in der die Redner auf die abweichenden Vorstellungen für das zu kreierende Organ eingegangen wären. Deutlich wird hingegen nur, dass für die Mitglieder eine würdige Einsetzung des Bundespräsidenten essentiell war. Hieraus lassen sich aber keine zwingenden Schlussfolgerungen für die rechtliche Einordnung der Bundesversammlung ziehen.7
B. Die rechtliche Charakterisierung der Bundesversammlung 7.
Die These des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 10. Juni 20148 zur Einordnung der Bundesversammlung als ein kürähnliches Organ in das ansonsten repräsentativ-parlamentarische Demokratiesystem der Bundesrepublik Deutschland kann nicht darauf gestützt werden, dass der Bundespräsident ein „Erbe der konstitutionellen Monarchie“ sei. Hiergegen sprechen zum einen die zurückhaltende Reaktion auf den beiläufig gefallenen Kürbegriff im Parlamentarischen Rat, zum anderen die bewusste parlamentarische Stärkung in Kombination mit einer Abgrenzung zur Volkswahl nach der Weimarer Reichsverfassung sowie die begrenzten Kompetenzen des Bundespräsidenten. Dies alles stellt eine bewusste Abkehr von der Kaiserzeit und von der Weimarer Republik dar. Auch die Betonung des Bundes6
Vgl. Kapitel 2 B. IV., S. 77 – 107. Vgl. Kapitel 2 B. IV. 2. a) aa) (2), S. 91 – 97. 8 BVerfGE 136, 277, 277 ff.
7
B. Die rechtliche Charakterisierung der Bundesversammlung
359
verfassungsgerichts von der Andersartigkeit der Bundesversammlung zum Bundestag und der Begründungsansatz der besonderen Würde des Bundespräsidentenamtes genügen nicht für eine Charakterisierung der Bundesversammlung.9 8.
Zu den typischen Funktionen und Charakteristika eines Parlamentes gehören nach Bagehot die Wahl-, die Gesetzgebungs-, die Kontroll-, die Repräsentations- sowie die Artikulations- und Informationsfunktion. Hiervon vereinigt die Bundesversammlung mit ihrer beschränkten Kompetenz auf die Einsetzung des Bundespräsidenten und aufgrund des in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierten Ausspracheverbots mit der Wahl- und Repräsentationsfunktion nur zwei der fünf Grundfunktionen eines Parlamentes. Ihr fehlt das für ein Parlament typische öffentliche Verhandeln über Argument und Gegenargument sowie die öffentliche Debatte und Diskussion als wesentliche Elemente, um im parlamentarischen Verfahren den Ausgleich widerstreitender Interessen zu ermöglichen. Diese soll im Plenum der Bundesversammlung vielmehr unterbunden werden, um so einen würdigen Ablauf des Wahlaktes zu garantieren. Aufgrund der ausschließlichen Konstituierung der Bundesversammlung für die Wahl des Bundespräsidenten besitzt die Bundesversammlung auch keine Gesetzgebungskompetenz und hat auch keine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive, sodass zudem keine (fortlaufende) Verantwortlichkeit gegenüber der Bevölkerung gegeben ist, auch nicht hinsichtlich der weiteren Amtsführung des Bundespräsidenten.10
9.
Das Charakteristikum einer Kür, wie sie im Heiligen Römischen Reich stattgefunden hat, bestand aus der Kombination eines Wahlkonvents mit einem Krönungszeremoniell, deren Wahlakt nicht durch eine Auswahl von Kandidaten geprägt war. Stattdessen stand der zeremonielle Akt im Vordergrund, der vielfach eine zuvor getroffene, meist einmütige Entscheidung nur bestätigt und legitimiert hat. Auch das päpstliche Konklave, das in einer an eine Kür assoziierenden Weise den Papst bestimmt, ist nicht mit der Bundesversammlung vergleichbar, wie sich aus den entscheidenden Gesichtspunkten des Stimmenquorums, der Anzahl der Wahlgänge, der öffentlichen Wahlhandlung oder bei den Funktionen und Aufgaben zeigt.11
10. Mangels Vergleichbarkeit auch mit bestehenden Verfassungsorganen im In- und Ausland12 hat die rechtliche Einordnung anhand der grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Normen sowie der Staatspraxis zu erfolgen. Hierbei fällt auf, dass eine überwiegende Anzahl von (vielfach einfachgesetzlichen) Normen für eine parlamentsähnliche Interpretation spricht. Gleichzeitig legen zwei 9
Vgl. Kapitel 3 A. I., S. 120 – 122. Vgl. Kapitel 3 B. I., S. 125 – 129. 11 Vgl. Kapitel 3 B. II., S. 129 – 142. 12 Vgl. Kapitel 3 C. I., S. 142 – 145.
10
360
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
gewichtige Kriterien, nämlich das Ausspracheverbot sowie die Würde des Wahlaktes in einem besonderen Gremium, eine kürähnliche Interpretation nahe: a)
Das in Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normierte Ausspracheverbot spricht eher für eine Kürähnlichkeit. Zwar bezweckte der Vorläufer des grundgesetzlichen Ausspracheverbots in der Preußischen Verfassung keine würdevolle, kürähnliche Einsetzung, sondern sollte die Unabhängigkeit des Ministerpräsidenten und seiner Minister bei der späteren Regierungsarbeit gewährleisten. Das grundgesetzliche Ausspracheverbot hingegen dient dem Zweck, das Amt, die Person und die Autorität des zukünftigen Bundespräsidenten aus politischen Debatten und aus einer – möglicherweise unsachlichen – Personaldiskussion im Plenum der Bundesversammlung herauszuhalten. Gleichzeitig ergibt sich hieraus eine besondere Würde, die ihren Niederschlag in einem diesen Ansprüchen gerecht werdenden Wahlablauf finden muss. Eine Einsetzung ohne Aussprache ist jedoch nicht einer bloßen zeremoniellen Inszenierung gleichzustellen, da hierdurch die eigentliche Bedeutung der demokratischen Legitimation des Staatsoberhauptes untergraben würde. Stattdessen ist das Ausspracheverbot eine gesetzgeberische Entscheidung, die nicht per se inkompatibel mit der Einordnung, der Qualifizierung oder den Aufgaben eines Parlamentes oder anderer gewichtiger Gremien ist. Dies zeigt sich auch dadurch, dass das Verbot der Aussprache kein Spezifikum der Wahl des Bundespräsidenten ist, sondern auch im ersten Wahlgang bei der Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 1 GG), bei der Wahl der Verfassungsrichter (§ 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) und bei der öffentlichen Anhörung und Debatte im Europäischen Parlament bei der Besetzung der Ämter des Kommissionspräsidenten und der Kommissare (Art. 17 Abs. 7 EUV) normiert ist.13
b)
Der Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG „gewählt“ impliziert ein Wahlverfahren mit einer Wahlfreiheit und spricht eher für eine Parlamentsähnlichkeit. Die Bundesversammlungsmitglieder wählen und legitimieren als „Kreationsorgan“ nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG mit entsprechendem Mehrheitsquorum nach Art. 54 Abs. 6 GG in freier Stimmabgabe den Bundespräsidenten nach einem formalisierten Ablauf. Auch die fehlende Regelung zur Beschlussfähigkeit der Bundesversammlung und die Option mehrerer Wahlgänge, bei der jeweils mehrere und neue Kandidaten aufgestellt werden können und die ab dem dritten Wahlgang ausreichende relative Stimmenmehrheit nach Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG sprechen gegen eine kürtypische „vorgezeichnete Deklaration“. Für eine Kür spräche hingegen eine Entscheidung unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit höheren Zustimmungsquoren als die nach Art. 54 Abs. 6 S. 1 GG normierte absolute Mehrheit in den ersten beiden Wahlgängen, die dem Grundgesetz, wie Art. 79 Abs. 2 GG zeigt, auch nicht fremd ist.14
13 14
Vgl. Kapitel 3 C. II. 1., S. 146 – 152. Vgl. Kapitel 3 C. II. 2., S. 152 – 155.
B. Die rechtliche Charakterisierung der Bundesversammlung
361
c)
Durch das Zurückgreifen auf die personellen und finanziellen Ressourcen und Einrichtungen des Bundestages fehlt es der Bundesversammlung an einem eigenen Verwaltungsapparat, ihr kann deshalb nur teilweise Organisations- und Parlamentsautonomie zugesprochen werden, was sowohl gegen eine Einordnung als ein ausschließliches kür- als auch parlamentsähnliches Organ spricht. So bedient sich die Bundesversammlung des Bundestagspräsidenten zur Leitung der Geschäfte und der Sitzungen (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 BPräsWahlG). Er entscheidet durch die Bestimmung von Ort und Zeit über den Zusammentritt der Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 1 BPräsWahlG), sodass ihr kein eigenes Selbstversammlungsrecht zusteht. Ebenso nimmt der Bundestagspräsident gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 GO-BT das Hausrecht sowie die Ordnungs- und Polizeigewalt für die Sitzung der Bundesversammlung wahr. Ferner hat die Bundesversammlung keinen wie in Art. 40 Abs. 1 GG für den Bundestag normierten Verfassungsauftrag zur Wahl eines eigenen Präsidenten, Vizepräsidenten oder Schriftführers, sondern nur das Recht und keine Pflicht, sich eine eigene Geschäftsordnung zu geben (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG). Die Bundesversammlung ist in ihrem personellen Bestand geschützt (Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 1 BPräsWahlG).15
d)
Die Unabhängigkeit des Bundespräsidenten und seine Nichtabwählbarkeit, weder durch die Bundesversammlung noch durch ein anderes politisches Gremium, sprechen nicht gegen eine Einordnung der Bundesversammlung als parlamentsähnliches Wahlorgan. Zum Charakteristikum einer demokratisch legitimierten Wahl gehört nicht zwingend auch die Möglichkeit eines Entzugs des erteilten Mandats. So zeichnen sich auch die unabhängigen Richter der obersten Bundesgerichte, deren Wahl durch den Richterwahlausschuss gemäß § 125 Abs. 1 GVG und Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG i. V. m. § 5 Abs. 1 S. 1 BVerfGG unbestritten eine Wahl im juristischen Sinne darstellt, durch eine nicht mögliche Abwählbarkeit aus.16
e)
Durch die Ermächtigung in Art. 54 Abs. 7 GG wird das diesbezüglich ergangene „Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung“ in der Normenhierarchie nicht zu einer Verfassungsnorm, aber als Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben ist ihm eine gewisse „Verfassungsrangähnlichkeit“ einzuräumen, somit eine Art „Zwischenebene“ zwischen der Verfassung und dem Rang von Bundesgesetzen. Dies spricht eher für einen parlamentsähnlichen Charakter der Bundesversammlung. So hat die Bundesversammlung entsprechend der Regelung in § 8 S. 2 BPräsWahlG als oberstes Bundesorgan Geschäftsordnungsautonomie, jedoch findet die Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäße Anwendung, soweit sich die Bundesversammlung keine eigene Geschäftsordnung gibt. Dies spricht für eine Tendenz des Bundesgesetzgebers in Richtung einer diesbezüglichen Gleichstellung zum 15 16
Vgl. Kapitel 3 C. II. 3. und 6., S. 155 – 157 und S. 167 – 169. Vgl. Kapitel 3 C. II. 4., S. 157 f.
362
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
Bundestag, somit einer Nähe zum Parlament. Durch die zu den Bundestagsabgeordneten parallelen und ein ähnliches Schutz- und Teilhabeniveau gewährenden Regelungen über das freie Mandat (§ 7 S. 3 BPräsWahlG), den Kündigungs-, Indemnitäts- und Immunitätsschutz (§ 7 S. 1, S. 2 BPräsWahlG) sowie über die Anordnung der geheimen Wahl (§ 9 Abs. 3 S. 1 BPräsWahlG) als Schutzvorschrift zur Ausübung des freien Mandats hat der Gesetzgeber die Rechtsstellung der Bundesversammlungsmitglieder weitgehend derjenigen der Parlamentarier gleichgestellt. Wenn die Bundesversammlung nicht parlamentsähnlich wäre und die Mitglieder ohnehin keinerlei Rede- und Antragsrechte hätten, würden diese Schutzrechte ins Leere laufen. Der explizite Verweis in § 7 S. 1 BPräsWahlG auf Art. 46 GG ist auch kein Redaktionsfehler, sondern er wurde bewusst aufgenommen.17 11. Aufgrund der vorgenannten Kriterien kann der bundesverfassungsgerichtlichen Bewertung der Bundesversammlung als kürähnliches Organ nicht gefolgt werden. Die Bundesversammlung greift nämlich zurück und vereinigt als Wahlkörper sowohl eine Vielzahl parlamentsähnlicher Kompetenzen und Regelungen des Bundestages als auch eine Vielzahl von kürähnlichen Charakterzügen, wie der Abgleich mit den Funktionen und Charakteristika eines Parlamentes und eines Kürorgans sowie der Status der Bundesversammlung und ihrer Mitglieder und die normierten Verfahrensregelungen im Bundespräsidentenwahlgesetz zeigen. Diese Besonderheit findet Ausdruck in den normativen Bestimmungen und entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Die Bundesversammlung „mixt“ parlamentarische Elemente mit Elementen einer früheren Kaiserkrönung, einer Kür. Aus diesem Grund ist die Bundesversammlung auch kein Organ „sui generis“. Vielmehr ist nach historischer, systematischer und teleologischer Auslegung eine Einordnung als in Teilen vereinigendes kürähnliches und parlamentsähnliches Organ, das heißt als ein Gebilde, das auf bereits Vorhandenes zurückgreift und miteinander verbindet, somit als ein „Organ mixtum compositum“ geboten.18 12. Diese Charakterisierung als „mixtum compositum“ stellt eine Brücke zwischen dem parlamentarischen Diskurs und dem kürähnlichen Konsens dar und fand bereits im Parlamentarischen Rat durch den von Seebohm verwendeten Begriff der „Wahlkurie“ einen Anknüpfungspunkt. Aus der Tatsache, dass Seebohm die gegensätzlichen Begriffe „gekürt“ und „gewählt“ in einem engen zeitlichen Zusammenhang verwendet hat, ist ferner die Schlussfolgerung zu ziehen, dass trotz der fehlenden Diskussion über die gefallenen Begriffe und über die Charakterisierung der Bundesversammlung an sich bereits den Mitgliedern im Parlamentarischen Rat unausgesprochen bewusst war, dass die Bundesversammlung sowohl kür- als auch parlamentsähnliche Anteile in sich vereinigt. Diese Einschätzung fand im von Seebohm verwendeten Begriff der „Wahlkurie“ 17 18
Vgl. Kapitel 3 C. II. 5., S. 158 – 166. Vgl. Kapitel 3 C. IV. 1. und 2., S. 176 – 179.
C. Die parlaments- und kürähnlichen Anteile im Ablauf einer Bundesversammlung 363
ihren Ausdruck, da dieser die beiden Anteile auch sprachlich miteinander verband. Damit hat er bereits zur damaligen Zeit diesem Ergebnis sprachlich Ausdruck verliehen.19 Dies kann angenommen werden, obwohl nach dem strengen Wortlaut zum einen unter „Kurie“ der Versammlungsort zu verstehen ist und zum anderen „Kür“ und „Kurie“ auch nicht auf denselben Wortstamm zurückzuführen sind, da „Kurie“ aus dem Lateinischen, jedoch „Kür“ aus dem Alt-/ und Mittelhochdeutschen stammt.
C. Die parlaments- und kürähnlichen Anteile im Ablauf einer Bundesversammlung mit tabellarischer Übersicht 13. Die Sitzungsleitung durch den Bundestagspräsidenten hat sich ermessensleitend an den Verfahrensschritten und den jeweiligen Gegebenheiten auszurichten. Hierbei gilt als Abgrenzung: •
Ein Verfahrensschritt im Ablauf der Bundesversammlung ist parlamentsähnlich auszugestalten, wenn es sich um einen Willensbildungsprozess handelt, dessen Ergebnis noch nicht feststeht, der noch Veränderungen beinhalten kann, dessen konkreter Ausgang noch offen ist.
•
Der kürähnliche Charakter schlägt in einem Verfahrensschritt der Bundesversammlung dann durch, wenn es sich um einen Akt der Fortführung oder Vollendung eines bereits feststehenden Ergebnisses handelt, der den Gesamtkomplex einer Willensbildung zum würdevollen Auftakt oder Abschluss bringt und meist nach außen, an die Öffentlichkeit, gerichtet ist.20
14. Im Vorfeld der Bundesversammlung haben die Vorbereitungen und die Einberufung sowie die Wahl der Landesvertreter in den jeweiligen Landesparlamenten parlamentsähnlichen Charakter. Im gesamten Prozess der Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung treten keinerlei kürähnliche Aspekte zu Tage. Es handelt sich um Willensbildungsprozesse, deren Ergebnisse noch nicht feststehen und Veränderungen unterliegen. Ein kürähnlicher Anteil ist ferner weder bei der Aufstellung der Vorschlagslisten – bei der möglicherweise Personen des öffentlichen Lebens benannt werden – gegeben, noch bei der Abstimmung selbst, der anschließenden Annahmeerklärungen der gewählten Vertreter oder etwaigen Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl. Die Wahl der Landesvertreter erfolgt allein nach den Regelungen des Bundespräsidentenwahlgesetzes und den Geschäftsordnungen der jeweiligen Landtage, die ausschließlich Parlamentscharakter aufweisen.21
19
Vgl. Kapitel 3 C. IV. 2., S. 178 f. Vgl. Kapitel 3 C. IV. 3., S. 179. 21 Vgl. Kapitel 4 B., S. 210 – 221. 20
364
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
15. In der Bundesversammlung selbst finden sich sowohl parlaments- als auch kürähnliche Anteile. Die Sitzungseröffnung mit einer Begrüßung der Ehrengäste sowie der Eröffnungsrede durch den Bundestagspräsidenten im Rahmen einer Bundesversammlung ist im Schwerpunkt kürähnlich und unterscheidet sich deutlich von den Sitzungseröffnungen des Bundestages und der Landtage. Hierbei stehen das Zeremoniell und das Vereinigende im Vordergrund, die durch die hohe Anzahl der Mitglieder und der paritätischen Besetzung aus Bundestagsmitgliedern und Landesvertretern auch symbolisch verkörpert werden. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um einen Willensbildungsprozess, sondern um einen würdevollen und nach außen an die Öffentlichkeit gerichteten, repräsentativen Akt.22 16. Bei der Konstituierung der Bundesversammlung handelt es sich um einen parlamentsähnlichen Verfahrensschritt. Denn zunächst werden vor dem eigentlichen Wahlakt mit der Feststellung der Beschlussfähigkeit, der Abstimmung über die Geschäftsordnung und gegebenenfalls mit der Behandlung von Anträgen, der Einsetzung der Schriftführer und eines Wahlvorstandes sowie der Bestätigung der Tagesordnung die konkreten Abläufe im Verfahren der Wahl geregelt. Die Bundesversammlung hat sich selbst diese Regeln zu geben, über die im Rahmen eines Willensbildungsprozesses diskutiert und abgestimmt werden kann und deren Ergebnisse noch offen sind.23 17. Die Sitzungsleitung umfasst auch das Hausrecht und die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen und spiegelt den parlamentarischen Anteil im Ablauf der Bundesversammlung wider. Hinsichtlich des Teils der Bundesversammlung, der einen parlamentsähnlichen Charakter nicht aufweist, greift das Hausrecht aufgrund der Wahrung der Rechte und der Würde der Bundesversammlung in gleicher Weise. Auch hier ist der Sitzungsleitung ein notfalls größerer Ermessensspielraum zuzubilligen. Insgesamt überwiegt bei der Verhängung von Ordnungsmaßnahmen der parlamentarische Charakter der Bundesversammlung.24 18. Auch das Einreichen von Wahlvorschlägen und die Prüfung durch den Sitzungsvorstand stellen einen klassisch parlamentarischen Vorgang dar. Aufgrund der Möglichkeit, dass jedes einzelne Mitglied bis zum Beginn der Stimmabgabe eines Wahlganges einen Kandidaten benennen kann, handelt es sich bei der Prüfung der Wählbarkeitsvoraussetzung durch den Sitzungsvorstand um einen Willensbildungsprozess, der Veränderungen unterworfen sein kann.25 19. Der Wahlablauf umfasst die Stimmabgabe, das Auszählen der Stimmen und die Bekanntgabe des Ergebnisses und ist in der Regel parlamentsähnlich. Neben der 22
Vgl. Kapitel 4 A. und Kapitel 4 C. II., S. 181 – 209 und S. 250 – 264. Vgl. Kapitel 4 C. I., S. 239 – 250. 24 Vgl. Kapitel 4 D. III., S. 290 – 296. 25 Vgl. Kapitel 4 E. I., S. 296 – 316. 23
C. Die parlaments- und kürähnlichen Anteile im Ablauf einer Bundesversammlung 365
Besprechung und Abstimmung über das Prozedere des Wahlablaufes überwiegt auch bei dem konkreten Wahlvorgang der parlamentarische Charakter der Bundesversammlung. Dieser tritt besonders dann zu Tage, wenn im ersten Wahlgang keine Mehrheit für einen der Kandidaten zu erwarten ist. Die Möglichkeiten eines zweiten oder dritten Wahlgangs sowie Sitzungsunterbrechungen für interne Fraktionsgespräche verdeutlichen, dass die Wahl gerade kein Akt der Fortführung und Vollendung eines bereits feststehenden Ergebnisses darstellt, die würdevoll zum Abschluss gebracht wird, sondern dass es sich hier um eine offene Willensbildung handelt, deren Ergebnis noch nicht absehbar ist. Abgeschwächt mag dies allenfalls dann sein, wenn im Vorfeld der Wahl eine klare Mehrheit für einen Kandidaten erwartet wird, wobei auch hier das konkrete Ergebnis der geheimen Wahl noch nicht feststeht.26 20. Bei der Annahmeerklärung des Gewählten, dessen Antrittsrede, der Schlussworte des Bundestagspräsidenten und dem Schließen der Versammlung überwiegt der kürähnliche Charakter der Bundesversammlung. Es handelt sich hierbei um die abschließenden Handlungen zum bereits feststehenden Wahlergebnis, die den Gesamtkomplex der Stimmenabgabe zu einem würdevollen Abschluss bringen und insbesondere an die Öffentlichkeit gerichtet sind.27 21. Das Ersuchen von Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes während und im Nachgang der Bundesversammlung stellt einen Willensbildungsprozess dar, der erst mit der Entscheidung des Sitzungsvorstandes, der Bundesversammlung oder mit einem gerichtlichen Urteil über das Ersuchen feststeht. Demzufolge ist das Ersuchen von Rechtsschutz nicht dem kürähnlichen, sondern dem parlamentarischen Teil zuzuordnen.28 22. Die Eidesleistung des Gewählten im Nachgang und außerhalb der Bundesversammlung stellt einen rein kürähnlichen Akt dar, da hierbei die Wahl des feststehenden Ergebnisses zu einem würdevollen und feierlichen Abschluss gebracht wird und auch nach außen an die Öffentlichkeit gerichtet ist. Der kürähnliche Aspekt kommt auch durch die Präsenz des Bundesrates zum Ausdruck, der in diesen feierlichen Akt durch den Parlamentarischen Rat bewusst eingebunden wurde.29
26
Vgl. Kapitel 4 E. II., S. 316 – 333. Vgl. Kapitel 4 E. III., S. 333 – 336. 28 Vgl. Kapitel 4 F., S. 336 – 344. 29 Vgl. Kapitel 4 G., S. 344 – 353.
27
366
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick Tabellarische Übersicht über die parlaments- und kürähnlichen Anteile im Ablauf der Bundesversammlung parlamentsähnlich
kürähnlich
Im Vorfeld der Bundesversammlung: – Die vorbereitenden Aufgaben des Bundestagspräsidenten zur Wahl der Landesvertreter – Die Wahl der Landesvertreter durch die Landtage – Die Vorbereitung und Einberufung der Bundesversammlung durch den Bundestagspräsidenten Während der Bundesversammlung: – Die Sitzungseröffnung mit einer Eröffnungsrede Die Konstituierung der Bundesversammlung und die Wahlvorbereitung: – Die Feststellung der Beschlussfähigkeit, die Abstimmung über die Geschäftsordnung, die Behandlung von Anträgen, die Wahl der Schriftführer und eines Wahlvorstandes, die Bestätigung der Tagesordnung Das Wahlverfahren: – Das Einreichen von Wahlvorschlägen und das Prüfungsrecht des Sitzungsvorstandes Der Wahlablauf: – Die Stimmabgabe, das Auszählen der Stimmen, die Bekanntgabe des Ergebnisses Die allgemeine Sitzungsleitung: – Die Unterbrechung der Sitzung (bspw. für fraktionsinterne Abstimmungen und zwischen den Wahlgängen), die Aufrechterhaltung der Ordnung (das Hausrecht und die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen) – Der Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes während der Bundesversammlung
– Die Annahmeerklärung des Gewählten – Die Antrittsrede und das Schließen der Bundesversammlung
Im Nachgang der Bundesversammlung: – Die Eidesleistung des Gewählten – Der Rechtsschutz gegen Entscheidungen des Sitzungsvorstandes im Nachgang der Bundesversammlung
D. Verfassungsfragen zur Bestimmung und zum Status der Bundesversammlung
367
D. Verfassungsfragen zur Bestimmung und zum Status der Bundesversammlung und ihrer Mitglieder sowie der Sitzungsleitung 23. Die Landesvertreter werden von den Landtagen gemäß Art. 54 Abs. 3, Hs. 2 GG nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Der Verzicht des Gesetzgebers auf genaue Fristen ermöglicht eine jeweilige flexible und an die Situation in den einzelnen Bundesländern angepasste und gemäß § 2 Abs. 2 S. 2 und S. 3 BPräsWahlG auch eine kurzfristige Wahl. Die Regelung über das Freibleiben von Sitzen von Landesvertretern eines Bundeslandes in § 2 Abs. 2 S. 4 BPräsWahlG ist trotz der Normierung einer paritätischen Besetzung gemäß Art. 54 Abs. 3 GG verfassungskonform, weil die Regelung als Garantie für die Durchführung der Bundesversammlung zu verstehen ist. Dies bedeutet, dass nur als „ultima ratio“ die Sitze der Landesvertreter eines Bundeslandes unbesetzt bleiben und eine ungleiche Vertreteranzahl in Ausnahmefällen hingenommen werden muss. Eine solche Ausnahme zu Art. 54 Abs. 3 GG ist dann nicht verfassungskonform, wenn etwa eine Landesvertretung bewusst keine Vertreter entsendet, um die Konstituierung der Bundesversammlung zu verhindern.30 24. Die Wahl der Mitglieder der Bundesversammlung über eine Einheitsliste, auf die sich alle im Landtag vertretenen Fraktionen geeinigt haben und die die Zusammensetzung des Landtages abbildet, stellt keinen Verfassungsverstoß dar. Es gibt keine Verfassungspflicht, konkurrierende Listen aufzustellen. Auch im Falle der Wahl „en bloc“ ist die ununterbrochene demokratische Legitimationskette durch die ihrerseits demokratisch legitimierten Landtagsabgeordneten gegeben. Die Grundsätze der Verhältniswahl werden beachtet. Ferner ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, aber einfachgesetzlich gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG derzeit nicht gewollt, dass die Wahl der Landesvertreter für eine gesamte Legislaturperiode erfolgt, ohne dass bereits eine Wahl des Bundespräsidenten anberaumt ist. Dies gilt auch, wenn ein Landesparlament auf die in der gleichen Legislaturperiode bereits gewählten Bundesversammlungsmitglieder beziehungsweise auf Listen ohne erneute Wahl zurückgreift, soweit deren Zahl nach der Bekanntgabe der konkreten Anzahl der zu wählenden Landesvertreter angepasst wird.31 25. Bei der Wahl der Landesvertreter ist als Ausfluss des Demokratieprinzips verfassungsrechtlich lediglich die Wahl durch das Landesparlament verlangt und deshalb eine mittelbare Legitimation der von den Landesvertretern Entsandten aufgrund der gewahrten durchgängigen Legitimationskette grundsätzlich ausreichend und verfassungsgemäß. Dennoch führt die zunehmende Berufung von Personen des öffentlichen Lebens zu einem Spannungsfeld zwischen 30 31
Vgl. Kapitel 4 A. II. 2., S. 186 – 189. Vgl. Kapitel 4 A. II. 3. a) – 3. b), S. 190 – 196.
368
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
dem freien Mandat und der Abbildung des Wählerwillens. Dies war vom Parlamentarischen Rat weder beabsichtigt noch vorhersehbar. Dennoch kann als „Lösung“ dieses Spannungsfeldes nicht eine Verfassungsänderung gesehen werden, da sich die vom Parlamentarischen Rat in langwierigen Verhandlungen und Überlegungen austarierte gleichmäßige Behandlung und Partizipation der Bevölkerung auf Bundes- und Länderebene bewährt hat. Vielmehr ist auf das Vertrauen in die demokratisch gewählten Volksvertreter hinsichtlich ihrer Verantwortung bei der Auswahl der Bundesversammlungsmitglieder zu setzen, die grundsätzlichen Interessen des Verfassungsgebers zu wahren. Darüber hinaus besteht als Korrektiv ein Eigeninteresse der Fraktionen, ihren bestehenden Proporz bei der Auswahl der Bundesversammlungsmitglieder nicht zu sehr durch „fraktionslose“ Personen in Gefahr zu bringen.32 26. Für Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl der Landesvertreter sind die jeweiligen Landtage gemäß § 5 S. 1 BPräsWahlG zuständig. Die Bundesversammlung hat gemäß § 5 S. 3 BPräsWahlG hingegen lediglich eine „Notkompetenz“ für den Fall, dass keine rechtzeitige Prüfung im jeweiligen Landtag mehr erfolgen konnte. Außerhalb dieser Ausnahme steht der Bundesversammlung kein Recht auf Überprüfung der Wahl einzelner Mitglieder zu, noch besteht – als Folge davon – ein diesbezügliches Überprüfungsrecht seitens einzelner Bundesversammlungsmitglieder. Deshalb ist ein entsprechender Antrag von der Sitzungsleitung als unzulässig zu verwerfen.33 27. Nach dem Grundsatz der Selbstbetroffenheit ist die Bundesversammlung, die sich auch in Fraktionen gliedert, grundsätzlich selbst für Immunitätsangelegenheiten ihrer Mitglieder zuständig. Die abweichende, seit 2007 geltende Regelung des § 7 S. 2 BPräsWahlG gilt nur außerhalb des Sitzungszeitraumes der Bundesversammlung, somit nicht ab der Konstituierung bis zum Schließen, und überträgt nur in diesem Fall die Zuständigkeit für Immunitätsangelegenheiten der Bundesversammlung auf den Bundestag, sodass ein Verfassungsorgan über ein anderes entscheidet. Diese Regelung ist verfassungsgemäß und zweckmäßig. Wird die Aufhebung der Immunität eines Landtagsabgeordneten beantragt, der zugleich Mitglied der Bundesversammlung ist, ist nach dem Grundsatz der Selbstbetroffenheit der Immunitätsausschuss auf Bundesebene ausschließlich zuständig. Die parallele Immunität auf Landesebene ruht im Zeitraum der Annahme der Wahl als Mitglied der Bundesversammlung bis zum Schließen der Bundesversammlungssitzung, weil die Zuständigkeit für die Immunität eines Bundesorgans gegenüber der des Landesorgans Vorrang besitzt. Für die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten ist stets der Bundestag gemäß Art. 60 Abs. 4 i. V. m. Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG zuständig.34
32
Vgl. Kapitel 4 A. II. 3. c), S. 196 – 200. Vgl. Kapitel 4 A. II. 5., S. 201 – 204. 34 Vgl. Kapitel 4 A. IV., S. 205 – 209.
33
D. Verfassungsfragen zur Bestimmung und zum Status der Bundesversammlung
369
28. Auch im Falle eines (vorzeitigen) Rücktritts des Bundespräsidenten besteht für den Bundestagspräsidenten die Einberufungspflicht einer Bundesversammlung. Zuvor hat er die sich aus der Verfassungsorgantreue ergebenden Anforderungen an die Gültigkeit eines Rücktritts hinsichtlich der Form und des Adressaten zu überprüfen. Bei der Einberufungsfrist ist der Bundestagspräsident gemäß Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG nur „rückwärts“, also hinsichtlich des spätesten Termins gebunden. Der konkrete Termin steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Eine ermessensfehlerhafte zu frühe Terminfestlegung ist dann anzunehmen, wenn durch eine vorzeitige Wahl eines neuen Bundespräsidenten die Autorität des Amtsinhabers bewusst untergraben oder die Auswirkungen anstehender Landtags- oder Bundestagswahlen auf die Zusammensetzung der Bundesversammlung absichtlich umgangen werden sollen. Es besteht keine Pflicht zur letztmöglichen Terminierung. Jedoch können unmittelbar bevorstehende Konstituierungen des Bundestages oder der des Landtages eines bevölkerungsreichen Bundeslandes hinsichtlich der Festlegung des Wahltermins des Bundespräsidenten ermessensreduzierend zu berücksichtigen sein, sofern das Datum im Rahmen des verfassungsrechtlich festgelegten Endzeitpunktes liegt und die Gewährleistung der paritätischen Besetzung durch einen frühen Einberufungstermin nicht gefährdet ist. Ein Fristversäumnis oder ein gänzliches Nichteinberufen der Versammlung stellen einen Verfassungsverstoß gegen Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG dar, der allerdings nur im Rahmen eines Organstreitverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG gerügt werden kann. Dieses führt weder zu einer Ungültigkeit der Bundespräsidentenwahl noch zu einer Unwirksamkeit inzwischen erfolgter Amtshandlungen wie Ernennungen und Gesetzesunterzeichnungen nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG.35 29. Alle Bundesversammlungsmitglieder verfügen gemäß Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 7 S. 3 BPräsWahlG über ein freies Mandat und sind weder an Aufträge noch an Weisungen gebunden. Dies wird auch nicht dann verletzt, wenn die Grundsätze von Fraktionszwang und -disziplin zugrunde gelegt und Probeabstimmungen durchgeführt werden, weil die Fraktionen mangels Überprüfbarkeit des Abstimmungsverhaltens des einzelnen Mitgliedes aufgrund der anschließenden geheimen Wahl und der Auflösung der Bundesversammlung nach erfolgter Wahl des Bundespräsidenten keine Zwangs- oder Sanktionierungsmaßnahmen mehr erlassen können. Eine vorsorglich geforderte unterzeichnete Verzichtserklärung der Landesvertreter für den Fall ihres Nichterscheinens stellt hingegen sowohl einen verfassungswidrigen Eingriff in das freie Mandat als auch einen Verstoß gegen die gleiche Stellung aller Bundesversammlungsmitglieder dar, da eine solche nicht von den Delegierten des Bundestages gefordert werden kann. Ausgenommen bleiben lediglich tatsächlich freiwillige Erklärungen sowie die geäußerte Bitte an ein Bundesversammlungsmitglied, eine
35
Vgl. Kapitel 4 B. I., S. 211 – 221.
370
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
absehbare Verhinderung zur Nachberufung eines Ersatzkandidaten rechtzeitig mitzuteilen.36 30. Die Geschäftsordnungsautonomie gibt der Bundesversammlung das Recht, sich eine eigene Geschäftsordnung zu geben. Zulässig ist auch, dass die Geschäftsordnung des Bundestages gemäß § 8 S. 2, Hs. 2 BPräsWahlG sinngemäß für die gesamte Sitzung der Bundesversammlung Anwendung findet. Da weder in Art. 54 GG noch im Bundespräsidentenwahlgesetz einschränkende Vorgaben über die Art und Weise von Antragstellungen zu finden sind, ist auch eine modifizierte Anwendung dergestalt möglich, dass Geschäftsordnungsanträge und weitere ausschließlich schriftlich zu stellen sind und eine mündliche Begründung sowie eine Aussprache hierüber nicht stattfindet. Die Regelung des Art. 54 Abs. 7 GG i. V. m. § 8 S. 2 BPräsWahlG ist verfassungskonform so auszulegen, dass die Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß Anwendung findet, um die Zeit zu überbrücken, in der sich die Bundesversammlung noch keine eigene Geschäftsordnung gegeben oder förmlich diejenige des Bundestags übernommen hat. Daher gibt es keine Regelungslücke, kein Gewohnheitsrecht oder eine ständige Übung für einen „geschäftsordnungslosen“ Zeitraum. Folglich können auch keine spezifische Regelungen aus der vorangegangenen Bundesversammlung fortwirken, zumal sich die Bundesversammlung aufgrund des Prinzips der Diskontinuität zu jeder anstehenden Bundespräsidentenwahl neu konstituiert und dieses einen einmaligen und autonomen Akt der Bundesversammlung darstellt.37 31. Um dem Wesen von Parlamentarismus und Demokratie Rechnung zu tragen, ist das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG einschränkend auszulegen. Dieses umfasst nur den engeren Kern, also die Wahlhandlung als solche und nicht Bereiche des Wahlumfeldes. Ferner bezieht es sich räumlich nur auf den Sitzungssaal der Bundesversammlung und kann weder räumlich noch zeitlich ausgedehnt werden. Das Ausspracheverbot verbietet somit im Plenum beispielsweise Debatten über die Eignung und die Person des Kandidaten oder dessen eigene Vorstellung. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Kandidaten in anderen Gremien, in der Öffentlichkeit oder in der Presse im Vorfeld der Bundesversammlung ist hingegen von der Meinungs- und Pressefreiheit umfasst. Auch eine Verständigung der Versammlungsmitglieder, meist fraktionsintern, ist in gesonderten Räumlichkeiten selbst zwischen den Wahlvorgängen zulässig. Um ein „blindes Votum“ zu vermeiden, ist im Falle einer kurzfristigen (Nach-)Nominierung eines unbekannten Kandidaten das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG verfassungskonform dergestalt auszulegen, dass die Bundesversammlung bei einer fehlenden Regelung in der Geschäftsordnung durch einfachen Mehrheitsbeschluss feststellen kann, ob eine Vorstellung für die Stimmabgabe notwendig ist. In diesem Fall hat der Sitzungsleiter die Sitzung zu 36 37
Vgl. Kapitel 4 B. III., S. 234 – 238. Vgl. Kapitel 4 C. I. 2., S. 241 – 247.
D. Verfassungsfragen zur Bestimmung und zum Status der Bundesversammlung
371
unterbrechen und der Kandidat darf sich außerhalb des Sitzungssaales unter Beachtung des Öffentlichkeitsgrundsatzes den Fragen der Bundesversammlungsmitglieder – beispielsweise fraktionsintern – stellen. Zu Fragen, die sich auf die Rahmenhandlungen und nicht auf den Kern der Wahlhandlung beziehen, stehen den Mitgliedern aus Art. 54 GG ein Antrags- und Rederecht zu. Somit sind auch alle organisatorisch-technischen Sachdiskussionen, Anträge und Stellungnahmen, die den Kern und den Wahlakt selbst nicht betreffen, sondern nur als vor- oder nachgelagerte organisatorisch-technische Aspekte zu werten sind, nicht vom Ausspracheverbot umfasst. Das Ausspracheverbot beschränkt generell auch nicht einen der Bundesversammlung zeitlich vorgelagerten „Vorstellungswahlkampf“ der Kandidaten.38 32. Der Sitzungsleitung stehen grundsätzlich alle Befugnisse zu, die ihr die Geschäftsordnung zuweist (§ 7 GO-BT). Hierzu gehören das Hausrecht, die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen und das Ausschlussrecht von Bundesversammlungsmitgliedern, wobei die Möglichkeit zur Stimmabgabe stets sicherzustellen ist. Die Sitzungsleitung umfasst auch die Prüfung, ob die Wahlvorschläge den gesetzlichen Vorgaben des § 9 Abs. 1 BPräsWahlG entsprechen, ob die Voraussetzungen für die einmalige anschließende Wiederwahl des Art. 54 Abs. 2 S. 2 GG erfüllt sind und die Beschränkungen nicht rechtsmissbräuchlich umgangen wurden (§ 9 Abs. 2 S. 1 BPräsWahlG). Darüber hinaus stehen der Sitzungsleitung auch weitergehende Befugnisse als im Bundestag zu. Diese ist befugt, die Prüfung der Zulässigkeit von Anträgen nach modifizierten Maßstäben vorzunehmen und Anträge nicht nach Eingang, sondern – willkürfrei und sachbezogen – nach einer zweckmäßigen Reihenfolge zu behandeln. Ansonsten sind nach der Regelung des § 29 GO-BT Geschäftsordnungsanträge grundsätzlich vorrangig zu behandeln. Zur Wahrung der Dignität des Wahlaktes muss die Sitzungsleitung ferner Anträgen auch ohne vorherige Worterteilung die Abstimmung verweigern, die den Kern der Wahlhandlung betreffen und somit unter das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG fallen.39 33. Zur Aufgabe der Sitzungsleitung gehört ferner die Gewährleistung der geheimen Wahl und die Überwachung der ordnungsgemäßen Auszählung der Stimmen durch die Schriftführer. Hierbei zählen nur Stimmen der Kandidaten, die offiziell einer Kandidatur zugestimmt haben (§ 9 Abs. 1 S. 2, Hs. 2, Abs. 3 BPräsWahlG).40 34. Grundsätzlich steht jeder Fraktion das Recht zu, in der Bundesversammlung mit mindestens einer Person als Vizepräsident als auch als Schriftführer vertreten zu sein. Hierbei kollidieren das Recht, über interne Personalfragen selbst zu entscheiden, mit dem Recht des freien Mandats, einen vorgeschlagenen Kandidaten abzulehnen. Aufgrund der auch repräsentativen Aufgaben der Vizepräsidenten 38
Vgl. Kapitel 4 D. II. 2., S. 266 – 290. Vgl. Kapitel 4 D. III., S. 290 – 296. 40 Vgl. Kapitel 4 E. II. 2., S. 318 – 324. 39
372
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
und der Schriftführer im Ablauf der Bundesversammlung überwiegt das Recht der Bundesversammlungsmitglieder, über ihre Repräsentation durch eine freie Wahl zu entscheiden. Damit haben die Fraktionen keinen uneingeschränkten Anspruch auf die Wahl ihrer Kandidaten. Abweichend hat jedoch jede Fraktion, die keinen Schriftführer stellt – nicht jedoch ein einzelnes Mitglied der Bundesversammlung –, einen Anspruch, ein Bundesversammlungsmitglied als Wahlbeobachter für die Stimmauszählungen zu benennen. Mangels repräsentativer Aufgaben eines Wahlbeobachters überwiegen die grundgesetzlichen Minderheits- und Teilhaberechte sowie das Recht auf Chancengleichheit. Das Recht auf Entsendung ist zugleich Ausfluss des parlamentsähnlichen Charakters dieses Teils der Bundespräsidentenwahl.41 35. Durch eine parteiische Rede des Bundestagspräsidenten in der Bundesversammlung, beispielsweise durch eine parteiisch wertende und unmissverständlich als Kritik an einem oder mehreren zur Wahl stehenden Kandidaten gedachte Äußerung, wird der Sitzungsleiter zu einem Akteur der politischen Auseinandersetzung. Hierdurch verletzt er seine Neutralitätspflicht als Sitzungsleitung und die verfassungsrechtlich austarierte Struktur innerhalb der Verfassungsinstitutionen. Die strenge politische Neutralitätspflicht der Leitung der Bundesversammlung ist Ausdruck einer rein verwaltungstechnischen und nicht einer politischen Wahrnehmung des Amtes.42 36. Aufgrund der Autonomie, die die Bundesversammlung mit der Konstituierung erlangt, können ab diesem Zeitpunkt die gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG mit der Wahl des Bundespräsidenten betrauten Mitglieder die Sitzungsleitung der Bundesversammlung mit einfachem Mehrheitsbeschluss abwählen und neu bestimmen. Dies ist jedoch, vergleichbar dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler gemäß Art. 67 Abs. 1 GG, nur möglich, wenn die Mitglieder sich zugleich auf einen anderen Leiter einigen oder einen der Bundestagsvizepräsidenten an dessen Stelle treten lassen. Bis zur Konstituierung greift die gesetzliche Regelung, dass die organisatorische Vorbereitung und Durchführung nicht bei der Bundesversammlung, sondern ausschließlich beim Präsidenten des Bundestages verortet ist. Aufgrund der jeweiligen Neukonstituierung der Bundesversammlung ist es ihr selbst nicht möglich, für zukünftige Bundesversammlungen eine vom Bundespräsidentenwahlgesetz abweichende Entscheidung zu beschließen. Hierzu wären vom Bundesgesetzgeber entsprechende Änderungen, beispielsweise im Bundespräsidentenwahlgesetz, vorzunehmen.43 37. Erreicht in den ersten beiden Wahlgängen der Bundespräsidentenwahl kein Kandidat die absolute Mehrheit, so ist die Formulierung „der meisten Stimmen“ in Art. 54 Abs. 6 S. 2 GG dahingehend auszulegen, dass eine relative Mehrheit 41
Vgl. Kapitel 4 C. I. und Kapitel 4 E. II. 2. b), S. 238 – 250 und S. 320 – 322. Vgl. Kapitel 4 C. II. 1. – 2., S. 251 – 257. 43 Vgl. Kapitel 4 C. II. 3., S. 257 – 264.
42
E. Einordnung und Ausblick der gerichtlichen Entscheidung
373
der abgegebenen Stimmen ausreichend ist. Hierbei ist nicht erforderlich, dass die „Ja-Stimmen“ gegenüber der Gesamtzahl der „Nein-Stimmen“ überwiegen müssen, da anderenfalls Minderheitsgruppierungen durch Zurückziehen ihres/ ihrer Kandidaten oder durch ihre faktische Nichtteilnahme die Wahl blockieren könnten und es zu einem (zeitweisen) Verfassungsstillstand kommen könnte. Im Fall einer Stimmengleichheit oder bei der Nichtannahme der Wahl im dritten Wahlgang sind so lange weitere Wahlgänge mit dem Erfordernis einer relativen Mehrheit zulässig und anzusetzen, bis diese erreicht ist. Für weitere Wahlgänge dürfen über den Wortlaut des § 9 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG hinausgehend weiterhin neue Wahlvorschläge eingebracht werden.44 38. Die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Bundespräsidentenwahl sind begrenzt. In Fällen, in denen sich die Beanstandungen auf einen Sachverhalt im Vorfeld beziehen, für welches das Gesetz ein Verfahren bereits vorsieht, dürfen diese in der Bundesversammlung zu Protokoll gegeben werden, worüber der Sitzungsleiter die Mitglieder zu informieren und gegebenenfalls eine Aussprache anzusetzen hat. Bei begründetem Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Wahl steht den Mitgliedern ebenfalls die Möglichkeit einer Aussprache zu. Im Nachgang der Wahl können die Mitglieder nur eine Überprüfung in Form eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen, durch die beispielsweise die Bundespräsidentenwahl oder eine Verletzung der Neutralitätspflicht durch die Sitzungsleitung überprüft werden kann.45 39. Bei Verweigerung oder Veränderung des Amtseides begeht das Staatsoberhaupt eine Amtspflichtverletzung. Eine anschließende Ungültigkeit von Amtshandlungen geht damit aber nicht einher. Aufgrund des Kürcharakters der Eidesleistung ist auch eine zweite, wiederholende Eidesleistung des Wiedergewählten zu fordern. Eine Eidesleistung ist jedoch zu unterlassen, solange eine Inkompatibilität beim Bundespräsidenten nach Art. 55 GG vorliegt. Hierzu zählen Tätigkeiten, die seine gebotene Unabhängigkeit und seine parteipolitische Neutralität verletzen.46
E. Die Einordnung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung und die mögliche Weiterentwicklung 40. In dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Organstreitverfahren hat das Bundesverfassungsgericht der Bundesversammlung einen kürähnlichen Charakter 44
Vgl. Kapitel 4 E. II. 3., S. 324 – 333. Vgl. Kapitel 4 F., S. 336 – 344. 46 Vgl. Kapitel 4 G., S. 344 – 353.
45
374
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
zugesprochen47 und festgestellt, dass durch die Sitzungsleitung in der 13. und 14. Bundesversammlung keine verfassungsrechtlichen Rechte der Antragsteller verletzt wurden. Daher seien die Organstreitverfahren unbegründet. Dies betrifft auch die Fälle, soweit eine auf der Schwelle zu einem Verstoß gegen die Verfassung stehende Handlungsweise als noch nicht schwerwiegend genug eingestuft wird. Hieraus kann aber nicht geschlussfolgert werden, dass diese vom Bundestagspräsidenten als Sitzungsleiter praktizierte Handhabung in der Bundesversammlung die einzig rechtlich zulässige und die verfassungsrechtlich einzig gebotene Option darstellt. Es wurde lediglich entschieden, dass die konkret gewählten Handlungsoptionen des Sitzungsleiters nicht verfassungswidrig waren. Somit liegt für die Sitzungsleitung keine „in Stein gemeißelte“ ausschließliche Handlungsmaxime vor und die „Offenheit“ des Art. 54 GG ist weiterhin gegeben. 41. Es ist davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriff der „Kür“ in seiner Begründung wählte, um den Bundesversammlungsmitgliedern von vornherein parlamentsähnliche Rechte zu verwehren und damit Versuche einzelner Personen und Parteien, die Bundesversammlung als ein politisches Forum zu instrumentalisieren und zweckzuentfremden, zu verhindern.48 Deshalb wurden Diskussionen in der Bundesversammlung über Fragen der Geschäftsordnung, der Bestellung von Wahlbeobachtern sowie Fragen zur Legitimität der en bloc-Wahlen in den Ländern gänzlich unterbunden. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat im gedruckten Urteil – anders als im mündlich vorgetragenen Eingangsstatement – eine klarere Positionierung vermieden. Fraglich bleibt, ob das Bundesverfassungsgericht den entsprechenden Organstreitigkeiten, sofern sie von etablierten (Volks-)Parteien herbeigeführt worden wären, differenziertere Grundsätze herausgearbeitet hätte,49 wie es diese Arbeit vorschlägt. 42. Der Ablauf der Bundesversammlung hat sich am Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 54 GG zu orientieren und ist daran zu messen. In diesem verfassungsrechtlichen Rahmen ist auch ein abweichender, parlamentsähnlicherer Ablauf stärker als bislang denkbar und verfassungsgemäß. Dem Bundestagspräsidenten als Leiter der Bundesversammlung obliegt es, 47
Vgl. BVerfGE 136, 277, 277 ff.; 138, 125, 125 ff. Vgl. gleichlautend Engelbrecht, Die Bundesversammlung – Ein fast unbekanntes Bundesorgan, KommP Wahlen 2016, 82, 88, der zu dem Fazit gelangt, dass die Urteile des Bundesverfassungsgerichts von der Intention geleitet waren, im Interesse der Erhaltung der Würde und Autorität des Amtes diesen Absichten einer Zweckentfremdung enge Grenzen zu setzen. 49 Dies vermutend: Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74; sowie Fritz, in: BK-GG, Art. 54 (178. EL: April 2016), Rn. 238 m. w. N., wonach den Antragstellern als Mitgliedern einer rechtsextremistischen Partei „kein über die Hintertür ertrotztes Rederecht“ zur missbräuchlichen Nutzung der Bundesversammlung als Plattform für die Verfolgung eigener Interessen ermöglicht werden sollte und daher das Urteil vom Ergebnis her gedacht worden sei. 48
E. Einordnung und Ausblick der gerichtlichen Entscheidung
375
dieses Gestaltungsermessen in seiner Leitungsfunktion auszufüllen. Seine Sitzungsleitung ist demnach nicht durch ein strenges Korsett beschränkt. Ihm sind im Rahmen der durch das Grundgesetz und das Bundespräsidentenwahlgesetz gesetzten Grenzen im Vergleich zur parlamentarischen Sitzungsführung im Bundestag erweiterte Ermessens- und Gestaltungsspielräume eröffnet,50 um so dem besonderen Charakter der Bundesversammlung Rechnung zu tragen. Im Falle einer prognostizierten klaren Mehrheit für einen Kandidaten rückt eine würdevolle, kürähnliche Wahl in den Vordergrund, während bei schwierigen Entscheidungsfindungen mit mehreren Kandidaten und Wahlgängen die parlamentarischen Aspekte stärker hervortreten.51 Mit dieser Flexibilität kann der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Warnung Zehs, des damaligen Prozessbevollmächtigten des Deutschen Bundestages, vor einer Politisierung der Bundesversammlung erfolgreich begegnet werden, sodass die Bundesversammlung ein befriedeter und würdevoller Ort des Wahlaktes bleiben kann.52 Ferner steht es dem Versammlungsleiter offen, gegebenenfalls von der bisherigen Praxis abzuweichen.53 43. In der Vergangenheit und in den streitgegenständlichen Urteilen hat die NPD, als kleine Randgruppe mit nur wenigen Vertretern in der Bundesversammlung, durch ihre Anträge die verfassungsrechtlichen Fragen über die Bundesversammlung als Organ in der bisherigen „Konsenskultur“ aufgeworfen. Aufgrund der derzeitigen Entwicklung hin zu einer stärkeren Parteienpluralität und der Verschiebung der Machtverhältnisse durch die Etablierung neuer und des Stimmenzuwachses ehemals kleinerer Parteien in den Parlamenten, erscheinen die zukünftigen Besetzungen in den Bundesversammlungen heterogener. Ein „Mehr“ an Parteien spricht auch für ein „Mehr“ an Parlamentarismus. Somit bleibt abzuwarten, ob sich auch diese Entwicklung in einer zukünftig tendenziell parlamentsähnlicheren Sitzungsleitung der Bundesversammlung widerspiegeln 50
So im Ergebnis auch: BVerfGE 136, 277, 317. Ähnlich auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74, der ausführt, dass bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen in informellen Sitzungen um die Zustimmung zu einzelnen Kandidaten, um Rücktritte von der Kandidatur oder neue Kandidatenvorschläge gerungen wird und die Wahl möglicherweise nicht – wie bislang immer – an einem einzigen Tag zum Abschluss kommt. In diesem Fall sei die Bundesversammlung deutlich parlamentsähnlicher. 52 Wolfgang Zeh warnte für die Antragsgegner in der mündlichen Verhandlung vor einer Politisierung der Bundesversammlung durch das Aufdrücken politischer Akzente im Wahlverfahren und trug vor, dass die Bundesversammlung weiterhin ein „befriedeter Prozess“ bleiben müsse. Vgl. auch Steinbeis, Von der Politisierbarkeit der Bundespräsidentenwahl, Verfassungsblog.de, 11. 2. 2014, https://verfassungsblog.de/von-politisierbarkeit-bundespraesi dentenwahl/, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 53 So auch Butzer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 54, Rn. 74, wonach es dem Versammlungsleiter offenstehe, eine modifizierte Handhabung zu etablieren und bspw. einem Antragsteller zu einem von ihm gestellten Geschäftsordnungsantrag das Wort zu erteilen. Auf Missbrauchsfälle könne der Bundestagspräsident mit der Wortentziehung reagieren. 51
376
Kap. 5: Zusammenfassung und Ausblick
wird. Durch den Ermessensspielraum bei der Sitzungsleitung ist im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG hierin selbst kein Verfassungsverstoß zu sehen.
Anhang A. Übersicht über die Sitzungen des Parlamentarischen Rates1 Im Organisationsausschuss2 1. Sitzung
15. September 1948
2. Sitzung
16. September 1948
3. Sitzung
21. September 1948
4. Sitzung
22. September 1948
5. Sitzung
23. September 1948 Erste längere Diskussion über die Zusammensetzung eines Wahlgremiums und die Besetzung des Amtes eines Bundespräsidenten mit dem Vorschlag einer Personalunion zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident.
6. Sitzung
24. September 1948
7. Sitzung
29. September 1948
8. Sitzung
30. September 1948
9. Sitzung
1. Oktober 1948
SPD-Plädoyer – in Übereinstimmung mit dem Herrenchiemsee-Bericht – die Bundesrepublik äußerlich als Provisorium mit dem Langzeitziel der Wiedervereinigung auszugestalten und deshalb auf einen Präsidenten zu verzichten. Der Vorschlag einer Aufgabenwahrnehmung durch den Bundestagspräsidenten stieß auf Widerspruch der anderen Mitglieder.
10. Sitzung 6. Oktober 1948 11. Sitzung 7. Oktober 1948 12. Sitzung 8. Oktober 1948
Modifizierter SPD-Vorschlag: Lediglich bis zur Wahl eines ersten Bundespräsidenten sollen dessen Befugnisse durch den Präsidenten des Bundestages ausgeübt werden.
13. Sitzung 13. Oktober 1948 14. Sitzung 14. Oktober 1948 15. Sitzung 15. Oktober 1948 16. Sitzung 20. Oktober 1948 1 Ein Personenverzeichnis mit der Auflistung aller Mitglieder ist zu finden bei: Sach- und Sprechregister zu den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates und seines Hauptausschusses 1948, 1948. 2 Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 13, 2002, Teilbd. 1, S. CXIX–CXXXV.
378
Anhang
17. Sitzung 22. Oktober 1948 18. Sitzung 27. Oktober 1948 19. Sitzung 3. November 1948 20. Sitzung 5. November 1948 21. Sitzung 10. November 1948 22. Sitzung 24. November 1948 Der modifizierte SPD-Vorschlag (der Bundestagspräsident übernimmt zunächst die Aufgaben des Bundespräsidenten) wurde gegen die Stimmen der CDU/CSUAbgeordneten im Organisationsausschuss angenommen, später im Hauptausschuss jedoch abgelehnt. Zudem beschloss der Ausschuss den letztlich erfolgreichen Vorschlag einer Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung ohne Beteiligung des Bundesrates und legte diesen dem Hauptausschuss vor. 23. Sitzung 1. Dezember 1948 24. Sitzung 1. Dezember 1948 25. Sitzung 2. Dezember 1948 26. Sitzung 3. Dezember 1948 27. Sitzung 6. Dezember 1948 28. Sitzung 16. Dezember 1948 29. Sitzung 11. Januar 1949 30. Sitzung 13. Januar 1949 31. Sitzung 14. Januar 1949 32. Sitzung 20. Januar 1949 Im Hauptausschuss3 1. Sitzung
15. September 1948
2. Sitzung
11. November 1948 Beginn der 1. Lesung bis einschließlich der 26. Sitzung am 10. Dezember 1948.
3. Sitzung
16. November 1948
4. Sitzung
17. November 1948
5. Sitzung
18. November 1948
6. Sitzung
19. November 1948
7. Sitzung
23. November 1948
8. Sitzung
24. November 1948 Erstmalige Beschäftigung des Hauptausschusses mit dem Amt des Bundespräsidenten und seinem Wahlmodus. Es wurden drei Vorschläge diskutiert, die sich insbesondere mit der Frage beschäftigten, ob der Bundesrat an der Wahl beteiligt werden solle. Eine Beschlussfassung wurde ausgesetzt und die Angelegenheit erneut an den Organisationsausschuss überwiesen.
3
Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 14, 2009, Teilbd. 1, S. XXXI – LIV.
A. Übersicht über die Sitzungen des Parlamentarischen Rates 9. Sitzung
379
25. November 1948
10. Sitzung 30. November 1948 Der Hauptausschuss diskutierte den Beschluss des Organisationsausschusses vom 24. November 1948, der eine Wahl des Bundespräsidenten durch eine Bundesversammlung ohne Berücksichtigung des Bundesrates vorsah. Hierbei fiel durch Carlo Schmid (SPD) in einem längeren Redebeitrag erst- und letztmalig im Parlamentarischen Rat beiläufig das Wort „Kür“. Christoph Seebohm (DP) sprach von „Wahlkurien“. Die anderen Redner wählten das Wort „Wahl“ und griffen die abweichenden Begriffe nicht auf. Zudem diskutierte der Hauptausschuss über den Zeitpunkt der Besetzung des Präsidentenamtes und stimmte knapp für einen sofort zu wählenden Bundespräsidenten. 11. Sitzung 30. November 1948 12. Sitzung 1. Dezember 1948 13. Sitzung 1. Dezember 1948 14. Sitzung 2. Dezember 1948 15. Sitzung 2. Dezember 1948 16. Sitzung 3. Dezember 1948 17. Sitzung 3. Dezember 1948 18. Sitzung 4. Dezember 1948 19. Sitzung 6. Dezember 1948 20. Sitzung 7. Dezember 1948 21. Sitzung 7. Dezember 1948 22. Sitzung 8. Dezember 1948 23. Sitzung 8. Dezember 1948 24. Sitzung 9. Dezember 1948 25. Sitzung 9. Dezember 1948 26. Sitzung 10. Dezember 1948 27. Sitzung 15. Dezember 1948 Beginn der 2. Lesung bis einschließlich der 46. Sitzung am 20. Januar 1949. 28. Sitzung 18. Dezember 1948 29. Sitzung 5. Januar 1949 30. Sitzung 6. Januar 1949 31. Sitzung 7. Januar 1949
380 32. Sitzung 7. Januar 1949
Anhang Der Vorschlag der FDP-Fraktion nach der Errichtung einer Präsidialregierung nach amerikanischem und schweizer Vorbild wurde abgelehnt und das parlamentarische Regierungssystem bestätigt. Der Ausschuss stimmte ferner – abweichend zum Ergebnis der ersten Lesung – für eine dreigliedrige Besetzung der Bundesversammlung bestehend hälftig aus Bundestags- und hälftig aus Bundesratsmitgliedern mit weiteren Ländervertretern.
33. Sitzung 8. Januar 1949 34. Sitzung 11. Januar 1949 35. Sitzung 12. Januar 1949 36. Sitzung 12. Januar 1949 37. Sitzung 13. Januar 1949 38. Sitzung 13. Januar 1949 39. Sitzung 14. Januar 1949 40. Sitzung 14. Januar 1949 41. Sitzung 15. Januar 1949 42. Sitzung 18. Januar 1949 43. Sitzung 18. Januar 1949 44. Sitzung 19. Januar 1949 45. Sitzung 19. Januar 1949 46. Sitzung 20. Januar 1949 47. Sitzung 8. Februar 1949
Beginn der 3. Lesung bis einschließlich der 50. Sitzung am 10. Februar 1949.
48. Sitzung 9. Februar 1949 49. Sitzung 9. Februar 1949
50. Sitzung 10. Februar 1949 51. Sitzung 10. Februar 1949
Der erneute Vorschlag der FDP-Fraktion nach der Errichtung einer Präsidialregierung wurde abgelehnt, auch mit Blick auf die weit vorangeschrittenen Beratungen für eine parlamentarische Demokratie. Durch Zugeständnisse wurde in Abwandlung des Ergebnisses der zweiten Lesung des Hauptausschusses, aber dem letzten Entwurf des Redaktionsausschusses folgend, ohne größere Debatte bei einer Gegenstimme und mehreren Enthaltungen endgültig entschieden, dass die Bundesversammlung aus Mitgliedern des Bundestages und den Vertretern der Länderparlamente, also ohne Beteiligung des Bundesrates, bestehen sollte. Bedingt durch weitere Absprachen zwischen den Fraktionen einigte sich der Hauptausschuss auf den Bundesratspräsidenten als Stellvertreter des Bundespräsidenten.
A. Übersicht über die Sitzungen des Parlamentarischen Rates
381
52. Sitzung 22. Februar 1949 53. Sitzung 23. Februar 1949 54. Sitzung 5. April 1949 55. Sitzung 6. April 1949 56. Sitzung 13. April 1949 57. Sitzung 5. Mai 1949
Beginn der 4. Lesung bis einschließlich der 58. Sitzung am 6. Mai 1949.
58. Sitzung 6. Mai 1949 59. Sitzung 9. Mai 1949 Im Plenum4 1. Sitzung
1. September 1948
2. Sitzung
8. September 1948
3. Sitzung
9. September 1948
4. Sitzung
15. September 1948
5. Sitzung
22. September 1948
6. Sitzung
20. Oktober 1948
7. Sitzung
21. Oktober 1948
8. Sitzung
24. Februar 1949
9. Sitzung
6. Mai 1949
Zwei Lesungen im Plenum am 6. und 8. Mai 1949, den Bundespräsidenten betreffend, brachten keine weiteren Änderungen im Vergleich zum Ergebnis vom 9. Februar 1949 und führten zu keinen weitergehenden Diskussionen.
10. Sitzung 8. Mai 1949 11. Sitzung 10. Mai 1949 12. Sitzung 23. Mai 1949
4
Vgl. Werner, Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949, Bd. 9, 1996, Nr. 3, S. XLIII – L.
382
Anhang
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personen der Zeitgeschichte5 Akademischer Grad, ParteizuKurzbiographie Vor- und Nachname; gehörigkeit Geburts- und ggf. Sterbedaten Adenauer, Konrad (*1876, † 1967)
CDU
– Jurist und Politiker – bekleidete bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik als Angehöriger der Zentrumspartei politische Ämter: Er war Oberbürgermeister von Köln, gehörte dem preußischen Herrenhaus an, war Präsident des preußischen Staatsrats – wurde in der Zeit des Nationalsozialismus von seinen Ämtern enthoben und zeitweise inhaftiert – wurde vom Nordrhein-Westfälischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt und war dort dessen Präsident – gehörte zu den Begründern der CDU, deren Parteivorsitzender er von 1950 bis 1966 war – von 1949 bis 1963 erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und von 1951 bis 1955 zugleich erster Bundesminister des Auswärtigen
Arnold, Karl (*1901, † 1958)
Zentrum, CDU
– Schuhmacher, Studium an einer Sozialen Hochschule, Politiker – nordrhein-westfälischer Ministerpräsident von 1947 bis 1956 – vom 7. September 1949 bis 6. September 1950 erster Präsident des Bundesrates
Becker, Dr. Max (*1888, † 1960)
FDP
– promovierter Jurist – vom Hessischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt, dort Schriftführer und Vorsitzender des Ausschusses für Wahlrechtsfragen – 1959 Kandidat der FDP für das Amt des Bundespräsidenten
Bergsträsser, Prof. Dr. Ludwig (*1883, † 1960)
SPD
– habilitierter Geschichtswissenschaftler und Politiker mit außerordentlichen Professuren in Greifswald, Berlin und Frankfurt. 1934 Entzug der Lehrbefugnis – vom Hessischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt
5 Eingehend zu den Biographien und inhaltlichen Positionen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, siehe https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/grundgesetzund-parlamentarischer-rat/39043/biografien, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023.
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
383
Bisky, Prof. Dr. Lothar Linkspartei (*1941, † 2013)
– in der DDR zweifach promovierter Philosoph und Kulturwissenschaftler, Professor für Film- und Fernsehwissenschaft und Politiker – scheiterte 2005 vier Mal bei der Wahl als Bundestagsvizepräsident
Brandt, Willy (*1913, † 1992)
SPD
– Politiker – nach dem Abitur begann er zunächst ein Volontariat bei einer Lübecker Schiffsmaklerei und später ein Geschichtsstudium in Oslo – Journalistische Mitarbeit im Exil bei der SAPD, bevor Brandt 1933 ins Exil nach Norwegen flüchtete – von 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister Berlins – von 1964 bis 1987 SPD-Parteivorsitzender – von 1966 bis 1969 Bundesaußenminister und Vizekanzler im Kabinett Kiesinger – von 1969 bis 1974 erster sozialdemokratischer und vierter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
Braun, Otto (*1872, † 1955)
SPD
– Politiker – von März 1920 bis März 1921 sowie von November 1921 bis Januar 1925 und von April 1925 bis Mai 1932 Ministerpräsident des Freistaates Preußen – Kandidat der SPD bei der Reichspräsidentenwahl 1925
Brentano, Dr. Heinrich CDU von (*1904, † 1964)
– promovierter Jurist und Politiker – vom Hessischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt; zusammen mit Georg-August Zinn (SPD) und Thomas Dehler (FDP) bildete er den Redaktionsausschuss – von 1955 bis 1961 Bundesminister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland und von 1949 bis 1955 sowie von 1961 bis zu seinem Tode Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Brill, Dr. Hermann (*1895, † 1959)
– promovierter Jurist, Widerstandskämpfer, Hochschullehrer, Publizist und Politiker – zur Zeit des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der Bundesrepublik in verschiedenen Parlamenten Abgeordneter – von Juni bis Juli 1945 unter amerikanischer Besatzung Regierungspräsident von Thüringen – von 1946 bis 1949 Chef der Hessischen Staatskanzlei
USPD, SPD
384
Anhang
Brockmann, Johannes (*1888, † 1975)
Zentrum
– Lehrer und Politiker – vom Landtag Nordrhein-Westfalen in den Parlamentarischen Rat gewählt – Vorsitz der zweiköpfigen Fraktion der Zentrumspartei sowie ab März 1949 Mitglied im Siebenerausschuss des Parlamentarischen Rates
Brüning, Dr. Heinrich (*1885, † 1970)
Zentrum
– Politiker – vom 30. März 1930 bis 30. Mai 1932 Reichskanzler der Weimarer Republik
Büdenbender, Elke (*1962)
– Juristin und Ehefrau des amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) – diskutiert wurde, inwieweit ihre Richtertätigkeit am Verwaltungsgericht Berlin mit dem Bundespräsidentenamt ihres Mannes vereinbar ist
Carstens, Prof. Dr. Karl (*1914, † 1992)
CDU
– habilitierter Jurist und Politiker – von 1976 bis 1979 Bundestagspräsident – von 1979 bis 1984 der fünfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland; die Sitzungsleitung der Bundesversammlung 1979 übernahmen drei Bundestagsvizepräsidenten
Chapeaurouge, Dr. Paul de (*1876, † 1952)
CDU
– promovierter Rechts- und Staatswissenschaftler – von der Hamburgischen Bürgerschaft in den Parlamentarischen Rat gewählt
Clay, Lucius D. (*1898, † 1978)
– General der amerikanischen Armee und von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland
Dehler, Dr. Thomas (*1897, † 1967)
FDP
– promovierter Jurist – vom Bayerischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt, wo er u. a. Mitglied im Ältestenrat war, dem Hauptausschuss sowie dem Ausschuss für die Organisation des Bundes, dem Allgemeinen Redaktionsausschuss, dem Fünferausschuss und dem Siebenerausschuss des Parlamentarischen Rates angehörte – von 1949 bis 1953 Bundesjustizminister – von 1954 bis 1957 Bundesvorsitzender der FDP
Dönitz, Karl (*1891, † 1980)
NSDAP
– übernahm am 1. Mai 1945 nach dem Selbstmord Adolf Hitlers nach dessen letzten Willen am 30. April 1945 für wenige Tage offiziell das Amt des Reichskanzlers. Dieses endete mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zum 8. Mai 1945
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
385
Ebert, Friedrich (*1871, † 1925)
SPD
– seit 1913 Vorsitzender der SPD, übernahm nach der Novemberrevolution 1918 zusammen mit der USPD die Regierung und übertrug Hugo Preuß die Ausarbeitung des Entwurfes einer Verfassung für die Nationalversammlung der Weimarer Republik – von 1919 bis zu seinem Tod erster Reichspräsident der Weimarer Republik
Ehard, Dr. Hans (*1887, † 1980)
CSU
– promovierter Jurist und Politiker der CSU – lud als Ministerpräsident (1946 bis 1954 und 1960 bis 1962) des Freistaates Bayern zum Verfassungskonvent auf Schloss Herrenchiemsee ein
Ehlers, Dr. Hermann (*1904, † 1954)
CDU
– promovierter Jurist und Politiker – von 1950 bis zu seinem Tode 1954 zweiter Bundestagspräsident der Bundesrepublik Deutschland und in dieser Funktion Leiter der 2. Bundesversammlung
Fecht, Dr. Hermann (*1880, † 1952)
CDU
– promovierter Jurist – vom Badischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt – legte Anfang März 1949 sein Mandat aus gesundheitlichen Gründen nieder
Fehrenbach, Constantin (*1852, † 1926)
Zentrum
– Jurist und Politiker – vom 25. Juni 1920 bis zum 4. Mai 1921 Reichskanzler der Weimarer Republik
Finck, Dr. Albert (*1895, † 1956)
CDU
– promovierter Philosoph – Vertreter des Rheinland-Pfälzischen Landtages im Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates
Fischer, Richard (*1855, † 1926)
SPD
– Schriftsetzer und Politiker – Abgeordneter in der Nationalversammlung
Gauck, Joachim (*1940)
parteilos
– Ein in der DDR aufgewachsener evangelischer Theologe und Politiker – Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) von Oktober 1990 bis Oktober 2000 – vom 18. März 2012 bis zum 18. März 2017 elfter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Gerstenmaier, Dr. Eugen (*1906, † 1986)
CDU
– promovierter evangelischer Theologe und Politiker – von 1954 bis 1969 Bundestagspräsident und in dieser Funktion Leiter der 3. Bundesversammlung 1959 und der 4. Bundesversammlung 1964
386
Anhang
Glum, Prof. Dr. Friedrich (*1891, † 1974)
CSU
– habilitierter Jurist und außerordentlicher Professor – von 1922 bis 1937 Generaldirektor der KaiserWillhelm-Gesellschaft und von 1946 bis 1952 Ministerialdirigent in der Bayerischen Staatskanzlei
Haas, Ludwig (*1875, † 1930)
DDP
– Jurist und Offizier im Ersten Weltkrieg – 1919/1920 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und von 1920 bis zu seinem Tode Reichstagsabgeordneter und Vorsitzender der Reichstagsfraktion der DDP
Haase, Hugo (*1863, † 1919)
SPD, ab 1917 USPD
– Jurist und Politiker – Mitglied im Reichstag von 1897 bis 1907 und von 1912 bis 1918 – von 1911 bis 1916 einer von zwei Parteivorsitzenden; von 1912 bis 1917 einer der beiden Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Reichstag – wurde als Gegner der Kriegspolitik 1916 aus der Fraktion und 1917 aus der Partei ausgeschlossen – gründete 1917 die USPD, für die er im Januar 1919 in die Nationalversammlung gewählt wurde und dort Fraktionsvorsitzender war – verstarb Ende 1919 an den Folgen eines Attentats
Heinemann, Dr. Dr. Gustav (*1899, † 1976)
SPD (seit 1957)
– Politiker, Jurist, Volkswirtschaftler und Geschichtswissenschaftler (zweifach promoviert) – von 1949 bis 1950 Bundesminister des Innern – von 1966 bis 1969 Bundesminister der Justiz – von 1969 bis 1974 der dritte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Heitmann, Steffen (*1944)
bis 2015 CDU
– ein in der DDR aufgewachsener evangelischer Theologe, Kirchenjurist und ehemaliger Politiker – von 1990 bis 2000 sächsischer Justizminister – Wunschkandidat Helmut Kohls für das Amt des Bundespräsidenten 1994. Nach umstrittenen Äußerungen – zur Rolle der Frau, zum Holocaust und über Ausländer – die von Kritikern als ultrakonservativ oder sogar reaktionär angesehen wurden, verzichtete Heitmann auf eine Kandidatur
Held, Heinrich (*1868, † 1938)
BVP
– Jurist und Politiker – von 1924 bis zu seiner Absetzung 1933 bayerischer Ministerpräsident – Kandidat bei der Reichspräsidentenwahl 1925 für die BVP
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
387
Heller, Prof. Dr. Hermann (*1891, † 1933)
SPD
– habilitierter deutscher Jurist jüdischer Abstimmung und Staatsrechtslehrer – prägte mit seiner Schrift „Rechtsstaat oder Diktatur?“ von 1930 den Begriff des sozialen Rechtsstaats und zählte zu den wenigen Vertretern seines Faches, die sich vorbehaltlos für das demokratische Prinzip der Weimarer Republik einsetzten. Als ein Antipode Hellers gilt Carl Schmitt (NSDAP)
Hellpach, Willy (*1877, † 1955)
DDP
– Politiker, Journalist, Psychologe und Arzt – kandidierte 1925 für die DDP bei der Wahl zum Reichspräsidenten
Herzog, Prof. Dr. Roman (*1934, † 2017)
CDU
– habilitierter Jurist und Politiker – 1965 bis 1972 Hochschulprofessor – 1973 bis 1978 Staatssekretär und Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund, zugleich Mitglied des Bundesrates – von 1978 bis 1980 Kultusminister und von 1980 bis 1983 Innenminister des Landes Baden-Württemberg – von 1983 bis 1994 Richter am Bundesverfassungsgericht, ab 1987 als dessen Präsident – von 1994 bis 1999 siebter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Heuss, Dr. Theodor (*1884, † 1963)
DDP, seit 1948 FDP
– promovierter Nationalökonom und Politiker – vom Landtag Württemberg-Badens in den Parlamentarischen Rat gewählt und dort einflussreiches Mitglied. Die Zusammensetzung der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten ist seiner Idee geschuldet – Gründungsmitglied der DDP Ende 1918 – gehörte von 1924 bis 1928 und von 1930 bis 1933 dem Deutschen Reichstag an – Mitgründer der FDP 1948 und deren erster Vorsitzender – von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Hindenburg, Paul von (*1847, † 1934)
parteilos
– Generalfeldmarschall und parteiloser Politiker – wurde 1925 zum zweiten Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt und 1932 wiedergewählt; übte das Amt bis zu seinem Tod aus – ernannte am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler
388 Hitler, Adolf (*1889, † 1945)
Anhang NSDAP
– deutscher Politiker österreichischer Herkunft, seit 1921 Vorsitzender der NSDAP und prägte mit seiner Schrift „Mein Kampf“ von 1925/1926 die Ideologie des Nationalsozialismus – die NSDAP unter Adolf Hitler und Erich Ludendorff scheiterte im November 1923 von München aus mit dem Versuch die Reichsregierung in Berlin zu stürzen (sog. Hitler-Ludendorff-Putsch) – etablierte von 1933 bis 1945 im Deutschen Reich eine von der NSDAP gestützte Führerdiktatur (sog. NS-Diktatur), die in den Zweiten Weltkrieg mündete
Jacobi, Prof. Dr. Erwin parteilos (*1884, † 1965)
– habilitierter deutscher Staats- und Kirchenrechtler, der zusammen mit dem Staatsrechtler und Philosophen Carl Schmitt (NSDAP) die sog. „SchmittJacobi’sche Theorie“ vertrat, wonach es dem Reichspräsidenten nicht erlaubt wäre, unter Berufung auf sein Notverordnungsrecht formelle Gesetze zu erlassen. Damit stellten sie sich gegen die herrschende Lehre – vertreten vor allem von Gerhard Anschütz
Jarres, Dr. Karl (*1874, † 1951)
DVP
– Jurist und Politiker – von 1914 bis 1933 Duisburger Oberbürgermeister – von 1923 bis 1924 Reichsinnenminister in verschiedenen Kabinetten – 1925 Kandidat der Reichspräsidentenwahl, bei der er im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhielt, seine Kandidatur im zweiten Wahlgang jedoch zugunsten Hindenburgs zurückzog
Jochimsen, Dr. Lukrezia (*1936)
Linkspartei
– promovierte Soziologin, Fernsehjournalistin und Politikerin – 2010 Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten
Kapp, Wolfgang (*1858, † 1922)
DVLP
– deutscher Verwaltungsbeamter, der zuletzt Generallandschaftsdirektor in Königsberg war; gründete 1917 die DVLP – führte zusammen mit General Walther von Lüttwitz und Erich Ludendorff den erfolglosen KappPutsch vom 13. bis 18. März 1920 an, der sich gegen die demokratisch gewählte Reichsregierung der Weimarer Republik richtete, jedoch nach bereits 100 Stunden scheiterte
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
389
Katz, Dr. Rudolf (*1895, † 1961)
SPD
– promovierter Jurist und Politiker – vom Schleswig-Holsteinischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt, dort stellv. Vorsitzender des Organisationsausschusses – von 1947 bis 1950 Justizminister und zeitweise Bildungsminister in Schleswig-Holstein – bis 1951 Landtagsabgeordneter in SchleswigHolstein
Katzenstein, Simon (*1868, † 1945)
SPD
– Geschichts- und Rechtswissenschaftler, Politiker – 1919/1920 Mitglied der Weimarer Nationalversammlung
Kaufmann, Theophil Heinrich (*1888, † 1961)
DDP, CDU
– studierter evangelischer Theologe, Philosoph und Geschichtswissenschaftler sowie Politiker (ehemals DDP) – vom Landtag Württemberg-Badens in den Parlamentarischen Rat gewählt – gehörte sowohl dem Fünferausschuss als auch ab März 1949 dem Siebenerausschuss des Parlamentarischen Rates an
Klagges, Dietrich (*1891, † 1971)
NSDAP
– Politiker der NSDAP – in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 Ministerpräsident des Freistaates Braunschweig – ernannte in dieser Funktion Adolf Hitler kurz vor der Präsidentenwahl von 1932 zum Regierungsrat, sodass dieser durch die Ernennung zum Beamten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt und kandidieren konnte
Klarsfeld, Beate (*1939)
parteilos
– deutsch-französische Journalistin – von der Linkspartei 2012 nominierte Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten
Kohl, Dr. Helmut (*1930, † 2017)
CDU
– promovierter Geschichts- und Staatswissenschaftler, Politiker – von 1969 bis 1976 Ministerpräsident in RheinlandPfalz – von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU, danach bis 2000 Ehrenvorsitzender – 1976 bis 1982 Oppositionsführer im Deutschen Bundestag – von 1982 bis 1998 der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
Köhler, Prof. Dr. Erich CDU (*1892, † 1958)
– promovierter Volkswirt und Staatswissenschaftler – von 1949 bis 1950 erster Bundestagspräsident der Bundesrepublik Deutschland und in dieser Funktion Präsident der ersten Bundesversammlung 1949
390
Anhang
Köhler, Prof. Dr. Horst CDU (*1943)
– promovierter Ökonom – von 2000 bis 2004 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds – vom 1. Juli 2004 bis zu seinem Rücktritt am 31. Mai 2010 der neunte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Küster, Dr. Otto (*1907, † 1989)
parteilos
– promovierter Jurist – Mitglied im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – von 1945 bis 1954 Staatsbeauftragter für die Wiedergutmachung im Justizministerium des Landes Baden-Württemberg
Lammert, Prof. Dr. Norbert (*1948)
CDU
– promovierter Diplom-Sozialwissenschaftler, Honorarprofessor in Bochum und Politiker der CDU – seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages – von 2002 Vize- und von 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages und in dieser Funktion Leiter der Bundesversammlungen 2009, 2010, 2012 und 2017
Lehr, Dr. Robert (*1883, † 1956)
DNVP, CDU
– promovierter Jurist und Politiker (DNVP, CDU) – wurde von Nordrhein-Westfalen in den Parlamentarischen Rat gewählt und war dort Vorsitzender des Organisationsausschusses – von 1950 bis 1953 Bundesminister des Innern
Leussner, Claus (*1909, † 1966)
CSU
– Rechts- und Politikwissenschaftler – bayerischer Delegierter im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee
Lübke, Dr. h.c. Heinrich (*1894, † 1972)
CDU
– Vermessungs- und Kulturingenieur, Politiker – 1947 bis 1953 Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Nordrhein-Westfalen – von 1953 bis 1959 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten – von 1959 bis 1969 der zweite Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Ludendorff, Erich (*1865, † 1937)
NSDAP
– deutscher General im Ersten Weltkrieg und Politiker – beteiligte sich zur Zeit der Weimarer Republik an der völkischen Bewegung und 1920 am KappPutsch und 1923 am Hitler-Putsch – bei der Reichspräsidentenwahl 1925 Kandidat der NSDAP
Luther, Dr. Hans (*1879, † 1962)
parteilos
– promovierter Jurist – vom 20. Januar 1925 bis zum 18. Mai 1926 Reichskanzler des Deutschen Reichs
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
391
CDU Mangoldt, Prof. Dr. Hermann von (*1895, † 1953)
– habilitierter Jurist und Politiker – vom Schleswig-Holsteinischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt
Marx, Dr. Wilhelm (*1863, † 1946)
Zentrum
– promovierter Jurist und Politiker – von 1923 bis 1924 sowie von 1926 bis 1928 Reichskanzler und mit einer Amtszeit von insgesamt drei Jahren und einem Monat der am längsten amtierende Kanzler der Weimarer Republik – 1925 war er Kandidat der Parteien der Weimarer Koalition (SPD, DDP und Zentrum) bei der Reichspräsidentenwahl, die er jedoch knapp gegen von Hindenburg verlor
Meinecke, Prof. Dr. Friedrich (*1862, † 1954)
parteilos
– habilitierter deutscher Historiker und Universitätsprofessor, der in der Weimarer Republik und in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland als führender Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft galt
Menzel, Dr. Walter (*1901, † 1963)
SPD
– promovierter Jurist und Politiker – vom Landtag Nordrhein-Westfalens in den Parlamentarischen Rat gewählt – von 1949 bis 1963 Abgeordneter des Deutschen Bundestages
Mücke, Dr. Willibald (*1904, † 1984)
SPD
– promovierter Jurist – vom Bayerischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt – bis 1953 Abgeordneter des Deutschen Bundestages
Müller, Dr. Josef (*1898, † 1979)
CSU
– promovierter Jurist und Volkswirt – war in der Weimarer Republik Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei und nach 1945 der erste Vorsitzende der CSU
Ollenhauer, Erich (*1901, † 1963)
SPD
– – – –
Pastörs, Udo (*1952)
NPD
– von 2006 bis 2016 Abgeordneter für die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern – von Januar bis November 2014 Bundesvorsitzender der NPD – Als Mitglied der Bundesversammlung Kläger der beiden Organstreitverfahren zur Bundesversammlung (BVerfGE 136, 277 ff.)
absolvierte eine Lehre in einer Druckerei, Politiker emigrierte nach Prag 1949 bis 1963 Mitglied des Bundestages war von 1952 bis 1963 SPD-Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag, bei den Wahlen 1953 und 1957 Kanzlerkandidat
392
Anhang
Pau, Petra (*1963)
Linkspartei
– Geisteswissenschaftlerin, Politikerin – seit 2006 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Pfeiffer, Dr. Anton (*1888, † 1957)
CSU
– Politiker (BV, CSU) und Diplomat – wurde als bayerischer Staatsminister zum Vorsitzenden des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee gewählt – wurde vom Bayerischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt und übernahm dort den Vorsitz der CDU/CSU-Fraktion
Philipp, Dr. Albrecht (*1883, † 1962)
DNVP
– Mitglied der DNVP in der Weimarer Nationalversammlung
Pieck, Wilhelm (*1876, † 1960)
SED
– Politiker und einer der beiden Parteivorsitzenden der SED – von 1949 bis zu seinem Tode 1960 einziger Präsident der DDR
Preuß, Prof. Dr. Hugo (*1860, † 1925)
DDP
– promovierter Staatsrechtslehrer und als Politiker Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) – von Friedrich Ebert zum Staatssekretär berufen; hierbei wirkte er durch die Ausarbeitung von Verfassungsentwürfen maßgeblich an der Ausgestaltung der Weimarer Reichsverfassung mit
Quarck, Max (*1860, † 1930)
SPD
– Politiker – Abgeordneter in der Nationalversammlung
Ramelow, Bodo (*1956)
Linkspartei
– Politiker – seit 2014 mit kurzer Unterbrechung Ministerpräsident des Freistaates Thüringens bundesweit erster Ministerpräsident einer Linkspartei
Ranke-Heinemann, Dr. Uta (*1927, † 2021)
parteilos
– deutsche Theologin und Autorin – 1999 von der damaligen PDS nominierte Kandidatin zur Bundespräsidentenwahl
Rathenau, Dr. Walther (*1867, † 1922)
DDP
– deutscher Industrieller, Schriftsteller und liberaler Politiker der DDP – als Reichsaußenminister wurde Rathenau am 24. Juni 1922 in Berlin Opfer eines politisch motivierten Attentates der rechtsextremen Organisation „Consul“
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte Rau, Johannes (*1931, † 2006)
SPD
Redslob, Prof. Dr. Robert (*1882, † 1962)
393
– absolvierte eine Lehre als Verlagsbuchhändler, später wurde er Verlagsdirektor – von 1969 bis 1970 Oberbürgermeister in Wuppertal, anschließend Landeswissenschaftsminister und von 1978 bis 1998 Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens – 1994 unterlag er bei der Bundespräsidentenwahl im dritten Wahlgang Roman Herzog – 1999 wählte ihn die Bundesversammlung im zweiten Wahlgang zum achten Bundespräsidenten – habilitierter Elsässer Staatsrechtler, dessen Theorie des parlamentarischen Regierungssystems die Weimarer Reichsverfassung beträchtlich beeinflusste – Urheber der sog. Gegengewichtstheorie
Reimann, Max (*1898, † 1977)
KPD
– Politiker der KPD; später DKP – nominierte 1954 als Mitglied der Bundesversammlung ohne dessen Einverständnis den Soziologen Prof. Dr. Alfred Weber als Kandidaten für das Bundespräsidentenamt
Renger, Annemarie (*1919, † 2008)
SPD
– Verlagskauffrau und Politikerin – von 1972 bis 1976 Präsidentin des Deutschen Bundestages und in dieser Funktion Präsidentin der Bundesversammlung 1974 – von 1976 bis 1990 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages – unterlag als Kandidatin der SPD bei der Bundespräsidentenwahl 1979 dem Christdemokraten Karl Carstens, die Sitzungsleitung der Bundesversammlung übernahmen die drei Bundestagsvizepräsidenten
Renner, Heinz (*1892, † 1964)
KPD
– Politiker; absolvierte nach dem Schulabgang eine Banklehre – rückte als Nachfolger von Hugo Paul für die KPD in den Parlamentarischen Rat
Rennicke, Frank (*1964)
NPD
– deutscher Liedermacher und Schlüsselfigur der rechtsextremen Szene – 2009 und 2010 Kandidat der NPD bei der Bundespräsidentenwahl
Rinser, Luise (*1911, † 2002)
parteilos
– Deutsche Schriftstellerin – 1984 von den Grünen nominierte Kandidatin zur Bundespräsidentenwahl
394
Anhang
Schäfer, Dr. Hermann (*1892, † 1966)
FDP
– promovierter Staats- und Wirtschaftswissenschaftler – vom Niedersächsischen Landtag in den Parlamentarischen Rat entsandt, dort zweiter stellvertretender Vorsitzender und Mitglied im Ältestenrat
Scheel, Walter (*1919, † 2016)
FDP
– Politiker der FDP (Unternehmer, nach Abschluss einer Banklehre) – Von 1953 bis 1974 Abgeordneter des Deutschen Bundestag – von 1961 bis 1966 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit – von 1969 bis 1974 Bundesminister des Auswärtigen sowie Vizekanzler – von 1974 bis 1979 im ersten Wahlgang zum vierten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt
Schipanski, Prof. Dr. Dagmar (*1943)
CDU (seit 2000)
– habilitierte Physikerin und Professorin für Elektronik, Politikerin – von 1999 bis 2004 Wissenschaftsministerin in Thüringen – von 2004 bis 2009 Präsidentin des Thüringer Landtags – 1999 nominiert für das Bundespräsidentenamt
Schmid, Prof. Dr. Carlo (*1896, † 1979)
SPD
– Staatsrechtler und Politiker – einflussreiches Mitglied im Parlamentarischen Rat, Vorsitzender dessen Hauptausschusses sowie des Ausschusses für das Besatzungsstatuts, gilt als einer der „Väter des Grundgesetzes“ – von 1949 bis 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages – von 1949 bis 1966 sowie von 1969 bis 1972 Vizepräsident des Deutschen Bundestag – Kandidat zum Bundespräsidentenamt 1959 – von 1966 bis 1969 Bundesratsminister im Kabinett Kiesinger – von 1969 bis zu seinem Tod war er Koordinator für die deutsch-französischen Beziehungen
Schmitt, Prof. Dr. Carl (*1888, † 1985)
ab 1933 NSDAP
– habilitierter deutscher Staatsrechtler und politischer Philosoph, der 1933 der NSDAP beitrat und sich seitdem für das NS-Regime engagierte – rechtfertigte den sog. Röhm-Putsch von 1934 mit seinem juristischen Prinzip der „Führer-Ordnung“ – zahlreiche Veröffentlichungen in der Politikwissenschaft, Soziologie, Theologie, Germanistik und Philosophie
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
395
– promovierter Jurist und seit 1952 im Auswärtigen Dienst (u. a. von 1964 bis 1968 Botschafter in Stockholm) – bedeutender deutscher Beamter in der deutschen Besatzungsverwaltung und als solcher Teilnehmer des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee
Schmoller, Dr. Gustav von (*1907, † 1991)
Schönfelder, Adolph (*1875, † 1966)
SPD
– Zimmerer, dann Politiker – wurde von der hamburgischen Bürgerschaft in den Parlamentarischen Rat gewählt – stellv. Vorsitzender und Alterspräsident des Parlamentarischen Rates – von 1945 bis 1961 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, deren Präsident von 1946 bis 1960
Schröder, Dr. Gerhard (*1910, † 1989)
CDU
– promovierter Jurist und Politiker – von 1953 bis 1961 Bundesminister des Innern – von 1966 bis 1969 Bundesminister der Verteidigung – unterlegener Bundespräsidentschaftskandidat 1969 gegen Gustav Heinemann
Schumacher, Dr. Kurt (*1895, † 1952)
SPD
– promovierter Jurist und Nationalökonom, Politiker – Parteivorsitzender der SPD von 1946 bis 1952 und SPD-Fraktionsvorsitzender, prägte die Partei – von 1949 bis 1952 Mitglied des Deutschen Bundestages, erster Oppositionsführer – unterlegener Bundespräsidentschaftskandidat 1949 gegen Theodor Heuss
Schwalber, Dr. Josef (*1902, † 1969)
CSU
– promovierter Jurist und Politiker – Teilnehmer des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee – vom Bayerischen Landtag in den Parlamentarischen Rat entsandt, kämpfte dort für einen föderalen Bundesstaat mit einem starken, dem Bundestag völlig gleichberechtigten Bundesrat
Schwan, Prof. Dr. Gesine (*1943)
SPD
– habilitierte Politikwissenschaftlerin und Politikerin – von 1977 bis 1984 und seit 1996 Mitglied der Grundwertekommission der SPD, seit 2014 deren Vorsitzende – 2004 und 2009 von der SPD nominierte Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, beide Male unterlag sie Horst Köhler (CDU)
396
Anhang
Seebohm, Dr. HansChristoph (*1903, † 1967)
DP, CDU
– promovierter Bergbauingenieur und Politiker – vom Niedersächsischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt; übernahm dort den Vorsitz der zweiköpfigen DP-Fraktion und gehörte auch dem Ältestenrat an – u. a. Mitglied im Hauptausschuss und seit Anfang März 1949 im Siebenerausschuss des Parlamentarischen Rates – von 1946 bis 1948 Minister des Landes Niedersachsen für Aufbau, Arbeit und Gesundheitswesen – von 1949 bis 1966 Bundesminister für Verkehr
Simons, Walter (*1861, † 1937)
parteilos
– Studium der Fächer Geschichte, Philosophie, Recht und Nationalökonomie, parteiloser Politiker – von 1922 bis 1929 Präsident des Reichsgerichts und in dieser Funktion kommissarischer Reichspräsident nach dem Tod Friedrich Eberts am 11. März 1925
Spahn, Prof. Dr. Martin (*1875, † 1945)
Zentrum, DNVP, ab 1933 NSDAP
– habilitierter Historiker, Publizist und Politiker – Abgeordneter der Zentrumspartei in der deutschen Nationalversammlung – 1921 Wechsel zur antidemokratischen, nationalistischen DNVP, für die er von 1924 bis 1933 dem Reichstag angehörte – 1933 Eintritt in die NSDAP
Steinmeier, Dr. FrankWalter (*1956)
SPD
– promovierter Jurist und Politiker – von 1999 bis 2005 Chef des Bundeskanzleramtes – von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017 Bundesminister des Auswärtigen und von 2007 bis 2009 Vizekanzler – 2009 bis 2013 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Oppositionsführer – seit 12. Februar 2017 der 12. Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Wiederwahl durch die Bundesversammlung am 13. Februar 2022
Stock, Christian (*1884, † 1967)
SPD
– 1919 gehörte er der Weimarer Nationalversammlung an – Von 1921 bis 1925 Mitglied des Landtages der Republik Baden – 1946 bis 1950 erster hessischer Ministerpräsident
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
397
Strauß, Dr. Walter (*1900, † 1976)
CDU
– promovierter Jurist, Volkswirt und Geschichtswissenschaftler, Politiker – 1947/1948 Mitglied des Länderrates der Bizone, er gehörte dort dem Direktorium an – vom Hessischen Landtag 1948 in den Parlamentarischen Rat gewählt und dort stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Zuständigkeitsabgrenzung – von 1949 bis 1963, nach vergeblicher Kandidatur für den 1. Deutschen Bundestag, beamteter Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, im Verlauf der Spiegel-Affäre in den Ruhestand versetzt
Strieder, Peter (*1952)
SPD
– Jurist und ehemaliger Landespolitiker und früherer Chef der Berliner SPD – mit seiner Person und in seinem Amt als Berliner Stadtentwicklungssenator stellte sich 2004 die Frage, wer für die Klärung der Immunität von Bundesversammlungsmitgliedern vor der Konstituierung der Versammlung zuständig ist
Suhr, Dr. Otto (*1894, † 1957)
SPD
– promovierter Volkswirt, Geschichts- und Zeitungswissenschaftler, Politiker – Teilnehmer und Bevollmächtigter für den Berliner Magistrat im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee – Vertreter Berlins im Parlamentarischen Rat – vom 11. Januar 1955 bis zu seinem Tod Regierender Bürgermeister von Berlin
Süsterhenn, Dr. Adolf (*1905, † 1974)
CDU
– promovierter Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler, Politiker – vom Rheinland-Pfälzischen Landtag in den Parlamentarischen Rat gewählt; war bereits Mitglied im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – gilt als „geistiger Vater“ der Landesverfassung für Rheinland-Pfalz sowie als einer der führenden Köpfe des Parlamentarischen Rates – von 1946 bis 1951 hatte er verschiedene Ministerien in Rheinland-Pfalz inne – von 1951 bis 1961 Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Vorsitzender des Verfassungsgerichts hofs von Rheinland-Pfalz – von 1961 bis 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages
398
Anhang
Thälmann, Ernst (*1886, † 1944)
KPD
– Politiker in der Weimarer Republik – von 1924 bis 1933 Mitglied des Reichstages – von 1925 bis zu seiner Verhaftung am 3. März 1933 Vorsitzender der KPD – 1925 und 1932 Kandidat bei den Reichspräsidentenwahlen – wurde im August 1944, nach über elf Jahren Einzelhaft, vermutlich auf direkten Befehl Adolf Hitlers, im Konzentrationslager Buchenwald erschossen
Ulbricht, Walter (*1893, † 1973)
KPD, SED
– Politiker in der DDR – bis zu seiner Entmachtung 1971 der bedeutendste Politiker der DDR, prägte entscheidend den Aufbau des Staatsapparates der späteren DDR mit – von 1950 bis 1971 stand er an der Spitze des Zentralkomitees der SED – von 1960 bis zu seinem Tod Vorsitzender des Staatsrats der DDR
Voßkuhle, Prof. Dr. Andreas (*1963)
parteilos
– habilitierter Staatsrechtslehrer und Jurist, seit 1999 Professor an der Universität Freiburg – wurde 2008 für eine zwölfjährige Amtszeit als Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt und war von 2010 bis 2020 dessen Präsident – lehnte die Anfragen für eine Kandidatur für das Bundespräsidentenamt in den Jahren 2012 und 2017 ab
Walter, Felix (*1890, † 1949)
CDU
– Jurist – vom Württemberg-Badischen Landtag entsandtes Mitglied im Parlamentarischen Rat
Weber, Prof. Dr. Alfred DDP – habilitierter Nationalökonom und Soziologe (*1868, † 1958) (kurzzeitig) – wurde 1954 ohne sein Wissen und Einverständnis als Bundespräsidentschaftskandidat von Max Reimann für die KPD nominiert Weber, Prof. Dr. Max (*1864, † 1920)
DDP
– bedeutender deutscher Soziologe und Nationalökonom – wurde als Sachverständiger von Hugo Preuß zur Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes der Weimarer Reichsverfassung in eine von Anhängern bürgerlicher Richtungen dominierende Kommission berufen – trat bei der Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten in der Öffentlichkeit mit Nachdruck für eine Volkswahl des Präsidenten ein
B. Alphabetisches Verzeichnis der angeführten Personender Zeitgeschichte
399
parteilos Weizsäcker, Prof. Dr. Carl Friedrich von (*1912, † 2007)
– Philosoph und habilitierter Atomphysiker – zog am Vortag der Bundesversammlung vom 23. Mai 1979 seine Kandidatur für das Bundespräsidentenamt zurück
Weizsäcker, Dr. Richard von (*1920, † 2015)
CDU
– promovierter Jurist – von 1969 bis 1981 Mitglied des Deutschen Bundestages – Erste (vergebliche) Kandidatur in der Bundesversammlung 1974 – von 1981 bis 1984 Regierender Bürgermeister von Berlin – von 1984 bis 1994 sechster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
Wessel, Helene (*1898, † 1969)
Zentrum, SPD
– Wohlfahrtspflegerin und Politikerin – vom Landtag Nordrhein-Westfalens in den Parlamentarischen Rat gewählt, wirkte dort als Schriftführerin – 1957 Eintritt in die SPD – von 1957 bis 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages mit dem Hauptbetätigungsfeld Sozialpolitik
Wirth, Dr. Joseph (*1879, † 1956)
Zentrum
– promovierter Sozialökonom, Mathematiker und Politiker – vom 10. Mai 1921 bis zum 14. November 1922 Reichskanzler der Weimarer Republik
Wolf, Helmut (*1948)
DVU
– Diplom-Ingenieur und rechtsextremer Politiker – stellte am 23. Mai 1994 in der 10. Bundesversammlung als Versammlungsmitglied der DVU den ohne Aussprache abgelehnten Antrag, die Kandidaten für das Bundespräsidentenamt zur Erklärung gegenüber der Bundesversammlung zu verpflichten, dass sie frei von Belastungen mittelbarer oder unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR seien
Wulff, Christian (*1959)
CDU
– Jurist und Politiker – 1994 bis 1998 Landesvorsitzender der CDU Niedersachsen – 1998 bis 2010 einer von vier stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU – von 2003 bis 2010 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen – von 2010 bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2012 der zehnte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland
400
Anhang
Zeh, Prof. Dr. Wolfgang (*1942)
SPD
– habilitierter Verwaltungswissenschaftler – von 2002 bis 2006 Direktor beim Deutschen Bundestag und in dieser Funktion Prozessvertreter vor dem Bundesverfassungsgericht
Zinn, Georg-August (*1901, † 1976)
SPD
– Jurist und sozialdemokratischer Politiker – vom Landtag Hessens in den Parlamentarischen Rat entsandt; war dort Vorsitzender der Ausschüsse Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege sowie stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen und Grundrechte. Zusammen mit Heinrich von Brentano (CDU) und Thomas Dehler (FDP) bildete er den Redaktionsausschuss – 1945 bis 1949 hessischer Justizminister – von 1949 bis 21. Januar 1951 Mitglied im Deutschen Bundestag – vom 14. Dezember 1950 bis 1969 hessischer Ministerpräsident und vom 10. Januar 1951 bis 30. Januar 1963 zugleich hessischer Justizminister
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick
401
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick6 1. Bundesversammlung, 12. September 1949 820 Mitglieder Tagungsort: Bonn, Bundeshaus Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Erich Köhler (CDU) 410 Bundestagsabgeordnete (davon 8 Berliner Abgeordnete ohne Stimmrecht) 410 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder (8 Berliner Mitglieder ohne Stimmrecht):7 Baden 12 Niedersachsen 58 Bayern 78 Nordrhein-Westfalen 109 Berlin 8 Rheinland-Pfalz 25 Bremen 5 Schleswig-Holstein 23 Hamburg 13 Württemberg 33 Hessen 36 Württemberg-Hohenzol10 lern *
*
*
*
Wahlergebnis: Theodor Heuss (FDP) Kurt Schumacher (SPD) Rudolf Amelunxen (Zentrum) Sonstige Enthaltungen ungültige Stimmen abgegebene Stimmen insgesamt
6
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 377 416 311 312 28 30 9 2 76 37 2 3 803 800
Gewählt Theodor Heuss (FDP) im 2. Wahlgang mit 416 von 804 Stimmen (51,7 %)
Vgl. die Zusammenstellung des Deutschen Bundestages zu jeder Bundesversammlung mit einer Übersicht, einem Verzeichnis der Mitglieder, der Zusammensetzung der Parteien sowie der Zahl der von den Volksvertretungen der Länder zu wählenden Mitglieder, dem Stenografischen Bericht und dem Protokoll der gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat mit der Eidesleistung des Gewählten: Deutscher Bundestag, Die Bundesversammlungen seit 1949 – Dokumentation, https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/bundesver sammlung/bundesversammlungen_seit_1949, zuletzt aufgerufen am: 21. 2. 2023. 7 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 15. Juni 1949, BGBl. 1949, I, S. 22, Nr. 2 vom 15. Juni 1949.
402
Anhang
2. Bundesversammlung, 17. Juli 1954 1.018 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Ostpreußenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) 509 Bundestagsabgeordnete 509 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:8 Baden-Württemberg 68 Hessen Bayern 91 Niedersachsen Berlin 22 Nordrhein-Westfalen Bremen 6 Rheinland-Pfalz Hamburg 17 Schleswig-Holstein *
*
*
*
Wahlergebnis: Theodor Heuss (FDP) Alfred Weber (parteilos)9 Sonstige Enthaltungen ungültige Stimmen abgegebene Stimmen insgesamt
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 871 – 12 – 6 – 95 – 3 – 987 –
44 65 141 32 23 Gewählt
Theodor Heuss (FDP) im 1. Wahlgang mit 871 von 1.018 Stimmen (85,6 %)
3. Bundesversammlung, 1. Juli 1959 1.038 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Ostpreußenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) 519 Bundestagsabgeordnete 519 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:10 Baden-Württemberg 70 Niedersachsen Bayern 88 Nordrhein-Westfalen Berlin 21 Rheinland-Pfalz Bremen 6 Saarland Hamburg 17 Schleswig-Holstein Hessen 44 *
*
*
*
62 147 32 10 22
8 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 17. Mai 1954, BGBl. 1954, I, S. 125, Nr. 13 vom 18. Mai 1954. 9 Wahlvorschlag der KPD. Der Nominierte teilte mit, dass er die KPD weder aufgefordert noch ermächtigt habe, ihn als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorzuschlagen. 10 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 19. Mai 1959, BGBl. 1959, I, S. 260, Nr. 17 vom 16. Mai 1959.
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick Wahlergebnis: Heinrich Lübke (CDU) Carlo Schmid (SPD) Max Becker (FDP) Sonstige Enthaltungen ungültige Stimmen abgegebene Stimmen insgesamt
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 517 526 385 386 104 99 0 0 25 22 0 3 1.031 1.033
403 Gewählt
Heinrich Lübke (CDU) im 2. Wahlgang mit 526 von 1.038 Stimmen (50,7 %)
4. Bundesversammlung, 1. Juli 1964 1.042 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Ostpreußenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) 521 Bundestagsabgeordnete 521 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:11 Baden-Württemberg 73 Niedersachsen Bayern 89 Nordrhein-Westfalen Berlin 20 Rheinland-Pfalz Bremen 6 Saarland Hamburg 17 Schleswig-Holstein Hessen 45 *
*
*
*
Wahlergebnis: Heinrich Lübke (CDU) Edwald Bucher (FDP) Enthaltungen ungültige Stimmen abgegebene Stimmen insgesamt
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 710 – 123 – 187 – 4 – 1.024 –
61 147 32 10 21
Gewählt Heinrich Lübke (CDU) im 1. Wahlgang – Wiederwahl – mit 710 von 1.042 Stimmen (68,1 %)
11 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 22. April 1964, BGBl. 1964, I, S. 259, Nr. 20 vom 16. Mai 1964.
404
Anhang
5. Bundesversammlung, 5. März 1969 1.036 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Ostpreußenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) 518 Bundestagsabgeordnete 518 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:12 Baden-Württemberg 75 Niedersachsen Bayern 89 Nordrhein-Westfalen Berlin 18 Rheinland-Pfalz Bremen 6 Saarland Hamburg 16 Schleswig-Holstein Hessen 46 *
*
*
*
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Gustav Heinemann (SPD) 514 511 512 Gerhard Schröder (CDU) 501 507 506 Enthaltungen 5 5 5 ungültige Stimmen 3 0 0 abgegebene Stimmen insgesamt 1.023 1.023 1.023
6. Bundesversammlung, 15. Mai 1974 1.036 Mitglieder Tagungsort: Bonn, Beethovenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) 518 Bundestagsabgeordnete 518 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:13 Baden-Württemberg 74 Niedersachsen Bayern 91 Nordrhein-Westfalen Berlin 17 Rheinland-Pfalz Bremen 6 Saarland Hamburg 15 Schleswig-Holstein Hessen 46
60 145 31 10 22
Gewählt Gustav Heinemann (SPD) im 3. Wahlgang mit 512 von 1.036 Stimmen (49,4 %)
*
*
*
*
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Walter Scheel (FDP) 530 – – Richard von Weizsäcker (CDU) 498 – – Enthaltungen 5 – – abgegebene Stimmen insgesamt 1.033 – –
12
62 143 32 10 22
Gewählt Walter Scheel (FDP) im 1. Wahlgang mit 530 von 1.036 Stimmen (51,2 %)
Bekanntmachung der Bundesregierung vom 28. Januar 1969, BGBl. 1969, I, S. 98, Nr. 10 vom 31. Januar 1969. 13 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 11. Februar 1974, BGBl. 1974, I, S. 180, Nr. 14 vom 16. Februar 1974.
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick
405
7. Bundesversammlung, 23. Mai 1979 1.036 Mitglieder Tagungsort: Bonn, Beethovenhalle Sitzungsleitung: Die Bundestagsvizepräsidenten Richard Sücklen (CSU), Hermann Schmitt-Vockenhausen (SPD) und Liselotte Funke (FDP) aufgrund der Kandidatur der Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) 518 Bundestagsabgeordnete 518 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:14 Baden-Württemberg 75 Niedersachsen 63 Bayern 92 Nordrhein-Westfalen 143 Berlin 16 Rheinland-Pfalz 31 Bremen 6 Saarland 9 Hamburg 14 Schleswig-Holstein 23 Hessen 46 *
*
*
*
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Karl Carstens (CDU) 528 – – Annemarie Renger (SPD) 431 – – Enthaltungen 72 – – ungültige Stimmen 1 – – abgegebene Stimmen insgesamt 1.032 – – 8. Bundesversammlung, 23. Mai 1984 1.040 Mitglieder Tagungsort: Bonn, Beethovenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Rainer Barzel (CDU) 520 Bundestagsabgeordnete 520 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:15 Baden-Württemberg 77 Niedersachsen Bayern 94 Nordrhein-Westfalen Berlin 15 Rheinland-Pfalz Bremen 6 Saarland Hamburg 13 Schleswig-Holstein
Gewählt Karl Carstens (CDU) im 1. Wahlgang mit 528 von 1.036 Stimmen (51,0 %)
*
*
*
*
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Richard von Weizsäcker (CDU) 832 – – Luise Rinser (DIE GRÜNEN) 68 – – Enthaltungen 117 – – ungültige Stimmen 11 – – abgegebene Stimmen insgesamt 1.028 – –
14
64 141 32 9 23 Gewählt Richard von Weizsäcker (CDU) im 1. Wahlgang mit 832 von 1.040 Stimmen (80,0 %)
Bekanntmachung der Bundesregierung vom 23. Januar 1979, BGBl. 1979, I, S. 121, Nr. 5 vom 1. Februar 1979. 15 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 16. Januar 1984, BGBl. 1984, I, S. 96, Nr. 3 vom 20. Januar 1984.
406
Anhang
9. Bundesversammlung, 23. Mai 1989 1.038 Mitglieder Tagungsort: Bonn, Beethovenhalle Sitzungsleitung: Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) 519 Bundestagsabgeordnete 519 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:16 Baden-Württemberg 77 Niedersachsen Bayern 94 Nordrhein-Westfalen Berlin 16 Rheinland-Pfalz Bremen 5 Saarland Hamburg 13 Schleswig-Holstein *
*
*
*
63 141 32 9 23
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im Gewählt 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Richard von Weizsäcker Richard von Weizsäcker (CDU) 881 – – (CDU) Nein-Stimmen 108 – – im 1. Wahlgang – Enthaltungen 30 – – Wiederwahl – ungültige Stimmen 3 – – mit 881 von abgegebene Stimmen insgesamt 1.022 – – 1.038 Stimmen (84,9 %) 10. Bundesversammlung, 23. Mai 1994 1.324 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) 662 Bundestagsabgeordnete 662 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:17 Baden-Württemberg 79 Niedersachsen Bayern 96 Nordrhein-Westfalen Berlin 28 Rheinland-Pfalz Brandenburg 22 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 13 Sachsen-Anhalt Hessen 46 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 16 Thüringen *
*
*
*
16
63 141 32 9 41 25 23 23
Bekanntmachung der Bundesregierung vom 17. Januar 1989, BGBl.1989, I, S. 90, Nr. 3 vom 26. Januar 1989. 17 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 29. Dezember 1993, BGBl. 1993, I, S. 71, Nr. 2 vom 14. Januar 1994.
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick
407
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im Gewählt 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Roman Herzog (CDU) 604 622 696 Johannes Rau (SPD) 505 559 605 Roman Herzog Hildegard Hamm-Brüchner 132 126 11 (CDU) im 3. Wahlgang (FDP) Jens Reich (parteilos) 62 – – mit 696 von Hans Hirzel (parteilos) 12 11 7 1.324 Stimmen Enthaltungen 2 0 1 (52,6 %) ungültige Stimmen 2 1 1 abgegebene Stimmen insgesamt 1.319 1.319 1.321 11. Bundesversammlung, 23. Mai 1999 1.338 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) 669 Bundestagsabgeordnete 669 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:18 Baden-Württemberg 82 Niedersachsen Bayern 98 Nordrhein-Westfalen Berlin 27 Rheinland-Pfalz Brandenburg 23 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 13 Sachsen-Anhalt Hessen 47 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 16 Thüringen *
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*
*
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Johannes Rau (SPD) 657 690 – Dagmar Schipanski (parteilos) 588 572 – Uta Rane-Heinemann (parteilos) 69 62 – Enthaltungen 17 8 – ungültige Stimmen 2 1 – abgegebene Stimmen insgesamt 1.333 1.333 –
65 143 33 9 39 24 23 22 Gewählt
Johannes Rau (SPD) im 2. Wahlgang mit 690 von 1.338 Stimmen (51,7 %)
18 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 10. Februar 1999, BGBl. 1999, I, S. 141, Nr. 6 vom 18. Februar 1999.
408
Anhang
12. Bundesversammlung, 23. Mai 2004 1.206 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) 603 Bundestagsabgeordnete 603 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:19 Baden-Württemberg 75 Niedersachsen Bayern 90 Nordrhein-Westfalen Berlin 24 Rheinland-Pfalz Brandenburg 20 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 12 Sachsen-Anhalt Hessen 43 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 13 Thüringen *
*
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*
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Horst Köhler (CDU) 604 – – Gesine Schwan (SPD) 589 – – abgegebene Stimmen insgesamt 1.193 – –
60 129 30 8 34 20 21 19
Gewählt Horst Köhler (CDU) im 1. Wahlgang mit 604 von 1.206 Stimmen (50,1 %)
13. Bundesversammlung, 23. Mai 2009 1.224 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) 612 Bundestagsabgeordnete 612 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:20 Baden-Württemberg 78 Niedersachsen Bayern 93 Nordrhein-Westfalen Berlin 24 Rheinland-Pfalz Brandenburg 20 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 12 Sachsen-Anhalt Hessen 44 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 13 Thüringen *
*
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*
19
61 131 31 8 33 19 22 18
Bekanntmachung der Bundesregierung vom 16. Januar 2004, BGBl. 2004, I, S. 79, Nr. 3 vom 21. Januar 2004. 20 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 27. Januar 2009, BGBl. 2009, I, S. 135, Nr. 5 vom 30. Januar 2004.
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick
409
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im Gewählt 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Horst Köhler Horst Köhler (CDU) 613 – – (CDU) Gesine Schwan (SPD) 503 – – im 1. Wahlgang – Peter Sodann (parteilos) 91 – – Wiederwahl – Frank Rennicke (NPD) 4 – – mit 613 von Enthaltungen 10 – – 1.224 Stimmen ungültige Stimmen 2 – – (50,1 %) abgegebene Stimmen insgesamt 1.223 – – 14. Bundesversammlung, 30. Juni 2010 1.244 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) 622 Bundestagsabgeordnete 622 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:21 Baden-Württemberg 79 Niedersachsen Bayern 95 Nordrhein-Westfalen Berlin 25 Rheinland-Pfalz Brandenburg 20 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 13 Sachsen-Anhalt Hessen 45 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 13 Thüringen *
*
*
*
62 133 31 8 34 19 22 18
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im Gewählt 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Christian Wulff (CDU) 600 615 625 Christian Wulff Joachim Gauck (parteilos) 499 490 494 (CDU) Lukrezia Jochimsen (Die Linke) 126 123 121 im 3. Wahlgang Frank Rennicke (NPD) 3 3 – mit 625 von Enthaltungen 13 7 2 1.244 Stimmen ungültige Stimmen 1 1 2 (50,3 %) abgegebene Stimmen insgesamt 1.242 1.239 1.244
21 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 2. Juni 2010, BGBl. 2010, I, S. 698 f., Nr. 27 vom 2. Juni 2010.
410
Anhang
15. Bundesversammlung, 18. März 2012 1.240 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) 620 Bundestagsabgeordnete 620 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:22 Baden-Württemberg 79 Niedersachsen Bayern 95 Nordrhein-Westfalen Berlin 25 Rheinland-Pfalz Brandenburg 20 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 13 Sachsen-Anhalt Hessen 45 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 13 Thüringen *
*
*
*
61 133 31 8 33 19 22 18
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im Gewählt 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Joachim Gauck Joachim Gauck (parteilos) 991 – – (parteilos) Beate Klarsfeld (Die Linke) 126 – – im 1. Wahlgang Olaf Rose (NPD) 3 – – mit 991 von Enthaltungen 108 – – 1.240 Stimmen ungültige Stimmen 4 – – (80,7 %) abgegebene Stimmen insgesamt 1.232 – – 16. Bundesversammlung, 12. Februar 2017 1.260 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Reichstagsgebäude Sitzungsleitung: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) 630 Bundestagsabgeordnete 630 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:23 Baden-Württemberg 80 Niedersachsen Bayern 97 Nordrhein-Westfalen Berlin 26 Rheinland-Pfalz Brandenburg 21 Saarland Bremen 5 Sachsen Hamburg 13 Sachsen-Anhalt Hessen 45 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 13 Thüringen *
*
*
*
22
63 135 31 8 34 18 23 18
Bekanntmachung der Bundesregierung vom 22. Februar 2012, BGBl. 2012, I, S. 208, Nr. 27 vom 2. Juni 2012. 23 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 28. September 2016, BGBl. 2016, I, S. 2194., Nr. 46 vom 30. September 2016.
C. Die bisherigen Bundesversammlungen im Überblick Stimmanzahl im 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Frank-Walter Steinmeier (SPD) 931 – – Christoph Butterwegge (Die 128 – – Linke) Albrecht Glaser (AfD) 42 – – Engelbert Sonneborn (parteilos) 25 – – Olaf Rose (NPD) 10 – – Enthaltungen 103 – – ungültige Stimmen 14 – – abgegebene Stimmen insgesamt 1.253 – –
411
Wahlergebnis:
Gewählt Frank-Walter Steinmeier (SPD) im 1. Wahlgang mit 931 von 1.253 Stimmen (74,3 %)
17. Bundesversammlung, 13. Februar 2022 1.472 Mitglieder Tagungsort: Berlin, Paul-Löbe-Haus Sitzungsleitung: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) 736 Bundestagsabgeordnete 736 von den Volksvertretungen der Länder zu wählende Mitglieder:24 Baden-Württemberg 94 Niedersachsen Bayern 115 Nordrhein-Westfalen Berlin 30 Rheinland-Pfalz Brandenburg 24 Saarland Bremen 6 Sachsen Hamburg 16 Sachsen-Anhalt Hessen 53 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern 16 Thüringen *
*
*
*
73 156 37 9 39 21 27 20
Wahlergebnis:
Stimmanzahl im Gewählt 1. Wahlgang 2. Wahlgang 3. Wahlgang Frank-Walter Frank-Walter Steinmeier (SPD) 1.045 – – Steinmeier Max Otte (CDU, aufgestellt von 140 – – (SPD) der AfD) – Wiederwahl – Gerhard Trabert (Die Linke) 96 – – im 1. Wahlgang Stefanie Gebauer (Freie Wähler) 58 – – mit 1.045 von Enthaltungen 86 – – 1.472 Stimmen ungültige Stimmen 12 – – (71,0 %) abgegebene Stimmen insgesamt 1.437 – –
24 Bekanntmachung der Bundesregierung vom 8. November 2021, BGBl. 2021, I, S. 4901, Nr. 78 vom 15. November 2021.
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Stichwortverzeichnis Abstimmung 22, 24, 29, 74, 76, 85 f., 92, 97 ff., 104 ff., 154 f., 163, 190 ff., 200 f., 205 f., 234 ff., 245 f., 258, 267 f., 276 f., 316, 363 f., 366, 369, 371 Abwahl – des Bundeskanzlers 126 f. – des Bundespräsidenten siehe unter Bundespräsident, Nichtabwählbarkeit – des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter 29, 249, 258 ff., 295, 372 – des Landtagspräsidenten 258 Akklamation 94, 117, 131, 136, 153, 163, 166 Alliierte 51, 57 ff., 69, 77, 81, 97, 104 f., 224, 323 f. Alterspräsident (im Bundestag) 78, 222, 239, 261, 395 Ältestenrat (im Bundestag) 222, 248, 332, 384, 394, 396 Annahmeerklärung 200 f., 206 f., 211, 234, 302, 333 ff., 351, 353 f., 363, 365 f. Aufwandsentschädigung/Aufwandspauschale 168 ff. Ausspracheverbot – des § 6 Abs. 1 S. 1 BVerfGG 150 f., 360 – des Art. 54 GG 22, 87, 107, 115, 117, 119, 129, 146 ff., 173 ff., 180, 201, 232, 241 f., 246, 251, 254, 263, 265 ff., 291, 301, 330, 358 ff., 370 f. – des Art. 63 GG 150, 176, 265, 268, 360 Bayern (Freistaat) 65, 76, 78, 105 f., 190, 194, 228, 401 ff. Besatzungsmächte 58 f., 60 f., 76, 83 f., 108 Beschlussfähigkeit 153, 239 ff., 269, 343, 360, 364, 366 Bundespräsident – Amtsausübung 214, 302, 349 – Amtsbeginn 335, 345, 348 ff., 354 f. – Amtsende 211, 354
– Amtssitz 211, 219, 345 – Amtszeit 63, 68, 74, 180, 186, 211 ff., 215, 225 f., 307 ff., 345, 349 f., 351, 354, 356 – Annahmeerklärung 206 f., 234, 333 ff., 351, 353 f., 363, 365 f. – Annahmefrist 233, 333 – Integrationsfunktion 147, 149, 278, 287, 347 – Mindestalter 305 – Nichtabwählbarkeit 157 f., 225, 327, 361 – Rücktritt 214 ff., 226, 228, 259, 297, 302, 309 f., 335, 351 – Stellvertreter 103, 210, 238, 247 f., 250, 258 ff., 295, 350 – Wahl/Wahlgang 141, 150, 176, 279, 301, 316 ff., 360, 365, 373 – Wählbarkeitsvoraussetzungen 75, 180, 289, 300 ff., 314 f., 319 f., 335, 352, 364 – Wiederwahl 22, 75, 180, 211, 286, 288, 298 f., 306 ff., 335, 349, 371 – (besondere) Würde des Amtes 23 f., 122 f., 148 f., 176, 278, 360 Bundespräsidentenwahlgesetz (BPräsWahlG) 28, 153, 159 f., 180 f., 201, 204, 211, 222, 225, 228, 241, 246, 258, 262, 264, 292, 319, 329, 334, 337, 339, 362 f., 370, 372, 375 – § 1 BPräsWahlG 156, 200, 221 f., 257, 262 f. – § 2 BPräsWahlG 184 ff., 194 f., 228, 367 – § 3 BPräsWahlG 183 – § 4 BPräsWahlG 189 ff., 200, 237 – § 5 BPräsWahlG 201 ff., 240, 341 ff., 368 – § 7 S. 1 BPräsWahlG 156, 160, 162 ff., 171, 174, 205, 272, 361 f. – § 7 S. 2 BPräsWahlG 160, 171, 174, 207 f., 362, 368
Stichwortverzeichnis – § 7 S. 3 BPräsWahlG 154, 160, 162 ff., 171, 174, 234 ff., 274, 362, 369 – § 8 S. 1 BPräsWahlG 122, 167, 175, 210, 238, 262 f., 290, 333 – § 8 S. 2 BPräsWahlG 24, 153, 157, 160 f., 175, 205, 210, 241 ff., 247 ff., 259, 262 f., 273, 290, 292, 321, 332, 337, 361, 370 – § 9 Abs. 1 BPräsWahlG 279, 296 f., 300 f., 315, 320, 330, 340, 371, 373 – § 9 Abs. 2 BPräsWahlG 290, 300, 315 f., 320, 371 – § 9 Abs. 3 BPräsWahlG 160, 163 ff., 235, 276 f., 317, 319 f., 332 – § 9 Abs. 4, 5 BPräsWahlG 233 f., 333 f., 336, 343 – § 10 BPräsWahlG 351, 354 – § 11 BPräsWahlG 295, 344 – § 12 BPräsWahlG 168, 170 ff. – § 13 BPräsWahlG 180, 324 Bundesrat 29 f., 58, 63, 68 ff., 73 f., 76, 85 ff., 89 ff., 142 f., 150 f., 158, 198, 215, 218, 223, 231 f., 235, 257, 323, 331, 335, 342, 345, 350 f., 357, 365 Bundesratspräsident 68, 82, 98, 103, 184, 213, 214, 218 f., 220 f., 226, 238, 307, 347, 350 f. Bundestagspräsident als Sitzungsleiter 22, 68, 72, 82 f., 156, 167 ff., 179, 201 f., 210 ff., 221 ff., 239, 242, 244 ff., 248, 250 ff., 261 ff., 264, 269, 275 ff., 290 ff., 296, 300, 306 f., 316 f., 327, 332 ff., 336, 344 f., 361, 363 f., 365 f., 369, 372, 374 Bundestagsverwaltung 167, 169 Bundesverfassungsgericht 21 ff., 25 ff., 28, 94, 96, 116 f., 118 ff., 148, 151 ff., 160 f., 163 ff., 170, 173 f., 177, 193, 195, 214 f., 219, 231, 237 f., 240 f., 243 ff., 248 ff., 257 ff., 266 ff., 302 f., 320 ff., 338 ff., 344, 358, 362, 373 f. Bundesversammlungsmitglied – Anträge/Antragsrecht 24, 119, 166, 241 ff., 265, 268 ff., 336, 362, 371 – begrenzte Rechte 23, 250, 271, 273 f. – freies Mandat 24, 143, 154, 162 ff., 174, 199, 234 ff., 320, 362, 368 f., 371
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– gleiche Stellung der Mitglieder 117, 165, 195, 235, 237, 369 – Recht zur Teilnahme 23, 168, 195, 234, 273, 373 – Rederecht 166, 231, 244, 269 ff., 276, 371 Bund-Länder-Gleichgewicht 34, 87, 100 Chancengleichheit 189, 204, 245 f., 251 f., 255, 257, 280 f., 299, 311, 322, 372 Codex Iuris Canonici (CIC) 139 f. Deutsche Demokratische Republik (DDR) – Deutscher Volksrat 107, 108, 109 – Ministerrat 112 – Staatsrat 110 ff. – Volkskammer 108 ff. – Volkskongress 107, 109 Diktatur 32, 40, 43, 47, 56, 79, 101, 114 f., 154, 310, 348, 357 Direktorialverfassung 38, 67 Direktwahl/Volksabstimmung – Abkehr von der Direktwahl 30, 77, 79, 117, 120, 121, 357 f. – des Reichspräsidenten 30, 32, 34, 36, 38 f., 43, 44 ff., 52 f., 55, 72, 356 f. Diskontinuitätsgrundsatz/Grundsatz der Diskontinuität 243, 370 Dreierkollegium 68, 75, 82 Ehrensold 215 Eid/Eidesleistung 29, 103, 109, 133 ff., 155, 295, 315, 335, 344 ff., 365, 366, 373 Eidesverweigerung 348 ff., 371, 373 Eilzuständigkeit 203 Einberufungsfrist 180, 226, 369 Eingangsstatement Andreas Voßkuhle, (als Präsident des Bundesverfassungsgerichts) 22 ff., 119 ff., 148, 152, 231, 246, 374 Einheitsliste 190 ff., 201, 367 Einspruch/Einspruchsfrist 201 ff., 243, 338, 341, 363, 368 Electoral College 130, 145, 154 Erbe der konstitutionellen Monarchie 24, 120 f., 231, 233, 358
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Stichwortverzeichnis
Ermächtigungsgesetz 55, 57 Ermessen/Ermessensspielraum 179, 222, 225, 227 f., 245, 247, 257, 275, 293, 316, 363 f., 369, 375 f. Ernennungsurkunde/Entlassungsurkunde 350, 354 Eröffnungsrede 239, 244, 252 ff., 257, 344, 364, 366 Ersatzkaiser/Ersatzmonarch 41, 312 EU-Parlament/EU-Kommission 177 Ewigkeitsklausel 57, 307 Exekutive 34, 39, 70, 80, 98 f., 111, 113, 129, 144, 169, 174, 177, 235, 293, 357, 359 Föderalismus 85 f. Fraktionsdisziplin/Fraktionszwang 197, 235 ff., 369 Fraktionsstatus 204 f. Frankfurter Dokumente 58 ff., 104 Geschäftsautonomie 119 Geschäftsordnung – der Bundesversammlung 22, 24, 157, 159 ff., 175, 202, 239, 241 ff., 247 ff., 257, 273, 280, 282, 361, 364, 366, 370 f., 374 – des Bundestages 24, 153, 159 ff., 175, 205, 210, 222, 239 f., 241 ff., 248 f., 250 f., 258 ff., 274, 290 ff., 294 f., 317, 321, 361, 370 f. Geschäftsordnungsantrag 202, 241 f., 244 f., 247, 269, 336, 370 f., 375 Geschäftsordnungsausschuss 258 Geschäftsordnungsautonomie 156, 160 f., 205, 241, 247, 249, 265, 270, 361, 370 Gesetzgeber siehe Verfassungsgeber/Gesetzgeber Gesetzgebungskompetenz 125, 158, 174 ff., 184, 258, 359 Gewaltenteilung 56, 70, 83, 98, 121, 156, 169, 293 Goldene Bulle 130, 132 f., 135 Grundsatz der Diskontinuität siehe Diskontinuitätsgrundsatz Grundsatz der Selbstbetroffenheit siehe Selbstbetroffenheit
Haushalt 127 f., 168 f., 172, 177, 181, 210, 215 Hausrecht 156, 292 f., 317, 332, 361, 364, 366, 371 Heiliges Römisches Reich 28, 129, 130 ff., 154, 346, 359 Herrenchiemseer (Verfassungs-)Entwurf (HChE) – Art. 75 HChE 68 f., 71, 73, 74 f., 87, 89 f., 91, 96, 104, 107, 112, 302 – Art. 76 HChE 57, 71, 75, 107, 143, 169, 306, 308 Herrenchiemseer Verfassungskonvent 26, 62 ff., 66 ff., 73 f., 75, 77, 82, 221, 304, 358 Höchstzählverfahren d’Hondt 190 Immunität 42, 143, 160, 162, 164 ff., 174, 205 ff., 368 Immunitätsausschuss 208, 368 Indemnität 160, 162, 164 f., 166, 174, 200, 272, 362 Initiativgesetz 47 Inkompatibilität/inkompatibel 41, 99, 151, 183 f., 217, 289, 302, 315, 335, 351 ff., 360, 373 Kaiser (Herrscher über das gesamte Heilige Römische Reich) 39, 41, 67 f., 129, 130 ff., 346, 356 Kandidatenbefragung/Kandidatenvorstellung 22, 242 f., 247, 251, 265, 276 ff., 282 ff., 289, 370 Koblenzer Beschlüsse 59 ff., 106 Kollegialregierung 37 König (Herrscher über einzelne Reiche und Ländereien) 94, 118, 120, 129, 130 ff., 153 Konklave 133, 138 Konkurrierende Liste 194, 367 Konstituierung/Konstitutivakt 24, 89, 161, 107, 129, 137, 189, 200 f., 207, 229, 234, 238, 239 ff., 247, 249, 257, 263 f., 296, 359, 364, 366 f., 368 f., 372 Kontrollinstanz 34 Kreationsorgan 23, 118, 122, 152, 155, 176, 360 Krönung 130, 131 ff., 136 ff., 178, 359, 362
Stichwortverzeichnis Krönungszeremoniell 28, 136 f., 138, 142, 359 Kündigungsschutz 162, 164 f., 174, 362 Kür 23 f., 25, 28, 91, 93 ff., 102, 115 f., 119 ff., 129, 130 ff., 152 ff., 163, 165 f., 167, 173 f., 178 f., 270, 358 ff., 362 f., 374, 379 Kürähnlich/kürähnlicher Verfahrensschritt 23 f., 25, 28, 81, 94 f., 96, 117, 118 f., 120 f., 129, 147, 150, 153, 155, 157 f., 162 f., 173 f., 175 f., 179 f., 199, 210, 233, 239, 246, 272, 292, 295, 333, 336, 345, 347, 350, 358, 360, 362 ff., 373, 375 Kurfürsten 28, 130 ff., 138, 148, 155 Kurfürstentag 130, 133, 138 Kürorgan 25, 96, 117, 124, 129 ff., 142, 173, 245, 362 Landesvertreter 82, 90, 119, 183 f., 186, 188, 193 f., 195 f., 197 ff., 201 f., 203, 210, 228, 234 f., 237 ff., 324, 337, 339, 343, 363 f., 366 ff. Legislative 34, 80, 98, 111, 143, 169, 177, 293, 357 Legitimation 39, 72, 92, 113, 115, 127, 148 f., 152, 192 f., 197 f., 227 f., 288, 313, 357, 360, 367 Legitimationskette 193 f., 195, 197 f., 202, 341, 367 Londoner Konferenz 59 f. Losentscheid 87, 330 Mehrheit – absolute 35 f., 49 f., 54 f., 74, 124, 141, 153, 249, 298, 319, 324 f., 327, 329, 331, 334, 356, 360, 372 – einfache 42, 56, 62, 74, 141, 158, 262 f., 280 f., 325 ff., 370, 372 – relative 34, 36, 45, 50 f., 153, 204, 319, 326 ff., 330 f., 334, 356, 360, 372 f. Mehrheitswahl/Mehrheitswahlrecht 45, 132, 189 Meinungsfreiheit 255, 285 Militärgouverneur 60, 62, 76, 88, 105 Ministerpräsident 58, 59 ff., 65, 69, 146 f., 176, 350 f., 360 Ministerpräsidentenkonferenz 61 f., 64, 75 f.
433
Misstrauensantrag 258 f. Monarch/Monarchie 24, 35, 37 f., 42, 44, 53, 118, 120 ff., 136, 231, 232 f., 346, 358 Mütter und Väter des Grundgesetzes 25, 80, 115, 120 f., 166, 215, 221, 288, 307 Nationalsozialisten/Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 43, 47 f., 52 f., 55, 304, 356 f. Neutralität/Neutralitätspflicht 41, 157, 244 f., 250 ff., 257, 287 ff., 296, 337, 344, 372 f. Niederwalder Beschlüsse 61 Nominierung/Vorschlagsrecht/Wahlvorschlag 49, 112, 134, 150, 154, 183 f., 189 ff., 234, 262, 269, 274, 276 ff., 290, 296 f., 300 f., 305, 307, 309, 315 f., 319 f., 330 f., 356, 364, 366, 370 f., 373 Öffentlichkeit/Öffentlichkeitsgrundsatz 121, 123, 128, 133, 140, 146, 152 f., 179, 196, 210, 218 f., 230 ff., 239, 267, 272, 274, 280 f., 284, 286 f., 294, 318, 320 f., 333, 345, 350, 360, 363 f., 365, 370 f. Ordnungs- und Polizeigewalt 156, 292 f., 332, 361 Ordnungsmaßnahme/Ordnungsgeld 250, 293 f., 364, 366, 371 Organ mixtum compositum 28, 118, 176, 178, 180, 231, 233, 235, 245 f., 263, 266, 270, 272, 276, 292, 321, 333, 362 Organ sui generis 28, 118, 176 ff., 362 Organstreit/Organstreitverfahren 22, 117 ff., 122, 191, 206, 226, 230, 244, 247, 251, 257 f., 260, 265, 279, 339 f., 344, 369, 373 f. Papstwahl 28, 134, 138 ff., 142 Parität/paritätische Zusammensetzung 181, 185, 187 f., 195 f., 199, 228, 238 f., 343, 357, 364, 367, 369 Parlamentarischer Rat 23, 57, 61, 76, 77 ff., 108 f., 114, 145, 159, 329, 357, 377 ff. – Fachausschuss 78 f., 88 f. – Fünferausschuss 101, 103 – Hauptausschuss 23, 78 f., 81, 84, 88 ff., 91, 95 f., 97 ff., 101 ff., 104, 115, 121, 308, 345, 358, 378 ff.
434
Stichwortverzeichnis
– Organisationsausschuss 42, 81 ff., 85 ff., 88 ff., 97, 99 f., 104, 308, 345, 377 ff. – Plenum 79, 81, 88, 105, 125, 358 ff., 370, 381 – Redaktionsausschuss 79, 84, 87 f., 89 f., 91 f., 96, 100, 102 f., 107 – Siebenerausschuss 101, 384, 389, 396 Parlamentarismus 34, 43, 57, 121, 125 ff., 266, 269, 272 f., 370, 375 Parlamentsähnlich/parlamentsähnlicher Verfahrensschritt 22, 24, 27 f., 117 f., 120, 129, 155, 157, 160 ff., 173 ff., 175 ff., 179 f., 201, 231, 236, 240, 263, 271 ff., 291, 320, 322, 359 ff., 366, 372, 374 f. Parlamentsautonomie 156 f., 159, 260, 293, 361 Parlamentsfunktionen – Artikulationsfunktion 126, 129, 178, 359 – Gesetzgebungsfunktion 127 f., 174, 176 – Informationsfunktion 126, 129, 178, 274, 359 – Kommunikationsfunktion 128 – Kontrollfunktion 126 f., 128 f., 174, 176, 359 – Repräsentationsfunktion 70, 127, 128 f., 174, 178, 359 – Wahlfunktion 127, 158, 178, 359 Parteienprivileg 256, 274 Paulskirchenverfassung 67 Personaldebatte/Personaldiskussion 147, 175, 265, 277, 360 Personalunion 72, 82, 109 Popularklage 203 Präsidentenamt – Ausgestaltung 23, 67, 72, 75, 82 – Zeitpunkt der Besetzung 57, 67, 72, 82, 86, 106 Präsidentenanklage 41 f., 103, 214 f., 343, 349, 353 Präsidialsystem 31, 42, 99 Pressefreiheit 267, 285, 370 Preußen 134, 146 Preußische Verfassung 146 f., 360 Probeabstimmung 205, 233, 234 ff., 267, 369
Prominente 183, 196 f., 199 Proporz 77, 81, 189, 192, 308 Quorum 42, 141 f., 152 f., 240, 297, 324 f., 331, 359 f. Räteregierung/Räterepublik 31, 38, 71 Ratifizierung des Grundgesetzes 61 f., 105 Rechtsschutz 203, 290, 297, 336 ff., 365 f., 373 Rechtsvergleich mit – Frankreich 30 f., 73 – Italien 30, 73, 325 – Österreich 26, 31, 143 ff., 165, 216, 566 – Papstwahl 28, 134, 138 ff., 142 – Vereinigten Staaten/USA 34, 37, 39, 41 f., 98 f., 126, 145, 289, 304 Reichsgericht 48, 103, 221 Reichskanzler 39 f., 41 ff., 46, 48 f., 53, 55 ff., 113 f., 221, 357 Reichsrat 34, 37 Reichstag 32, 35, 37, 39 ff., 45 f., 49, 56, 349, 356 f. Repräsentant 39, 83, 125, 182, 306 Repräsentative Demokratie 288 Richterwahlausschuss 151, 158, 361 Rousseausches Gedankengut 146 Rüge 202, 230, 240, 251 f., 258, 264, 293, 337, 344 Sachdebatte/Sachdiskussion 24, 231, 266, 267 ff., 270, 371 Salbung 131, 135 Schriftführer 157, 167, 210, 233, 239, 248 ff., 273 f., 317 f., 321 ff., 332, 361, 364, 366, 371 f., 382 Schutzzweck 148, 206 Selbstbetroffenheit/Grundsatz der Selbstbetroffenheit 203, 207 ff., 368 Sitzungsausschluss 294 f., 343, 371 Sitzungsleiter/Versammlungsleiter 22, 24 f., 152, 167, 175, 206, 221, 238, 240, 242 f., 245 f., 250 f., 253 ff., 257 f., 260 f., 263, 269, 275, 279 f., 282, 290 ff., 316, 318 f., 323 f., 332 f., 337, 344, 370, 372 ff.
Stichwortverzeichnis Sitzungsvorstand 248 f., 273 f., 290, 294, 296, 300 f., 315 f., 319 f., 323, 336 f., 364 f., 366 Souveränität (staatliche) 61, 71, 73, 80, 97, 164, 252, 260 Soziale Netzwerke 332 Sozialwahlen 192 Statusrechte 22, 163, 180, 294, 352 Steuerrechtliche Behandlung 169 ff. Stichwahl 33, 35 f., 45, 49, 141, 326 f. Stimmabgabe 24, 130 f., 133, 136, 143, 152 f., 154, 197, 238, 282, 285, 289, 295, 300, 317 f., 319, 321, 333, 360, 364, 366, 370 f. Stimmzählung/-auszählung 119, 170, 173, 233, 249, 318, 320 ff., 324., 332, 336, 371 f. Symbol/symbolisch 24, 54, 70, 103, 123 f., 131, 133, 135, 137 f., 141 f., 149, 155, 174, 231, 239, 246, 260 f., 272, 350, 364 Tagesordnung/Tagungsordnungspunkt 22, 24, 222, 242, 244, 263, 264, 267 f., 364, 366 Überhangmandat(e) 186 f. Ultima ratio 189, 294, 367 Ungültigkeit der Wahl 206, 230, 319, 330, 339, 344, 369 Unterausschuss (im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee) 62 ff., 66, 68, 70, 72 f., 75 Urkunde 350, 354 Vereidigung 218, 349 ff. Verfassungsgeber/Gesetzgeber 23 f., 30, 96, 120, 140, 149, 158 f., 160 ff., 170, 174 f., 176, 178, 180, 186, 188, 193, 195, 200, 205, 207, 220, 229, 231, 233, 243, 254, 260 f., 264, 274, 277, 282, 284, 296, 308 f., 313, 321, 325, 328, 361 f., 367 f., 372 Verfassungsorgantreue 216 f., 369 Verfassungsrang/Verfassungsrangähnlichkeit 159, 165, 204, 263, 280, 294, 348, 361
435
Verfassungsverstoß/Gesetzesverstoß 169, 194, 196, 202, 230, 331, 349, 353, 367, 369, 376 Verhältnismäßigkeit 293 f. Verhältniswahl 90, 151 f., 182, 189, 194, 367 Versammlungsleiter siehe Sitzungsleiter Vertrauensfrage 328 Vizepräsident 29 f., 145, 154, 156, 210, 248 ff., 258, 261, 263, 295 f., 322, 361, 371 f. Volksabstimmung/Volksentscheid 33, 35, 42, 47, 56, 61 f., 106, 113, 153, 157 Volkswahl/Direktwahl – des Bundespräsidenten 25 f., 30, 72, 80, 115, 121 f., 145, 163, 197, 288, 313 – des Reichspräsidenten 30, 32, 34, 36, 38 f., 43 ff., 48 ff., 52 f., 55, 113, 301, 356 f., 358 – des Staatsoberhauptes der DDR 109 Vorschlagsliste 189, 191 ff., 200 f., 341, 363 Vorschlagsrecht/Wahlvorschlag 49, 112, 134, 150, 154, 183 f., 189 ff., 234, 262, 269, 274, 276 ff., 290, 296 f., 300 f., 305, 307, 309, 315 f., 319 f., 330 f., 356, 364, 366, 370 f., 373 Vorstellungswahlkampf 285 ff., 371
Wahlakt 23 f., 93 f., 115, 118, 120, 122 ff., 129, 131, 134 f., 137 f., 141, 148 f., 150, 152, 155, 174 f., 206, 212, 218, 231, 234, 240, 246, 253, 261, 265 ff., 270, 272 f., 276, 278, 281, 287, 290 f., 316 f., 359 f., 364, 371, 375 Wahlbeobachter/Wahlbeobachtung 22, 119, 242, 268, 320 ff., 372, 374 Wahlergebnis 36, 41, 201, 218, 249, 279, 312, 318, 321 f., 323, 332 ff., 365, 401 ff. Wahlgang 33, 36 f., 39, 45 f., 49 ff., 55, 73 f., 85 ff., 140 ff., 147, 150 f., 153 f., 176, 180, 233, 236, 248, 265, 279, 301 f., 316, 319, 324 ff., 331 ff., 356 f., 359 f., 364, 365 f., 372 f., 375 Wahlgremium 58, 67, 72, 80 f., 85, 89, 91 f., 97, 102, 107, 115, 122, 148, 154, 193, 254, 357
436
Stichwortverzeichnis
Wahlkurie 91, 95, 115, 121, 178 f., 358, 362 Wahlmänner 24, 30, 90, 91 f., 124, 145, 154, 182, 196, 243, 298 Wahlorgan 28, 73, 116 f., 139, 158, 176, 180, 185, 272, 361 Wahlperiode 75, 186 f., 194, 211 f., 220, 225, 227 ff., 249, 257 f., 259, 261, 307, 309, 313, 350 Wahlprüfung 202 f., 240, 338 ff. Wahlrecht (aktiv/passiv) 50, 54, 74, 102, 132, 136, 139 f., 166, 183, 190, 254 f., 257, 273, 280, 297, 301, 303, 305 f., 321, 341, 344 Wahlrechtsgrundsätze (freie und geheime Wahl) 166, 250, 255, 257, 317, 320, 322, 332, 337, 372 Wahlvorstand 153, 247, 263 f., 366 Wahlwiederholung 206, 230, 319, 330, 339, 344, 369 Weimarer Nationalversammlung/Nationalversammlung 31, 32 ff., 38 f., 43 f., 46, 50, 67, 73 f., 77, 211, 259, 304, 356
Weimarer (Reichs-)Verfassung 23, 26, 30, 34, 37 f., 42, 44, 50, 54 f., 56 ff., 70 f., 79 f., 105, 113 f., 120 ff., 145, 157, 206, 213 f., 221, 303 f., 342, 346, 349, 356, 358 Weimarer Republik/Weimarer Zeit 25, 28, 30 f., 38 f., 40 ff., 45 f., 53, 55 f., 58, 67 f., 70 f., 72, 77, 79, 109, 114, 144, 221, 258, 261, 301, 328, 346, 349, 357 f. Weisungsfreiheit 143, 162, 235, 274 Weisungsgebunden 39, 91, 99 f., 143, 162, 235 Winner-takes-all-Prinzip 145, 154 Würde/würdevoller Ablauf 115, 135, 147, 149, 163, 179, 232, 239, 266, 268, 290, 292, 316, 333, 345, 350, 360, 363 ff., 375 Zählappell 233 ff., 236 f., 238 Zählkommission 239, 322 Zeremonie/Zeremoniell 24, 118, 124, 133, 136 ff., 149, 152 f., 154 f., 174, 231, 239, 246, 261, 270, 347, 350, 359 f., 364 Zeugnisverweigerungsrecht 165