Die Berlinkrise 1958 bis 1963: Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt [Reprint 2018 ed.] 9783050070735, 9783050026848


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German Pages 295 [296] Year 1995

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
KAPITEL 1. Die nationale Frage und die deutsche Wiedervereinigung nach der Verkündung der Zwei-Staaten-Theorie
KAPITEL 2. Politische Interessen und Entscheidungsfreiräume der SED im Spannungsfeld von sowjetischer Vormacht und westlicher Anziehungskraft nach 1955/56
KAPITEL 3. Die Position der SED zu der Berlinregelung und zum Abschluß eines Friedensvertrages bis zum Mauerbau 1958-1961
KAPITEL 4. Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach dem Mauerbau 1961-1963
KAPITEL 5. Die deutsche Frage, die Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen in der Berlinkrise
Fazit
Personenregister
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Die Berlinkrise 1958 bis 1963: Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt [Reprint 2018 ed.]
 9783050070735, 9783050026848

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Die Berlinkrise 1958 bis 1963

Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien Potsdam Band 5

Michael Lemke

Die Berlinkrise 1958 bis 1963 Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt

Akademie Verlag

Der Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien ist eine Einrichtung der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH München, die von der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft e.V. zur Betreuung von sieben geisteswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkten gegründet wurde. Gedruckt mit Unterstützung der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lemke, Michael: Die Berlinkrise 1958 bis 1963 : Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt / Michael Lemke. - Berlin : Akad. Verl., 1995 (Zeithistorische Studien ; Bd. 5) ISBN 3-05-002684-7 NE: GT

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Dörlemann-Satz, Lemförde Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: D. Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort Einleitung

9 11

Kapitel 1 Die nationale Frage und die deutsche Wiedervereinigung nach der Verkündung der Zwei-Staaten-Theorie

21

1. Der Charakter und die Ziele der SED-Deutschlandpolitik nach 1955

21

2. Das Konstrukt einer deutschen Konföderation

29

Kapitel 2 Politische Interessen und Entscheidungsfreiräume der SED im Spannungsfeld von sowjetischer Vormacht und westlicher Anziehungskraft nach 1955/56

36

1. Konstanten und Variablen im Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion nach 1955/56

36

2. Der begrenzte Rückzug der UdSSR aus der ostdeutschen Administration

42

3. Die „Republikflucht" als ostdeutsch-sowjetisches und als Bündnis-Problem

46

4. Das „Schaufenster" DDR zwischen sowjetischen Wirtschaftsinteressen, „Überholpolitik" der SED und westdeutschem „Magnetismus"

50

5. Die Kündigung des Interzonenabkommens und ihre Auswirkungen auf die krisenhafte Situation in der DDR 1960/61

58

6. Die widersprüchliche Kooperation von SED und KPdSU bei der „Störfreimachung" und das Scheitern des „Überhol"-Konzeptes der SED 1960/61

63

6

Inhalt

7. Ergebnisse und Auswirkungen der Politik der „Störfreimachung" auf die Entwicklung von Entscheidungsfreiräumen für die SED nach dem 13. August 1961

69

8. Das Spannungsverhältnis zwischen der SED und ihren europäischen Bündnispartnern

72

9. Motive, Initiativen und Spielräume der SED im RGW

82

Kapitel 3 Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Abschluß eines Friedensvertrages bis zum Mauerbau 1958-1961

93

1. Der politische Bedeutungswandel von Friedensvertrag und Wiedervereinigung im Konzept der SED seit 1949

93

2. Die Ausgangslage: Berlinstatus und Ansprüche der SED

96

3. Das Ultimatum: Ostberliner Vorspiel und internationale Wirkung

99

4. Das Ultimatum: Östliche Hintergründe und Ziele 5. Die Berlinambitionen der SED zwischen sowjetischen Verheißungen und ostwestlicher Konfliktrealität

102 108

6. Die Genfer Außenministerkonferenz: Internationale Vorgefechte und die Planungen und Kontakte der SED

119

7. Die Genfer Außenministerkonferenz: Sowjetische SED-Direktiven contra westliche Verhandlungsstrategien

129

8. Ein Genfer Nach- und Vorspiel: Camp David, Paris und die Wünsche der SED

138

9. Die Zuspitzung der Krise in der DDR und temporäre östliche Entspannungsinitiativen

145

10. Der Dissens zwischen der Sowjetunion und der DDR über Berlin im zweiten Halbjahr 1960

149

11. SED-Berlinplanungen unter Zeitdruck und neue ostdeutsch-sowjetische Dissonanzen

154

12. Das Scheitern ost-westlicher Krisenregelungsversuche im Sommer und Herbst 1961

158

13. Die SED im Vorfeld der „Mauer". Der Sommer 1961

161

14. Ein Versuch in letzter Minute? Die Gespräche Chruschtschow-Fanfani am 2. und 3. August 1961

166

15. Der 13. August der SED und seine unmittelbaren Folgen

169

Inhalt

7

Kapitel 4 Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach dem Mauerbau 1961-1963

173

1. Der neue Berlinvorstoß Ulbrichts im Schutz der Mauer im Herbst 1961 und die sowjetische Reaktion

173

2. Die forcierte Berlinplanung der SED im Kontext westlicher Unsicherheiten und Ost-West-Sondierungen

180

3. Solidaritätsansprüche und neue offensive Ansätze im politischen Kurs der SEDFührung versus sowjetische Versuche zur „Dämpfung"

186

4. SED und Bundesregierung im Konflikt mit der „Zufahrtsbehörde" und anderen alliierten Vorstellungen

190

5. Die Auswirkungen der internen Bonner Differenzen und des Kubakonflikts auf die Politik zu Berlin und zum Friedensvertrag

196

6. Chruschtschows berlinpolitische Korrekturansätze und die „verordnete" Passierscheinpolitik der SED-Führung

200

7. Die neuen Maximalforderungen der SED zu Berlin in der Auseinandersetzung mit der veränderten sowjetischen Interessenlage

207

8. Deutsche Initiativen im Kontext sowjetisch-amerikanischer Entspannungspolitik 215 9. Die Position von SED und Bundesregierung zum Atomteststop-Abkommen und zur Nichtweitergabe von Kernwaffen 1963

220

10. Die informelle Struktur der ostdeutsch-sowjetischen Kooperation im Konflikt um Berlin und den Friedensvertrag

225

Kapitel 5 Die deutsche Frage, die Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen in der Berlinkrise

228

1. Deutsche Perspektiven, „transzendente" Einheitsvorstellungen und realer Abgrenzungskurs der SED

228

2. Veränderungen in der Struktur und Organisation der SED-Westarbeit

233

3. Die Präzisierung der Feindbilder der SED-Führung und die Modifizierung des Klassenkampfschemas

237

4. Akzentverschiebungen in der Westarbeit der SED nach 1960: Von der SPD zum Bürgertum

240

5. Die Entwicklung, die Ziele und die Methoden der SED-Kontaktpolitik im Berlinkonflikt und bundesdeutsche Reaktionen

243

8

Inhalt

6. Politische Sondierungen und Infiltrationsversuche der SED in der Wechselbeziehung mit den Interessen westdeutscher Organisationen

249

7. Die politischen Offerten der SED-Führung an die Bundesrepublik und die deutschlandpolitischen Korrekturversuche Adenauers

253

8. Die politisch-ideologische Offensive der SED bei der Bundestagswahl 1961

259

9. Innerdeutsche Konflikteskalation und die ersten Versuche einer Schadensbegrenzung 1962

263

10. Die internen Kontakte zwischen Politbüro und Bundesregierung im Spätsommer 1962

269

Fazit

274

Personenregister

292

Vorwort

Die Wiedervereinigung und die allmähliche Konstituierung einer gesamtdeutschen Forschung haben die politischen wie fachspezifischen Grundlagen geschaffen, um die nach 1945 doppelte deutsche Geschichte als einen relativ einheitlichen Prozeß zu betrachten und als Ganzes aufzuarbeiten. Die Schwierigkeiten, über die DDR zu schreiben, liegen weniger im wissenschaftlichen als im politischen Bereich. Unbestreitbar gehen Zeitgeschichte und politisches Geschehen eine unlösbare Symbiose ein. Zum einen gibt es keine klaren Grenzen zwischen beiden Sphären und keine eindeutigen Einschnitte, die das Ende der einen und den Anfang der anderen klar markieren könnten. Zum anderen läßt sich in Deutschland in den frühen neunziger Jahren die Tendenz zu einer Politisierung der Zeitgeschichtsschreibung erkennen. Erfahrungsgemäß gehört zu einer nüchternen Analyse und Beurteilung von Strukturen und Prozessen ein hohes Maß von Distanz. Der notwendige innere Abstand des Forschers vom Objekt seines wissenschaftlichen Interesses wird allzu leicht als fehlendes politisches und soziales Engagement oder gar als Ausdruck eines subjektiven Verdrängungsprozesses oder fehlender Ethik mißverstanden. In der Regel trägt auch ein gewisser zeitlicher Abstand zur Objektivierung bei. Auf ihn kann auch die Zeitgeschichte nicht ganz verzichten, wenngleich sie nicht darauf warten darf, daß unmittelbar Vergangenes bzw. noch in die Gegenwart hineinreichende Fragen politisch entaktualisiert werden und die Gefahr einer Enthistorisierung faktisch abgeschlossener Entwicklungen völlig gebannt ist. Besonders in gesellschaftlichen Umbruchsituationen zeigt sich, daß die Ereignisse sich mit Siebenmeilenstiefeln, ihre geistige, vor allem wissenschaftliche Bewältigung, sich aber eher im Schneckengang fortbewegen. Die welthistorische Wende, die sich, 1989 beginnend, derzeit vollzieht, wird von vielen Menschen - nicht nur in den neuen deutschen Bundesländern - emotional noch weniger bewältigt als die Entwicklung, die zu ihr führte, rational restlos begriffen wird. Dabei spielt natürlich oft eine Rolle, daß die Perspektive des einzelnen und der Gesellschaften und Staaten, nicht deren Vergangenheit im Vordergrund des Interesses stehen. Das (Zeit-)Geschichtsbild vor allem in den neuen Bundesländern ist derzeit hochgradig polarisiert. Es bewegt sich im Spannungsfeld von nostalgischer Verklärung vergangener realsozialistischer Zeiten und einem euphorischen Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie. Die Geschichte der DDR muß mit Konsequenz umfassend aufgearbeitet werden. Dabei gilt auch für diesen schwierigen Gegenstand, daß die Forschung im Fluß ist und das Urteil der konkreten Analyse nicht vorweggenommen werden sollte, wie das heutzutage nicht selten der

10

Vorwort

Fall zu sein scheint. Wenn der Forscher die Entwicklung des ostdeutschen Staats unvoreingenommen untersuchen will, sind verbale Aussagen z. B. über die DDR als Unrechtsstaat wenig produktiv. Gewiß, soviel wissen wir: Die DDR war kein Rechtsstaat. Sie war - gemessen an den Kriterien der liberalen Demokratie und an den Werten moderner westlicher Gesellschaften - ein Unrechtsstaat. Sie war es auf eine Weise, die eine Reihe von Staaten vor, neben und nach der Existenz der DDR zu Unrechtsstaaten bzw. zu modernen Diktaturen machten. Schon ein Vergleich von Ansprüchen (und Verfassungen) der DDR mit ihrer politischen Wirklichkeit läßt die gravierenden Defizite an Rechtstaatlichkeit insgesamt und auf den unterschiedlichsten Gebieten erkennen. Der Wissenschaftler muß differenzieren. Das kann u. a. durch einen Vergleich der DDR mit Diktaturen vor und nach 1949 geschehen. Auch eine komparative Analyse diktatorischer, demokratischer und autoritärer Staaten hilft sicherlich weiter. Synchrone und diachrone Studien bieten sich vor allem bei der Untersuchung der inneren Entwicklung in der DDR an. Der Historiker muß sowohl ihre Entwicklungsstadien unterscheiden als auch die unterschiedlichen Bereiche des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens. Die politische Geschichte, die freilich auch nach inneren und äußeren Prozessen zu differenzieren bleibt, unterscheidet sich z. B. von der Sozialgeschichte. Das macht sich u. a. bei der Untersuchung von Alternativen, seien sie auch noch so partiell und zeitweilig gewesen, bemerkbar. Mit der vorliegenden geschichtswissenschaftlichen Darstellung verbindet sich ein über zweijähriges umfangreiches Aktenstudium. So basiert die Arbeit im wesentlichen auf zum großen Teil bislang unveröffentlichten Quellen. Daneben wird - was im folgenden ersichtlich ist - die einschlägige wissenschaftliche Sekundärliteratur stark berücksichtigt. Als für die Arbeit positiver Umstand mag wirken, daß der Autor, der vor der „Wende" an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften arbeitete, sich über viele Jahre mit der deutschen Nachkriegsgeschichte beschäftigte und auch die einschlägige Aktenlage in der Bundesrepublik kennt. Hinzu kommt, daß er als ehemaliger Wissenschaftler in der DDR Prozesse als Zeitzeuge selber erlebte und Erkenntnisse aus der unmittelbaren Anschauung gewinnen konnte. Es sei auch angemerkt, daß der Autor im Verlauf des Quellenstudiums und der Niederschrift seine Urteile ständig zu überprüfen und zu verändern hatte. Hier lief ein zuweilen spannender subjektiver Lernprozeß ab. Dazu trugen die offenen Problemdiskussionen vielerorts, insbesondere am Potsdamer Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien und an der Berliner Humboldt-Universität, ganz wesentlich bei. Ich danke Herrn Volker Lange und den anderen Mitarbeitern des ehemaligen SEDParteiarchivs Berlin für die mir so freundlich gewährte Unterstützung. Besonderer Dank gehört Frau Waltraud Peters vom Potsdamer Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien, die das Druckmanuskript der vorliegenden Arbeit mit großem Engagement und kritischem Auge anfertigte. Dank auch Herrn Professor Dr. Ludolf Herbst und meinem Kollegen Dr. Arnd Bauerkämper für ihre zahlreichen hilfreichen Hinweise. Michael Lemke

Berlin, Oktober 1994

Einleitung

Über dreißig Jahre liegt die zweite Berlinkrise zurück. Ist den Zeitgenossen der neunziger Jahre unseres Jahrhunderts bewußt, welche Gefahr Europa und der Welt drohte, als sich in Berlin sowjetische und amerikanische Panzer feindselig gegenüberstanden und der Frieden buchstäblich am „seidenen Faden" zu hängen schien? Der Konflikt um Berlin war sowohl internationaler als auch innerdeutscher Natur. Er gehört zu den Fragen europäischer und deutscher Nachkriegsgeschichte, die unter den durch die Wiedervereinigung geschaffenen veränderten Bedingungen neu aufgeworfen werden müssen. Obgleich sich für die deutsche Zeitgeschichtsschreibung1 methodologische Probleme eher zu verschärfen scheinen und der in den neuen Bundesländern ungehinderte Archivzugang die Tendenz verstärkt hat, „sich nun gleichsam auf die Quellen pur" zurückzuziehen 2 , trägt die gesamtdeutsche Herausforderung dazu bei, die Geschichte der „in einer antagonistischen Weise" aufeinander bezogenen beiden deutschen Staaten3 aus einer erheblich erweiterten Sicht zu betrachten. Das betrifft den Berlinkonflikt von 1958 bis 1963 im besonderen Maße. Der Verfasser geht von der DDR als Variante einer modernen Diktatur aus. Der diktaturhistorische Ansatz scheint auch für die Erklärung der Außenpolitik der DDR, wenngleich Schwierigkeiten bei der Bestimmung u. a. von Moderaisierungen des internationalen Konzepts, der Politik und des spezifischen Apparates fortbestehen, hilfreich zu sein. Inwiefern ist in der konsequenten Ostorientierung der DDR auch dann eine spezifisch ostdeutsche außenpolitische Modernisierung zu erkennen, wenn sie in hohem Maße oktroyiert worden war? Wie sich im einzelnen die Einparteienherrschaft, der ideologische Hegemonialanspruch und die fehlende Autonomie von gesellschaftlichen Teilbereichen auf die ostdeutsche Außenpolitik niederschlugen, bleibt eine interessante Forschungsfrage, die auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit Beachtung findet. Die Außenpolitik der DDR stellte einen besonderen Ausdruck ihres Herrschaftssystems und ihrer Binnenstruktur dar. Sie reflektierte das Wesen des DDR-Sozialismus und den 1

2

3

Der Forschungsstand zur westdeutschen Nachkriegsgeschichte wird u.a. erörtert in: A. DoeringManteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlage der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 41, 1993, S. 1-29. H. G. Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APZ), Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 29-30, 1993, S. 9. Vgl. zu zeitgeschichtlichen Methodenfragen S. 7-12. Vgl. W. Mommsen, Die DDR in der deutschen Geschichte, in: ebenda, S. 29.

12

Einleitung

besonderen Weg dieser Republik in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Als eine Funktion der Absicherung innerer Systementwicklung war sie jedoch keine einfache Widerspiegelung und keine lineare Fortsetzung der kommunistischen Gesellschafts- und Ordnungspolitik, sondern auch Ausdruck eines durch internationale Entwicklungen und Kräfte mitbedingten Anpassungsprozesses, der die innenpolitischen Triebkräfte in ihrer internationalen Brechung reflektierte. Auch insofern ist die Geschichte der äußeren Beziehungen der DDR mehr als bloße diktatorische Herrschaftsgeschichte, wenngleich beide Komponenten miteinander verschmolzen sind. Wenn man erkennt, daß die DDR weitgehend von der SED bzw. ihrer Führung und ihrem Apparat beherrscht wurde, muß man auch verschiedene legitime Interessen dieses Staates und der ihn dominierenden Partei akzeptieren. Die Führung der SED besaß bestimmte internationale Ziele und stellte sich außenpolitische Aufgaben, die die Macht der herrschenden politischen Klasse erhalten und die Entwicklung der realsozialistischen Ordnung absichern sollten. Selbst wenn man davon absehen würde, daß große Teile der Bevölkerung das SEDRegime zumindest tolerierte und eine Reihe politischer und sozialer Gruppierungen außerhalb der Staatspartei diese wenigstens zeitweilig unterschiedlich stark unterstützte, läßt sich - nicht nur im Hegeischen Sinne - aus der Existenz einer kommunistisch geprägten DDR deren legitimes Recht auf eine eigene Außenpolitik ableiten. Es stellt sich aber die Frage, auf welche Weise von der SED Außenpolitik, insbesondere unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts und der innerdeutschen Selbstbehauptung, entwickelt und durchgeführt wurde. Die spätere völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch fast alle Länder der Welt implizierte zwar in vielen Fällen nicht die Billigung der Herrschaftsordnung in der DDR. Sie trug jedoch durchgängig dem Umstand Rechnung, daß ein Völkerrechtssubjekt DDR als Staat und damit ein Anspruch auf anerkannte Beteiligung am internationalen Prozeß bestand. Die außenpolitische Sonderstellung beider deutscher Staaten nach 1949 ergab sich aus ihrer doppelten Bindung. Zum einen gehörten sie verfassungsrechtlich, mehr aber noch traditionell und in ihren zonenübergreifenden Zusammenhängen, einem - wenngleich suspendierten - Gesamtstaat, zum anderen einander entgegengesetzten Bündnissystemen an. Beide antagonistischen Blockzugehörigkeiten konkurrierten, schlössen aber schließlich die (potentielle) Einheit der Nation nicht aus. Die DDR und die Bundesrepublik repräsentierten und organisierten die fortbestehende deutsche Nation in zwei Teilen. Die deutsche Frage wies nach 1949 verschiedene Dimensionen auf. Ihren Kern bildete das Problem der Wiedervereinigung. Gerade hier muß man Zäsuren und Perioden beachten, deren Grenzen vielleicht enger zu ziehen sind als das bislang der Fall gewesen ist. In der Zeit von 1949 bis etwa 1962 blieb der Kalte Krieg trotz Höhepunkten und Entspannungsphasen relativ konstant. Auch und besonders in der Periode des Berlinkonflikts bestimmte er die internationalen Beziehungen und den deutschen „Sonderkonflikt". Er war allgegenwärtig, und er schimmerte überall durch: in den Handlungen der Politiker und in ihrem Denken, aber auch im Wirken des „kleinen Mannes" und seinen Beziehungen. Außen-, Deutschland- und Berlinpolitik der SED sind überdies nur durch die Einbettung sowohl in ihren Systemzusammenhang als auch in den europäisch-internationalen Prozeß erklärbar. Daß die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte „gerade in den Formen ihrer Abgrenzung und negativen Beeinflussung viele Verbindungen und wechselseitige Verklammerungen zeigt"4, läßt sich vor allem auf dem Gebiet der Deutschlandpolitik beider deutscher Staaten 4

Vgl. Chr. Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: APZ, B 29-30/1993 Nr. 3, S. 40.

Einleitung

13

nachvollziehen. Zumindest bis 1955 dachten sowohl deutsche Politiker als auch die Vier Mächte über eine mögliche Alternative zur Teilung Deutschlands noch ernsthaft nach und suchten im Rahmen eigener und Bündnisinteressen nach Lösungsmöglichkeiten für die deutsche Frage vor allem als Sicherheitsproblem. Zwar blieben Ansätze wegen des Mangels an Kompromißbereitschaft schon in den Anfängen stecken, doch verhinderte das nicht einen beiderseitigen deutschlandpolitischen Aktionismus, der schließlich eine negativ geprägte Summe verschiedener ost-westlicher Initiativen bildete. Die Eigendynamik und der Charakter des Kalten Krieges schlössen nach 1949 ein amerikanisch-sowjetisches Arrangement auf viele Jahre aus. Verhandlungen unter der Belastung deutschlandpolitischer Kompromißunfähigkeit trugen zu weiteren Spannungen im Ost-West-Konflikt bei, verhinderten aber gleichzeitig eine totale Sprachlosigkeit und hielten Verhandlungswege offen. Deutsche Nachkriegsgeschichte ist immer im Zusammenhang mit dem Ziel der deutschen Einheit dargestellt und deshalb sehr stark unter dieser „Endpunkt"-Vorgabe analysiert worden. So sind Interaktionen und deutschlandpolitische Vorschläge, Initiativen und auch Ideen weniger unter der Fragestellung untersucht worden, ob sie zumindest ansatzweise Möglichkeiten eines allgemeinen Dialogs der Großmächte und anderer Staaten und für ein Aufbrechen erstarrter Fronten boten. Das betrifft auch den Berlinkonflikt von 1958 bis 1963. Bei der Untersuchung dieser Erscheinung des Kalten Krieges erweckt die Frage, welche Handlungsspielräume und damit auch Alternativen beide deutsche Staaten bei der Konzipierung und Durchführung ihrer Politik besessen haben, das Interesse der zeitgeschichtlichen Forschung allgemein und des Autors ganz besonders. Es muß vor allem gefragt werden, wie stark innerdeutsche Faktoren auf die Entwicklung des Berlinkonflikts wirkten. Inhaltliche und methodische Probleme der deutschen „Verflechtung und Abgrenzung" und mögliche Ansätze, Themen und Untersuchungsfelder sind jüngst benannt worden. 5 Inwiefern es vor allem methodisch gelingt, „einerseits das Trennende, Gegensätzliche, Eigenständige und andererseits die fortbestehenden Traditionen, wechselseitigen Verbindungen, Fixierungen, Irrtümer und Hoffnungen in einem differenzierten Geschichtskonzept zusammenzubringen"6, wird auch im Rahmen dieser Arbeit zu erproben sein. Vergleiche auf den verschiedenen Ebenen 7 , die Untersuchung der Ursachen und Mechanismen wechselseitigen deutschen Anziehens und Abstoßens und die notwendige Einbettung der nachkriegsdeutschen Geschichte in weit- und europapolitische Zusammenhänge tragen sicherlich zur Entschlüsselung der in der Tat „sperrigen gemeinsamen Nachkriegsgeschichte" (Kleßmann) bei. Das gilt prinzipiell auch für die Analyse der Berlinkrise. Eine geschlossene Darstellung der Berlinfrage, die in vielen Arbeiten immanent berücksichtigt worden ist, fehlt noch. Das liegt vor allem daran, daß sie erst 1990 gelöst und dadurch Geschichte geworden ist. Hans Herzfeld bemerkte 1973, angesichts der Tatsache, daß das alliierte Berlinabkommen vom September 1971 das Problem zwar regelte, aber nicht politisch endgültig beseitigte, bedauernd: „Der Entwicklung der Berlinfrage fehlt noch immer ein klarer, begrenzter Abschluß, der geeignet wäre, ihre Konturen angesichts einer leidlich abgeschlossenen Ereigniskette aus der Distanz zu sehen. Die Gefahr, daß auch der Historiker 5 6

7

Kleßmann, a.a.O., S. 34-39. Kleßmann, a.a.O., S. 34-39; P. Bender, Ansätze zu einer deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Merkur. 1993, S. 197-206. Vgl. J. Kocka, Probleme einer europäischen Geschichte in komparativer Absicht, in: ders., Geschichte und Aufklärung, Göttingen 1989, S. 21-28.

14

Einleitung

gegen jene gefühlsmäßigen Motive nicht immun ist, die das Urteil des Lebenden in Grundfragen seiner Existenz leicht übermäßig färben, ist so groß, daß sie allein von dem Wagnis einer Grenzüberschreitung seiner Kompetenz abschrecken könnte." 8 Mit der Berlinkrise von 1958 bis 1963 haben sich explizit u. a. Uwe Bahnsen, Harald Horn, Diethelm Prowe, Robert M. Slusser und Hermann Zolling beschäftigt.9 Im Vordergrund der Darstellungen stand der konkrete Krisenverlauf, standen die Interessenlage und die Politik der Westmächte. Alle Autoren beschrieben die sowjetische Berlinpolitik relativ umfassend, aber oft zu undifferenziert. Die Position der UdSSR zur DDR sowie die Krisenpolitik der SED blieben, da die entsprechenden Quellen fehlten, unterbelichtet, während die Zusammenarbeit in der NATO, westliche Berlinstrategien und Lösungsversuche sowie der diplomatische Prozeß deutlich wurden. Die politikwissenschaftliche Studie Horns bildete die Berlinkrise besonders als Bestandteil und Funktion der internationalen Politik ab. Eine interessante Fallstudie bot Heribert Gerlach. 10 Er arbeitete den Zusammenhang zwischen dem berlinpolitischen Entscheidungsprozeß in der Kennedy-Regierung und anderen weltpolitischen Entwicklungen heraus, die auf Washington dabei Einfluß nahmen. Die westliche Interessenlage im Konflikt untersuchte Walther Stützle unter besonderer Berücksichtigung der amerikanischen Administration und der Bundesregierung.11 Es erfolgte eine ausgewogene Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Positionen des westlichen Bündnisses, vor allem der deutsch-amerikanischen Gegensätze in der Deutschland- und Berlinfrage. Die Arbeit von Stützle zog dabei die Veränderungen in der sowjetischen Haltung zum Berlinproblem und ansatzweise - in den ostdeutschen Positionen heran. Wie er betonte auch Udo Wetzlaugk12 sowohl die Zwänge, die den Ostblock veranlaßten, eine Mauer zu bauen, als auch die Bedeutung Berlins und seines Status für die Wiedervereinigungspolitik der Bundesrepublik. Wetzlaugk beschäftigte sich darüber hinaus mit den allgemeinen Wirkungen der Berlinfrage auf das Verhältnis der DDR zu Ostberlin und auf die DDR selbst sowie mit der östlichen Perzeption der Funktionen Westberlins.13 Allen Darstellungen war eine Betonung der Frage des Status von Berlin eigen. Eine neuere spezielle Darstellung von Gerd Langguth über die Sicht der DDR auf den Status der Stadt ließ jedoch eine eigentliche Aussage zum Problem für die Krisenzeit nicht erkennen 14 , während sie in einer anderen Arbeit des Autors zumindest in aller Kürze erfolgte.15 In seiner Darstellung der zweiten Berlinkrise ging Dieter Mahncke im

8 9

10

11 12 13 14

15

H. Herzfeld, Berlin in der Weltpolitik 1945-1970, Berlin und New York 1973, S. XV. U. Bahnsen/H. Zolling, Kalter Winter im August. Die Berlin-Krise 1961/63. Ihre Hintergründe und Folgen, Oldenburg und Hamburg 1967; H. Horn, Die Berlin-Krise 1958/61. Zur Funktion der Krise in der internationalen Politik, Frankfurt/Main 1970; D. Prowe, Weltstadt in Krisen. Berlin 1949-1958. Mit einem Vorwort von H. Herzfeld, Berlin und New York 1973; Robert M. Slusser, The Berlin crisis of 1961. Soviet-American relations and the struggle for power in the Kremlin, June-November 1961, Baltimore and London 1973. H. Gerlach, Die Berlinpolitik der Kennedy-Administration. Eine Fallstudie zum außenpolitischen Verhalten der Kennedy-Regierung in der Berlinkrise 1961, Frankfurt/Main u.a. 1977. W. Stützle, Kennedy und Adenauer in der Berlin-Krise 1961-1962, Bonn und Bad Godesberg 1973. U. Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage, Köln 1985. Vgl. ebenda, S. 95-99 und S. 147-152. Vgl. G. Langguth, Der Status Berlins aus Sicht der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 50/87, 12. Dezember 1987, S. 12-14. Vgl. denselben, Die Berlin-Politik der DDR. Historische, politische und juristische Aspekte einer aktuellen Frage, Melle 1987, S. 17-22.

Einleitung

15

Sinne des vorliegenden Themas am weitesten, wenn er sowohl die Berlinproblematik aus östlicher Sicht in allgemeinen Zügen behandelte als auch, allerdings für die Zeit nach 1971, auf berlinpolitische Differenzen zwischen der Sowjetunion und der DDR hinwies.16 Seine generelle Aussage, „in bezug auf die grundsätzliche Linie der östlichen Berlin-Politik" sei der „Spielraum der DDR gegenüber der Sowjetunion immer verhältnismäßig gering gewesen",17 muß vor allem unter der Fragestellung überprüft werden, ob sie auch bzw. in welchem Maße für die Zeit der Berlinkrise zutrifft. Die Zwangssituation für die DDR, die UdSSR und den gesamten Ostblock, die seit 1960 besonders sichtbar war, wurde in einer ganzen Reihe von Arbeiten reflektiert, die sich mit dem Phänomen des Mauerbaus auseinandersetzte. Curtis Cate stellte den Mauerbau relativ punktuell dar18, wenngleich er seine Ursachen nicht aussparte. Eine Ereignisgeschichte bot Jürgen Petschull19, während Jürgen Rühle und Gunter Holzweißig20 darüber hinaus das Vorfeld des 13. August, den unmittelbaren Anlaß und vor allem die Meinungsverschiedenheiten über den Mauerbau in den Führungen des Ostblocks berücksichtigten. Anhand des Zentralorgans der SED, des „Neuen Deutschland", analysierten Peter Greiner und Ernst F. Müller die Vorgeschichte der Berliner Mauer.21 In diesem Buch, das viel zu wenig Beachtung fand, wurden die politischen und ideologischen, nicht so stark die wirtschaftlichen Beweggründe der SED für den Mauerbau schon relativ deutlich. Auch auf der Grundlage dieser Arbeit kann im folgenden der Frage nachgegangen werden, inwiefern offizielle Verlautbarungen und Propaganda mit den tatsächlichen Zielen der SED korrespondierten. Die genannte Literatur und andere Darstellungen vermittelten an Hand der westlichen Quellen insgesamt ein genaues Bild von der Interessenlage, den Zielen und der Politik der westlichen Seite im Berlinkonflikt. Auch der internationale Prozeß, hier vor allem die diplomatischen Interaktionen, erhielten Schärfe. Das galt besonders für die Abbildung von Entscheidungsfindungen im Bündnis und in dessen einzelnen Teilnehmerstaaten und für die Herausarbeitung von politischen Differenzen. Die sowohl politikgeschichtlichen als auch politikwissenschaftlichen Arbeiten - nur eine sozial- bzw. alltagsgeschichtliche Untersuchung ist dem Vf. bekannt 22 - behandelten die Berlinpolitik der östlichen Konfliktpartei unter der Bedingung fehlender Primärquellen. Die wissenschaftliche Darstellung der sowjetischen Berlinziele, vor allem der Interessen der Führung der KPdSU, blieb im wesentlichen an amtliche Verlautbarungen oder an die in die westliche Öffentlichkeit lancierten Informationen gebunden. Sie stützte sich natürlich auch auf die Analyse der jeweils relevanten konkreten Politik der Sowjetunion. Der Erkennbarkeit sowjetischer Interessen und Ziele bzw. auch der Interessenperzeption der Moskauer Regierung war somit eine relativ enge Grenze gesetzt. Das trifft prinzipiell auch für die Berlinpolitik der SED zu. Eine Erweiterung des Erkenntnishorizontes wurde hier zusätzlich durch die Vermutung blockiert, daß die DDR auch in der Berlinfrage lediglich als ein Appendix der Sowjetunion wirkte. So blieb das sowjetisch16 17 18 19 20 21

22

Vgl. D. Mahncke, Berlin im geteilten Deutschland, München und Wien 1973, S. 95-112, 193-200. Ebenda, S. 109. C. Cate, Riß durch Berlin. Der 13. August 1961, Hamburg 1980. J. Petschull, Die Mauer im August 1961, Zwölf Tage zwischen Krieg und Frieden, Hamburg 1981. J. Rühle/G. Holzweißig, 13. August 1961. Die Mauer von Berlin, Köln 1981. E. Müller/P. Greiner, Mauerbau und „Neues Deutschland". Die Vorgeschichte des Baus der Berliner Mauer in der Parteipresse der Deutschen Demokratischen Republik, Bielefeld 1969. Vgl. Dietfried Müller-Hegemann, Die Berliner Mauer-Krankheit. Zur Soziogenese psychischer Störungen, Herford 1973.

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Einleitung

ostdeutsche Verhältnis während des Berlinkonfliktes ebenfalls unterbelichtet. Eine interessante Figurenkonstellation: Chruschtschow und Ulbricht - als Analogie zu Stützles lohnendem Kennedy-Adenauer-Vergleich - konnte z. B. nicht gebildet werden. Hinzu trat, daß auch in der DDR eine tatsächlich offene bzw. öffentliche Diskussion über die Berlinfrage nicht stattfand und auch die Historiographie der DDR sich des heiklen Themas vor 1989 nie annahm. So stellt sich der Forschungsstand über die Interessen und Ziele der SED in der zweiten Berlinkrise im ganzen als unbefriedigend dar. In vielem beruht er immer noch auf Vermutungen und Annahmen, die sowohl vom historischen politischen Prozeß und offiziellen Verlautbarungen als eben auch von den Zielen der UdSSR abgeleitet wurden. Da bislang weder eine Gesamtdarstellung der Position der SED im internationalen Konflikt noch Detailstudien vorliegen, besteht das Forschungsdesiderat weiter. Die vorliegende Arbeit will diese erhebliche Forschungslücke schließen helfen und die Erkenntnisse über das Wesen und die Funktionen der Berlinkrise als internationale aber auch deutsche Erscheinung erweitern. In ihrem Mittelpunkt steht die Politik der SED in der Berlinfrage und zum Problem des Friedensvertrages. Sie stellt eine im wesentlichen politikhistorische Untersuchung mit diplomatiegeschichtlichen Aspekten dar. Sie arbeitet die Interessen und Ziele der SED heraus, rekonstruiert die politischen Entscheidungsabläufe in der Berlinfrage genau und analysiert das damit verbundene Denken der Entscheidungsträger. Die Darstellung soll zur Bestimmung der ostdeutschen Deutschland- und Außenpolitik und damit zur historischen Verortung der DDR in der europäischen und deutschen Nachkriegsgeschichte beitragen. Sie geht jedoch über dieses Ziel hinaus. Da die Aktionen und Reaktionen der Bundesregierung im Berlinkonflikt von 1958 bis 1963 ebenfalls herangezogen und analysiert werden, können nicht nur Aussagen über die Funktion der Krise im politischen Konzept der Bundesrepublik gemacht, sondern auch parallele Handlungen in Bonn und Ostberlin unter gesamtdeutschem Aspekt verglichen und bewertet werden. Insofern enthält die Arbeit, bedingt vor allem durch übergreifende Fragestellungen, eine gesamtnationale Perspektive und auch Elemente einer innerdeutschen Beziehungsgeschichte. Auch werden Primärquellen der alten Bundesrepublik herangezogen. Die Untersuchung stellt im wesentlichen eine historischgenetische Analyse dar. Sie fußt auf der kritischen Auswertung neuerschlossener umfangreicher Aktenbestände. Wenn es vorrangig um die Vermittlung weitgehend unbekannter Prozesse und Fakten geht, bedient sich der Verfasser einer deskriptiven Darstellungsweise, die zur Verständlichkeit komplizierter Vorgänge und ihrer Darstellung sicherlich beitragen wird. Er geht von von der Hypothese aus, daß die SED, die zunehmend in eine akute Krisensituation geriet, durch eine Inbesitznahme von Hoheitsrechten über Berlin die Anerkennung ihres Staates erzwingen und zur Vergrößerung ihrer Souveränität entscheidend beitragen wollte. Folgende Fragen leiten die Untersuchung wesentlich: In welcher Beziehung standen berlinpolitische Ansprüche zu den Möglichkeiten der SED, diese durchzusetzen? Wie schlug sich dabei der näher zu beleuchtende Kurs der Staatspartei auf die internationalen Beziehungen und auf die Entwicklung der innerdeutschen Verhältnisse nieder? Wie vor allem prägte sich die berlinpolitische Kooperation der DDR mit der UdSSR und den anderen Bündnispartnern aus? Gab es ostdeutsche Berlinambitionen, die von den sowjetischen Interessen abwichen? Traten gar, wie u. a. die amerikanische Historikerin Hope M. Harrison 23 vermutet, deutliche Konflikte zwischen SED und KPdSU über Berlin zutage? 23

Vgl. H. Harrison, Ulbricht, Krushchev, and the Berlin Wall, 1958-1961. New Archivai Evidence from Moscow and Berlin, in G. Schmidt (Hg.) Ost-West-Beziehungen: Konfrontation und Détente 19451989, Bochum 1993, S. 333-348.

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Die Frage nach den Handlungsspielräumen der SED bleibt als wichtigste erkenntnisleitende Frage für die Analyse der Gesamtpolitik der SED von zentraler und übergreifender Natur. Die Entwicklung von politischen Freiräumen für die ostdeutsche Staatspartei wird am Beispiel der Berlinkrise und im Zusammenhang mit der internationalen Auseinandersetzung um einen Friedensvertrag analysiert. Dabei sind Handlungsmöglichkeiten gegenüber der UdSSR und gegenüber der Bundesrepublik, die in einer unlösbaren Wechselbeziehung standen und letztendlich eine Summe bildeten, zu unterscheiden. Im weiteren muß gefragt werden, welche Freiräume die SED vor und während der Berlinkrise besaß, um auf diese Einfluß nehmen zu können und welche Folgen der internationale Konflikt prinzipiell für die Entwicklung von ostdeutschen Handlungsspielräumen hatte. Dieses Problem und die für die Darstellung wichtige deutsche Frage zeitigen methodische Konsequenzen. Da das Problem der deutschen Wiedervereinigung nach der Verkündung der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie (1955) eine erhebliche Veränderung erfuhr, leitet das erste Kapitel über die Entwicklung der SED-Deutschlandpolitik folgerichtig den Sachteil der Arbeit ein. Dies ist um so mehr geraten, als das Berlinproblem einen Unterfall der deutschen Frage darstellte und auch der Friedensvertrag auf sie bezogen war. So bildete das Deutschlandproblem in der Tat einen politischen Handlungsrahmen. Im Zentrum des speziellen deutschlandpolitischen Abschnitts steht der Konföderationsplan der SED und die Frage, wie ernst er wirklich gemeint war. Das zweite Kapitel muß sich dann zwingend mit dem Prozeß der Bildung von Handlungsspielräumen im unmittelbaren Vorfeld und während der Berlinkrise beschäftigen. Ohne eine Vermittlung konkreter Kenntnisse über die Entwicklung von politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der SED bei der beabsichtigten Beeinflussung der politischen Situation nach 1958 bleiben deren Motive und Ziele sowie einzelne Handlungen weitgehend unverständlich. Da sich bereits beim Aktenstudium gezeigt hat, daß die Evolution der Wirtschaft der DDR für das Problem innerer und äußerer Handlungsfreiheit von höchster Relevanz war, widmet sich dieser Teil der Arbeit dem ökonomischen Gebiet besonders. Wie wirkten sich wirtschaftliche Faktoren auf das Konfliktmanagement der SED aus? Entstanden ihr in der Krise, die neue Entscheidungssituationen hervorrief, auch neue Bewegungsmöglichkeiten? Verschiedene sowjetische Maßnahmen und Pläne werden auch unter diesen Fragestellungen untersucht. Die „Schaufenster"-Konzeption Moskaus und die dazu kontraproduktiv wirkende Republikflucht sowie die SED-Politik der „Störfreimachung" finden dabei erhebliche Beachtung. Wie groß war der Druck, der durch die Bonner Kündigung des Interzonenhandelsabkommens 1960 kurzfristig eintrat? Konnte und wollte das „sozialistische" Lager und der RGW der DDR in einer dramatischen Situation wirksame Unterstützung leisten? Losungen und Schlagworte kommunistischer Politik wie „sozialistischer Internationalismus" und „brüderliche Hilfe" werden kritisch hinterfragt und das Verhältnis der SED zu „befreundeten" Parteien und Bruderländern in einer schwierigen Periode ausgeleuchtet. Kapitel 3 und 4 bilden den Hauptteil der Arbeit. In ihnen werden die dynamischen Positionen der SED zu den Problemen der Berlinregelung und zum Abschluß eines Friedensvertrages von 1958 bis zum Mauerbau und nach dem 13. August 1961 untersucht. Die Analyse bewegt sich sowohl auf der Hauptschiene der SED-Politik als sie auch die Ebenen UdSSR, Bundesrepublik und Westmächte einbezieht. Aktion und Reaktion bilden eine Einheit, die die innere Logik der einzelnen Schritte und Interdependenzen erkennen läßt. Hinzu kommt eine internationale Konferenzebene. Erst durch die Darstellung des Zusammenwirkens von inneren und äußeren Faktoren treten die spezifischen Interessen und Ziele der SED in Berlin

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zutage, ergeben Vorstellungen und Pläne des Politbüros einen Sinn. Ging es der SED um die Hoheit über die Gesamtstadt, um dadurch der internationalen völkerrechtlichen Anerkennung erscheidend näherzukommen? Bedeutete das Chruschtschow-Ultimatum für sie die umfassende Lösung ihrer Probleme mit der Republikflucht und bot ihr ein Friedensvertrag die Garantie für ungestörte eigenstaatliche Entwicklung der DDR? Dabei bleibt auch die Frage von Interesse, was für einen Friedensvertrag die SED überhaupt wollte und welche Kompromisse und Übergangsreglungen für die SED möglicherweise diskutabel waren. Breiten Raum nehmen die Vorbereitung, die Durchführung und die Folgen des Mauerbaus ein. Hierzu fand sich interessantes neues Material. Warum zögerte Chruschtschow - offenbar noch länger als man bislang angenommen hatte - definitive Entscheidungen über den Bau des „Grenzwalls" hinaus? In dieser diffizilen Angelegenheit spielte der Zusammenhang zwischen internationalen Entwicklungen und der Systemkrise in der DDR eine gewichtige Rolle. Suchte die UdSSR auch aus ideologischen Gründen nach einer den Sozialismus weniger diskreditierenden Lösungsmöglichkeit? Der Vergleich zwischen den Berlininteressen der Sowjetunion und denen der DDR schafft die Grundlage für ein genaues Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Differenzen. Wollten Ulbricht und das Politbüro mehr riskieren als Chruschtschow und das Präsidium der KPdSU? Wo kam es und warum zu ostdeutsch-sowjetischen Dissonanzen? Verletzte die SED zeitweilig fundamentale Deutschlandinteressen der UdSSR? Nötigte sie zu Aktionen, die Moskau aus strategischen Gründen ablehnte? Das berührt auch die Fragen nach der Risikobereitschaft beider kommunistischen Führungen und nach der Verschärfung der Kriegsgefahr. Die Spannungen erreichten 1962 noch einmal einen Höhepunkt, als die Berlinkrise und der Kubakonflikt zeitlich zusammenfielen. Als die akute Gefahr gebannt war, setzte langsam eine Beruhigung der Lage ein; der Kalte Krieg begann abzuflauen. Wie setzte sich die SED nach 1962 mit der neuen internationalen Entspannungstendenz auseinander? Viel Platz nimmt die Darstellung des berlinpolitischen Entscheidungsprozesses in der Führung der SED ein. In welchem Maß wurden sowjetische Vorstellungen und Direktiven berücksichtigt, wo entstand Eigenes? So macht es sich die Arbeit auch zur Aufgabe, die berlin- und friedensvertraglichen Initiativen und Offerten der SED in der Zeit von 1958 bis 1963 zu verifizieren. Was hatte Substanz, was blieb reine Propaganda? Letztendlich wird die Analyse Minimal- und Maximalprogramme der SED im „Kampf um Berlin" und den Friedensvertrag herausarbeiten und klären helfen, wo und in welchem Maße die DDR von der UdSSR „abhängig" blieb. Aber auch verschiedene innere Bedingungen der DDR für die Lösung der Berlinfrage und des Problems eines Friedensvertrags sind in die Analyse wenngleich es hier Begrenzungen gibt - mit einzubeziehen. Relativ eingehend muß auch die Untersuchung auf Feldern sein, die sowohl innen- als auch beziehungspolitisch bedeutend sind bzw. Verbindungsglieder zwischen Binnen- und Außenfaktoren darstellen. Dazu gehört u. a. der Kurs der SED zur „Störfreimachung" ihrer Wirtschaft und die Bemühungen der SED, die Attraktivität der DDR im Innern und ihr Ansehen nach außen zu vergrößern. Das fünfte Kapitel schließt den Rahmen. Mit der Untersuchung der deutschen Frage, der Probleme der Wiedervereinigung und der innerdeutschen Beziehungen in der Berlinkrise setzt es das erste Kapitel fort. Deutsche Perspektiven und „transzendente" Einheitsvorstellungen werden dem realen Abgrenzungskurs der SED gegenübergestellt. Die SED präzisierte ihre Feindbilder, und es fand eine Akzentverschiebung der Westarbeit von der SPD zum Bürgertum statt. Dies war offensichtlich mehr noch dem Einschwenken der deutschen Sozialdemokratie auf den außen- und sicherheitspolitischen Kurs Adenauers als dem ge-

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schmähten Godesberger Programm geschuldet. Insgesamt gerieten die Methoden der Westarbeit - deutlich nach dem Mauerbau - in eine Krise. Welche Ziele verfolgte die SED mit ihrer Infütrationspolitik unter den veränderten Bedingungen? Reduzierte sich die nationale Frage auf die Absicherung des eigenstaatlichen Weges? Mit dem Stacheldraht quer durch Berlin schien sich die Tendenz einer innerdeutschen Schadensbegrenzung zu verstärken. Gab es deutsche „Schleichpfade", die geeignet sein konnten, die konfrontative „Hauptstraße" des innerdeutschen Verkehrs, der immer spärlicher floß, zu umgehen? Hier entstanden im deutschlandpolitischen Denken der SED-Führung und der Bundesregierung möglicherweise Parallelitäten. Aber welche Motive bewegten die Kontrahenten, vorsichtige Standortsondierungen vorzunehmen? Konfliktverschärfung und Deeskalation gingen ein bestimmtes, näher zu charakterisierendes Verhältnis ein. Versuchten Adenauer und die Bundesregierung in der Folge des Mauerbaus mit dem Politbüro in Kontakt zu treten? War der Bundeskanzler bereit, den Ideen des Globkeplans von 1959/60 und eines „Burgfriedens" unter gewissen Bedingungen politische Gestalt zu verleihen? Die Berlinkrise wirkte auf verschiedene deutschlandpolitische Prozesse als Katalysator. Ob der Zeitgeschichtler das Ende der Berlinkrise bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1962 sieht oder sich auf später festlegt, bleibt letztlich umstritten. Der Verfasser entschied sich für eine Zäsur, die, nicht an einem Ereignis fixierbar, im Sommer 1963 zu suchen ist. Der spektakuläre Besuch Kennedys im Juni 1963 und die laute Reaktion der Sowjetunion auf seine berühmte Rede bilden, international gesehen, einen letzten Höhepunkt und den Ausgang einer Krise, die auch Latenzphasen kannte. Zwar schien die akute Gefahr für den Frieden mit der Beilegung des Kuba-Konfliktes gebannt, doch existierte kein Automatismus, der den „Kampf um Berlin" zwingend und zeitgleich mit dem Zwischenfall in der Karibik beendet hätte. Der Konflikt um Berlin dauerte Jahre und er hatte verschiedenartige Höhepunkte, die Kubakrise entstand kurzfristig und entlud sich eruptionsartig. Das erste Problem wurde letztendlich zwar entschärft, aber nur vorübergehend geregelt; das zweite durch eine Übereinkunft gelöst. In beiden Konflikten standen sich die beiden Supermächte gegenüber; im Falle Kubas allein, in Berlin die USA in der Gemeinschaft mit Franzosen und Briten. Das Ende der Berliner Krise ging relativ nahtlos in die Phase der Verhandlungen um das Atomtestabkommen über. Hier lohnt es sich, den Mechanismus des Übergangs von einer Spannungs- in eine Entspannungsphase, vor allem aber die Ursachen, Hintergründe und treibenden Kräfte des beginnenden Wandels näher zu untersuchen und mit anderen Situationen in der Nachkriegsgeschichte - etwa mit dem Übergang vom Korea-(und Vietnam-Krieg) zur Beruhigungsphase des Jahres 1955 - zu vergleichen. In welcher Qualität zeigte sich nach 1962 auf beiden Seiten Lernfähigkeit? Eine Zäsur für die Beendigung des Berlinkonflikts wird auch vom konkreten Untersuchungsgegenstand bestimmt. Die Berlinkrise war 1962 weder im kollektiven Bewußtsein der SED noch in ihrer Politik beendet. So sind die Maximalvorstellungen des Politbüros, die z. B. am 18. Juli 1963 gegenüber der Sowjetunion laut wurden, ein wichtiges Kriterium für die Persistenz des Konflikts zumindest bis zu diesem „Stichtag" und für die deutschen Seiten. Der Hauptteil der ungedruckten Quellen wurde den Aktenbeständen der Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR, Abteilung Zentrales Parteiarchiv der SED entnommen. Hier waren vor allem die Bestände des Internen Archivs, besonders die des Büros Ulbricht und des Politbüros von Interesse. Es handelt sich um die Zeugnisse der „Königsebene" der Entscheidungsfindung und politischer Direktiven. Als besonders aufschlußreich stellt sich der Schriftverkehr zwischen Ulbricht und Chru-

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schtschow bzw. zwischen dem Politbüro der SED und dem Präsidium der KPdSU dar. So fanden sich aussagekräftige Protokolle von Tagungen und internen Unterredungen zwischen Partei- und Staatsführern aus der DDR und der UdSSR, aber auch Mitschriften der Gespräche zwischen sowjetischen und westlichen Politikern. Die Berichte Ulbrichts an die sowjetische Führung sind zwar oft durch eine konkrete Absicht gefärbt; sie treffen aber weitgehend zu. Man übertrieb oder spielte herunter - je nach Interessenlage. Aber man sagte den fuhrenden sowjetischen Genossen nicht die platte Unwahrheit. Das wäre angesichts der sowjetischen Kontrollmöglichkeiten auch vollkommen unsinnig gewesen. So ergibt sich ein Bild über die innenpolitische und wirtschaftliche Situation sowie über die Berlinpolitik der SED am klarsten anhand der Politbüroberichte nach Moskau. Die beratenden bzw. die Beschlüsse des Politbüros vermittelnden Ebenen, u. a. die Westabteilung und andere Abteilungen des ZK, die Westkommission beim Politbüro der SED, eine Reihe von Büros (u. a. Norden, Verner) sind durch Akten vertreten, die eher das politische Denken im Politbüro widerspiegeln als Aufschluß über Konzepte im Apparat und bei Funktionären der ZK-Ebene geben. Sie vermitteln aber einen guten Eindruck vom Mechanismus der Umsetzung von Führungsbeschlüssen. Beim Versuch, in die politische Welt und das Denken führender SEDFunktionäre einzudringen, erwiesen sich die gründlich durchgesehenen Nachlässe (u. a. von Ulbricht, Pieck, Grotewohl, Norden, Schwab, Nuding, Verner) vor allem deshalb als hilfreich, weil nachzuvollziehen ist, wer wann mit welchen die Ulbrichtsche Generallinie flankierenden, konkretisierenden und erweiternden Gedanken hervortrat. Die Akten aus den genannten Beständen, besonders die der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK, lassen zum einen die administrative Widerspiegelung des berlinpolitischen Prozesses im Außenministerium erkennen, machen zum andern aber auch deutlich, über welch einen geringen Entscheidungsspielraum dieses weitgehend entprofessionalisierte Gremium tatsächlich verfugte. Es besaß im Berlinkonflikt offensichtlich nur beratende und ausführende Funktionen. Aufschlußreich sind verschiedene westliche Quellen, die z.T. eine Parallelüberlieferung der ostdeutschen Akten darstellen. Der Verfasser wertete vor allem die Bestände des im Bundesarchiv Koblenz archivierten Nachlasses von Heinrich v. Brentano aus. Den Zutritt zu den einschlägigen Akten gewährte ihm dankenswerter Weise Herr Michael v. Brentano, London. Brentanos Schriftwechsel, u.a. mit Adenauer, ermöglicht einen zusätzlichen Einblick in einen Berlinkurs, der das Gegenstück zur Politik der SED darstellte, aber auch - auf subtile und moderate Art - Unterschiede in den Auffassungen des Außenministers und des Bundeskanzlers verdeutlicht. Von allgemeiner Bedeutung - hier sind einschlägige Quellen überwiegend ausgewertet - sind eine Reihe von Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, Bonn, und des Archivs der Stiftung Konrad-Adenauer-Haus, Rhöndorf. Auf die Vielzahl der in Westdeutschland veröffentlichten Quelleneditionen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Der Autor gibt in den Fußnoten - soweit das möglich ist - die Herkunft bzw. den Urheber, die Bezeichnung, den Ausstellungsort, die Datierung und Adressaten des jeweiligen Aktenstücks an. Er verzichtet nicht auf vollständige Bezeichnungen und Titel, wenn dadurch ein Informationsgewinn entsteht.

KAPITEL 1

Die nationale Frage und die deutsche Wiedervereinigung nach der Verkündung der Zwei-Staaten-Theorie

1. Der Charakter und die Ziele der SED-Deutschlandpolitik nach 1955 Nach der Gründung der DDR im Oktober 1949 war es das Ziel der SED, Deutschland nach dem Muster der D D R wiederzuvereinen. Die „antifaschistisch-demokratische" bzw. sozialistische Ordnung sollte, wenngleich das auch im Verständnis der SED nicht unmodifiziert und nicht stufenlos geschehen konnte, auf Westdeutschland übertragen werden. Bis 1951 (deutschlandpolitisch zäsurbildend war aus internationalen Gründen das Jahr 1952) versuchte die SED diese Aufgabe über eine Art von nationalem Kurzzeitprogramm zu lösen. Deutlich ab 1955, nach dem Verkünden der Zwei-Staaten-Theorie durch die UdSSR, erhielten die Wiedervereinigungsvorstellungen der SED den Charakter eines ideologisch geprägten Langzeitprogramms. 1 Irgendwann, natürlich mit Hilfe der Sowjetunion, des sozialistischen Lagers und aller „friedliebenden" Menschen der Welt würde Deutschland, den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte folgend - schließlich mache der siegreiche Weltsozialismus ja keinen Bogen u m Westdeutschland - unter kommunistischem Vorzeichen geeint sein. Die Flucht aus dem Diesseits handfester Zweistaatlichkeit in einen transzendenten sozialistischen deutschen Einheitsstaat, soziale Endzeiterwartungen und Beschreibungen eines nationalen Zustandes nach Lösung des übergeordneten Weltenkonfliktes zwischen Sozialismus und Kapitalismus, stellten einerseits das Eingeständnis der SED dar, daß die nationale Kurzzeitvorstellung, die Einheit Deutschlands nach dem Bild der DDR auf der Basis einer „nationalen Front" aller „friedliebenden demokratischen" Kräfte in beiden Teilen des Landes unter Führung der SED zügig herstellen zu können, gescheitert war. Aber korrespondierte mit der ideologischen Langzeitvorstellung der SED nicht in gewisser Weise die zeitlich parallel entstehende Langzeitvorstellung der Bundesregierung? Die deutsche Wiedervereinigung mit Hilfe des westlichen Bündnisses schien nur über die Aufhebung der Spaltung Europas mit freiheitlichen Vorzeichen aussichtsreich. Unter den Bedingungen des fortdauernden Kalten Krieges war eine kurzfristige nationalstaatliche Wiedervereinigung in keiner Weise mehr möglich. Andererseits zwang der Rückzug aus der praktischen Einheitspolitik die SED zu einer noch 1

Vgl. M. Lemke, Die deutschlandpolitischen Handlungsspielräume der SED innerhalb der sowjetischen Deutschlandpolitik der Jahre 1949-1955, in: G. Schmidt (Hg.), Ost-West-Beziehungen: Konfrontation und Détente 1945-1989, Bd. 2, Bochum 1993, S. 321-323.

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Nationale Frage, deutsche Wiedervereinigung und Zwei-Staaten-Theorie

stärkeren Einheitsideologie und -rhetorik. Der Druck zu dieser Agitation wuchs auch, weil die zahlreichen politischen Offerten der ostdeutschen Staatspartei nicht mehr „ernst" gemeint, also ohne eigentliche politische Substanz waren und nur noch propagandistisch und in „nationaler" Verbrämung an den Mann gebracht werden konnten. Ideologische Kampagnen und die sie begleitenden Versuche, die Konsolidierung in der Bundesrepublik durch Infiltration oder andere Mittel der Einflußnahme zu verhindern, liefen nach 1955 zunehmend ins Leere. Da die SED nicht in der Lage war, den erfolgreichen westdeutschen Stabilisierungsprozeß insgesamt in Frage zu stellen, versuchte sie ihn, wenigstens zeitweilig oder partiell zu behindern. Wenngleich es der SED nicht mehr um die Einheit Deutschlands, sondern vielmehr um Deutschlandpolitik als Instrument der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden ging, um Positionsverbesserungen für die SED gegenüber den Regierenden in der Bundesrepublik, blieb das plakative Bekenntnis zur deutschen Einheit eine conditio sine qua non für die eigenstaatliche Entwicklung und innere Stabilisierung der DDR. Da im Innern politische, mehr noch die erwünschten wirtschaftlichen Erfolge weitgehend ausblieben und die Hoffnungen der als „werktätige Massen" apostrophierten Bürger auf eine durchgreifende Verbesserung ihrer Lebenssituation zumeist unerfüllt blieben, mußte die Führung der SED immer wieder auf die nationale und patriotische Drapierung ihrer Politik zurückgreifen. Das Bekenntnis zur deutschen Einheit war als legitimatorisches Element kommunistischer Herrschaft unverzichtbar. Die SED stellte sich und ihre Republik als die einzigen wahren Interessenvertreter des gesamten deutschen Volkes und als Gralshüter einer Einheit dar, die von einer imperialistischen Verschwörung reaktionärer Kräfte aus klassenegoistischen Gründen beseitigt worden sei und die nur unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei wieder hergestellt werden könne. Der nationale Anspruch wurde monopolisiert. Wenn die D D R und ihre führende Partei - so konnte man es seinerzeit aus den Verlautbarungen der SED herauslesen - wirtschaftlich, politisch und sozial noch nicht (überall) auf die großen Erfolge verweisen könne - woran ja im wesentlichen der „Klassengegner" schuld sei dann ließe sie sich doch in der Frage der Einheit der Nation von niemandem übertrumpfen. Die westdeutschen Politiker hätten zwar gewisse wirtschaftliche und politische Erfolge, kümmerten sich aber in Wahrheit nicht um die Wiedervereinigung und verrieten die Nation. In der Tat bot dieses Konstrukt einen Zugang zur politischen Wirklichkeit: Konrad Adenauer, die Bundesregierung und eine Reihe wichtiger Parteipolitiker in der Bundesrepublik schrieben die Wiedervereinigung zwar keineswegs ab, sahen sich aber nicht in der Lage, im Kontext des Kalten Krieges eine auf dieses Ziel hinführende aktive Deutschlandpolitik zu entwickeln. So entstand für viele, die von der Bonner Spitze mehr erwarteten als die obligatorischen Sonntagsreden, der Eindruck, die Bundesregierung räume das deutschlandpolitische Feld, überließe das Thema Einheit dem Osten, verzichte letztendlich auf die Wiedervereinigung zugunsten der konsequent betriebenen Westintegration. Deutlich zeichnete sich ab, daß die deutsche Frage in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre immer weniger als Gegenstand der aktuellen Weltpolitik figurierte, und richtig blieb auch die zeitgenössische Beobachtung einer gerade für viele deutsche Intellektuelle befremdlichen Inaktivität Bonns, die freilich auch internationalen Entwicklungen geschuldet war. Zwar wurden weder der Alleinvertretungsanspruch und die im Dezember 1955 verkündete Hallsteindoktrin noch das Junktim zwischen europäischer Entspannung und Lösung der deutschen Frage aufgegeben. Hatten Adenauer und seine Parteifreunde nicht recht, wenn sie in der Entkopplung beider Faktoren die Gefahr sahen, daß die eigenen Verbündeten, käme die europäische Entspannung „vorzeitig", jedes Interesse an der deutschen Einheit verlieren müßten?

Deutschlandpolitik der SED nach 1955

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Doch ging für die Bundesregierung, im Unterschied zur Führung der SED, von der deutschen Frage nach 1957/58 kaum mehr innenpolitischer Handlungszwang aus. Beachtliche politische und wirtschaftliche Erfolge, die hohe Identifikation der Bevölkerung mit der Gesamtpolitik der Bundesregierung - allgemeinster Ausdruck dafür waren die Ergebnisse der Bundestagswahl vom Herbst 1957 - die Verunsicherung der sozialdemokratischen Opposition, mehr aber noch der steigende Wohlstand breitester Bevölkerungskreise, die sich zunehmend spezifisch bundesdeutschen Problemen zuwandten, ließen die deutsche Frage in den „Wartestand" rücken. Tiefgreifende strukturelle Veränderungen in der ökonomischen und sozialen Landschaft der jungen Republik, das Entstehen neuer Bedürfnisse (und von Möglichkeiten sie zu befriedigen) u.a.m. trugen zur Relativierung des Problems nach 1955 bei. Zudem machte die Westintegration nun sichtbar Fortschritte: Im März 1957 war die EWG in Rom aus der Taufe gehoben worden, und es zeigten sich, was von vielen bezweifelt worden war, auch für den westdeutschen Verbraucher handfeste „konsumierbare" Ergebnisse. Der Ausgleich mit Frankreich schien geschafft, das leidige Saarproblem war gelöst; Westdeutschland schickte sich an, tatsächlich ein gleichberechtigtes Mitglied in der Gemeinschaft freier Völker zu werden, und es brachte sich in diese bereits als wirtschaftliche „Großmacht" ein. So erhielt das Ziel der Einheit in der Bundesrepublik die Qualität einer längerfristigen politischen Aufgabe. Für Adenauer stellte es sich nach 1958 weniger als abstrakte Frage der Wiedervereinigung denn als Problem dar, wie man die unverändert schwierige Situation der Menschen in der DDR erleichtern könne. 2 Diese Entwicklung im Westen, weitgehend eine Erfolgsgeschichte, führte bei der SED zu immer neuem Erklärungsdruck, zwang sie, sich der Frage der eigenen Bevölkerung nach den Ursachen des westdeutschen Aufstiegs und des ostdeutschen Zurückbleibens zu stellen. Restaurationsthesen, die Fiktion einer verhängnisvollen Abhängigkeit Bonns vor allem vom amerikanischen Monopolkapital, die Vorwürfe von Remilitarisierung und Faschisierung Westdeutschlands u.a.m. überzeugten immer weniger; Bedrohungslegenden und Verschwörungstheorien verfingen bei einem Großteil der ostdeutschen Bevölkerung kaum mehr. Sie stießen auch in den Reihen der SED auf tiefen Zweifel. Argumente, selbst wenn sie im Detail stimmten und ostdeutsche Befürchtungen, so ehrlich sie im einzelnen gemeint sein mochten, brachten die „Volksmassen" nicht im eigenen Machtbereich und schon gar nicht im westdeutschen gegen Bonn in Bewegung. Sie erzeugten im Gegenteil Unlustgefühle und politische Verdrossenheit, nicht selten auch Häme. Das ständige Wiederholen von „parteilichen" Litaneien trug überdies nicht zum Entstehen von Glaubwürdigkeit bei. Selbst in den mit großem Aufwand betriebenen offensiv geführten ideologischen „Großoffensiven" der SED, vor allem den Propagandakampagnen gegen mißliebige Verhältnisse und Personen in der Bundesrepublik, zeigte sich bei allem aufgeregten Aktionismus die Defensivposition der kommunistischen Führung. Sie wich noch 1955 stärker als zuvor auf die patriotische Drapierung ihrer Deutschlandpolitik aus, bemühte die Formel der Einheit auf eine agitatorische Art und Weise. Die Defensivposition resultierte in erster Linie aus der unbefriedigenden inneren Situation. Zielten verschiedene Aktionen auch auf den „Klassengegner" im Westen, so war die Deutschlandpolitik von der SED insgesamt doch als ein innerer stabilisierender Faktor konzipiert worden, der als eine Art „Umweg" über den Westen funktionierte, wenn er funktionierte. Zum einen galt es der Ostberliner Führung, über den Mechanismus pausenloser Invektiven und Diffamierungen, die politische, vor allem aber moralische Rechtmäßigkeit der kommunistischen Herrschaft zu beweisen. Dabei nahm 2

Vgl. H.-P. Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 480.

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Nationale Frage, deutsche Wiedervereinigung und Zwei-Staaten-Theorie

der „Antifaschismus", betrachtet man die Kampagnepolitik der SED nach 1958 unter dem Gesichtspunkt eines vorrangig ideologischen Krisenmanagements, 3 eine zentrale Position ein. Die in den schwärzesten Farben gemalte Entwicklung in der Bundesrepublik gab letztendlich die dunkle Kontrastmasse zum „lichten Aufbau" des Sozialismus in der DDR ab. Zum anderen motivierten Parteiführung und Regierung innenpolitische Handlungen mit als Unrecht dargestellten politischen Entscheidungen der Bundesregierung: Man habe bestimmte, in der DDR unpopuläre, Maßnahmen nicht gewollt, sei aber durch Bonn dazu gezwungen worden. Die Schuld sei eben dort zu suchen. Dies müßten die „Werktätigen" in der DDR verstehen. Repressive Maßnahmen und Unrechtshandlungen suchte die SED weiterhin aus den „Notwendigkeiten" des Kalten Krieges abzuleiten. 4 Diese Begründungsstereotypen wirkten nur über ein ideologisches Instrumentarium, und sie entfalteten nur unter der Bedingung von antagonistischer Zweistaatlichkeit Einfluß. Sie schienen nur glaubhaft, wenn sie sich auf das Postulat der Wiedervereinigung stützten, hinter der zwar die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, aber nicht mehr die Führung der SED stand. Auf die populäre Wiedervereinigungsformel konnte sie auch nach 1955 noch nicht verzichten. Diese bot eine politische Chance, implizierte, wenn die SED von der eigenen Bevölkerung beim Wort genommen wurde, aber auch unübersehbare Risiken. Konnte die nationale Frage noch zu einem „Schleudersitz" für das Politbüro werden? Mußte es, gezwungen, an der „Einheit" formell festzuhalten, nicht probate Mittel und Wege finden, um das eigene Staatsvolk schrittweise vom Ziel der Wiedervereinigung und von gesamtdeutschen Hoffnungen abzubringen? Welche Rolle konnten im Verständnis der SED-Eliten dabei ideologische Langzeitvorstellungen, nationale und soziale deutsche Perspektiven, aber auch propagandistische Programme und politische Maßnahmen spielen, die in eine Beziehung zu den tatsächlichen Zielen der SED gesetzt werden mußten? Für die Führung der SED stand der eigenstaatliche Weg unwiderruflich fest. Die davon abgeleitete außenpolitische Hauptaufgabe, die Erringung der weltweiten Anerkennung der DDR, ordnete sich dem Ziel der inneren Stabilisierung des realsozialistischen Staates unter. Es existierten aber gerade bei dogmatischen Kräften in der Parteiführung, vor allem, weil diese der marxistisch-leninistischen Ideologie verhaftet waren und Erfahrungen bereits in den gesamtnationalen Auseinandersetzungen der Zeit vor 1933 gesammelt hatten, weiterhin Vorstellungen über Deutschlands Zukunft. Politbüromitglied Hermann Matern - ein Doktrinär - argumentierte durchaus noch weltrevolutionär: „Wenn ganz Deutschland auf dem Weg zum Sozialismus ist, dann ist das Problem in Frankreich auch sehr leicht zu lösen, dann ist das Problem in Italien leicht zu lösen (...) Und die kleinen Länder, die dazwischen liegen, nun, die werden mitgerissen. Höchstens würden wir die Schweiz als kapitalistisches Museum bestehen lassen."5 Solche Endzeiterwartungen gehörten sicherlich zum intellektuellen Standard einer Reihe hoher SED-Funktionäre, waren in gewisser Weise habitualisiert geworden. 3

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Vgl. M. Lemke, Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die West-Propaganda der SED 1960-1963, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte [VfZ], 1993, Nr. 2, S. 160ff. Vgl. H. Weber, Der Kalte Krieg und die DDR, in: Deutschland im Kalten Krieg 1945-1963. Eine Ausstellung des Historischen Museums 28. 8.-24. 11. 1992 im Zeughaus Berlin, Ausstellungskatalog, Berlin 1992, S. 45. Referat H. Materns, Stenographisches Protokoll der Aussprache mit Genossen H. Matern in LeipzigMarkkleeberg, 14. 9. 1958, in: Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im folg.: SAPMO-BArch), Zentrales Parteiarchiv der SED (im folg.: ZPA), IV 2/1001/138, Bl. 9.

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Zwischen 1956 und dem Mauerbau traten jedoch - aus taktischen Gründen - öffentliche Äußerungen über eine sozialistische Perspektive Gesamtdeutschlands zurück. Diese Rücknahme resultierte freilich auch aus der Erkenntnis Ulbrichts und der engeren Führung, daß der Einheitsstaat zu östlichen Bedingungen in absehbarer Zeit nicht zu erreichen sein würde, letztendlich - wenn er die Herrschaft der SED in Frage stellte -, eben auch nicht gewünscht werden konnte. Die „parteifeindliche" Gruppe um Karl Schirdewan und Ernst Wollweber, die von Ulbricht immer als persönliche Konkurrenten beargwöhnt worden waren, wurde auch deshalb entmachtet, weil sie das Tempo des sozialistischen Aufbaus zugunsten einer offensichtlich von ihnen ernstgenommenen Wiedervereinigung drosseln wollten. Der für die Westarbeit verantwortliche Paul Verner, Sekretär des ZK der SED, erklärte dem Plenum der 9. Tagung des ZK der KPD am 11. Mai 1958, daß Schirdewan „und einige andere Genossen" die Frage, ob die friedliche und demokratische Wiedervereinigung „unter den Bedingungen der konsequenten Fortführung des sozialistischen Aufbaus" in der DDR möglich sei, verneint hätten. „Sie gingen davon aus, daß es notwendig sei, mit der sozialistischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik kurz zu treten, sozusagen Gewehr bei Fuß zu stehen, damit die Möglichkeiten der Wiedervereinigung Deutschlands nicht verschüttet werden." 6 Ging es hier wirklich um die nationale Problematik? Ernst Wollweber, dessen MfS bereits stark in die Westarbeit eingebunden war, wurde mit dem Vorwurf der „falschen Orientierung des MfS nach Westdeutschland" 7 konfrontiert. Oder spielte sich der interne Machtkampf lediglich unter einer deutschlandpolitischen Decke ab? Aufschlußreich ist die undifferenzierte Retrospektive Ulbrichts, daß „die ganze Auseinandersetzung mit den parteifeindlichen Gruppen" zusammengehangen habe „mit der nationalen Frage und der Perspektive, wie soll die nationale Frage gelöst werden." Diese Gruppen hätten nicht verstanden, daß nach 1952 die Vorschläge für freie Wahlen „nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten, da eine neue Situation eingetreten war." (Ursprünglich hieß es im Redetext nach dem Passus „freie Wahlen": „abgelehnt werden mußten".) Das sei, so Ulbricht, die Zeit der Pariser Verträge (1954/55) gewesen. „Das war für uns deshalb kompliziert, weil wir in dieser Zeit den Sozialismus aufbauten und dabei noch Wiedergutmachungen durchführten. Berija (Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU, sowjetischer Innen- und Sicherheitsminister - M. L.) war gegen die Entwicklung des Sozialismus in der DDR. Er war für die Rückkehr des Kapitalismus, also die Auseinandersetzung ging um Fragen der Weltpolitik." 8 Im Fall Schirdewans fielen „nationale" Gründe und die von Ulbricht abgelehnte Entstalinierung zusammen. Das verdeutlichte der Kotau Schirdewans: „Ich unterstützte die herangereiften Voraussetzungen für die Beschleunigung des sozialistischen Aufbaus in der Deutschen Demokratischen Republik und damit die realen Bedingungen für die allseitige Vorwärtsfuhrung der sozialistischen Umwälzung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Dadurch vertrat ich praktisch eine Konzeption des Selbstlaufes, der Verlangsamung des Sozialismus", schrieb der „Delinquent" an das Politbüro. Aber er „bereute", daß er sich „für eine mechanische und dem Wesen nach opportunistische Übertragung von Beschlüssen des XX. Parteitages der KPdSU auf unsere Bedingungen einsetzte]" und „opportunistische Schlußfolgerungen hinsichtlich

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Diskussionsrede, in: ebenda, N L 218/39, Bl. 212. Disposition Verners: „Bericht über 35. Plenum", Februar 1958, in: ebenda, NL 281/39, Bl. 105. „Niederschrift über die Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht". Beratung der Blockparteien am 21. 11. 1961, in: ebenda, IV 2/15/25, S. 9.

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der weiteren Festigung der sozialistischen Demokratie und der Staatsmacht der Arbeiter und Bauern" gezogen habe. 9 Ob die in Ostberlin Verantwortlichen an eine sehr ferne und sehr verschwommene Perspektive eines sozialistischen Gesamtdeutschland dachten oder diesen Zukunftsstaat eher mit dem harmlosen Prädikat „friedliebend" und „demokratisch" versehen wissen wollten, blieb zumindest praktisch ohne Relevanz. Konsens und Norm bildete in der gesamten Parteiführung die Auffassung von der unbedingten Notwendigkeit, die DDR im Zusammenhang mit dem sozialistischen Aufbau zu stärken. Dabei konnte offen bleiben, ob für die einen die Stärkung der Republik die wichtigste Voraussetzung für die Wiedervereinigung nach dem Modell DDR sein sollte, oder für die anderen mehr die entscheidende Bedingung für fortdauernde Eigenstaatlichkeit. Der sich immer besonders „national" gebende Ministerpräsident Otto Grotewohl wies die Botschafter der DDR bereits Anfang 1956 auf die „Loseisung der Deutschlandfrage von den verschwommenen Begriffen einer allgemeinen Verbrüderung und Vereinigung auf jeden Fall" hin. Eine Wiedervereinigung gebe es nur, merkte er kühl an, „wenn die Errungenschaften der DDR dabei nicht angetastet werden." 10 Matern ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß die SED den Sozialismus in der DDR vollenden und „nicht einen Monat im sogenannten Interesse der Einheit Deutschlands stillhalten [werde]". Sozialismus vor Einheit, so lautete der Grundsatz. Hatte die Ordnung auch eindeutig Priorität, ließ sie sich in den Augen Materns doch mit dem „nationalen" Ziel vereinbaren: „Der sozialistische Aufbau bei uns ist der stärkste Hebel und der richtige Weg zur Herstellung der Einheit Deutschlands als eines friedliebenden, demokratischen Staates."11 Zu den ideologischen Konstanten der kommunistischen Deutschlandpolitik gehörte auch nach 1955 die These, daß die nationale Frage der sozialen stets untergeordnet und in Deutschland schon deshalb „Klassenfrage" sei, weil die deutsche Monopolbourgeoisie unter Mithilfe der SPD Westdeutschland „zum Zweck der Aufrechterhaltung der Herrschaft der Monopole" abgespalten habe. 12 So sahen es auch KPdSU und sowjetische Regierung.13 Unverändert blieb auch die Auffassung von der DDR als einzig rechtmäßigem deutschen Staat, weil nur hier das Potsdamer Abkommen durchgeführt worden sei, „während Westdeutschland ein Satellitenstaat der USA wurde", wie Ulbricht am 11. 7.1960 an den Staatssekretär im DDR Außenministerium, Otto Winzer, schrieb.14 Aber auch in den Leitungen der Blockparteien hatte sich die Auffassung durchgesetzt, daß man, wie es der Vorsitzende der NDPD, Außenminister Lothar Bolz, bemerkte, zwar die Existenz der Bundesrepublik, „nicht aber ihre Rechtmäßigkeit" anerkenne. „Die Gegenwart unserer Republik jedoch", so erklärte er prosaisch, „ist die Zukunft Deutschlands, ist das Morgen unserer Zeit, in der Gebot und Erfordernis unserer und zukünftiger Generationen auch für Deutschland Gestalt gewinnen". Die historische Legitimation der Republik „gründet sich auch auf ihr Verhältnis zur deut9

(Zweites) Schreiben Schirdewans an das Politbüro, 15. 4. 1959, in: ebenda, JIV 2/202/4, S. 1. Stenographische Niederschrift der Botschafterkonferenz in Berlin, 1./2.2.1956, in: ebenda, J IV 2/201/429, Bl. 5. 11 Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 24. 2. 1958, in: ebenda, IV 2/15/23, S. 10. 12 Vorlage der Westkommission: „Konferenz mit sozialdemokratischen Genossen anläßlich der Leipziger Frühjahrsmesse" (1962), in: ebenda, IV 2/1002/148, Bl. 254. 13 Memorandum der Sowjetregierung an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, 3. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/76. it Schreiben Ulbrichts an Staatssekretär O. Winzer, 11. 7. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/182, Bd. 1. 10

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sehen Vergangenheit". 15 Schwieriger gestaltete sich für die SED die Aufgabe, den Bündnispartnern unter der Bedingung einer in die Politik hineinwirkenden offenen Einheitsfrage vor allem mit Blick auf Westdeutschland zu erklären, was denn im Sinne ostdeutscher Wiedervereinigungspolitik bislang erreicht worden war und wie es nun weitergehen sollte. Dabei wurden bei Ulbricht auf einer Sitzung des Demokratischen Blocks selbstkritische Töne laut. Man habe das Ziel der ersten Etappe, in ganz Deutschland die „antifaschistisch-demokratische" Ordnung zu errichten, letztlich nur im Osten erreicht. Die Konsequenz aus der Spaltung des Landes sei, „daß die DDR ihre Aufgabe als Friedensstaat nur erfüllen kann, wenn sie Überlegenheit erreicht". Der Ausgangspunkt, so fuhr der 1. Sekretär des ZK der SED fort, „war richtig, obwohl nicht alle Fragen richtig offen ausgesprochen und zu Ende ausgesprochen wurden, weil wir eine gewisse taktische Manövriermöglichkeit brauchen im komplizierten Kampf um die Wiedervereinigung Deutschlands." 16 In der Tat waren Strategie und Taktik der SED, zumindest für den Beobachter des aktuellen Geschehens, schwer auseinanderzuhalten. Dennoch blieb ein Zugang zur Wahrheit offen: Verglich man die „nationalen" Aufgaben, deren Lösung angeblich zur friedlichen demokratischen Einheit führen sollten, sowohl mit den erreichten Ergebnissen kommunistischer Deutschlandpolitik als auch mit dem nationalen und patriotischen Anspruch der SED, fielen gravierende Defizite und Widersprüche auf. In der täglichen Praxis nahm die SED z. B. ihre Lippenbekenntnisse zu nationalen Gemeinsamkeiten, einer gesamtdeutschen Begegnung und Zusammenarbeit ständig zurück. Sie erschwerte nach 1955/56 u.a. den Reise- und Postverkehr erheblich, kappte die Telefonkabel zwischen den beiden Teilen Berlins, verbot den kleinen Grenzverkehr und baute das „Grenzsicherungssystem" aus. Die „nationalen Aufgaben" reflektierten tatsächlich die Ziele der Sowjetunion zur Absicherung ihres machtpolitischen Status quo. „Weg mit dem Militarismus, für einen Friedensvertrag, für ein friedliches und militärisch neutrales Deutschland", lautete eine griffige Losung. 17 Vor allem nach 1957 sah man die „Lösung der nationalen Frage" in der „Bändigung des deutschen Militarismus", im Kampf gegen die Atomrüstung, in der Beseitigung der „klerikalfaschistischen Diktatur" - natürlich in Westdeutschland. Diese „nationalen" Aufgaben wurden mit „Offensiven zur Popularisierung der DDR", Kampagnen gegen tatsächliche oder vermeintliche Nationalsozialisten im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik, mit infiltrierenden Maßnahmen, Konterpropaganda u.a.m. verbunden. 1 8 Das allgemeine Feindbild hieß Bundesrepublik, das besondere CDU: „Der Hauptstoß muß gegen die Adenauer-CDU geführt werden [...]. Die CDU ist die Hauptverantwortliche für die Vertiefung der Spaltung Deutschlands." 19 Daneben wurden ständig antinationale Gegner entdeckt. Insgesamt erhielt die Parole von der Wiedervereinigung die Funktion eines Transportmittels für unterschiedlichste Ziele und politische Ambitionen der SED-Führung. Der Einheitsgedanke, mit diversen anderen Themen überfrachtet, verzerrte sich bis zur Unkenntlichkeit, während Deutsche in Ost und West, die versuchten, von der

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Referat von Bolz auf der 63. Hauptausschußtagung der N D P D , 16./17.1.1961, in: ebenda, IV 2/15/85, S. 26f., 29. Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 26. 1. 1960, in: ebenda, IV 2/15/24, S. 37. Beschluß des Politbüros, Anlage 2 zum Protokoll 23/61, 30. 5. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/765, Bl. 59. Arbeitsplan für den Sektor (des ZK) Gesamtdeutsche Fragen im 2. Halbjahr 1959, in: ebenda, IV 2/2028/6, S. 1-4. Stenographische Niederschrift der Rede Verners auf der Konferenz mit den Bezirkssekretären der Nationalen Front, 8. 2. 1957, in: ebenda, NL 281/37.

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SED schwer zu kontrollierende Kontakte zueinander herzustellen und Einheit und Solidarität im kleinen übten, behindert wurden. Die Initiativen unabhängiger Geister fanden, wenn sie nicht auf der kommunistischen Linie lagen, bei der SED keine Resonanz. Sie machten nur dann künstlich Furore, wenn sie sich für die Partei propagandistisch nutzen ließen.20 Auch hier zeigte sich die innenpolitische Dimension der SED-Deutschlandpolitik als dominant. So sollten Vorschläge an die Bundesregierung stärker herausgestellt und die Bereitschaft der DDR, dem Westen Kohle, Stahl, Textilien u.a.m. abzunehmen, als Zeichen von innerdeutscher Gesprächsbereitschaft der SED propagiert werden.21 Es standen aber vor allem wirtschaftliche Zwänge dahinter. Wenn die Bundesregierung - die Forderung nach freien Wahlen in der D D R und die Weigerung, mit Ulbricht zu verhandeln, ständig wiederholend - ostdeutsche Offerten nicht genügend auf ihren politischen Gehalt hin prüfte, brachte sie sich möglicherweise um Chancen, das innerdeutsche Verhältnis zu entkrampfen. Freilich wäre sie bald an prinzipielle Grenzen gestoßen. Sicherlich spielte der konfrontative Zeitgeist eine Rolle, der die Bundesregierung sowohl Risiken scheuen ließ als sie auch zu repressiven Überreaktionen gegenüber Parteigängern der SED im Westen und anderen deutschlandpolitischen Oppositionellen veranlaßte. „Die Bonner Deutschlandpolitik der frühen Zeit wird erst verständlich, wenn man sich der Heidenangst erinnert, die damals vor dem,Osten' herrschte. Der Generalsekretär der SED wäre heilfroh gewesen, wenn er eine auch nur halb so tüchtige Partei gehabt hätte, wie man im Westen annahm"22, meint Peter Bender ironisierend, aber zutreffend. Verschiedene Angebote der DDR, z.B. alle arbeitslosen westdeutschen Arbeiter in der D D R aufzunehmen 23 , trugen zudem auch demagogischen Charakter, sollten gesamtdeutschen Beifall auslösen. Allerdings waren sich Politbüro, Z K und die hier mit der Westarbeit befaßten Gremien 24 über die inneren und äußeren Hemmfaktoren einer nach Westen gerichteten „legitimistischen" Deutschlandpolitik, die zumindest auf partielle Zustimmung bei einigen politischen und sozialen Gruppen in beiden Teilen des Landes angewiesen blieb, im klaren. Da war das anhaltende Problem der Republikflucht, die sich nicht stoppen ließ und da blieb das Image der D D R als diktatorischer Staat, der die Menschen- und Bürgerrechte mißachtete. „Wir müssen aus der Lage herauskommen", erregte sich Ulbricht am 23.1.1958 auf einer Blocksitzung, „daß fortschrittliche Menschen in Deutschland die D D R danach beurteilen, wieviel Leute bei uns im Jahre verhaftet werden unter den Bedingungen des Klassenkampfes und der NATO-Politik in Westdeutschland".25 Gerade nach 1957/58, als auch die Sowjetunion Nikita Chruschtschows die D D R als ein „Schaufenster" des Sozialismus nach Westen auszubauen versuchte, kam man im Politbüro nicht umhin, wieder stärker „magnettheoretisch" zu denken. Insbesondere Ministerpräsident Otto Grotewohl sah die Notwendigkeit, die „Werktätigen" Westdeutschlands anzuziehen, und er zog auch ins Kalkül, „daß jede unserer Maßnahmen und Handlungen auf ganz Deutschland wirkt."26 Vgl. M. Lemke, Von der SED eingespannt, in: Die politische Meinung, 1991, Nr. 261, S. 25-30. Beschluß des Politbüros: „Zur Weiterführung der Wahlbewegung", Anlage zum Arbeitsprotokoll 43/58, Sitzung vom 21. 10.1958, in: SAPMO-BArch, ZPA, J I V 2/2A/660. 22 P. Bender, Adenauer, Erhard, Kiesinger und die D D R , in: Die Zeit, 11. 6. 1993. 23 Vgl. Beschluß des Politbüros: „Zur Weiterfuhrung der Wahlbewegung" (wie Anm. 21). 24 Hier vor allem die 1958 ins Leben gerufene Westkommission beim Politbüro und die Westabteilung des Z K der SED. 25 Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 23. 1. 1958, in: SAPMOBArch, ZPA, I V 2/15/23, S. 51. 2 « Redemanuskript Grotewohls für die 2. Tagung des Z K der SED, 18./19.9.1958, in: ebenda, N L 90/238, Bl. 142. 20

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Ursprünglich von der nationalen Idee und der Notwendigkeit einer deutschen Wiedervereinigung erfüllt, hatte sich der mit patriotischem Pathos agierende Politiker, aus der nationalen Tradition der SPD kommend, schnell dem Kurs Ulbrichts auf eine eigenstaatliche Entwicklung der DDR und damit der sowjetischen Interessenlage angepaßt. In seiner Rededisposition zur 2. Tagung des ZK der SED im September 1958 ging Grotewohl davon aus, daß die Hauptfrage die Erhaltung des Friedens sei: „Deutschland ist nicht der Nabel der Welt, die Lösung der Deutschlandfrage kann die Entspannung fordern, aber sie ist nicht das Hauptglied zur Lösung internationaler Spannungen". 27 Damit befand er sich, wenngleich er linientreu auf eine Entwertung der Wiedervereinigung hinarbeitete, nicht im Irrtum. Da die UdSSR und ihr ostdeutscher Satellitenstaat seit Anfang 1954 die Formel von gesamtdeutschen Wahlen fallengelassen und das mit der Aussage verbunden hatten, daß die Wiedervereinigung nicht mehr Angelegenheit der Alliierten, sondern allein ein Problem beider deutscher Staaten sei, wehrte sich die SED-Führung vehement gegen jede Kopplung der deutschen Frage an die europäische Sicherheit. Als im Februar 1961 in Warschau eine Ost-West-Konferenz über europäische Sicherheitsprobleme stattfinden und auch die SED dafür einen Beitrag liefern sollte, klammerte Ulbricht den im Entwurf enthaltenen Passus, daß die „endgültige Lösung" der europäischen Sicherheitsproblematik in der Wiedervereinigung Deutschlands liege, aus. Auch die bislang akzeptierte Formel, „daß die zur Einheit fuhrenden Mittel und Wege den Deutschen selbst innerhalb eines Rahmens überlassen werden, dem die USA, die UdSSR, Frankreich und Großbritannien zustimmen und der von ihnen garantiert wird" 28 , strich er ersatzlos. Damit schien ein zwischen 1954/1955 und 1961 geschriebenes deutschlandpolitisches Kapitel abgeschlossen worden zu sein. Es gipfelte in der faktischen Absage der 30. Tagung des ZK der SED (30. Januar-1. Februar 1957) an die deutsche Einheit. Insgesamt entstand für die SED die Frage, wie sie angesichts des innerdeutschen Antagonismus und der Schwächen des diktatorischen Systems in der DDR das Kunststück vollbringen sollte, den intern aufgegebenen gesamtdeutschen Anspruch mit dem in der Öffentlichkeit im wesentlichen noch aufrechterhaltenen Postulat der Wiedervereinigung und das wiederum mit dem unbedingten Ziel staatlicher Eigenständigkeit der DDR zu verbinden. Sie mußte vor der Bevölkerung einen Wert verteidigen, der nicht mehr der ihre war und eine „patriotische" Ware an ein Volk verkaufen, dem man gleichzeitig zu verstehen geben wollte, daß diese eigentlich nichts mehr taugte. Gleichzeitig mußte die Ware so verpackt sein, daß sie auch im Westen, hier vor allem auf der Ebene von Bundesregierung und Bundestag, zunächst einmal optisch ansprach und Veranlassung gab, in der Öffentlichkeit diskutiert, und von den „Massen" angenommen zu werden. Versprach der Konfoderationsplan der SED, der die deutschlandpolitische Diskussion in den Jahren nach 1957 nachhaltig beeinflußte, das zu leisten?

2. Das Konstrukt einer deutschen Konföderation Am 29. Dezember 1956 hatte das Politbüro der SED auf der Grundlage eines Entwurfes von Paul Verner 29 , dem Leiter der Westabteilung im ZK, den Plan einer deutschen Konföderation verabschiedet. Die Grundidee stammte von Bundesfinanzminister Fritz Schäffer, der sich mit 27 28 29

Disposition der Rede für die 2. Tagung des ZK der SED. Vgl. ebenda, B. 4. Entwurf: „Europäische Sicherheit", Februar 1961, in: ebenda, NL 182/1300, Bl. 23. Entwurf: „Zur Wiedervereinigung Deutschlands zu einem friedlichen und demokratischen Staat". Arbeitsprotokoll 66/56, Sitzung des Politbüros vom 29. 12. 1956, in: ebenda, J IV 2/2A/541.

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Nationale Frage, deutsche Wiedervereinigung und Zwei-Staaten-Theorie

Wissen Adenauers über die Vermittlung des Münchener Verlegers Hans Kampfinger im Frühjahr 1955 mit dem NDPD-Funktionär, Generalleutnant Vincenz Müller, Chef des Stabes der KVP/NVA, des späteren stellvertretenden Verteidigungsministers der DDR, insgeheim nahe Passau getroffen 30 und der den Kontakt unter Einbeziehung des sowjetischen Botschafters in Ostberlin Georgi M. Puschkin (Gespräch am 21. Oktober 1956) fortgesetzt hatte. 31 Sowohl beim bayerischen Treffen am 11. Juni 1955 als auch bei der zweiten Begegnung am 20. Oktober 1956 in Ostberlin hatte Schäffer die Idee geäußert, eine Konföderation beider deutscher Staaten „im Sinne der Zusammenarbeit der Benelux-Staaten" herzustellen, die zwischendeutschen Beziehungen mit diesem Ziel zu intensivieren, auf jede Gewaltanwendung und alle Atomwaffen zu verzichten, die beiderseitigen Streitkräfte entsprechend der Bevölkerungszahl zu begrenzen und einen Austritt aus den Militärblöcken in Betracht zu ziehen. Ulbricht, der den Kontakt am 13. März 1957 durch das Mitglied des Hauptvorstandes der NDPD Otto Rühle bei Schäffer in dessen Bonner Ministerium weiterführen ließ, wußte, daß Adenauer über den Vorgang informiert war.32 So waren sich beide deutsche Rivalen nicht nur über die Fühlungnahme, sondern auch über ihr gemeinsames Wissen im klaren. Auch aus diesem Grunde bot der Bonner „Testballon" der SED einen Ansatzpunkt für verschiedene detaillierte Konföderationsvorschläge, die auch im Interesse der Bundesregierung zu liegen schienen. Die vom Politbüro vorgeschlagene Truppenbegrenzung (DDR: 80-90000 Mann, Bundesrepublik: 110-120000) und ein Verzicht auf Atomwaffen, mehr noch die Schaffung eines Paritätischen Gesamtdeutschen Rates als „Organ der Vereinigung Ost- und Westdeutschlands auf der Grundlage der Konföderation", machten - sieht man von Paritätsfragen einmal ab - zumindest auf den ersten Blick einen Sinn. „Da der Gesamtdeutsche Rat die Funktion der Regierung der deutschen Konföderation ausübt", so stellte man es sich im Ostberliner Parteihaus vor, sollten die Vorbereitungen zur Wiedervereinigung in der Kompetenz dieses Rates liegen. Das beträfe „die Herstellung einer einheitlichen administrativen Leitung in Deutschland, besonders zur Schaffung einer Zoll- und Valuta-Union, einer Koordinationskommission für Fragen der nationalisierten Industrie, weiter die Schaffung einer einheitlichen Notenbank, einer einheitlichen Währung, eines einheitlichen Transportund Nachrichtenwesens u.a.m. Der Gesamtdeutsche Rat sollte „freie gesamtdeutsche Wahlen" vorbereiten. 33 Für die Durchsetzung einer schrittweisen Wiedervereinigung über den Mechanismus der Konföderation befand das Politbüro „bestimmte äußere und innere Vorbedingungen" als unbedingt notwendig. So verlangte es die Neutralisierung Deutschlands, die Überwindung der „militärischen, revanchistischen und faschistischen Kräfte" und die „Entmachtung des Monopolkapitals" in Westdeutschland, die Überfuhrung der Schlüsselindustrien in Volkseigentum, eine Boden- und eine Schulreform nach dem Vorbild der SBZ/DDR u.a.m. 34 Diese Forderungen, die darauf hinausliefen, die parlamentarische durch eine „antifaschistischdemokratische" Ordnung, also durch das Modell DDR, zu ersetzen, implizierten eine für die Bundesregierung unter keinen Umständen akzeptable Systemveränderung; sie führten die 30 31 32 33

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Vgl. F. J. Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 188. Vgl. H. J. Küsters, Und grüß mich nicht unter den Linden, in: Die Welt, 27. 7. 1991. Information für Ulbricht, undat., in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 182/1312, Bl. 313. Vorlage (Endfassung): „Über die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem friedliebenden demokratischen Staat", Beschluß des Politbüros, Anlage 4 zum Protokoll 66/56, 29. 12. 1956, in: ebenda, J IV 2/2/520, Bl. 15. Ebenda, Bl. 9, 14.

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realistischen Vorstellungen über konkrete konföderative Maßnahmen ad absurdum und liefen der rationalem Denken zugänglichen Erkenntnis zuwider, daß die sich unter ordnungspolitisch gegensätzlichen Vorzeichen entwickelnden Staaten - nach zehnjährigem Auseinanderleben - sich nur schrittweise und kompromißhaft annähern könnten. Der Konföderationsvorschlag enthielt die typische Mischung der SED-Deutschlandpolitik: Positive Vorschläge und deren gleichzeitige Negierung. Er war auch insofern „idealtypisch" als noch ein konstantes Element „negativer Überwindung" des deutschen Status quo hinzutrat: Während man auf allen Gebieten offiziell möglichst auf der Regierungsebene verhandeln wollte, verstärkte die SED - freilich mit Blick auf sowjetische außenpolitische Interessen - die Infiltration der Bundesrepublik und die propagandistischen Kampagnen genau gegen die Kreise, mit denen man auf hoher Ebene gesamtdeutsche Gespräche und Verhandlungen führen wollte. So enthielten die Papiere der Parteiführung neue Überlegungen, wie man gleichzeitig die Einheit der Arbeiterklasse und eine von dieser geführten Volksfront des „patriotisch gesinnten Bürgertums", von Intellektuellen, Christen u.a.m. schaffen und sie gegen die Bundesregierung vor allem in der Absicht kehren könnte, „die Lösung Westdeutschlands von der NATO" und die „Schaffung einer Zone der beschränkten Rüstungen in Europa" zu erzwingen. 35 Konstant blieb auch die Ablehnung freier Wahlen, die erst dann stattfinden sollten, wenn „ihre Freiheit und Unabhängigkeit in ökonomischer, politischer und völkerrechtlicher Hinsicht gewährleistet ist", wenn die ausländischen Truppen abgezogen seien, und „nach der Entmachtung des Monopolkapitals und der militärischen Kräfte". 36 Das bedeutete, die Wahlen lange Zeit zu verschieben. Dennoch muß noch eingehender gefragt werden, welchen Stellenwert der Konföderationsplan im politischen Konzept der SED einnahm und worin diese seine Ziele sah. In vielem fallen eindeutige Aussagen schwer, weil die Deutschlandpolitik der SED selbst nicht klar formuliert war, verschiedenen Gremien und Zielgruppen gegenüber taktisch bedingte unterschiedliche Ansichten über Sinn und Zweck der Konföderation mitgeteilt wurden und hierüber wohl auch innerhalb des engeren Führungskreises der SED nicht immer vollkommen einheitliche Auffassungen herrschten. Für die Parteiführung stand aber der „Klassenkampfcharakter" einer Konföderation und damit deren instrumenteile Funktion in Verbindung mit der Schaffung einer „Volksfront" fest. „Die Bildung einer Konföderation", bemerkte Grotewohl, „ist ohne die deutsche Arbeiterklasse im Bündnis mit allen patriotischen Kräften des deutschen Volkes nicht denkbar. Je fester sich diese Kräfte vereinen, um so stärker werden sie sein, um so früher werden sie eine Regierung in Westdeutschland zwingen können, mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu verhandeln." 37 Während Grotewohl nach außen, auch den Repräsentanten der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes gegenüber, dabei blieb, daß die Wiedervereinigung nur möglich sei durch einen „nationalen Kompromiß in Form der Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten" 38 , stellte Ulbricht die Frage etwas anders: „Nun, was heißt denn Konföderation? Das heißt, daß wir Bedingungen unterzeichnen, den Wettbewerb zwischen den zwei Systemen in einem Lande zu führen. Die Frage, ob dann dieser Kampf später zum Sozialismus fuhrt, ob 35 36 37

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Ebenda, Bl. 9f. Papier über die Wiedervereinigung Deutschlands, 19. 1. 1957, in: ebenda, NL 182/1306, Bl. 73. Manuskript der Diskussionsrede Grotewohls auf dem V. Parteitag der SED, 13.7.1958, in: ebenda, NL 90/236, Bl. 173. Nicht veröffentlichte Rede Grotewohls auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages, 4. 2. 1960, in: ebenda, NL 90/261, Bl. 89.

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Nationale Frage, deutsche Wiedervereinigung und Zwei-Staaten-Theorie

dieser Übergang friedlich oder auf andere Weise geschieht, ist eine Frage, die gegenwärtig überhaupt nicht interessant ist. Gegenwärtig interessiert uns nur, in der jetzigen Etappe den deutschen Militarismus zu bändigen und alle Kräfte zu einigen."39 Sah Ulbricht die Konföderation als eine Art Übergangsetappe an, die möglicherweise durch eine nichtfriedliche Periode, vielleicht mit Hilfe eines bewaffneten revolutionären Umsturzes oder Kriegs, fortgeführt werden könnte? Klarer hatte es Matern am 7. März 1958 in Anwesenheit der wichtigsten KPD-Führer intern dargestellt. Da es das Ziel sei, die Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in ganz Deutschland zu schaffen, so formulierte er, hieße Konföderation nichts anderes, als damit beginnen, „die Kräfteverhältnisse in Westdeutschland [so] zu verändern, daß die Arbeiterklasse stärker wird und daß wir dadurch zusammen dann unsere Politik durchfuhren können [...] Konföderation heißt für uns in Westdeutschland, die Kraft der Arbeiterklasse stärken, ihre Position zu verstärken, damit wir über die Konföderation die Staatsmacht in ganz Deutschland in die Hände nehmen." 40 Matern begründete: „Krieg, das wäre der kürzeste Weg zur Beseitigung der Herrschaft des Kapitalismus, aber auch der fürchterlichste. Wir sind der Meinung, daß wir den Weg ohne Krieg gehen müssen. Er ist ein bißchen länger, aber er kostet nicht so viel. Unser Vorschlag der Konföderation, das ist der Weg des nationalen und Klassenkampfes zur Errichtung eines Deutschland, in dem die Arbeiterklasse führt", Konföderation sei - so Matern - „Kampf zur Veränderung der Lage in Deutschland." 41 Diese instrumenteile Funktion des Konföderationsplans war freilich weder auf der 30. Tagung des ZK der SED vom 30. Januar bis 1. Februar 1957, auf der dieser parteioffiziell verkündet worden war, noch in dem von Grotewohl anläßlich einer Regierungserklärung am 26. Juli 1957 an das Bonner Kabinett adressierten Angebot so einfach erkennbar. Nach dieser offiziellen Erklärung sollte die Konföderation vorerst weder eine über den beiden Staaten stehende selbständige Staatsgewalt schaffen noch das Herrschaftsverhältnis des einen auf den jeweils anderen deutschen Staat übertragen. Das wollte sie im Gegenteil verhindern. 42 Die in den Folgemonaten etwas konkretisierten und modifizierten Vorschläge über den zu schaffenden Gesamtdeutschen Rat und Rüstungsbegrenzungen sowie das Angebot, sich u. a. über Wirtschaft, Handel, Zoll, Währung, Verkehr und Nachrichtenwesen 43 abzusprechen, folgten dem genannten Beschluß des Politbüros vom 29. Dezember 1956. Aus optischen Gründen klammerte die Partei- und Staatsfuhrung aber Fragen der inneren Entwicklung beider deutscher Staaten zunächst aus, weil deren „klassenmäßige" Behandlung sofort die Assoziation von Vorbedingungen der SED erweckt hätte. Sie ließ allerdings klar erkennen, daß es keine Wiedervereinigung auf Kosten der DDR und zu Lasten der „sozialen Errungenschaften ihrer Werktätigen" geben könne. 44 Ein „Pferdefuß", als solcher in der Bundesrepublik sehr bald erkannt, lag in der Frage der paritätischen Zusammensetzung des Gesamtdeutschen Rates, dessen Vertreter auf der Basis der in beiden deutschen Staaten geltenden Wahlgesetze bestimmt werden sollten. Damit hätte sich die SED-Führung zum einen auf den Charakter dieser Prozedur als eine Art von gesamtdeutschen „freien Wahlen" 39

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„Rede des Genossen Walter Ulbricht im Namen der Delegation der SED bei der Beratung" (der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau, 26.6.1960), in: ebenda, JIV 2/202/272, Bl. 1, S. 7f. „Protokoll der Aussprache von Genossen des ZK mit westdeutschen Funktionären" (u. a. Max Reimann), Leipzig, 7. 3. 1958, in: ebenda, IV 2/1002/136, Bl. 5, 6f. Ebenda, Bl. 9f. Vgl. Erklärung, in: Dokumente zur Außenpolitik der DDR, Bd. V, Berlin 1958, S. 124. Vgl. ebenda, S. 125. Vgl. Referat Ulbrichts auf dem V. Parteitag der SED, 10.-16.7.1958, in: Neues Deutschland, 11.7.1958.

Das Konstrukt einer deutschen Konföderation

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berufen und sich, zumindest indirekt, parlamentarisch ein wenig legitimieren können, zum anderen hätte sie im Gesamtdeutschen Rat a priori über 50 Prozent der Stimmen verfügt, was „bei der Gewinnung auch nur einer Stimme aus der westdeutschen Vertretung der DDR zu einer Mehrheit in diesem Gremium verholfen hätte", während umgekehrt eine Majorisierung der DDR-Seite an der „disziplinierten Phalanx der nach der Einheitsliste berufenen DDRVertreter" scheitern mußte. 45 Wenngleich die Führung der SED immer wieder auf ihren Konföderationsplan zurückkam, blieb dieser bis zum Ende des Jahres 1958 unkonkret. Das resultierte einerseits aus dem Umstand, daß er, bedingt durch seine Einbindung in die sowjetische Außen- und Deutschlandpolitik, die ihm in gewisser Weise einen Zugang zur internationalen Bühne schuf, östlichen Initiativen und Kurskorrekturen genügend Spielräume bieten mußte. So geriet der KonfÖrderationsplan u. a. zum Vehikel des Rapacki-Plans zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Andererseits bot die relative Unschärfe der konföderativen Vorstellungen der SED die Chance, verschiedene Fragen offenzulassen, plötzlich eintretenden Veränderungen durch Modifikationen des Plans Rechnung zu tragen und neue Forderungen an die westliche Seite bei Bedarf „nachzuschieben". Dies war in der Tat Ende 1958 der Fall. Angesichts der komplizierten Probleme Westberlin und Abschluß eines Friedensvertrages erwog die UdSSR die Möglichkeit, einen Friedensvertrag mit drei deutschen Seiten abzuschließen: mit beiden deutschen Staaten und einer deutschen Konföderation, gegebenenfalls auch allein mit dieser. Das bedeutete eine Aufwertung des KonfÖderationsplans. Der Zeitpunkt sei „sehr günstig", so gab Moskau Ostberlin zu verstehen, nun „detaillierte Vorschläge für eine Konföderation zu unterbreiten, beispielsweise die Fixierung des Textes einer Vereinbarung über die Konföderation". Der Botschafter der UdSSR, Michail Perwuchin, so meldete es der stellvertretende DDR-Außenminister Sepp Schwab am 30. Dezember 1958 seinem Ministerpräsidenten, habe „entsprechende Direktiven zur Besprechung mit unseren fuhrenden Genossen erhalten", jedoch müsse die Initiative in dieser Angelegenheit „bei uns" liegen.46 Der so unterrichtete Ulbricht bezog, den sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland vom 10. Januar 1959 zum Anlaß nehmend, am 15. Januar 1959 Stellung. Er nannte nun nicht mehr - wie geschildert - indirekt, sondern explizit die Voraussetzung für die Bildung der Konföderation: Eine umfassende „Demokratisierung des gesellschaftlich-politischen Lebens in Deutschland", den Abzug aller ausländischen Truppen von seinem Territorium und die Liquidierung aller fremden Stützpunkte innerhalb eines Jahres nach Abschluß eines Friedensvertrags sowie einen gesamtdeutschen Atomwaffenverzicht und den Austritt beider Staaten aus den Militärbündnissen. Der paritätische Gesamtdeutsche Rat - so konkretisierte er modifizierend - sollte aus ingesamt 100 von den jeweiligen Parlamenten ernannten (nicht mehr gewählten) Mitgliedern bestehen und nicht das Recht zu Weisungen, sondern nur zu Empfehlungen gegenüber den beiden deutschen Regierungen, besitzen.47 Dem sowjetischen Wunsch und Ulbrichts Darlegung entsprechend, lag dem Politbüro Anfang März 1959 der Entwurf einer zwischendeutschen Vereinbarung über die Bildung einer Konföderation vor. Er enthielt in seinen 19 Artikeln eine Reihe von Ungereimtheiten hinsichtlich der Dauer und vor allem der Auflösung des Staatenbundes, wenn nach der „Annäherung" beider deutscher Staaten gesamtdeutsche Wahlen zu einer Nationalversammlung 45 46 47

G. Zieger, Die Haltung von SED und DDR zur Einheit Deutschlands 1949-1987, Köln 1980, S. 85. Schreiben Schwabs an Grotewohl, 30. 12. 1958, in: SAPMO-BArch, NL 90/474, Bl. 146f. Vgl. Zieger, S. 89.

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Nationale Frage, deutsche Wiedervereinigung und Zwei-Staaten-Theorie

stattgefunden hätten. 48 Die Konföderation sollte die Aufgabe übernehmen, die „friedliche Entwicklung Deutschlands [zu] gewährleisten" und die Bestimmungen des Friedensvertrages mit Deutschland verantwortungsvoll zu erfüllen." 49 Wie konnte sie dies bei der vorgeschriebenen Aufrechterhaltung der Souveränität beider deutscher Staaten effektiv erreichen? Im einzelnen sollten - im Unterschied zu 1957 - die ostdeutschen Truppen auf90000 Mann, die westdeutschen auf 200 000 Mann begrenzt und die bundesdeutsche Wehrpflicht abgeschafft werden. Den Gesamtdeutschen Paritätischen Rat, dem auch Vertreter von Massenorganisationen angehören durften, leiteten nach dem Konzept zwei gleichberechtigte Vorsitzende. Der Rat hatte die Konföderation in den internationalen Beziehungen zu vertreten; er unterzeichnete internationale Abkommen und den Friedensvertrag, erklärte den Beitritt der Konföderation zu internationalen Organisationen und Konventionen und regelte auch das zwischendeutsche Verhältnis.50 Abgesehen davon, daß diese Vorschläge im Kontext des Berlin-Ultimatums der Sowjetunion für den Westen aus aktuellen Gründen inakzeptabel waren, schlössen sie sich, weil auf eine Systemveränderung in der Bundesrepublik und auf eine Negierung der Westbindung des Landes abstellend, a priori aus. So offenbarte auch die zunehmend mit der Forderung nach einer „demokratischen" Umwandlung der Bundesrepublik verbundene politische Kampagne für den Konföderationsvorschlag der SED ihren in erster Linie ideologisch-propagandistischen Charakter und ihre Bezogenheit auf aktuelle sowjetische Europa- und Deutschlandinteressen. Die innenpolitische Funktionen ausübende Konföderationspropaganda erhielt auch als Instrument der Einwirkung auf die SPD und die Gewerkschaften in der Bundesrepublik Bedeutung. Dies um so mehr, als sich der Konföderationsplan in hohem Maß in die flexiblere Taktik der SED im Umgang mit der SPD, die in der UdSSR und in Ostberlin noch stärker als potentiell entscheidender Bündnispartner gesehen wurde, einfügte. 51 „Auf zahlreichen gesamtdeutschen Arbeiterkonferenzen', gesamtdeutschen Foren' mit westdeutschen Teilnehmern sowie den alljährlich stattfindenden Ostseewochen propagierte die SED in jener Zeit ihre Vorstellungen. Zweifellos bestand in der Parteiführung die Hoffnung, durch eine derartige Einwirkung auf die Parteibasis die SPD unter Druck setzen zu können, eine härtere Opposition gegen die Deutschlandpolitik der CDU/CSU geführten Bundesregierung zu betreiben."52 Freilich blieb auch das „nationale Bürgertum" der Bundesrepublik eine Zielgruppe östlicher Konföderationskampagnen. Überdies beschloß das Politbüro, „alles zu tun", um Vertreter westdeutscher Länder „und anderer Organe, die vom Ministerium Lemmer [Innerdeutsches Ministerium - M. L.] geschickt werden", von der Notwendigkeit der Konföderation zu überzeugen. „Nur diese Frage hat im Mittelpunkt zu stehen." 53 Aber war der Konföderationsplan, der bis zum Ende der sechziger Jahre, wenngleich modifiziert, zum deutschlandpolitischen Repertoire der SED gehörte, tatsächlich nur eine reine Propagandaaktion? 48

Entwurf: „Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über die Bildung einer Konföderation", Anlage 12 zum Protokoll 11/59, Sitzung des Politbüros vom 3. 3. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/635, Artikel 9. Ebenda, Artikel 2. 5 ° Ebenda, Artikel 7-12. 51 Vgl. M. Lemke, Eine neue Konzeption? Die SED im Umgang mit der SPD 1956-1960, in: J. Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 361-377. 52 H.-A. Jacobsen u. a. (Hg.), Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR. Bestimmungsfaktoren, Instrumente, Aktionsfelder, München u.a. 1979, S. 186. 53 Beschluß des Politbüros, Protokoll 8/58,12. 2. 1958, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/2/580, Bl. 3.

Das Konstrukt einer deutschen Konföderation

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Als Element einer ideologischen Langzeitvorstellung bildete der Plan eine sozialistische Zukunft Gesamtdeutschlands nur noch visionär, nicht aber mehr als konkretes politisches Ziel ab. Betrachtet man parallel dazu das reale Interesse der SED, die innere Stabilisierung und völkerrechtliche Anerkennung der DDR zu erlangen, so ergibt sich der Eindruck, daß sich das eine zum anderen wie der ideologische Mantel zum rationalen Kern verhielt. Da es der SED um die weltweite Anerkennung ihrer Republik ging, mußte sie alles versuchen, um vor allem die Bundesrepublik durch innerdeutsche offizielle Verhandlungen, wie sie Gespräche über die Konföderation dargestellt hätten, zu veranlassen, das Alleinvertretungsrecht und die Hallsteindoktrin Schritt für Schritt abzubauen. Da diese Maximen westdeutscher Politik im Zusammenwirken mit der nicht stabilen inneren Lage in der DDR für die SED existenzbedrohend wirkten, konnten die Führung der SED und der DDR-Staat, zunehmend Bestandteil eines europäischen Gleichgewichts im Ost-West-Konflikt, diese Aufgabe nicht relativieren. Zumindest hätten Verhandlungen über eine Konföderation zu einer innerdeutschen und internationalen Aufwertung der DDR und ihrer kommunistischen Staatspartei geführt, ohne daß die SED - wäre die Bundesregierung auf das Angebot eingegangen - gezwungen gewesen wäre, in der Frage der deutschen Einheit wirkliche Kompromisse einzugehen und einen deutschlandpolitischen Preis bis zur Höhe einer möglichen Selbstaufgabe zu zahlen. So bedeutete der Konföderationsplan für die SED kein eigentliches Risiko. Er stellte aber insofern nicht nur Propaganda dar, als seine Väter vom realen Ziel innerdeutscher Verhandlungen ausgingen und einen möglichen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag mit Bonn über einen „Staatenbund" ins Kalkül zogen. 54 Der Plan war auch so angelegt, daß er Absprachen über die die SED interessierende handfeste wirtschaftliche und finanzielle Kooperation, bei der Bonn nach Lage der Dinge mehr als die DDR zu bieten hatte, ermöglichte. Im Falle von Verhandlungen besaß das Projekt genügend innere Sicherungen, und es existierten darüber hinaus externe Möglichkeiten, um Entwicklungen, die den Interessen der SED zuwiderliefen, abzublocken. Im günstigsten Fall, der freilich zu keiner Zeit wahrscheinlich schien, konnte das Politbüro tatsächlich versuchen, einen Prozeß in Gang zu setzen, an dessen Ende das Maximalziel stand: Eine im Innern veränderte Bundesrepublik. Daraufliefen letztlich die meisten „nationalen" Vorschläge der SED hinaus. Diese Tendenz belegt eine entwaffnend offene Bemerkung Materns im „Demokratischen Block" vom März 1957 noch einmal in eindrucksvoller Weise: „Es kommt nicht darauf an, ob jetzt die in Westdeutschland Herrschenden die Vorschläge annehmen, sonders es kommt darauf an, daß wir gemeinsam mit den demokratischen Kräften in Westdeutschland den Kampf darum fuhren und die Lage dort verändern." 55 Wenngleich die Geschichtswissenschaft der DDR den Konföderationsplan als Ausdruck „nationaler Verantwortung" und des Willens der SED zur „demokratischen" Wiedervereinigung interpretierte und die wahren Intentionen seiner Urheber „nicht vermittelte", hat sie doch zutreffend darauf verwiesen, daß die SED die deutsche Konföderation für möglich hielt, „falls in der Klassenauseinandersetzung mit der deutschen Monopolbourgeoisie antiimperialistische Veränderungen in der BRD erreicht werden konnten" 56 . Diese Aussage weist auf die ansonsten geleugnete Existenz von Vorbedingungen hin.

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Vgl. Interview Ulbrichts, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16. 2. 1958. Stenographische Mitschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks am 25. 3. 1957, in: ebenda, IV 2/15/23, S. 3. J. Hofmann, Ein neues Deutschland soll es sein. Zur Frage der Nation in der Geschichte der D D R und der Politik der SED, Berlin 1989, S. 159.

KAPITEL 2

Politische Interessen und Entscheidungsfreiräume der SED im Spannungsfeld von sowjetischer Vormacht und westlicher Anziehungskraft nach 1955/56

1. Konstanten und Variablen im Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion nach 1955/56 In welchem Maße beeinflußte die in der zweiten Hälfte der 50er Jahre fortgeführte Ostintegration der DDR und die weitere Übertragung des poststalinistischen Herrschafts- und Gesellschaftsmodells auf den ostdeutschen Staat, die im wesentlichen die Züge einer modifizierten Sowjetisierung trug, die Entwicklung von Eigeninteressen der SED, und wie schlug sich dieser Prozeß auf die Herausbildung von Eigenständigkeit im politischen Handeln ihres Staates nieder? Die politischen Entscheidungsfreiräume der DDR waren, wenngleich sie sich in der Tendenz nach 1954/1955 vergrößerten, gemessen an völkerrechtlichen Normen und im internationalen Vergleich sehr gering geblieben. 1 Daran änderten formale Akte wie etwa die Erklärung der Sowjetregierung vom 25. März 1954 über die Erweiterung der Souveränitätsrechte der DDR und die Übertragung der „vollen Souveränität" auf den deutschen Oststaat mittels des „Vertrages über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR" vom 20. September 1955, die die DDR international aufwerten sollten, recht wenig. Zwar stand die Souveränität nur auf dem Papier - die kontrollierenden Funktionen des sowjetischen Hochkommissars wurden nun weitgehend von der sowjetischen Botschaft in Ostberlin wahrgenommen. Doch verhieß die sowjetische Formalie der SED wenigstens perspektivisch größere politische Freiräume. Und in gewissem Maße konnte sich die Führung der ostdeutschen Staatspartei auch moralisch auf eine vertragliche Regelung unter „Freunden" berufen, die seit der Gründung des Warschauer Paktes im September 1955 nun auch völkerrechtlich Verbündete waren. Insofern stellten die ostdeutsch-sowjetischen Vertragswerke nicht nur eine umfassende bilaterale Allianz,2 sondern auch - vergleicht man sie mit dem Deutschlandvertrag von 1954 eine zumindest vorläufige separate Friedensvereinbarung dar. Die Intervention sowjetischer 1

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Vgl. M. Lemke, Die deutschlandpolitischen Handlungsspielräume der SED innerhalb der sowjetischen Deutschlandpolitik der Jahre 1949-1955, in: Ost-West-Beziehungen. Konfrontation und Détente 19451989, hg. von G. Schmidt, Bochum 1993, S. 305-332. Vgl. B. Meissner, Moskau-Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955-1973. Dokumentation, Bd. 1, Köln 1975, S. 22.

Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion nach 1955/56

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Direktiven in die Politik der DDR war nicht immer negativ, wenn man etwa an den sowjetischen antistalinistischen „Tauwetter"-Impuls des Jahres 1956 denkt. Obwohl sowjetisches Hineinwirken Entmündigung nach sich zog, konnte es durch die grundsätzliche Interessenharmonie zwischen beiden ungleichen Partnern von der SED weitgehend toleriert werden. Ernsthaftere Konflikte schlössen sich aus. Zum einen waren es ostdeutsche Einheitspartei und DDR, die, sowjetischen Interessen ihre Existenz verdankend, der Sowjetunion auf Gedeih und Verderb mehr verbunden als ausgeliefert waren. Partei und Staat leiteten aus diesem ungleichen Bündnis inmitten von Ost-West-Konflikt und Kaltem Krieg einen wesentlichen Teil ihrer historischen und politischen Legitimität her und bezogen aus dem Bündnis ihren Schutz. Zum anderen stellte die DDR, gerade was den Subordinationswillen ihrer neuen Eliten betraf, zwar ein von der UdSSR und vom Sowjetmodell penetriertes System dar 3 und war mehr Mündel als „zahlungsfähiger" Klient, beherbergte aber als deutscher Teilstaat auch Interessen und Kräfte, die mit denen der kommunistischen politischen Klasse keineswegs konform gingen. Sie waren wenigstens zum Teil bestrebt, mit den neuen Staatseliten zu konkurrieren oder sie gänzlich in Frage zu stellen. Auch insofern mußte die Sowjetunion im Zusammenhang mit der Herausbildung von Eigeninteressen der SED und möglichen Differenzierungsprozessen in dieser Partei eine ostdeutsche Dynamik zu mehr Entscheidungsfreiheit und souveränem Handeln in der Zeit nach 1955 einkalkulieren. Auch die SED hatte Rücksichten auf die Interessenlage derjenigen zu nehmen, die sich beherrschen ließen. Genau das konnte sie ihrer Leitmacht, vor allem in der Absicht, Toleranzräume zu erhalten bzw. zu schaffen, signalisieren. Andererseits blieb die Sowjetunion insbesondere auf dem Feld eigener Deutschlandpolitik auf die Dienste der SED als im wesentlichen ausführendes Organ angewiesen. Sie betrachtete die DDR als ihren Satelliten 4 , der für sie bis 1952/53 noch Eigenschaften eines Handelsobjekts besessen hatte, nun aber die Qualität eines politischen Provisoriums dadurch verlor, daß die Wiedervereinigung aufgegeben worden, bzw. auf die ferne Leinwand einer kommunistischen Endzeit projiziert worden war. Nach der Aufgabe dieses politischen Ziels setzte die UdSSR Ostdeutschland, das nun fest in den Ostpakt eingebunden war und zunehmend zum Bestandteil eines sich herausbildenden europäischen Gleichgewichts wurde, als vorgeschobene Bastion gegen den Westen 5 viel umfassender ein: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, ideologisches und militärisches Potential der DDR wirkten in der von Moskau als „friedliche Koexistenz" qualifizierten Systemauseinandersetzung nicht nur mehr deutschlandpolitisch, sondern stärker als Element sowjetischer Europaund Weltpolitik. Insofern fand im Kreml, dessen Hauptziel die Konsolidierung der inneren Verhältnisse in der UdSSR und in seinem Bündnisbereich sowie die damit verbundene 3

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Der Vf. ist der Auffassung, daß James N. Rosenaus Kriterien für ein penetriertes System, vor allem die Existenz einer außenstehenden, mit Autorität versehenen Macht - der UdSSR die auf die Prozesse einer ausländischen Gesellschaft - der ostdeutschen - Einfluß nimmt, für die DDR weitgehend zutrifft. Hier muß freilich u. a. näher untersucht werden, inwiefern sowjetische Entscheidungen begrüßt wurden - etwa von den ostdeutschen Eliten - oder von der Masse der Bevölkerung lediglich anerkannt bzw. toleriert wurden. Vgl. hierzu J. N. Rosenau, The Scientific Study of Foreign Policy. Revised and Enlarged Edition, London and New York 1980, S. 136-167. Der Ausdruck, der in der westlichen Zeitgeschichtsschreibung und Politikwissenschaft seit langem gebräuchlich ist, ist zwar abwertend, gibt aber den Sachverhalt für Ostdeutschland - als Gefolgsmann bzw. Trabant der UdSSR fungiert zu haben - im ganzen zutreffend wieder. Diese zugespitzte Bestimmung wurde sowohl von der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft als auch von der westlichen historischen und politikwissenschaftlichen Forschung vorgenommen.

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Politische Interessen und Entscheidungsfreiräume der SED nach 1955/56

Sicherung des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen territorialen Status quo blieb, nach 1953/54 eben nicht nur ein deutschlandpolitischer Paradigmenwechsel statt. Mit der Aufgabe der deutschen Wiedervereinigung als konkretem Ziel entledigte sich die sowjetische Politik faktisch eines Faktors, der ihr nach dem mißglückten Versuch, die militärische Westintegration unter Einschluß der Bundesrepublik zu verhindern, zu einer Einengung ihrer globalpolitischen Handlungsspielräume geriet. Eine ähnliche deutschlandpolitische Interessenlage zeichnete sich auch bei den Westmächten ab, wenngleich sie am Recht des deutschen Volkes auf staatliche Einheit auch aus bündnispolitischen Erwägungen festhielten. So erhielt der Entspannungsgedanke auch im Westen mehr Raum 6 , indem das Junktim zwischen Lösung der deutschen Frage und weltweiten bzw. europäischen Entspannungsinitiativen zunächst intellektuell in Frage gestellt wurde. 7 Dies entsprach sowohl dem Interesse der UdSSR als auch den Zielen der DDRRegierung. Eine europäische Entspannung schien beiden geeignet, sowohl günstigere äußere Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines dauerhaften ostdeutschen Staatswesens zu schaffen als auch durch die Teilhabe am europäischen Entspannungsprozeß eine internationale Aufwertung der DDR zu erreichen. Ein im östlichen Sinne funktionierender Entspannungsmechanismus ermöglichte es der SED auf längere Sicht, sich einen direkteren Zugang zur internationalen Arena zu eröffnen, in die sie bislang nur als „Trittbrettfahrer" der sowjetischen Politik gelangt war. Zwar blieben Ziel und Politik der Anerkennung der DDR immer an die Existenz der Sowjetunion gebunden. Der Grad des ostdeutschen Erfolges im allgemeinen Anerkennungsprozeß entschied aber auch wesentlich über die Frage, inwiefern sich die SED vom unmittelbaren Hineinwirken sowjetischer Politik in die Angelegenheiten der DDR befreien konnte, wenn es ihre Führung überhaupt wollte. Im Verhältnis zur UdSSR, das auch nach 1955 wesentlich von der inneren Entwicklung in der DDR und von den innenpolitischen Ergebnissen ostdeutscher Politik bestimmt wurde, stellte sich der SED nämlich die Grundfrage, in welchem Maße Souveränität mit Sicht auf die sowjetischen Interessen machbar und aus der Perspektive relativer Schwäche der SED überhaupt wünschenswert sei. Kommunistische Herrschaft in der DDR besaß nach wie vor eine doppelte Struktur: Sie wurde vom Apparat des realsozialistischen Staates, aber auch von außen, durch die fortwährende Präsenz einer nichtdeutschen Macht, die sowohl innere Krisensituationen als auch Bedrohung von außen bekämpfen konnte, abgesichert. Auch insofern widersprachen ostdeutsche Machtstruktur und Herrschaftskontinuität, in die sich ja auch der 17. Juni 1953 als ein casus foederis beider staatserhaltender Kräfte eingefügt hatte, einem „Experiment der Freiheit". Die Gewinnung größerer operativer Handlungsspielräume gegenüber der sowjetischen Führungsmacht wurde deshalb auch von den existentiellen Interessen der SED begrenzt. Überdies machte die UdSSR den „kleineren Bruder" permanent - zuweilen in brutaler Offenheit darauf aufmerksam, daß der sozialistische SED-Staat ohne die große Sowjetunion nicht denkbar sei. 6

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Das zeigte sich bereits deutlich im Vorfeld und während der Genfer Gipfelkonferenz von 1955, der eine erneute Behandlung der deutschen Frage - nachdem das österreichische Problem im Mai 1955 geklärt werden konnte - noch im gleichen Jahr auf der Außenministerkonferenz der Vier Mächte in Genf folgte. Das Wechselverhältnis von Bonner und westalliierten Deutschlandinteressen und Entspannungsmotiven ab 1955 zeichnet Hans-Peter Schwarz in einem Kapitel seiner Adenauerbiographie differenziert nach. Vgl. Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 402-439.

Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion nach 1955/56

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Eine relative Selbständigkeit in begrenztem, stufenweisem und kontrollierbarem Umfang zu vergrößern, lag aber durchaus im Machtverständnis der UdSSR, die immer mit der Frage konfrontiert blieb, was ihr die DDR politisch und wirtschaftlich abverlangte. Die „Kosten" stiegen immer dann besonders an, wenn - siehe z. B. 1953 - die Handlungsfähigkeit der SED, die von den inneren und äußeren Bedingungen abhing, sank. Eine für Moskau im ganzen „gewinnbringende", d. h. berechenbare und stabile DDR, sollte sie vor allem eine politisch zuverlässige Bündnisgenossin sein, ließ sich auf Dauer nur durch die allmähliche Umwandlung von oktroyistischen in zumindest begrenzt partnerschaftliche Strukturen der Beziehung entwickeln, durch die Metamorphose der DDR vom bloßen Objekt zum bedingt autonomen Subjekt der Politik. Ein solcher Prozeß hätte produktive innere Kräfte freigesetzt und ineffizienten außenpolitischen Ressourcenverbrauch reduziert. Er schloß Gegensätze nicht aus, wäre aber durch das spezifische Verhältnis von SED und KPdSU, das der gemeinsamen Ideologie innere Festigkeit verlieh, und von der prinzipiellen Übereinstimmung der Ziele und Interessen getragen und geleitet worden. Wenn es bei der Führung der SED eine Idealvorstellung von der Gestaltung der deutsch-sowjetischen Beziehungen gegeben hat, dann die, daß die kommunistische Leitmacht der DDR mehr innere Entscheidungsfreiheit und außenpolitische Mitbestimmung bei steigender Garantie- und Solidaritätsleistung für Bestand und Entwicklung gewährte, diese aber nicht mit Gegenleistungen verband, die eine innere Konsolidierung der DDR, den ökonomischen Aufschwung und die völkerrechtliche Anerkennung hemmten. War die UdSSR dazu willens und in der Lage? Sollte es der DDR nach 1956/57 gelingen, ihre vor allem deutschlandpolitisch relevanten Handlungsspielräume allmählich, aber deutlich zu vergrößern, mußte sie zunächst die folgenden vier Faktoren einer sich bereits abzeichnenden Veränderung der sowjetischen Politik gegenüber der DDR analysieren: Erstens den weit- und machtpolitischen sowjetischen Interessenwandel. Dabei spielte die Zwei-Staaten-Theorie und das sich herausbildende europäische Gleichgewicht eine Rolle. Die DDR als vorgeschobene strategische Bastion gegenüber dem Westen wurde auch militärpolitisch stark ausgebaut. Zweitens zeichnete sich ein bündnispolitischer Wandel ab. Die DDR erhielt im Warschauer Pakt und im RGW als „Juniorpartner" der UdSSR zunehmend einen höheren Stellenwert; die DDR konnte hier initiativ werden. Drittens bildeten sich neue ideologische Motive heraus. Die DDR sollte auf der Grundlage der sowjetischen Europapolitik, insbesondere aus propagandistischen Gründen, zum östlichen Schaufenster nach dem Westen ausgebaut werden. Viertens konnten arbeitsökonomische Zwänge nicht ignoriert werden. Der UdSSR war an einer Stärkung der außenpolitischen Wirksamkeit der DDR auch aus Gründen einer internationalen sozialistischen Arbeitsteilung und Kooperation gelegen. Inwieweit konnte die SED diese wichtigen Prozesse, die nur im Kontext innenpolitischer Bedingungen und internationaler Zusammenhänge, vor allem aber in der Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Bundesrepublik wirkten, bei der Entwicklung ihrer Beziehungen zur UdSSR nutzen? Auch nach 1957 bewegte sich die Politik der SED in dem von der KPdSU abgesteckten Rahmen. Die DDR entwickelte ihr außenpolitisches Konzept im globalstrategischen Bedingungsgefüge von UdSSR und sozialistischem Lager. Das Ostberliner Politbüro betrachtete die DDR als einen „festen Bestandteil" des unter sowjetischer Führung stehenden „sozialistischen Weltsystems". In ihrem Selbstverständnis war es die „vordringlichste Aufgabe" der DDR-Außenpolitik, die Freundschaft mit der UdSSR und die „brüderliche Zusammenarbeit"

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mit den Staaten des sozialistischen Weltsystems zu festigen und weiterzuentwickeln.8 Im Vergleich mit den anderen sozialistischen Staaten habe die DDR „spezielle Aufgaben zu lösen, die sich aus dem Bestehen des zweiten deutschen Staates, der militaristisch-klerikalen westdeutschen Bundesrepublik und der aggressiven Politik des westdeutschen Imperialismus bei gleichzeitigem Fortbestehen der deutschen Nation ergeben."9 Dazu gehöre die „Unterstützung des Kampfes der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas um die Festigung ihrer staatlichen und Erringung ihrer vollen ökonomischen Unabhängigkeit"10, wie das Außenministerium der DDR in Betonung des Eintretens der SED „für friedliche, normale Beziehungen zu allen Staaten auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz" hervorhob. Schließlich wolle die DDR einen Beitrag zur Erhaltung und Sicherung des Friedens leisten und zu diesem Zweck auch in internationalen Organisationen mitarbeiten. 11 Diese nur in „fester Verbundenheit" mit der UdSSR zu lösenden Aufgaben deuteten immer wieder auf weltpolitische sowjetische Ziele hin. Sie zeigten aber auch, daß die SED bei der Forcierung ihrer völkerrechtlichen Anerkennung und Ausgestaltung der Beziehungen vor allem zu Staaten der Dritten Welt - gleichzeitig ein Faktor internationaler sozialistischer Kooperation und Arbeitsteilung - nach 1956 sowjetischerseits über einen relativ großen Handlungsspielraum verfugte. Sie entwickelte begrenzte außenpolitische Initiativen, die nach 1957 eine weitgehende Überlappung von Außen- und Anerkennungspolitik erkennen ließen. Auf Grund von deutschen Traditionen, die in ihrer Wirkung auf die DDR-Führung eingehender untersucht werden müßten, aber auch infolge der begrenzten politischen und ökonomischen Kraft der DDR und der bereits genannten innersozialistischen Kooperation lenkte die SED seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ihre Aufmerksamkeit auf den besonders für die UdSSR interessanten indisch-pazifischen Raum, auf den traditionell „deutschfreundlichen" Nahen Osten 12 , auf Westeuropa/Skandinavien und auf einzelne Staaten Schwarzafrikas. Im Unterschied zur Aufnahme und Pflege von Beziehungen zu westeuropäischen Staaten, wo der DDR von der Sowjetunion - deren gute Dienste man im Diplomatiebereich dringend benötigte - ständig hineingesprochen wurde, konnte die SED für andere Regionen, so z.B. Afrika, relativ unberührt von Interventionen ihrer Führungsmacht Gesamtpläne erarbeiten 13 und versuchen, diese ungestört umzusetzen. Hier half die UdSSR auch am massivsten. So forderte z.B. Chruschtschow den Präsidenten Guineas, Sekou Toure, im Spätherbst 1959 unumwunden auf, die DDR anzuerkennen. 14 Vor allem im Verkehr mit nichtpaktgebundenen Staaten und ihren Regierungen, besonders (zeitweilig) mit Tito, Nehru 8

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Entwurf des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA): Thesen über die Außenpolitik der DDR. Für das Parteitagsdokument, an A. Norden, 29. 6. 1962, in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/2028/52, Bl. 12f. Ebenda, Bl. 14. Ebenda, Bl. 17. Ebenda, Bl. 16. Vgl. M. Lemke, Der Nahe Osten, Indien und die Grotewohlreise im Januar 1959. Zur Anerkennungspolitik der DDR in der zweiten Hälfte der 50er Jahre, in: asien, afrika, lateinamerika, 1991, Nr. 6, S. 1027-1042. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 52/59,23.11.1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/2/676, Bl. 2. Chruschtschow fragte den afrikanischen Politiker u. a. unverblümt, warum er Westdeutschland besuche, aber nicht die DDR, „wenn er auf der anderen Seite behaupten würde, die Beziehungen zu den demokratischen Ländern festigen zu wollen." Toure zeigte sich verlegen. Vermerk über ein Gespräch zwischen dem stellvertretenden sowjetischen Außenminister Sorin und dem Botschafter der DDR Dölling am 29. 12. 1959 in: ebenda, J IV 2/202/76.

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und Nasser, zeigte sich eine beachtliche Eigenständigkeit der ostdeutschen Staatsfuhrung. 15 Es war offensichtlich alles erlaubt, was den sowjetischen Interessen nicht zuwiderlief. Ob die vom sowjetischen Globalkonzept relativ weit gesteckten Grenzen von der SED ausgetestet wurden, ist fraglich. Ostdeutsche Initiativen waren um so erwünschter, als die UdSSR in verschiedenen Staaten aus historischen, politischen oder anderen Gründen wenigstens zeitweilig nicht oder nicht ausreichend vertreten war. Das betraf vor allem Indien und Länder des Nahen Ostens. Wenngleich in den meisten Fragen Konsultationen mit der Moskauer Führung stattfanden und konkrete Aktionen ihren Interessen durchaus entsprachen, zeigte sich doch die Fähigkeit der DDR zu begrenzten Initiativen, so z. B. bei der Gestaltung der Ostseeraum-Politik. Mit der plakativen Zielsetzung, die Ostsee zum „Meer des Friedens" zu erklären, versuchte die SED mit ihren gegen die „Atomkriegsvorbereitungen der NATO im Ostseeraum" und gegen die „offen geäußerten Aggressionspläne und Kriegsvorbereitungen der Bundesrepublik im Ostseeraum" gerichteten Vorschlägen, die finnische Regierung zu erreichen. Diese sollte dann im Nordischen Rat eine politische Position vertreten, „die möglicherweise durch Schweden und Island unterstützt wird und dann nicht ohne Auswirkungen auf die Haltung Dänemarks und Norwegens bleiben kann". 16 Als flankierende Maßnahmen - sie stellten eine Art „Verpackung" für die politischen Ziele dar - schlug die DDR durchaus interessante Abkommen vor, u. a. über Fischfang, Rettung von Schiffbrüchigen, Handel, Forschung und Verkehr im Ostseeraum. 17 Diese hätten, wenn man einmal von den damit vor allem gegen die Bundesrepublik gerichteten politischen Absichten absieht, zu einer europäischen Entspannung beitragen können. Es zeigten sich auch die von der UdSSR gezogenen Grenzen ostdeutscher Koexistenzfähigkeit und Entspannungspolitik: Man sei in Moskau der Auffassung, so hieß es in einem „grundsätzlichen" Schreiben des sowjetischen Außenministeriums vom Januar 1957, „daß wir nicht für jede Minderung dieser Spannungen sind. Wir können uns nicht damit einverstanden erklären, daß die Minderung internationaler Spannungen aufgrund von Konzessionen in prinzipiellen Fragen unsererseits geschieht."18 Plötzliche Wendungen und Korrekturen der sowjetischen Außenpolitik erweiterten oder verengten die außenpolitischen Spielräume der SED beträchtlich. Auch für sie enthielt die sowjetische Politik, die oft schwer berechenbar blieb, so manche Überraschungen. Ob man z. B. bei Jugoslawien betreffenden, eher banalen Angelegenheiten 19 die Zustimmung der Leitmacht benötigte oder nicht, wann und wie man Albanien behandelte 20 , entschieden oft die Schwankungen sowjetischer Tagespolitik. Bot da nicht eine zügig fortschreitende völkerrechtliche Anerkennung der DDR - nur scheinbar paradox mit Hilfe der Sowjetunion - die Möglichkeit, Einwirkungspotenzen der UdSSR auf die Gestaltung der ostdeutschen Außenbeziehungen wenigstens partiell zu begrenzen, und eröffnete die Anerkennungspolitik nicht die Aussicht, dem ständigen Hineinreden Moskaus entgegenzuwirken? Das betraf weder die 15 16

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Vgl. Merkzettel von Schwab für Grotewohl, undat. (1956), in: ebenda, NL 90/467, Bl. 154f. Vorlage für die außenpolitische Kommission. Verbalnote an die UdSSR, undat., offensichtlich Oktober 1957, in: ebenda, IV 2/20/1. Ebenda. Schreiben des Außenministeriums der UdSSR an Grotewohl, 6. 1. 1957, in: Ebenda J IV 2/202/75, S. 5f. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 38/55,16. 9. 1955, in: ebenda, J IV 2/2/435, Bl. 5. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 52/61, 9. 10. 1961, in: lebenda, J IV 2/2/794, Bl. 2.

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deutsch-sowjetische grundsätzliche Übereinstimmung und Kooperation noch den generellen außenpolitischen Führungsanspruch der UdSSR, sondern verschiedene begleitende Umstände, Zufälle und bornierte Überspitzungen beim Umgang der KPdSU mit der Außenpolitik der DDR. Die Frage größerer Handlungsspielräume auf diesem Feld blieb freilich an nationale und internationale Bedingungen gebunden. Auf sie mußte der Apparat der SED nach 1956/57 flexibler als vor der Option der UdSSR für einen zweistaatlichen deutschen Weg reagieren. Zu den inneren Bedingungen gehörte auch die Lösung der „Kaderfrage". Zwar besaß die DDR ein Außenministerium, aber noch keinen entwickelten diplomatischen Dienst, verfugte weder ausreichend über gut geschultes Personal, noch über die Möglichkeit, dieses umfassend und schnell zu qualifizieren. Auch hier mußte auf sowjetische Erfahrung und Ausbildungshilfe zurückgegriffen werden.

2. Der begrenzte Rückzug der UdSSR aus der ostdeutschen Administration Seit 1956 ließ der direkte Druck der UdSSR auf die innenpolitischen Verhältnisse der DDR langsam nach. Diese Minderung resultierte auch aus der nun auch vertraglich verankerten Auffassung der sowjetischen Führung, daß die ostdeutschen Verbündeten ihren eigenstaatlichen Weg zu gehen hätten und nicht mehr wie Helfer auf Abruf oder gar willenlose Erfüllungsgehilfen auf Zeit zu behandeln seien. Die bis 1954/55 der DDR gegenüber de facto praktizierte Geringschätzung und die rigorosen politischen und wirtschaftlichen Eingriffe verboten sich zum einen angesichts der erstrebten inneren Konsolidierung. Sie ließen sich auch mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in der Welt, vor allem in Westdeutschland, nicht mehr vertreten. Zum anderen verringerte ein Rückzug der UdSSR aus der unmittelbaren Verwaltung der DDR, ohne daß man die Kontrolle über diese im Prinzip aufgab, die Kosten für die UdSSR. Vor allem sparte man Personal ein. Da das seit 1948 auf Ostdeutschland in modifizierter Form übertragene sowjetische Staats- und Herrschaftsmodell weitgehend zu funktionieren schien und die differenzierte Sowjetisierung mit deutschen Kräften fortschritt, konnte der sowjetische Apparat ohne Risiko reduziert werden. Im begrenzten Umfang konnte die UdSSR Kontrollfunktionen sowohl über die sowjetische Botschaft in Ostberlin als auch über die Führungsorgane der in der DDR stationierten sowjetischen Truppen ausüben. Angesichts der veränderten Situation benötigte die sowjetische Regierung insbesondere das weitverzweigte Netz von administrierenden und kontrollierenden sowjetischen „Beratern" nicht mehr, die überall in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und in den verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen der DDR arbeiteten und denen die Organe der DDR weitgehend rechenschaftspflichtig waren. Ihr schrittweiser Abzug brachte der Führung der SED aber nur bedingt einen Souveränitätsgewinn. Als Ulbricht der KPdSU bereits Ende 1955 vorgeschlagen hatte, die Zahl der sowjetischen militärischen Berater „im Einklang mit der Neuorganisierung der Streitkräfte der DDR" zu reduzieren, stimmte der Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, dem Ersuchen zwar zu 21 , doch sollten militärische Berater bei allen bewaffneten Organen der DDR, u.a. auch bei den neuen, nach „sowjetischem Muster" bewaffneten 21

Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 25. 2. 1956, in: ebenda, J IV 2/202/244, Bd. 1.

Der begrenzte Rückzug der UdSSR aus der ostdeutschen Administration

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Grenztruppen 2 2 , verbleiben. Das Politbüro der SED zeigte sich aber befremdet, als das Präsidium der KPdSU Ende 1956 beschloß, seine Berater aus der Plankommission, aus dem Finanzministerium und aus verschiedenen Industrieministerien der DDR abzuziehen. Diese sowjetische Entscheidung kam der SED zu abrupt. Jetzt zeigte sich die Ambivalenz ostdeutscher Unabhängigkeitsambitionen. Offensichtlich fürchtete man im Politbüro Turbulenzen und Einbrüche in der Wirtschaftsverwaltung, wenn man die „Freunde" übergangslos abzog. Das höchste Gremium der SED bat die KPdSU deshalb, die sowjetischen Berater - mit Ausnahme des Hüttenwesens - in der Wirtschaft zu belassen. 23 Dem Ersuchen gab Moskau nicht statt. So begann im Frühjahr 1957 der planmäßige allmähliche Abzug. Nur im Kerntechnikbereich und in der Kernforschung verblieben sowjetische Spezialisten. Wegen der im Innenministerium tätigen Berater führte Ulbricht im Auftrag des Politbüros mit Sowjetbotschafter Georgi M. Puschkin Gespräche. 24 Sie verliefen für die SED zufriedenstellend. Moskau zog sie nicht ab. Die noch zeitweilig in der DDR verbleibenden Berater und Spezialisten der UdSSR begannen offensichtlich die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. Das lief in einigen Fällen auf eine deutliche Kritik an der Wirtschaft der DDR hinaus. So hielt sich der im Frühjahr 1957 berichtende sowjetische Fachberater in der Staatlichen Plankommission der DDR, Kotow, mit Anmerkungen über das unzureichende Wachstum der Arbeitsproduktivität in Ostdeutschland, über eine Entwertung des Arbeitslohnes als Leistungsstimulus und mit dem Nachweisen schwerer Fehler der SED nicht zurück. 25 Das verärgerte die Führung der SED, die 1957 und 1958 ihrerseits Anstoß an der gelegentlich auch selbstherrlichen Arbeit sowjetischer Spezialisten nahm. Zwar konnte man auf sie nicht überall verzichten - gerade beim Bau des ersten Atomkraftwerkes der DDR benötigte man Fachwissen und sowjetisches Material - 2 6 , doch bedeutete man der KPdSU, daß man in Ostberlin über das Auftreten der sowjetischen Fachleute nicht immer glücklich sei. Moskau reagierte am 8. August 1958 mit dem Beschluß, „alle sowjetischen Berater und Konsulenten" aus der DDR abzuberufen und mit der SED „über eine wesentliche Verringerung der Anzahl sowjetischer Spezialisten zu beraten, die zur technischen Hilfeleistung entsandt werden". Man begründete den Schritt wie folgt: Es sei für die sowjetische Seite schwierig, „die Tätigkeit eines jeden in der DDR beschäftigten sowjetischen Beraters oder Spezialisten im Blickfeld zu behalten. Diese Spezialisten sind zwar gute Fachleute auf ihrem Spezialgebiet, aber nicht alle von ihnen haben immer das richtige Verständnis für die politische Situation und die nationalen Besonderheiten der DDR. Deshalb sind gewisse Mißverständnisse nicht ausgeschlossen, und das kann natürlich unseren brüderlichen gegenseitigen Beziehungen nicht dienlich sein." 27 Einerseits bedeutete der Abzug von sowjetischen Beratern und Spezialisten einen fachlichen Verlust, der kompensiert werden mußte; andererseits war damit für die SED, wenngleich sie die „sowjetischen Genossen" mit Freundschaftsbeteuerungen überhäufte, der 22

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Vgl. Entwurf eines Schreibens Ulbrichts an den sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin, 2.9.1955, in: ebenda, J IV 2/202/64. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 63/56,1. 12. 1956, in: ebenda, J IV 2/2/517, Bl. 4. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 6/57, 5. 2. 1957, in: ebenda, J IV 2/2/526, Bl. 12. Papier des sowjetischen Fachberaters Kotow an G. Ziller, Sekretär für Wirtschaft des ZK der SED, 19. 3. 1957, in: ebenda, J IV 2/202/28, Bd. 2. Vorlage für das Politbüro: Direktive für die DDR-Verhandlungsdelegation (Leitung F. Selbmann), Anlage zum Arbeitsprotokoll 17/56, 10. 4. 1956, in: ebenda, J IV 2/2A/487. Schreiben des ZK der KPdSU an das ZK der SED, 9. 9. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/28, Bd. 2.

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Abbau vormundschaftlicher Kontrollmöglichkeiten in Gang gesetzt. Doch zeigte sich auch hier wieder eine Ambivalenz. Sie äußerte sich in den Bitten an die UdSSR, für Schwerpunktvorhaben, die mit eigenen Fachleuten nicht zu realisieren waren, kurzfristig sowjetische Spezialisten in die DDR zu entsenden, zunehmend aber auch in Ersuchen, DDR-Kader in der UdSSR auszubilden 28 . Ulbricht schlug im Februar 1956 in einem Brief an Chruschtschow sogar vor, das Fachwissen von in der UdSSR arbeitenden deutschen Wissenschaftlern (u. a. Max Steenbeck und Peter Adolf Thießen) 29 auch der DDR zur Verfügung zu stellen. Bereits im Vorfeld des XX. Parteitages der KPdSU im Februar 1956 deutete sich eine Verfeinerung sowjetischer Penetrationsmethoden im Innern der DDR an. Diese zeigte sich zunächst optisch. So erfüllte die Rückgabe der Dresdner Gemälde, von Chruschtschow als eine Maßnahme mit „wichtiger politischer Bedeutung zur weiteren Festigung der politischen Positionen der DDR" 30 gesehen, überwiegend eine propagandistische Funktion. Demgegenüber stellten die Beschlüsse der sowjetischen Regierung nach dem XX. Parteitag politische Konzessionen an die SED dar. Die Halbierung der Besatzungskosten, die Lieferung von Rüstungsgütern zu günstigen Kreditbedingungen und vertragliche Vereinbarungen, u. a. die Stationierung von sowjetischen Truppen betreffend, deutete zumindest auf mehr Flexibilität der KPdSU hin. Das veranlaßte die SED-Führung zu neuen vorsichtigen Sondierungen. Dabei waren Hinweise auf die politische Aufwertung der Bundesrepublik in der NATO gelegentlich durchaus hilfreich. Grotewohl bat die UdSSR deshalb, einen Vertreter der DDR ins Oberkommando des Warschauer Militärpaktes aufzunehmen, weil das international „eine wichtige Frage des Ansehens der DDR in bezug auf ihre Gleichberechtigung und ihre Souveränität" und innenpolitisch notwendig sei „zur Stärkung des Ansehens der Arbeiterund-Bauernmacht". Jetzt sei es so, daß die SED öffentlich die Existenz der Polizei, aber nicht die Aufstellung von bewaffneten Streitkräften zugebe. „Selbstverständlich glaubt uns das kein Mensch." 31 Nun kritisierten Regierungsstellen auch Übergriffe und Entgleisungen sowjetischer Militärs in der DDR, 32 und Ulbricht beschwerte sich direkt bei Chruschtschow über sowjetische Wirtschaftsfunktionäre, die von der SED eine Offenlegung der „wirklichen Ziffern über die Lebenshaltung in Westdeutschland" verlangten: „Bisher waren wir der Meinung, daß eine objektive Information über den tatsächlichen höheren Lebensstandard in Westdeutschland und die höhere Arbeitsproduktivität als vertrauliches Material lediglich dem Politbüro und dem Zentralkomitee der SED gegeben werden muß [...]. Es kann jedoch nicht unsere Aufgabe sein, durch Veröffentlichungen bestimmter Zahlen die Republikflucht zu fördern." 33 Selbstbewußter und fordernder trat die SED jetzt auch in der Frage einer vorteilhafteren Regelung der zugunsten des sowjetischen Atomrüstungsprogramms produzierenden Wismut-AG auf. Bereits im Juni 1956 lag im Politbüro ein entsprechender Protokollentwurf vor. Dessen Grundidee war es, bestimmte finanzielle Aufwendungen der DDR bei der Uranproduktion

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Vgl. Entwurf eines Schreibens Ulbrichts an Chruschtschow, 6.1.1959. Vgl. dazu das positive Antwortschreiben Chruschtschows an Ulbricht, 24. 1. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/29, Bd. 3. 29 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 11.2. 1956, in: ebenda J IV 2/202/28. 3° Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 20. 3. 1955, in: ebenda, J IV 2/202/25, Bd. 1. 31 Stellungnahme Grotewohls zum Schreiben des sowjetischen Außenministeriums, 6. 1. 1956, in: ebenda, NL 90/301, Bl. 321. w Vgl. Schreiben von Staatssekretär O. Winzer an Grotewohl, 28.12.1956, in: ebenda, NL 90/471, Bl. 292. 33 Schreiben Ulbrichts an das ZK der KPdSU, 11. 5. 1956, in: ebenda, J IV 2/202/335, Bd. 1, S. 1.

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von den Besatzungskosten für die Rote Armee abzuziehen. Der Vertrag mit der UdSSR vom 17. Juli 1956 war für die DDR wirtschaftlich immer noch nachteilig, sollte aber nach Anweisung des Politbüros so gehandhabt werden, daß die von der SED faktisch erhandelten „abgesprochenen politischen Grundsätze" sowohl des Wismut- als auch des Truppenstationierungs-Abkommens „im vollen Umfang gewahrt bleiben." Hier ging es der SED um formelle Gleichberechtigung und um ein beträchtlich erweitertes praktisches Mitspracherecht. Deshalb wies das Politbüro seine Unterhändler an, weitere Verhandlungen in Moskau in diesen Fragen „nach dem Grundatz: Wert gegen Wert" und so zu fuhren, daß weder der Staatshaushalt der DDR zusätzlich belastet werde noch „der politische Sinn des Abkommens" mit der UdSSR verlorengehe.34 Andererseits verunsicherte der XX. Parteitag Ulbricht und die engere Führung der SED, obgleich er ihnen doch neue Freiräume eröffnete. Weil die Entstalinisierung, zu der Ulbricht nach bewährter Art gute Miene machte, für ihn letztlich ein ideologischer Störfaktor war, setzte er alles daran, die sowieso inkonsequent betriebene Abrechnung mit dem „Personenkult" und den heuchlerisch als politische „Überspitzungen" bezeichneten Verbrechen in der Ära Stalin schnell zu beenden. Ulbricht ärgerte sich auch über den Umstand, daß die Geheimrede Chruschtschows die SED vollkommen unvorbereitet traf, daß diese - wie er dem Ersten Sekretär der KPdSU mitteilte - der Londoner Presse entnommen werden mußte. 35 Ulbricht beunruhigte die Gefahr der politischen Liberalisierung der DDR durch politische Reformen und Entwicklungen, die er immer mit der Herausbildung und dem Wirken einer als „Konterrevolution" empfundenen Opposition assoziierte.36 Er sah sie auch durch ein internationales „Tauwetter" entstehen. In Prag, anläßlich einer Besprechung mit der Führung der KPC im Oktober 1956, rechtfertigte er seine Bedenken gegen den vom XX. Parteitag ausgehenden Impuls einer europäischen Entkrampfung mit einem Hinweis auf die innenpolitischen Konsequenzen: „Die Politik der Entspannung hat auch in den Reihen der sozialistischen Kräfte in der Deutschen Demokratischen Republik hier und da zu Schwankungen geführt. Es entstand eine gewisse Nervosität, die verstärkt wurde durch Äußerungen entarteter Journalisten in polnischen Zeitungen" 37 . So wog Ulbricht die für die Herrschaft der SED relevanten Risiken und positiven Ergebnisse des XX. Parteitages sorgsam ab. Wenngleich sich die Eigenständigkeit der SED vergrößerte, verzichtete die KPdSU in keiner Weise auf die Penetration der DDR. Zwar erhielten Direktiven den freundlicheren Ausdruck gutgemeinter Empfehlungen und Ratschläge. Sie bedienten sich stärker informeller Strukturen und gingen immer häufiger von sachbezogenen Konsultationen aus. Oft nahmen Anfragen der SED an Moskau den Charakter des „vorauseilenden Gehorsams" an. So blieben sowjetische „Wünsche" verbindliche Handlungsorientierungen, wirkten in die unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Bereiche der DDR hinein, reglementierten noch oft bis in die Details. So erteilte Chruschtschow Ratschläge über die Dauer des Wehrdienstes in der DDR 38 , begutachtete die KPdSU die Rechenschaftsberichte und andere Materialien der SED-Parteitage, entschied in „letzter Instanz" sogar, ob ihr die von Ulbricht 34 35 36

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Beschluß des Politbüros, Protokoll 54/56, 30. 10. 1956, in: ebenda, J IV 2/2/508, Bl. 2. Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 19. 3. 1956, in: ebenda, J IV 2/202/315. Vgl. Chr. Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970, Bonn 1988, S. 303308. Bericht (Ulbrichts) über die Verhandlungen von Parteidelegationen der ZK's der SED und der KPC am 9./10. 12. 1956 in Prag, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/202/360, Bd. 1, S. 2. Vgl. Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 30. 12. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/70.

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vorgeschlagenen SED-Parteitagstermine paßten, und erhielt von diesem die Versicherung, daß die SED den Entwurf ihres neuen Parteiprogramms „erst dann zur Diskussion" veröffentlicht, „wenn Ihre Meinung [des ZK der KPdSU - M. L.] dazu vorliegt."39 Interventionen der Sowjetregierung, die den der SED eigenen inneren Rigorismus entschärften, blieben aber ebenfalls auf der Tagesordnung. So riet man z. B. der SED im Dezember 1957 dringlich, gegen oppositionelle Kräfte in den Kirchen nicht immer nur mit administrativen Maßnahmen vorzugehen und sich besser „nicht in rein religiöse Fragen einzumischen." 40 Am deutlichsten spiegelten sich die Unterschiede zwischen den Interessen der UdSSR und denen der DDR bei der Wirtschaft und bei den mit dieser verbundenen „prinzipiellen" Problemen ideologischen Zuschnitts wider.

3. Die „Republikflucht" als ostdeutsch-sowjetisches und als Bündnis-Problem Bereits 1956, noch deutlicher ab 1957, wurden in der Führung der KPdSU Bemühungen sichtbar, die Attraktivität der DDR zu erhöhen. Das war zum einen eine Folge des Entschlusses, die DDR zu erhalten, sie zum dauerhaften zweiten deutschen Staat auszubauen. Ob Chruschtschow, etwa im Rahmen einer sowjetischen Langzeitvorstellung oder visionär, die DDR tatsächlich als „Zukunft der ganzen deutschen Nation" sah,41 muß dahingestellt bleiben. Zum anderen wurde im Präsidium der KPdSU die Notwendigkeit betont, in einer Zeit, die politisch und strategisch so „siegreich" zu verlaufen schien, auch das wirtschaftliche und soziale Image des Sozialismus aufzubessern. Schon wegen ihrer Geschichte und geographischen Lage als deutscher Staat inmitten des Kontinents bot sich die DDR - vor allem in ihrer doppelten Eigenschaft als Teil Deutschlands und als Bestandteil des „sozialistischen Lagers" - an, zum „Schaufenster des Ostblocks" gegenüber dem Westen ausgebaut zu werden. Eine darauf abstellende Politik konnte von der Theorie der friedlichen Koexistenz, die unter Chruschtschow eine Aufwertung erfuhr, abgeleitet und durch sie begründet werden. Die friedliche Koexistenz zwischen Staaten entgegengesetzter gesellschaftlicher Ordnungen stellte im Denken der kommunistischen Führer eine Form der Systemauseinandersetzung dar. So dominierte der Aspekt einer zwar klassenkämpferischen, aber friedlichen Konkurrenz zwischen den antagonistischen Systemen. Chruschtschow verwies auf die für diesen Kampf geradezu „idealtypische" DDR: „Dort sind die Grenzen einfach offen und es erfolgt eine ständige Berührung mit der kapitalistischen Welt, zu der ja die Deutsche Bundesrepublik gehört. Dort wird nicht nur eine ideologische Schlacht geschlagen, sondern eine ökonomische Schlacht zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Dort wird der Vergleich gezogen, welche Ordnung bessere materielle Bedingungen schafft: die in Westdeutschland oder die in 39

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Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 27. 9. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/1. Vgl. auch Schreiben Ulbrichts an Botschafter Puschkin, 25.1.1956, und ein Telegramm Ulbrichts an Chruschtschow, 15. 9. 1962 sowie Bemerkungen der sowjetischen Führung zum Entwurf des Rechenschaftsberichts des ZK der SED an den VIII. Parteitag der SED (1971), ebenda. Aktenvermerk über ein Gespräch Botschafter Königs mit dem stellvertretenden sowjetischen Außenminister Sorin, 31. 12. 1957, in: ebenda, J IV 2/202/67. Internes Material der Agitationskommission des ZK der SED, 1. 7. 1963, in: ebenda, IVA 2/902/112.

Die „Republikflucht"

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Ostdeutschland. So steht heute die Frage." 42 Mit seiner Anmerkung, die Festigung der DDR sei nicht nur „Ehrensache für die Deutschen", sondern - an die in Moskau versammelten Führungen der Ostblockstaaten gewandt - „auch für uns alle, für alle Länder des sozialistischen Lagers" 43 , verwies der sowjetische Erste Sekretär auf die Notwendigkeit des „sozialistischen Internationalismus". Aber dessen Mobilisierung erwies sich als außerordentlich schwierig, mußte doch den „Bruderländern", aber auch der sowjetischen Bevölkerung, erklärt werden, daß es notwendig sei, für die DDR - trotz ihres im Vergleich mit der UdSSR höheren Lebensstandards - Opfer zu bringen, weil die DDR eben - pars pro toto - die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus unter Beweis zu stellen habe. 44 Damit verbunden blieb ein implizit magnettheoretischer Aspekt: Es sei erstrangige Aufgabe der DDR - wie es in einem Briefentwurf Ulbrichts an Chruschtschow vom Mai 1958 hieß - „die Überlegenheit des Sozialismus besonders in Deutschland sichtbar zum Ausdruck zu bringen und die DDR zu einem anziehenden Beispiel für die Arbeiterklasse und alle Werktätigen Westdeutschlands sowie der anderen kapitalistischen Staaten Europas zu machen." 45 Damit waren von der UdSSR und der DDR Aufgaben und auch an die übrigen Verbündeten gerichtete Ansprüche formuliert und ein prinzipieller Konsens zwischen KPdSU und SED hergestellt worden: das Ziel der Stabilisierung der DDR, um diese im Auftrag und mit Hilfe des Gesamtlagers zum ausstrahlungsfähigen sozialistischen Musterstaat zu entwickeln. Doch war diese Übereinstimmung 1957/58 weitgehend eine Absichtserklärung. Inwiefern war ihre praktische Umsetzung an der Realität gemessen worden? War sich die Führung der UdSSR vor allem über die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser ideologischen und zunächst deklamatorischen Zielsetzung im klaren? Wie schätzte sie die inneren Schwierigkeiten der DDR ein? Auch die KPdSU hatte ihr 17. Juni-Syndrom. Sie befürchtete eine erneute Destabilisierung der inneren Verhältnisse in der DDR, wenn es deren Führung nicht gelänge, gravierende gesellschaftliche Probleme zu lösen. Besondere Brisanz erhielt die Frage der Republikflucht. Sie nahm für die Herrschaft der DDR immer mehr existentiellen Charakter an. Hunderttausende von Bürgern flohen, ganz unterschiedlich motiviert, in den Westen. 46 Die nach Auffassung der kommunistischen Führung illegale Abwanderung von Facharbeitern, hochqualifizierten Technikern, von Wissenschaftlern, Ärzten, Lehrern u. a. schadete der Wirtschaft des Landes. Vor allem beunruhigte die Ostberliner Führung die Massenflucht von Jugendlichen, die, von der SED als Zukunft der Republik empfunden, besonders gefordert, aber auch bevormundet und in ihrem Drang nach Freiheit (um sich auszuprobieren) gehemmt wurden. Der durch die miserablen Bedingungen in der DDR ausgelöste Aderlaß besaß aber noch eine, auch in Moskau registrierte Nebenwirkung: Die Bundesrepu42

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Papier: „Genosse Chruschtschow führte bei der Eröffnung aus" (offensichtlich Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages, 27./28. 1. 1956, Prag), in: ebenda, J IV 2/202/272, Bd. 1, S. 8. Ebenda, S. 9. Vgl. die Notizen Grotewohls von der Rede Chruschtschows auf der Tagung der kommunistischen und Arbeiterparteien der Staaten des RGW in Moskau, 20.-23. 5. 1958, in: ebenda, NL 90/468, Bl. 167. Entwurf eines Schreibens Ulbrichts an Chruschtschow, 3. 5. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/29, Bd. 3. Während im Jahr 1954 mit 184 198 im Westen registrierten Republikflüchtigen ein „Tiefstand" erreicht wurde, schnellten die Zahlen bald wieder hoch. 1955 flohen 252 870 Menschen, 1956 waren es 279189, 1957 wieder 261622.1958 ging die Fluchtbewegung etwas (204092), 1959 deutlich (143 917) zurück, um 1960 wieder kräftig (199188) anzusteigen. 1961, bis zum „Mauerbau", verließen noch einmal 155402 Menschen die DDR. Vgl. H. Weber, Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S. 103.

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blik als die ostdeutsche Bezugsgröße, für viele Maß aller Dinge, partizipierte durch den Zustrom qualifizierter Fachkräfte auf fast allen Gebieten. So konnte sie verschiedene Aufwendungen und Ausgaben für die Ausbildung eigener Kräfte einsparen, was freilich betrachtet man die überfällig gewordenen Veränderungen im westdeutschen Hochschulbereich - nicht nur positiv wirkte. Die Moskauer Führung bewertete den wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Schaden der Republikflucht für die DDR und für ihren gesamten Machtbereich sehr hoch. Bereits bei der Verordnung des „Neuen Kurses" für die SED hatte die sowjetische Parteiführung Anfang Juni 1953 in Moskau - hier besonders von Lazar Kaganowitsch betont - auf das „schlimme" Problem 47 hingewiesen. Wenngleich die KPdSU-Führung über Ausmaß und Wirkung des Phänomens weitgehend informiert war, zeigte sich doch ein gewisses Moskauer Unverständnis über seine Ursachen und die mangelnden Erfolge der SED bei seiner Bekämpfung. Der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Otto Nuschke, dem man als Vorsitzenden der Ost-CDU gute Beziehungen zur UdSSR nachsagte, berichtete am 4. Februar 1957, daß Chruschtschow ihn eindringlich gefragt habe, wie es denn nur möglich sei, „daß bei Euch die Republikflucht diesen Umfang annimmt?" Die Sowjetregierung erbat sich Erklärungen; auch der Vorsitzende des Obersten Sowjets Kliment Woroschilow, brachte die Frage zur Sprache."48 Nuschke signalisierte Ulbricht, man dürfe sich nicht darüber täuschen, daß die Republikflucht „eine ernste Sorge nicht nur von uns [...], sondern auch unserer sowjetischen Freunde ist."49 Das Politbüro beging den Fehler, das Problem auch gegenüber den eigenen Verbündeten herunterzuspielen. Das Ausmaß des eigenen Versagens, das immer die Gefahr für eine Einengung ostdeutscher Handlungsspielräume durch die UdSSR heraufbeschwor, gab zu „Schönfärbereien" Anlaß. Die Massenflucht der eigenen Bevölkerung störte auch die Bemühungen der SED um internationale Anerkennung. Politbüromitglied Albert Norden wies Ulbricht vollkommen zu Recht daraufhin, daß „ausnahmslos bei allen individuellen Gesprächen" wie auch Pressekonferenzen, die von DDR-Vertretern im Ausland bestritten wurden, die „Frage der Republikflucht" gestellt werde. 50 So hielt das Politbüro das Problem auch gegenüber der westlichen und neutralen Welt wegen des daraus resultierenden ungünstigen Images künstlich klein. Ulbricht, u.a. von einem amerikanischen Magazin im Mai 1959 über den Umfang der Fluchtbewegung befragt, log ganz offensichtlich 51 . Auch Ministerpräsident Grotewohl sagte z. B. anläßlich eines Gespräches mit dem indischen Ministerpräsidenten Nehru im Januar 1959 die Unwahrheit. 52 Es bedurfte eigentlich nicht sowjetischen Drucks, um die Aufmerksamkeit des Politbüros der SED immer wieder auf das nach 1959 eskalierende Problem zu lenken. Dennoch wirkten die sowjetischen Nachfragen als Katalysator für ostdeutsche Maß47

Aufzeichnung des Gesprächs der SED-Führung mit dem sowjetischen Politbüro durch Grotewohl, 3. 6. 1953, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/286, Bl. 15. 48 Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 4. 2. 1957, in: ebenda, NL 90/506, Bl. 14f. « Ebenda, Bl. 15. so Schreiben Nordens an Ulbricht, 12. 4. 1960, in: ebenda, IV 2/2028/2, S. 6. 51 Vgl. Stenografische Mitschrift des Gesprächs Ulbrichts mit den Herausgebern des Magazins „Look" im Hause des ZK der SED, 19. 5.1959, in: ebenda, J IV 2/202/312, S. 5. 52 Grotewohl erklärte Nehru, diese „Bevölkerungsbewegung" sei „zum großen Teil darauf zurückzufuhren, daß viele Familien, die [...] unter Kriegseinwirkungen in die östlichen Gebiete wanderten, sich wieder vereinigen." Protokoll über die Unterredung zwischen Grotewohl und Nehru, 12.1. 1959, in: ebenda, NL 90/491, Bl. 228.

Die „Republikflucht"

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nahmen, die immer nur ein Herumkurieren an Erscheinungen einer systeminternen, nicht zu beseitigenden Ursache sein konnten. So herrschte im Politbüro denn auch nicht die Illusion, daß sich die Republikflucht völlig beseitigen ließe. Man könne sie höchstens „eindämmen" oder „abstoppen". Ulbricht verzichtete aber auch im engeren Kreise niemals darauf, die wahren Gründe dieser „Abstimmung mit den Füßen" zu verschleiern. Sechzig Prozent der Fluchten seien auf „Unzulänglichkeiten in unserer Arbeit" zurückzuführen, hätten zumeist einen „ökonomischen Ausgangspunkt". Wenn fünfundsiebzig Prozent der Abwandernden Jugendliche seien, so verkündete er noch im Januar 1961, zeige das nur, „daß die Schule ihre Aufgaben nicht genügend erfüllt." 53 Man versuchte der Sache immer stärker administrativ beizukommen, fand, als das fruchtlos blieb, die Schuldigen im Staatsapparat54, und man begnügte sich letztlich damit, den Schaden, der nach der erzwungenen Kollektivierung in der Landwirtschaft 1960 besonders groß war, genauer zu registrieren.55 Besonders ärgerlich - und auch davon erfuhr die UdSSR - war die hohe Fluchtrate bei Mitgliedern der SED, hier vor allem bei „langjährigen Parteimitgliedern".56 Der Riß durch die DDR-Gesellschaft verlief auch durch die Partei. „Starke ideologische Unklarheiten, der Unglaube an den Sieg unserer Sache, die direkte Feindeinwirkung und Abwerbung" aber auch die „falschen Methoden in der Behandlung der Menschen" 57 sah das Politbüro schließlich als die wesentlichen Ursachen für eine seit 1960 dramatisch eskalierende Bedrohung an. Gleichzeitig nahm die Parteiführung wahr, daß der „Flüchtlingsstrom aus der DDR" die „Aufklärung über die DDR bei den westdeutschen Menschen" ad absurdum führte. 58 Kamen dennoch eine Reihe Westdeutscher bzw. rückkehrender Flüchtlinge in die DDR, um hier zu leben, empfingen sie in den Aufnahmelagern traurige Verhältnisse. „Die Genossen vom Ministerium für Staatssicherheit und der Kriminalpolizei", so wurde es Norden zugetragen „[gingen] in einem Ton mit den Zuwanderern und Rückkehrern um, der unseres Erachtens untragbar ist. Bei jeder Gelegenheit werden die Westdeutschen angebrüllt und zusammengestaucht, so daß viele von ihnen völlig verzweifelt sind." So werden durch das „rüde Auftreten" des M ß und der Kriminalpolizei alle Bemühungen, den „humanistischen Inhalt unserer Politik" den Rückkehrern nahezubringen, schloß der Bericht, „einfach Lügen gestraft". 59 Im zweiten Halbjahr 1961 geriet das Problem Republikflucht, das ja immer mit dem „Störfaktor" Westberlin verbunden war, gänzlich zu einer Existenzfrage für die DDR. Zum Ärger der SED erklärte Chruschtschow das Phänomen vor allem mit „ökonomischen Ursa53

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Wörtliche Ausfuhrung Ulbrichts. „Stichwort-Protokoll", Anlage 3 zum Protokoll 1/61, Sitzung des Politbüros vom 4. 1. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/743, Bl. 26. ZK-Abteilung Sicherheitsfragen: „Bericht über den Einsatz der Brigade der Abteilung Sicherheitsfragen im Bereich Bezirksbehörde der Volkspolizei Neubrandenburg und Bezirksverwaltung des MfS", in: ebenda, IV 2/12/83, S. 6f. Vgl. Schreiben des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Neubrandenburg, Ewald, an Ulbricht, 17. 6. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/50. Vgl. Vorlage für das Politbüro. Anlage 10 zum Protokoll 9/61,21.2.1961, in: ebenda, JIV 2/2/751, Bl. 187, 192. Ebenda, Bl. 188. Gesamtdeutsche Kommission beim Politbüro (Geggel): „Ansichten und Argumente von SPD-Genossen", undat. (1961), in: ebenda, IV 2/2028/25. Aktennotiz von Dengler (Büro des Präsidiums des Nationalrates) an Norden, 4.3.1961, in: ebenda, IV 2/2028/64, Bl. 22,

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chen", sah es weniger - wie in Ostberlin - als „eine Erscheinung des Kalten Krieges".60 Das tat der Erkenntnis der sowjetischen Führung keinen Abbruch, daß die Republikflucht radikal gestoppt werden müßte, wenn der deutsche Oststaat nicht verloren gehen sollte. Dafür warb Ulbricht auch bei den anderen Verbündeten um Unterstützung. In einem Briefentwurf an den polnischen Parteichef Wladislaw Gomulka argumentierte er dann auch sehr „ökonomisch". Westberlin sei eben das „Loch", durch das jährlich 1 Milliarde Mark aus der DDR abfließe; „von den Schwierigkeiten, die die Republikflucht mit sich bringt, ganz zu schweigen."61 So begann die Absatzbewegung erheblicher Teile der Bevölkerung der DDR zumindest seit 1960 im Denken der SED die „Lösung" - eine „Mauer" - als unausweichlich erscheinen zu lassen. Eine Klärung des Problems konnte nicht mehr lange vertagt werden. An der Flüchtlingsfrage scheiterte die Konzeption der UdSSR, die DDR bei offenen Grenzen attraktiv genug zu machen, um im Innern und nach außen anziehend zu wirken. Die Möglichkeiten des eigenen Lagers wurden überbewertet, die krisenhafte Situation in der DDR (aber auch die Attraktivität des Westens) unterschätzt. Die fortgesetzte Republikflucht behinderte aber auch den Kurs der SED auf eine größere Selbständigkeit und Souveränität der DDR.

4. Das „Schaufenster" DDR zwischen sowjetischen Wirtschaftsinteressen, „Überholpolitik" der SED und westdeutschem „Magnetismus" Wenngleich die Wirtschaft der DDR sich nach 1957 langsam zu erholen schien 62 , blieben die Probleme einer insgesamt ineffektiven Planwirtschaft prinzipiell bestehen: Die Industrie des Landes produzierte mit zuviel Aufwand zu wenig. Die Steigerungsraten der Produktion, vor allem jedoch der Arbeitsproduktivität, erwiesen sich als nicht ausreichend, um notwendige Modernisierungen durchfuhren zu können. Die Investitionstätigkeit entwickelte sich zu schwach, neue Industrien entstanden nicht im notwendigen Tempo; es mangelte besonders an modernen Technologien. Die Planungsbürokratie zeigte sich im ganzen nicht imstande, die Wirtschaft auf die steigenden gesellschaftlichen Bedürfnisse einzustellen. Bei ihr äußerte sich die Tendenz, die Initiativen der Produzenten zu hemmen statt zu fördern. Es war dem Fleiß und dem Verantwortungsbewußtsein vieler Arbeiter und Angestellten zu verdanken, daß - gemessen an den Bedingungen - dennoch Beachtliches geleistet wurde. Eine Reihe von Wirtschaftsfunktionären, die sich engagiert für eine Verbesserung der ökonomischen Situation des Landes einsetzte, wies auf die Schwachstellen im Produktionsapparat kritisch hin. Eine dieser Schwachstellen stellte der Mangel an Material und industriellen Rohstoffen dar. Die DDR, die vom ursprünglich gemeinsamen deutschen Markt getrennt war, besaß - sieht man von Braunkohle und Kali ab - weder Bodenschätze in ausreichender Menge noch die wirtschaftliche Möglichkeit, sie über den Außenhandel zu beschaffen. So verfugte die DDR über eine im Vergleich mit den RGW-Staaten und anderen Ländern große Industriekapazität, 60 61 62

Information Botschafter Döllings aus Moskau an Ulbricht, 28.8.1961, in: ebenda, JIV 2/202/76, S. 4. Entwurf eines Schreibens Ulbrichts an Gomulka, 24. 6. 1961, in: ebenda, JIV 2/202/369, S. 2. Vgl. S. Prokop, Unternehmen „Chinese Wall". Die DDR im Zwielicht der Mauer, Frankfurt/Main 1993, S. 62.

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konnte sie aber wegen des Materialmangels nicht überall voll ausnutzen. Verschiedene Rohstoffe, Halbfabrikate und moderne Anlagen konnten zwar im Westen gekauft werden, kosteten aber in der Regel Devisen, die nicht oder nur unzureichend zur Verfugung standen. Die Staaten des RGW zeigten sich, was hochwertige Rohstoffe, insbesondere Stähle und Buntmetalle anging, nicht oder nur sehr bedingt lieferfähig; es fehlten der DDR Energieträger und des öfteren verschiedene „Engpaßmaterialien", deren Ausbleiben ganze Produktionsketten unterbrach und unvertretbare Stillstandzeiten, mehr aber noch die Demotivierung der davon Betroffenen, zur Folge hatte. Angesichts der hohen Abhängigkeit der DDR von Importen spielte die Sowjetunion als größter Handelspartner der DDR eine ausschlaggebende Rolle.63 Sie vermochte auch über wirtschaftliche Mechanismen politischen Einfluß auf die SED zu nehmen, der aber wegen der eigenen relativen ökonomischen Schwäche und der Potenzen des westlichen Marktes begrenzt blieb. Nach 1955/56 verdeutlichte sich das wirtschaftliche Spannungsverhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion, aber auch zwischen beiden deutschen Staaten. Hier traten Wechselwirkungen innerhalb der drei Staaten und zwischen ihnen auf vielfältige Weise zutage. Die besondere ökonomische Lage der DDR als RGW-Mitglied und deutscher Teilstaat war der UdSSR zwar bekannt, aber nicht immer genügend bewußt. Sie wollte eine DDR als sozialistisches „Schaufenster", berücksichtigte aber den westlichen Einfluß zu wenig. Die KPdSU determinierte sowohl verschiedene wirtschaftliche Schwierigkeiten der DDR als auch Maßnahmen ihrer ostdeutschen Verbündeten, in erster Linie systemintern, während die SED nicht nur das Einwirken der Bundesrepublik, sondern auch die Aufeinanderbezogenheit beider deutscher Staaten als entscheidend negative Triebkräfte ostdeutscher Politik herausstellte. Anläßlich der Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR am 28. Mai 1958, die von Moskau als Diskreditierung des Sozialismus empfunden worden waren, schrieb Ulbricht mit Blick auf die dadurch entstandenen Kosten an Chruschtschow: „Eine besondere Komplikation besteht bei diesen Maßnahmen darin, daß wir unsere Entscheidung nicht von den inneren Möglichkeiten und Bedingungen unserer Republik treffen können. Wir müssen die Wirkung unserer Maßnahmen nach Westdeutschland und Westberlin und insbesondere auf die dortige Arbeiterklasse sorgfältig berücksichtigen und nach diesen Erfordernissen die Bedingungen festlegen." Das zwänge z. B. zu Lohnerhöhungen in verschiedenen Branchen, um, wie Ulbricht fortführte, „damit ein Argument unserer Feinde [zu] beseitigen, daß bei uns Arbeiter niedrigere Löhne erhalten als in Westdeutschland". Auf systemimmanente Faktoren kam der deutsche Erste Sekretär aber auch zu sprechen: „In einigen Produktionszweigen ist das gegenwärtige System der Entlohnung kein Anreiz zur Steigerung der Arbeitsproduktivität." Notwendige Mehrausgaben wolle das Politbüro dadurch bestreiten, „daß die Steuern für die Kapitalisten erhöht werden." 64 Auch hier zeigt sich die eigenartige Symbiose vom Erkennen bestimmter Ursachen und der völlig unzulänglichen, im konkreten Fall das Problem eher verschärfenden Lösungsansätze. Knapp waren die ökonomischen Ressourcen und Vorräte tatsächlich, und selbst auf dem Höhepunkt einer relativen Stabilisierung der ostdeutschen Verhältnisse herrschte - vor allem 63

Eine differenzierte Darstellung bietet M. Lentz, Die Wirtschaftsbeziehungen DDR - Sowjetunion 1945-1961. Eine politologische Analyse, Obladen 1979. « Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 21. 5. 1958, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/39, Bd. 1.

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im Nahrungsmittelbereich - „König Engpaß".65 Waren auch in der Wirtschaft die bilateralen Beziehungen von wechselseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet - sie war schon durch die Abstimmung der Perspektivpläne beider Länder bedingt; - so befand sich die rohstoffarme DDR auch ökonomisch unter dem Kuratel der UdSSR. Den Ostberliner Genossen konnte sollte es notwendig sein - der „Hahn" jederzeit zugesperrt werden. Die politische Macht und das ökonomische Übergewicht der UdSSR war einerseits erdrückend, andererseits aber die Existenzvoraussetzung für den realen Sozialismus in der DDR. Moskau gab und nahm. Die UdSSR diktierte der SED die Handelsbedingungen, verschaffte sich durch ungleiche Verträge insbesondere aus der Zeit von 1948-1953 - und das nicht etwa nur beim Uranabbau - Vorteile, kaufte zu Preisen unterhalb von Weltmarktbedingungen und legte die DDR auf ihre Wünsche fest. 66 Das betraf in hohem Maße den Maschinen-, Waggon- und Schiffbau. Die Sowjetunion partizipierte indirekt auch vom innerdeutschen Interzonenhandelsabkommen (Berliner Abkommen). Sie bezog aus Ostdeutschland zu Vorzugspreisen Waren, in denen „teures" westdeutsches (Devisen-)Material steckte. Die UdSSR lieferte aber auch zusätzlich Waren und vergab Kredite an die DDR, sprang unter großen Schwierigkeiten ein, wenn sich hier eine bedrohliche wirtschaftliche Lage oder eine Krise in Teilbereichen entwickelten. So blieb die wirtschaftliche Hilfe zum einen immer an konkrete Gegenleistungen gebunden, zum anderen der Politik, besonders dem Interesse der UdSSR am Erhalt des SED-Staates, prinzipiell untergeordnet. Inwieweit konnte das der SED in ihrem Bestreben, das Eigengewicht der DDR zu stärken, helfen? Bei der Beantwortung dieser Frage muß man von einem hohen Grad sowjetischer (Fremd-) Bestimmung der ostdeutschen Wirtschaft durch außerökonomische Instrumentarien ausgehen. So bedurften die Kontrollziffern für die Volkswirtschaftspläne einer Bestätigung der sowjetischen Regierung, und Aussprachen Ulbrichts mit dem sowjetischen Botschafter in Ostberlin realisierten de facto sowjetische Eingriffe in die Volkswirtschaftspläne.67 Bei diesen Gesprächen drängte die SED-Führung mit der Begründung, der jeweils neue Volkswirtschaftsplan sei in Gefahr, wenn die Sowjetunion nicht sofort eine plötzlich auftretende Lücke schließe, auf, im laufenden Plan nicht bilanzierte, Zusatzlieferungen. Oft konnte die Moskauer Regierung ganz kurzfristig z. B. Koks „mit sehr großen Anstrengungen [...] mobilisieren". Sie wies aber des öfteren daraufhin, „daß es für sie ungeheuer schwer" sei, Wünschen der SED nach verschiedenen Materialien zu entsprechen. 68 In der Tat war die UdSSR, die ökonomisch selbst „schwachbrüstig" blieb, nicht selten überfordert, so daß sie die Defizite der „DDR-Materialwirtschaft" nicht ausgleichen konnte. Bereits 1956 war die Erzeugung von Rohbraunkohle und damit von Elektroenergie, auch die Produktion von Treibstoff und Kali, von Chemieprodukten, vor allem aber von Walzstahl weit hinter dem Plan zurückgeblieben. Hinzu traten Defizite der Leicht- und Lebensmittelindustrie sowie der Landwirtschaft. Im 65

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Engpässe wurden zum Teil auf wundersame Weise „überwunden". Da es an Butter des öfteren fehlte, befand das Politbüro, man müsse die „Einschränkung des Butterverbrauchs" durch eine „große Werbekampagne für den Margarine-Verbrauch" erreichen. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 37/59, Sitzung vom 28. 7. 1959, in: ebenda, J IV 2/2A/711, S. 5. Der Wirtschaftswissenschaftler K. Pritzel verweist auf die ungünstigen Bedingungen der Exportverträge für die DDR. Vgl. ders., Die Wirtschaftsintegration Mitteldeutschlands, Köln 1969, S. 57. M. Lentz spricht direkt von einer „Übervorteilung" der DDR (Vgl. a.a.O., S. 198f. Vgl. Information an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros seitens Ulbrichts; Arbeitsprotokoll 45/56, Sitzung vom 18. 9.1956, in: ebenda, J IV 2/2A/519. Ebenda.

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Verkehrswesen fehlten 2700 Güterwagen. Die DDR war überdies bis zum Ende des Jahres (1956) bei der UdSSR mit 650-670 Mio. Rubel verschuldet; ihr Passivsaldo im Handel mit dem „großen Bruder" betrüge - wie die Staatliche Plankommission der DDR auswies - 1957 ca. 1,5 Mrd. Rubel. 69 Die Führung der SED beabsichtigte, ihre Schulden durch die Sowjetunion in einen langfristigen Kredit umwandeln zu lassen und noch zusätzlich eine Anleihe in Höhe von ca. 700 Mio. Rubel zu erbitten. In diesem Zusammenhang berechnete das ostdeutsche Finanzministerium die deutschen Leistungen für die „Wismut" und für die auf dem DDR-Territorium stationierten Sowjettruppen höher (1,450 Mrd. Rubel) als die UdSSR (1,150 Mrd. Rubel). 70 Auch hier zeigte sich mehr hartnäckiges Feilschen um Rubelmillionen als lautere „Brüderlichkeit". Seit Ende des Jahres 1957 deutete sich - ganz offensichtlich mit dem Blick auf die sowjetische Politik, die Attraktivität der DDR im sozialistischen Gesamtinteresse zu erhöhen, - im Politbüro der SED eine stärkere Tendenz an, der KPdSU wirtschaftliche Probleme unverblümter darzustellen. Diese kritischere Bestandsaufnahme verband Ulbricht mit der Beschreibung eines gefährlichen, innenpolitisch wirkenden Einflusses der Bundesrepublik. Die DDR, so schrieb er am 3. Mai 1958 an Chruschtschow, liege im Verbrauch der entscheidenden Rohstoffe, die das Tempo der ökonomischen Entwicklung bestimmten und im ProKopf-Verbrauch der wichtigsten industriellen Konsumgüter, „die von der Bevölkerung als Maßstab des Lebensstandards angesehen werden", sowie bei Genußmitteln, „weit hinter Westdeutschland zurück". Ulbricht bewertete diese Tatsache im Prinzip richtig: „Unter den Bedingungen der Spaltung Deutschlands, den Möglichkeiten des unmittelbaren Vergleichs für die Bevölkerung und der intensiven Propaganda der imperialistischen Agenturen gewinnt diese Tatsache im ökonomischen Wettstreit und bei der Bewußtseinsbildung der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten sowie in anderen europäischen Staaten die entscheidende Bedeutung." 71 Inzwischen hatte sich auch ein typischer Begründungsstereotyp der SED herausgebildet. So fuhr Ulbricht mit der ebenfalls nicht falschen Feststellung fort, daß die DDR eine ungenügende Rohstoffbasis habe und man daraus resultierende Defizite weder aus eigener Kraft noch - offensichtlich - mit Hilfe des RGW beseitigen könne. Während Westdeutschland modernisiert worden sei, habe man in der DDR „die uns noch verbliebene ökonomische Kraft" darauf konzentrieren müssen, „die Überwindung der krassesten Disproportionen zwischen der ganz ungenügenden Rohstoffgrundlage und dem Umfang der verarbeitenden Industrie in Angriff zu nehmen." So werde in der DDR zu wenig investiert, der Maschinenpark sei überaltert. Während Westdeutschland - das war der „Wink mit dem Zaunpfahl" - 5 Mrd. Dollar an Krediten erhielte, hier die Reallöhne viel schneller auf ein höheres Niveau stiegen als in der DDR und auch der Wohnungsbau in der Bundesrepublik viel umfangreicher in Angriff genommen werden konnte, sei die DDR mit viel ungünstigeren Bedingungen für ihren Aufbau konfrontiert worden. 72 Diese argumentative Kette sollte nun immer wieder auftauchen. Damit begründete Ulbricht die Bitte vor allem um langfristige Kredite in erheblicher Höhe. 7 3 Ein Teil davon - jährlich 300 Mio. Rubel - erbat er in der Form

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Leuschner (Berichterstatter): Materialien zum Volkswirtschaftsplan 1957, Arbeitsprotokoll 66/56, Sitzung des Politbüros vom 29. 12. 1956, in: ebenda, J IV 2/2A/541. Vgl. ebenda. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 3. 5. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/29, Bd. 3, S. 1. Vgl. ebenda, S. 2f. Ulbricht dachte an 2 Mrd. Rubel innerhalb des Zeitraums von 1959-1962. Vgl. ebenda, S. 3.

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freier Valuta, „um im Westen Walzstahl, Roheisen, Kupfer, Aluminium und Lebensmittel für die Bevölkerung kaufen zu können." 74 Noch klarer artikulierte sich Ulbricht gegenüber den Parteichefs der Staaten des RGW, die sich Ende Mai 1958 in Moskau zu einer wirtschaftspolitischen Konferenz trafen. Er erklärte seinen Verbündeten mit aller Deutlichkeit, daß die gemeinsame Aufgabe, die DDR „durch den Stand der Lebenshaltung und die demokratische und kulturelle Entwicklung für die Arbeiterklasse und die Werktätigen anziehend [zu machen]", nicht gelöst worden sei. „Die ursprüngliche Konzeption, die DDR als Schaufenster des sozialistischen Lagers gegenüber dem Westen zu machen, konnte bisher nicht durchgeführt werden." Es sei bislang nicht gelungen, das Lebensniveau der Arbeiterklasse in der DDR dem in der Bundesrepublik bestehenden anzunähern. „Ohne diesen entscheidenden Schritt" - resümierte der Erste Sekretär - „ist es schwer, die Massen der Gewerkschaftsmitglieder in Westdeutschland zu überzeugen." 75 Mit dieser Beurteilung der Situation versuchte Ulbricht, die Staaten des RGW zu größeren Lieferungen zu bewegen bzw. - „politisch-ideologisch" - dazu zu nötigen. Chruschtschow hielt zu seiner DDR-Linie. Grotewohl notierte sich dessen Bemerkung über die DDR als „Hauptkampflinie" mit offener Grenze nach Westen"; die UdSSR sei zur Stabilisierung ostdeutscher Verhältnisse bereit, „für die DDR zu opfern." 76 Notwendige Konsequenzen erfolgten dann allerdings nicht im erforderlichen Umfang. In der Devisenfrage entschied die KPdSU im wesentlichen ablehnend. Zwar wiederholten sich die dringlichen Bitten der DDR, trafen aber sowohl auf die engen Grenzen sowjetischer Liefer- und Kreditfähigkeit als auch auf Moskauer Eigeninteressen. Immerhin erklärte die Sowjetunion, auf die „teilweise Deckung der Stationierungskosten durch die DDR" verzichten zu wollen. 77 Die SED setzte dann in verschiedenen Verhandlungsrunden durch, daß die ostdeutschen Lieferungen an die Sowjetarmee nicht mehr zu den bislang üblichen Minimal-, sondern nach den im RGW üblichen Außenhandelspreisen bezahlt wurden. Sieht man davon ab, daß die im Warenbedarfsplan aufgelisteten Wünsche der Roten Armee in der DDR nach wie vor zu Lasten des eigenen Bevölkerungsbedarfs gingen, so war das ein Erfolg der SED, der vor allem für die Verbesserung der Außenhandelsbilanz der DDR genutzt werden sollte. 78 Da die Jahre 1958 und 1959 für die SED wirtschaftspolitisch relativ günstig verliefen, sah sich die UdSSR zu größeren ökonomischen Zugeständnissen nicht veranlaßt. Allerdings war beiden Seiten durchaus bewußt, daß die Mängel der DDR - und auch der sowjetischen Wirtschaft - nicht marginal, sondern schwerwiegend und langfristig waren und auf absehbare Zeit, wenngleich euphorische Sonntagsreden und ideologisch frisierte Zeitungsartikel der Bevölkerung eben das suggerieren wollten, nicht behoben werden konnten. Um so erstaunlicher mutete die Zielsetzung der SED auf ihrem V. Parteitag (10.-16. Juli 1958) an, die Bundesrepublik im Pro-Kopf-Verbrauch an wichtigen Konsumgütern und Lebensmitteln innerhalb weniger Jahre einzuholen und zu überholen. Einige Wochen später legte die Partei den Überholtermin auf das Jahr 1961 fest. 74 75

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Ebenda. Schreiben Ulbrichts an die Leiter der Delegationen der kommunistischen und Arbeiterparteien der Staaten des RGW auf der ökonomischen Beratung in Moskau 20.-23. 5.1958, in: ebenda, NL 90/468, Bl. 149. Handschriftliche Notizen Grotewohls über die Rede Chruschtschows a.a.O.,in: ebenda, Bl. 167. Sitzung des Politbüros vom 5. 8.1958, Anlage 2 zum Protokoll 32/58, in: ebenda, JIV 2/2/604, Bl. 11. Vgl. ebenda, Bl. 12.

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Der Parteitag verkündete die „ökonomische Hauptaufgabe", die Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen umfassend bewiesen wird." 79 Der Ansatz vom „Überholen" war von Anfang an nicht nur illusionär, sondern auch risikoreich. Wie würde die Bevölkerung der DDR reagieren, wenn man den gewünschten Lebensstandard - dem das Politbüro bezeichnenderweise immer nur materiell-ökonomische Kriterien zugrunde legte - nicht erreichte und man den Westen nicht überflügelte? In der SED glaubten viele Mitglieder und Funktionäre offensichtlich an die Realisierbarkeit dieses Ziels. Zum einen verhieß die vergleichsweise positive Wirtschaftsentwicklung - so stieg die Industrieproduktion im 1. Quartal 1958 im Vergleich zum Vorjahr um ca. zehn, die Arbeitsproduktivität (pro Produktionsarbeiter) um acht Prozent - ein schnelleres wirtschaftliches Wachstumstempo. Zum anderen erhöhte die starke Einbeziehung von Frauen in den Produktionsprozeß in der DDR den Anteil der Berufstätigen an der arbeitsfähigen Gesamtbevölkerung. Die gegenüber der Bundesrepublik höhere Beschäftigungsquote nährte die Illusion, daß man extensiv erreichen könnte, was „drüben" über intensive Wege bewerkstelligt worden war. Freilich spielte die ideologische Komponente eine Rolle. Kommunistischer Fortschrittsglaube, allgemeine Siegeszuversicht, die Erfolge der Sowjetunion vor allem im Weltraum und bei der Entwicklung der Militärtechnik, die u.a. daraus resultierende Verunsicherung in westlichen Staaten und natürlich auch das hoffnungsvolle Warten auf die große wirtschaftliche Krise im kapitalistischen System - deren Vorboten man 1957/58 zu erblicken glaubte stärkte den Glauben an die Erreichbarkeit der großen Ziele. Viele Parteifunktionäre - aber nicht nur diese - sahen überdies im RGW eine mittelfristig wirksame gewaltige Kraft, um die Wirtschaft des als krisenfrei verstandenen sozialistischen Lagers zu fördern. Sowohl die sowjetische als auch die ostdeutsche Partei- und Staatsfuhrung gingen in ihren Gesellschaftskonzepten von zügigen sozialökonomischen Veränderungen aus, die sie mit hohem Lebensstandard weitgehend gleichsetzten. Ökonomismus, „Tonnenideologie" und der Gedanke einer quantitativen Erweiterung der Produktion dominierten ein Modernisierungskonzept, das in seiner Eigenschaft als „Kampfprogramm" gegen die maßlos unterschätzte kapitalistische Marktwirtschaft außerordentlich voluntaristisch, in vielem auch einfach naiv war. Das Politbüro der SED hegte technizistische Illusionen. Dabei spielte auch die Bewunderung für die Industrialisierung der Sowjetunion in den 1930er Jahren (z. B. Magnitogorsk) eine Rolle. Es argumentierte aber auch demagogisch. Ulbricht und das Politbüro wußten, daß für ein „Überholen" weder die notwendigen Rohstoffe und Materialien noch moderne Technologien und dringend nötige Investitionsmittel ausreichend zur Verfugung standen. Da auch das Arbeitskräftepotential im wesentlichen ausgeschöpft war, verengte sich die „Überholkampagne", sofern sie nicht die Züge einer produktionsorientierten Mobilisierung von Menschen und Material trug, zu einer gegen die Bundesrepublik und den Kapitalismus gerichteten politisch-ideologischen Aktion. Sie sollte zur inneren Stabilisierung der DDR beitragen. Aufgrund der internen Äußerungen Ulbrichts vor den Beschlüssen des V. Parteitages über die wirtschaftliche Situation, von der er in der Öffentlichkeit ein geschöntes Bild entstehen ließ, 80 und angesichts der Erkenntnis des Politbüros, daß die westdeutsche Arbeitsproduktivi79

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Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der SED in Berlin, 10.-16. 7. 1958, Bd. 2, Berlin 1959, S. 1357. Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 42.

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tät um 25-30 Prozent höher als in der DDR lag, kann nicht unterstellt werden, daß die Parteiführung ernsthaft von einer Realisierbarkeit des „Einholens und Überholens" in einer derart kurzen Zeit ausging. Der politische Anspruch geriet also tatsächlich zur unwahren Parole. Mit dieser Lüge - auch wenn sie einigen Spitzenpolitikern der SED als solche nicht oder nicht voll bewußt geworden sein mag - erwies sich die SED gegenüber der Bevölkerung einen schlechten Dienst. Ihre Glaubwürdigkeit sank weiter, schlimmer noch: sie machte sich lächerlich. Witze kursierten, und sarkastische Antilosungen zur maßlosen SED-Übertreibung des „Überholen ohne einzuholen" („Überschätzen ohne einzuschätzen"), verbreiteten sich. Ein Scheitern dieser ideologischen Konzeption, die von der KPdSU gebilligt worden war, konnte sich aber auch für den Handlungsspielraum der SED fatal auswirken, wenn sie zu neuen Hilfsgesuchen an die UdSSR führte. Doch zunächst schien sich hier eine positive Tendenz abzuzeichnen. Ab 1. Januar 1959 zahlte die DDR offiziell keine Besatzungskosten für die Sowjetarmee mehr. Die UdSSR gewährte einen Devisenwaren-Kredit in Höhe von 125 Mio. Rubel und bekundete ihr Interesse, der im Aufbau befindlichen Flugzeugindustrie der DDR Großaufträge zu erteilen 81 und mit der ostdeutschen chemischen Forschung und Produktion eng zu kooperieren 82 . Auch in der DDR ging es voran. Der Ministerrat beschloß für eine Reihe von Arbeitern und Angestellten verschiedener Bereiche und Branchen z.T. erhebliche Lohn- und Gehaltserhöhungen. Im April 1959 folgte die langerwartete allgemeine Rentenerhöhung; sie war als Gegenmaßnahme zur westdeutschen Rentenreform von 1957 schon lange geplant worden. Im September 1959 verabschiedete die Volkskammer das ehrgeizige Ziele festlegende „Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR". Größere Investitionsvorhaben, u.a. der Bau der Erdölleitung „Freundschaft", wurden in Angriff genommen. Hinter dem Rücken der Öffentlichkeit vollzogen sich jedoch Prozesse, die selbst in einem „Glanzjahr" der DDR ökonomische und soziale Programme weiter in Frage stellten. Um das Ziel des Siebenjahrplanes, die Industrieproduktion um fast 90 Prozent zu erhöhen, nicht zu gefährden - wie es Ulbricht begründete -, bat das Politbüro der SED in Moskau um einen weiteren Devisenkredit in Höhe von 250 Mio. Rubel. Damit wollte die DDR Walzstahl, Südfrüchte, Ölsaaten, Speiseöl, Häute und Futtergetreide kaufen. Darüber hinaus ersuchte man die UdSSR um zusätzliche Erdöllieferungen und um technische Hilfe bei der Entwicklung von Fernsehen und Hörfunk: „Wir müssen unser Programm 2 Jahre früher durchführen. Dadurch wird verhindert, daß das westdeutsche Fernsehen in große Gebietsteile der DDR ein zweites Programm ausstrahlen kann."83 Offensichtlich war die technische Abhängigkeit von der Sowjetunion, die man in diesem Fall „ideologisch" packen konnte, immens. Ulbricht ersuchte die KPdSU noch einmal um Wolle, Häute, Kaffee und Kakao. Diesbezüglich und bei Südfrüchten, Textilien und Schuhen - so unterstrich er in Moskau - „liegen wir gegenwärtig noch weit, weit hinter Westdeutschland zurück. Die Preise für diese Waren betragen gegenwärtig noch das Mehrfache der westdeutschen Preise."84 Wie wollte man denn den Lebens81

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Vgl. Sitzung des Politbüros vom 21. 4. 1959, Anlage 7 zum Protokoll 18/59, in: ebenda, J IV 2/2/642, Bl. 36. Vgl. Schreiben des Vorsitzenden der sowjetischen Plankommission, Kusmin, an Leuschner, Vorsitzender der Plankommission der DDR, übergeben am 13. 3. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/29, Bd. 3. Anfrage des Politbüros an Chruschtschow. Auftrag des Politbüros an die DDR-Delegation (Ulbricht und Grotewohl) für die geplanten Gespräche in Moskau. 31.1.1959, in: ebenda, JIV 2/202/29, Bd. 3. Ausfuhrungen Ulbrichts in Moskau, undat., offensichtlich Frühjahr 1959, in: ebenda.

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Standard in der Bundesrepublik - zwei Jahre waren laut Parteitagsbeschluß nur noch Zeit übertreffen? Diese Frage nahm aber erst unter den Bedingungen der 1960 heraufziehenden akuten Krise des realen Sozialismus in der DDR eine für die SED gefährliche Brisanz an. Die Krise war umfassend, sie ergriff Wirtschaft, Politik, Ideologie und Staatsapparat zugleich. Sie stellte sich, betrachtet man vor allem die drakonisch betriebene Kollektivierung der Landwirtschaft, in vielem als intern verursacht dar. Die Parteiführung erreichten verschiedene Zeichen für die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung. Hatten 1959 „nur" 144 917 Bürger die DDR verlassen, so wurden es 1960 wieder fast 200000. Vor allem nötigte die prosaisch als „sozialistischer Frühling" in der Landwirtschaft umschriebene Zwangskollektivierung Tausende von Bauern, ihre „Scholle" zu verlassen. Ganze Dörfer verödeten; die landwirtschaftliche Produktion ging dramatisch zurück. Die Folge war ein sich allmählich verschärfender Mangel an Lebensmitteln. Trotz zusätzlicher sowjetischer Lieferungen verknappten sich Rohstoffe und Industriematerial weiter. Produktionsketten wurden unterbrochen, und es fehlten Devisen und Waren für den Außenhandel. Die innere Versorgungslage entwickelte sich bedenklich. Engpaß reihte sich an Engpaß. Vor allem mangelte es an hochwertigen Industrieerzeugnissen und an Grundnahrungsmitteln. Die Funktionäre von Partei und Regierung bekamen die Unzufriedenheit der Bevölkerung in verschiedenen, zumeist passiven Formen von Resistenz zu spüren. Die Führung der DDR sah sich durch einen ganzen Komplex innen- aber auch außenpolitischer Schwierigkeiten veranlaßt, verschiedene administrative Maßnahmen zu verschärfen. In diesem Prozeß vergrößerte sich der unproduktive Herrschaftsapparat in kurzer Zeit explosionsartig. Der fatale circulus vitiosus von wirtschaftlicher InefFektivität und Verstärkung der ineffektiven Bürokratie beschleunigte sich, entwickelte eine eigene Dynamik. Partei und Staat verschmolzen noch nachhaltiger, die Chance von längst überfälligen Reformen schien stärker denn je in Frage gestellt. Vor allem mit Blick auf die desolaten Verhältnisse in der Landwirtschaft und die gravierenden Planrückstände gestand Ulbricht in einem Schreiben an Grotewohl faktisch ein, daß die für 1960 vorgesehenen „ökonomischen Hauptaufgaben" in Frage gestellt seien. 85 Die KPdSU nahm die Krise in der DDR zunächst sehr selektiv wahr und unterschätzte offensichtlich das sich hier anstauende Konfliktpotential. So lehnte sie noch im September 1960 die Bitte der SED um die Erhöhung eines dringenden Valuta-Kredits von 200 auf475 Mio. Rubel ab. 86 Im Gegenteil drängte sie „unnachgiebig entsprechend der bisherigen Praxis", wie man es im Außenministerium sah, auf die Einhaltung von Lieferbedingungen, die die DDR benachteiligten. So hatte die UdSSR bei Exporten in die DDR einen viermonatigen Spielraum, was die Materialversorgung der ostdeutschen Industrie zusätzlich belastete. Dagegen mußte die DDR innerhalb zweier Monate liefern. 87 Während die DDR bereits nach Überziehung dieser Lieferfrist Konventionalstrafe zahlen mußte, setzten derartige Sanktionen für die UdSSR erst nach Ablauf von vier Monaten ein. Die UdSSR setzte sich mit „harten Bandagen" durch. Ein Ereignis, das die wirtschaftliche Situation erheblich zu verschärfen drohte, schreckte dann aber auch Moskau auf.

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Vgl. Schreiben Ulbrichts an Grotewohl, 3. 10. 1960, in: ebenda, NL 90/254, Bl. 321f. Schreiben Botschafter Perwuchins im Auftrage der Regierung der UdSSR an Ulbricht, 14. 9. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/29, Bd. 3. Material des Ministeriums fiir Außenhandel der DDR: Probleme in der Entwicklung des Außenhandels mit der UdSSR, 15. 7. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/30, Bd. 4.

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5. Die Kündigung des Interzonenabkommens und ihre Auswirkungen auf die krisenhafte Situation in der DDR 1960/61 Die DDR hatte eine an sich bedeutungslose Veranstaltung westdeutscher Landsmannschaften, die wieder einmal gegen die Oder-Neiße-Grenze kräftig ins Horn bliesen, zum Anlaß genommen, im September 1960 für Ostberlin-Besucher aus der Bundesrepublik eine Aufenthaltsgenehmigung einzuführen. Diese weitere gezielte Verschlechterung der Bedingungen für innerdeutsche Freizügigkeit im Personenverkehr reihte sich in die Politik der Nadelstiche gegen die Bonner Deutschlandpolitik ein. Das Bundeskabinett war zu einer energischen Reaktion entschlossen, wußte aber noch nicht, wie sich diese gestalten sollte. Eine Kündigung des Interzonenhandelsabkommens stand zur Diskussion. Vor dem Hintergrund der von der UdSSR Ende 1958 ausgelösten Berlinkrise und der konfrontativen Politik der UdSSR scheuten Adenauer und mit ihm eine Reihe von Bundesministern vor einer Kündigung zurück. Zum einen hätte sie auch die Bevölkerung der DDR getroffen und zum anderen dem Osten einen Anlaß geboten, den Druck auf Westberlin zu verstärken. Demgegenüber vertrat Bundesaußenminister von Brentano die Auffassung, daß die Kündigung des Interzonenhandelsabkommens die einzig wirksame Maßnahme sei. Dies schlösse die Gefahr neuer Schikanen gegen Berlin nicht aus, käme aber andererseits „dem verständlichen Drängen insbesondere der amerikanischen Seite" entgegen.88 Offensichtlich übten die USA Druck auf die Bundesregierung aus. Noch zögerte der Bundeskanzler. Offensichtlich suchte er nach einer einvernehmlichen Lösung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit schickte er den Leiter der Treuhandstelle für den Interzonenverkehr, Kurt Leopold, der nicht das erste Mal als „Briefträger" der Bundesregierung fungierte, mit einer klaren Botschaft nach Ostberlin. Noch am 28. September 1960 teilte Leopold in einem geheimen Gespräch - nur das verantwortliche Politbüromitglied Heinrich Rau und Ludwig Erhard sollten darüber informiert werden - dem zuständigen Abteilungsleiter im DDR-Ministerium für Außen- und Innerdeutschen Handel mit, „daß die Bundesrepublik fest entschlossen sei, in Kürze den innerdeutschen Handel einzustellen, wenn nicht von unserer Seite [der DDR - M. L.] eine bestimmte Geste erfolgt". Die DDR könne davon überzeugt sein, so Leopold, daß alle Schritte der Bundesregierung in Übereinstimmung mit ihren Verbündeten erfolgten und abgesprochen seien. Am 29. September träfen sich der Regierende Bürgermeister Berlins Willy Brandt und der Berlinbeauftragte der Bundesregierung Heinrich Vockel mit Adenauer, um über den Abbruch und seine Folgen zu beraten. Der Emissär erbat eine Antwort bis zum 29. 9. mittags dahingehend, ob die DDR „ohne Prestigeverlust, den man von Seiten Bonns bewußt vermeiden will", zu einer solchen Geste (möglicherweise Aufhebung der Wasserstraßen- oder Neuverhandlungen der Autobahngebühren) bereit sei.89 Als die SED-Führung darauf nicht einging, kündigte die Bundesregierung. Damit traf sie, stärker als es der Westen 1960 annahm, einen allergischen Punkt im Wirtschaftssystem der DDR. Das vor allem deshalb, weil die Bundesrepublik Material und

88 89

Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 28. 9. 1960, in: BA Koblenz, NL 239/158, Bl. 104f. Vermerk über ein inoffizielles Gespräch Leopolds mit Siemer, 29. 9. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/376, Bl. 298, 301ff.

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Waren lieferte, die, wie z. B. Edelstahl, Walzbleche, spezielle. Einrichtungen und Ersatzteile, im RGW-Bereich in der Regel nicht zu haben waren, die für die Wirtschaft Ostdeutschlands aber „strategischen" Wert besaßen. Die Kündigung löste einen aus der Situation heraus erklärlichen, von der SED hektisch betriebenen Prozeß der „Störfreimachung" der Wirtschaft von westdeutschen Importen, die etwa 10 Prozent der DDR-Gesamteinfuhr betrugen, aus. Sie konnte eine noch stärkere Orientierung auf zusätzliche, an Gegenleistungen gebundene Lieferungen aus der UdSSR und eine damit zumindest indirekte Einengung des mühsam errungenen Handlungsspielraums für die SED zur Folge haben. Das mußten Ulbricht und das Politbüro um so mehr stören, als sie in Betonung eigener Souveränitätsansprüche begonnen hatten, bestimmte Berlin betreffende Zusagen Chruschtschows einzufordern. Die Bonner Kündigung schlug sich negativ auf die Planerfüllung und damit auf die Lösung der „Hauptaufgabe" nieder. Sie mußte das obskure Programm vom „Überholen" treffen. Es nutzte dem Politbüro wenig, daß man die Bonner Entscheidung als besonders abgefeimte Intrige des „Klassengegners" „entlarven" konnte. Insgesamt offenbarte die plötzliche Kündigung die Instabilität der DDR-Wirtschaft, wenngleich dies vordergründig nicht sofort und nicht für jeden erkennbar war. Sie verdeutlichte dem Politbüro das Problem ökonomischer Abhängigkeit, die sowohl eine aktuelle politische Seite besaß als auch langfristiger wirtschaftlicher und politischer Natur war. Erstmals trat die politische Dimension der innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen als Problem der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten sowie zwischen diesen und der Sowjetunion in dieser Klarheit hervor. Diese mehrseitige Wechselbeziehung schlug freilich auch auf den RGW durch. Seine Teilnehmerstaaten ließen nämlich erkennen, daß sie zu Kompensationslieferungen von hochwertigen Rohstoffen und Material nicht oder nur unzureichend in der Lage seien. So blieb im wesentlichen nur die Sowjetunion. Besorgt um die Existenz der DDR mußte die KPdSU wirksame Soforthilfe leisten und zusammen mit der SED beraten, wie man das Problem langfristig lösen konnte. Bemerkenswert ist, daß die Sowjetunion zwar die Politik der „Störfreimachung", aber gleichzeitig eine Wiederaufnahme der innerdeutschen Handelsbeziehungen befürwortete. Ostberlin solle aber, so schlug es die KPdSU am 22. Dezember 1960 vor, keine politischen Zugeständnisse etwa in der Berlin-Frage offerieren, sondern Bonn nur „den Anschein eines Auswegs" bieten. Chruschtschow, der weder an einer Zuspitzung der europäischen Lage durch eine starre Haltung seiner ostdeutschen Verbündeten noch an umfangreichen Zusatzlieferungen an die DDR interessiert war, die die sowjetische Wirtschaft belasteten, mahnte einen „gewissen Kompromiß" und „elastische Entscheidungen" an. Die UdSSR habe die Bedeutung der Handelsbeziehungen mit der Bundesrepublik „sowohl unter ökonomischen als auch vom Standpunkt der allgemeinen Beziehungen" berücksichtigt, ließ er Ulbricht wissen. Bei dieser Übereinkunft, die prinzipielle Fragen nicht berühren sollte, „könnte es z.B. zweckdienlich sein, die Verordnung der Regierung der DDR über den Aufenthalt westdeutscher Bürger im demokratischen Berlin beizubehalten, den westdeutschen Vertretern jedoch bei Verhandlungen zu verstehen zu geben, daß die Regierung der DDR nicht beabsichtigt, Hindernisse für den Besuch des demokratischen Berlins durch Bürger der Bundesrepublik zu schaffen." Bei der Kontrolle des Personenverkehrs wäre es angeraten, „gegenwärtig eine Verschärfung zu vermeiden." 90 Diese Moskauer Direktive war 90

Dokument der sowjetischen Führung; offensichtlich Antwort auf ein Telegramm Ulbrichts vom 14.12. 1960 an Chruschtschow, 22. 12. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/110, S. lf.

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klar: Wiederinkraftsetzen des Interzonenhandelsabkommens ohne substantielle politische Zugeständnisse und ohne eine Zuspitzung der Lage. Bereits am 15. November 1960 hatte Kurt Leopold der DDR im Auftrag der Bundesregierung interne Gespräche über eine Wiederaufnahme des innerdeutschen Handelsverkehrs vorgeschlagen. Der DDR-Beauftragte Heinz Berendt, Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, traf sich, nachdem der stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, „grünes Licht" gegeben hatte, 91 mit dem Ministerialdirektor im Bundeswirtschaftsministerium Krautwig am 17. November 1960 im Westberliner Restaurant „Bernhardt". Ein Konsens bestand: Politische Vorbedingungen sollten nicht gestellt werden. Krautwig deutete an, daß der innerdeutsche Handel für die Bundesrepublik „unbedeutend" sei; sein Gesprächspartner führte aus, daß dieser für die DDR zwar „im nationalen Interesse" liege, eine ökonomische Notwendigkeit, sich aber „sehr schnell erübrigen [könne]". Offensichtlich irrte die westliche Seite, wenn sie annahm, daß beim Abbruch der innerdeutschen Handelsbeziehungen in der DDR, wie Krautwig meinte, „nur temporäre Schwierigkeiten" entstünden, „da der gesamte Ostblock durchaus in der Lage sei, einzuspringen und Schwierigkeiten zu vermeiden." 92 Daß die SED die als ernst qualifizierten Folgen einer unnachgiebigen westdeutschen Haltung realistischer sah, zeigt ein in der Parteiführung abgesprochener Brief des Ministers für Außen- und Innerdeutschen Handel Heinrich Rau, der als Mitglied des Politbüros von Wirtschaft etwas verstand. Am 19. Dezember 1960 teilte er Ludwig Erhard den Verhandlungswillen der DDR und deren Bereitschaft mit, u. a. „auf die Ausübung unseres Rechts auf Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für Vorbehaltsgüter aus Westberlin" zu verzichten. Die Zugeständnisse seien derart, so erfuhr der Bundeswirtschaftsminister, daß sie „Ihnen die Zustimmung zur Inkraftsetzung der alten Verträge ohne Prestigeverlust erlauben." 93 Den Brief erhielt Leopold zur Beförderung. Er versprach, ihn noch vor dem 21. Dezember 1960, dem Tag der nächsten Kabinettssitzung in Bonn, zu übergeben. 94 Hier hatte man sich mit Rücksicht auf die Folgen für die ostdeutsche Bevölkerung, aber auch - was vom Politbüro ins Kalkül gezogen wurde 95 - eine mögliche Verschlechterung im Berlin-Verkehr befürchtend, auf eine Weiterführung des Interzonenhandels im Prinzip verständigt. Wenngleich die unmittelbare Gefahr für die SED, die sich nach langem Zögern zu einem Verzicht auf Grenzkontrollen zwischen beiden Teilen Berlins bereitgefunden hatte, ausgeräumt war, wirkte das „Kündigungssyndrom" weiter. Noch im März 1963 klagte Ulbricht dem Ersten Sekretär der KPdSU: „Wenn es Adenauer einfällt, uns wieder etwas zu drücken, braucht er nur einige Lieferungen von SpezialStählen ein halbes Jahr hinauszuschieben. Sofort werden die Maschinen an die Sowjetunion ein halbes Jahr später geliefert."96 Es zeigte sich hier freilich auch eine Form indirekter Nötigung seitens der SED, wenn sie die UdSSR auf diese Art an deren eigene Wirtschaftsinteressen erinnerte. Aber auch das berührte sowohl den 91

Vgl. Bericht von Berendt an das Politbüro (Ulbricht), 18.11.1960, in: ebenda, JIV 2/202/111. 92 Ebenda. 93 Schreiben Raus an Erhard, 19.12. 1960, in: ebenda. 94 Ebenda. 95 Erläuterungen Berendts für das Politbüro. Anlage 1 zum Protokoll 60/60, Sitzung vom 27.12.1960, in: ebenda, J IV 2/2/741. 96 „Stenographische Niederschrift der Besprechung mit Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und Walter Ulbricht in der Werkleitung des Eisenhüttenkombinates Ost am 19.3.1963", in: ebenda, JIV 2/202/32, Bd. 6, S. 6.

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rationalen Kern von Kündigungsfurcht und „Störfreimachung" als auch irrationale „Klassenkampf-Ängste. Zutiefst verunsichert war das Politbüro auch durch die von Bonn in der neuen Vereinbarung vom 30. Dezember 1960 durchgesetzte „Wiederrufsklausel". Als die Behörden der DDR im Februar 1961 40 kirchlichen Würdenträgern aus dem Westen die Einreise nach Ostberlin verweigerte, ließ die Bundesregierung über Leopold wissen, daß dieser Akt „gegen die getroffenen Abmachungen" verstoße, „denn beide Seiten waren darüber klar, daß keine Kontrollen mehr erfolgen sollten." Bonn signalisierte die Möglichkeit eines neuen Abbruchs des innerdeutschen Handels sowie die des westdeutschen Boykotts der Leipziger Frühjahrsmesse 1961, wenn die DDR sich nicht an die internen Vereinbarungen halte. 97 Wenige Stunden nach dem Eingang dieser Information unterrichtete ein besorgter Ulbricht den sowjetischen Botschafter Perwuchin über die Absicht des Bundeskabinetts, einen möglichen Abbruch des innerdeutschen Handels am 16. Februar 1961 in Bonn zu beraten. Der Erste Sekretär schlug gleichzeitig als eine Art „Rückzug" der DDR vor, den Antrag des Präses Kurt Scharf, den evangelischen Kirchentag in Leipzig durchzufuhren, „wohlwollend" zu prüfen. 98 Wenngleich sich die DDR gegen die Kopplung von Handelsbeziehungen und politischen Themen verwahrte, erteilte das Politbüro sofort Order für eine „Schadensbegrenzung". Auf verschiedene Bonner Wünsche, die u. a. das Verplomben von Warensendungen im Verkehr zwischen Westberlin und der Bundesrepublik seitens der Organe der DDR und Verhandlungen über Wasserstraßen-Gebühren betrafen, sollte eingegangen und die schikanöse Anordnung des Innenministers der DDR über die Einreise nach Ostdeutschland überprüft werden. Die SED kündigte eine „neue Festlegung der Art der Kontrolle beim Betreten der Hauptstadt der DDR" an 9 9 und instruierte auch den Oberbürgermeister Ostberlins, abwiegelnde Erklärungen dahingehend abzugeben, daß die Zurückweisung an der Grenze „nichts mit Grenzkontrollen zu tun [habe]." 100 So erzielte die Bonner Drohung durchaus Wirkung, wenngleich der von der E K D nach Ostberlin einberufene Kirchentag hier nicht stattfinden durfte und im Westteil der Stadt zusammentrat. Der Konflikt um die Unterbrechung des innerdeutschen Warenverkehrs beleuchtete schlaglichtartig sowohl die destabile Situation in der DDR als auch die Brisanz zwischendeutscher Beziehungen. Er wies auf ein kompliziertes Spannungsverhältnis zwischen den deutschen Staaten und zwischen diesen und der Sowjetunion hin. Als besonders gravierend für die folgende Zeit erwies sich der Umstand, daß die Auseinandersetzung um die Kündigung des Interzonenhandelsabkommens mit dem Wirksamwerden der akuten Systemkrise in der DDR zusammentraf. Die DDR-spezifische „Depression" nahm zunächst wirtschaftliche Gestalt an. Was 1960 in den Bilanzen noch kaschiert werden konnte, zeigte sich seit Jahresbeginn 1961 in aller Schärfe: Im Vergleich zu 1959 verringerte sich der Zuwachs der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung und des Einzelhandelsumsatzes erheblich, und selbst das bescheidene Wachstum auf diesen Gebieten - erst 1962/63 blieb es völlig aus - wurde nur durch das Absenken 97

98 99

100

Bericht von Siemer, Anlage 3 zum Arbeitsprotokoll 7/61, Sitzung des Politbüros vom 14. 2.1961, in: ebenda, J IV 2/2A/802, Bl. 3. Schreiben Ulbrichts an Botschafter Perwuchin, 14. 2. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/110. Streng vertraulicher Vermerk, Anlage 2 zum Protokoll 7/61, Sitzung des Politbüros vom 14.2.1961, in: ebenda, J IV 2/2/749, Bl. 15. Beschluß des Politbüros, Protokoll 8/61, 15. 2. 1961, in: ebenda J IV 2/2/750, Bl. 1.

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der Akkumulationsrate erreicht. Auch der Zuwachs der industriellen Bruttoproduktion ging zurück. Gleichzeitig nahm die Disproportion zwischen der Steigerung der Arbeitsproduktivität und dem Lohnzuwachs in der Industrie zugunsten des letzteren noch zu. Daraus folgte wiederum eine Verschärfung des Mißverhältnisses zwischen den nichtplanmäßigen gesteigerten Nettogeldeinnahmen und dem Einzelhandelsumsatz, der auf Grund des schlechten Warenangebots zurückblieb. 101 Einerseits bekamen Teile der Bevölkerung kaum noch etwas für ihren relativen Mehrverdienst, andererseits blieben Produktivität und Investitionstätigkeit vor allem in den von der SED nicht als Schwerpunktzweige klassifizierten Industrien zurück.102 Insgesamt drohte eine allgemeine Insuffizienz der dogmatisch verfaßten und zu wenig flexibel betriebenen DDR-Planwirtschaft. Eine Wirtschaftsreform, die nach dem Sichtbarwerden der schweren ökonomischen Einbrüche während des laufenden Siebenjahrplanes (1959-1965) hätte in Angriff genommen werden müssen, lag fernab stalinistisch-planwirtschaftlichen Denkens im Politbüro. Wenngleich eine Reihe von weitsichtigeren Ökonomen auf eine stärkere Berücksichtigung von Markterfordernissen drängte und intern eine durchgreifende Umstellung der Wirtschaftsstrategie der SED diskutierte, ohne freilich die Planwirtschaft prinzipiell in Frage stellen zu wollen, hielt die Parteiführung an einem in sich erstarrten sowjetischen Modell der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, das auf die DDR übertragen worden war, fest. Noch im Januar 1960 arbeitete die Staatliche Plankommission „Thesen für die Grundlinie der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR bis 1975" aus, die als „Generalperspektive" den allmählichen Übergang der DDR in den Kommunismus für die Jahre von 1966 bis 1975 vorsahen. 103 Das von der SED-Führung angestrebte schnelle Tempo bei der weiteren Festigung und Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der DDR bedeutete im Verständnis Ulbrichts u. a. „die rasche Beseitigung des noch vorhandenen nichtsozialistischen Eigentums in der Industrie, im Handwerk und in anderen Zweigen, die Austrocknung dort noch vorhandener Marktbeziehungen und die Ausdehnung der direkten Planung auf alle Bereiche der Volkswirtschaft."104 Eine solche Konzeption in Verbindung mit dem Ziel, die Bundesrepublik in der Arbeitsproduktivität und im Pro-Kopf-Verbrauch einzuholen und zu überholen, war „Ausdruck hemmungslosen Subjektivismus" und des Versuches, „eine schleichende Existenzkrise der DDR mit einer tollkühnen Offensive zu beenden". 105 Mußte ein solche „Offensive" unter den Bedingungen einer akuten Systemkrise nicht zu einer für die SED gefährlichen Destabilisierung kommunistischer Herrschaft führen, wenn angesichts der verschlechterten Versorgungslage von Produktion und Bevölkerung auf „Störfreimachung" gedrängt wurde?

»°1 Vgl. J. Roesler, Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform 1963-1970 in der DDR, Berlin 1990, S. 17-21. 102 Vgl. J. Roesler u.a., Wirtschaftswachstum in der DDR 1945-1970, Berlin 1986, S. 239-246. 103 Vgl. Roesler, Zwischen Plan und Markt, S. 15f. 104 Ebenda, S. 15f. 105 Ebenda, S. 16.

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6. Die widersprüchliche Kooperation von SED und KPdSU bei der „Störfreimachung" und das Scheitern des „Überhor-Konzeptes der SED 1960/61 Trotz ihrer flexiblen Empfehlungen zur Weiterfuhrung des innerdeutschen Handels fühlte sich das Präsidium der KPdSU in die Pflicht genommen, eine auf Substituierung von Westimporten orientierte Politik der SED zu unterstützen. Es rechnete ebenfalls mit einem erneuten Abbruch der westdeutschen Lieferungen, sah in ihrer Handhabung durch Bonn zumindest einen permanenten Unsicherheits- und Störfaktor. Die in Moskau nicht einkalkulierte Krise in der DDR störte die Berlin- und Deutschlandpolitik der UdSSR empfindlich. Vor allem wären die an sich schon spekulativen sowjetischen Pläne über den Abschluß eines Friedensvertrages und über eine ihr genehme Westberlin-Regelung völlig hinfällig geworden, wenn die DDR schon vor dem Abschluß eines Friedensvertrages, der nur unter der Bedingung ihrer Existenz Sinn gemacht hätte, zusammenbrach. So sah sich die UdSSR unvermittelt aus ganz eigenen Interessen zu kurzfristigen Warenlieferungen an die DDR genötigt. Sie veranlaßte die Ostblockstaaten zu ähnlichen solidarischen Leistungen. Dazu drängte auch die SED. Vor allem wieder auf die Defizite in ihrer Zahlungsbilanz (1,35 Mrd. Valutamark; davon 800 Mio. gegenüber der UdSSR und 500 Mio. im Westen) hinweisend, erbat sie sich einen bis 1966 rückzahlbaren Kredit in Höhe von 800 Mio. Valutamark und erhebliche Lieferungen von „Engpaßmaterial". Die sowjetische Führung, die in der Öffentlichkeit immer euphorisch für die Belange der „deutschen Freunde" Stellung nahm und deren Wünsche scheinbar uneingeschränkt entgegenkam, reagierte angesichts des Ausmaßes der ostdeutschen Ersuchen ungehalten. Als Chruschtschow der SED eine Begründung ihrer Wünsche abverlangte, faßte Ulbricht seine Argumente in einem Schreiben am 18. Januar 1961 zusammen. Zunächst gestand er das Fiasko der ostdeutschen Politik vom „Überholen" ein: Der Abstand gegenüber Westdeutschland sei „nicht geringer" geworden. „Die inneren Schwierigkeiten bei der Planerfüllung infolge nicht termingerechter und genügender Materialversorgung sind sogar gewachsen. Die größte Unzufriedenheit bei der Arbeiterschaft und der Intelligenz hat die nicht genügende Kontinuierlichkeit im Produktionsprozeß hervorgerufen [...]. Im Jahre 1958, auf unserem V. Parteitag, und bei der Ausarbeitung des Siebenjahrplans haben wir damit gerechnet, daß in der ökonomischen Entwicklung Westdeutschlands eine gewisse Stagnation eintreten wird und daß eine stärkere Belieferung mit den für unsere Wirtschaft entscheidenden Rohstoffsortimenten aus der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern erfolgen kann. Die Entwicklung in Westdeutschland ist jedoch anders verlaufen. Westdeutschland hat 1960 in der Steigerung der Produktion und im Konsum den stärksten Zuwachs seit Kriegsende, und nichts deutet bisher auf eine Änderung." 106 Ulbricht zählte dann verschiedene Vorteile der bundesdeutschen Entwicklung, die der eigenen Bevölkerung gegenüber ständig geleugnet wurden, detailliert auf, so u. a. die hohen Investitionen, die immense Verkürzung der Arbeitszeit und beträchtliche Lohnsteigerungen. „Bei uns sind solche Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen nicht im Plan enthalten", merkte er resignativ an. 107 Ulbricht verwies auf

106 107

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 18. 1. 1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/129, S. 9. Ebenda.

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das Mißverhältnis von gestiegenem Devisenbedarf einerseits und ungenügenden Exportmöglichkeiten der DDR-Wirtschaft andererseits, während das westdeutsche Exportgeschäft ständig wüchse. Er machte deutlich, wie das Zurückbleiben von Arbeitsproduktivität und Lebensstandard in der DDR wirkten: „Dadurch konnte ein ständiger politischer Druck auf uns von Westdeutschland her ausgeübt werden. Der [nicht erwartete - M. L.] konjunkturelle Aufschwung in Westdeutschland, der für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, daß im Verlaufe von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben. In dieser Lage waren und sind wir gezwungen, um den Abstand im Lebensniveau wenigstens schrittweise zu mildern, ständig mehr für den individuellen Konsum zu verbrauchen, als unsere eigene Wirtschaft hergab und z.Zt. hergibt." Die DDR hätte so fuhr Ulbricht fort - im Vergleich zu Westdeutschland entsprechend ihrer Bevölkerungszahl 50 Mrd. DM mehr investieren müssen. Jetzt ginge alles „ständig zu Lasten der Erneuerung unseres Produkfionsapparates. Das kann man auf die Dauer nicht fortsetzen." 108 Die Bitte um Hilfe nahm jetzt stärker den Charakter einer unterschwelligen Erpressung an: Liefere die Sowjetunion nicht, könne der Lebensstandard nicht gehalten werden. In diesem Fall werde die DDR mit einer Steigerung der Republikfluchten konfrontiert und „vor ernste Krisenerscheinungen gestellt"sein,109 was nur dem gemeinsamen Gegner zuarbeiten und dem kollektiven sozialistischen Ziel abträglich sein würde. Die historischen Ursachen für die unbefriedigende Entwicklung sah Ulbricht - einem bereits alten Klischee folgend - in der ungünstigeren Ausgangssituation des Ostens gegenüber dem Westen Deutschlands nach 1945: „Während wir in den ersten zehn Nachkriegsjahren die Wiedergutmachung leisteten durch Entnahme aus den bestehenden Anlagen und aus der laufenden Produktion, leistete Westdeutschland keine Wiedergutmachung aus der laufenden Produktion, sondern erhielt obendrein von den USA größere Kredite". Hier wurde erstmals die Schuld für mißliche Folgen auch in der Nachkriegspolitik der UdSSR gesehen. Der Erste Sekretär des ZK der SED spielte auf die Reparationen und auf die Kosten der DDR an, „um die Produktion der Wismut in Gang zu bringen und zu unterhalten"; er schwächte aber taktisch klug ab: „Selbstverständlich war das alles notwendig, um wenigstens einen Teil der Schäden, die die Sowjetunion erlitten hatte, zu mindern und die Sowjetunion als Zentrum des sozialistischen Lagers zu stärken. Diese Verhältnisse haben uns aber im Wettkampf mit Westdeutschland ungeheure Schwierigkeiten gebracht."110 Das in jeder Hinsicht bemerkenswerte Schreiben an Chruschtschow enthielt eine Konsequenz, die für die Frage von wirtschaftlichen und politischen Handlungsspielräumen von größter Tragweite sein sollte. Wenn Ulbricht schrieb, daß „wir nun einmal ein Staat [sind], der geschaffen wurde, ohne daß eine Rohstoffgrundlage bestand und besteht, und der bei offenen Grenzen den Wettkampf zwischen den beiden Systemen führt", dann sah er nur eine systemimmanente Lösung des Problems, die „Störfreimachung" implizierte: höhere Investitionen, umfangreichere östliche Lieferungen und eine ostdeutsch-sowjetische Wirtschaftsgemeinschaft, die durch „ein Verwachsen mit der Wirtschaft der UdSSR" herbeigeführt werden müsse. 111 Dieser Gedanke wurde vom Politbüro der SED immer wieder aufgenommen und von Ulbricht kommentiert: „Wir verstehen unter Wirtschaftsgemeinschaft mit der Sowjetunion "'s Ebenda, S. "» Ebenda, S. 110 Ebenda, S. m Ebenda, S.

14. 15. 14. 13.

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die Verpflichtung der DDR, durch systematische Umstellung von Teilen der Produktion, durch Einstellen unserer Wirtschaft auf sowjetische Rohstoffe, Mineralien und Zulieferungen wie auf die Bedürfnisse des sowjetischen Marktes die Folgen von Störmaßnahmen der Bonner Regierung oder eines Abbruches des Handels mit Westdeutschland auf ein Minimum zu reduzieren." Sie sei nicht als zeitlich begrenzte Notwendigkeit, „sondern als Beginn einer qualitativ neuen Stufe der Integration der sozialistischen Weltwirtschaft" zu betrachten. Die DDR sollte im sowjetischen zentralen Gosplan und in anderen Organisationsformen vertreten sein. 112 Das Politbüro stellte „Störfreimachung" vor relative wirtschaftliche Unabhängigkeit der DDR gegenüber der Sowjetunion. Sie nahm 1960/61 lieber eine noch stärkere Gängelung durch Moskau als das Risiko von wirtschaftlichen und politischen Reformen, einer inneren Liberalisierung, in Kauf. Folgerichtig behandelte Moskau die DDR wie eine sowjetische Unionsrepublik. Einerseits gab der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anastas Mikojan, ein harter Verhandler, Bruno Leuschner als Leiter der Plankommission der DDR den Rat, man solle nach der Wiederherstellung des innerdeutschen Handels in der Bundesrepublik z. B. soviel Stahl kaufen „als nur möglich". Außerdem „sollten wir uns daran nicht stören, wenn wir unsere Schulden gegenüber Westdeutschland nicht abbauen, sondern erhöhen" 113 . Andererseits verlangte die sowjetische Führung, „daß man auch das DDR-Produktionsprogramm so ändern muß, daß in der DDR Waren für den Bedarf der UdSSR produziert werden können." 114 Da sich die SED-Führung den Interessen der UdSSR auslieferte oder wegen eigener Machterhaltungs-Motive und der aktuellen Situation dazu gezwungen wurde, war es kaum zu umgehen, daß verschiedene Bereiche der ostdeutschen Industrie durch die Befriedigung der sowjetischen Nachfrage, z. B. nach ganz bestimmten Werkzeugmaschinen und anderen Investitionsgütern, sich disproportional entwickelten und die Produktion insgesamt nicht ausreichte, um den Eigenbedarf - hier vor allem bei dringend notwendigen Modernisierungen zu decken. Abhängigkeit produzierte weitere Abhängigkeit. Benötigte die DDR dringend Rohstoffe, deren Ausbleiben Produktion und Export in Verzug geraten ließen, drohte die UdSSR häufig damit, daß man die „Zusage über die Lieferung von Metallen" nicht aufrechterhalten werde, „wenn die DDR nicht die von der UdSSR benötigten Maschinen liefert." Die von Moskau an Ostberlin übergebenen Spezifikationen - so erklärte man in Moskau definitiv - „drücken den Bedarf der UdSSR aus."115 Bei den Gesprächen der SED mit der sowjetischen Führung zeigte sich der Unterschied zwischen der Freundschafts- und BündnisRhetorik der Moskauer Parteispitze, so subjektiv ehrlich deren euphorische Erklärungen über die „uneigennützige Hilfe" für die DDR auch sein mochten, und der harten sowjetischen Interessenpolitik, die von erfahrenen Diplomaten und Wirtschaftspolitikern vertreten wurde. Politiker wie Anastas Mikojan und der sowjetische Außenhandelsminister Nikolai S. Patolitschew verlangten von der DDR, den Westhandel zu erweitern und alle Möglichkeiten „voll auszunutzen, bei denen wir preisliche Vorteile erzielen können", um damit auch die Sowjetunion zu entlasten 116 . Sie versuchten auch, die DDR zu Verkäufen, u. a. von Schiffen, unter 112 113 114 115

116

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 8. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/32, Bd. 6, S. 23, 25. Schreiben Leuschners an Ulbricht, 27. 1. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/30, Bd. 4. Ebenda. „Niederschrift über die Beratung beim Genossen Tichomirow, Erster stellvertretender Vorsitzender des Staatlichen ökonomischen Rates der UdSSR, am 27. 4. 1961", in: ebenda, J IV 2/2o2/30, Bd. 4. „ V e r m e r k über eine Besprechung beim Genossen Mikojan in seinem Arbeitszimmer am 28.1.1961", (von Berendt), in: ebenda, J IV 2/202/31, Bd. 5.

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dem Weltmarktniveau, faktisch zu „Schleuderpreisen" zu nötigen. 117 Kam es sowjetischerseits gelegentlich zu Vertragsbrüchen, so wurden diese in der Regel damit zu entschuldigen versucht, daß die sowjetischen Möglichkeiten erschöpft seien, oder es wurde argumentiert, man habe verschiedene Absprachen für nicht verbindlich gehalten. 118 Eine Reihe von Belastungen für die Wirtschaft der DDR verschärften die krisenhafte Entwicklung. So verlangte Chruschtschow, explizit noch einmal im Januar 1961, „zusätzliche Aufwendungen" für die Modernisierung der Streitkräfte des Warschauer Paktes, weil es die gegenwärtige internationale Situation nicht gestatte, entsprechende Maßnahmen noch länger hinauszuschieben. 119 Obwohl sich die SED dagegen nicht sperren konnte, drängte sie doch ihrerseits auf die Einhaltung sowjetischer Verpflichtungen. Insbesondere lag ihr an wissenschaftlich-technischer Hilfe, die für sie zu schleppend gewährt wurde 120 , im Rahmen der technisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit bei Schwerpunktthemen- und -Projekten.121 Eine Betrachtungsweise, die sowjetische Hilfe nur unter dem Aspekt der damit verbundenen erheblichen ostdeutschen Gegenleistungen charakterisiert, wäre zumindest einseitig. Beide Führungen saßen „in einem Boot"; Systemerhaltung war ihnen erstes Gebot. Beide vermuteten, - unabhängig davon, inwieweit diese Sicht richtig war -, daß Adenauer, wie es Ulbricht dem Partei- und Staatschef der CSSR Anthonin Novotny am 23. Mai 1961 versicherte, „unsere Wirtschaft boykottieren will". Sie unterstellten, daß die von der UdSSR angestrebten Friedensvertragsverhandlungen erschwert werden würden, „solange die DDR wirtschaftlich von Westdeutschland abhängig sei. Genosse Chruschtschow könnte unter diesen Bedingungen nur sehr schwer verhandeln [...] Unser Ziel ist es, die Existenz der DDR zu sichern. Unsere ökonomische Kraft reicht nicht weiter."122 Ulbricht hatte die Erfahrung gemacht, daß persönliche Kontakte mit Chruschtschow, der ihm ein hohes Maß von Offenheit entgegenbrachte, wieder in Gang setzte, was von sowjetischen Politikern der „zweiten" Reihe, von Ministern und Sowjetbehörden verzögert worden war. Chruschtschow zeigte für die Probleme der DDR in der Regel großes Verständnis. Die eingetretene Krise drohte nicht nur seiner Konzeption vom„Schaufenster" ein schnelles Ende zu bereiten, er befürchtete Anfang 1961 den Exitus der DDR. Dennoch schien er diese Gefahr, die er im Unterschied zu Ulbricht nicht in erster Linie der Bundesrepublik anlastete, relativ spät und nicht in allen Dimensionen erfaßt gehabt zu haben. Erst Ende November 1960 erklärte er in einer etwas naiven Weise, er „habe nicht gewußt, daß die DDR von Westdeutschland abhängig ist. Adenauers Kündigung hat uns erst mit der Nase darauf gestoßen. Die Ökonomie muß unantastbar sein." Chruschtschow nahm nicht an, daß sich die Westmächte und Italien, wie es ihm Ulbricht eifrig einzureden versuchte, an einer „ökonomischen Blockade" gegen die DDR beteiligten; er hielt sie sogar seitens Bonns für fraglich.123 Der >i7 Bericht des Volkswirtschaftsrates der DDR an das Politbüro, 16. 8. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/31, Bd. 5. 118 Bericht von J. Balkow, stellvertretender Minister für Handel und Versorgung der DDR, über die Verhandlungen zum Abschluß eines Handelsabkommens für 1964, Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll 38/63, Sitzung des Politbüros vom 29. 10. 1963, in: ebenda, J IV 2/2A/995, S. 2f. »9 Schreiben Chruschtschows an das ZK der SED, 24. 1. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/245, Bd. 2. 120 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 31. 7. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/31, Bd. 5. 121 Ebenda. 122 „Niederschrift der Ansprache beim Präsidenten der CSSR, Genossen Novotny in Prag am 23.5.1961", in: ebenda, J IV 2/202/360, Bd. 1, S. 4, 20. 123 „Aktenvermerk über die Unterredung Walter Ulbrichts mit Genossen N. S. Chruschtschow", undat., offensichtlich Ende November 1960 in Moskau, in: ebenda, J IV 2/202/30, Bd. 4.

Die widersprüchliche Kooperation von SED und KPdSU

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gewiefte sowjetische Politiker, gleichzeitig demagogischer Ideologe von großem politischem Talent und nüchterner Pragmatiker, kritisierte die Konzeptionslosigkeit bei der Ausarbeitung einer „exakten Linie und der Maßnahmen, um die DDR von Westdeutschland ökonomisch freizumachen." Er schlug Ulbricht in einer persönlichen Unterredung vor, ein Maximal- und ein Minimal-Programm auszuarbeiten, „um die Unabhängigkeit der DDR" zu erreichen. „Maximal im Falle des Abbruchs" des innerdeutschen Handels, minimal, wenn dieser weitergehe. Chruschtschow sah keinen Zwang, im größeren Umfang sowjetische Reserven zu mobilisieren: „Wir wollen jetzt nicht in den Goldsack greifen". 124 Ulbricht und die SEDFührung, die von existentiellen Problemen viel „hautnaher" betroffen waren als Moskau, reagierten nervöser. Das Politbüro versuchte immer wieder den ökonomischen Druck der Bundesrepublik als politisches Mittel gegenüber der DDR, insbesondere aber in der Auseinandersetzung mit der UdSSR, herauszustellen. Es ging dem Gremium vor allem um die Schaffung zumindest eines „Minimums an Reserven" 125 , die für die DDR strategische Bedeutung besaßen. Die sowjetische Führung wurde eindringlich auf „den ganzen Ernst der Lage in der DDR" hingewiesen. So arbeitete z.B. die gesamte Automobilindustrie im Frühjahr 1961 mangels Materials tatsächlich nur noch halbtags, eine Reihe anderer Betriebe befände sich „am Rande des Stillstandes". 126 Die sowjetische Regierung erklärte sich schließlich bereit, für das Jahr 1962 „spezielle materielle Reserven für die DDR" zu schaffen. Sie sollten aber nur dann abgerufen werden können, wenn die Bundesregierung das Interzonenhandelsabkommen tatsächlich kündigte. 127 Bei den Wirtschaftsverhandlungen zwischen der UdSSR und der DDR für den Perspektivzeitraum 1962-1965, die Leuschner in Moskau führte, stand jedoch nicht die Frage dieser Reserve, sondern von erhöhten Lieferungen überhaupt zur Diskussion. Bei „Defizitmaterial", das vertragsmäßig aus der Bundesrepublik kommen sollte, erbat sich die DDR Garantien für Ersatzleistungen, wenn Lieferungen aus dem Westen ausfielen. Dies sei für die DDR eine „Lebensfrage". Die Verhandlungsdirektive des Politbüros ging von der vollkommen unrealistischen Zielstellung einer „Störfreimachung" bis zum Dezember 1961 aus. 128 Leuschner versuchte in Moskau die innenpolitische Gefahr bei einem Produktionsstillstand zu verdeutlichen: Die DDR würde „keinerlei Experimente" sozioökonomischer Art vertragen. „In unseren Betrieben können wir uns einfach keine Streiks leisten. Die Republikflucht ist in diesem Jahr wieder angestiegen." 129 Industrieller Stillstand bedeutete mögliche Unruhen. Hier spielte die Erinnerung an den 17. Juni 1953 eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wenngleich die UdSSR keineswegs uneigennützig handelte, verzichtete sie u.a. auf die Lieferung von „einigen Konsumgütern" aus der DDR, um einer inneren Destabilisierung nicht Vorschub zu leisten. Von den von der SED für 1961 gewünschten zusätzlichen Lieferungen in Höhe von 396,5 Mio. Valutamark sagte die Sowjetunion Waren im Umfang von 90 Mio.

124

ebenda. Material des Politbüros, 18. 1. 1961, in: ebenda. 126 Schreiben Leuschners an Ulbricht, 30. 1. 1961, in: ebenda. 127 Staatliche Plankommission (K. Mewis): „Bericht über die Ergebnisse der Wirtschaftsverhandlungen mit der UdSSR zur Störfreimachung der Wirtschaft der D D R und zur Vorbereitung des Abschlusses eines Friedensvertrages", 5. 10. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/31, Bd. 5, S. 6. 12 » Vgl. Direktive des Politbüros, Anlage 5 zum Protokoll 16/60, 5. 4. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/758, Bl. 102. 129 Niederschrift über die Wirtschaftsverhandlungen zwischen der D D R und der UdSSR, Moskau, 23. 4. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/30, Bd. 4. 125

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Valutamark zu. Keine Zusagen erfolgten für zusätzliche Walzstahl- und Buntmetall-Erzeugnisse. Die Lieferungen für 1962, um Westimporte ablösen zu können, fielen ebenfalls knapp aus. Die UdSSR steckte selber in Schwierigkeiten. Sie kam aber der Bitte der DDR, zur Sicherung einer Wachstumsrate von sieben Prozent zusätzliche Waren bereitzustellen, immerhin auf halbem Weg entgegen (Wunsch: 1,296 Mrd. Valutamark, Zusage: 615 Mio. Valutamark). Die Sowjetunion lehnte aber die Bitte der SED ab, die industriellen Importe aus der D D R um 145 Mio. Valutamark zu kürzen; Moskau erklärte sich lediglich bereit, auf zehn Motorschiffe aus der DDR-Produktion zu verzichten. 130 Der erhöhte Import sowjetischer Waren und neue ostdeutsche Gegenlieferungen führten zu einem erhöhten Transportaufkommen, das Probleme nach sich zog. Die polnischen Transit-Eisenbahnstrecken erwiesen sich als genügend durchlaßfähig, die Umschlagkapazitäten der Bahnhöfe an der polnisch-sowjetischen Grenze aber als nicht groß genug. Da die D D R befürchtete, daß Polen die Kosten für notwendige Investitionen völlig oder zum großen Teil auf die ostdeutsche Seite abwälzen würde, nahm man den Ausbau des Schiffverkehrs in Aussicht. Als ein „sehr ernstes" Problem stellte sich der Zustand des eigenen Transportwesens dar. Ein „überalteter Lokomotivpark" mit „hoher Schadenanfälligkeit" 131 - so signalisierte es der DDR-Verkehrsminister - blockiere die Politik der „Störfreimachung" erheblich. So wurde auch dem Politbüro bewußt, daß der Kurs auf die „Störfreimachung" dem Land teuer zu stehen kam. Während es im Politbüro Kräfte gab, die wie Grotewohl, Stoph, Ebert und Rau die Wirtschaftsbeziehungen zur Bundesrepublik möglichst - wenngleich nicht unter allen Umständen - erhalten wollten, neigten Ulbricht, vor allem aber Hermann Matern eher zur radikalen Isolierung vom westdeutschen Markt. „Die Orientierung auf weitere Bestellungen in Westdeutschland", so meinte Matern Ende Juli 1961, sei „illusorisch und deshalb politisch falsch." 132 Freilich, der 13. August 1961 nahte, man bereitete die Schließung der innerberliner Grenze vor, und das Politbüro erwartete nach diesem „Schlag" den Abbruch des innerdeutschen Handels durch die Bundesrepublik. Schon aus diesem Grunde war es der SED ernst mit der „Störfreimachung". Im Sommer 1961, höchstwahrscheinlich im Juli, stellte Chruschtschow Ulbricht noch einmal die Frage, was die Ursachen „für die besonderen Schwierigkeiten in der Wirtschaft der DDR und die Senkung des Produktionszuwachses" seien. 133 Auch Chruschtschow sah den Siebenjahrplan der DDR offensichtlich als gescheitert an. Ulbricht wartete in seiner Antwort vom 1. August 1961 mit den bekannten Argumenten auf, verwies aber jetzt viel stärker auf den Umstand, daß die DDR, als zweitstärkstes Industrieland des sozialistischen Lagers noch lange mit der Wirtschaft Westdeutschlands verbunden gewesen sei, die Exporte von Ausrüstungen an sozialistische Staaten ständig erhöht habe und dadurch gezwungen worden wäre, die westlichen Rohstoff- und Materialimporte zu steigern. Das habe zusätzliche Devisen zu Lasten notwendiger Investitionen verbraucht. Das Argument stimmte. Die Sowjetunion vor allem kam in den Genuß von für sie billigen ostdeutschen Investitonsgütern, die der DDR durch Verwendung des teilweise im Westen gekauften 130 131

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Vgl. Anm. 125. S. lf, 5, 7, 8, 9. Schreiben E. Kramers, Verkehrsminister der D D R , an Ulbricht, 28.7.1961, in: ebenda, J I V 2/202/31, Bd. 5. Stenografische Niederschrift des Referates von H. Matern auf der Sitzung des Demokratischen Blocks, 31. 7. 1961, in: ebenda, IV 2/15/25, S. 8. Informationsmaterial für Chruschtschow, Anlage z u m Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 1. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/30, Bd. 4.

Ergebnisse und Auswirkungen der Politik der „Störfreimachung"

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Materials teuer zu stehen kamen. Andererseits trug dieser Vorgang dazu bei, daß die Sowjetunion zu umfangreichen Lieferungen an die DDR bereit und damit - wenngleich begrenzt in der Lage war, zur Auslastung ostdeutscher Produktionskapazitäten beizutragen. So entwikkelte sich die rohstoffarme, vergleichsweise hochindustrialisierte DDR zu einem Standort für die Verarbeitung sowjetischen Materials, das - z.T. durch westliche Technologien und Material zusätzlich „veredelt" - in Form von Fertigprodukten zurückfloß. „Im Interesse der Belieferung der sozialistischen Länder mit schweren Ausrüstungen", so führte Ulbricht an, seien 25 neue Schwermaschinenbetriebe errichtet, sei schließlich die Wismut „unter schwierigsten Bedingungen" ausgebaut sowie ein neuer Überseehafen angelegt worden, um insbesondere von Hamburg unabhängig zu werden. Außerdem habe die DDR nach der deutschen Spaltung in teure Projekte, die eigentlich unwirtschaftlich seien, u. a. in Braunkohlegroßkokereien, Umgehungskanäle und in den Bau des Berliner Außenrings investiert. Die DDR sei dann Anfang 1960 - wie Ulbricht datierte - „größeren Komplikationen" in der Versorgung mit Roh-und Hilfsstoffen sowohl aus dem Westen als auch aus den sozialistischen Staaten ausgesetzt gewesen. Sie habe sich bei den kapitalistischen Staaten verschulden und deshalb ihre Westimporte drosseln müssen. Der Arbeitskräftemangel habe sich überdies verschärft. Infolge der offenen Grenze zu Westdeutschland, „das uns in bezug auf den Lebensstandard der Bevölkerung überlegen ist", konnte die SED, so jedenfalls begründete es Ulbricht, „manche ökonomische Gesetze nicht einhalten." Im übrigen habe in Westdeutschland 1959/60 - unerwartet - eine „neue Hochkonjunktur" eingesetzt. Das alles führte zur Abwanderung „hochqualifizierter Arbeitskraft". Die Belastungen durch die ungünstige Entwicklung in der Landwirtschaft hätten ein übriges getan. 134 Nichts, was Ulbricht als Erklärung und Entschuldigung anführte, war völlig unbegründet. Aber alle Faktoren ließen die Hauptursache, die Ineffektivität der sozialistischen Planwirtschaft und die Unattraktivität des sowjetkommunistischen Gesellschaftsmodells und des realsozialistischen Alltags in der DDR, ungenannt. In allem wurde jedoch deutlich, daß es dem Politbüro nicht nur um „Störfreimachung" als politökonomisches Problem, sondern auch um die radikale Erhöhung von Importen ging, die nicht mit Devisen bezahlt werden mußten.

7. Ergebnisse und Auswirkungen der Politik der „Störfreimachung" auf die Entwicklung von Entscheidungsfreiräumen für die SED nach dem 13. August 1961 Die Monate nach der Schließung der Grenzen im August 1961 führten zunächst nicht zu einer Entspannung der prekären wirtschaftlichen Lage in der DDR. Im Gegenteil: Verschiedene Fehlentwicklungen in Handel, industrieller und landwirtschaftlicher Produktion - die negativen Folgen der Zwangskollektivierung wirkten sich erst allmählich auf die Versorgung aus - trugen im 2. Halbjahr 1961 und 1962/63 zu einer Eskalation der Systemkrise in der DDR bei.

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Ebenda.

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Vor allem außenwirtschaftliche Zahlungsverpflichtungen beunruhigten das Politbüro. 1962 müßten, schrieb Ulbricht an Chruschtschow am 2. Februar 1962, der UdSSR Kredite in Höhe von 154 Mio. Valutamark und den übrigen sozialistischen Staaten 200 Mio Valutamark zurückgezahlt und die kurzfristigen Kredite von kapitalistischen Staaten in mittelfristige umgewandelt werden. Der Einsatz von Energieträgern (Kohle, Erdöl, Erdgas) werde „immer mehr zu einem Grundproblem der Volkswirtschaft", vor allem führe ein Futtermitteldefizit von 2 Mio. Tonnen Getreide zu einer gespannten Lage in der Landwirtschaft.135 Ulbricht beklagte die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung in der DDR: Der hohe Lebensstandard in Westdeutschland wirke trotz der geschlossenen Grenze auf die DDR weiterhin „stärker als auf andere sozialistische Staaten" ein, und obwohl die Westreisen „auf ein Minimum" reduziert seien, „bestehen weiterhin Einflüsse, die nur schwer kontrolliert und eingedämmt werden können, wie zum Beispiel Radio- und Fernsehsendungen des Gegners." Täglich würden zwischen beiden deutschen Staaten über 1 Mio. Briefe und 100000 Pakete und Päckchen versandt, die „eine Art des ständigen .Erfahrungsaustausches' über die Lebenslage in beiden deutschen Staaten" darstellten u.a.m. Zu den wirtschaftlichen Fragen, so klagte Ulbricht, käme noch „die psychologische Belastung, weil ein Teil der Bevölkerung mit den Reisebeschränkungen nach Westdeutschland nicht einverstanden" sei. Nach wie vor müsse deshalb „unter dem politischen Druck des Gegners" der Lebensstandard der DDR rascher entwickelt werden als es die Steigerung der eigenen materiellen Produktion zuließe. Man lebte in der DDR auf Kosten der „eigenen Grundfonds". In der DDR sei die Meinung weit verbreitet, daß die Lebenslage der Westdeutschen besser als die der DDR-Bürger sei. Man berufe sich auf die höheren Löhne „drüben", auf die kürzere Wochenarbeitszeit und auf die niedrigeren Preise. Es sei in der Tat so, gestand Ulbricht ein, daß in der DDR z. B. die Preise für Möbel zwei- bis dreifach, für Textilien anderthalb- bis zweifach, für Kühlschränke und Fernseher zweifach und für Kakao und Südfrüchte drei- bis dreieinhalbfach so hoch wie in der Bundesrepublik seien. 136 Ulbricht merkte nicht an, daß Kühlschränke, Fernseher, Kakao und Südfrüchte nicht nur teuer, sondern mangels Angebot vom ostdeutschen Verbraucher auch kaum zu erwerben waren. In einem internen Papier für das Politbüro trat die Schärfe der Situation und die Fragwürdigkeit der Perspektive, die man der Bevölkerung in den schönsten Farben malte, ungeschminkt zutage. Kernsatz war: „Wir haben zur Zeit keine ausgearbeitete ökonomische Perspektive mehr." Die Analyse ging davon aus, daß die Entwicklung 1962 „keine Veränderung der Lage für die nächsten Jahre" einleite, sondern sich im Gegenteil „eine weitere Verschärfung" abzeichne und sich besonders „permanente Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung" ergeben würden. Im einzelnen ließe sich die Zahlungsbilanz nur durch Kredite in Höhe von 2 Mrd. Rubel ausgleichen. Man habe prinzipiell zu wenig Exportgüter, wisse aber natürlich, daß ein Land, „das keine Rohstoffbasis besitzt, aber nur leben [kann], wenn es exportiert." Andererseits gingen bis zu 90 Prozent der Gesamtproduktion der DDR an hochwertigen Maschinen - „die man selbst benötigt hätte" - ins Ausland, vor allem in die UdSSR. Die sowjetischen Kredite seien nicht als zusätzliche Akkumulationsmittel wirksam geworden; man habe „zu Lasten der Erhaltung, der Erneuerung, der Mechanisierung und Erweiterung unseres Grundfonds" gelebt. Es seien in den letzten 10 Jahren ca. 50 Mrd. DM, davon 10 Mrd. DM im Zeitraum von 1959 bisl962, zu wenig investiert worden. Dabei hätten 135

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 2. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/32, Bd. 6, S. 5-8. 13« Ebenda, S. 19.

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die „umfangreichen zusätzlichen Sicherungs- und Verteidigungsmaßnahmen" in den letzten drei Jahren [1958 bis 1961 - M. L.], „grundsätzlich neue Fakten" schaffend, Investitionen behindert und somit zu einem „Zurückbleiben der Produktion in Industrie und Landwirtschaft" geführt. 137 Das Papier entwarf ein reales Bild von der Lage der ostdeutschen Wirtschaft. Ihre Probleme seien im Prinzip dadurch entstanden, daß man in der DDR, verursacht durch den „wirtschaftlichen Aufstieg Westdeutschlands" und unter den Bedingungen der offenen Grenze, gezwungen gewesen sei, „auf Kosten der Substanz zu leben". 138 Leuschner, der mutmaßliche Verfasser dieser problemorientierten Denkschrift, wiederholte Diagnosen, vermittelte aber keine Lösungsansätze. Die Politik der „Störfreimachung" bot der SED eine Art Ersatzprogramm. Zu Beginn des Jahres 1962 verstärkte sich das peinlich anmutende Drängen des Politbüros auf eine verstärkte Unterstützung durch die UdSSR. Ulbricht versuchte Chruschtschow zu suggerieren, daß mit westdeutschen ökonomischen „Störmaßnahmen" im Zusammenhang mit der Lösung der Westberlin-Frage zu rechnen sei und es in diesem Fall darauf ankomme, die „Umstellung der Wirtschaft in der DDR ohne große Schwierigkeiten" vorzunehmen. 1 3 9 Ende Januar 1962 schlug die Parteiführung intern „einschneidende Maßnahmen zur Veränderung des Profils unserer Industrie" sowohl mit entsprechenden Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung als auch „auf den Export in die UdSSR" vor. 140 Damit zeichnete sich der Höhepunkt in der Politik der SED ab, sich noch stärker an die sowjetische Politik und Wirtschaft zu binden, um die Abhängigkeit von der Bundesrepublik zu verringern. Das Politbüro stellte Elemente der Eigenständigkeit im ökonomischen Bereich, als Preis für sowjetische Hilfe, noch stärker zur Disposition. Doch gleichzeitig begann, da auch die erwarteten Bonner Sanktionen nach dem Mauerbau ausblieben, ein zunächst vorsichtiger Prozeß des Überdenkens wirtschaftlich paradoxer „Störfreimachung" im Zeitalter internationaler Kooperation und Arbeitsteilung, größerer Märkte und intensiveren Welthandels. Bereits im Januar 1962 sprach man in der Parteiführung von einer Umwandlung der „teilweisen direkten und indirekten ökonomischen Abhängigkeit" der DDR vom „westdeutschen Monopolkapital" in „normale Handelsbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten". Diese könnten aber eben nicht mehr auf der Basis „der Arbeitsteilung des früheren kapitalistischen Deutschlands" 1 4 1 unterhalten werden. Das Politbüro beauftragte die entsprechenden Staatsorgane im März 1962, in Verhandlungen mit der westdeutschen Treuhandstelle - die „vertraulich ohne öffentliche Agitation" zu führen seien - das Interesse der DDR zu bekunden, in Westdeutschland Ausrüstungen bzw. komplette Industrieanlagen in Höhe von 500 Mio. Verrechnungseinheiten zu erwerben. Die Bundesrepublik sollte den Kauf nicht nur in voller Höhe langfristig kreditieren, sondern auch auf den Wunsch der SED eingehen, den Kredit in Form zusätzlicher Warenlieferungen aus der D D R zurück zahlen zu können. 1 4 2 137

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Papier (offensichtlich von Leuschner an das Politbüro) undat. wahrscheinlich Februar 1962, in: ebenda, J IV 2/202/32, Bd. 6. Ebenda. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, wie Anm. 133, S. 1. Informationsbericht des Volkswirtschaftsrates an das Politbüro, 29.1.1962, in: ebenda, JIV 2/202/31, Bd. 5. Ebenda. Vgl. Beschluß des Politbüros, Anlage zu Protokoll 13/62,19. 3. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/820, Bl. 36.

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Die westliche Seite, bemüht um eine innerdeutsche Entspannung im Handel, 143 signalisierte freilich auch in der Absicht, mit ökonomischen Leistungen politische Gegenleistungen zu verbinden, Verhandlungsbereitschaft. 144 Darauf wird noch einzugehen sein. Der innerdeutsche Handel belebte sich allmählich. Er biete, so hieß es im Dezember 1963 in einer SEDAnalyse, der DDR „ökonomische Vorteile" vor allem deshalb, weil sie auf Grund innerdeutscher Abmachungen in der Bundesrepublik Preise erziele, die über denen im anderen kapitalistischen Ausland lägen.145 Die DDR geriet, von der SED-Führung ungewollt, objektiv wieder stärker in das wirtschaftliche Gravitationsfeld der Bundesrepublik. Die Politik der „Störfreimachung" führte sich angesichts weltwirtschaftlicher Zwänge selbst ad absurdum. Sie wirkte dem Bestreben der SED entgegen, ihre Handlungsspielräume im Verhältnis zur UdSSR zu vergrößern. Die Maßnahmen des 13. August 1961 verhinderten nicht nur den wirtschaftlichen Exitus der DDR. Sie trugen durch die neue Möglichkeit einer Stabilisierung der Produktion auch zur Herausbildung einer Position bei, der es der SED gestattete, neue wirtschaftliche Stärke in größere politische Eigenständigkeit umzusetzen. Dabei spielte das Wechselverhältnis der DDR zu den übrigen realsozialistischen Ländern eine erhebliche Rolle.

8. Das Spannungsverhältnis zwischen der SED und ihren europäischen Bündnispartnern Mit der Verkündung der Zwei-Staaten-Theorie 1955 und der Aufnahme der DDR in den Warschauer Militärpakt war den anderen Ostblockstaaten klar, daß die sowjetische Führungsmacht auf die Karte einer dauerhaften DDR setzte. Die Unsicherheit über die Frage der deutschen Wiedervereinigung, die bei den kommunistischen Führungen in Ost-und Südosteuropa wahrscheinlich nie als wünschenswert betrachtet wurde, schwächte sich ab. Am Fortbestehen der DDR waren sie schon deshalb interessiert, weil sich in ihrer Optik die bundesdeutsche Auffassung in der Frage der ehemaligen deutschen Ostgebiete als Gefahr darstellte. Ein Konflikt um die Oder-Neiße-Grenze hätte nicht nur Polen und die UdSSR, sondern alle Staaten des Warschauer Paktes berührt. Im Interesse eines europäischen Gleichgewichts konnten sie nur begrüßen, daß der Bundesrepublik mit der DDR ein Korrektiv und Gegengewicht entstand. Die Regierungen in Warschau, Prag, Budapest, Bukarest, Sofia und Tirana schienen sich aber auch dessen bewußt zu werden, daß die von der UdSSR nun offiziell favorisierte deutsche Zweistaatlichkeit die DDR als „Nahtstelle" zwischen Ost und West, als die am weitesten westlich gelegene kommunistische Bastion aufwertete. Konnte das unter gewissen Bedingungen zu einer relativen Abwertung der jeweils eigenen Position gegenüber der Sowjetunion und zur Entstehung von Ungleichgewichten zwischen den Satellitenstaaten im östlichen Bündnissystem führen? Letztlich mußte auch die Frage entstehen, was die DDR den einzelnen Bündnispartnern - vor allem hinsichtlich der sowjetischen 143

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Vgl. Information von Matern, Arbeitsprotokoll 36/62, Sitzung des Politbüros vom 14. 8. 1962, in: ebenda, J IV 2/2A/916, S. 2. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 38/62, 28. 8. 1962, in: ebenda, J IV 2/2A/918. „Bericht über wichtige Maßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik zur Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen mit Westdeutschland und dem besonderen Territorium Westberlin." Anlage 2 zum Arbeitsprotokoll 44/63, 10. 12. 1963, in: ebenda, J IV 2/2A/1002.

Das Spannungsverhältnis zwischen SED und ihren Bündnispartnern

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Absicht, sie zum östlichen „Schaufenster" auszubauen - kostete. Davon wurde auch das Problem der Aufnahme und der Pflege von Beziehungen zur Bundesrepublik berührt. Oft im Gegensatz zu den politischen und zeitgeschichtlichen Darstellungen aus der Zeit der DDR 146 verliefen die Beziehungen zu keinem Land im Warschauer Pakt widerspruchslos, harmonisch oder gar ungetrübt „brüderlich". Auseinandersetzungen, die gar nicht zu vermeiden waren, wurden in der Öffentlichkeit totgeschwiegen und von der marxistischen Gesellschaftswissenschaft nicht thematisiert. Wennn sie das Ohr der Bevölkerung sozusagen „unter der Hand" erreichten, erhielten sie von der SED-Propaganda das Stigma böswilliger Verleumdungen oder wurden, wenn der Tatbestand nicht mehr zu verheimlichen war, heruntergespielt, geschönt oder tendenziös verfälscht. Politische Gegensätze resultierten aus traditionell nationalen, nicht selten nationalistisch definierten Länderinteressen, aus politischem und wirtschaftlichem Egoismus und vielschichtigen Eifersüchteleien. Geschichtliche und subjektive Erfahrung, Vorurteile, Fehlbewertungen, ein erstaunlich zähflüssiger Informationsfluß u.a.m. trugen zur Blockade von Beziehungen bei, die zeitweise durchaus nicht intensiv und in eher konservativen Formen verliefen. Andererseits hielten ähnliche Herrschaftsinteressen, sowjetische Leitmacht und Bündnisdisziplin, aber auch die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Austausches innerhalb des Ostblocks, der ein vom Weltmarkt relativ abgeschlossenes Wirtschaftssystem darstellte, die paktinternen Beziehungen in Gang. Und es gab auch Kräfte außerhalb der herrschenden Eliten, die an einem gewissen Maß an Austausch und Zusammenarbeit zwischen den realsozialistischen Gesellschaften interessiert waren. Verschiedene Vorgaben für die Ausgestaltung der Beziehungen der DDR zu sozialistischen Staaten erhielt die SED aus Moskau. So bestimmte die UdSSR auch nach 1956 den Kurs der SED gegenüber Jugoslawien und Josip Broz Tito. Sie machte alle sowjetischen Schwankungen und Kurskorrekturen diszipliniert mit und zeigte sich gerade dabei als treueste Vasallin der KPdSU. Allerdings zeigte das Politbüro, nachdem sich das Verhältnis zwischen der UdSSR und Jugoslawien nach 1955 deutlich zu entspannen begann, ein hohes Maß an Interesse, die Beziehungen zu Belgrad zu normalisieren. Ein gutes Einvernehmen mit dem Adriastaat besaß Eigenwert, zumal er, vor allem sowjetischen Ambitionen entsprechend, wieder an das sozialistische Bündnissystem herangeführt werden sollte. Darüber hinaus versprach eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch Jugoslawien, das bis 1957 zur Bundesrepublik, aber nicht zur DDR diplomatische Beziehungen unterhielt, Bonns Hallsteindoktrin zu „durchlöchern". Bereits im Februar 1956 hatte Grotewohl den in Berlin versammelten Botschaftern der DDR erklärt, daß das sozialistische Lager alles tun müsse, um Jugoslawien, das noch „Verknüpfungen" mit den USA aufweise, „aus diesen Fesseln zu lösen". Da die Anerkennung der DDR die Kardinalfrage sei, führe ein entsprechender Schritt seitens Jugoslawiens dazu, daß die „Amerikaner in dieser Frage in die Knie gehen." 147 Die Anerkennungsfrage beantwortete die jugoslawische Regierung jedoch ausweichend, weil sie zu Recht 146

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Exemplarisch für die beschönigende zeithistorische und politwissenschaftliche Darstellung innersozialistischer Beziehungen ist die von einem Autorenkollektiv unter Leitung von S. Quilitzsch verfaßte Arbeit: Die DDR in der Welt des Sozialismus, Berlin 1985. Die „brüderliche Verbundenheit" der DDR mit der UdSSR „und den anderen sozialistischen Ländern" wurde in allen politisch und ideologisch relevanten Dokumenten der SED - u.a. in ihrem Parteiprogramm kanonisiert. Vgl. Programm der SED, angenommen auf dem VI. Parteitag der SED, 15.-21. 1. 1963, Berlin 1963, S. 38, 41. Stenographische Niederschrift der Botschafterkonferenz in Berlin, 1./2. 2. 1956, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/201/429, Bl. 79.

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Komplikationen mit der Bundesrepublik befürchtete. Da die SED in dieser Sache allein nicht weiter kam, leistete ihr die KPdSU massive Hilfe. Als Tito im Spätsommer 1956 in Moskau das Thema sowjetischer langfristiger Kredite für den Bau eines Aluminiumkombinats anschnitt, sagte die KPdSU Hilfen unter der Bedingung zu, daß Jugoslawien die DDR diplomatisch anerkenne. Tito verpflichtete sich, mit der DDR, die von der UdSSR geschickt in das Aluminium-Projekt eingebunden wurde, noch vor Ablauf des Jahres 1956 staatliche Beziehungen herzustellen. Als das im Februar 1957 immer noch nicht geschehen war, fühlten sich die UdSSR und die DDR nicht an die „unmittelbare Durchführung" des bereits unterzeichneten Vertrags über die Errichtung der Aluminiumhütte gebunden. 148 Nach erneuter Fühlungnahme bat Jugoslawien, die Gespräche über das Projekt am 15. Juli 1957 wieder aufzunehmen. Das Politbüro nutzte die Gunst der Stunde. Es beschloß in Abstimmung mit der Sowjetunion, Ministerpräsident Grotewohl zu beauftragen, dem sowjetischen Botschafter Puschkin folgendes mitzuteilen: „Da eine Verwirklichung der Vertragsverpflichtungen angesichts der zusätzlichen Aufgaben, die im letzten halben Jahr hinzugekommen sind - z. B. Kredit an Polen - größere Opfer seitens der DDR erfordern würde, diese aber nicht im Plan enthalten sind, müßte der Bevölkerung die Notwendigkeit und der Vorteil solcher Opfer klargelegt werden im Zusammenhang mit der Anerkennung der DDR durch die Föderative Volksrepublik Jugoslawien. Das bedeutet, daß seitens Jugoslawiens eine klare Stellung zugunsten der Anerkennung der DDR bezogen werden müßte. Das ist um so mehr erforderlich, da die jugoslawische Regierung bisher jede Vereinbarung auf Regierungsebene abgelehnt hat." 149 Bei den im Juli wieder aufgenommenen Verhandlungen in Moskau überraschte das Junktim zwar die jugoslawische Verhandlungsdelegation, die sich gegen die politische Vorbelastung wirtschaftlicher Abkommen aussprach 150 ,führte aber bei Tito zum Erfolg. So wurde Grotewohl Ende August signalisiert, dem jugoslawischen Staatschef offizielle Verhandlungen über die Aufnahme völkerrechtlicher Beziehungen vorzuschlagen. 151 Am 10. Oktober 1957 erkannten sich Jugoslawien und die DDR diplomatisch an. Da in Belgrad eine harsche Reaktion der Bundesregierung erwartet wurde, bat die jugoslawische die sowjetische Regierung, alles - u. a. auch eine Stellungnahme der für November 1957 nach Moskau einberufenen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien - zu unterlassen, was Belgrad im Verhältnis zu Bonn zusätzlich politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten bereiten könnte. 152 Erwartungsgemäß brach die Bundesrepublik ihre Beziehungen zu Jugoslawien ab, sicherte aber die Fortführung der politischen und wirtschaftlichen Kooperation zwischen beiden Staaten, deren Verhältnis am Ende keinen dauerhaften Schaden nahm. Zwar funktionierte die Hallsteindoktrin, doch stellte die Aufnahme völkerrechtlicher Beziehungen einen Erfolg von Diplomatie und Propaganda der DDR dar. Das hinderte die SED nicht daran, Jugoslawien und seinen gesellschaftlichen Weg, den die KPdSU nach 1957 wieder als „revisionistisch" verketzerte, heftig zu kritisieren. Als das Politbüro eine bereits zugesagte Teilnahme am VII. Parteitag des Bundes der Kommunisten 148 149

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Rede Nordens vor Abteilungsleitern des ZK der SED, 8. 2. 1957, in: ebenda, NL 217/41, Bl. 37. Beschluß des Politbüros vom 11. 7. 1957, Anlage 5 zum Protokoll 28/57, 9. 7. 1957, in: ebenda, J IV 2/2/548, Bl. 50. Vgl. Sitzung des Politbüros, Anlage 5 zum Protokoll 30/57,23.7.1957, in: ebenda, JIV 2/2/550, Bl. 32. Vgl. Entwurf eines Schreibens an Tito, Anlage 2 zum Protokoll 35/57, Sitzung des Politbüros vom 20. 8. 1957, ebenda, JIV 2/2/555, Bl. 6f. Vgl. „Mitteilung der Genossen Ponomaijow und Andropow", 15. und 18.10.1957, in: ebenda, JIV 2/202/304 (1), Bd. 2.

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Jugoslawiens im März 1958 mit der Begründung zurückzog, man habe inzwischen den Programmentwurf dieser Partei studiert und sei zu der Meinung gekommen, „daß er im Gegensatz steht zu der gemeinsamen Deklaration der kommunistischen Arbeiterparteien" (1957) und in wesentlichen Teilen den „Prinzipien des Marxismus-Leninismus" widerspreche, stand die UdSSR hinter dem ideologischen Angriff. Wieder wurden die Vorwürfe einer indirekten Unterstützung „imperialistischer Kräfte" erhoben und Chruschtschow und die KPdSU sogleich über den lauten Protest der ostdeutschen Genossen informiert. 153 Noch 1960 lehnte die KPdSU, unterstützt von der SED, eine Mitgliedschaft Jugoslawiens im RGW ab, weil es „immer noch eine falsche Stellung in bezug auf das sozialistische Lager einnimmt." 1 5 4 Die starke ideologische Beteiligung der SED am neuen „Jugoslawienfeldzug" erhärtet die Vermutung, daß die DDR nach 1956/57 einen größeren Stellenwert im „sozialistischen Lager" erhielt. Alles andere als reibungslos entwickelten sich auch die Beziehungen der DDR zur Volksrepublik Polen. Der durch den XX. Parteitag der KPdSU ermöglichte Reformkurs des neuen Ersten Sekretärs der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Wladislaw Gomulka und der antistalinistische Arbeiteraufstand in Posen und in anderen polnischen Städten beunruhigten das Politbüro der SED. Zu ernsten Verstimmungen zwischen den beiden kommunistischen Parteiführungen kam es aber erst, als polnische Journalisten das persönliche Regiment Ulbrichts und die spätstalinistischen Herrschaftsmethoden der SED öffentlich kritisierten und deutlich wurde, daß hinter dieser Kritik an den Verhältnissen in der DDR auch polnische Parteiführer - man munkelte Gomulka selbst - standen. Dies war für Ulbricht um so ärgerlicher, als er dem von Moskau ausgelösten begrenzten Entstalinisierungskurs in Wahrheit ablehnend gegenüberstand und schon in der Frage von Maßnahmen gegen den „Personenkult" mehr als Bremse denn als Motor wirkte. Zwar setzte er sich in einer für ihn und andere stalinistische Politiker typischen Weise an die Spitze einer Aktion, die nicht mehr verhindert werden konnte. Doch vermutete er sowohl in der Entstalinisierung, die nach den Ereignissen in Ungarn und Polen im Herbst 1956 von der erschreckten KPdSU beendet wurde, als auch in den intellektuellen Angriffen aus Polen mehr noch eine Gefahr für seine persönliche Position als die Tendenz zu einer allgemeinen Liberalisierung in der DDR. Der Erste Sekretär beobachtete die Entwicklung einer kritischen Stimmung in der SED mit Sorge, sah sich plötzlich mit Kritik an seinem Führungsstil, mit Reformideen und vor allem mit Konkurrenten in den eigenen Reihen konfrontiert. So wirkte das polnische Beispiel nicht nur als Vorbild für tatsächliche und potentielle Dissidenten in der DDR. Die innenpolitischen Gegner Ulbrichts erhielten aus verschiedenen polnischen Kreisen zumindest moralische Hilfe. Nicht zum ersten Mal lag Ulbricht mit seinem reformfeindlichen politischen Beharrungskurs richtig. Ganz wesentlich veranlaßt durch die Eruption des Freiheitswillens im polnischen Volk, versuchte die sowjetische Führung dem Liberalisierungsprozeß in Polen, der außer Kontrolle zu geraten drohte, entgegenzusteuern. Dabei half Ulbricht „internationalistisch" und höchst egoistisch. In dieser Situation erwies er sich als der treueste und in jeder Beziehung zuverlässige Bündnispart153

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Schreiben des ZK der SED an das ZK des BdKJ, Anlage 1 zum Protokoll 17/58, Sitzung des Politbüros vom 15. 4. 1958, in: ebenda, J IV 2/2/589, Bl. 3. Vgl. hierzu auch Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 15. 4. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/304(1), Bd. 2. Schreiben A. Kossygins, Leiter der Vertretung der UdSSR im RGW, an N. W. Faddejew, Sekretär des RGW, 6. 1. 1960, in: ebenda.

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ner der sowjetischen Parteibürokratie. Diese vorbehaltlose Loyalität trug insgesamt zu einer Aufwertung der SED im Konzert der kommunistischen Parteien des Ostblocks und zur Beschleunigung eines Integrationsprozesses bei, der die DDR allmählich zum „Juniorpartner" der Sowjetunion qualifizierte. Andererseits wurden die ostdeutsch-polnischen Beziehungen nachhaltig getrübt. Die Führung der SED, sich immer stärker zum „wahren Freund der Sowjetunion" und zum Gralshüter der „reinen" marxistisch-leninistischen Lehre aufspielend, ging im Frühjahr 1957 in die ideologische Gegenoffensive. Sie zeichnete sich durch Schärfe und Kleinlichkeit aus. So ordnete das Politbüro u.a. an, alle an polnischen Universitäten studierende DDR-Bürger zurückzubeordern. 155 Die SED kritisierte den nichtsozialistischen Weg der polnischen Landwirtschaft, die Überlegungen polnischer Reformer über eine Selbstverwaltung der Industriebetriebe, vor allem aber die „Angriffe" der polnischen Presse auf die Verhältnisse in der DDR, die mit einem „brüderlichen Verhältnis zwischen zwei sozialistischen Staaten unserer Meinung nach absolut unvereinbar [sind]".156 Eine heftige Polemik richteten SED-Spitzenfunktionäre, explizit am 8. Februar 1957 Albert Norden, gegen „ernste Erscheinungen" im Nachbarland, „etwa Erscheinungen massiven Antisowjetismus [...] Antisemitische Ausschreitungen ernstester Art, die da sind auf allen möglichen gesellschaftlichen Gebieten, vom Erziehungswesen bis hin zu einer Reihe weiterer Fragen, über die man hier nicht so ausfuhrlich zu sprechen braucht." Den rationalen Kern der Polenschelte - in der Frage des Antisemitismus sagte Norden die Wahrheit - bildeten aber nicht nur die ideologisch verbrämten Zurückweisungen polnischer Reformvorstellungen und der Kritik am starren System in der DDR, sondern auch ökonomische Vorgänge. Polen hatte nämlich erklärt, statt der vereinbarten 3-3 lh Mio. Tonnen Steinkohle der DDR nur etwa ein Drittel davon liefern zu können. 157 Das war freilich ein harter Schlag. Die polnische Entscheidung hatte auch eine Reaktion auf den vorangegangenen Beschluß des SED-Politbüros dargestellt, die von Warschau gewünschte Beteiligung „an Investitionen für [die] Kohle-Industrie" in Polen „aus politischen Gründen" als nicht tragbar zu qualifizieren.158 Das Politbüro mißtraute der neuen polnischen Parteiführung auch außen- und bündnispolitisch. Die SED-Führung argwöhnte, daß sich Polen mit der Bundesrepublik und mit den USA auf Kosten der DDR zumindest begrenzt arrangieren könnte. Als im April 1957 das Gerücht aufkam, der polnische Ministerpräsident Josef Cyrankiewicz und der Bundesaußenminister Heinrich von Brentano hätten sich in Indien zu einer internen Besprechung der deutschen Frage getroffen, reagierte die SED nervös; sie wandte sich an die UdSSR. 159 Ein derartiger Verdacht entbehrte jeder Grundlage, deutete aber auf das hohe Maß beiderseitigen Mißtrauens hin. Wenngleich die KPdSU immer mehr die DDR favorisierte, lag ihr doch nichts an ostdeutsch-polnischen Spannungen. Sie übte erfolgreich Druck auf Warschau und Ostberlin aus, ihr bilaterales Verhältnis zu normalisieren. Der polnische Ministerpräsident signalisierte Ulbricht denn auch im Frühjahr 1957, er habe den Eindruck, „das Verhältnis zur DDR kann so wie es sich gehört in der Spitze wieder zu einem vernünftigen genossenschaft155

Beschluß des Politbüros, Protokoll 15/57, 2. 4. 1957, in: ebenda, J IV 2/2/535, Bl. 6. Vgl. Anm. 148, Bl. 34. 157 Ebenda, Bl. 33. '58 Beschluß des Politbüros, Protokoll 18/56,17. 4. 1956, in: ebenda, JIV 2/2/472, Bl. 6. 159 Vgl. Aktennotiz des Botschafters der DDR in Moskau, König, über eine Unterredung mit dem stellvertretenden Leiter der 3. europäischen Abteilung des sowjetischen Außenministeriums, Alexandrow, 18. 4. 1957, in: ebenda, JIV 2/202/67, S. 3.

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liehen werden, wenn wir es verstehen, mit einigen an der Spitze kameradschaftliche Diskussionen zur Klärung einiger Fragen zu fuhren." 1 6 0 Eine prinzipielle Übereinkunft der beiden Parteiführungen folgte. Die Beziehung normalisierte sich und nahm langsam positive Züge an. Vor allem außenpolitisch entwickelte sich eine engere Zusammenarbeit. Als Beispiel sei die Kooperation in der Frage des polnischen Rapacki-Planes genannt. Die SED stimmte diesem Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone in Europa zu, verwies aber auch auf ihre Pflicht, die UdSSR in dieser Sache zu konsultieren. 161 Das war einigermaßen verwunderlich. Wußte die SED nicht, daß Moskau als Spiritus rector des Planes natürlich hinter diesem stand? Die polnische Regierung zeigte sich verärgert über die an Überheblichkeit und Besserwisserei kaum zu überbietende Mentalität der SED, der PVAP „ideologisch" helfen und sie politisch beraten zu müssen. Um „den Einfluß der marxistisch-leninistischen Kräfte innerhalb der PVAP weiter zu stärken" 162 , wie es Peter Florin im November 1959 an Ulbricht schrieb, versuchte die SED ständig ideologisch Einfluß zu nehmen. Im übrigen führten kleinliche nationale und bürokratische Parteiegoismen immer wieder zu Konflikten und Verstimmungen. 1960 prallten z. B. gegensätzliche Fischereiinteressen 163 aufeinander, und 1963 erweckten polnische Tariferhöhungen für DDR-Waren im Transitverkehr ostdeutschen Mißmut 1 6 4 . Noch im gleichen Jahr beschwerte sich Ulbricht bei Chruschtschow über die polnische Weigerung, den Steinkohlenexport in die DDR um 0,5 Mio. Tonnen zu erhöhen, obwohl man den Polen einen 600 Mio. DM-Kredit gegeben habe. Er frage sich, warum die DDR Steinkohle aus dem Ural beziehen soll, „wenn Oberschlesien und Schlesien viel näher sind." 165 Das ostdeutsch-polnische Verhältnis blieb im wesentlichen auf die Beziehung der Eliten reduziert. Es gestaltete sich auch weiter spannungsvoll. Der ostdeutsch-polnische Bilateralismus erhielt eine zweite Dimension durch seinen starken Bezug auf die Sowjetunion, was den zwischenstaatlichen Austausch und Verkehr zwischen Ostberlin und Warschau als eigenständige Größe stark relativierte. Insgesamt blieb nach 1956/57 eine deutliche Aufwertung der DDR gegenüber Polen durch die KPdSU erkennbar. Diese Aufwertung der DDR im Warschauer Pakt und RGW - am Beispiel Polens sichtbar hatte wirtschaftliche und politische Gründe. Sie vergrößerte den relativen außen- und bündnispolitischen Handlungsspielraum der SED. Als der stärkste wirtschaftliche RGW-Staat nach der UdSSR und für diese der wichtigste Handelspartner brachte die DDR als deutscher Teilstaat eine „natürliche" ökonomische Schwerkraft ein. Politisch zuverlässig und ideologisch aktiv, entwickelte die Partei- und Staatsführung der DDR nach 1956/57 neues Selbstbewußtsein. Nicht selten waren überzogene Selbstwertgefühle, Überheblichkeit und politische „Oberlehrer"Mentalität, die Ulbricht verkörperte, Ausdruck der Tatsache, daß die DDR die anderen Bündnispartner ökonomisch überflügelt hatte und sich daran machte, neben der 160 161 162 163

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Notiz B. Baums für Ulbricht, 5. 2. 1957, in: ebenda, J IV 2/202/369, Bd. 2, S. 3. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 42/58, 14. 10. 1958, in: ebenda, J IV 2/2/614, Bl. 5. Schreiben P. Florins an Ulbricht, 11.11. 1959, in: ebenda, IV 2/20/157. Vgl. Beschluß des Politbüros, Anlage 4 zum Protokoll 27/60,21.6. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/708, Bl. 13f. Sitzung des Politbüros, Standpunkt der DDR zur Erhöhung des Tarifs für Dienstleistungen in den Seehäfen der Volksrepublik Polen für ausländische Auftraggeber, Anlage 3 zum Protokoll 35/63,8.10. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/899, Bl. 30ff. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 22. 10. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/338, S. 3.

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Sowjetunion auch politisch die wichtigste Kraft im System der Ostintegration zu werden. Gleichzeitig wußte die SED-Führung, daß die Existenz der DDR nicht nur von der UdSSR, sondern auch vom „Lager" insgesamt abhing, dessen integraler Bestandteil sie nun einmal war. „Brüderliche" Beziehungen umschrieben, verzichtete man auf propagandistische Hüllen und euphorisches Bekenntnisbeiwerk, im wesentlichen ähnliche prinzipielle Interessen der einzelnen kommunistischen Führungen und eine davon abgeleitete weitgehend koordinierte Politik sowie den Führungsanspruch der größten aller „Brüder", der UdSSR. Das implizierte einerseits - vor allem unter den Bedingungen eines vom Weltmarkt relativ abgeschotteten, in sich geschlossenen Systems - intensive immanente Beziehungen, andererseits aber auch die Auseinandersetzung um ihre Gestaltung und interne - national organisierte - Positionskämpfe. Diese wurden allerdings sowohl von den sowjetischen und eigenen Machterhaltungsinteressen als auch vom Ost-West-Konflikt - zusammengefaßt als Bündnisdisziplin begriffen - begrenzt. Insgesamt bildeten die bi- und multilateralen Beziehungen der sozialistischen Staaten ein Spannungsverhältnis aus. In verschiedenen Sachfragen gingen verschiedene sozialistische Staaten Bündnisse auf Zeit ein. Die „Koalitionen" wechselten vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet. So besaß auch die DDR in verschiedenen Zeitabschnitten und in unterschiedlichen Fragen interne Verbündete und „Gegner", die eben gegebenenfalls die Rollen tauschten. Selten wurde dabei die verbindliche Bündnisdisziplin verletzt. Waren Übertretungen ernsthaft, d.h. stellten sie die Existenz des Systems oder wesentlicher Teilbereiche in Frage, erfolgten Sanktionen. Exekutivmacht blieb in der Regel der führende Staat im Bündnis: die UdSSR. Sie bildete auch die höchstrichterliche Instanz. Erlaubt war alles, was das diktatorische Gesamtsystem zu stabilisieren schien und die kanonisierte „führende Rolle der Sowjetunion" nicht beeinträchtigte. Die SED ging davon aus, daß ein großer Anteil an stabilisierenden bzw. den Gang des realen Sozialismus voranbringenden eigenen Beiträgen zur Erweiterung politischer Handlungsspielräume der DDR im Ostblock beitragen müßte. Auf der Basis einer mehr traditionellen als nach 1949 erworbenen industriellen Kraft entwickelte die DDR im Ostblock eine Bündnispolitik, die außerordentlich stark ideologisch untersetzt und sehr deutschlandbezogen, d.h. antiwestdeutsch, artikuliert wurde. Hauptziel der ostdeutschen Staatspartei blieb nach 1956/57, mit Hilfe der sozialistischen Staaten die weltweite völkerrechtliche Anerkennung der DDR durchzusetzen. Die SED erwartete - freilich im Austausch von Leistungen - daß die „Bruderländer" sie bei der inneren Festigung ihres Machtbereichs in Deutschland mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln bei dem Ziel unterstützten, die DDR - im höheren Gesamtinteresse - als sozialistisches Musterland auszubauen. Die SED trug ihre Ansichten im Bündnis - 1956/57 noch stark unter dem Eindruck des Kampfes gegen das polnische „Abweichlertum" stehend - sehr prinzipiell vor. Auf der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder der Welt, Mitte November 1957, widersprach Ulbricht dem polnischen Parteichef Gomulka, weil dieser in der abschließenden Deklaration unterschiedliche Standpunkte aufnehmen wollte: „Die Deklaration kann nicht ein Konglomerat verschiedener Standpunkte sein und darf es nicht sein. Im Ergebnis der Beratung muß ein vereinbartes Dokument über die Hauptfragen angenommen werden." 166 Damit entsprach er dem Wunsch der sowjetischen Führung. Aber er erkannte diese und ihre Dogmen noch weitgehender an: „Die Überbetonung der Beson166

Rede Ulbrichts auf der gemeinsamen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder, Moskau, 14.-16. 11.1957, in: ebenda, IV 2/20/88, Bl. 298.

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derheiten in einzelnen Ländern hatte dazu geführt, daß die Zusammenarbeit in den großen Fragen des Kampfes gegen die Politik der NATO und für die Sicherheit des Friedens gehemmt wurde [...] Wir sind einverstanden mit der Meinung, die hier der Genosse Mao Tse Tung zum Ausdruck brachte, als er erklärte, daß die Kommunistische Partei der Sowjetunion an der Spitze aller kommunistischen Parteien steht. Das war immer unsere Meinung und anders haben wir uns das nie vorgestellt." 167 Zweifellos beabsichtigte Ulbricht, der die entscheidende Phase der politischen Entmachtung der internen Gruppierung um Karl Schirdewan und Ernst Wollweber eingeleitet hatte, die sowjetische Führung auf sich festzulegen. Gleichzeitig ging es ihm aber darum, mit Hilfe sowjetischen Nachdrucks, die zögernden Bündnispartner auf den außenpolitischen Kurs der DDR festzulegen. „Wir bedauern", meinte er im Plenum der Konferenz, „daß nach den wichtigen Beschlüssen, die die NATOOrganisation Ende des vergangenen Jahres faßte [Annahme des „Schwert-Schild„-Konzeptes der westlichen Militärstrategie - M. L.] es nicht möglich war, eine gemeinsame Beratung einzuberufen. Es wurden lediglich zweiseitige Beratungen in Fragen des Kampfes gegen die Politik der NATO durchgeführt. Da wir besonders an diesen Fragen interessiert sind, sind wir der Meinung, daß es in der Zukunft notwendig ist, in solchen Fällen gemeinsame Beratungen durchzuführen und auf solchen Beratungen gemeinsame Beschlüsse zu fassen. Gegenüber dem organisierten Gegner [...] müssen wir eine gemeinsame Einschätzung der Situation haben und die gemeinsamen Aufgaben im Kampf festlegen." Ulbricht rief zum „Schulterschluß" gegen die Bundesrepublik auf. Hier zeigte sich deutlich eine sowjetisch-ostdeutsche Interessenidentität, während vor allem Polen den „westdeutschen Imperialismus" moderater beurteilte und wie Ulbricht meinte, zu „harmlos" darstellte. Nicht zufällig lobte Ulbricht - wieder mit einem antipolnischen Seitenhieb - die politische und ideologische Zusammenarbeit zwischen der SED einerseits und der KPdSU und der KPC andererseits. 168 Anläßlich bündnisinterner Parteikonferenzen versuchte die SED, die sich vorher mit der KPdSU absprach, immer wieder, die östlichen Führungen auf ein Thema als „Ziel und Hauptgegenstand der Beratungen" festzulegen: „... die Gefahr der Entwicklung in Westdeutschland und die Politik der wichtigsten Kräfte in der Bundesrepublik (insbesondere die Rolle der SPD)" 169 Das Thema geriet zum Dauerthema. Die verbündeten kommunistischen Parteien gingen auf die politischen Forderungen der SED schon mit Rücksicht auf sowjetische Interessen ein, aber auch, weil sie von der Bundesrepublik tatsächlich eine Gefahr ausgehen sahen, und u. a. über die Oder-Neiße-Frage beunruhigt waren. Aber sie sperrten sich doch, für die seit 1960 bedrängte DDR zusätzlich zu liefern, auf Kosten ihrer Binnenversorgung mehr zu exportieren oder andere Opfer für einen Staat zu bringen, dessen Bevölkerung es besser ging als der eigenen. Zumindest bestand man in Warschau, Prag, Budapest und anderen RGW-Hauptstädten auf Gegenleistungen der DDR. Verhandlungen über eine Beteiligung an der „Störfreimachung" verliefen für die SED zumeist unbefriedigend. Dabei entwickelte sich eine Art schematischer Regelmäßigkeit: In Ungarn fand man 1958-1962 das weitgehendste Entgegenkommen, Bulgarien befriedigte die Wünsche nicht voll, „aber unter den obwaltenden Umständen" nach seinen Möglichkeiten, Rumänien blieb im Urteil der SED unter diesen. Die Angebote der CSSR seien „keineswegs befriedigend", und auch Polens 167

169

Ebenda, Bl. 299. Ebenda, Bl. 299, 301, 303. Sitzung des Politbüros, Anlage 1 zum Protokoll 16/37, 9. 4. 1957, in: ebenda, J IV 2/2/536, Bl. 6.

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Liefervorschläge „könnten keineswegs akzeptiert werden." 170 Besonders hinhaltend verhielten sich die sozialistischen Partner bei der Lieferung von Steinkohle, Walzerzeugnissen und Chemikalien. „Die polnischen Genossen zeigten äußerst mangelndes Verständnis für die reale Situation", klagte der neue Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR, Karl Mewis, dem Politbüro gleich nach dem Mauerbau. 171 Hier äußerte sich auch eine arrogante Haltung, denn man setzte in Ostberlin offenbar voraus, daß die anderen realsozialistischen Staaten - deren wirtschaftliche Möglichkeiten äußerst beschränkt waren - liefern müßten, weil Ostberlin Rohstoffe benötigte und sich bei seiner „Störfreimachung" der sowjetischen Sympathie erfreute. Erst unmittelbar vor dem 13. August 1961 war es der SED gelungen, im speziellen Bündnis mit der KPdSU die Zustimmung aller kommunistischen Führungen im Warschauer Pakt für ihre Abriegelungspläne zu erlangen. Grenzschließung und Mauerbau beendeten auch für die RGW-Staaten politische Unsicherheiten und entschärften einen destabilisierenden Faktor für das gesamte realsozialistische System. Vor allem aber - was immer etwas übersehen wird - schien damit auch das Kapitel dringlichsten Hilfeersuchens der DDR um knappe Rohstoffe und Material abgeschlossen zu sein. So mochte die zustimmende Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten zur Abschottung der DDR am 13. August 1961 172 auch ein „Seufzer" der Erleichterung gewesen sein. Für den Zeitraum von 1956/57 bis ca. 1963, dem Ende der akuten Systemkrise in der DDR, läßt sich eine Aufwertung der DDR im östlichen Bündnis deutlich feststellen. Der Handlungsspielraum der SED vergrößerte sich jedoch nicht automatisch und auch nicht ohne Hilfe der Sowjetunion. Allein das hohe Maß an Übereinstimmung mit den Zielen der sowjetischen Führung und in „prinzipiellen", also in ideologischen Fragen, entschied über die Höherbewertung der SED gegenüber anderen kommunistischen Parteien im Ostblock. Die relative wirtschaftliche Stärke der DDR und der Umstand, daß sie die in der Regel strukturschwachen anderen Mitglieder von Warschauer Pakt und RGW als traditionell industrialisiertes Land schnell überholte, bildete zwar eine Grundlage für „Juniorpartnerschaft", gaben aber nicht den Ausschlag. In der Zeit nach 1956 konnte die SED den Abbruch des Entstalinisierungskurses und die damit verbundenen Spannungen im Ostblock nutzen, um sich politisch und ideologisch als treuester Vasall der Sowjetunion zu profilieren. Es war vor allem Ulbricht, der am sowjetischen politischen und Gesellschaftsmodell - seinen „nationalkommunistisch" orientierten Bündnispartnern im Ostblock einen schlechten Dienst erweisend - konsequent festhielt und auch weiterhin modifiziert sowjetisierte. So ließ Ulbricht 1960 einen „kollektiven" Staatsrat errichten, dessen Vorsitz er selbst übernahm. Vor allem über den Weg einer noch fester werdenden Bindung an die UdSSR erlangte die DDR innerhalb des Ostblocksystems größere taktische Handlungsspielräume, konnte die SED gegebenenfalls aus eigenem Entschluß gegen Kräfte in den Reihen der nichtdeutschen Partner vorgehen, wenn diese sowjetische Norm, Disziplin, aber auch politische Postúlate der SED verletzten. Sowohl die Tatsache, daß die SED verschiedene Auffassungen und Absichten durchsetzen konnte als auch die damit verbundene Aufwertung der DDR schlugen sich in selbstbewußten Reflexionen der SED-Eliten nieder: So sei es der Partei gelungen, mit der KPdSU, PVAP und 170 171 172

Beschluß des Politbüros, Protokoll 48/61, 12. 9. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/790, Bl. 7. Ebenda, Bl. 20. Vgl. Erklärung der Regierungen der Warschauer-Vertrags-Staaten, undat., in: ebenda, J I V 2/202/251, Bd. 3.

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KPC verbindliche Absprachen „über gemeinsame Aktionen gegen den westdeutschen Imperialismus" zu treffen. Damit war im Frühjahr 1961 ein wichtiges Teilziel erreicht worden. Auch der Einfluß im sozialistischen Lager sei gestiegen. Bei den kommunistischen Staatsparteien Rumäniens und Bulgariens - so hieß es dann weiter - sei zwar „noch eine gewisse Zurückhaltung zu verzeichnen, die sich vor allem in einer ungenügenden Propagierung der Rolle der DDR äußert", aber auch hier wurde Respekt vor der SED konstatiert. Am höchsten rechnete sich die politische Führung in Ostberlin an, daß sie der Führung der PVAP geholfen habe, die „opportunistischen Einflüsse in der PVAP zurückzudrängen und eine konsequentere Politik vor allem auf dem Gebiet der Landwirtschaft durchzufuhren [...] und den Einfluß der Kirche zurückzudrängen." 173 So fühlte sich die Führung der SED als marxistischleninistische Lehrmeisterin den übrigen Mitgliedern im Warschauer Pakt und im RGW eigenartigerweise auch während der Krise in der DDR ab 1960 - zunehmend überlegen. Die weltpolitische Situation nutzend, entwickelte die DDR im Auftrag der UdSSR während des Berlinkonflikts eine besondere Kampagne gegen die abtrünnige Volksrepublik China. Ideologisch begann die Agitation bereits Mitte 1960 mit der Ablehnung der Pekinger Theorie eines „großen Sprungs" sozialistischer Gesellschaften in den Kommunismus. 174 1962 kritisierte die SED-Führung den Krieg Chinas gegen Indien, weil ein prinzipiell falsches Verständnis der Kommunisten von den Neutralen entstehe, und die Bedingungen nicht genügend beachtet würden, „unter denen sich die Politik der Neutralen angesichts des Bestehens der zwei Weltsysteme entwickelt."175 Erzürnt schrieb Ulbricht im Januar 1961 an Mao Tse-tung, daß China versuche, „die vom westdeutschen Imperialismus und Militarismus ausgehenden Gefahren zu bagatellisieren"176, unterstellte der chinesischen Führung aber andererseits das Ziel, Deutschland durch einen Atomkrieg zu vernichten. 177 Es hagelte ideologische Belehrungen und antichinesische Polemiken. 178 Die Reden chinesischer Parteitagsgäste wurden nicht mehr übertragen, und chinesische Zeitschriften in der DDR beschlagnahmt und verboten. 179 Die ostdeutsch-chinesische Auseinandersetzung als ein Reflex des sowjetisch-chinesischen Gegensatzes zeigte einerseits, daß sich die SED durch die bedingungslose Unterstützung der UdSSR einen berlinpolitischen Bonus als Äquivalent zu sichern suchte. Andererseits weist sie auf die im großen und ganzen richtige westliche Beobachtung eines den Deutschlandprozeß überlappenden und entlastenden sowjetisch-chinesischen Dualismus hin. So setzte der Westen nicht zu Unrecht auf die „chinesische Karte". In der Tat trug diese von der SED mitgetragene Situation dazu bei, daß Chruschtschow zur neuen Politik der Entspannung überging.180 173

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Abteilung Außenpolitik und Internationale Verbindungen des ZK. Entwurf einer Vorlage (von H. Ott) für das Sekretariat des ZK, 17. 2. 1961, in: ebenda, IV 2/20/31. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 26/40, 14. 6. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/707, Bl. 2-4. „Entwurf der Antwort der Regierung der DDR auf das Memorandum der Regierung der VR China an die Regierung der UdSSR". Anlage 10 zum Protokoll 48/62, Sitzung des Politbüros vom 30.10.1962, in: ebenda, J IV 2/2/855, Bl. 182. Schreiben Ulbrichts an Mao Tse-tung, 13.1.1962. Anlage 4 zum Protokoll 1/62, Sitzung des Politbüros vom 9./10. 1. 1962, in: ebenda, JIV 2/2/808, Bd. 2, Bl. 145. Bemerkungen des Gen. Ulbricht zur Vorlage „Stellungnahme zum Offenen Brief der KPdSU". Anlage 2 zum Protokoll 22/63, Sitzung des Politbüros vom 16.7.1963, in: ebenda, JIV 2/2/886, Bl. 37. Vgl. Erklärung zur Haltung der VR China. Anlage 1 zum Protokoll 29/63, Sitzung des Politbüros vom 27. 8. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/893, Bl. 7-9. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 57/63, 10. 1. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/864, Bl. 2. Vgl. H. Weber, Die DDR 1949-1990, München 1993, S. 55.

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9. Motive, Initiativen und Spielräume der SED im RGW Über Probleme verschiedenartiger bilateraler und integraler Prozesse im Ostblock existieren eine überschaubare Zahl von zumeist älteren Quellenpublikationen 181 und Darstellungen. 182 Die Bestimmung der Position der DDR zum RGW und innerhalb dieser Wirtschaftsorganisation der realsozialistischen Staaten bedarf eingehender zeitgeschichtlicher Untersuchungen. Eine Reihe von Quellensammlungen 183 und Arbeiten über allgemeinere Aspekte des RGW 1 8 4 , spezielle Analysen seiner Strukturen, seiner Teilbereiche, bzw. der Tätigkeit verschiedener Mitgliedstaaten im RGW 1 8 5 sind, soweit sie Anspruch auf Objektivität erheben können und nicht weitgehend als apologetisches Schriftgut marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaften 186 zu betrachten sind, noch nicht sehr umfangreich. Die Forschungslücken können unter den Bedingungen der vollendeten Historizität des Gegenstandes und der nun weitgehend zugänglichen Akten geschlossen und wichtige Probleme geklärt werden. Zum einen stellt sich nach dem Ende des Realsozialismus die allgemeine Frage neu, was der RGW im System der Ostintegration eigentlich war, wie seine Strukturen aussahen und 181

Vgl. u. a. folgende gedruckte Quellen: Dokumente und Materialien der Zusammenarbeit zwischen der SED und der KPdSU, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML), Berlin 1977. B. Meissner (Hg.), Der Warschauer Pakt. Dokumentensammlung, Köln 1962; B. Meissner (Hg.), Das Ostpakt-System. Dokumentensammlung, Frankfurt/M. 1955; Die Organisation des Warschauer Vertrages 1955-1975. Dokumente und Materialien, Berlin 1975; A. Uschakow/D. Frenzke, Der Warschauer Pakt und seine bilateralen Bündnisverträge. Analyse und Texte. Berlin 1987. 182 Vgl. im weiteren folgende Darstellungen: Z. K. Brzezinski, Der Sowjetblock - Einheit und Konflikt, Köln und Berlin 1962; L. E. Davis, The Cold War Begins. Soviet-American Conflict over Eastern Europe, Princeton N.J. 1974; D. Geyer, Kommunistische Internationale, in: Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft, Bd. III, Sp. 771-791; J. Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980, Baden-Baden 1983; J. Hacker/A. Uschakow, Die Integration Osteuropas 1961 bis 1965, Köln 1966; J. Hayward/M. E. Ruban (Hg.), State and Society in Contemporary Europe, Oxford 1979; R. Löwenthal/B. Meissner (Hg.), Der Sowjetblock zwischen Vormacht, Kontrolle und Autonomie, Köln 1984. 183 Vgl. östlicherseits u. a.: Internationale ökonomische Organisationen der RGW-Länder. Dokumente, hg. vom Institut für ausländisches Recht und Rechtsvergleichung an der Akademie für Staat und Recht, Potsdam-Babelsberg, Berlin 1985; L. Rüster (Hg.), Grunddokumente des RGW, Berlin 1978. Vgl. westlicherseits z.B.: A. Uschakow (Hg.), Integration im RGW (COMECON), Dokumente, BadenBaden 21983; A. Uschakow, Der Ostmarkt im Comecon. Eine Dokumentation, Baden-Baden 1972. 184 Vgl. u. a. J. M. van Brabant, On the Origins and Tasks of the Council for Mutual Economic Assistance, in: Osteuropa-Wirtschaft, 1974, S. 182-209; H. Bruder u. a., Internationale ökonomische Organisationen der RGW-Länder, Berlin 1980; E. Klingmüller/M. E. Ruban, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Ostblockstaaten, Berlin 1960; N. Spulber, The Economics of Communist Eastern Europe, New York 1957; A. Uschakow, Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON), Köln 1962; A. Zwass, Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe 1949-1987. Der dornige Weg von einer politischen zu einer wirtschaftlichen Integration, Wien/New York 1988. 185 Vgl. z.B.: J. M. van Brabant, Regional Price Formation in Eastern Europe, Boston 1987; W. Seifert, Rechtsfragen der Außenbeziehungen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), in: Beiträge zum internationalen Wirtschaftsrecht und Atomenergierecht, Bd. 3, H. 3, Göttingen 1986; H. Spiller, Aufgaben, Rechtsstellung, Finanz- und Währungssystem des RGW, Saarbrücken 1987; A. Uschakow, Integration und gemeinsame Betriebe im RGW, in: Recht in Ost und West, 1979, S. 4956; A. Uschakow, Spezialisierung und Kooperation im RGW, in: Osteuropa-Recht, 1979, S. 191-206. 186 „Parteiliche" Abhandlungen vermitteln ein geschöntes Bild vom RGW. Vgl. u. a. Die sozialistische Gemeinschaft. Interessen, Zusammenarbeit, Wirtschaftswachstum, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1985 und J. Mikulski(Hg.), RGW. Internationale Bedeutung der sozialistischen Integration, Moskau 1983.

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wie er insgesamt funktionierte. Bei der Beantwortung dieser Fragen wird man auf historische, wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Einzeluntersuchungen verschiedener Aspekte und Bereiche nicht verzichten können. Vor allem müssen historische Analysen stadial vorgenommen und dabei die Veränderungen in der RGW-Politik (und Position) der UdSSR sowie bei den sie umkreisenden „Gestirnen" schärfer erfaßt und insbesondere Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Bediente sich Moskau des RGW vor allem als Instrument politischer Einbindung, Kontrolle und Disziplinierung der Ostblockstaaten sowie zu ihrer ökonomischen Ausnutzung? Wie verhielten sich Zentrum und Peripherie zueinander, wann und wo entstanden für die Satellitenstaaten RGW-spezifische, aber dann vielleicht allgemein wirksam werdende Handlungsspielräume? Es kann als gesichert gelten, daß im wirtschaftlichen Bereich sich unterschiedliche nationale Interessen am deutlichsten zeigten, Gegensätze am heftigsten aufeinanderprallten und Konflikte - zumindest ansatz- und teilweise - offen ausgetragen wurden. Das gilt ohne Einschränkung auch für das Verhalten der DDR in dieser Organisation. Im weiteren ergibt sich die Möglichkeit eines lohnenden Vergleichs zwischen den Inhalten und Formen von Ost- und Westintegration, hier vor allem zwischen RGW und EWG/EG. Hier gilt es wiederum nach Zeitabschnitten zu gliedern und Zäsuren zu finden. Inwieweit dienten dem Osten die EWG/EG, aber auch die OEEC, die EZU u. a. als Vorbilder, nahmen diese Modellcharakter an, wurden sie - zumindest teilweise in ihren Formen schematisch „abgekupfert" und gleichzeitig ideologisch und politisch bekämpft? Es steht außer Frage, daß der RGW die Römischen Verträge als Konkurrenz 187 empfand. Gab es hier neben Abgrenzung - seit wann und aus welchen Gründen müßte gegebenenfalls näher untersucht werden - Ansätze für Kooperation, vielleicht sogar mit der Aussicht auf Verflechtungen? Damit ist zum anderen die in die Zukunft weisende Frage verbunden: Was bleibt vom RGW? Ist er in jeder Beziehung verloren oder lassen sich einzelne Strukturen, Bereiche von Arbeitsteilung und Kooperation, zumindest von Austauschbeziehungen, die über Jahrzehnte gewachsen waren, reaktivieren und möglicherweise in ein entstehendes gesamteuropäisches Wirtschaftssystem einbeziehen? Könnte das Territorium der ehemaligen DDR - einst in seltsamer Abgrenzung und Verflechtung sowohl mit dem Osten als auch mit dem Westen verbunden - dabei eine besondere Rolle spielen? Ein umfassendes Bild von den Interessen der SED und von ihrer Arbeit im RGW läßt sich im Rahmen dieser Darstellung nicht herstellen. Für die Jahre von 1958 bis ca. 1963 sollen die wichtigsten Motive der Parteiführung für ihre RGW-Politik im Zusammenhang mit ihrem Verständnis von innersozialistischer ökonomischer Kooperation herausgearbeitet und vor allem konkrete Ziele mit den Ergebnissen ihres Wirkens, besonders bei der „Störfreimachung", verglichen werden. Zur Klärung der durchgängigen Frage, in welchem Maße die Tätigkeit der SED im RGW zu einer Vergrößerung des ostdeutschen Handlungsspielraums beigetragen hat, können die folgenden kurzen Ausfuhrungen wegen der starken Einengung des Untersuchungszeitraumes und des Fehlens von Wirkungsanalysen nur sehr begrenzt beitragen. Von Beginn der eigenstaatlichen Entwicklung der DDR an, stärker noch nach der Kanonisierung der Zwei-Staaten-Theorie, ging es der SED um die Nutzung von RGW-Potenzen, um ihre Republik im Innern und nach außen zu konsolidieren. Im Zusammenhang mit der Moskauer Absicht, die DDR zum sozialistischen „Schaufenster" zu gestalten, drängte das 187

Vgl. J. Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980, Baden-Baden 1983, S. 626.

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SED-Politbüro nach 1956/57 nicht nur die einzelnen Bündnispartner, sondern auch den RGW insgesamt verstärkt zu „weiteren Hilfsmaßnahmen" für die DDR, die man zwar zusagte und in der Organisation konkreter vereinbarte 188 aber - vor allem, weil sie die DDR am meisten begünstigt hätten - nicht oder nur unzulänglich durchführte. Ulbricht und die SED-Führung, die auf Bündnisdisziplin pochten, erkannten den Grundmangel des RGW in seiner ungenügenden Zentralisation und der fehlenden straffen Organisiertheit. Es sei nun endlich an der Zeit, so hieß es schon in einem internen Papier des ZK der SED vom Frühjahr 1956, „daß der Rat die großen volkswirtschaftlichen Aufgaben straffer lenkt. Wir verstehen, daß die sowjetischen Freunde in dieser Beziehung sehr vorsichtig sind. Aber wir befinden uns in einer Lage, daß wir nur dann schneller vorankommen, wenn der Rat seine Arbeit ändert". 189 Neben der Bildung von Fachkommissionen sah die SED es als unbedingt notwendig an, den RGW so umzugestalten, daß dabei eine „enge systematische Zusammenarbeit der Sowjetunion und der Länder der Volksdemokratien" herauskäme. Das implizierte, den Rat „zu einem zentralen Organ zu entwickeln, das im engsten Zusammenhang mit [dem] Gos-Plan der UdSSR die großen Aufgaben der Volkswirtschaft in den volksdemokratischen Ländern richtig lenkt. Da es viele Fragen gibt, die auf staatlicher Linie zögernd behandelt werden, wird es notwendig sein, über bestimmte Fragen Hinweise auf der Parteilinie zu geben." 190 Hier deutete sich ein Konflikt mit denjenigen Parteiführungen an, die im Ostblock auf einer relativen Unabhängigkeit in Wirtschaftsfragen bestanden. Die enge Verquickung mit der Wirtschaft und dem Plan der UdSSR, die den RGW - folgte man der SED - zu einer Art ökonomischer Superbehörde der UdSSR gemacht und den obersten Parteibeschluß vollends über staatliche Fachbehörden und sachkompetente Wirtschaftsentscheidungen gesetzt hätte, lag zwar im politischen Interesse der SED. Auch aus wirtschaftsstrategischen Gründen orientierte diese massiv auf die UdSSR. Das korrespondierte aber nicht mit den „nationalen" Ambitionen Polens, der CSR, Rumäniens sowie Ungarns. Gerade in Polen schlug sich das „Tauwetter" des XX. Parteitags der KPdSU auch wirtschaftspolitisch nieder. Die SED versuchte deshalb, der Weigerung Polens, u. a. der DDR die vereinbarten Steinkohlemengen zur Verfugung zu stellen, mit Hilfe von RGW und Sowjetunion, also „zentral", beizukommen. Die DDR gehörte vor allem nach 1957/58 zu den Schrittmachern einer intensiveren wirtschaftlichen Ostintegration. Als vergleichsweise hochentwickeltes Industrieland mit weitgehend fehlender Rohstoffbasis - nur die CSR wies in verschiedenen Bereichen der Industrieproduktion verwandte Strukturen und ein ähnliches Niveau auf - mußte es zum einen auf einer Rohstoffsicherung im weitesten Sinne und auf der Ausnutzung seiner industriellen Kapazitäten bestehen. Zum anderen mußte die DDR vor allem mit Blick auf Modernisierungen und auf eine quantitative Erweiterung der Produktion - die im „Alleingang" mangels Investitionsmittel nicht optimal realisierbar waren - die Koordinierung und Spezialisierung der Produktion im RGW-Bereich fördern. Eine moderne Massenproduktion in Konkurrenz mit der sich unerwartet stürmisch entwickelnden EWG konnte in den Augen der Wirtschaftsexperten der SED nur über den Mechanismus einer innersozialistischen Arbeitsteilung erreicht werden. Und nur auf diesem Wege schien man sich dem sozialen Ziel einer Anglei188 Vgl gleichlautende Schreiben Grotewohls an die Ministerpräsidenten Hegedüs (Ungarn), Siroky (CSSR) und Stoica (Rumänien), 19. 1. 1956, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/470, Bl. 384. 189 Papier des ZK der SED, offensichtlich Januar 1956, in: ebenda, NL 90/473, Bl. 340. 190 Ebenda, Bl. 341.

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chung des Lebensniveaus aller im RGW vereinigten Völker effektiv nähern zu können. So war der Ruf der SED nach Zuverlässigkeit aller RGW-Partner, die Verträge langfristig absprechen sollten (um Korrekturen rechtzeitig abstimmen zu können), verständlich. Die Kritik an den willkürlichen „einseitigen Abweichungen", leuchtete genauso ein wie die Forderung, die ungenügende Spezialisierung u. a. auf dem Gebiet des Maschinenbaus und die schlechte Kooperation zu überwinden. 191 So wurde in Ostberlin nicht nur zu Recht bemängelt, daß im RGW empfohlene Lieferungen z. B. von Landmaschinen, die in der DDR in Massenproduktion hergestellt werden konnten, von RGW-Ländern, die sie nicht produzierten, letztlich nicht abgenommen wurden. Viel allgemeiner führte die SED die im ganzen unbefriedigende Spezialisierung und Kooperation auf die „schwache Ausarbeitung der prinzipiellen Grundlagen der internationalen [sozialistischen - M. L.] Arbeitsteilung" zurück. 192 In dieser Kritik trafen sich 1958/59 ostdeutsche und sowjetische Anschauungen. Beide gingen auch in der Meinung konform, daß die unregelmäßigen Tagungen des Rates abgeschafft und hier mehr Verhandlungskontinuität einziehen müßte. 1 9 3 Auch in der Frage der im RGW geltenden Außenhandelspreise, die „unter gleichen Bedingungen gleich in bezug auf alle Teilnehmerländer" sein und - jeweils für ein Jahr festgelegt - als stabiler Stimulus für die Entwicklung des Handels zwischen den sozialistischen Staaten wirken sollten, 194 bestand ein interner sowjetisch-ostdeutscher Konsens. Dem schlössen sich die übrigen Staaten des RGW an. Die DDR trat besonders nachdrücklich für die Ausarbeitung eines Statuts des RGW und für die Einrichtung einer Internationalen Devisenbank der sozialistischen Länder ein. Im einzelnen unterstrich die SED ihr großes Interesse an einer Spezialisierung des Baus von Walzstraßen, ari der Typisierung und Vereinheitlichung der Chemie- und metallurgischen Produktion, insbesondere an der Herstellung normierter korrosionsbeständiger Qualitätsstähle. 195 Wenngleich verschiedene Forderungen der DDR im Einklang mit der UdSSR verwirklicht wurden - u. a. die nach einer dann im Statut (1959) festgehaltenen Aufwertung von Empfehlungen und Beschlüssen des RGW, von zweimal im Jahr stattfindenden Ratstagungen und nach der Bildung einer zwischen den Sitzungen des Rates amtierenden „Vertreter-Tagung", eines Sekretariats -, traten doch ab 1959 neue Widersprüche innerhalb der RGW-Staaten zutage. Sie wurden wesentlich mitverursacht vom außerordentlich unterschiedlichen Industrieund Landwirtschafts-, aber auch vom differierenden Lebensnivau in den RGW-Teilnehmerstaaten. Im Vergleich mit den sechs hochindustrialisierten Mitgliedsländern der EWG, die, einem historisch gewachsenen gemeinsamen Kulturraum angehörend, ähnliche Produktions-, Arbeits- und Lebensbedingungen aufwiesen, taten sich zwischen den RGW-Staaten, die insgesamt landwirtschaftlich geprägte, aber auch hier nicht effektiv genug produzierende Staatswesen darstellten, von Land zu Land gewaltige, kaum überbrückbare ökonomische, kulturelle und mentale Gegensätze auf. Eine industrielle Ausnahme machten nur DDR und CSR, deren Niveau und Strukturen vergleichbar ähnlich waren. Während die DDR für ihre Industrie Rohstoffe und Material benötigte, um vorhandene Kapazitäten auszulasten, beab191

192 193 194

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Streng geheim. Erwägungen der sowjetischen Seite zu Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmerländern des RGW, 7. 5. 1958, in: ebenda, NL 90/470, Bl. 2,4. Ebenda, Bl. 4f. Ebenda, Bl. 6. Vgl. geheimes Papier: „Erwägungen der sowjetischen Seite zur Frage über die Prinzipien der Preisfestlegung im Handel zwischen den sozialistischen Ländern", 7. 5. 1958, in: ebenda, Bl. 7f. Vgl. Sitzung des Politbüros, Anlage 5 zum Protokoll 49/58,2.12.1958, in: ebenda, JIV 2/2/621, Bl. 26.

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sichtigten Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, die sich in die Rolle von Rohstoff- und Materiallieferanten der DDR gedrängt sahen, selbst eine Industrie zu schaffen bzw. vorhandene Kapazitäten auszubauen. Daran hatte die SED aber nur in dem Maße ein Interesse, wie dieser Vorgang sich mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten der DDR-Produktion in Übereinstimmung bringen ließ, der Zufluß von Rohstoffen aus Ost- und Südosteuropa dadurch nicht beeinträchtigt wurde und Ostdeutschland Fertiggüter in großer Stückzahl aus einer (angestrebten) billigen Massenproduktion in den RGW-Bereich verkaufen konnte. Kooperation und Spezialisierung bildeten eine Voraussetzung für die Wirtschaft eines relativ gut entwickelten Industrielandes, das - im wesentlichen vom kapitalistischen Weltmarkt abgeschnitten - seine Markt- und Austauschbedingungen in dem von der Weltwirtschaft weitgehend abgeschotteten RGW-Bereich suchen mußte. Interne Querelen im RGW, in den für die verschiedenen industriellen Sachgebiete verantwortlichen Kommissionen, verzögerten Spezialisierungspläne, die letztlich nur den Charakter von Empfehlungen trugen. Hier sträubte sich Polen, besonders aber die CSR, z. B. im Maschinenbau Veränderungen ihres „nationalen" Programms durchzuführen, während die DDR und die UdSSR als „vorwärtstreibende" Kräfte galten. 196 Aber auch bei der SED dominierte keineswegs immer ein integrativer Gedanke und die Idee, dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt in einer besonderen Wirtschaftszone „zum Durchbruch" zu verhelfen. Nationale Egoismen und kurzsichtiges Nützlichkeitsdenken zeigten sich u. a. in dem von der DDR abgelehnten bulgarischen Vorschlag, einen gemeinsamen „EisenbahnWagenpark" zu schaffen. Hier argumentierten die Vertreter der DDR, die einen Abzug von dringend benötigten Transportkapazitäten befürchteten und wußten, daß ihre total überalterten Waggons keinerlei Norm mehr entsprachen, die Bedingungen für den Wagenpark seien noch nicht gegeben. 197 Ein zusätzliches Hemmnis für eine zügigere Arbeit im RGW stellten die seit Anfang 1960 vor allem von der Sowjetunion und der DDR verschärften Sicherheitsmaßnahmen dar. Der sowjetische Delegationsleiter bei der XII. Tagung des RGW, Alexej Kossygin, später sowjetischer Ministerpräsident, verlangte unter dem Beifall der DDR-Vertreter die Erhöhung von Sicherheit und Wachsamkeit, eine gründlichere Überprüfung der von den einzelnen Ländern in die Gremien des RGW delegierten Mitarbeiter und eine „einheitliche straffe Ordnung" bei Verschlußsachen.198 Das betraf insbesonders die Produktion von Militärtechnik. Hier gab es zwar Überlegungen, die Verteidigungsindustrien der DDR, Polens und der CSR weiter zu spezialisieren, aber ebenfalls - erstaunlicherweise - keine wirkliche Kooperation. Die UdSSR ging zum einen davon aus, daß sich alle Teilnehmerstaaten „maximal selbst versorgen durch gegenseitige Lieferungen", u. a. von Panzern, Schußwaffen, Artillerie und Minenwerfern, die in der jeweils eigenen Verteidigungsindustrie „und durch die Heranziehung der zivilen Industriezweige zur Herstellung dieser Technik" [Waffentechnik - M. L.]199 hergestellt werden sollten. Zum anderen drängte Moskau seine Verbündeten, moderne sowjetische Waffen zu kaufen. Es 196

197 198 199

Sitzung des Politbüros, Bericht über die Ergebnisse der XII. Tagung des RGW, Sofia, 10.-14.12.1959. Anlage 4 zum Protokoll 2/60, 12. 1. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/683, Bl. 22. Ebenda, Bl. 23. Ebenda. Streng geheim. Erwägungen der sowjetischen Seite zur Frage der Abstimmung der Produktionspläne in der Verteidigungsindustrie und der Pläne der gegenseitigen Lieferungen von Kriegstechnik, 7. 5. 1958, in: ebenda, NL 90/470, Bl. 19.

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empfahl z. B. der CSR und Polen, die selbst Düsenflugzeuge bauten, „die Zweckmäßigkeit dieser Produktion zu überprüfen", da die UdSSR Kriegsflugzeuge in Serie produziere. 200 Diese Form der Arbeitsteilung, die in hohem Maße den Intentionen der UdSSR entsprach, lag nicht im Interesse der DDR, die vergeblich für eine größere Spezialisierung der Verteidigungsindustrie eintrat. Noch 1962 merkte ihr Vertreter in der zuständigen RGW-Kommission für Verteidigungsindustrie in Moskau zum Plan einer abgestimmten Automobilproduktion resignativ an, daß offensichtlich „die UdSSR, CSSR und Polen ihre eigenen Wege gehen" und dadurch „die Beweglichkeit und Kampfkraft der Nationalen Volksarmee ganz empfindlich eingeschränkt [würden]". 201 Mit dem Aufbrechen der akuten Systemkrise in der DDR im Verlauf des Jahres 1960 aktivierte die SED ihre Tätigkeit im RGW. Sie sah in ihm eine probate Möglichkeit, zur Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR beizutragen. Folgerichtig forderten ihre Ratsvertreter sowohl gesicherte erweiterte Lieferungen vor allem von Rohstoffen und Energieträgern als auch die Erstellung einer der Zukunft zugewandten Analyse „der Hauptprobleme der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit der Länder bei der Entwicklung der einzelnen Zweige der Volkswirtschaft." Die Untersuchungsergebnisse, so drängte die SED, sollten bei der Ausarbeitung einer „Generalperspektive" berücksichtigt werden. Es ging ihr um langfristige Planungen der Entwicklung strukturbestimmender Wirtschaftszweige in der DDR, aber auch im RGW insgesamt. So entsprach die Aufforderung des Politbüros an die Führungsgremien des Rates, „ihre Tätigkeit auf die Hauptfragen der Generalperspektive zu konzentrieren und eine Zersplitterung der Tätigkeit durch Untersuchung zweitrangiger, für die Koordinierung der Pläne unwesentlicher Fragen zu vermeiden" 202 , zwar in hohem Maße eigenen Interessen, forderte aber durchaus eine wirkliche Kooperation im RGW. Offensichtlich fiel bei der „Vorreiterrolle" der DDR im RGW ins Gewicht, daß sie unmittelbar mit dem Beispiel EWG, aus der sie im übrigen handelspolitische Vorteile zog, konfrontiert war. Möglicherweise inspirierte die SED die Entwicklung der von ihr freilich als „antinational" und unsozial verteufelten EG-Landwirtschaftspolitik. Mit einem Seitenblick auf den in der DDR von der Zwangskollektivierung negativ betroffenen agrarischen Sektor brachte sie energisch Vorschläge zur Spezialisierung der RGW-Agrarproduktion ein. Doch hier sperrte sich vor allem Rumänien erfolgreich. 203 Aber auch mit der Sowjetunion gab es für die DDR im Rat zunehmend Schwierigkeiten. Ihre Vertreter kritisierten die Mentalität der von der UdSSR kontrollierten Ständigen Kommission des RGW, bei „Spezialisierungsempfehlungen" nur den Stand der aktuellen Produktion zu fixieren, ohne sich von zukünftigen Bedürfnissen leiten zu lassen. So forderte die DDR die UdSSR auf, den ostdeutschen Bedarf an Dampfturbinen und Generatoren über 100 MW einzuplanen und bei notwendigen Spezialisierungsmaßnahmen die steigende ostdeutsche Nachfrage zu berücksichtigen. Sie bat außerdem die CSSR, die sich ebenfalls

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Ebenda, Bl. 20. Zwischenbericht. Über die in der Zeit vom 8. 5.-11. 5. 1962 durchgeführte ordentliche Sitzung der Kommission des RGW für die Verteidigungsindustrie in Moskau, 25. 5. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/232, Bd. 1. Sitzung des Politbüros, Bericht von der XIII. Tagung des RGW, Budapest, August 1960, Anlage 3 zum Protokoll 35/60, 16. 8. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/716, Bl. 21. Vgl. Ebenda, Bl. 22.

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einschlägig spezialisieren sollte, die Nachfrage der DDR nach Hydroturbinen über 10 MW voll zu decken. 204 Die Politbürodirektive für die für Ende Juli 1960 nach Budapest einberufene XIII. RGWRatstagung beauftragte die Delegation der DDR, dem Plenum vorzuschlagen, „die Hauptprobleme der Versorgung der Länder mit Brennstoffen und Energie sowie mit Rohstoffen zu behandeln". Sie folgte dem Gedanken einer „tiefgreifenden Spezialisierung und Kooperation" vor allem in dem die DDR immens interessierenden Maschinenbau und legte nahe, nicht nur gemeinsame Qualitätskennziffern bei Endprodukten, sondern auch bei Rohstoffen, Walzwerkerzeugnissen, Kohle, Wolle und Baumwolle durchzusetzen. 205 Damit versuchte das Politbüro, der Tendenz der Partner einen Riegel vorzuschieben, auf diesen Gebieten nur quantitativ abzurechnen und der DDR so faktisch minderwertiges Material zum vollen Preis zu verkaufen. Die Politik der „Störfreimachung" nach der Aufkündigung des Interzonenhandelsabkommens verlieh dem Wirken der DDR im RGW einen weiteren Schub. In einer Stellungnahme zum sowjetischen Entwurf einer Erklärung der kommunistischen und Arbeiterparteien verlangte die SED-Führung, in die Endfassung einen Satz „über die Unterstützung der DDR im ökonomischen Wettbewerb" aufzunehmen. Das gelang ihr. Einen praktischen Niederschlag fand diese verbale Verpflichtung jedoch nicht. Im übrigen schlug das Politbüro eine Dynamisierung der RGW-Tätigkeit, die nun „auf das gesamte sozialistische Lager auszudehnen [sei]" vor. Mit den „Bruderparteien", so hieß es in seinem Beschluß vom 1. November 1960 weiter, müsse „eine Verständigung über die Notwendigkeit der Standardisierung der Produktion" und über Fragen der landwirtschaftlichen Produktion herbeigeführt werden. 206 Für die landwirtschaftliche Produktion, die nach 1960 durch die Flucht vieler Bauern unter Entzugserscheinungen litt, benötigte die DDR Soforthilfen. Folgerichtig machte die SED sie zum Tagesordnungspunkt. Die von ihr im weiteren angestrebte Vergrößerung des RGW-Bereichs durch asiatische sozialistische Länder - 1962 trat die Mongolische Volksrepublik bei - entsprach dem Wunsch besonders nach neuen Rohstoffquellen und Absatzmöglichkeiten für die Industrieproduktion der DDR. Eine Ausdehnung war deshalb ein Element möglicher „Störfreimachung". Sie blieb aber angesichts der wirtschaftlichen Probleme, mit denen sich nichteuropäische sozialistische Staaten konfrontiert sahen, zunächst fraglich. Demgegenüber stellte die Standardisierungsforderung der SED eine realistische Überlegung zur Schaffung eines einheitlichen Ostmarktes dar. Angesichts der Gefahr einer zunehmenden Isolierung der DDR vom westlichen Markt trat die SED seit dem Spätherbst 1960 auch wieder „prinzipieller" in Erscheinung. Hintergrund ihres energischen Eintretens für die verbindliche Formulierung „prinzipieller Erkenntnisse und Grundsätze für die politische und ökonomische Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten" war ihre Erkenntnis, daß eigentlich weder eine theoretische und moralisch-politische Untermauerung der RGW-Arbeit noch ausgearbeitete Langzeitkonzeptionen oder gar

20t Vgl. Ebenda, Bl. 24. 205 Vgl. Sitzung des Politbüros, Anlage 4 zum Protokoll 28/60, 28. 6. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/709, Bl. 26-30. 206 Beschluß des Politbüros. Stellungnahme des ZK der SED zum Entwurf einer Erklärung der kommunistischen und Arbeiterparteien. Anlage 1 zum Protokoll 51/60, in: ebenda J IV 2/2/732, Bl. 8, 11.

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die von ihr angemahnte „Gesamtperspektive der Entwicklung der sozialistischen Zusammenarbeit" vorhanden war. 207 Dieses Fehlen schlug sich praktisch in Unsicherheiten bei der Vorbereitung und Durchfuhrung langfristiger Handelsabkommen nieder, auf deren Solidität insbesondere die DDR vor allem bei der Lösung der Rohstofflfrage angewiesen war. Immer wieder wies sie mit deutlicher Nervosität darauf hin, daß notwendige Importe einer Reihe „wichtigster Waren" aus dem RGW nicht gesichert seien. Vor allem die UdSSR wurde daran erinnert, „daß durch Störmaßnahmen der westdeutschen Regierung im Handel mit Westdeutschland ernsthafte Probleme für die DDR entstehen. Es ist an der Zeit, daß durch eine noch engere Zusammenarbeit der DDR mit den sozialistischen Ländern alle Störversuche Westdeutschlands gegen die DDR unwirksam gemacht werden." 208 Die Beteiligung aller RGW-Mitglieder an der „Störfreimachung" geriet zur aktuellen Hauptaufgabe der SED. Mit der Idee, die Beziehungen des RGW zu „schwach entwickelten kapitalistischen Ländern" - gemeint waren die als J u n g e Nationalstaaten" bezeichneten Entwicklungsländer - ökonomisch abzustimmen und zu koordinieren, wagte die SED im Rahmen der „Störfreimachung" einen kühnen Schritt. 209 Er scheiterte vor allem an der schwachen Wirtschaftskraft des RGW, der diesen sich weiterhin am Weltmarkt orientierenden Ländern keine attraktiven Bedingungen bieten konnte. In einer Direktive zur XV. RGW-Tagung, die im Dezember 1961 in Warschau stattfand, faßte das Politbüro noch einmal alle Faktoren zusammen, die sowohl einen neuen Abschnitt in der Entwicklung der sozialistischen Zusammenarbeit als auch der „Störfreimachung" der DDR einleiten sollten: Koordinierung und Spezialisierung, um eine mechanisierte und automatisierte Produktion von wichtigen Erzeugnissen, ein hohes technisches Niveau und eine große volkswirtschaftliche Rentabilität zu gewährleisten. Dabei sei in kürzester Zeit eine Übereinstimmung der nationalen Standards herbeizufuhren. Alle Forschungs- und Entwicklungskräfte sollten „auf der Basis der festgelegten Hauptentwicklungsrichtungen von Wissenschaft und Technik" konzentriert und ein noch breiterer Austausch von wissenschaftlichen Dokumentationen, von Informationen und Literatur ermöglicht werden. „Die passive Rolle des Außenhandels bei der Vertiefung der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung", so hieß es, „müsse überwunden werden". Im weiteren erfordere die „rasche Vergrößerung der Produktionskapazitäten" ein gemeinsames Vorgehen der RGW-Länder bei der „Errichtung bedeutender Objekte". Abschließend erklärte das Politbüro, Autorität und Geschlossenheit des RGW müßten wesentlich erhöht werden. Er sollte seine Arbeit auf Schwerpunkte konzentrieren, vor allem - was explizit als ein Ziel der DDR bezeichnet wurde - auf die Ausarbeitung der „Generalperspektive". 210 Diese Vorstellungen scheiterten nicht zuletzt an der Reformunfreundlichkeit der Moskauer Führung und an den nationalen Vorbehalten der übrigen RGW-Mitglieder. In den Jahren 1962/63 schien die DDR-Führung kaum noch Illusionen gehegt zu haben. „Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten", klagten die ostdeutschen RGW-Vertreter,

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209 210

Sitzung des Politbüros, Direktive für die Delegation der DDR zur XIV. Ratstagung des RGW, Berlin, 28. 2.-4. 3. 1961. Anlage 2 zum Protokoll 5/61, 31.1.1961, in: ebenda, J IV 2/2/747, Bl. 9. Ebenda, Bl. 10. Ebenda, Bl. 12. Sitzung des Politbüros, Direktive für die Delegation der DDR zur XV. Ratstagung des RGW, Warschau, 12.-15. 12. 1961, Anlage 7 zum Protokoll 62/61, 28. 11. 1961, in: ebenda J IV 2/2/804, Bl. 78f., 80.

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„verhärten noch die unterschiedlichen nationalen Standpunkte." 211 Kontroversen mit Rumänien, das sich u. a. gegen eine spezialisierte Großserienproduktion aussprach, Konflikte mit Polen und Rumänien über die Transporttarife,212 die Niederlage der DDR bei dem von Bulgarien geforderten gemeinsamen Güterwagenpark 213 u.a.m. frustrierte die ostdeutsche Führung. „In einigen Fragen", so merkten die DDR-Teilnehmer an der IX. Sitzung des Exekutivkomitees des RGW im Oktober 1963 noch vergleichsweise moderat an, „wurden die Interessen der DDR nicht oder nur ungenügend gewahrt." Es folgte eine scharfe Kritik an der Konzeptionslosigkeit im RGW und an seinen Leitungs- und Organisationsschwächen, aber auch an DDR-Vertretern in den Ständigen Kommissionen, die die Interessen der DDR nicht richtig verträten. Immerhin weigerte sich die DDR, u. a. an Rumänien Ausrüstungen für die Errichtung einer einheimischen elektronischen Industrie zu liefern, „während in der DDR vorhandene Kapazitäten nicht ausgelastet sind."214 Kontroverse reihte sich an Kontroverse. Die SED-Führung erklärte ausdrücklich, daß sie mit der Arbeit der Organe des RGW, insbesondere auf den Gebieten der Plankoordinierung, der Kooperation und Spezialisierung der Produktion, der Forschung und Entwicklung, der gemeinsamen Investitionstätigkeit und der Bildung gemeinsamer Einrichtungen „sehr unzufrieden" sei. Die Ratsorgane verzettelten sich, seien ineffektiv; die Spezialisierung sei „primitiv", und sie führe zu keinem ökonomischen Effekt. Sie trage - dies vor allem - nicht zur „Beseitigung der Abhängigkeit vom kapitalistischen Wirtschaftsgebiet" bei. Die von den Ländern vorgelegten nationalen Konzeptionen paßten „materiell nicht zusammen". Daneben gebe es „eine Reihe ideologischer Hemmnisse und nationaler Vorurteile". Hinzu käme, daß exakte Bilanzen, umfassende Analysen und ökonomische Berechnungen der vorgesehenen Maßnahmen fehlten. 215 Wenngleich die SED immer wieder den Schwerpunkt ihres Bemühens auf eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung und eine verflechtende Zusammenarbeit legte, was tatsächlich einen integrativen Ansatz bot, war sie doch zu schwach, um sich gegen die integrationspolitisch retardierenden Kräfte in der UdSSR und in den anderen „Bruderländern" durchsetzen zu können. Ulbricht gab in einem Brief an Chruschtschow im Oktober 1963 seiner Auffassung (resignativen) Ausdruck, „daß die Reduzierung der Zusammenarbeit auf zweiseitige Verträge wohl für die Herstellung bestimmter Erzeugnisse möglich ist, daß aber eine echte Arbeitsteilung nur im Rahmen des RGW möglich ist. Meine persönliche Meinung ist, daß die gegenwärtige Methode einiger führender Funktionäre volksdemokratischer Länder, unter Preisgabe der Zusammenarbeit im RGW, sozusagen von allen Ländern nehmen zu wollen, nicht real ist. Wir sind in eine solche Lage gekommen, daß durch die sogenannte Spezialisierung bei Erzeugnissen des Maschinenbaus ein Teil unseres Maschinenbaus desorganisiert wurde, da wir unsere Produktion umstellen mußten und einige wichtige in andere Länder verlagerte Erzeugnisse jetzt nicht in der notwendigen Qualität kommen und wir außerdem noch höhere Preise zahlen sollen."216 Die Arbeitsteilung funktioniere nicht. Ulbricht beunruhigte besonders, daß - wie man im Politbüro meinte - westliche Monopole die wirtschaftlichen Schwie211

212 213 214 215 216

Sitzung des Politbüros, Bericht über die IX. Sitzung des Exekutivkomitees des RGW, Moskau, 15.-22. 10. 1963. Anlage 1 zum Protokoll 40/63, 12. 11. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/905, Bl. 10. Vgl. ebenda, Bl. 11, 16. Vgl. ebenda, Bl. 18f. Ebenda, Bl. 39, 41, 22, 24. Ebenda, Bl. 67f. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 22. 10. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/338.

Motive, Initiativen und Spielräume der SED im RGW

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rigkeiten einiger RGW-Länder ausnutzten, „um in die Wirtschaft dieser Staaten einzudringen, durch Gewährung von Krediten ökonomische Abhängigkeit zu verstärken und dann politische Erpressungen durchzusetzen, die sich im wesentlichen gegen die DDR richten." 217 Die SED betrachtete die „ökonomischen Schwierigkeiten der Sowjetunion" als eine zusätzliche Belastung der Situation im RGW. Sie rechnete Ende 1963 mit einer weiteren unvermeidlichen „Anspannung in den Beziehungen zwischen den Ländern des RGW" und damit, daß die DDR von der UdSSR und den anderen Teilnehmerstaaten wichtige Rohstoffe und Materialien nicht erhalten werde. Diese seien nur durch Westimporte zu sichern. Jetzt, am Ende des Jahres 1963, schien sich die „Störfreimachung" in das Gegenteil ihrer Absicht zu kehren. Die Parteiführung ordnete an, bestimmte, für den Export in die RGW-Länder vorgesehene Waren, umzudisponieren, „um sie im kapitalistischen Ausland als Gegenwert für die notwendigen Importe zu verkaufen." Diese Maßnahmen müßten unbedingt durchgeführt werden, „auch dann, wenn dadurch bestimmte Schwierigkeiten mit befreundeten sozialistischen Ländern entstehen." 218 Gelegentlich zog man die Notbremse. Jetzt siegte pragmatische Vernunft über ideologische „Störfreimachung". Die Politik, die auf diese hinführen sollte, war gescheitert. Daran trug, wenngleich „Störfreimachung" gegen alle Regeln moderner Wirtschaftswissenschaft verstieß und letztlich zum Scheitern verurteilt war, das Versagen des RGW deutlich bei. Seine Insuffizienz erkannten auch sowjetische Führer. Als Ulbricht in einem persönlichen Gespräch die Unflexibilität des RGW beklagte und besonders auf den Umstand hinwies, daß die UdSSR und auch die CSSR zwar Massenstähle herstellten, die DDR aber Spezialstähle benötigte, auf die sich die sowjetische Produktion aber nicht umzustellen gedenke, und die DDR deshalb gezwungen sei, ein entsprechendes Stahlwerk aufzubauen, entgegnete Chruschtschow: „Ich möchte sagen, Genosse Walter: Der RGW ist gar kein RGW. Das ist dort so, daß jeder Staat seine eigenen Leisten hat und seinen eigenen Stiefel drauf macht... Es gibt keine Zusammenarbeit im RGW, wie sie sein soll. Jeder macht seine Einzelwirtschaft." 219 Als relativ fortgeschrittenes Industrieland hatte die DDR im Unterschied zu den industriell unterentwickelten Teilnehmerländern des RGW ein Interesse an einer zumindest partiellen wirtschaftlichen Integration des Ostblocks. Bei der tief ansetzenden Kontroverse ging es vor allem um die Methoden der Integration. In verschiedenen Fragen entwickelte die DDR Initiativen, wurde im untersuchten Zeitraum zum Vorreiter einer Politik, die wenigstens ansatzweise versuchte, nationale Ambitionen mit den Gesamtinteressen des Ostblocks und die Notwendigkeiten einer sich modernisierenden Gesellschaft mit den veränderten Bedingungen moderner Produktion zu verbinden. Dennoch wirkten die Methoden der Zentralisierung, die die DDR propagierte, einer echten Integration entgegen. Sie trugen dazu bei, daß der RGW über keinen echten Markt verfügte und eine am Markt orientierte „harte" RGWLeitwährung, ein Währungssystem, das auch weltmarktfähig gewesen wäre, nicht entstand. Es fehlten - der „klassische" Bilateralismus wurde nicht überwunden - integrative internationale oder supranationale Strukturen, wie sie vergleichsweise im Westen entstanden waren.

217

218 219

Papier von Berger, Wirtschaftsberater Ulbrichts, für Büro Ulbricht, November 1963, in: ebenda, J IV 2/202/233, Bd. 2, S. 2. Ebenda, S. 3. „Stenographische Niederschrift der Besprechung mit Nikita Sergejewitsch Chruschtschow und Walter Ulbricht in der Werkleitung des Eisenhüttenkombinats Ost am 19. Januar 1963", in: ebenda, JIV 2/202/32, Bd. 6, S. 12.

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Politische Interessen und Entscheidungsfreiräume der SED nach 1955/56

Supranationale Planungs- und Kontrollorgane konstituierten sich nicht. Dem RGW erwuchs keine supranationale Planungsbehörde. Die Souveränität der Planung blieb ein „nationales" Gut, nationale Interessen obsiegten Gemeinschaftsideen. Auch eine Theorie der sozialistischen Integration blieb folgerichtig aus. Die Funktion der Sowjetunion im RGW, die Fragen, ob und wie Moskau das auf sich bezogene hierarchische Modell der Ostintegration zur wirtschaftlichen Ausbeutung Ost- und Südosteuropas nutzte und inwiefern der RGW einen ordnungspolitischen Faktor darstellte, muß auch für den Zeitraum 1958-1963 weiter untersucht werden. Jens Hacker irrt gewiß nicht, wenn er den RGW auch als ein Instrument der Sowjetunion sah, „das sozialistische Lager soweit wie möglich zusammen[zu]halten und politische sowie ideologische Differenzen auf diese Weise [zu] überspielen." 220 In der Tat scheint viel dafür zu sprechen, daß der RGW eine primär politische Funktion besaß. Augenfällig war eine Divide-et-impera-Tendenz in der RGW-Politik der UdSSR, die - je nach Interessenlage auch sehr pragmatisch handelnd - einmal die eine, ein anderes Mal die andere „Partei" unterstützte und der jeweils favorisierten zumindest indirekt Vorteile verschaffte. Wenngleich die SED ihre Vorstellungen über die Entwicklung des RGW aus objektiven Gründen nicht durchsetzen konnte, spricht sowohl ihre keineswegs uneigennützige „Vorreiterschaft" in verschiedenen Fragen als auch die deutliche Artikulation ihrer Wünsche und Ziele für die Annahme, daß Partei und DDRStaat im RGW zwischen 1958 und 1963 ihren relativen politischen Einfluß trotz krisenhafter innerer Situation vergrößern konnten. Ihre RGW-Konzeption scheiterte allerdings weitgehend wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch. Die im RGW organisierten Staaten waren weder bereit noch in der Lage, die Rohstoff- und Materialversorgung der DDR sicherzustellen und das weitgehende Konzept der „Störfreimachung" wirklich mitzutragen.

220

J. Hacker, a.a.O., S. 626.

KAPITEL 3

Die Position der SED zu der Berlinregelung und zum Abschluß eines Friedensvertrages bis zum Mauerbau 1958-1961

1. Der politische Bedeutungswandel von Friedensvertrag und Wiedervereinigung im Konzept der SED seit 1949 Ein Friedensvertrag mit Deutschland, eine mögliche Wiedervereinigung des Landes und das Berlinproblem stellten sich nach 1949, wenngleich sie unterschiedliche Bereiche betrafen, immer in einem engen Zusammenhang dar. Doch erst ab Ende 1958 verschmolzen die Fragen des Friedensvertrags und des Berlinstatus faktisch zu einer Einheit, während die Wiedervereinigung - zumindest international - aus dem „Triumvirat" der Probleme auf lange Zeit ausschied. Nach 1963 verblaßte auch die Aktualität eines Friedensvertrags mit Deutschland, zumindest die tagespolitische Diskussion über ihn. Übrig blieb nur noch die Berlinproblematik als „Dauerbrenner" des Ost-West-Konfliktes, bis auch sie - im September 1971 - ihre unmittelbare Brisanz verlor, als von den Vier Mächten geregelt wurde, was nicht endgültig zu lösen war. Ein Friedensvertrag mit Deutschland war schon vor der Gründung der beiden deutschen Staaten ein prinzipielles Ziel aller Vier Mächte, die dabei allerdings von unterschiedlichen Motiven geleitet wurden. Nach den deutschen Staatsgründungen 1949 änderte sich jedoch der Stellenwert dieses auch von den Deutschen erwarteten Völkerrechtsaktes. Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts, der zum Kalten Krieg wurde, kam ein Friedensvertrag, der ein Mindestmaß an Einvernehmen zwischen dem Westen und der UdSSR in deutschlandstrategischen und die generelle Perspektive der Deutschen betreffenden Fragen vorausgesetzt hätte, nicht zustande. Während die Westmächte und die Bundesrepublik - explizit seit dem Frühjahr 1950 - freie Wahlen sowohl als den Hauptmechanismus der Wiedervereinigung als auch für den Abschluß eines Friedensvertrages favorisierten - nur eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung könne als gleichberechtigter Partner eine verbindliche Unterschrift unter die entsprechenden Dokumente setzen - wollte die Sowjetunion erst diesen Vertrag. Sie beabsichtigte erst dann - „Deutsche an einen Tisch" bringend und viele Provisorien für notwendig erachtend - die Wiedervereinigung schrittweise zu realisieren. Erst am Ende dieses Prozesses sollten - wenn überhaupt - freie gesamtdeutsche Wahlen zu einer deutschen Nationalversammlung stehen. So standen sich faktisch zwei Maximalforderungen gegenüber: freie Wahlen versus Friedensvertrag. Der Westen wollte auf diesen nicht eingehen, weil er aus

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

seiner Sicht den Besitzstand der UdSSR ohne Gegenleistung festgeschrieben, die sowjetische Herrschaft über die europäischen Völker legalisiert und letztlich die Westintegration offensichtlich die einzige Möglichkeit, Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik zu gewährleisten - verhindert hätte. Der Warschauer Pakt lehnte unbedingte freie Wahlen ab, weil sie - ohne einen Preis für Moskau zu bieten - den Verzicht auf die DDR und das gesamtdeutsche Ende ihrer Staatspartei bedeutet hätten. Politisch koppelte die UdSSR das Thema Friedensvertrag an die Problematik der europäischen Friedenserhaltung und Entspannung. Das hatte vorrangig ideologisch-propagandistische Auswirkungen. Wer den Frieden will - so argumentierte auch die SED - sei eben (und kämpfe) für den Friedensvertrag. Die Kampagnen der DDR, der Sowjetunion und des „sozialistischen Lagers", wie auch immer sie mit aktuellen Varianten und wechselnden Tagesaufgaben verbunden und mit von ihnen abgeleiteten Parolen geschmückt sein mochten, gingen in ihrem Kern auf die „siamesischen" Propagandazwillinge Friedensvertrag und „Kampf für den Frieden" zurück. Sie blieben bis in die sechziger Jahre Konstanten der östlichen Außenpolitik. Sicherlich begründete die Führung der SED in den fünfziger Jahren die Notwendigkeit eines Friedensvertrags auch aus ihrer Überzeugung heraus, daß dieser, um einen unhaltbaren Zustand zu beenden, unumgänglich sei. Gleichzeitig erweiterte ihr Einsatz für den Vertrag, der nicht ohne Beteiligung von SED und DDR auszuhandeln gewesen wäre und somit Chancen für die eigene politische Aufwertung oder gar Anerkennung mit sich gebracht hätte, die Möglichkeit, die populäre Forderung nach freien Wahlen moralisch-politisch zu diskreditieren. Denn wer „imperialistisch" freie Wahlen verlange, der wolle nur den Anschluß der DDR an die zum Krieg treibende Bundesrepublik, der provoziere, weil die „Errungenschaften" der DDR doch nicht aufgegeben werden könnten, einen neuen Weltenbrand. Ein Krieg sei aber eben nur zu verhindern, wenn die Forderung aller „friedliebenden Menschen", wie es in der SED-Diktion hieß, nach Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland erfüllt werden würde. So - oder auch hin und wieder modifiziert - reihten sich die Glieder einer spezifischen kommunistischen Argumentationskette aneinander. Seit etwa Mitte der fünfziger Jahre, in Ansätzen schon vor der Verkündung der Zwei-Staaten-Theorie, erschien im Verständnis der Sowjetunion ein Friedensvertrag nur noch geeignet, bestimmte internationale Rahmenbedingungen für die Wiedervereinigung zu schaffen, die nur noch eine Angelegenheit der beiden deutschen Staaten sei. Diese Interpretation entsprach im besonderen Maße den Interessen der SED, konnte sie doch nunmehr ihre nationale Demagogie ohne Rücksicht auf die noch bis dahin akzeptierte Verantwortung der Siegermächte entfalten. Glaubte man in der Weltöffentlichkeit noch zu Beginn des Jahrzehnts - und auch die KPdSU hatte das suggeriert - es bestünde eine Art positiven Junktims, vielleicht sogar ein Automatismus zwischen dem Friedensvertrag und einer Lösung der deutschen Frage, so entkoppelte Moskau, augenfällig nach der Berliner Außenministerkonferenz Anfang 1954, beide Elemente nicht nur, sondern begann sie politisch und konzeptionell voneinander zu isolieren. Das war eigentlich nur durch die Absage der UdSSR an freie Wahlen möglich. Die Diskussion über sie von Ende 1951 bis Anfang 1954 schien wenigstens den Ansatz für einen Kompromiß geboten zu haben, sowohl die Vertragsambitionen des Ostens als auch den Wunsch des Westens nach einer ihm gemäßen demokratischen Wiedervereinigung irgendwie zu berücksichtigen. Die vorläufige Vollendung der militärischen Westintegration unter Einschluß der Bundesrepublik im Rahmen der NATO beantwortete 1954/55 unwiderruflich, was zwar vom Westen schon 1952 abgelehnt, aber von Moskau noch nicht als definitiv und endgültig angesehen worden war: die Offerte einer deutschen Einheit gegen bündnispolitische Neutra-

Der politische Bedeutungswandel im Konzept der SED seit 1949

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lität. Damit schwand auch das Interesse der Sowjetunion an einer Wiedervereinigung, die man zumindest zeitweilig als einen hohen Preis für die gesamtdeutsche Neutralität zu zahlen bereit gewesen war, um Schlimmeres - die akut gewordene Westintegration - in letzter Minute zu verhindern. Jetzt, nachdem die Worte Wiedervereinigung und freie Wahlen aus dem deutschlandpolitischen Konzept des Ostens gestrichen waren, konnte sich die Führung der SED, soviel sie auch immer von der Einheit reden und ihre nationale „historische Mission" herausstellen mochte, auf das sowjetische Ziel des Friedensvertrags konzentrieren. Das geschah kontinuierlich in Form politisch-propagandistischer Kampagnen und verlief nach wie vor unter der Kontrolle der UdSSR. Vier große gesamtdeutsch geführte Kampagnen zur Durchsetzung eines Friedensvertrags bildeten im Zeitraum vom Herbst 1949 bis zum Herbst 1958 den Kern der einschlägigen SED-Politik. Kurz vor dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows begann mit dem Referat Ulbrichts auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 die vierte und bislang letzte Großkampagne. Außerordentlich aufwendig geführt, endete sie im September. Auch das Berlin-Problem, das im östlichen Verständnis immer nur den Westteil der Stadt betraf, besaß für die SED seit 1947/48 eine zentrale politische Bedeutung. Auf die komplizierte rechtliche Situation der Stadt bzw. ihrer drei Westsektoren1 und auf ihre Stellung und Entwicklung nach 1945 kann hier nicht näher eingegangen werden. Eine umfangreiche politwissenschaftliche und historische Literatur sowohl westlicher2 als auch östlicher Provenienz 3 , Dokumentensammlungen und Dokumentationen 4 trugen dazu bei, das Problem und verschiedene seiner Aspekte eingehend - allerdings weitgehend ohne Berücksichtigung östlicher Akten - wissenschaftlich zu klären. Welchen Stellenwert besaß das Berlinproblem im Konzept der SED, und inwiefern betraf es nicht nur die Berlin- und Deutschlandpolitik der SED, sondern auch die Frage der Bildung von ostdeutschen politischen Freiräumen?

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Vgl. dazu E. R. Zivier, Der Rechtsstatus des Landes Berlin, (Völkerrecht und Politik, Bd. 8), Berlin 1987. Vgl. u.a. H. Herzfeld, Berlin in der Weltpolitik 1945-1970 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 38), Berlin 1973; M. J. Hillenbrand, Berlin. Politische Situation, Sicherheit und symbolische Bedeutung, in: ders. (Hg.), Die Zukunft Berlins, Berlin 1981, S. 11-56; D. Mahncke, Berlin im geteilten Deutschland (= Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft fiir Auswärtige Politik e. V., Bd. 34), Wien 1973; E. G. Pohl (Hg.), Berlin und die Zukunft Europas, Koblenz 1986; G. Kotowski/H. Reichard, Berlin als Hauptstadt im Nachkriegsdeutschland und Land Berlin 1945-1985, Berlin und New York 1987; D. Prowe, Weltstadt in Krisen. Berlin 1949-1958 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 42); J. Rühle/G. Holzweißig, 13. August 1961. Die Mauer von Berlin (= Edition Deutschland Archiv), Köln 1981; W. Stützle, Kennedy und Adenauer in der Berlin-Krise 1961-1962 (= Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 96), Bonn-Bad Godesberg 1973; U. Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage (= Bibliothek Wissenschaft und Politik, Bd. 36), Köln 1985; ders., Die Alliierten in Berlin (= Politologische Studien, Bd. 33), Berlin 1988. Vgl. dazu V. N. Belezki, Die Politik der Sowjetunion in den deutschen Angelegenheiten in der Nachkriegszeit 1945-1976, Berlin 1977; V. H. Boldyrew, Westberlin und die europäische Sicherheit, Berlin 1973; G. Keiderling, Berlin 1945-1986, Berlin 1987; ders., Die Berliner Krise 1948/49, Berlin 1982. Vgl. z.B. Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966, hg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V. in Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin (= Reihe Internationale Politik und Wirtschaft, Bd. 52/1), München 1967 und Dokumente zur Deutschlandpolitik, II. Reihe (vom 9. Mai 1945 bis 4. Mai 1955), III. Reihe (vom 5. Mai 1955 bis 9. November 1958), IV. Reihe (vom 10. November 1958 bis 30. November 1966), hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Frankfurt/M.; Die Berlin-Frage. Politische Dokumentation 1944-1965, hg. von W. Heidelmeyer und G. Hinrich, Hamburg 1965.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

2. Die Ausgangslage: Berlinstatus und Ansprüche der SED Wenngleich es im Verlauf der Zeit nach 1945 verschiedene Abmachungen zwischen den Vier Mächten über Berlin gegeben hatte, bildete doch das von den USA, der UdSSR und England unterzeichnete Londoner Protokoll vom 12. September 1944 mit seinen Groß-Berlin betreffenden Ergänzungsabkommen vom 14. November 1944 und 26. Juli 19455 die Völker- und besatzungsrechtliche Grundlage für den alliierten Status und die Verwaltung der deutschen Hauptstadt. Frankreich trat dem Protokoll am 1. Mai 1945 bei. Die gemeinsame Administration der Vier Mächte fand während der ersten Berlinkrise - ein „Stichtag" wäre mit dem Auszug der sowjetischen Vertreter aus der interalliierten Kommandantur am 16.6.1948 festzuhalten - ihr Ende. Nur die ihr unterstellte Luftsicherheitszentrale funktionierte weiter.6 Sowohl im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als auch im Artikel 1, Absatz 2 der Berliner Verfassung vom 1. September 1950 wurde Berlin als ein Land der Bundesrepublik bestimmt. Außerdem fixierten Grundgesetz (Artikel 144, Absatz 2) und Berliner Verfassung (Artikel 87) Übergangsvorschriften für die Zeit, in der Berlin noch nicht oder nicht voll in die Bundesrepublik einbezogen werden konnte. 7 Nach der Beendigung der Berliner Blockade und der ersten Berlinkrise im Mai 1949 hatten die drei Westmächte, um den alliierten Status Berlins zu sichern und Konflikte mit der Sowjetunion zu vermeiden, am 14. Mai 1949 ein „Kleines Besatzungsstatut" für den Westteil der Stadt erlassen, das die im Grundgesetz vorgenommene Einbeziehung Berlins in die Bundesrepublik suspendierte. Obwohl dem Bundestag und der Bundesregierung eine beratende Mitwirkung in Westberlin zugebilligt wurde und das am 5. Mai 1955 in Kraft getretene neue (West-)Berlinstatut - es regelte vor allem die Übernahme von statuskonformen Bundesgesetzen durch eine formale Zustimmung des Berliner Abgeordnetenhauses - faktisch die Eingliederung der Stadt in das Wirtschafts- und Ordnungssystem der Bundesrepublik vollzog, blieb dieser alliierte Rechtsvorbehalt bis 1990 bestehen. Das hinderten weder die Bundesrepublik noch gar Westberlin - das vor allem massive wirtschaftliche Hilfen aus Bonn erhielt -, ihre Bindungen, insbesondere die Bundespräsenz in den drei Westsektoren, kontinuierlich zu verstärken. Im Oktober 1956 fand die erste Sitzung des Bundestags, am 7. März 1956 die erste des Bundesrats in Berlin statt. Das Kabinett hatte am 11. Oktober 1956 „Berlin-Premiere". Am 21. Mai 1957 stellte das Bundesverfassungsgericht8, freilich mit Verweis auf die alliierten Beschränkungen, prinzipiell die Geltung des Grundgesetzes für Berlin(West) fest. Diese Entwicklung verärgerte die SED naturgemäß. Auch sie betrieb eine Politik der Integration. Ostberlin sollte in das System der DDR einbezogen werden, was nach Lage der Dinge praktisch nicht schwerfiel. Der sowjetische Sektor lag inmitten des Territoriums der DDR, war politisch, wirtschaftlich, sozial und in allen übrigen Bereichen untrennbar mit der „Republik" verbunden, die auch administrativ Volkskammer und Regierung residierten in Berlin - mit der Stadt verbunden blieb. Rechtlich allerdings besaß der Ostteil den gleichen alliierten Status wie die westliche Hälfte. Nach der s Vgl. Zivier, a.a.O., S. 301-306. 6 Vgl. A. Riklin, Das Berlinproblem, Köln 1964, S. 74, 81. 7 Vgl. Zivier, a.a.O., S. 28. 8 Vgl. G. Langguth, Die Berlin-Politik der DDR. Historische, politische und juristische Aspekte einer akuten Frage, hg. im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung (= Deutschlandreport, 3), Melle 1987, S. 16.

Die Ausgangslage: Berlinstatus und Ansprüche der SED

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Zerschlagung der Gesamtberliner Stadtverwaltung im Herbst 1948 - formal bildete die Konstituierung eines „provisorischen demokratischen Magistrats" am 30. November 1948 die Zäsur - funktionierten die neuen Ostberliner Stadtorgane als Teil der DDR-Staatsmacht. Während der innerstädtische Verkehr zunächst noch erhalten blieb, drängte die SED auch hier auf allmähliche Separation von den Westsektoren und begann, die Vier-Mächte-Verantwortung - in dem Maße, wie sie die Sowjetunion störte - in Frage zu stellen. Die Verfassung der DDR vom Oktober 1949 bezeichnete Berlin als „Hauptstadt der Republik", womit zunächst die DDR gemeint war. Da diese Konstitution, die einen gesamtdeutschen Anspruch erhob, aber von „Deutschland" als einer „unteilbaren demokratischen Republik" sprach 9 , die als Deutsche Demokratische Republik bezeichnet wurde, stellte Berlin als Ganzes die Hauptstadt Deutschlands dar. Das entsprach noch zu Beginn der fünfziger Jahre dem nationalen und gesamtdeutschen Anspruch der SED und besaß hohen agitatorischen Stellenwert. „Bonn" galt als Symbol antinationalen Separatismus, „Berlin" als Ausdruck von nationaler Einheit und deutschem Patriotismus. Das hinderte die SED nicht daran, die Lebensadern der Stadt, bevor man sie endgültig kappte, allmählich abzuschnüren. Das geschah weniger aus Gründen der Schikane, als vielmehr aus existentiellen Gründen. Die Westsektoren als „Schaufenster" des Westens wurden zur Ausgangspforte für die Republikflucht. Sie verursachten der DDR politische Komplikationen und begannen ihr auch wirtschaftlich beträchtlichen Schaden zuzufügen. Sowohl das verbotene, aber fleißig betriebene Geldwechseln von Ost- in Westmark (und umgekehrt) zu einer als „Schwindelkurs" bezeichneten Umtauschquote und der Abkauf von billigen DDR-Waren mittels der außerordentlich günstig erworbenen Ostmark als auch das „Verschieben" von DDR-Produkten durch „Ostler" in den Westen (um an Westgeld zu gelangen), war für die fragile Wirtschaft der DDR nur schwer zu verkraften und hatte politische Folgen. Aber auch äußere politische Entwicklungen, wie u. a. die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten am 26. Mai 1952, schlugen sich in Berlin-Maßnahmen der SED-Führung nieder. Sie ordnete, formal über die Regierung der DDR, sofort die Installation eines Kontroll- und Sperrgürtels zwischen Westberlin und der DDR an, ließ die nicht für den Transit genutzten Straßenübergänge der Westsektoren in die DDR schließen und unterbrach den Telefonverkehr zwischen beiden Teilen Berlins. Im Januar 1953 wurde der bislang durchgängige Straßenbahnverkehr eingestellt. 10 Bereits gegen die Mitte des Jahrzehnts traf für die SED weitgehend zu, was Udo Wetzlaugk für die zweite Berlin-Krise und für die sowjetische Politik feststellte: „Indem die UdSSR Berlin als Druckpunkt wählte, zielte sie auf den Kern der bisherigen Deutschlandpolitik, war die Stadt doch als der Ort verstanden worden, der die Wiedervereinigung unumgänglich und greifbar machte, und schien die Stadt doch zugleich der Ort zu sein, an dem der Westen am leichtesten zu einem Kurswechsel gezwungen werden konnte." 11 So setzten eigentliche Pressionen auch gegenüber den Westberlinern, die seit dem Frühjahr 1952 Sondergenehmigungen für einen Besuch in der DDR einholen mußten, mit den Politbürobeschlüssen über Beschränkungen der innerberliner Freizügigkeit im Verkehr und bei Wohnungsfragen ein. 12

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Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, in: Verfassungen deutscher Länder und Staaten. Von 1816 bis zur Gegenwart, Berlin 1989, S. 469. Vgl. Langguth, a.a.O., S. 10. U. Wetzlaugk, Berlin und die deutsche Frage, Köln 1986, S. 146. Beschluß des Politbüros, Protokoll 114/52, 3.6.1952, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/214, Bl. 4 f.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

Hatte die SED bis Mitte der fünfziger Jahre Berlin pronociert als die deutsche Hauptstadt propagiert, womit sie sich faktisch im Einklang mit der Bundesregierung befand, und konzentrierte sie ihr Bemühen darauf, Westberlin aus allen Formen der Westintegration herauszuhalten 13 und sich überdies vom Senat abzugrenzen 14 , spielten nach 1955 Statusfragen die wichtigste Rolle. Das erklärte sich aus dem neuen zweistaatlichen Kurs des Politbüros. Eine eigenständige DDR benötigte eine eigene Hauptstadt, die für die SED-Führung nur Berlin heißen konnte. Aber es mußte im Verständnis Ulbrichts ein Berlin ohne Einwirkung durch die Westmächte sein. Als die UdSSR im August 1954 die Aufhebung von Befehlen der SMAD und von Anordnungen der SKK in Deutschland beschloß und der DDR reichlich ein Jahr später die „volle Souveränität" übertrug, verband sie damit nicht einmal, wie es die SED gehofft hatte, eine Erklärung über die Zugehörigkeit des Ostsektors zur DDR. Das Politbüro ersah aus den sowjetischen Beschlüssen, „daß Berlin nicht als ein Teil der Deutschen Demokratischen Republik" zu betrachten ist und „nicht einfach ein Teil des Territoriums der DDR" sei. Es nehme „eine staatsrechtliche Sonderstellung" ein. 15 Die offensichtlich in SED-Führungskreisen gehegte Auffassung, daß das von der UdSSR aufgehobene Kontrollratsrecht „auch automatisch für Berlin außer Kraft getreten ist", sei falsch. Auch die Normativakte der (Berliner) Alliierten Kommandantur hätten ihre Gültigkeit nicht verloren.16 Die UdSSR gab zu verstehen, daß eine Einbeziehung des „demokratischen Sektors" von Groß-Berlin als „Bezirk der DDR" dazu fuhren würde, daß die Bundesregierung Westberlin „als Teil ihres Staates" betrachten und Maßnahmen auf Grund der Pariser Verträge auch in Westberlin durchführen könnte. Der Berlin-Status gelte also „zunächst unbeschränkt weiter". Analog zum westlichen Vorgehen sah man es als praktikabel an, Gesetze der DDR für Ostberlin zu übernehmen, wenn sie von der Ostberliner Volksvertretung oder vom Magistrat beschlossen würden. 17 Mit diesen Ergebnissen gab sich das Politbüro jedoch keineswegs zufrieden. Es wollte mehr Rechte und schließlich Souveränität gegenüber dem Westen. Seit Herbst 1957 ließ die SED-Führung erkennen, daß sie die alliierte Lufthoheit, vor allem die „gegenwärtige, von den Westmächten geübte Praxis" nicht mehr anerkenne, aber in dieser Frage verhandlungsbereit sei.18 Ulbricht drängte Moskau, die völkerrechtliche Aufwertung der DDR, bei der vor allem die erbetene Teilnahme Chruschtschows am V. Parteitag der SED im Juli 1958 helfen sollte, zu forcieren. Er versicherte aber in Kenntnis der sowjetischen Interessenlage gleichzeitig, die SED wolle angesichts der internationalen Lage keine Komplikation der Situation durch das Auftreten des sowjetischen Parteichefs herbeiführen. 19 Doch noch im gleichen Jahr begann die außenpolitische Kommission des ZK intern den Nachweis zu 13 Vgl. Anlage 2 zum Protokoll 84/53, Sitzung des Politbüros vom 22.12.1953, in: ebenda, JIV 2/2/338, Bl. 37. 14 Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 2/54, Sitzung vom 5. 1. 1954, in: ebenda, J IV 2/2/340, Bl. 4. 15 Exposé des Politbüros: „Über die Auswirkung des Beschlusses der Sowjetregierung über die Aufhebung der Kontrollratsgesetze usw. in bezug auf Groß-Berlin", 4. 10. 1955, in: ebenda, NL 90/399, Bl. 162. Ebenda, Bl. 163. 17 Ebenda. 18 Politbürovorlage. Abgabe einer Erklärung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten zu Fragen der Lufthoheit, November 1957, in: ebenda, IV 2/20/1. 19 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 13. 6. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/1.

Das Ultimatum: Ostberliner Vorspiel und internationale Wirkung

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fuhren, daß die UdSSR mit der Übergabe der Verwaltungsfunktionen an die DDR im Herbst 1949 die Zugehörigkeit von Berlin zur DDR „ausdrücklich anerkannt" habe und der ostdeutsche Verfassungsanspruch auf Berlin als Hauptstadt der DDR „im Gegensatz zum Anspruch des Bonner Grundgesetzes rechtsbedeutsam [sei]". Daraus ergebe sich, daß die Rechte der DDR „bezüglich Westberlins heute nur noch faktischen Beschränkungen durch den Aufenthalt der westlichen Truppen unterliegen. Die Hoheitsrechte der Deutschen Demokratischen Republik erstrecken sich auf ganz Berlin und nur die faktische Machtausübung ist der Deutschen Demokratischen Republik im westlichen Teil Berlins rechtswidrig entzogen." 20 Diese zunächst noch inoffizielle Lesart, die von der UdSSR in jedem Fall gebilligt werden mußte, erhob Ulbricht am 27. Oktober 1958 in den Rang einer offiziellen Stellungnahme: „Ganz Berlin liegt auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik"; es gehöre zu deren Hoheitsbereich. Berlin sei eben keine fünfte Besatzungszone geworden, sondern es „blieb Bestandteil der sowjetischen Besatzungszone, auch nachdem die Truppen der Westmächte an der gemeinsamen Besetzung Berlins beteiligt wurden." 21 Der Entwurf dieser Erklärung stieß in den Reihen des Politbüros zumindest bei Friedrich Ebert, dem Ostberliner Oberbürgermeister, auf Skepsis. Er habe Bedenken, „ob es zweckmäßig ist, jetzt im Wahlkampf [Volkskammerwahlen im November 1958 - M. L.] darüber zu sprechen, daß die DDR ,ihre Hoheitsrechte auch in und für Berlin ausübt' und daß der Verkehr innerhalb Berlins von keinerlei Abmachungen" berührt werde 22 - wie es Ulbricht in Ablehnung alliierter Vereinbarungen behauptet hatte. Dessen harter Kurs setzte sich jedoch durch. Man stimmte sich auf den Vorstoß Chruschtschows ein, stellte ab Ende Oktober 1958 aus taktischen Gründen Maximalforderungen, um diese dann teilweise - den Eindruck von Mäßigung und Kompromißbereitschaft vermittelnd - zurücknehmen zu können.

3. Das Ultimatum: Ostberliner Vorspiel und internationale Wirkung Auch zum Friedensvertrag arbeitete die KPdSU seit dem Frühjahr 1958 auf Hochtouren. Die SED erhielt am 20. März 1958 die Information, daß Moskau nicht beabsichtige, separate Friedensverträge mit der DDR und Bonn abzuschließen, daß sie den Konföderationsvorschlag der SED, ohne ihn als Rezept aufzwingen zu wollen, für real halte, aber die Deutschen nun selbst Möglichkeiten finden müßten, damit beide Staaten „in staatsrechtlicher Hinsicht zu einem Vertragspartner werden." 23 Deutsche Initiativen waren also gefragt. Im August 1958 forderte die sowjetische die ostdeutsche Führung angesichts der Vorschläge Adenauers, eine 20

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Vorlage der Außenpolitischen Kommission beim Politbüro des ZK: „Zum Status Berlins", in: ebenda, IV 2/20/2, S. 3f. Die undatierte Vorlage beruhte auf einem Artikel des Ostberliner Staats- und Völkerrechtlers H. Kröger, im Januarheft (1958) der DDR-Zeitschrift „Deutsche Außenpolitik" erschienen. Kröger ging davon aus, daß die UdSSR auf Grund der alliierten Vereinbarungen die Gebietshoheit über ganz Berlin besitze, die Westmächte hingegen nur über ein Mitwirkungsrecht bei der Besetzung und Verwaltung der Stadt verfügten. Neues Deutschland, 28. 10. 1958. Schreiben Eberts an Ulbricht, 27. 10. 1958, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/126. Vertrauliches Material der Sowjetregierung für das Politbüro der SED (Ulbricht), 20. 3. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/332, S. 4.

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Ständige Arbeitsgruppe der Vier Mächte zur Ausarbeitung von Vorschlägen zur Lösung der deutschen Frage zu bilden, zu Gegenvorstellungen auf. Da Adenauers Idee bei der deutschen Bevölkerung „mit Sympathie" aufgenommen worden sei, sei es zweckmäßig, der Bonner Regierung „eigene Gegenvorschläge zu machen". Man könnte - so meinte man in der sowjetischen Hauptstadt - Adenauers Plan den Gedanken entgegensetzen, sich „bezüglich des Abschlusses eines deutschen Friedensvertrages" zu konsultieren und „abgestimmte Maßnahmen" ausarbeiten. Die DDR sollte die Initiative übernehmen. „Ein solches Auftreten", so legte man der SED recht deutlich nahe, könnte auch „möglicherweise die Form eines Ersuchens der Regierung der DDR an die Regierungen der 4 Großmächte haben", auf das die UdSSR dann positiv reagiere.24 Der sowjetische Vorschlag spekulierte eindeutig auf einen propagandistischen Erfolg in beiden deutschen Staaten. Die SED reagierte im Sinne der „Empfehlung" umgehend. Am 4. September 1958 gab die Regierung der DDR eine Erklärung ab, in der sie den Konföderationsvorschlag erneuerte. Bonn - das mit Ostberlin gegenüber den Vier Mächten die gemeinsame „andere Seite" beim Abschluß des Friedensvertrages bilden sollte - wurden Verhandlungen und die Bildung einer Kommission vorgeschlagen, „die sich vom deutschen Standpunkt" aus mit allen Fragen zu beschäftigen habe, „die mit der Vorbereitung eines Friedensvertrages mit Deutschland zusammenhängen." 25 Am gleichen Tag erging - weisungsgemäß - eine Note der DDR an die Vier Mächte. Regiemäßig unterstützte die UdSSR am 18. September 1958 „die Meinung der Regierung der DDR über die Notwendigkeit der Vorbereitung und des Abschlusses des baldigen Friedensvertrages mit Deutschland" in allen (vorher der SED übermittelten) Punkten. 26 Damit waren die letzten Weichen für die sowjetische politisch-diplomatische Offensive gestellt worden. Sie kündigte sich unmittelbar durch die Rede Chruschtschows im Moskauer Sportpalast am 10. November 1958 an. 27 Die SED stellte vor allem die Passage der Rede heraus, in der erklärt wurde, daß die Zeit gekommen sei, „daß die Mächte, die das Potsdamer Abkommen unterzeichneten, auf die Reste des Besatzungsregimes in Berlin verzichten."28 Am 27. November 1958 setzte die Regierung der UdSSR die drei Westmächte und die Regierungen beider deutscher Staaten in Noten 29 davon in Kenntnis, daß sie die Londoner Vereinbarungen vom 12. September 1944 über Berlin als nicht mehr in Kraft befindlich betrachte und daß die Berlin-Frage nun einer „selbständigen Lösung" zugeführt werden müsse. 30 Die Sowjetunion behauptete, daß von Westberlin eine Kriegsgefahr ausginge und die Stadt einer „glimmenden Lunte" gliche, die in die „Nähe eines Pulverfasses" gerückt worden sei. Die Westmächte hätten außerdem das Potsdamer Abkommen „gröblichst verletzt".31 Die Moskauer Regierung informierte die Westmächte darüber, daß sie „im gegebenen Augenblick" Verhandlungen mit der DDR zur Übergabe der sowjetischen Rechte und Funktionen, besonders im Berlin-Verkehr, aufnehmen würde. Sie deutete an, daß die „richtigste und natürlichste Lösung" der Frage zwar die Wiedervereinigung beider Stadthälften zu einer Stadt innerhalb und als Teil der DDR sei, die UdSSR sich jedoch dazu bereit fände, „die West24

Vertraulicher Aktenvermerk von Winzer an Matern, 20. 8. 1958, in: ebenda, JIV 2/202/125. Zitiert nach: Friedensvertrag mit Deutschland, hg. von K. Bittel, Berlin 1958, S. 52. 26 Vgl. ebenda, S. 60-62. 27 Vgl. Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966, S. 296-299. 28 Neues Deutschland, 11. 11. 1958. 29 Vgl. Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966, S. 301-319. so Ebenda, S. 313. 31 Ebenda, S. 301, 307. 25

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Berlin-Frage gegenwärtig durch die Umwandlung West-Berlins in eine selbständige politische Einheit - in eine Freie Stadt - zu lösen, in deren Leben sich kein Staat, auch keiner der bestehenden deutschen Staaten, einmischen dürfte." 32 Die sowjetische Regierung, so hieß es weiter, beabsichtige im Laufe eines halben Jahres keine Änderung des gegenwärtig bestehenden Modus für militärische Transporte der USA, Großbritanniens und Frankreichs aus WestBerlin in die Bundesrepublik vorzunehmen", werde aber, sollte die genannte Frist nicht genutzt werden, die „geplanten Maßnahmen" durch ein Abkommen mit der DDR verwirklichen. Das Ultimatum wurde konkretisiert: Im Falle einer westlichen Ablehnung werde die DDR „in vollem Umfange für die ihr Gebiet angehenden Fragen zuständig sein, das heißt, daß sie ihre Souveränität zu Lande, zu Wasser und in der Luft ausüben muß." 33 Trotz verschiedener Vorzeichen und Andeutungen schlug das „Berlin-Ultimatum" international wie eine „Bombe" ein. Was die sowjetische Ankündigung, ihre im Londoner Protokoll fixierten und über fast 15 Jahre praktizierten Rechte an die DDR zu übertragen, „materiell bedeutete, ließ die Sowjetunion im dunkeln, es reichte aber, um im Westen die Befürchtung entstehen zu lassen, daß der Landzugang, aber auch der Luftverkehr kontrolliert und damit nach Gutdünken gesteuert werden könnte. Die Gefahr einer neuen, diesmal vollständigen Blockade zeichnete sich ab."34 Dementsprechend reagierte der Westen besorgt, aber mit unaufgeregten eindeutigen Stellungnahmen. Schon einen Tag nach der Sportpalast-Rede Chruschtschows am 10. November 1958 hatte das britische Foreign Office die sowjetische Behauptung, die Position Berlins sei vom Potsdamer Abkommen abhängig, mit dem Verweis auf die Geltung des Besatzungsrechts zurückgewiesen.35 Frankreich wandte sich ebenfalls gegen die Ableitung des alliierten Status der Stadt vom Potsdamer Abkommen, das es gar nicht unterzeichnet hatte. Es unterstrich die Wirksamkeit der geltenden alliierten Vereinbarungen und seine Absicht, seine Präsenz in Westberlin, solange die bestehenden Abkommen nicht einvernehmlich geändert würden, nicht zu verändern. 36 Ähnlich unmißverständlich äußerten sich auch die USA. 37 Die Bundesregierung sah in der Rede Chruschtschows den Versuch der UdSSR, sich einseitig von internationalen Abmachungen loszusagen. Das Ultimatum komme - so Bonn einem Bruch des Völkerrechts gleich und ziehe die deutsch-sowjetischen Beziehungen in Mitleidenschaft. Zudem könne es die weltpolitischen Spannungen verschärfen.38 Der Regierende Bürgermeister Brandt wandte sich ebenfalls gegen ein Infragestellen des alliierten Berlinstatus durch die Sowjetunion. Er betonte am 20. November 1958 die Zugehörigkeit Westberlins zum freien Westen, von dem sich die Bewohner der Stadt nicht trennen lassen würden. 39 Das Berlin-Ultimatum wurde vom NATO-Ministerrat, der vom 16.-18. Dezember in Paris tagte, im Anschluß an eine Außenministerkonferenz der Westmächte und der Bundesrepublik (unter Teilnahme des Regierenden Bürgermeisters) am 18. Dezember und in gleichlautenden Antwortnoten der drei Westmächte vom 31. Dezember 1958 zurückgewiesen. Die 32 33 34 35 36 37 38 39

Ebenda, S. 315f. Ebenda, S. 317f. Wetzlaugk, a.a.O., S. 151. Vgl. H. Hartl/W. Marx, Fünfzig Jahre sowjetische Deutschlandpolitik, Boppard/Rhein, 1967, S. 417. Vgl. H. Siegler (Hg.), Archiv der Gegenwart, XXVIII. Jg. 1958, Bonn, Wien, Zürich, S. 7393. Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 417. Vgl. Bulletin der Bundesregierung, 12. 11. 1958. Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7407.

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Bundesregierung brachte mit ihrer offiziellen Antwort an die UdSSR - nachdem der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko am 22. Dezember damit gedroht hatte, daß eine Ablehnung der sowjetischen Vorstellungen dazu fuhren könnte, daß Westberlin zu einem „zweiten Sarajewo" gerate 40 - ihre Solidarität mit der entschiedenen Haltung der Westmächte, aber auch ihre Verhandlungsbereitschaft, zum Ausdruck. Der Westen zeigte sich bei aller Härte in der Sache kompromißbereit. Bereits am 26. November 1958 hatte der Außenminister der USA, John Foster Dulles, erkennen lassen, daß man durchaus erwägen könnte, ob nicht Behörden der DDR im Auftrag der UdSSR, als deren „Agenten", bestimmte Kontrollen der Land-, Luft- und Wasserwege von und nach Berlin übernehmen und mit den Westmächten über verschiedene Fragen verhandeln könnten. Damit sei keine Anerkennung der DDR oder von ostdeutschen Hoheitsrechten verbunden. 41 Eigenartigerweise griff die Sowjetunion diese Idee nicht auf. Die faktische Ablehnung der „Agententheorie" verstärkt die Frage, was die östliche Führungsmacht zu ihrem Berlin-Ultimatum veranlaßte und welche Ziele sie mit ihm tatsächlich verband.

4. Das Ultimatum: Östliche Hintergründe und Ziele Der KPdSU und der Sowjetregierung muß unterstellt werden, daß sie sich über die Tragweite des Chruschtschow-Ultimatums im klaren waren. Sie konnten auf Grund der Weltlage, die immer noch von der konfrontativen Phase des Kalten Krieges im Ost-West-Konflikt bestimmt wurde, und angesichts der Brisanz des Berlinproblems nicht davon ausgehen, daß die Westmächte den sowjetischen Pressionskurs Widerspruchs- und tatenlos hinnehmen würden. Eine erhebliche Verschärfung der Spannungen, die ein kaum exakt zu bestimmendes Konfliktrisiko mit sich brachte, stand zu erwarten. Den Stellenwert Westberlins für die Drei Mächte bestimmten die strategische Lage der Stadt, machtpolitische Überlegungen, aber auch Moral und Psychologie. Das wußte auch die UdSSR. Eine Analyse des Nationalen Sicherheitsrates der USA vom August 1961 faßte die nach 1948 entstandene Bedeutung Berlins für den Westen bündig in drei kommentierten Punkten zusammen. Erstens habe die Stadt die Funktion besessen, „als vorgeschobener Posten im Kalten Krieg [...] eine materielle Basis für offene Aktivitäten gegen Ostdeutschland im besonderen und gegen den Block im allgemeinen abzugeben. Viel bedeutender war die Wirkung unserer Anwesenheit in Berlin und unserer politischen Haltung zu Berlin für die Erschütterung und Beunruhigung Ostdeutschlands. Wir haben es den Kommunisten schwerer gemacht, ihren Einfluß in Ostdeutschland zu konsolidieren. Wenn wir uns weigerten, die Rechtmäßigkeit des Regimes anzuerkennen, wenn wir die entsprechende Weigerung der Bundesrepublik unterstützten, wenn wir grundsätzlich den Anspruch erhoben, daß nur freie Wahlen in Ostdeutschland die Grundlage einer rechtmäßigen Regierung schaffen können - das zielte alles darauf ab." Zweitens habe der Westen eine „weitergehende Verpflichtung hinsichtlich der Freiheit Westberlins, die über dessen Beziehungen zu unseren Verbindungen mit Westdeutschland und seine Bedeutung als vorgeschobener Posten im kalten Krieg hinausgeht. Wir haben zwei Millionen Westberlinern wiederholt unser Wort verpfändet, daß wir auch weiterhin ihre Freiheit verteidigen würden, und zweifellos ist die Einhaltung dieser Zusage ein Prüfstein für unsere Entschlossenheit und ein 40 Ebenda, S. 7467. « Vgl. Associated Press, 26. 11. 1958.

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Maßstab für den Wert unserer Unterstützung, besonders in Europa, aber auch allgemein auf der ganzen Welt." Zum dritten ginge „die Bedeutung Berlins als Schaufenster ökonomischer und politischer Errungenschaften der westlichen Methode, die Gesellschaft zu organisieren", über die in den ersten beiden Punkten genannten Überlegungen hinaus. „Es gibt keinen Zweifel, daß das anhaltende Fliehen der Menschen, von denen viele Akademiker und Spitzenkräfte aus der Verwaltung sind, einer der Faktoren für die Instabilität des ostdeutschen Regimes und für die Schwierigkeiten beim Erzielen befriedigender wirtschaftlicher Leistungen ist." 42 Genau das wußten auch die verantwortlichen Politiker der Sowjetunion, die ja auch - freilich aus einer entgegengesetzten Interessenlage heraus und ganz anders wertend - dieselben Fakten als Beleg für einen antikommunistischen Kampf des Westens ins Feld führten. Aber auch die historische Dimension einer zugespitzten Berlinproblematik dürfte der Sowjetunion nicht entgangen sein. Ihre Niederlage im ersten Berlinkonflikt 1948/49, das Scheitern des Versuchs, durch Druck auf die Westmächte und auf die Westberliner Bevölkerung - letztlich über den Mechanismus Berlin - eine Veränderung der gesamten westlichen Deutschlandpolitik zu bewirken, hätte zur Vorsicht raten müssen. Welche Zwänge bestanden 1958, vergleicht man sie mit denen der ersten Berlinkrise, einen neuen Konflikt zu riskieren? Zeigte sich die Moskauer Führung lernfähig? 1948 wollte sie die Weststaatbildung verhindern. Jetzt ging es ihr zunächst und allgemein um den Abschluß eines sie befriedigenden Friedensvertrages, der die deutsche Frage im Zusammenhang mit der Sicherung des Status quo in Europa regeln sollte. Die deutsche Wiedervereinigung spielte dabei eine untergeordnete Rolle, und die Argumentation, sie sei nun Sache der Deutschen selbst, entsprach völlig dem sowjetischen Verständnis von der Sicherung eines Besitzstands, zu dem die uneingeschränkte Existenz der D D R als Objekt und Subjekt kommunistischer Macht- und Gleichgewichtspolitik gehörte. Der sowjetische Verzicht auf die Einheit „von oben", der Wiedervereinigung durch alliierten Machtspruch, reduzierte die deutsche Frage auf ein durch das Spektrum spezifisch sowjetischer Bedürfnisse gebrochenes Sicherheits- und Entspannungsproblem. So interessierte die der Wiedervereinigung „entkleidete" deutsche Frage, zu der auch die schwebenden Grenzprobleme gehörten, Moskau eigentlich nur in dem Maße, wie sie den Westen daran hinderte, den sowjetischen Besitzstand in Europa anzuerkennen und die Strategie der Sowjetunion störte, die innere realkommunistische Entwicklung im Lande selbst und in ihrem Machtbereich abzusichern. Dieses Ziel setzte eine völkerrechtswirksame Kodifizierung der nach 1945 entstandenen politisch-territorialen Verhältnisse voraus. Der in sich starke liberale Westen konnte sich ungelöste äußere Probleme eher leisten als die UdSSR. Außendruck wirkte hier in Krisensituationen in der Regel im Inneren integrativ und stabilisierend. Der kommunistische Osten verkraftete offene internationale Fragen, die sich in der Regel innenpolitisch destabilisierend niederschlugen, zumindest auf Dauer viel schlechter. So bot ihm ein Friedensvertrag die Chance, den Außendruck entscheidend abzumindern. Das Berlin-Ultimatum sollte den Friedensvertrag vorbereiten, seine Notwendigkeit in einer besonderen Art unterstreichen und auf ihn einstimmen. Es mußte nach der Konzeption der UdSSR vor allem den Druck auf den Abschluß eines Friedensvertrags erhöhen. Der sowjetische Plan, Westberlin in eine „freie Stadt" umzuwandeln, trug deshalb das Stigma des Scheiterns, weil er, um das Imperium insgesamt abzusichern, auf eine partielle Erweiterung des sowjetischen Besitzstandes (West42

Zitiert nach: Wetzlaugk, a.a.O., S. I i i .

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berlin) zielte, was im Westen zu Recht als hegemonistisch bewertet wurde. Das sowjetische Ziel und das Nachkriegskonzept der Systemsicherung geriet in einen Widerspruch zur gewählten Methode. Diese enthielt zudem die „klassisch" imperialistischen Elemente der Androhung von Gewalt, der Erpressung und des Ultimatums. Konkret zielte die sowjetische Aktion auf die Sicherung der DDR als realsozialistischen deutschen Staat. Zum einen ging es der UdSSR und natürlich auch der SED darum, Westberlin als Störfaktor für die innere Entwicklung des ostdeutschen Staates auszuschalten. Dabei ist nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden, ob die Führung der SED - für die KPdSU ist die Frage eher negativ zu beantworten - das Problem der Republikflucht 1958 schon als unmittelbare Bedrohung der staatlichen Existenz ihrer Republik angesehen und die Eliminierung des politischen Vorpostens Westberlin als unaufschiebbare Sofortmaßnahme ins Auge gefaßt hatte. Diese Frage bleibt auch für die von der UdSSR und von der DDR in Erwägung gezogenen Fristen und für das Tempo des Abschlusses eines Friedensvertrages bedeutsam. Da das Berlinproblem unabhängig von der Frage, ob es im Osten „lediglich" als chronische Bedrohung auf einem relativ gleichbleibend hohen Niveau oder als akut angesehen worden war, zu einer prinzipiellen Lösung zwang und ein anderer Weg nicht sichtbar wurde, konnte es im Verständnis der kommunistischen Führungen nur im Zusammenhang mit dem Friedensvertrag, letztlich allein durch diesen, beseitigt werden. So sollte die künstlich aktivierte Berlinproblematik nicht nur den friedensvertraglichen Prozeß beschleunigen, sondern dieser umgekehrt die Berliner Frage lösen. Ein vertraglich fixiertes Hinausdrängen der Westmächte aus Berlin hätte nicht nur die Beendigung des Besatzungsstatuts Westberlins und die Annulierung von Hoheitsrechten der Westmächte zugunsten der UdSSR bedeutet, sondern auch die Vergrößerung der Handlungsfreiheit für die DDR in westliche Richtung erhöht und ihr einen internationalen Souveränitätsgewinn erbracht. Verhandlungen über eine Westberlin und den Friedensvertrag betreffende Regelung bedeuteten eine internationale Aufwertung Ostdeutschlands, was die KPdSU und die SED dem außenpolitischen Hauptziel, der weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung, beträchtlich nähergebracht hätte. Verhandlungen über einen Friedensvertrag boten auch den Einstieg für innerdeutsche Gespräche offizieller Art. Sie schienen geeignet, den Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung und die Hallsteindoktrin zu durchbrechen. Auch der Vorschlag der SED zur Bildung einer deutschen Konföderation ordnete sich nahtlos in das Konzept eines Friedensvertrags und einer Westberlinregelung ein: Konföderation hieß eben auch und vor allem Anerkennung der DDR. Die Sowjetunion ging mit ihrem Berlin-Ultimatum in die Offensive. Sie rechnete offenbar damit, daß ein Friedensvertrag und eine Berlinregelung realisierbare Ziele seien. Nichts spricht für einen bloßen Propagandacharakter der Aktion von 1958/59 oder für interne Zweifel an positiven Ergebnissen. Es kann vielmehr angenommen werden, daß Moskau die Bereitschaft des Westens, Westberlin und seinen Status gegebenenfalls mit Waffengewalt zu verteidigen, 1958/59 unterschätzt hatte. 43 Die KPdSU unterschätzte auch den Umstand, daß es den Westmächten sowohl aus Gründen der eigenen Glaubwürdigkeit in der Welt als auch bei Strafe notwendig eintretender desintegrativer Folgen in der NATO überhaupt nicht möglich war, einen derartigen Prestigegewinn und eine reale Positionsverbesserung der UdSSR zuzulassen. Die UdSSR schien auf einen den Westen zermürbenden Nervenkrieg zu 43

Vgl. P. Bender, Deutsche Parallelen. Anmerkungen zu einer gemeinsamen Geschichte zweier getrennter Staaten, Berlin 1989, S. 85. Vgl. auch Wetzlaugk, a.a.O., S. 152-155.

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setzen. Chruschtschow hatte die Krise ausgelöst, und niemand wußte, wie sie enden würde. Die Initiative lag bei der Sowjetunion. „Chruschtschow hatte es in der Hand, die ,Krise' zu steigern, zu mildern oder abzubrechen. Dem Westen blieb nur übrig, sich auf das äußerste vorzubereiten; die,Krise' zu beenden, lag nicht in seiner Macht, es sei denn auf dem Wege der Kapitulation [...]. Die Entscheidung darüber, ob aus dem Nervenkrieg ein Schießkrieg werden würde, hatte Chruschtschow den Westmächten in die Hand gedrückt, er vertraute jedoch darauf, daß sie den Frieden wählen und nachgeben würden." 44 Von Anfang an aktiv agierend, basierte die Politik der Sowjetunion jedoch keineswegs auf einem reinen Offensivkonzept. Schon im Ansatz zeigte sich, daß Moskau auch aus der inneren Schwäche der Sowjetunion und „ihrer" DDR heraus, eine Art „Flucht nach vorn" antrat, um wichtige Probleme, Friedensvertrag, deutsche Frage, Westberlinregelung u.a.m. sozusagen mit einem Streich aus der Welt zu schaffen. Aber sie stützte sich - wirtschaftlich schwach - auf militärische und relative politische Stärke als Großmacht, sowie auf Erfolge in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen dem demokratischen und dem realsozialistischen System. Udo Wetzlaugk ist in seiner These zuzustimmen, daß 1958 auf östlicher Seite „Elemente der Stärke und der Schwäche ineinander verschachtelt" gewesen seien und die Ziele des Ultimatums „weder nur defensiv noch ausschließlich offensiv" geartet waren, daß beide Faktoren vielmehr eine dialektische Einheit bildeten 45 . Es bleibt aber die Frage, warum die Krise Ende 1958 vom Zaun gebrochen wurde. Nach dem „Sputnik"-Erfolg der Sowjetunion hatten sich das Selbstbewußtsein der UdSSR und die rational schwer erklärbare Siegesgewißheit ihrer politischen Führer augenfällig verstärkt. Chruschtschow glaubte offensichtlich an den weltweiten Sieg des Sozialismus und an dessen - zumindest potentielle - Überlegenheit; letztendlich war seine subjektive Sicht in die Zukunft die persönliche Sicht auf eine bessere Menschheitsalternative. Schon deshalb haben gutwillige Zeitgenossen, die seine Bemühungen um eine Entstalinisierung im Auge hatten, in dem vitalen Ersten Sekretär des ZK der KPdSU nicht den - verglich man ihn mit Stalin eiskalten und skrupellosen Virtuosen der Gewalt gesehen, sondern einen zwar machtbewußten, auf sowjetische Hegemonie bedachten, aber keineswegs amoralischen Staatsmann. Chruschtschow, dessen Mitwirkung an blutigen stalinistischen Terrorakten vor 1953 nicht nur in der sowjetischen Öffentlichkeit z. T. bekannt, sondern ihm selbst mit aller Konsequenz bewußt war, suchte in seiner Politik einen persönlichen Willen zur Wiedergutmachung mit Reformvorstellungen zu verbinden. In keiner Weise theoretisch ambitioniert, erkannte der wenig gebildete, gleichwohl lernfähige, sowjetische Politiker die Notwendigkeit einer umfassenden Modernisierung der sowjetischen Gesellschaft und Wirtschaft. Robust und mit einer ihm zu Recht nachgesagten „Bauernschläue" gesegnet, gelang dem klugen Pragmatiker, dessen Stimmungsumschwünge, Gefuhlsausbrüche und derben Worte extreme öffentliche Heiterkeit wie Befürchtungen auslösten, wenigstens ansatzweise eine Dynamisierung der Sowjetgesellschaft. Für das seinen Namen tragende Ultimatum ist wichtig, daß Chruschtschow 1958 den Zenit seiner Macht erreicht hatte - am 27. März des Jahres war er auch Vorsitzender des Ministerrats geworden - und sich allen Konkurrenten und Gegnern gegenüber durchgesetzt hatte. Gleichzeitig war in der DDR Ulbricht in der machtpolitischen Auseinandersetzung mit seinem parteiinternen Konkurrenten Karl Schirdewan als Sieger hervorgegangen,

44 45

Hartl/Marx, a.a.O., S. 422. Wetzlaugk, a.a.O., S. 147, 151.

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und nach der Liquidierung von „parteifeindlichen Gruppen" in der SED und oppositionellen Kräften herrschte auch er nahezu unumschränkt. Zu dem in Diktaturen immer wesentlichen, in bestimmten Fragen und Situationen entscheidenden, subjektiven Faktor traten eine Reihe objektiver Gründe für die Wahl des Zeitpunkts der Berlin-Offensive. Die weltpolitischen Konstellationen standen für die Sowjetunion günstig. Vor allem im Nahen Osten - hier hatten sich Ägypten und Syrien zu einer Vereinigten Arabischen Republik zusammengeschlossen - gewann die UdSSR, die mit deren Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser eine Reihe politischer Vereinbarungen eingegangen und in Ägypten auch ökonomisch (Assuan-Staudamm) aktiv geworden war, an Einfluß. Die Revolution im Irak beseitigte im Juli 1958 die Monarchie. Der „neue Mann", Abd al-Karim Kassem, stellte die diplomatischen Beziehungen zur UdSSR wieder her und orientierte sich stark an Moskau. In Kuba begann im November die Schlußoffensive der revolutionären Kräfte unter Fidel Castro, auf den die Sowjetunion nun setzte, und nicht zuletzt signalisierte die Schwäche der kolonialen Altmächte - Frankreich z. B. verstrickte sich immer mehr in den sinn- und aussichtslosen Algerienkrieg - einen neuen Aufschwung der antikolonialen, in Moskau als antiimperialistisch verstandenen nationalen Bewegung. Man sah diese „gesetzmäßig" in eine sozialistische Entwicklung einmünden. Das Selbstbewußtsein der sowjetischen Führung wurde sicherlich auch durch die nicht unberechtigte Annahme gestärkt, daß die überwiegende Mehrheit der kommunistischen Parteien in der Welt, nachdem „Schwankungen" im Umfeld der polnischen und ungarischen Protestbewegungen überwunden worden waren, fester denn je hinter Moskau standen. Aber auch die innere Entwicklung im östlichen Bündnis, die Stabilisierung der politischen Verhältnisse und ein relativer wirtschaftlicher Aufschwung nach 1957 bestimmten die Wahl des Zeitpunkts einer neuen BerlinOffensive der Sowjetunion. Im sozialistischen Lager machte sich ein allgemeiner ÜberholOptimismus breit. Der zeigte sich auch - kulminierend im V. Parteitag der SED - in der DDR, deren Wirtschaft tatsächlich, wenngleich sehr kurzfristig, eine Periode der Erholung erlebte. Demgegenüber erschienen der Sowjetunion die Westalliierten in vielem uneinig. Zumindest England schien aus der Phalanx abgestimmter Sicherheitspolitik ausbrechen und einen neuen Dialog mit der UdSSR suchen zu wollen. Aber standen nicht gerade deutschlandpolitisch die Zeichen für die UdSSR günstig? In der Bundesrepublik wuchs die innenpolitische Opposition gegen die bereits seit 1957 diskutierte Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen. Trotz der Anti-Atom-Kampagne und entgegen allen Prognosen hatte die CDU/ CSU bei den Bundestagswahlen im Herbst 1957 die absolute Mehrheit errungen. Die Debatte entzündete sich erneut, als der Bundestag Ende März 1958 die Frage eines europäischen Sicherheitssystems, vor allem aber den Vorschlag des polnischen Außenministers Adam Rapacki zur Bildung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa (Rapacki-Plan) diskutierte, hinter dem freilich die Sowjetunion stand. Doch setzte die CDU/CSU-Mehrheit im Parlament am 25. März 1958 eine Entschließung durch, in der gefordert wurde, „angesichts der Aufrüstung des möglichen Gegners" die Bundeswehr „mit den modernsten Waffen" auszurüsten,46 was nichts anderes bedeutete als sie waffentechnisch den übrigen Streitkräften der N A T O , auch im atomaren Bereich, gleichzustellen.47 Da die SPD, die prinzipiell gegen die

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Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 6957. Vgl. zum Problem AtombewafFnung und atomwaffenfreie Zone: H. Haftendorn, Sicherheit und Entspannung. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1955-1982, Baden-Baden 1983, S. 120-122.

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Atombewaffnung plädierte, auf Grund des Stimmenverhältnisses im Bundestag keine parlamentarische Verhinderungsmöglichkeit besaß, kündigte sie eine Volksbefragung auf Bundesebene an. 48 Das Plebiszit wurde jedoch - von der Bundesregierung als verfassungswidrig bezeichnet - vom Bundesverfassungsgericht auch für die Länder verboten. 49 Dennoch betrieben die SPD und andere oppositionelle Kräfte den Kampf gegen die Atombewaffnung weiter, was auch dazu führte, „daß die Anti-Atom-Bewegung von politisch zwielichtigen Kräften über den verfassungsrechtlichen Rahmen hinausgetrieben wurde und sich die Grenzen zwischen legaler und illegaler Opposition verwischten." 50 Obwohl in verschiedenen Bereichen von der SED infiltriert, entwickelte sich die Anti-Atom-Bewegung im ganzen zu einer von echten Sorgen um Frieden und Ängsten vor einer nuklearen Katastrophe bewegten beachtlichen Kraft. Auf sie setzten die Sowjetunion und Führung der SED verstärkt. Die für sie günstige Situation wird aber nur verständlich, wenn man die Ratlosigkeit der Bundesregierung in der Wiedervereinigungsfrage und ihre schwache Argumentation gegenüber den Vorwürfen von SPD und FDP, daß sie z. B. 1952 entscheidende Gelegenheiten versäumt habe, in die Gesamtlage einbezieht. Als Thomas Dehler (FDP) und Gustav Heinemann (SPD), beide einst Minister im Bundeskabinett, in der denkwürdigen Nachtsitzung des Bundestages am 23./24. Januar 1958 Adenauer des deutschlandpolitischen Versagens beschuldigten, schwieg dieser, und auch seine Fraktion hielt sich bemerkenswert bedeckt. 51 Der Vorgang blieb in Moskau nicht verborgen, zumal nun in der westdeutschen Öffentlichkeit das von vielen Zeitungen aufgegriffene Argument, Adenauer habe die Wiedervereinigung nie gewollt, politisch zu wirken begann. Wie zu erwarten, begrüßte die Führung der SED in der Öffentlichkeit die sowjetischen Berlinpläne uneingeschränkt. Für sie stellte eine Lösung des Westberlinproblems, das genaugenommen ein „Ostberlinproblem" war, den Ausweg aus einer prekären Situation dar. Wenngleich das Problem nicht ständig akut war, drohte es doch latent eine kritische Dimension anzunehmen, die zwar die ständigen „Tantalusängste" des Politbüros, aber auch die Existenz der DDR selbst beenden konnte. Westberlin bildete real einen destabilisierenden Faktor für die Entwicklung einer souveränen DDR. Ihn zu beseitigen, war ein verständliches Ziel der Ostberliner Staatsführung, die sich zwar nicht auf demokratische Wahlen und auf den Volkswillen berufen, sich aber auf die von der sowjetischen Präsenz ausgehende effektive Gewalt, auf die Existenz des eigenen Apparats und auf die von Anhängern und tatsächlichen Bündnispartner stützen konnte. Bei ihrer Herrschaftsrechtfertigung konnte sie sich auch auf begrenzte politische und wirtschaftliche Erfolge berufen. Die Gründe für das Interesse an einer Entschärfung der „Zeitzünderbombe" Westberlin, die von der Sowjetunion im Prinzip geteilt wurden, müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Vielmehr ist zu untersuchen, welche Lösung dem Politbüro als die optimale vorschwebte, wie sie diese realisieren zu können glaubte und welche Alternativen ihm gegebenenfalls akzeptabel erschienen.

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Der am 25. 3. 1958 angekündigte Gesetzentwurf sah vor, zwei Fragen an die wahlberechtigten Bundesbürger zu stellen: „1. Sind Sie einverstanden, daß deutsche Streitkräfte mit atomaren Sprengkörpern ausgerüstet werden? 2. Sind Sie einverstanden, daß in Deutschland Abschußeinrichtungen für atomare Sprengkörper angelegt werden?" Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 6984. Vgl. zur SPDInitiative auch Hartl/Marx, a.a.O., S. 406f. Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7210. Hartl/Marx, a.a.O., S. 408. Vgl. H.-P. Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 405-409.

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5. Die Berlinambitionen der SED zwischen sowjetischen Verheißungen und ost-westlicher Konfliktrealität Seit 1948/1949 hatte sich für die SED die Westberlin-Frage in einer Art gestellt und entwickelt, die ihr jede Westberlin-Regelung jenseits der bestehenden eigentlich als positiv - sei es auch in der Gestalt des kleineren Übels - erscheinen lassen mußte. Es gab zumindest theoretisch große und kleine Lösungen. Eine Einverleibung des Westteils durch den Ostteil der Stadt, an dem faktisch die DDR und ihre politisch-soziale Ordnung hing, hätte die optimale Variante dargestellt. Alle anderen Projekte, einschließlich des Modells einer Freien Stadt, bedeuteten zwar Abstriche an dieser Maximalvorstellung, aber vor allem dann eine wesentliche Verbesserung der sowjetischen und ostdeutschen Position im politischen Kernbereich Berlin, wenn das Fluchttor Westsektoren auf diese Weise geschlossen und ihre destabilisierende Wirkung eliminiert werden konnte. Diese Bedingung der SED schien auch die Metamorphose des westlichen Teils in eine Freie Stadt zu erfüllen. Aber befriedigte diese die Souveränitätsansprüche und das Anerkennungsbedürfnis der SED? Ihr außenpolitisches Hauptziel nach 1955, wenngleich es innenpolitisch determiniert war, war die internationale Anerkennung der DDR-Souveränität. Sie wurde durch Berlin und in Berlin - vor allem verursacht durch das Besatzungsrecht und alliierte Statuten - fühlbar eingeschränkt. Das Doppelziel der SED, den Störfaktor Westberlin auszuschalten und eine Anerkennung der Souveränität der DDR zu erreichen, bildeten in der Praxis eine unlösbare Einheit. Nicht aber in der Theorie. Hier schien eine völkerrechtliche Anerkennung des deutschen Oststaats, die weder eine Statusveränderung Berlins voraussetzte noch sie nach sich zog, im Bereich des Möglichen zu liegen. So implizierte eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durchaus nicht zwangsläufig und automatisch eine Veränderung der rechtlichen Situation der ehemaligen deutschen Hauptstadt, wie es im Westen befürchtet wurde. Umgekehrt führte eine Freie Stadt nicht linear zu einer formalen Anerkennung der DDR, wohl aber zu ihrer internationalen Aufwertung. Die Ursachen für die Verkoppelung beider Faktoren 1958/59 und später lagen vor allem in den inneren Bedingungen der SED-Herrschaft. Das Politbüro wollte die Souveränität der DDR durch die Anerkennung ihrer (vermeintlichen) Rechte in Berlin und vor allem durch die gleichberechtigte Teilnahme an Verhandlungen steigern. Inwiefern sich die SED von der immer wieder beschworenen Wühltätigkeit Westberlins, von Spionage-, Agenten- und Sabotagezentralen, Wechselstuben, dem in trüben Farben gemalten moralischen „Sumpf u.a.m. bedroht fühlte, sie Gefahr subjektiv empfand oder wahrzunehmen glaubte, sollte weiter untersucht werden. Fest steht zum einen, daß eine dem Regime der SED feindliche Aktivität verschiedener westlicher Organisationen, demokratischer Parteien und einzelner Personen, ohne daß diese immer ein gemeinsamer Wille einte oder sie organisatorisch zusammenwirkten, vom Westberliner Territorium ausging. In Berlin zeigte sich der Charakter des Kalten Krieges als eine kumulative Wechselwirkung gefährlicher Spannungen auf beiden Seiten am deutlichsten. Zum anderen ist gesichert, daß diese Handlungen von der SED insgesamt überbewertet und zum Anlaß für Aktionen genommen wurden, die in keinem rationalen Verhältnis zur westlichen Politik standen. Westliche Aktivitäten mußten nicht nur für die Motivierung einzelner Aktionen der repressiven Politik in der DDR und für innenpolitische Mißerfolge herhalten. Sie waren vielmehr Bedingung, um den Gesamtmechanismus

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der ostdeutschen Anerkennungspolitik, zu deren zunehmenden Verkrampfung der westdeutsche Alleinvertretungskurs und irrationale westliche Gegenschläge beitrugen, in Gang zu halten. Sie schienen der SED geeignet, jede Aktion der DDR als aufgezwungene Gegenaktion darzustellen und östliche Schärfe vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung als Notwendigkeit des Klassenkampfes zu legitimieren. Diese den Berlinkonflikt eskalierenden konfrontativen Wechselbeziehungen wurden von westlichen Politikern, vor allem im Umfeld des Berlinultimatums, erkannt und als gleichermaßen nutzlos und gefahrlich qualifiziert. So wandte sich Heinrich v. Brentano gegen die umstrittene, den Osten aufstachelnde Wahl des Bundespräsidenten in Berlin im Sommer 1959. Er vermöge die ganze hochgespielte Frage nicht zu verstehen, schrieb er am 12. Juni 1959 an Adenauer. Vernünftig sei doch die Wahl des Staatsoberhauptes in Bonn. Die „einstimmige Entschließung" des Berliner Abgeordnetenhauses für Berlin als Ort der Wahl, merkte er an, sei, wie in der Regel alle „einstimmigen Entscheidungen" falsch; „sie verdankten ihr Zustandekommen zumeist der Emotion, aber nicht der politischen Vernunft." 52 Die SED artikulierte sich „prinzipieller". Das Politbüro ging von Maximalvorstellungen aus. Ulbricht hatte bereits am 27. Oktober 1958 den Rechtsstandpunkt der DDR umrissen: Der Souveränitätsvertrag zwischen der UdSSR und der DDR vom 20. September 1955 beziehe Berlin völkerrechtlich voll ein. Auch der Verkehr sowohl zwischen der DDR und den Berliner Westsektoren als auch innerhalb der Gesamtstadt, der von keinerlei Abmachungen berührt werde, unterstehe der Kontrolle der DDR. Aber auch der Luftverkehr von und nach Berlin, soweit er nicht der Versorgung der westalliierten Besatzung diene, falle in die Hoheit der souveränen DDR. Die SED berief sich dabei rechtlich auf einen Briefwechsel zwischen dem Außenminister der DDR Lothar Bolz und dem stellvertretenden Außenminister der UdSSR Valerian Sorin, der im Zusammenhang mit dem Abschluß des genannten Souveränitätsvertrages entstanden war. In diesem Briefwechsel hatte die UdSSR die Bewachung und Kontrolle an den Grenzen der DDR einschließlich der Demarkationslinie zwischen der DDR und der Bundesrepublik der ostdeutschen Regierung übertragen, das ihr prinzipiell zugestandene Kontrollrecht über den Verkehr von Personal und Gütern der in Westberlin stationierten Garnisonen jedoch ausgesetzt. Das Kontrollrecht über die westalliierten militärischen Verbindungslinien zwischen der Stadt und der Bundesrepublik sollten „zeitweilig" von den sowjetischen Truppen in Deu^chland ausgeübt werden. 53 Diese mehr aktuell-propagandistische als politisch verwertbare Übereinkunft stand in einem deutlichen Widerspruch zu den schon geschilderten internen sowjetischen Ausführungen von 1954/55 über die Nichtzugehörigkeit Berlins zur DDR. Es spielten aber nicht nur die Rücksicht auf die westliche Interessenlage eine Rolle, sondern mehr noch ein durchgängiges sowjetisches Motiv: Die Sowjetunion beabsichtigte nicht, auf ihre Rechte als Besatzungsmacht und Deutschland als Ganzes tatsächlich zu verzichten. Hier ergab sich ein Widerspruch zwischen den Zielen von KPdSU und SED, der freilich erst in Entscheidungssituationen, wie sie sich 1958/59 entwickelten, politisch relevant wurde. Jetzt bot sich im Verständnis der kommunistischen Führung in Ostberlin die Chance, diesen internen Widerspruch binnen kürzester Zeit aufzulösen. Bereits am 4. Februar 1959 nannte Ulbricht in einem Schreiben an den sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko 52 53

Schreiben von Brentanos an Adenauer, 12. 6. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/157, Bl. 197. Dokumente zur Berlin-Frage 1944-1966, S. 296. Vergl. hier auch den Wortlaut des Briefwechsels, S. 240f.

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„Probleme im Zusammenhang mit der Übergabe der Rechte der sowjetischen Vertreter betreffend Westberlin an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik." Er schlug zunächst vor, die im Briefwechsel zwischen Bolz und Sorin getroffenen Vereinbarungen über die zeitweilige Aussetzung des Kontrollrechts der DDR über die Zufahrtswege von und nach Berlin durch eine „zweiseitige rechtsverbindliche Erklärung" aufzuheben. Für eine nicht näher definierte Übergangszeit sollte man prüfen, ob die Kontrolle des westalliierten Verkehrs von Organen der DDR und den sowjetischen Streitkräften gemeinsam oder aber in der bisherigen Form von Kräften der DDR allein durchgeführt werden könnten. Dabei, so meinte Ulbricht, würde die DDR „die bisher von den Westmächten benutzten Dokumente möglicherweise weiterhin anerkennen." Der Erste Sekretär sprach sich - vorsichtig aber deutlich genug - dagegen aus, daß der sowjetische Botschafter der UdSSR in der DDR und Oberbefehlshaber der sowjetischen Garnison in Berlin „offizielle Kontakte mit den in Westberlin befindlichen Militärgarnisonen" unterhielte und kreidete an, daß die sowjetische Seite zudem im engen Kontakt mit der Protokollabteilung des Westberliner Senats stünde. „Dadurch wird der Eindruck erweckt, daß ein Viermächte-Status und ein Besatzungsregime in Berlin fortbesteht", kritisierte Ulbricht. Im einzelnen regte er an, den zivilen Luftverkehr in die Kontrolle der DDR übergehen zu lassen und zu beachten, daß das militärische Flugwesen der Alliierten den Umfang der Versorgung der westlichen Garnisonen in Berlin nicht überschreiten dürfe. Den zivilen Flugverkehr gedachte Ulbricht durch „formelle Genehmigungen" der DDR zu ermöglichen, wobei die Westmächte aufgefordert sein sollten, Flugverkehrsverträge mit der ostdeutschen Regierung abzuschließen. Eine Flugleitzentrale der DDR müsse geschaffen werden. Solange diese nicht bestehe, sollte der sowjetische Repräsentant der alliierten Berliner Flugleitzentrale durch einen Vertreter der DDR ersetzt werden. Im weiteren schlug Ulbricht die Auflösung der westlichen Militärmissionen in Potsdam vor. Die polnische und die tschechoslowakische Mission könnten sich zu Konsulaten umbilden. Aufgelöst werden sollten auch das alliierte Spandauer Kriegsverbrechergefängnis und das alliierte Abrechnungsbüro für Post- und Fernmeldeleistungen. Bürger der DDR hätten, so meinte Ulbricht, beim Alliierten Reisebüro (Travelboard) keine „vorläufigen Reiseausweise" mehr zu beantragen. Man müsse im Westen vielmehr die DDR-Reisedokumente anerkennen. Wichtiger war seine Forderung, daß Angehörige der Truppen der Westmächte für Besuche in Ostberlin, da es zur DDR gehöre, eine „Einreiseerlaubnis" erwerben müßten. 54 Mit diesen offensiv vorgetragenen Wünschen eröffnete die SED eine neue, von ihr als entscheidend empfundene Etappe ihres Kampfes um die innere Akzeptanz und völkerrechtliche Anerkennung. Chruschtschows Ultimatum war der SED Verheißung und Versprechen zugleich. Von Anfang an wußte das Politbüro um die damit verbundenen Risiken. Bereits am 18. Dezember 1958 wurde es durch das „Medium" Nationalrat u. a. vom FDP-Bundestagsabgeordneten Otto Eisenmann, der Verbindungen zum Vorsitzenden des amerikanischen „Ausschusses für die deutsche Wiedervereinigung" Sperber besaß, informiert, daß die Losung „Um Berlin wird gekämpft", von den USA „durchaus ernst gemeint [sei]".55 Die Bundesregierung sah die Möglichkeit, daß die UdSSR - schon aus Prestigegründen - nach Ablauf der von ihr gesetzten Frist handelte und ihre Funktionen an die DDR abtrat. Die Gegensätze „müssen dann mit voller Wucht aufeinander prallen", schrieb v. Brentano am 3. Januar 1959 an Adenauer, „und 54 55

Schreiben Ulbrichts an Gromyko, 4. 2. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/127, Bd. 3. Bericht von W. Vesper (Büro des Präsidiums des Nationalrates) an Ulbricht, 18. 12. 1958, in: ebenda, JIV 2/202/115, S. 4.

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niemand ist in der Lage, vorauszusagen, wie dieser Kampf, der rein machtpolitisch ausgetragen wird, ausgeht, [...] welche der beiden Parteien, die sicherlich beide einen dritten Weltkrieg vermeiden wollen, früher die Notbremse zieht, um ein militärisches Aufeinanderprallen im letzten Moment zu verhüten." 56 Problembewußtsein muß, soweit es die Konsequenzen eines Durchhaltens der Berlin-Politik beider Seiten anbetrifft, den deutschen Führungen unterstellt werden. Daß es - zumindest in der Phase von Ende 1958 bis Mitte 1959 - sowohl der UdSSR als auch der DDR ernst war mit ihren Berlinplänen und sie in hohem Maße an ihre Realisierung glaubten, läßt sich an den internen Dokumenten der SED und an ihrem als „Chefsache" eingestuften Schriftverkehr mit der KPdSU ablesen. Die verschiedenen Papiere der SED-Parteiführung, die sich schon bis in die Details mit den Problemen einer Übergabe sowjetischer Rechte an die DDR beschäftigten, weisen aber auch darauf hin, daß die SEDFührung offensichtlich früher als die KPdSU mit einer Ablehnung der Idee einer Freien Stadt durch die Westmächte rechnete und fest daran glaubte, daß ihre Verbündeten nun zu ihrem Wort stünden. So erarbeiteten das Außenministerium und verschiedene Fachbereiche des ZK im Zusammenhang mit der Diskussion sowjetischer Vorlagen für die Gestaltung der Freien Stadt Westberlin verschiedene Entwürfe von Abkommen der Regierung der DDR mit dem Senat der Freien Stadt. Im Februar/März 1959 lagen bereits umfangreiche Entwürfe für drei Verkehrsverträge (Landweg, Luftweg, Seeweg) sowie für weitere Abkommen (Handel, Geld- und Zahlungsverkehr, Post- und Fernmeldewesen) vor. 57 Es stellt sich die Frage, ob von Ulbricht eine westliche Ablehnung der Statusänderung Berlins nicht deshalb als die bessere Lösung empfunden wurde, weil sie, hielt sich Moskau an seine Zusage, eben einen beträchtlichen Souveränitätsgewinn impliziert hätte. Solange Chruschtschow die Lösungsvariante einer Freien Stadt favorisierte, die für die SED besser war als der aktuelle Zustand, konnte Ulbricht die Frage der Übergabe sowjetischer Rechte weder öffentlich noch in Moskau auf die Tagesordnung setzen. Ihm blieb zunächst nichts anderes übrig, als die sowjetische Freistadt-Losung zu unterstützen; er konnte aber die SED gleichzeitig auf die Möglichkeit und auf die Konsequenzen ihres Scheiterns einstimmen. Dieser Kurs setzte ideologisch den Nachweis voraus, daß ganz Berlin eigentlich zur DDR gehöre und ihre Hauptstadt sei. Diese Argumentation mußte er aber - folgerichtig - auch gegenüber der Sowjetunion durchhalten. Dem von Chruschtschow übersandten Entwurf des Status einer Freien Stadt hielt er deshalb entgegen, man sollte vom „Verwaltungsgebiet" der Freien Stadt sprechen, „da grundsätzlich Westberlin zum Territorium der Deutschen Demokratischen Republik gehört." Daß er dennoch Bedenken gegen einen solchen Status trug, zeigt seine Bemerkung, es bestehe die Gefahr, daß die Freie Stadt „ihre äußeren Beziehungen der Bonner Regierung überträgt". Er wollte eine Sicherung einbauen: Westberlin sei nicht berechtigt, „die Wahrnehmung seiner äußeren Beziehungen ohne Zustimmung der vertragschließenden Teile einem anderen Staat zu überlassen." Eine Rückversicherung lag ihm auch in einer anderen Angelegenheit am Herzen. Es sei „zweckmäßig", ließ er Chruschtschow wissen, „daß Staatsbürger der DDR und der Bundesrepublik Deutschland die Bürgerschaft der Freien Stadt Westberlin nur mit Zustimmung ihres Heimatstaates erwerben können." 58

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Schreiben von Brentanos an Adenauer, 3. 1. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/157, Bl. 150. Vgl. Sämtliche Materialien, sowjetische Entwürfe der Deklaration über die Bildung, des Status der Freien Stadt Westberlin und eines Vertrags sowie die Bemerkungen und Abkommensentwürfe der SED-Führung, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/127, Bd. 3. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 3. 1. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/174.

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Damit wollte er einer Abwanderung von unzufriedenen DDR-Bürgern „rechtlich" einen Riegel vorschieben. So steckte in der Polemik der SED, es stelle ein „großes Entgegenkommen" der DDR dar, wenn sie dem sowjetischen Plan über die Zukunft Westberlins, das doch eigentlich zur DDR gehöre, zustimme 59 , auch die nicht offen geäußerte Ansicht Ulbrichts, daß die Freie Stadt für ihn nur die zweitbeste Lösung sei. Eine faktische Machtausübung über Westberlin, wenn man die Kontrolle über seine Zufahrtswege erst einmal an sich gebracht hatte, bot ihm sicherlich den Einstieg in die optimale Variante. Wenn Ulbricht u. a. amerikanischen Zeitungsleuten versicherte, die DDR werde Grenzen und Verbindungswege nicht abriegeln60, kamen solche Beherrschungs-Ambitionen indirekt und verklausuliert zum Ausdruck. Die Skepsis gegenüber der Umwandlung Westberlins in eine Freie Stadt blieb bestehen. In dem als streng vertraulich klassifizierten sowjetischen Entwurf eines Statuts für die „Freie Stadt Westberlin" wurden die Wünsche Ulbrichts und der SED tatsächlich berücksichtigt. Das einen „Idealstatus" beschreibende Statut ging von der Entmilitarisierung des Westteils der Stadt und von einer eigenen Gesetzgebung aus. Der SED mißliebige Organisationen und Parteien sollten verboten werden. Auch das Hauptargument des Ersten Sekretärs des ZK der SED fand im Text seine Berücksichtigung: Westberlin erhielt per Statut seine eigene Staatsbürgerschaft. So dekretierte die SED faktisch über den UdSSR-Statutenentwurf, daß „in der Freien Stadt jegliche Asylgewährung ausgeschlossen [ist]". Demgegenüber stände der Regierung der DDR zu, „Einspruch gegen den Erwerb der Staatsbürgerschaft der Freien Stadt sowie gegen die Begründung eines ständigen Wohnsitzes oder Aufenthaltes in der Freien Stadt seitens solcher Personen zu erheben, die beim Inkrafttreten dieses Statuts nicht Staatsbürger der Freien Stadt Westberlin waren." Überdies plante man den Abschluß eines Abkommens über den „Rechts- und Amtshilfeverkehr" zwischen der DDR und der Freien Stadt.61 Diese Bestimmungen bedürfen keines Kommentars; sie deuten aber einmal mehr daraufhin, daß für Ulbricht die Freie Stadt, eben weil sie risikoreich blieb, nur die „zweitbeste" Lösung sein konnte. Neben dem Entwurf eines Statuts übersandte die UdSSR den Entwurf einer „Deklaration über die Bildung der Freien Stadt Westberlin". Er hielt u. a. die Schaffung einer internationalen Kommission zur „Beobachtung der Einhaltung" des Status fest. Beide Dokumente bildeten zusammen mit dem sowjetischen Entwurf eines separaten Friedensvertrages mit der DDR eine Einheit. Eine Umsetzung verschiedener SED-Vorstellungen, die nichts anderes als illusionär waren, hätte Westberlin de facto in ein Protektorat der DDR verwandelt. Die Untersuchung einschlägiger Rechts- und Statusfragen, deren Behandlung durch das Politbüro nicht nur von Realitätsverlust, sondern auch durch Arroganz und Anmaßung gekennzeichnet war, wurde eingestellt, als angesichts der Genfer Konferenz Botschafter Perwuchin für die sowjetische Regierung zu verstehen gab, daß man es in Moskau nicht für zweckmäßig halte, „mit dem schon ausgearbeiteten Statut für eine entmilitarisierte Freie Stadt Westberlin hervorzutreten." Man wolle vielmehr die Westmächte zu Stellungnah59

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Referat von A. Deter (Ausschuß für Deutsche Einheit) auf der gesamtdeutschen Arbeitstagung über Fragen der sozialen Sicherheit in beiden Teilen Deutschlands, 29./30. 11. 1958, in: ebenda, IV 2/1002/52, Bl. 13 lf. Vgl. stenographische Niederschrift des Gesprächs Ulbrichts mit den Herausgebern des amerikanischen Magazins „Look", G. Cowles und E. Korry, 19. 5. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/312, S. 4. Vgl. streng vertrauliches Material: „Statut der Freien Stadt Westberlin", undatiert (1959), in: ebenda, J IV 2/202/244, Bd. 1.

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men und Vorschlägen zur Lösung des Westberlin-Problems veranlassen. 62 Das hinderte Ulbricht und die ihm unterstellten Partei- und Staatsorgane nicht daran, intern weiter nach Modellen für die Zukunft Westberlins zu suchen. So wurde auch eine Idee des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann als „im weiteren Kampf auszunutzendes Beispiel" bezeichnet. Lippmann schlug vor, Westberlin einen Status zu verleihen, wie er der Vatikanstadt in den Lateranverträgen eingeräumt worden war. 63 Die SED verschärfte ihre Politik gegenüber Westberlin systematisch. Das war zunächst Ausdruck einer von Schikanen begleiteten Machtdemonstration von Politikern, die im Westen endlich zur Kenntnis genommen werden wollten. So stellte das Zurückweisen angeblicher Nazis an der innerdeutschen Grenze und die Drohung Ulbrichts, auch das Brandenburger Tor zeitweise zu schließen 64 , mehr demonstrativen Souveränitätsakt als eine konkrete Reaktion auf zum großen Teil fälschlich unterstellte Maßnahmen westlicher „Provokateure" dar. Ein bewußt zugespitzter Kurs der SED setzte auch die UdSSR unter den Zugzwang, die als souveränen Rechte der DDR bezeichneten Befugnisse der SED-Regierung wenigstens schrittweise zu erweitern, zumal der Westen auf den Vorschlag der Freien Stadt offensichtlich nicht einzugehen bereit war. Ulbricht drängte vor allem auf die Kontrolle der westlichen Militärmissionen auf dem Territorium der DDR. Er klagte gegenüber Chruschtschow im Sommer 1959, diese würden nicht nur „spionieren, sondern systematisch gegen die Gesetze der DDR verstoßen." Die zuständigen sowjetischen Kommandanten - er bezog sich auf einen Fall in Karl-Marx-Stadt - hätten die US-Militärmission zwar gewarnt, ihnen aber das Material, obwohl es die „Vorbereitung eines Überfalls auf die DDR" zum Inhalt gehabt habe, nicht abgenommen. Die sowjetischen Offiziere hätten im Gegenteil erklärt, der Stasi habe kein Recht, westliche Militärmissionen betreffende Angelegenheiten zu bearbeiten. „Unter diesen Bedingungen ist es doch völlig sinnlos", beschwerte sich Ulbricht, „daß die Organe der Staatssicherheit der DDR die Mitarbeiter der westlichen Militärmissionen beobachten, ihnen mit dem Auto nachfahren und sie bei ungesetzlichen Handlungen stellen. Die Angehörigen der westlichen Militärmissionen lachen unsere Mitarbeiter der Staatssicherheit aus, verhöhnen und beschimpfen sie." Außerdem bestehe die Gefahr von Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Kräften, „die völlig sinnlos sind, da nach der bisherigen Praxis ihnen ja das Spionagematerial sowieso gelassen wird." 65 Ulbricht unterbreitete Chruschtschow den Vorschlag, den Sowjetorganen Berichte über die Tätigkeit der westlichen Militärmissionen erst vorzulegen, wenn Erkenntnisse der DDR vorlägen. Der Minister für Staatssicherheit der DDR sollte beauftragt werden, das Material durchzuarbeiten und über einen von ihm Bevollmächtigten davon Fotokopien an Marschall Sacharow, dem Oberkommandierenden der sowjetischen Truppen in Deutschland, zu geben. 6 6 Damit versuchte der Erste Sekretär des ZK der SED einen wichtigen Hoheitsakt in die Zuständigkeit der DDR zu ziehen; die Führung der Untersuchung sollte zukünftig bei ihren Organen liegen. Dies setzte voraus - und Ulbricht schlug es so vor -, daß der Stasi das Recht zur Zwangsstellung „bei frischer Tat" erhalte, er den Angehörigen der westlichen Missionen 62

Schreiben Winzers an Ulbricht, Grotewohl, H. Rau und P. Florin, 23. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/244, Bd. 1. « Schreiben Winzers an Ulbricht, 27. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/174. 64 Vgl. „Stenographisches Protokoll der Diskussion über die Westberlinfrage", undat. (Frühjahr 1959), in: ebenda, J IV 2/202/126, S. 5. 65 Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, Juli oder August 1959, in: ebenda, JIV 2/202/127, Bd. 3, S. 5. 66 Vgl. ebenda, S. 7.

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das Material abnehmen dürfe und sie erst dann der Roten Armee überstellte. 67 Ulbricht suchte eine Erweiterung des Handlungsspielraums der SED auf einem Gebiet, das, wie er wußte, auch von der UdSSR als sensibel beurteilt wurde. Er suchte offensichtlich einen allergischen Punkt, um die Entwicklung in der Berlin-Frage zu forcieren und die Sowjetunion zu veranlassen, sich zu einer Entscheidung im Sinne des Ultimatums vom November 1958 zu entschließen. Er war klug genug, noch nicht die Frage der Militärmissionen mit dem Ziel einer prinzipiellen Aufhebung besatzungsrechtlicher Vereinbarungen zu stellen. Ulbricht beabsichtigte, die großen Ziele der Anerkennung und Souveränitätserweiterung in einer möglichst schnellen Abfolge von Schritten zunächst indirekt zu erreichen. Dabei schien er sich bewußt zu sein, daß er die Gunst der Stunde nutzen mußte. Am 10. Januar 1959 schob Chruschtschow dem Berlinultimatum den Entwurf eines Friedensvertrags mit Deutschland nach. 68 Er forderte alle Länder der ehemaligen Antihitlerkoalition sowie beide deutsche Staaten auf, an einer Friedenskonferenz teilzunehmen. Nach dem Vertragsentwurf sollten bis zur Wiedervereinigung unter dem Begriff „Deutschland" die DDR und die Bundesrepublik verstanden und alle im Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten auf beide im gleichen Maße bezogen werden. Im Artikel 5 des Entwurfs wurde die Neutralisierung Deutschlands verlangt: „Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Militärbündnisse einzugehen, die gegen irgendeinen Staat [...] gerichtet sind [...]. Mit dem Inkrafttreten des vorliegenden Vertrages wird Deutschland - die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland - frei von Verpflichtungen, die mit der Mitgliedschaft in den Organisationen des Warschauer Vertrages beziehungsweise des Nordatlantik-Paktes und der Westeuropäischen Union im Zusammenhang stehen." Den endgültigen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete regelten Artikel 8 und 9, während der für die Einheit wichtige Artikel 22 von der alliierten Anerkennung des „Rechts des deutschen Volkes auf Wiederherstellung der Einheit des deutschen Reiches" ausging. Die „Verbündeten und Vereinten Mächte", so hieß es, drückten ihre Bereitschaft aus, „den beiden deutschen Staaten jegliche Unterstützung zur Erreichung dieses Zieles auf der Grundlage der Annäherung und Verständigung zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zu gewähren." Hier entstand zweifellos ein Bezug zum SED-KonfÖderationsvorschlag. Auch eine Reihe von Vorbedingungen für eine Konföderation, so die im Artikel 17 fixierte deutsche Verpflichtung, u. a. die Existenz und Tätigkeit der Nationalsozialistischen Partei und ihrer Gliederungen und von Organisationen zu verbieten, „die eine Überprüfung der Grenze Deutschlands fordern", korrespondierten mit dem SED-Konföderationsplan. Die alte Frage, was der Osten unter „Revanchismus" verstand u.a.m. blieb offen. Für Berlin war der Artikel 25 von Interesse, bestimmte er doch, daß West-Berlin bis zur Wiedervereinigung die „Stellung einer entmilitarisierten Freien Stadt auf der Grundlage ihres besonderen Status" erhalten sollte69, so daß damit eine Art „Drei-Staaten-Theorie" entstand. Der Friedensvertragsentwurf vom Januar 1959 ähnelte in den Kernpunkten den in der Stalin-Note vom 10. März 1952 enthaltenen friedensvertraglichen Vorstellungen. Das Angebot einer deutschen Einheit gegen Neutralität wurde wiederholt. Doch während in der Offerte von 1952 noch von einer Wiedervereinigung im wesentlichen durch eine Vereinbarung der Vier 67

Ebenda, S. 8. Vgl. Text der Note in: Archiv der Gegenwart, XXIX. Jg. 1959, S. 7489. ® Ebenda. 68

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Mächte ausgegangen wurde, schufen diese nach dem Januarentwurf von 1959 nur noch die Rahmenbedingungen für den Prozeß einer Fusion, die von beiden deutschen Staaten in eigener Verantwortung konföderativ herbeigeführt werden sollte. 1952 hatte die UdSSR explizit in ihrer Note vom 9. April - freien Wahlen, wie immer man diese auch interpretierte und durchzuführen gedachte, im Prinzip zugestimmt. 1959 war keine Rede mehr davon. Jetzt, 1959, sollte rückgängig gemacht werden, was im Frühjahr 1952 noch nicht vollendet war: die militärische Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem. Die NATO vermutete speziell im Artikel 30 des sowjetischen Entwurfs einen sowjetischen „Trick", den vollständigen militärischen Rückzug der Westmächte aus der Bundesrepublik zwar mit dem der UdSSR vom Territorium der DDR zu verbinden, ohne diese aber politisch preisgeben zu müssen. Diese Sicht stellte sich dem Westen Anfang 1959 als zwingend dar. Doch anders als 1952 hatte sich die Sowjetunion definitiv auf eine deutsche Zweistaatlichkeit festgelegt. Schon deshalb waren die konkreten neuen Forderungen der sowjetischen Offerte unreal. Dem widerspricht keineswegs die Vermutung, daß dieser Vertragsentwurf, stellt man ihn in den Gesamtzusammenhang sowjetischer Nachkriegspolitik, von Moskau „ernstgemeint" war. Man versuchte nämlich zunächst, auf dem Weg maximaler Vorstellungen - was so ungewöhnlich nicht war - eine Geschäftsgrundlage zu schaffen, den Westen an den Verhandlungstisch zu bringen und ihm dann gegebenenfalls unter Rücknahme eigener hochgeschraubter Forderungen Zugeständnisse abzuringen. Da es der UdSSR nicht um eine Wiedervereinigung, sondern um die Sicherung des Status quo ging, und auch von ihr 1959 schwerlich angenommen werden konnte, daß sie die Illusion hegte, man könne die beiderseitigen Integrationsergebnisse und Paktsysteme einfach revidieren, ging es ihr vielmehr darum, mit dieser Strategie politische Positionsverbesserungen zu erzwingen. Der Abschluß eines Friedensvertrags, so vermutete man in Moskau, könnte möglich sein, weil auch die Westmächte bereit seien, einen Preis für Sicherheit und Entspannung in Europa zu zahlen. So präsentierte Chruschtschow am 10. Januar 1959 tatsächlich „seine Honorarforderungen für die Beendigung der [Berliner] Krise"70, gab aber auch zu erkennen, daß er zu Verhandlungen über ihre Höhe bereit war. In gewisser Weise war der sowjetische Vorstoß auch ein politischer Testballon. Was genau die Moskauer Regierung als Reaktion auf ihre Note vom 10. Januar 1959 erwartet hatte, bleibt dahingestellt.71 Anzunehmen ist, daß sie - die damit verbundene Drohung eines möglichen separaten Vertrages mit der DDR relativ hoch bewertend - von einer gewissen Bereitschaft der Westmächte ausging, sich mit der UdSSR auf der Basis des Friedensvertragsentwurfs zu arrangieren. Sollte das der Fall gewesen sein, dann hat sich die Sowjetunion in ihren Hoffnungen wohl enttäuscht gesehen. Die USA und England reagierten nämlich ablehnend. Sie forderten unverändert das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und freie Wahlen.72 Die Bundesregierung kritisierte den Friedensvertragsentwurf am 20. Januar 1959 als „schärfsten Angriff der Sowjetunion gegen das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes". Sie erkannte eine Absicht Moskaus, „die Freiheit des deutschen Volkes"

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Hartl/Marx, a.a.O., S. 425. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wollte sie auch Differenzierungsprozesse im westlichen Bündnis und allgemeine Verunsicherungen auslösen bzw. verstärken. Offensichtlich war Chruschtschow auch in der Illusion befangen, „die Berliner würden massenhaft aus der Stadt fliehen." Vgl. W. Brandt, Erinnerungen, Frankfurt/M. 1990, S. 34. Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 72.

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auf allen Gebieten des politischen und wirtschaftlichen Lebens „in einem unerträglichen Maße" zu begrenzen und sich in innerdeutsche Verhältnisse einzumischen. 73 Vor allem aber bemerkte sie den „Pferdefuß" der Neutralität. Die weitgehend gleichlautenden offiziellen Antworten der drei Westmächte und der Bundesregierung vom 16. Februar 1959 übermittelten der Sowjetunion die westliche Auffassung, daß die andauernde deutsche Teilung eine Gefahr für die europäische Sicherheit und den Weltfrieden darstelle. Sie könnte von den angedrohten einseitigen sowjetischen Maßnahmen noch erhöht werden. Die Westmächte signalisierten der UdSSR aber die Bereitschaft, die in der Verantwortung der Vier Mächte liegende deutsche Frage auf dem Verhandlungsweg, aber eben nicht auf der Basis sowjetischer Bedingungen - wie es speziell Frankreich anmerkte - friedlich zu lösen. 74 An der neuen sowjetischen Aktion wurde die SED im Unterschied zu den DeutschlandOfferten Stalins zumindest formal beteiligt. Ende Dezember 1958 bzw. Anfang Januar 1959 lag Ulbricht der sowjetische Friedensvertragsentwurf vor. Er erklärte sich mit diesem „vollständig einverstanden", bat aber darum, in den Artikel 9 der Vorlage einzufügen, daß Deutschland Elsaß-Lothringen als Bestandteil der Republik Frankreich anerkenne. Es sei „zweckmäßig", das zu erwähnen, schrieb Ulbricht an Chruschtschow, „damit nicht nur über die Ostgrenzen gesprochen wird."75 Dieser Vorschlag war um so mehr absurd, als ElsaßLothringen außerhalb der deutschen Grenzen von 1937 lag. Gleichzeitig, möglicherweise etwas später - nach der westlichen Ablehnung der sowjetischen Offerte vom 10. Januar - erreichte die SED ein umfangreicher sowjetischer Entwurf eines alternativen separaten Friedensvertrags mit der DDR. Er gliederte sich in Präambel und 38 Artikel. Die ostdeutsche Führung nahm in einem Papier, das auf 24 Seiten prinzipielle Zustimmung signalisierte, zum sowjetischen Entwurf Stellung. Die wenigen substantiellen Verbesserungsvorschläge des Politbüros deuten auf das Ziel der DDR hin, dem separaten Vertrag Dauer zu verleihen. Die von Moskau in der Präambel festgehaltene Formulierung, ein Zweck des Separatvertrags sei es, eine Grundlage für den Abschluß eines Friedensabkommens mit ganz Deutschland zu schaffen, bat das Politbüro zu streichen, da sonst der „fehlerhafte Eindruck" entstehen könnte, daß der Friedensvertrag mit der DDR „nur eine Art Vorvertrag für die endgültige Friedensregelung ist." Alle anderen Einwände zielten auf eine Stärkung der Souveränität der DDR ab, so etwa, wenn die UdSSR die im Text fixierte „volle Souveränität" der DDR nicht „anerkennen" (dies habe sie ja schon 1955 getan), sondern „bestätigen" sollte, ein „Recht auf Selbstverteidigung" im Verständnis der SED vor dem Recht der Teilnahme an regionalen Bündnissen zu rangieren habe und die „Staatsbürgerschaft der DDR" (die Sowjetunion ging von einer „deutschen Staatsbürgerschaft" aus) im Vertrag festzuschreiben sei.76 In der Partei und in der Öffentlichkeit wurde zunächst nur der sowjetische Plan eines gesamtdeutschen Friedensvertrages diskutiert. Es entsprach seiner Linie, wenn Ulbricht ihn vor dem 4. Plenum des ZK der SED, am 15. Januar 1959, uneingeschränkt begrüßte, aber gleichzeitig die Vorbedingungen für eine Konföderation, eine „umfassende Demokratisierung" des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Deutschland, den Ab-

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Bulletin der Bundesregierung, 20. 1. 1959. Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7561ff. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 3. 1. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/174. Streng geheimes Papier (2. Fassung; 4 Exemplare) „Stellungnahme der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik", undat., offensichtlich Anfang Januar 1959, in: ebenda, JIV 2/202/127, Bd. 3.

Die Berlinambitionen der SED

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zug aller ausländischen Truppen von seinem Territorium und den Austritt beider deutscher Staaten aus ihren Bündnisorganisationen deutlich heraushob. 77 In seiner euphorischen Art sprach Albert Norden vor Abteilungsleitern des ZK am 12. Januar davon, daß der sowjetische Vorschlag die Frage der Gesellschaftsordnung offenließe, die SED aber in ihrer Stellungnahme zeigen könnte: „Wir sind die guten Deutschen, wir sind die besten deutschen Patrioten". Er betrachtete den Friedensvertrag vor allem unter propagandistischem Aspekt, sah in ihm aber auch eine „Klammer der beiden deutschen Staaten".78 Offensichtlich trug die sowjetische Initiative bei einer Reihe von führenden SED-Funktionären zumindest zeitweilig zu einem Aufleben gesamtnationaler sozialistischer Endzeitvorstellungen bei. Sie gerieten durch den sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrags, der vor allem - wenn er denn überhaupt von Interesse sein konnte - als ein neuer Lösungsansatz für das Problem der Wiedervereinigung interpretiert werden mußte, unter Erklärungszwang. „Sowohl durch den entspannungs- und verständigungsfördernden Inhalt des Friedensvertrages als auch durch die Tatsache, daß der Vorschlag der UdSSR den Abschluß nur eines Friedensvertrages für ganz Deutschland vorsieht, trägt er zur Förderung des Wiedervereinigungsprozesses entscheidend bei", philosophierte Matern vor „Blockfreunden".79 Dies bedeutete zwar keine Zurücknahme der Priorität des eigenstaatlichen Wegs der DDR, führte aber im Zusammenhang mit der Konföderationspropaganda zu einer unumgänglichen, taktisch bedingten Verstärkung einer Einheitsrhetorik, die letztendlich dem Souveränitäts- und Abgrenzungskurs des Politbüros zuwiderlief. Insofern konnten von der Aktion ausgehende Folgen für den Kurs der SED kontraproduktiv wirken. Ein Problembewußtsein war aber weder in der Regierung noch in der Volkskammer spürbar. Am 19. bzw. 21. Januar 1959 erklärten beide Gremien ihre ungeteilte Zustimmung zum sowjetischen Vertragsentwurf und die Bereitschaft der DDR, an einer Friedenskonferenz teilzunehmen. Die aktuellen Probleme, die Ulbricht und Grotewohl Ende Januar 1959 in Moskau erörtern wollten, stellten sich jedoch etwas anders als in der Propaganda dar: Es ginge der SED um die Fragen, wie die „Kampagne" zu Berlinstatut und Friedensvertrag zu führen sei und „wie die Vorbereitungen für die Übergabe der Rechte der Vertreter der UdSSR, die sich aus dem 4-Mächte-Status von Berlin ergaben, erfolgen sollen." Ulbricht fragte bei Chruschtschow auch an, welche Vorbereitungen von der Regierung der DDR für eine eventuelle Vier-Mächte-Konferenz getroffen werden müßten. 80 Die Hauptfragen weisen aber daraufhin, daß die SED mit einer alliierten Berlinregelung kaum rechnete. Paul Verner, der wenige Tage zuvor 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED geworden war, nahm der Führung der KPD die durch die offizielle Propaganda offensichtlich entstandenen Deutschland-Illusionen. Nicht die Wiedervereinigung, sondern „die Frage der Bändigung des Militarismus [sei] die wesentliche Frage", meinte er Ende April 1959. Der Friedensvertrag, führte Politbüromitglied Stoph vor dem gleichen Gremium aus, werde mit zwei deutschen Staaten abgeschlossen. Man könne also nicht einfach von Deutschland schlechthin sprechen", ermahnte er die westdeutsche Parteileitung.81 77 78 79

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Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7506. Referat Nordens vor Abteilungsleitern des ZK, 12.1.1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 217/45, Bl. 9f. Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 19. 1. 1959, in: ebenda, IV 2/15/24, S. 11. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 31. 1. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/29, Bd. 3. Wortprotokoll der Beratung mit dem Politbüro des ZK der KPD. Anlage 1 zum Protokoll 19/59, Sitzung des Politbüros vom 23. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/2/643, Bl. 10, 14.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

Die Wochen nach der Veröffentlichung des Moskauer Vertragsentwurfs brachten der SED eine Reihe von Verunsicherungen. So erklärte der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anastas Mikojan nach seiner Rückkehr von einem Besuch der USA, sein Land könne, „wenn wir bei den Westmächten guten Willen sehen", die gestellte Sechsmonatefrist noch um einige Tage oder Monate verlängern." Wenngleich diese am 24. Januar von DPA übermittelte Meldung von TASS am Folgetag etwas abgeschwächt wurde 82 , konnte auch die SED eine weitgehende Korrektur des Berlinultimatums erahnen. Das Problem schien Ulbricht um so gewichtiger, als Chruschtschow am 19. März in gewisser Anerkennung der westalliierten Berlinrechte erklärte, die Auslegung seiner Berlinvorschläge als Ultimatum sei falsch. Die Sowjetunion sei vielmehr bereit, auch über das Berlinproblem und über die deutsche Frage - deren alliierte Beratung sie bislang abgelehnt hatte - auf einer Vier-MächteAußenministerkonferenz neben anderen Themen zu sprechen. 83 Die SED versuchte, ihren deutschlandpolitischen Einfluß im Zusammenhang mit der neuen Entwicklung auch nach außen zu erhöhen. Unter Vermittlung Ulbrichts84 trafen am 9. März 1959 in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin Chruschtschow und der Vorsitzende der SPD, Erich Ollenhauer, zu einem Gespräch über die aktuelle Situation zusammen. Der SPD-Politiker konstatierte auf außenpolitischem Gebiet „viele gemeinsame Berührungspunkte", aber auch ideologische Differenzen zwischen der UdSSR und deutschen Sozialdemokraten. Ollenhauer plädierte für eine deutsche Wiedervereinigung, die aber nicht als eine mechanische Angleichung der DDR an Westdeutschland herbeigeführt werden dürfe. Es gebe eben in der DDR „positive Dinge, wie zum Beispiel die landwirtschaftlichen und industriellen Großbetriebe, die gesellschaftliche Kontrolle der Verwaltung u. a., die wir selbstverständlich nicht liquidieren wollen". Die SPD bestehe auch nicht mehr auf freien Wahlen als dem unabdingbaren ersten Schritt: diese könnten am Ende von verschiedenen Maßnahmen stehen, die zu einer allmählichen Wiedervereinigung führten. 85 Ollenhauer fragte Chruschtschow, ob die UdSSR nicht dadurch einen Schritt weitergehen könnte, „indem sie erklärt, daß die Bildung der Konföderation nur der Beginn, nur die erste Stufe der Wiedervereinigung Deutschlands darstellt, wonach weitere Schritte folgen werden." Er sei mit einer Wiedervereinigung als „Angelegenheit der Deutschen" zwar einverstanden, wünsche aber „schon jetzt irgendwelche allgemeinen internationalen Prinzipien auszuarbeiten, die die weiteren Schritte zur Wiedervereinigung Deutschlands bestimmen." 86 Chruschtschow resümierte: „Wenn die SPD irgendeine positive Plattform für die Lösung der im Gespräch berührten Fragen entwickeln würde, wäre das für sie ein großer Gewinn." 87 Wenige Tage später veröffentlichten die Sozialdemokraten ihren Deutschlandplan. Sicherlich wurde er von der Sowjetunion weder iniitiiert noch inhaltlich bestimmt. Freilich berücksichtigte er sowjetische Vorstellungen und auch konföderative Überlegungen der SED. Die Unterredung mit Chruschtschow mag die Ansicht der SPD erhärtet und die Abfassung ihres sz Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 432. 83 Vgl. TASS-Meldung, 19. 3. 1959. 84 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 25. 2. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/89. 85 „Niederschrift der Unterredung des Genossen N. S. Chruschtschow mit dem Vorsitzenden des Parteivorstandes der SPD, Erich Ollenhauer am 9. März 1959 in der sowjetischen Botschaft in Berlin", in: ebenda, J IV 2/202/89, S. 6, 10. 86 Ebenda, S. 11. 87 Ebenda, S. 18.

Internationale Vorgefechte und die Planungen der SED

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Papiers vom 19. März 1959 beschleunigt haben. Gerade, weil Ulbricht Kenntnis von diesem deutschlandpolitischen Gespräch hatte, schien es verwunderlich, daß die SED den sozialdemokratischen Deutschlandplan 88 , der östlichen Vorstellungen ein gutes Stück entgegenkam, zunächst verwarf. Hier spielten vor allem ideologische Gründe eine Rolle. 89 Es bedurfte offensichtlich sowjetischer Intervention, um bei der SED-Führung einen Sinneswandel zum Deutschlandplan herbeizuführen. 9 0 Es ist aber zu bezweifeln, daß er ganz „echt" war. Trotz aller sowjetischer Versicherungen, daß die DDR niemals in Frage gestellt werden und „Grotewohl und Ulbricht unter gar keinen Umständen aufgeben würden", wie man es Ostberlin diskret signalisierte („Beide verträten die große Linie richtig, trotz Fehlern im Einzelnen. Ulbricht sei der ausgezeichnetste Organisator, den es gebe") 91 , blieben unterschwellige Existenzängste des Politbüros wach. Sie begleiteten auch die Vorbereitungen der SED für die Genfer Außenministerkonferenz, an der Delegationen beider deutscher Staaten, formell in beratender Funktion, teilnehmen sollten.

6. Die Genfer Außenministerkonferenz: Internationale Vorgefechte und die Planungen und Kontakte der SED Während die UdSSR in der Absicht, die DDR international zu etablieren, für eine gleichberechtigte Teilnahme beider deutscher Staaten plädiert hatte, wandte sich der Westen gegen eine deutsche Beteiligung, um eine Aufwertung des SED-Regimes zu verhindern. Der Beraterstatus der beiden deutschen Delegationen und ihre Plazierung an zwei „Katzentischen" neben dem großen runden Tisch, an dem die Vertreter der Vier Mächte saßen, bildeten einen der Kompromisse, die Ost und West im Interesse eines neuen Verständigungsversuchs in Genf eingingen. Die Genfer Außenministerkonferenz der Vier Mächte stand zwar im Zeichen der Berlinkrise, war aber durch diese nicht erzwungen worden. Im Gegenteil: Die Westmächte konnten der UdSSR glaubhaft machen, daß sie sich nicht an den Verhandlungstisch nötigen ließen, aber doch prinzipiell geneigt seien, über die Lösung aktueller Probleme, u. a. Berlin und die deutsche Frage, mit Moskau zu sprechen. Die UdSSR hatte ihrerseits eine Gipfelkonferenz initiiert, die der Westen letztlich ablehnte. Lägen nicht greifbare Ergebnisse in wichtigen Fragen vor, so argumentierten die westlichen Staaten auch mit der Absicht, der UdSSR keinen billigen Propagandaerfolg zu verschaffen, sei ein Gipfel eher gefahrlich als sinnvoll. Die Frage einer Gipfelkonferenz war im Westen allerdings unterschiedlich behandelt worden. Englands Premier Harold Macmillan neigte ihr aus Entspannungsgründen eher zu, und wie in Moskau hoffte man auch in Ostberlin seit langem auf eine sowjetisch-englische Annäherung,

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Vgl. Text des SPD-Deutschlandplans, in: Sonderdruck, hg. vom Parteivorstand der SPD, Bonn 1959. Vgl. M. Lemke, Eine neue Konzeption? Die SED im Umgang mit der SPD 1956 bis 1960, in: Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, hg. von J. Kocka (= Zeithistorische Studien, hg. vom Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien Potsdam, Bd. 1), Berlin 1993, S. 374. Vgl. ebenda, S. 374f. Bericht von W. Hartke. An Ulbricht am 28. 4. 1959 übermittelt, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/155.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

vor allem in den Fragen von atomarer Abrüstung und deutscher Neutralisierung.92 Aber auch in den USA - so informierte die KPdSU das Politbüro der SED schon im Februar 1958 - zeige sich u. a. bei Präsident Eisenhower die Neigung, einem Gipfel der vier Mächte zuzustimmen. 93 Demgegenüber stand die Bundesregierung einem Treffen auf höchster Ebene ablehnend gegenüber, weil sie bezweifelte, daß es „zu irgendeinem sinnvollen Ergebnis kommen wird" und sie in den sowjetischen Initiativen nur einen „propagandistischen Zweck" erblickte. Der Bundesaußenminister wollte den Verbündeten klar sagen, wie weit die Bundesrepublik in dieser Frage „mitzugehen vermag", und er empfahl Adenauer, sich unbedingt an der Vorbereitung einer Gipfelkonferenz zu beteiligen, wenn sie nicht zu vermeiden sei. Man müsse verhindern, daß deutsche Interessen verletzt würden. 94 Es gehörte zur legitimen Taktik der Sowjetunion, die Westmächte gegeneinander auszuspielen. Über die innerwestliche Diskussion war die Führung der SED, die u.a. über Ausarbeitungen der Arbeitsgruppe „Gipfelkonferenz", Referat 302 des Auswärtigen Amtes verfügte, wenigstens zum Teil informiert. 95 Von der bereits im Mai 1958 sichtbaren, aber noch nicht offiziell bekanntgegebenen Ablehnung eines Treffens auf höchster Ebene durch den amerikanischen Außenminister John Foster Dulles setzte die UdSSR ihre ostdeutschen Verbündeten in Kenntnis. Auch hier handelte es sich offensichtlich um Informationen aus Geheimdienstquellen. 96 Die UdSSR akzeptierte zumindest eine Verschiebung des von ihr als dringend notwendig erachteten Gipfels, den sie gegenüber einer Außenministerkonferenz als den kürzeren Weg bezeichnet hatte. Wenngleich sie bislang von der Weigerung ausgegangen war, „sich an irgendwelchen Konferenzen zur deutschen Frage oder an anderen Konferenzen, auf denen diese Frage gestellt werden könnte, zu beteiligen"97, stimmte sie am 19. März 1959 sowohl einer Außenministerkonferenz als auch der Behandlung der deutschen Frage als ein Thema dieser Beratung endgültig zu. Die westliche Seite trat den Weg nach Genf in dem Bewußtsein einer einheitlichen Auffassung in der Berlin- und Deutschlandfrage an. Eine Reihe von Vorbesprechungen hatte stattgefunden. So waren Adenauer und Dulles bei einem Treffen Anfang Februar 1959 übereingekommen, daß man der UdSSR in der Frage des „sowjetischen Anschlags" auf Berlin keinerlei Konzessionen machen dürfe. 98 In allen anderen Problemen registrierte man in Bonn unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Westmächte und eine Vielzahl von Plänen und Vorschlägen, vor allem zur Sicherheit und Entspannung. Die Bundesregierung beunruhigten insbesondere die englischen Vorstellungen, die Mannschaftsstärken der beiderseitigen Streitkräfte festzuschreiben und die Kernwaffen in Ost und West einzufrieren. Das widersprach dem Ziel der militärischen Gleichberechtigung der Bundesrepublik im westlichen Bündnissystem und dem Aufbau ihrer Streitkräfte, die weder ihre Sollstärke noch bislang gar eine Ausrüstung mit taktischen Atomwaffen erreicht hatten. Verärgerung ließ auch der Umstand aufkommen, daß man die Teilnahme der DDR in Genf nicht hatte verhindern 92

Vgl. Stenographische Niederschrift der Botschafterkonferenz in Ostberlin, 1./2. 2. 1956, in: ebenda, J IV 2/201/429, Bl. 14. » Vgl. Information der UdSSR an das Politbüro der SED, Februar 1958, in: ebenda, J IV 2/202/332. 94 Schreiben von Brentanos an Adenauer, 14. 4. 1958, in: BA Koblenz, NL 239/157, Bl. 81, 86 87f. 95 Vgl. Papier des Auswärtigen Amtes, Bonn, 20. 5. 1958, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/332. 96 Vgl. Material der Regierung der UdSSR für Ulbricht, 5. 6. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/332. 97 „Information des Genossen Gromyko über seine Unterredung mit Dulles". Für das Politbüro, 18. 10. 1957, in: ebenda, J IV 2/202/330, S. 20. 98 Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7547.

Internationale Vorgefechte und die Planungen der SED

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können. Adenauer zeigte sich auch insofern schlecht auf das Treffen eingestellt, als er sich im Inneren mit wichtigen Problemen konfrontiert sah: Das Auswärtige Amt, auf seine Zuständigkeiten pochend, begann dem rigoros Richtungskompetenz ausübenden Kanzler zu entgleiten, und in Bonn verschärften sich die Querelen um seine Nachfolge im Amt, in das nicht nur der populäre Ludwig Erhard drängte. Adenauer beschuldigte v. Brentano schließlich, ihn bei der Vorbereitung der Außenministerkonferenz beiseite geschoben zu haben. „Zwar konnte der Außenminister dem Kanzler nachweisen, daß er bei den Konferenzvorbereitungen nicht absichtlich übergangen worden sei. Doch Adenauer sah in diesen Wochen nur drei Feinde: Erhard, die Briten und das Auswärtige Amt." 99 Schließlich kam mit Hilfe Wilhelm Grewes, der 1959 Botschafter der Bundesrepublik in Washington war, ein Konzept zustande, das dem unnachgiebigen Kurs des Regierungschefs entsprach, und doch in praxi in das gemeinsame, nach dem neuen amerikanischen Außenminister Christian Herter benannte Stufenprogramm des Westens einfließen konnte. Dieser gemeinsame westliche Friedensplan 100 ging davon aus, daß in der ersten Stufe Ostund Westberlin nach Gesamtberliner freien Wahlen unter UNO- oder Vier-Mächte-Kontrolle vereint werden. Diese Operation hätte faktisch eine der Gesamtlösung der deutschen Frage vorgeschaltete „kleine" Wiedervereinigung dargestellt. Die Idee der Bildung eines Deutschen Gemischten Ausschusses mit 25 Mitgliedern aus der Bundesrepublik und 10 aus der DDR von ihren jeweiligen Regierungen bestellt - kennzeichnete die geplante zweite Stufe. Dieser deutsche Ausschuß, der Beschlüsse mit einer Dreiviertelmehrheit zu verabschieden hätte, sollte u. a. Vorschläge zur Ausgestaltung der innerdeutschen Beziehungen und einen Gesetzesentwurf für freie Wahlen unterbreiten, über dessen Annahme dann ein Volksentscheid zu befinden habe. Gleichzeitig träten nach dem Stufenplan Begrenzungen der Streitkräfte und Rüstungen der Mächte in Kraft, die durch Inspektions- und Beobachtungsmaßnahmen verifizierbar gemacht werden sollten. Spätestens zweieinhalb Jahre nach der Unterzeichnung der Vereinbarung sollten als Hauptmaßnahme der dritten Stufe freie und geheime Wahlen zu einer gesamtdeutschen Versammlung stattfinden, die mit der Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung beauftragt sein würde. Sobald eine gesamtdeutsche Regierung auf der Grundlage der neuen Verfassung gebildet werde, so schrieb das Papier vor, sollte sie die bisherigen beiden Regierungen ersetzen, einen Friedensvertrag vorbereiten und mit den ehemaligen Kriegsgegnern abschließen. Die dritte Stufe sah eine weitere Reduzierung von Streitkräften und Rüstungen in Ost und West vor. Dem vereinten Deutschland sollte es freistehen, irgendeinem Sicherheitspakt beizutreten. Damit verzichtete auch die Bundesregierung faktisch auf freie Wahlen als ersten Schritt zur Wiedervereinigung. So kam der Westen der Sowjetunion in einer Reihe von Punkten entgegen. Der Herter-Plan stellte zwar westliche Wiedervereinigungsvorstellungen in einen europäischen Sicherheits- und Entspannungszusammenhang, diente aber insgesamt mehr dem Versuch, den Angriff Chruschtschows mit einer „diplomatischen Großoffensive" zurückzuweisen. „Unter propagandistischem Gesichtspunkt war es durchaus plausibel, dem Vorstoß weniger in Berlin selbst, wo Kompromißlosigkeit am dringendsten nötig und zugleich am schwersten zu erklären war, entgegenzutreten, als vielmehr in der erprobten Arena der Deutschlandpolitik. Mit der deutschen Teilung ließ sich die Sowjetunion vor der Weltöffent99

H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957-1963 ( = Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3), Stuttgart 1983, S. 90. > Beschluß des Politbüros, Protokoll 26/59, 26. 5. 1959, in: ebenda, JIV 2/2/650, Bl. 3f. 132 Direktive für die Delegation der DDR zur Genfer Außenministerkonferenz, Entwurf des ZK, 6. 5. 1959, in: ebenda, NL 90/464, Bl. 40-42. 127

Sowjetische SED-Direktiven contra westliche Verhandlungsstrategien

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7. Die Genfer Außenministerkonferenz: Sowjetische SED-Direktiven contra westliche Verhandlungsstrategien Die Konferenz hatte am 11. Mai 1959 mit Meinungsverschiedenheiten in den einzelnen deutschen „Lagern" begonnen. Außenminister v. Brentano erhielt ein von Adenauer am 20. Mai verfaßtes Schreiben, in dem Bedenken gegen den westlichen (Herter-)Friedensplan „nachgeschoben" wurden. So sei es, meinte ein sichtlich verärgerter Bundeskanzler, nicht nötig gewesen, der DDR im gemischten deutschen Ausschuß (25:10), eine Sperrminorität zuzubilligen. „Man hätte besser eine Appellationsmöglichkeit an die Vier Mächte anstelle setzen sollen." 133 Adenauer kritisierte vor allem den im westlichen Plan verwendeten Begriff „Sicherheitssystem" für Europa. Davon könne „infolge der Entwicklung der Waffentechnik" überhaupt keine Rede sein, und da allgemeine Abrüstungsverhandlungen vom Westen nicht zur Bedingung gemacht worden seien, bliebe ein solches System „völlig wertlos". Er wandte sich insbesondere gegen die von den Westmächten eingeräumte Möglichkeit, daß bei der Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems die Bundesrepublik oder ein Gesamtdeutschland „einem besonderen Regime" unterworfen werden könne. „Man kann auf diesem Wege die von mir abgelehnten Sicherheitszonen, die uns zu einem Staate zweiter Klasse machen würden, wieder einführen, so wie es die Sowjetunion und Großbritannien augenscheinlich wollen. Das muß unter allen Umständen vermieden werden." Der Kanzler bemängelte im weiteren, daß im Herterplan (Ziffer 23) auf das Recht der vier Mächte auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland hingewiesen werde, „dies bedeutet - was die Stationierung von Truppen betrifft - schlechthin eine Rückkehr zum Besatzungsstatut." Im übrigen könne, so befürchtete es Adenauer, die feste Verbindung der Berlinfrage mit den anderen Fragen zu einem Paket „möglicherweise sehr ernste Folgen" haben. Richtig wäre es gewesen, die Berlinfrage gesondert zu behandeln. 134 Doch profitierte nicht nur die sowjetische Regierung, sondern auch das ostdeutsche Politbüro von der Ende Mai erfolgten Preisgabe des Junktims zwischen Berlin- und Deutschlandfrage durch den Westen. Die UdSSR erneuerte ihren ultimativen Druck. 135 Die mit großem Troß nach Genf angereiste ostdeutsche Delegation hatte aber auch Sorgen. Staatssekretär Otto Winzer - als ihr eigentlicher politischer Kopf - beschwerte sich bei Ulbricht über die von Max Reimann geschickte westdeutsche Delegation. Sie sei ohne Vorbereitung angekommen, benehme sich ungeschickt (gefährde „die Legalität unserer eigenen Delegation") und sei zudem finanziell nicht gesichert. 136 Dies machte nicht nur einen schlechten Eindruck, sondern beeinträchtige die gewünschten offiziellen innerdeutschen Kontakte in Genf. Am 2. Juni 1959 beschloß das Politbüro, beide deutsche Außenminister sollten am Konferenzort Vorverhandlungen über den Nichtangriffsvertrag zwischen der DDR und der Bundes-

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Schreiben Adenauers an von Brentano, 20. 5. 1959, in: BA Koblenz, N L 239/157, Bl. 187. >3" Ebenda, Bl. 188f. Vgl. Kosthorst, a.a.O., S. 292. 136 Schreiben Winzers an Ulbricht, Rau und Schwab, 30. 5. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/249, Bd. 1.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

republik fuhren, „auch wenn sie dann andere zunächst damit beauftragen." Bolz sollte auch die Vier Außenminister zu einem Besuch in der DDR einladen. 137 Noch am gleichen Tag erteilte Ulbricht als stellvertretender Ministerpräsident Bolz die entsprechende Vollmacht.138 Dieser Vorgang, der ohne sowjetisches Einverständnis undenkbar war, läßt die Vermutung Roger Engelmanns, Gromyko habe sich gegen einen derartigen Kontakt ausgesprochen, fraglich erscheinen. Auch die in Moskau erbetene Konsultation 139 - auf dem Programm des Politbüros stand u. a. die Frage, wie man den Vertrag über den Abschluß einer Konföderation besser ins Spiel bringen sollte - fand statt. Sicherlich war ein inhaltlicher Austausch notwendig. Auch das Auswärtige Amt initiierte parallel zur DDR eine Bündniskonsultation. Wie Ostberlin beabsichtigte auch Bonn, noch einmal „in aller Deutlichkeit" Einigkeit zu unterstreichen. 140 Im Osten glaubte man, durch die Reise der DDR-Delegation nach Moskau im westlichen Lager Beunruhigung hervorgerufen zu haben. Das sowjetische Außenministerium vermutete, der Westen sehe in der Konsultation die Möglichkeit einer ostdeutsch-sowjetischen Absprache neuer Maßnahmen für den Fall, daß eine Vereinbarung über Westberlin in Genf ausbliebe. Man sollte den „Druck" auf die Westmächte verstärken141, empfahl Valerian Sorin, der Erste stellvertretende Außenminister der UdSSR. Fast täglich gingen Telegramme aus Genf in Ostberlin ein. Die Führung der SED wurde bis in die Details in der Regel vom eigentlichen politischen Leiter der DDR-Delegation, Otto Winzer, über den Stand der Verhandlungen informiert. Er berichtete dem Politbüro auch über die Konsultationen mit der sowjetischen Delegation, die eindeutig „vor Ort" Richtungskompetenz ausübte. Sein Gesprächspartner war Sorin. Am 7. oder 8. Juni 1959 empfing er den ostdeutschen Staatssekretär und Bolz zu einer Aussprache. Sie trug den Charakter einer Zwischenbilanz. So erfuhr Ulbricht, daß es die UdSSR für unmöglich erachte, einen Status der Freien Stadt Westberlin durchzusetzen. Es gebe laut Sorin nur die Alternative, „entweder ein zeitweiliges Abkommen über Westberlin einzugehen, oder die Sowjetunion und die DDR werden selber handeln." Sorin schlage vor, den derzeitigen Zustand in Berlin für ein Jahr unter der Bedingung anzuerkennen, daß die westlichen Truppen im Westteil der Stadt verringert, dort keine Atomwaffen und Raketen stationiert und die feindliche Propaganda sowie die „unterirdische Tätigkeit" von hier aus gegen die DDR eingestellt würden. Zur Raketenstationierung merkte Sorin an, daß sie mehr eine politisch-propagandistische Bedeutung habe, da die Westmächte sie gar nicht beabsichtigten.142 „Wenn innerhalb eines Jahres keine Verständigung erfolgt", kündigte Sorin an, „wird ein Friedensvertrag mit der DDR abgeschlossen." Die Verschiebung um 12 Monate würde die Position des Westens schwächen, die des Ostens stärken, meinte der sowjetische Diplomat. Auf Drängen von Bolz nannte er eine Truppenstärke von 1000 Mann für jede westliche Besatzungsmacht, und er betonte, daß dies lediglich den Westen der Stadt - nicht beide Teile Berlins - betreffe, wie Bolz offensicht137 138

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Beschluß des Politbüros, Protokoll 27/59, 2. 6. 1959, in: ebenda, J IV 2/2/651, Bl. 2. Vgl. Schreiben Ulbrichts an Bolz, 2. 6. 1959, in: ebenda, JIV 2/202/249. Vgl. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 27/29, 2. 6. 1959, in: ebenda, J IV 2/2A/701, S 4. Schreiben von Staatssekretär (des AA) A. H. van Scherpenberg an von Brentano, 29. 6. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/179, Bl. 80f. Aufzeichnung eines Gesprächs mit Sorin durch P. Florin, 6. 6. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/249, Bd. 1. Vgl. dazu auch ebenda, NL 90/464, Bl. 49. Bericht Winzers (aus Genf) an Ulbricht, Grotewohl, Rau und Schwab, 8. 6. 1959, in: ebenda NL 90/464, Bl. 50.

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lieh befürchtete. 1 4 3 Im Anschluß an diese Ausführungen schlug Sorin die Bildung eines deutschen, auf paritätischer Grundlage gebildeten Gesamtdeutschen Komitees (Gesamtdeutscher Ausschuß) vor. Dieses Gremium stellte eindeutig ein Gegenmodell zum westlichen Vorschlag des nichtparitätischen Gemischten Deutschen Ausschusses dar. Es habe die Aufgabe, innerhalb des aufschiebenden Jahres einen Plan über die Wiedervereinigung zu beraten, die Annäherung beider Staaten und die Verstärkung der bilateralen Kontakte voranzutreiben und die deutschen Grundsätze eines Friedensvertrags auszuarbeiten. Die DDR-Delegation äußerte spontan ihre Skepsis gegenüber dem Gesamtdeutschen Komitee, weil es „als eine Anerkennung der Zuständigkeit der Vier Mächte für die Wiedervereinigung ausgelegt werden kann." Der sowjetische Plan setze die Wiedervereinigung auf den ersten Platz und rücke den Friedensvertrag „an die letzte Stelle". Außerdem, so kritisierten die DDR-Politiker, bringe die Aufgabenstellung „Annäherung der beiden Staaten und Vermehrung der Kontakte, die Gefahr mit sich, daß die Lösung dieser Aufgaben nicht mehr mit dem Kampf gegen Militarismus und Atomrüstung in Westdeutschland in Zusammenhang gebracht wird." Demgegenüber wies Sorin in der Debatte daraufhin, „daß dieser Vorschlag uns [der DDR - M. L.] eine günstigere Plattform als Verfechter der Wiedervereinigung und der Annäherung geben würde." 144 Die Ostdeutschen schienen nicht überzeugt. „Größte Zweifel" bestanden bei ihnen zu der von der UdSSR geäußerten Kompromißvorstellung, daß die Vier Mächte den deutschen Staaten das Gesamtdeutsche Komitee empfehlen sollten. „Unsere Hauptthese, die Frage der Wiedervereinigung, sei keine Angelegenheit der Vier Mächte, [wird] erschüttert." Konsens bestand aber darüber, daß ein Junktim zwischen dem Problem Westberlin und der Frage der zwischendeutschen Beziehungen unbedingt vermieden werden müsse. 1 4 5 Ohne die Reaktion der SED-Führung abzuwarten, unterbreitete der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko bereits wenige Tage später, am 10. Juni, den Westmächten den Plan zur Bildung eines Gesamtdeutschen Ausschusses. Die Ostdeutschen hatten nicht einmal Modifizierungen durchsetzen können. Außenminister Herter lehnte ihn entschieden ab; seine Amtskollegen Selwyn Lloyd (Großbritannien) und Couve de Murville (Frankreich) und die westdeutsche Seite schlössen sich der Zurückweisung an. Westliche Gegenvorschläge 146 und eine leichte (zeitliche) Modifizierung des sowjetischen Plans erreichten keinen Durchbruch in der Berlinfrage. Geheime Sitzungen häuften sich, trugen aber nicht zu einer Bewegung der starren Fronten bei. Gromyko bestand im wesentlichen auf dem sowjetischen Friedensvertragsentwurf vom 10. Januar 1959; die sowjetische Drohung, notfalls einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen, wiederholte sich. Auch der Plan einer Konföderation, der nun von Gromyko und Bolz massiv in die Diskussion eingebracht wurde, traf auf westliche Ablehnung. Der Sprecher der bundesdeutschen Verhandlungsdelegation, Wilhelm Grewe, hielt der östlichen Konföderationsvorstellung entgegen, man könne ein System der Freiheit mit einem der Unfreiheit nicht konföderieren. 147 Der immer wieder einsetzende innerdeutsche Schlagabtausch trug zur Verhärtung der Positionen bei. Am 20. Juni 1959 wurde die Konferenz der Außenminister unterbrochen. Ihre erste Phase war beendet und

143 ]44 145 146 147

Vgl. ebenda, Bl. 51. Ebenda, Bl. 52. Ebenda, Bl. 53. Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 447-450. Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7739.

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man trat einen vierwöchigen „Verhandlungsurlaub" an. Welches Teilergebnis brachte die DDR-Delegation mit nach Ostberlin? Auf konkrete Ergebnisse konnte die SED naturgemäß nicht hoffen. Ihre deutliche Reserve gegenüber der Bildung eines Gesamtdeutschen Ausschusses war faktisch mit Hilfe der Westmächte annulliert worden. So haftete ihr der Makel einer heimlichen Gegnerschaft nicht an. Es zeigte sich aber, daß die Position der DDR noch starrer war als die der Sowjetunion, die zumindest ansatzweise taktische Flexibilität entwickelte. Die Bilanz des Politbüros konnte aber positiv ausfallen, weil nun die sowjetische Ankündigung wieder im Raum stand, ein Abkommen mit der DDR separat abzuschließen, wenn sich der Westen einem Friedensvertrag verweigere. Das implizierte die Übergabe sowjetischer Deutschlandrechte an die DDR. Das war Ende Juni 1959 aber erneut mehr Verheißung als reale Perspektive. Der relative Erfolg der SED, sichtbar und in gewisser Weise abrechnungsfahig, lag in der internationalen Aufwertung der DDR. Nicht die Art und Weise des Auftretens ihrer Delegation in Genf, sondern die Tatsache, daß diese teilnahm, brachte die SED der Anerkennung einen Schritt näher. Vieles wird so gewesen sein, wie Winzer berichtete: Ferdinand Duckwitz, der weltgewandte Verbindungsmann der westdeutschen Delegation zu den Sowjets in Genf, habe Sorin erklärt, daß die Hallsteindoktrin überlebt sei, Bonn werde in „absehbarer Zeit" seine Beziehungen zu Polen und der CSR normalisieren. Felix v. Eckhardt, der sich in Genf aufhaltende Pressesprecher der Bundesregierung - so erfuhr das Politbüro - habe genau das bestätigt, offizielle Verhandlungen mit der DDR aber ausgeschlossen, während v. Brentano, von Grewe gebremst, für einen Nichtangriffspakt zwischen beiden großen Militärblöcken plädiere.148 Der Botschafter der Bundesrepublik in Moskau, Hans Kroll, sprach sogar davon - wie Winzer meldete -, daß man beiderseitige Vorschläge für ein gesamtdeutsches Komitee annähern könne 149 und Selwyn Lloyd und Couve de Murville „gaben privat [die] De-facto-Anerkennung der DDR zu." 150 Sicherlich traf einiges zu von den Informationen, die kursierten und gehandelt wurden, und anderes entsprang wohl mehr dem Wunschtraum der kommunistischen Führung in Ostberlin. Doch noch war die Genfer Konferenz nicht zu Ende. Auswertung der ersten Konferenzphase und Vorbereitung auf die zweite Genfer Etappe bildeten sowohl in Ostberlin als auch in Bonn eine Einheit. Beiden Seiten war klar, daß die Außenministerkonferenz unter Beteiligung der beiden deutschen Staaten, sichtbar in einer Sackgasse steckend, mit hoher Wahrscheinlichkeit ergebnislos beendet werden würde. Folgerichtig verstärkte sich in beiden deutschen Regierungen die Tendenz, sich in der Öffentlichkeit effektvoll darzustellen, statt noch einmal ernsthaft nach politischen Lösungsansätzen zu suchen. In Bonn beriet die Bundesregierung vor allem das Problem der Bildung eines Viermächtegremiums, das die Möglichkeiten für eine Erweiterung und Intensivierung der zwischendeutschen Kontakte prüfen sollte.151 Ein entsprechender Vorschlag, der auf eine Initiative des Bundestages vom Juli 1958 zurückging, war bereits in die Genfer Diskussion eingebracht worden. Das Viermächtegremium sollte nach Ansicht der Bundesregierung die Beteiligung deutscher Berater gestatten, aber nicht die Assoziation deutsch-deutscher Verhandlungen, also der Anerkennung eines ostdeutschen Gesprächspartners - und damit 148

Bericht Winzers (aus Genf) an Ulbricht, Grotewohl, Rau und Schwab, 15.6.1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/464, Bl. 62. 149 Vgl. ebenda, Bl. 65. 150 Telegramm Winzers (aus Genf) an die Regierung der DDR, 20. 6. 1959, in: ebenda, Bl. 71. 151 Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7838.

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faktisch der DDR - erwecken. Nach Ansicht der Bundesregierung durfte ein deutsches beratendes Gremium, wie von der DDR gewünscht, auch nicht als dauerhaftes Organ installiert werden. Adenauer und von Brentano versicherten sich gegenseitig, „daß jede Art der Institutionalisierung eines sogenannten gesamtdeutschen Beratergremiums von uns abgelehnt werden muß." 1 5 2 Dies richtete sich zwar gegen die östlichen Vorschläge zur Bildung eines paritätischen Gesamtdeutschen Rates, trug aber der Tatsache nicht Rechnung, daß ein mit der Erweiterung der zwischendeutschen Kontakte befaßtes Viermächte-Gremium für die Lösung der deutschen Frage als Gesamtproblem nicht zuständig sein konnte. Aus diesem Grunde erwog die amerikanische Regierung, die Viermächte-Außenministerkonferenz zu einem ständigen Organ zu entwickeln. Die ursprüngliche Zielsetzung Christian Herters, ein positives Übereinkommen über ein möglichst weites Gebiet zu erreichen, die Unterschiede der Standpunkte einzuengen und konstruktive Vorschläge für die Erörterung auf einer [vor allem von Moskau gewünschten] Konferenz der Regierungschefs auszuarbeiten, blieb für den Westen im wesentlichen konzeptionelle Grundlage. Am 11. Juli 1959, zwei Tage vor der Weiterführung der Konferenz, verabschiedete das Politbüro seine Direktive für das Verhalten der DDR-Delegation in der zweiten Genfer Gesprächsphase. 153 Ob in der Zwischenzeit Konsultationen mit der Sowjetunion auf höchster Ebene stattgefunden hatten, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. In der Direktive wird es als die „politische Hauptaufgabe" der DDR-Abordnung bezeichnet, „das Zustandekommen einer Gipfelkonferenz zu erleichtern. Sie muß dazu beitragen, eine Atmosphäre der Verständigung zu schaffen und eine Annäherung der Standpunkte in verschiedenen Einzelfragen herbeizufuhren. Dabei ist jedoch zu beachten, daß keinerlei Junktim zwischen dem Ausgang der Außenministerkonferenz und dem Zustandekommen der Gipfelkonferenz anerkannt und daß die Gipfelkonferenz nicht durch Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen erkauft werden kann." Es widerspiegelte sich, daß die KPdSU angesichts des drohenden Scheiterns der Konferenz jetzt ganz offensichtlich nur noch auf einen Gipfel der Regierungschefs orientierte. Folglich stand die Behandlung der kardinalen Fragen auf dem Genfer Treffen nicht mehr im Vordergrund des östlichen Interesses. Die Sachprobleme blieben natürlich bestehen. Sie bildeten auch ab 13. Juli die Genfer Tagesordnung. So bezeichnete die Politbürodirektive die Vorbereitung und den Abschluß eines Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten „nach wie vor" als das erste Hauptproblem. Die Delegation müsse alles unternehmen, um die Ansätze zu einer Diskussion über den Friedensvertrag „in geeigneter Form weiterzuführen und zu entwickeln." Zum zweiten Hauptproblem wurde die „Aufhebung des Besatzungsregimes in Westberlin" nach dem Schema Freie Stadt erklärt. An dieser Stelle schaltete sich die sowjetische Modifikation ein: Da die Westmächte auf die Freie Stadt nicht eingingen, seien die Verhandlungen auf der Grundlage eben der sowjetischen Vorschläge, „die eine Vereinbarung über einen zeitweiligen provisorischen Status für Westberlin vorsehen, weiterzuführen." Das dies nicht den Ambitionen Ulbrichts entsprach, erhärtet der Passus, die Delegation könnte, falls es sich im Laufe der Verhandlungen als „unumgänglich" erweisen sollte, „auch für ein Abkommen über einen provisorischen Status für Westberlin 152 153

Schreiben von Brentanos an Adenauer, 10. 7. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/127, Bl. 220. Beschluß des Politbüros: „Direktive für die Delegation der DDR zur Genfer Außenministerkonferenz, 2. Phase", 11. 7. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/464, Bl. 76ff. Vgl. dazu auch ebenda, J IV/2 J/595.

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eine ausdrückliche Garantie-Erklärung abgeben, daß sich die DDR nicht in die inneren Angelegenheiten Westberlins einmischen wird." Die Einräumung dieses vorläufigen Status stehe aber „in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Bildung und Tätigkeit einer auf paritätischer Grundlage gebildeten gesamtdeutschen Kommission." Diese alte, unmodifizierte Forderung [Gesamtdeutscher Rat], bildete zwar keine Voraussetzung für die genannte Interimslösung, konnte aber jederzeit zu einem östlichen Junktim zugespitzt werden. Sie erschwerte in jedem Fall die Verhandlungen. Noch einmal legte das Politbüro ihren Abgesandten nahe, keinesfalls Versuche zu unterstützen, „die auf die Preisgabe des Grundsatzes hinauslaufen, daß die Lösung der Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, daß Wege und Methoden der Wiedervereinigung, Sache des deutschen Volkes selbst sind." Demgegenüber sollte die Initiative der DDR zum Abschluß eines Nichtangriffspaktes zwischen beiden deutschen Staaten energisch weiterverfolgt werden. Interessant war die Anweisung, daß die westlichen Vorschläge darauf geprüft werden sollten, „ob sich in ihnen Elemente für die Entwicklung eigener Vorschläge befinden." Hatte die Delegation diesen Eindruck, so bestimmte es die Direktive, müßte sie sich vor einer Reaktion mit Partei und Regierung verständigen. Derartige Anweisungen waren zwar nicht neu, erklären aber einmal mehr, daß der Ermessens- und Handlungsspielraum der ostdeutschen Diplomatie außerordentlich gering war. Und nicht etwa nur von der Sowjetunion eingegrenzt wurde. Im übrigen erhielt die Delegation den Auftrag, „in engster Zusammenarbeit mit der Delegation der SU für möglichst häufige offizielle Beratungen der Delegationen der sechs Mächte[!] sowie für die Hinzuziehung deutscher Vertreter auch zu den inoffiziellen Besprechungen einzutreten." Dies, wie die Mahnung, mehr Pressekonferenzen, Rundfunkund Fernsehgespräche u.a.m. durchzufuhren, stellte auf Publizität der DDR ab, sollte internationales Interesse bewirken. Im Mittelpunkt der Auflagen stand die „De-facto-Anerkennung" der DDR. Der Direktive wurde ein umfangreicher propagandistischer Maßnahmeplan 154 zur Seite gestellt. Die Delegation der DDR in Genf hielt sich an ihre Direktive. Dies fiel um so leichter, als die Sowjetunion ihre Positionen nicht änderte. Das nun offizielle amerikanische Angebot vom 20. Juli, die Genfer Außenministerkonferenz als Dauereinrichtung weiterbestehen zu lassen, wurde von Gromyko und Bolz abgelehnt. Konferenzatmosphäre und Aussichten verschlechterten sich. „Die Verhandlungen in Genf sind nach wie vor hart und schwierig", schrieb von Brentano am gleichen Tag an den Hamburger CDU-Politiker Erik Blumenfeld, und er glaube, „daß niemand den Ablauf und das Ende vorauszusehen vermag. Nach wie vor besteht leider kein Anlaß zu einer optimistischen Beurteilung."155 Der Bundesaußenminister befand sich auch deshalb in einer pessimistischen Stimmung, weil seine Initiative für einen Gewaltverzicht zwischen beiden Militärblöcken, auf die alle drei westlichen Außenminister positiv reagiert hatten, auf Vorbehalte von anderen Bundesministern traf. Von Brentano, redlich aber nicht sonderlich flexibel, handelte im Bewußtsein, das Bundeskabinett in dieser Sache hinter sich zu haben. Er war deshalb überrascht, daß die Regierung am 23. Juli - offensichtlich unter dem Einfluß der Vertriebenenverbände - plötzlich gegen eine Gewaltverzichtserklärung plädierte. Brentano sah sich und die Regierung der Gefahr der Unglaubwürdigkeit ausgesetzt. Er halte es für „unerträglich", schrieb er an Adenauer, „daß die Durchführung von politischen Maßnahmen, die wir für richtig halten, von der Zustimmung mehr oder minder 154 Vgl. ebenda, NL 90/464, Bl. 83-87. 155 Schreiben von Brentanos an E. Blumenfeld, 20. 7. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/5, Bl. 17.

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radikaler Verbandsfunktionäre abhängig gemacht wird. Das Argument, daß wir damit Stimmen verlieren, halte ich darüber hinaus für völlig abwegig." 156 Da sich v. Brentano offensichtlich nicht durchzusetzen vermochte, blieb eine interessante westdeutsche Initiative aus. Zwar signalisierte der Westen noch einmal Kompromißbereitschaft und eine Möglichkeit, Berlinund Deutschlandproblem noch weiter zu entkoppeln, doch ging die Sowjetunion auch auf diesen Neuansatz nicht ein. Die Vertreter der Bundesrepublik steckten die Grenzen ihrer Flexibilität ebenfalls relativ eng ab. Es sei richtig, so formulierte v. Brentano in einem Brief an Adenauer, sie in der Berlinfrage dort zu ziehen, „wo eine Vereinbarung die Fortdauer der alliierten Rechte in Frage stellen würde". Beim deutschen Problem sei die Grenze erreicht, wenn „eine Vereinbarung auch nur diskutiert würde, ein gesamtdeutsches Gespräch' zu eröffnen oder irgendeine Institution oder ein Organ zu schaffen, das einerseits die Anerkennung und Gleichberechtigung der DDR involvieren, auf der anderen Seite aber gleichzeitig die Viermächte-Verantwortung für die Lösung der deutschen Frage beschränken oder gar beseitigen würde." 157 Diese Frage beantwortete die DDR-Delegation freilich anders. Sie verfocht nach wie vor die Auffassung, daß ein gesamtdeutsches paritätisches Organ geschaffen werden müsse. Die Westmächte, so telegraphierte Winzer nach einem Gespräch mit Gromyko am 12. Juli 1959 nach Berlin, seien der Bildung eines Gesamtdeutschen Komitees nicht abgeneigt, stimmten hier stehe Bonn dahinter - aber dem Paritätsprinzip nicht zu. Auch käme man nicht überein, wer über die Wiedervereinigung verhandeln sollte. Gromyko gab der SED zu erkennen, daß ein gesamtdeutsches Organ an der Paritätsfrage nicht scheitern dürfe, eine Übereinkunft darüber sei „aufjeden Fall für die DDR günstig." Er empfahl der SED, sich in der Westberlinfrage auf die Garantie der Nichteinmischung zu beschränken und diese nicht auf den „gesamten provisorischen Status auszudehnen." Genau das hatte das Politbüro in der Absicht, die Souveränität der DDR zu unterstreichen und „Garantiemacht" zu werden, beabsichtigt. Gromyko unterstrich damit die alleinige Verantwortung der Vier Mächte in den Statusfragen, verweigerte der DDR einen Bürgschaftsanspruch. Er erklärte aber, daß seine Regierung den westlichen Vorschlag, die Sowjetunion könnte in ihrem Auftrag und in ihrer Verantwortung deutsches Personal zur Kontrolle des Westberlinverkehrs einsetzen, ablehnen werde. Das würde bedeuten, meinte der kühle Rechner diskret, „den Abschluß eines Friedensvertrages mit der DDR für den Westen zu entschärfen." 158 Kurz vor dem Ende der Konferenz erhielt Bolz vom Politbüro angesichts seiner bevorstehenden (letzten) Rede in Genf via DDR-Regierung noch eine klare Regieanweisung: Er habe „unsere Vorschläge über den Abschluß eines Friedensvertrages und die Bildung einer Freien entmilitarisierten Stadt [zu] behandeln [...] Dabei soll er mehr über den gesamtdeutschen Ausschuß und weniger über die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands sprechen." 159 War das der Genfer „Schwanengesang" der SED? Als die Viermächtekonferenz am 5. August mit einem nichtssagenden Schlußkommunique 1 6 0 abschloß, war keines der brennenden Probleme gelöst. Die SED begann mit der Auswertungskampagne. Aber auch die Bundesregierung resümierte.

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Schreiben von Brentanos an Adenauer, 23. 7. 1959, in: ebenda, N L 239/157, Bl. 237f. Schreiben von Brentanos an Adenauer, 1. 8. 1959, in: ebenda, N L 239/157, Bl. 240. Telegramm Winzers (aus Genf) an die DDR-Regierung, 12. 7. 1959, Anlage zum Protokoll 34/59, Sitzung des Politbüros vom 14. 7. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/658, Bl. 8-11. Beschluß des Politbüros, Protokoll 38/59, Sitzung vom 4. 8. 1959, in: ebenda, J IV 2/2/662, Bl. 3. Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 7878.

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Die bündigste Beurteilung der Genfer Konferenz lieferte Außenminister v. Brentano Anfang August 1959 in einem privaten Brief. „Wir werden damit rechnen müssen, daß die nächsten Wochen und Monate mit Besprechungen und Konferenzen bilateraler und multilateraler Art ausgefüllt sein werden. Ob es gelingen wird, die politischen und die psychologischen Voraussetzungen für solche Gespräche zu schaffen, ist zumindest zweifelhaft. Die bevorstehende Reise des sowjetrussischen Ministerpräsidenten nach den Vereinigten Staaten ist wohl unvermeidlich, aber auch nicht ganz ungefährlich. Sie ist es vor allem deswegen nicht, weil es der sowjetrussischen Politik ja gelungen ist, diese Begegnung ohne die geringste Konzession herbeizuführen. Ich kann mir kaum denken, daß diese Tatsache dazu beitragen wird, die westliche Verhandlungsposition in den bevorstehenden Unterhaltungen zu verbessern! Auf der anderen Seite aber glaube ich, daß die Genfer Verhandlungen doch nicht ganz nutzlos waren, sei es auch nur, weil sie dazu beigetragen haben, in den wesentlichen Fragen eine gemeinsame politische Linie zu finden und keine irreparablen Fehler zu begehen. Von der vielberufenen ,Genfer Atmosphäre' des Jahres 1955 war nichts zu spüren; und das ist sicherlich gut so."161 SED-Auswertungen trugen allgemein stark propagandistische Züge. Und das etwa nicht nur, wenn die Öffentlichkeit einbezogen, besser: erreicht werden sollte. Im Politbüro obsiegte der eigenagitatorischei Zug einer nüchternen Analyse immer häufiger. Man glättete die Probleme und beschönigte Negatives, redete sich als Erfolg ein, was eine realistische Betrachtungsweise eher als Desaster erkannt oder doch zu relativieren vermocht hätte. Eine exakte Bestandsaufnahme blieb auch im Fall der Genfer Konferenz aus. Der Beschluß des Politbüros am 18. August 1959 und die Propaganda gegenüber dem „Parteivolk" waren - typisch für eine bestimmte Art von „Analyse" des „Klassengegners" - ein in die Uniform konfrontativer Polemik gekleidetes Kampfprogramm gegen die Bundesregierung. Genf habe erkennen lassen, daß die Bonner Regierung der „Hauptstörenfried in den internationalen Beziehungen" sei. Adenauer, Franz Josef Strauß und Bundesinnenminister Gerhard Schröder machten eine Verständigung unmöglich; sie hätten sich vor aller Welt „als eines der Haupthindernisse gegen die internationale Entspannung [erwiesen]", zeigten mit ihrer Ablehnung des Friedensvertrags, des Nichtangriffspaktes zwischen den deutschen Staaten und mit ihrer Gegnerschaft zum Gesamtdeutschen Ausschuß, daß die westdeutsche Regierung „die Wiedervereinigung abgeschrieben" habe. Die allgemeine Schlußfolgerung: „Kein Schritt in Richtung Wiedervereinigung [sei] möglich, solange die westdeutsche Bevölkerung die Adenauer, Strauß und Schröder an der Spitze der Bonner Regierung duldet" 162 , war nicht nur leere Rhetorik. Es war ein Kampfprogramm mit einer konkreten personellen Ausrichtung. Eine neue politische Kampagne gegen die inneren Verhältnisse in der Bundesrepublik begann. Das Außenministerium der DDR erhielt im Ergebnis der Genfer Auswertung eine Reihe von Instruktionen. Es erarbeitete bis zum 2. Oktober 1959 ein Papier, in dem erneut die Frage eines paritätischen, von den Parlamenten beider deutscher Staaten beschickten Gesamtdeutschen Ausschuß aufgeworfen wurde. Nun standen Unterausschüsse zur Diskussion, die sich mit verschiedenen Sachgebieten, mit der Abrüstung in Deutschland, mit konfÖderativen Schritten u.a.m. beschäftigen sollten. 163 Am 10. August berichtete Bolz im Demokrati161

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Schreiben von Brentanos (aus Genf) an C. J. Burckhardt, 3. 8. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/7, Bl. 149f. Beschluß des Politbüros: „An alle Grundorganisationen der SED". Anlage 6 zu Protokoll 40/59,18. 8. 1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/664, Bl. 30. Vgl. Papier des MfAA (Grunert) für das ZK (P. Florin), 2. 10. 1959, in: ebenda, IV 2/20/64.

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sehen Block. Bezeichnenderweise hob er zum einen als Erfolg heraus, daß die sowjetische Delegation auf den in der zweiten Konferenzphase zahlreichen inoffiziellen Treffen „keinen einzigen Schritt unternommen [habe], ohne vorher unser Einverständnis einzuholen und ohne nach Beendigung dieser Zusammentreffen umgehend und eingehend zu informieren." Zum anderen war interessant, daß der Außenminister, der im wesentlichen Positionen der DDR und Konferenzabläufe schilderte, erklärte, es sei „nicht so sehr" darum gegangen, die DDR de facto oder de jure anzuerkennen: „Es geht vielmehr um die Feststellung der Tatsache, daß keine Behandlung der Deutschland betreffenden Fragen ohne unsere Republik möglich ist." 164 Die mit erkennbarem Stolz vorgetragene Einschätzung der förmlichen Gleichberechtigung der ostdeutschen und sowjetischen Delegation mag zutreffen. Doch bestimmte die UdSSR die politische Linie. Die zweite Behauptung müßte man, um der „Genfer Wahrheit" näherzukommen, in sich umkehren: Es zeigte sich im Gegensatz zum Urteil von Bolz, daß die internationale Politik in der deutschen Frage noch an der DDR vorbeikam, diese aber im weitesten Sinne aufgewertet wurde. Auf dem Weg nach und in Genf hing die DDR am Schleppseil der Sowjetunion. Aber auch die Bundesrepublik gestand den USA in Genf aus rationalen Gründen zu, „in einem gewissen Sinne die Führungsrolle an sich zu ziehen", sei es auch nur, um „gewisse Spannungen und Meinungsverschiedenheiten im westlichen Lager zu überbrücken." 165 Doch im Unterschied zur DDR kam die Bundesrepublik nicht nur als der demokratisch legitimierte deutsche Staat mit weitgehender politischer Handlungsfreiheit nach Genf, sondern sie brachte auch wirtschaftliche Stärke und internationale Anerkennung mit. Sie brauchte ihre Führungsmacht, stand aber nicht wie die DDR unter ihrem Kuratel. Um so mehr erstaunt, daß Bonn so wenig risikofreudig, so wenig initiativ und mit so wenig Vertrauen in die eigene Kraft an das Deutschlandproblem heranging. Über allem stand der zum Dogma erstarrte Leitsatz, eine Aufwertung und Anerkennung der DDR zu verhindern. Genf stellte dieses Postulat tatsächlich in Frage. Insofern konnte das Politbüro zu Recht von einem Erfolg seiner Politik sprechen. Er war aber weniger international als innenpolitisch wirksam. Endlich konnte man der eigenen Bevölkerung auf einer Weltbühne vorführen, daß die SED als ein politischer Faktor wahrgenommen und die DDR die „richtige Politik" auch in der nationalen Frage verfocht. Indes übersah das Politbüro gravierende Probleme. Auch der Osten hatte seine Konferenzziele nicht erreicht. Wichtiger war, daß die starre Haltung der Sowjetunion in der Bundesrepublik bei vielen Oppositionellen zu einem Umdenken führte. Zum Beispiel bei der SPD. Ihr Deutschlandplan - so sehr er in seinem kooperativen Geist der konfrontativen Zeit voraus war - erwies sich gerade in und durch Genf als anachronistisch. Freilich würde eine Beurteilung der Konferenzergebnisse für den Osten insgesamt anders ausfallen, wenn sich herausstellen sollte, daß die UdSSR die Genfer Konferenz gar nicht wollte, diese mehr als einen nicht zu vermeidenden Umweg zur Gipfelkonferenz oder lediglich als ihre bloße Expositionsphase betrachtete. Eine Bestätigung dieser Vermutung änderte jedoch nichts an der Einschätzung des Genfer Treffens für die DDR. Mehr noch die internen Festlegungen und Diskussionen im Vorfeld und während der Viermächtekonferenz als ihre Verhandlungsrhetorik geben Aufschluß darüber, daß sie die Einheit mit Härte ablehnte. 154

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Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 10. 8. 1959, in: ebenda, NL 90/506, Bl. 255. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 1. 8. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/157, Bl. 241.

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8. Ein Genfer Nach- und Vorspiel: Camp David, Paris und die Wünsche der SED Ein positives Ergebnis der Außenministerkonferenz in Genf war die Einladung Chruschtschows durch Präsident Eisenhower in die USA. Mit dem Besuch blieb - wenngleich unausgesprochen - die Vorbereitung eines Gipfeltreffens der Vier Regierungschefs verbunden, das nach einer Außenministerkonferenz ins Auge gefaßt worden war. Das größte Interesse an einer „höchsten Ebene" hatte die Sowjetunion. Chruschtschow hegte wohl die Hoffnung, er könnte sich mit dem persönlich geschätzten amerikanischen PräsidentenGeneral, dem Waffengefährten aus den Tagen des Zweiten Weltkriegs, in der Berlin- und Deutschlandfrage irgendwie arrangieren. Der Erste Sekretär der KPdSU hatte im Juni 1959 während der Genfer Außenministerkonferenz durch markige Sprüche zumindest atmosphärisch zu ihrem Scheitern beigetragen. Nun setzte er auf ein bilaterales Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten und auf die geplante Gipfelkonferenz. Das Treffen fand im September 1959 im amerikanischen Camp David statt und verlief atmosphärisch immerhin so positiv, daß von einem guten „Geist vom Camp David" die Rede war. Ein konkretes Ergebnis zeigte sich in der Erklärung beider Staatsmänner, über das Berlinproblem ohne Druck weiterverhandeln zu wollen und in einer prinzipiellen - nun verbindlichen - Vereinbarung einer Gipfelkonferenz. Nachdem Frankreich und Großbritannien dieser Ende Oktober zugestimmt und am 19. und 21. Dezember unter Einbeziehung Adenauers ein gemeinsames Programm beraten hatten, einigten sich die Regierungschefs der vier Teilnehmerstaaten nach einigen taktischen Meinungsverschiedenheiten -, die Gipfelkonferenz für den 16. Mai 1960 nach Paris einzuberufen. Bundeskanzler Adenauer stand dem Projekt schon zu Beginn skeptisch gegenüber. Er befürchtete, daß vor allem die USA und England ihre bereits in Genf gezeigte Kompromißbereitschaft in der Berlinfrage noch vergrößern und einer Interimslösung zustimmen könnten, die der Aufgabe der bisherigen gemeinsamen Prinzipien gleichkäme. Mit Eisenhower, den er für eine redliche, aber nicht sonderlich starke Persönlichkeit hielt, kam es sogar, als der Chef des Weißen Hauses eine Veränderung der Rechtsgrundlage Berlins zu überlegen gab, zu einem Konflikt. 166 Adenauer bezweifelte auch die amerikanische Kalkulierbarkeit bei der Frage einer Anerkennung der DDR. 167 Hinzu trat sein besonderes Mißtrauen England, besonders Macmillan gegenüber, der als entschiedener Anhänger einer Gipfelkonferenz galt. Zusätzlich verärgerte der englische Plan einer verdünnten Zone von Streitkräften in Mitteleuropa und Londons Weigerung, der Bundesrepublik eine Mitsprache über Mittelstreckenraketen zuzubilligen, den Kanzler. Zwar versuchte Macmillan seinerseits - offensichtlich durch einen Besuch des australischen Premiers Robert G. Menzies in Bonn 168 - den deutlichen Gegensatz auszugleichen, doch hegte der Bundeskanzler über den aktuellen Stand der gemeinsamen westlichen Haltung so großen Zweifel, daß er sich für eine Verschiebung des Gipfels aussprach.169 166

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Vgl. H.-P. Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann, S. 556. Vgl. ebenda, S. 555. Vgl. Schreiben A H. van Scherpenbergs an v. Brentano, 19. 6. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/179, Bl. 87f. Bericht (v. Braun) an van Scharpenberg, 16. 6. 1959, in: ebenda, Bl. 90.

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Außerdem ließ er anklingen, England „habe in der Frage der Nichtanerkennung der DDR eine nicht sehr feste Haltung." 170 Die Kontroverse blieb in der UdSSR nicht verborgen. Der Konflikt veranlaßte den Versuch, die Bundesrepublik und England gegeneinander auszuspielen. Chruschtschow erklärte Mitte Januar 1959 dem jugoslawischen Botschafter in Moskau, sein Land sei „solidarisch mit Staatsmännern kapitalistischer Länder - z. B. Macmillan" in verschiedenen Fragen der internationalen Politik.171 Im Vorfeld des Gipfels verstärkte sich die auf die Instrumentalisierung von innerwestlichen Widersprüchen abzielende sowjetische Taktik. Ulbricht erfuhr aus Moskau, ein geplanter Besuch Chruschtschows bei dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle im Frühjahr 1960 werde u.a. dazu beitragen, „die Bindungen Frankreichs an die anderen NATO-Mitglieder, insbesondere die Bundesrepublik, zu lockern." 172 . Aber auch gegenüber Bonn setzte Chruschtschow darauf, die Widersprüche zwischen den Positionen der westlichen Politiker und in den westlichen Staaten zu verschärfen. Sein Brief an Adenauer vom 23. Januar 1960 unterstrich zwar die unveränderten deutschlandpolitischen Positionen der UdSSR, signalisierte aber auch Verständigungsbereitschaft. 173 Sein eigentliches Ziel aber war, die deutsche Sozialdemokratie in einen stärkeren deutschlandpolitischen Gegensatz zur Bundesregierung zu bringen. Als Ulbricht Anfang 1960 die Führung der SPD kritisieren wollte, korrigierte Chruschtschow: Das sei „aus taktischen Erwägungen nicht angebracht [...]. Wir werden noch wiederholt versuchen müssen, die SPD-Führung in diesen oder jenen Fragen gegen den Militarismus und Revanchismus in Westdeutschland auszunutzen." 174 Allerdings sprang er nicht über seinen Schatten. Eine Botschafter Smirnow für ein Gespräch mit Erich Ollenhauer zugeleitete Vorlage ging nach wie vor von der Maximalvorstellung einer von den Vier Mächten garantierten Freien Stadt Westberlin und von einem separaten Friedensvertrag mit der DDR aus, wenn dieser Plan scheiterte. 175 Dennoch zeigte sich bei Chruschtschow im Vorfeld des Pariser Gipfels insgesamt eine flexiblere „weichere" Haltung gegenüber dem Westen. Die Ankündigung von einseitigen sowjetischen Truppenreduzierungen (1,2 Mio Mann) spiegelte die Absicht wider, wie er Ulbricht am 8. Januar 1960 anvertraute, „einen gewissen Druck auf die Westmächte auszuüben" und sie „zu konkreten Schritten auf dem Wege zur Abrüstung und zur Liquidierung des ,kalten Krieges' zu zwingen" - man wolle aber die „Initiative beim Gipfeltreffen im übrigen nicht aus den Händen" geben. Doch bot die Truppenverringerung einen Ansatzpunkt für entspannende Maßnahmen. Dafür war bei der Sowjetunion eine starke Siegeszuversicht prägend: „Die Sowjetunion und das ganze sozialistische Lager verfugen gegenwärtig über eine mächtige und schnell wachsende Wirtschaft, die in der Lage ist, die Wirtschaft der kapitalistischen Welt in den nächsten Jahren zu überflügeln." 176 Chruschtschows Zuversicht teilte im wesentlichen auch das SED-Politbüro. Ulbricht erklärte Ende Januar 1960 - zweifellos noch unter dem Eindruck von dessen optimistischen 170 171

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Ebenda, Bl. 93. Bericht über ein Gespräch Chruschtschows mit dem jugoslawischen Botschafter in Moskau Moissew, 13. 1. 1960, in: SAPMO-BArch, J IV 2/202/304, Bd. 2, S. 9. Information der U d S S R an die DDR-Führung (Ulbricht), 2.11.1959, in: ebenda, J I V 2/202/327, S. 4. Vgl. Schreiben Chruschtschows an Adenauer (deutsche Übersetzung), 23. I. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/102. Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 16. 1. 1960, in: ebenda. „Entwurf einer mündlichen Erklärung A. Smirnows an Ollenhauer", undat., in: ebenda, J I V 2/202/89, S. 2-4. Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 8. 1. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/272, Bd. 1, S. 2f.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

Prognosen - im Demokratischen Block: „Im übrigen ist es sicher, daß wir auf der Gipfelkonferenz mit dem Friedensvertrag durchkommen werden, daß man einen Ausschuß für die Ausarbeitung des Friedensvertrages einsetzen wird. Anders geht die Sache gar nicht. Die Engländer und die Amerikaner werden zustimmen. Was de Gaulle macht, das weiß ich nicht. Jedenfalls werden die Fragen des Friedensvertrages im Mittelpunkt stehen, und es wird wahrscheinlich sein, daß den Deutschen empfohlen wird, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln und einen gesamtdeutschen Ausschuß zu bilden [...]. Das ist das, was unbedingt herauskommen wird. Weiter wird eine gewisse Verständigung in der Frage Westberlin herauskommen." 177 Dem hohen Erwartungshorizont der SED entsprachen ihre Vorbereitungen auf die Gipfelkonferenz. Das Politbüro überlegte, ob die große Kampagne nicht durch eine gegen Bonn gerichtete Propagandaaktion eröffnet werden könnte. „Wir fordern", so telegrafierte Ulbricht am 13. Januar 1960 an Chruschtschow, „daß die westdeutsche Bevölkerung das Recht bekommt, in freier Volksabstimmung sich gegen Atomrüstung, für sofortigen Rüstungsstop und für Abrüstung zu entscheiden." 178 Da eine Aktion ausblieb, kann auf eine sowjetische Ablehnung dieses in der Tat wirklichkeitsfremden Vorschlags geschlossen werden. Auch die SED zeigte Interesse an einer Verbesserung des politischen Klimas in Europa. Das Politbüro hatte vom Inhalt der Gespräche zwischen Chruschtschow und Eisenhower durch eine sowjetische Information erfahren. 179 Ihr konnte es entnehmen, daß Chruschtschow es als „Prestigeverlust" fiir die UdSSR hingestellt hatte, wenn diese einen Friedensvertrag mit der DDR unterzeichnete, der Westen aber gleichzeitig seine Rechte in Berlin aufrecht erhielte. Das hielt die Hoffnungen des Politbüros wach. Das höchste Gremium der SED verfolgte konsequent den von der UdSSR flankierten Anerkennungskurs. Das zog den ausdrücklichen Wunsch der SED nach einer Teilnahme beider deutscher Staaten am Gipfel die Adenauer ablehnte - nach sich. Im Sinne eines Alleinvertretungsanspruchs beschloß das Politbüro am 15. Dezember 1959, „allein die nationalen Interessen des deutschen Volkes [zu] vertreten"180, wenn Adenauer nicht teilnehmen wolle. Nach einer Konsultation von Ulbricht und Grotewohl mit Chruschtschow am 4. Februar 1960 in Moskau legte es fest, per Regierungserklärung (vom 10. Februar) zu initiieren, „daß beide deutsche Regierungen den Wunsch aussprechen", eine gemeinsame Friedensvertragsdelegation zum Gipfel zu entsenden. 181 Diese plakative Aktion wurde von zahllosen politischen und propagandistischen Maßnahmen begleitet, die in einem „Plan für die Vorbereitung der Gipfelkonferenz" festgehalten wurden. Das „deutsche Volk", so hieß es einleitend, sei vor allem an Abrüstung, einem Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten und einer Regelung der Westberlin-Frage interessiert. In der „Kampagne zur Vorbereitung der Gipfelkonferenz" sollte propagiert werden, daß die DDR „das nationale Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes" vertrete. 182 Es folgten eine Fülle von Maßnahmen auf politisch-diplomatischer, auf parlamentarischer, kultureller und informeller Ebene. An erster Stelle stand die Aufgabe, mit der UdSSR „Konsultationen über die Problematik und Taktik hinsichtlich der Gipfelkonferenz und über

177

Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 26.1.1960, in: ebenda, ZPA, IV 2/15/24, S. 14. 178 Telegramm Ulbrichts an Chruschtschow, 13. 1. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/102. 179 Information der UdSSR an das Politbüro (Ulbricht), 13. 10. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/330, Bd. 1. iso Beschluß des Politbüros, Protokoll 55/59, 15. 12. 1959, in: ebenda, J IV 2/2/680, Bl. 1. 181 Beschluß des Politbüros, Protokoll 6/60, 8. 2. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/687, Bl. 2f. 182 „Plan für die Vorbereitung der Gipfelkonferenz", 13. 1. 1960, in: ebenda, NL 90/465, Bl. 1.

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die Frage der deutschen Beteiligung" durchzuführen. 1 8 3 Die ganze Kampagne, die vor allem Aktionen umfaßte, die auf Politiker und Parlamente „kapitalistischer" Staaten zielten, war propagandistisch-ideologisch angelegt. Einen Monat vor dem Beginn der Pariser Konferenz brachte Max Reimann im Politbüro der SED ein Papier zur Verstärkung der ideologischen Kampagne 184 ein. Die zur Direktive erhobenen Vorschläge gingen einerseits von einer „selbständigen Stellungnahme" friedlicher und demokratischer Kräfte aus, wie es in bekannter Diktion hieß. Dabei müsse man „veranlassen", daß sie sich in Westdeutschland und Westberlin miteinander in Verbindung setzten, sich „um eine Gruppe bekannter Persönlichkeiten aus den verschiedensten Lagern" sammelten und dann um „eine Unterredung mit der DDR-Regierung" nachsuchten. Zum anderen stand das Bemühen im Vordergrund, Westberlin öffentlich nicht nur als „Störenfried" gegenüber der DDR, sondern als das „Anomale" an sich darzustellen, als Bedrohung des Friedens und als „Hauptposten in der Blitzkriegsstrategie des Bonner Generalstabes." So geriet die Weststadt zu einem „strategischen Vorposten, von dem man den Krieg auslösen will und darum funktionell verbunden [ist] mit der Nachschub- und Vorratslinie, die im faschistischen Franco-Spanien liegt." In der im Papier vorgegebenen „Hauptnachweislinie" der SED-Führung zeigten sich Impertinenz und Unglaubwürdigkeit in einem: Westberlin werde von Bonn in die gleiche Rolle versetzt, die Hitler Danzig, der CSR, Österreich und Polen zugedacht hatte. Diese Analogie müsse bewiesen werden, und die „gleichen Methoden Hitlers und Adenauers" seien herauszustellen 185 , unterstrich das Politbüro. Aufwendig und kostenintensiv betrieben, brach die Kampagne ab, als Chruschtschow, den Abschuß eines amerikanischen Spionageflugzeugs (U2-Affäre) vom 1. Mai 1960 zum Anlaß nahm, um den Pariser Gipfel „platzen" zu lassen. Am 17. Mai 1960, nach vergeblichen Rettungsversuchen de Gaulies, endete in Paris der „Gipfel", ehe er begonnen hatte. Das konnte nicht im Interesse der SED liegen, die sich in den Fragen der Berlinregelung und des Friedensvertrags ein Nachgeben des Westens erhofft hatte. Indes beeilte sie sich, der eigenen Bevölkerung zu erklären, daß natürlich der Westen an allem schuld sei. Über die tatsächlichen Vorgänge in Paris war Ulbricht durch Gesprächsprotokolle informiert worden. 186 So wußte er, daß die USA - im Gegensatz zu den offiziellen sowjetischen Darstellungen - die Spionageflüge einstellen wollten, und er kannte auch das differenzierte Urteil de Gaulles. 187 Sah Ulbricht im Scheitern des Gipfels, der von ihm offensichtlich befürwortet worden war, eine neue Chance? Adenauer hatte dem Gipfel unter der Bedingung zugestimmt, daß seine Teilnahme bei den westlichen Vorgesprächen nicht auf Fragen beschränkt werde, die Deutschland betrafen. Die Bundesregierung vertrat offensichtlich aus Gründen der westlichen Unsicherheiten in der Deutschlandpolitik die Auffassung, der Gipfel sollte sich primär mit Abrüstungsproblemen und erst danach mit „politischen Fragen" beschäftigen. 188 Diese zu einem Gutteil den 183

Ebenda, Bl. 2. Vorlage für das Politbüro (vom Politbüro der KPD, M. Reimann): „Verstärkung der Kampagne für die Schaffung einer freien, entmilitarisierten Stadt Westberlin". Arbeitsprotokoll 15/60, 5. 4. 1960, in: ebenda, 2/2A/747, S. 1-3. 185 Anlage 2 zum Protokoll 15/60, Sitzung des Politbüros vom 5.4.1960, in: ebenda, JIV 2/2/696, Bl. 8-11. 186 Vgl Wortprotokoll der Besprechung zwischen Chruschtschow/de Gaulle/Macmillan/und Eisenhower (Übersetzung), 16. 5. 1960, Paris, in: ebenda, J IV 2/202/332, S. 41 ff. 187 Vgl Wortprotokoll der Unterredung zwischen Chruschtschow und de Gaulle (Übersetzung), 15. 5. 1960, Paris, in: ebenda, S. 8. 's« Vgl. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 30. 10. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/157, Bl. 289f. 184

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Verbündeten aufgenötigte Konzeption nahm, insofern sie jetzt eine umfassende Entspannung zum Ziel erhob, konstruktive Züge an. Dennoch betrachtete die Bundesregierung den Pariser Gipfel mit Skepsis. Er sehe „nicht ohne Sorge nach Paris", gestand v. Brentano dem ehemaligen Völkerbundkommissar für Danzig, Carl Jakob Burckhardt, am 13. Mai 1960: „Seit den Diskussionen in Genf sind wir der Lösung des Berlin-Problems nicht näher gekommen, und die jüngsten Reden Chruschtschows, selbst wenn man taktische Motive in Abzug bringt, eröffnen nur geringe Aussichten auf Erfolg. Vor dem Hintergrund Ihrer Danziger Erfahrungen treten die Gefahren einer Kompromißlösung deutlich hervor, Gefahren, die angesichts der zielstrebigen Machtpolitik der Sowjetunion und der sonderbaren Mischung von satter Selbstzufriedenheit und echter Friedenssehnsucht in der westlichen Welt ungleich größer sind."189 Diese Gefahr ging vorüber. In Bonn herrschte Erleichterung: „Wir haben nochmals fies Jlück jehabt!", merkte Adenauer gegenüber seinem Pressesprecher190 kölnisch-launig an. Nach dem Scheitern des Pariser Gipfels besuchte Chruschtschow auf seiner Rückreise die DDR (19.-21. Mai 1960). Diese Visite bei der SED-Führung war zunächst nicht geplant. Im Gegenteil: Der sowjetische Politiker hatte die Bitte des Politbüros, nach der Konferenz hier Zwischenstation zu machen, im März 1960 abgelehnt, und Ulbricht beschloß daraufhin, Chruschtschow im April „einen privaten Besuch" abzustatten, um Fragen der „Politik gegenüber Westberlin und der westdeutschen Bundesrepublik zu behandeln und über einige Fragen der Entwicklung in der DDR zu informieren." 191 Nun war in Paris eine andere Lage eingetreten. Zwar deutete Chruschtschow in seiner Rede in Ostberlin am 20. Mai an, daß die Gipfelkonferenz nur vertagt, nicht aber endgültig von der Tagesordnung genommen sei. Moskau würde, finde es mit den gegenwärtigen Führern der USA keine gemeinsame Sprache, den „nächsten Präsidenten abwarten".192 Doch brachte er auch wieder eine separate deutsche Lösung ins Spiel. Man werde, „wenn wir dies für nötig halten", gegebenenfalls einen „Friedensvertrag mit der DDR" abschließen, die Entwürfe seien - so ließ Chruschtschow durchblicken - schon fertig. Noch in Paris merkte er an, daß die UdSSR mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit der DDR eigentlich nur das nachvollzöge, „was die USA taten, als der Friedensvertrag mit Japan geschlossen wurde." 193 Die neuen Ankündigungen Chruschtschows konnten im Politbüro nur die Hoffnung erwecken, daß die Verheißung der Sowjetunion, die DDR würde über kurz oder lang ihren (separaten) Friedensvertrag bekommen, schnell Wirklichkeit werde. Der bis dahin auch in der Geschichte der DDR beispiellose Aufwand, mit dem der sowjetische Partei- und Regierungschef in Ostberlin empfangen und - streng nach Regie, aber nicht unfreiwillig - umjubelt wurde, unterstreicht, daß die SED wichtigste politische Entscheidungen in diesem Sinne erwartete. Bereits am 19. Mai konferierten Chruschtschow und Ulbricht - zeitweilig unter Hinzuziehung von Führungsmitgliedern der SED und der Blockparteien - aktuelle Probleme. Die obligatorische Feststellung von „völliger Übereinstimmung" der ostdeutschen und sowjetischen Positionen194 zeigte eine harmonische Fassade, die offenbar unterschiedliche Interessen und Auffassungen verbarg. Die bekannten Reden und Äußerungen Chruschtschows 189 190 191

192 193 194

Schreiben v. Brentanos an C. J. Burckhardt, 13. 5. 1960, in: ebenda, NL 239/7, Bl. 146. F. von Eckhardt, Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Frankfurt/M. u.a. 1971, S. 419. Beschluß des Politbüros, Protokoll 12/60, Sitzung vom 22. 3. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/693, Bl. 3. Neues Deutschland, 21.5.1960. Archiv der Gegenwart, XXX. Jg. 1960, S. 8406. Vgl. Neues Deutschland, 20. 5. 1960.

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bislang sind Zeugnisse der internen Unterredung zwischen Ulbricht und Chruschtschow in den Quellen nicht aufgetaucht - lassen darauf schließen, daß dieser „offenbar die Entwicklung nicht forcieren, sondern reifen lassen, das Ergebnis der amerikanischen Präsidentenwahlen abwarten, den Ost-Westkonflikt global im Auge behalten und seine Schachzüge in der Deutschlandpolitik vorsichtiger fuhren [wollte], als es den Wünschen des ungeduldigen SEDRegimes, das seine Existenz in einem Friedensvertrag endlich gesichert sehen wollte, entsprach." 195 Auch Hope M. Harrison belegt in ihrem auf neuen sowjetischen Archivalien basierenden Aufsatz, daß Ulbricht drängte und in der Berlinfrage und beim Friedensvertrag in den Jahren 1958 bis 1962 zu den „Hardlinern" gezählt werden muß. 1 9 6 Demgegenüber schien Chruschtschows Linie klar: Er spielte auf Zeit. Mit seinem Auftreten in Paris und den neuen Andeutungen hielt er eine gewisse Spannung im Westen wach, glaubte ihn in einen unausweichlichen Handlungszwang bringen und ihn aus der politischen Reserve locken zu können. Der Erste Sekretär der KPdSU schlug die Tür nicht zu; er erweckte jedoch bewußt den Eindruck, dies jederzeit zu können, und wartete Reaktionen ab. Wenn er sich nicht wieder - wie im Herbst 1958 - auf ein Ultimatum festlegte, dann sicherlich nicht nur, weil sich diese Form der Konfrontation als relativ wirkungslos erwiesen hatte und nicht beliebig wiederholt werden konnte. Er scheute ein neues Risiko, schien an einer Eskalation der Spannung nicht interessiert. Aber nicht nur deshalb verzichtete Chruschtschow auf eine Terminfestlegung für seine Forderungen. Da er sich in keiner Weise auf einen Erfüllungszeitpunkt festlegte, wirkte er auch dem Drängen der SED-Führung entgegen. Auf Grund von Charakter und Mentalität des sowjetischen Ministerpräsidenten und der Spezifika des (offenen) Verhältnisses beider Politiker zueinander ist es sehr wahrscheinlich, daß Ulbricht ein mehr unbestimmtes als klares „Njet" zum Separatvertrag zu hören bekam und von Chruschtschow auf das sowjetische Desinteresse an einer Eskalation des Problems hingewiesen wurde. Ulbricht mußte zwar dieser „Zickzack-Linie" folgen, ließ aber in einer in Ostberlin in Gegenwart des Gastes vorgetragenen Liste der zu beseitigenden „Überreste des zweiten Weltkrieges" erkennen, daß er einerseits konfrontative Formen der Auseinandersetzung bevorzugte. Andererseits dominierten Forderungen, die in der Sache auf Veränderungen im Berlinverkehr und auf separate sowjetisch-ostdeutsche Regelungen hinausliefen. Seine Wünsche zur inneren Umgestaltung der Bundesrepublik und seine Beschreibung der Bundesrepublik als eines imperialistischen Staates, „die Revanchehetze, die Zulassung der Rassenhetze und der militärischen und faschistischen Propaganda, der Einfluß der ehemaligen aktiven Nazis und militaristischen Kräfte, der Blutrichter, der Hitler-Offiziere usw. im westdeutschen Staatsapparat", gerieten zu plakativen Anklagen. Sie eröffneten eine neue Serie von ideologischen Kampagnen gegen die Bundesrepublik. Ulbricht verwies auf die von ihm als unhaltbar qualifizierten Verhältnisse in Westberlin. So seien als „Überreste des zweiten Weltkrieges" zu beseitigen: „die widerrechtlich aufrechterhaltenen Separatkommandanturen, die Sonderrechte der Westmächte [...], die Stationierung ausländischer Truppen in Westberlin, die Vorrechte für den Verkehr von Truppen und Gütern zwischen Westberlin und Westdeutschland; die Benutzung der Verbindungswege der DDR durch die Westmächte ohne Vereinba195 196

Hartl/Marx, a.a.O., S. 467f. Vgl. H. M. Harrison, Ulbricht, Krushchev, and the Berlin Wall, 1958-1961: New Archivai Evidence from Moscow and Berlin, in: G. Schmidt (Hg.),Ost-West-Beziehungen: Konfrontation und Détente 1945-1989, Bochum 1993, Bd. 2, S. 333-348.

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rung mit der Regierung der DDR; der unkontrollierte Luftverkehr zwischen Westberlin und Westdeutschland durch Fluggesellschaften der drei Westmächte, die unzulässige Fortführung ehemaliger Viermächteorgane, wie das Travel-Board-Büro des Kontrollrates und des Alliierten Abrechnungsbüros des Post- und Fernmeldewesens durch die drei Westmächte; die Militärmissionen der drei Westmächte in Potsdam". 197 Die SED stellte den alliierten Status der Westsektoren öffentlich in Frage. Auch Chruschtschow applaudierte der Rede Ulbrichts in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle in dem Bewußtsein, in jedem Fall das letzte Wort zu sprechen. Im Prinzipiellen bestand kein Dissenz. Warum sollte Ulbricht Bonn und dem Westen nicht Risikobereitschaft und Entschlossenheit demonstrieren, warum nicht Maximalforderungen stellen? Chruschtschow ließ der SED eine propagandistisch „lange Leine". Im übrigen kann nicht bezweifelt werden, daß die KPdSU einen schrittweisen (kontrollierten) Souveränitätsgewinn für die DDR in und um Berlin unterstützte, und Chruschtschow - schon um den Vorstellungen der SED aus taktischen Gründen entgegenzukommen - bereit war, Schritte der DDR, die westliche Interessen nicht substantiell verletzten, abzusegnen und machtpolitisch durchsetzen zu helfen. In diesem Sinne konnten das Politbüro und verschiedene ZK-Organe diskutieren und intern planen, was immer sie wollten. Eine Reihe Westberlin und die Bundesrepublik betreffende politische Maßnahmen der SED trug genaugenommen defensiv-propagandistischen Charakter. Man appellierte an die Westmächte, an die UNO, an die Neutralen u.a.m., die Ausdehnung der bundesdeutschen Hoheit auf Westberlin nicht zu dulden, ermahnte und beschwor. 1960 zielten außenpolitische Aktionen der DDR vor allem gegen die Gültigkeit von Abkommen, die Bonn mit Drittstaaten geschlossen hatte, gegen die Übertragung westdeutscher Gesetze auf Westberlin, gegen die Errichtung Bonner Dienststellen, Gerichte, Parteibüros und parlamentarischer Vertretungen in der Stadt. Das betraf auch das Postwesen und die Einbeziehung Westberlins in Handelsverträge der Bundesrepublik, vor allem in das Interzonenabkommen. Aber hier blieb es - verständlicherweise beim Protest. Was den innerdeutschen Handel betreffe, sei es gegenwärtig „unzweckmäßig, ins Einzelne gehende Veränderungen" zu prüfen, befand die ZK-Abteilung Internationale Verbindungen. 198 Aktiv betrieb Ostberlin zunächst nur eine begrenzte Politik der Umgehung verschiedener Barrieren. Die SED versuchte, direkte (offizielle) Kontakte zu Westberliner Verwaltungen herzustellen und „Kurs zu nehmen auf die Umwandlung der bestehenden Militärmissionen befreundeter Staaten in Westberlin in Konsulate bzw. auf die Errichtung konsularischer Vertretungen sozialistischer Staaten in Westberlin." Die Verbündeten wurden ermahnt, mit Westberlin besondere Wirtschaftsvereinbarungen einzugehen. 199 Aber auch hier blieb vieles Papier. Eine Information für das Büro Ulbricht vom August 1960 reflektierte die sowjetische Generallinie. Es seien Maßnahmen zu ergreifen, „um die Abhängigkeit Westberlins von der Bundesrepublik zu lockern und unseren Einfluß in Westberlin zu stärken." Die sowjetische Empfehlung, unmittelbare Kontakte mit Organisationen, Behörden und Unternehmen Westberlins aufzunehmen, bildete weiterhin ein wichtiges Element ostdeutscher Beschlüsse. So überlegte die sowjetische Führung auch, wie ihre Botschaft in der DDR Kontakte zu den „füh-

197 Hartl/Marx, a.a.O., S. 466f. 198 ZK-Abteilung Internationale Verbindungen: „Maßnahmen gegen die Einbeziehung Westberlins in die Bundesrepublik" (Panzerschranksache) undat., offensichtlich Sommer 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/20/67. 199 Vgl. ebenda.

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renden Persönlichkeiten Westberlins" aufnehmen könnte, und sie sondierte die Möglichkeit für die Einrichtung eines sowjetischen Konsulats. 200 Im weiteren fußten die Überlegungen der ZK-Abteilung Internationale Verbindungen auf einer im September 1960 eingegangenen Nachricht der KPdSU an Ulbricht, daß die UdSSR alle sozialistischen Staaten einschließlich Chinas, Nordkoreas, der Mongolischen Volksrepublik und Albaniens ersucht habe, „eine einheitliche Linie der sozialistischen Staaten hinsichtlich der Nichtausdehnung der Geltung von Handels- und Wirtschaftsabkommen" mit der Bundesrepublik und Westberlin zu vereinbaren. Es sei wünschenswert, „daß alle sozialistischen Staaten im Falle des Abschlusses von Handels- und Zahlungsabkommen [...] die Versuche der westdeutschen Seite, solche Abkommen auch auf Westberlin auszudehnen, zurückweisen." 201 Einige „prinzipielle" Weichen wurden zu stellen versucht. Doch wo zog Moskau die Grenzen für die ostdeutschen Wünsche in der Berlin- und Deutschlandfrage praktisch?

9. Die Zuspitzung der Krise in der DDR und temporäre östliche Entspannungsinitiativen Im zweiten Halbjahr 1960 trat die Systemkrise in der DDR für das Politbüro der SED deutlicher zutage. Ein Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow vom 19. Oktober 1960 schilderte die umfassenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR noch einmal in aller Klarheit: Rohstoffe und industrielles Material fehlten überall. Die Textilindustrie könne nicht einmal das Niveau halten, der Fahrzeugbau stagniere, weil die Reifenproduktion stocke. Aus „politischen Gründen" müßten die Stadtzentren aufgebaut werden, was nicht ginge, weil Betonstahl fehle. Einige Baubetriebe seien sogar zeitweise stillgelegt worden. Die Errichtung eines Blechwalzwerkes und einer Konti-Drahtstraße scheiterten an der Weigerung der UdSSR und der CSR, dafür Ausrüstungen zu liefern. Die DDR produziere zwar derartige Investitionsgüter, könne aber „infolge des hohen Exports von Walzwerkerzeugnissen in die Sowjetunion" nicht für den eigenen Bedarf liefern. Demgegenüber erhöhe sich die Abhängigkeit vom Westen ständig. So lieferte dieser 92 Prozent der nahtlosen Rohre. „Allein von den Rohrlieferungen aus Westdeutschland", so klagte Ulbricht, „sind zum Beispiel das gesamte Energieprogramm und wichtige Teile des Chemieprogramms abhängig." Seine DDR sei zwar der erste sozialistische Staat in Deutschland, es fehlten ihr aber die Rohstoffgrundlage und die schwerindustrielle Basis. „Das Ruhrgebiet und Oberschlesien", so fügte Ulbricht hinzu, „stehen uns nicht zur Verfügung". Eine Ursache der Fehlentwicklung sah Ulbricht in der Republikflucht, eine andere in dem Umstand, daß die „Eingliederung der DDR in den Perspektivplan der Sowjetunion" nur teilweise erfolgt sei. Einen weiteren Grund für die Misere drückte er sehr volkstümlich aus: „Wir drehen buchstäblich jede Valutamark, die wir für Importe ausgeben müssen, mehrmals um. Wir stellen zurück und disponieren um. Aber das hat natürlich auch eine Grenze. Wenn die Decke nicht ausreicht, dann kann man abschneiden, was und an welcher Ecke man will, dann kann man auch hier und da einen Flicken ansetzen, aber insgesamt bleibt die Decke zu knapp und keine Schere und Nadel macht sie passender. Um den Importbedarf einzuschränken, haben wir die geplanten Investi20° Information der UdSSR (Nr. 065/2) für Ulbricht, 17. 8. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/128. Information der UdSSR (KPdSU) für Ulbricht, 19. 9. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/110, Bd. 1.

201

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tionen bereits erheblich herabgesetzt." Ulbricht versicherte Chruschtschow, die SED habe alle inneren Möglichkeiten überprüft und ausgeschöpft. Seine Bitte um neue Rohstofflieferungen, Kredite und Erleichterungen endete moralisierend: „Wir hätten nicht das moralische Recht, solche Briefe zu schreiben, wenn wir nicht alles bei uns getan haben." 202 Der Brief beleuchtete nicht nur die ökonomische Situation im Oktober 1960 schlaglichtartig. Er wies auch auf die Vergrößerung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der UdSSR zu einem Zeitpunkt hin, als der Bedarf der SED an politischem Freiraum in der Berlin- und Deutschlandfrage rapide wuchs. Souveränitätsbedarf und Potenzen der DDR entwickelten sich in dieser Situation umgekehrt proportional. Dabei kam der inneren Entwicklung, die vor allem für die einsetzende akute Krise des Realsozialismus in der DDR auf das Problem „Stabilität" reduziert werden kann, ein wichtiger Stellenwert zu. Die Tendenz zu allgemeinen „Gleichgewichtsstörungen" in der Gesellschaft der DDR, besonders denen zwischen verschiedenen Gruppen der Beherrschten und Herrschenden nahm zu; oppositionelle Äußerungen, u.a. bedingt durch die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft 203 und ihre ersten Folgen, gewannen an Umfang. Auch in der Struktur von - freilich begrenzter - Opposition ergaben sich Veränderungen, die vor allem in einem Aufleben von Streiks in der Industrie sichtbar waren.204 Die Staatsorgane schlugen zurück, der repressive Charakter der Machtausübung verschärfte sich im Herbst 1960 deutlich. Die sich verschlechternden inneren Bedingungen in der DDR begrenzten die Handlungsspielräume der SED nach außen weiter. Dazu gehörten auch die Mißerfolge der DDR an den „Anerkennungsfronten", vor allem in den neutralen Staaten Europas und in der „Dritten Welt". Die zunehmende Aggressivität der SED in der Berlin- und Deutschlandfrage ist auch auf die Tatsache zurückzufuhren, daß trotz aller politischen und wirtschaftlichen Bemühungen der DDR, die aufwendig waren und viel kosteten, und des Umwerbens der Jungen Nationalstaaten", in der Anerkennungsfrage kaum Fortschritte gemacht wurden. Die wichtigste Ursache dafür bildeten der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und eine vielschichtig betriebene „Hallstein"-Politik. Während die DDR um minimale internationale Ziele rang und an der Spree eine Art von „Entscheidungsschlacht" um ihre internationale Aufwertung führte, verlegte ihr Bonn die Wege zu Nil, Ganges und Amazonas mit z. T. größtem Erfolg. Nach dem Scheitern des Pariser Gipfels setzte eine neue aggressive Propagandawelle der SED ein, die u. a. durch die Kündigung des Interzonenhandelsvertrages eskalierte. Die neuen „Kampagnen gegen Bonn" sollten von der Entwicklung in der DDR ablenken - insofern blieben sie auch nach 1960 vorrangig innenpolitisch motiviert. Sie stellten aber auch insofern einen ideologisch strukturierten Lösungsansatz für die deutsche Frage dar, als sie versuchten, der SED - durch die nationale und internationale Diffamierung der Bundesrepublik - Legitimation und Positionsvorteile in der innerdeutschen Systemauseinandersetzung zu verschaffen und neue Bündnispartner in der Bundesrepublik zu gewinnen. Dieses Verfahren schien um so mehr geboten, als die bislang in Opposition zur Deutschland-, Sicherheitsund Bündnispolitik der Bundesregierung stehende SPD am 30. Juni 1960 ihren Verweigerungskurs definitiv aufgab und sich zu den Ergebnissen der seit 1949 von Adenauer betriebenen Außenpolitik bekannte. Nach verschiedenen Annäherungsversuchen lebte im Politbüro 202

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 19. 10. 1960, in: ebenda, JIV 2/202/29, Bd. 3., S. 3-8. Vgl. A. Mitter/S. Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 305-327. 2 4 « Vgl. ebenda, S. 329.

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der „Feindkurs" gegenüber den Sozialdemokraten wieder auf. 205 Das hatte auch seine „internationalistischen" Konsequenzen. Ulbricht begründete gegenüber Chruschtschow, warum es nun notwendig sei, „die offene Auseinandersetzung mit den rechten sozialdemokratischen Führern" zu führen. 206 Demgegenüber drängte die Anerkennungspolitik der SED das Politbüro, nach immer neuen Bündnispartnern im Westen und nach neuen Formen zu suchen, sich im Zusammenhang von Berlinfrage, Friedensvertrag und europäischer Entspannung ins rechte Licht zu setzen. Was hieß 1960 für Ulbricht Entspannung und Abrüstung? Anfang September 1960 lag dem Politbüro ein von ihm in Auftrag gegebener Entwurf eines DDR-Regierungsmemorandums an die XV. UNO-Vollversammlung vor.207 Die Denkschrift, in der eine allgemeine und vollständige Abrüstung beider deutscher Staaten gefordert wurde, unterbreitete man der UNO am 8. September. Sie offerierte eine Abrüstung beider deutscher Staaten in drei Etappen. In der ersten Phase sollte ein gegenseitiger und Drittstaaten betreffender Gewaltverzicht, ein Rüstungsstop sowie ein Verzicht auf die Produktion bzw. die Beteiligung an der Herstellung von ABC-Waffen, an ihrer Stationierung und ihrem Erwerb vereinbart werden. Die zweite Phase sah eine Reduzierung von Streitkräften und Rüstungen vor, die dritte ihre gänzliche Auflösung bzw. Einstellung. In dieser letzten Phase (1963-1969) sollten beide deutsche Staaten aus ihren Militärblöcken austreten. Der Plan war gekoppelt mit einer Kontrolle durch ausschließlich deutsche Organe und mit der Konföderation und dem Friedensvertrag. Wenngleich das Abrüstungsmemorandum - implizierte es doch innerdeutsche Verhandlungen auf Regierungsebene und den Konföderationsgedanken - eine Aufwertung der DDR und einen propagandistischen Erfolg beabsichtigte, spiegelten sich in ihm die Überzeugung der SED wider, daß eine Abrüstung, die naturgemäß nicht den Interessen der UdSSR und den „Errungenschaften" des Sozialismus zuwiderlaufen durfte, zur Erhaltung des Friedens unbedingt notwendig sei. Der Leitsatz, daß der endgültige Sieg des Sozialismus nur im Frieden möglich sei, gehörte zu einer Ideologie, in der die Idee von der friedlichen Koexistenz inzwischen eine zentrale Stellung einnahm und die die SED als „Form des Klassenkampfes" weitgehend verinnerlicht hatte. Entspannung nach dem Konzept der SED hatte friedliche Rahmenbedingungen für die optimale Entwicklung des Sozialismus zu schaffen. So war Ulbrichts Empörung keineswegs gespielt, als die chinesische Delegation auf der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien Ende Juni 1960 in Moskau faktisch vorschlug, Entspannung nur pro forma zu betreiben. „Ich sage es ganz offen, das sind Formulierungen und Vorschläge, die bei uns in der Partei so um 1920 üblich waren, wo man auch den Gegnern gesagt hat: Jetzt führen wir eine Politik durch, mit der wir euch selbstverständlich nur entlarven wollen", rief Ulbricht in den Saal. Er wandte sich gegen die chinesische Linie, „daß wir in jeder Situation und bei jeder Beratung alle Fragen bis zu Ende beantworten. Da hört die Politik auf. Wir sind doch nicht Lehrer in einer Parteischule, sondern unsere Aufgabe ist es, die Volksmassen gegen Imperialismus und Militarismus zu fuhren und sogar einen Teil der Bourgeoisie von dem aggressiven Imperialismus abzuspalten." Zusammenfassend meinte er, man könne in der Partei nicht sagen: „Öffentlich sind wir für die Abrüstung, praktisch wird aber nichts getan. So kann man weder die Partei noch die 205 206 207

Vgl. M. Lemke, a.a.O., S. 375-377. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 8. 7. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/89, S. 3. Vgl. Entwurf, 2. 9. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/, Bd. 1, S. 4-7.

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Massen mobilisieren. Wir können doch keine Politik der doppelten Buchführung machen. Wir werden ja merken, wie weit wir mit der Abrüstung kommen. Das wird sich zeigen, aber wir werden vorwärtskommen." 208 Ulbricht war für eine Abrüstung, wenngleich er sie stark unter instrumentalem Aspekt, sehr „bündnispolitisch" sah. Chruschtschow betrachtete sie zweifellos noch stärker zweckgebunden und versuchte vor allem, ökonomische Notwendigkeiten zu abrüstungspolitischen Tugenden umzumünzen. Die 1960 angekündigten Truppenreduzierungen begründete er Ulbricht gegenüber wie folgt: „Es ist doch völlig offenkundig, daß ein moderner großer Krieg in der ersten Linie durch die Überlegenheit in den neuesten Waffenarten und durch die hohen moralisch-kämpferischen Eigenschaften unserer Armeen entschieden wird. Wenn ein Staat, der Atom- und Wasserstoffwaffen besitzt, nach wie vor eine zahlenmäßig große Armee unterhalten will, so wird das kolossale Mittel aus dem Nationalbudget verschlingen, damit nur unser Wirtschaftspotential schwächen und seine Möglichkeit im friedlichen Wettbewerb der beiden Systeme schmälern. Das sind die Überlegungen, die uns veranlaßt haben, den Beschluß über eine erneute wesentliche Verringerung der zahlenmäßigen Stärke der sowjetischen Streitkräfte zu fassen." 209 Haben sich gewisse, vielleicht auch mental bedingte, Nuancen in den Auffassungen zur Frage von Abrüstung und Entspannung zwischen DDR und Leitmacht ergeben? In der Praxis jedenfalls artikulierten sie sich nicht. Viel mehr bleibt zu berücksichtigen, daß der unlösbare Zusammenhang von Berlinfrage und Entspannung sowohl im Osten als auch im Westen erkannt wurde. Der Nexus erhielt aber in der Politik der DDR 1960/61 keinen genügend hohen Stellenwert. Im Westen gab es wenige Politiker, die das Thema Berlin ausreizen wollten. Der Westteil der Stadt erschien hier ohnehin als der „Stachel im Fleisch" der DDR. Wenngleich die Bundesregierung den Vorschlag des Ostens, Westberlin in eine Freie Stadt umzuwandeln, sie, - wie man in Bonn vermutete -, praktisch vom Westen zu isolieren und „wirtschaftlich auszuhungern" 210 , nach wie vor ablehnte, setzte sie auf eine Konfliktvermeidung. Der Außenminister wandte sich besonders gegen Aktionen von Vertriebenen in der West-Stadt, weil sie der UdSSR auch einen Vorwand geben könnten, das Berlinproblem wieder aufzugreifen. 211 Er meinte auch, daß eine neue Handelsvereinbarung mit der UdSSR für diese lukrativ genug sein könnte, um sich auf Berlinkompromisse einzulassen. 212 Auch wenn diese Spekulation grundfalsch war, versuchten die in Bonn politisch Verantwortlichen das Problem aus innerdeutschen Gründen kleinzuhalten. Allgemeine bilaterale Querelen gab es genug; schärfere Reaktionen der DDR auf die Bonner Hallsteinpolitik befürchteten nicht nur Politiker, sondern auch Handelskreise 213 . Der propagandistische Schlagabtausch Anfang 1960, antisemitische Hakenkreuzschmierereien in westdeutschen Städten und der SED-Vorwurf des Bonner Antisemitismus 214 - auch Chruschtschow schaltete sich zugun208

209 210

211 212 213 214

„Rede des Genossen Walter Ulbricht im Namen der Delegation der SED bei der Beratung", Moskau, 26. 6. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/272, Bd. 1, S. 8. Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 8. 1. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/333, Bd. 1. Schreiben v. Brentanos an O. A. Friedrich (Vorsitzender des Vorstandes der Phönix Gummiwerke AG), 9. 11. 1959, in: BA Koblenz, NL 239/14, Bl. 25. Schreiben v. Brentanos an Unbekannt, 3. 6. 1960, in: ebenda, NL 239/158, Bl. 86f. Vgl. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 21. 12. 1960, in: ebenda, NL 239/158, Bl. 151. Vgl. Schreiben Nordens an Florin, 1. 6. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/2028/39. Vgl. Manuskript der Rede Grotewohls im VEB Stahlgießerei Elstertal Silbitz, 8. 1. 1960, in: ebenda, NL 90/261, Bl. 30.

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sten der Kommunisten in dieses ideologische Duell ein 215 - erzeugten dann bald neue Spannungen. Offensichtlich handelte es sich bei dieser politisch-ideologischen Offensive um eine im Warschauer Pakt abgesprochene und koordinierte Aktion. Im Juli 1960 schaltete sich auch die polnische Führung in die gegen die Bundesrepublik gerichtete Zermürbungskampagne ein. 216

10. Der Dissens zwischen der Sowjetunion und der DDR über Berlin im zweiten Halbjahr 1960 Ein für die Pariser Gipfelkonferenz bestimmter sowjetischer Entwurf eines Interimabkommens über Westberlin hatte Bekanntes in 4 Punkte gefaßt: eine westliche Truppenreduzierung und ein Verzicht auf die Stationierung von Kern- und Raketenwaffen in Westberlin, ein Verbot propagandistischer und anderer „feindlicher", gegen die Sicherheit und Ordnung anderer Staaten gerichteter Tätigkeiten von dessen Territorium aus, eine Erklärung der UdSSR, daß die Verbindungen Westberlins mit der Außenwelt „in der bisherigen Form" aufrechterhalten werden. 217 Dem Dokument lag der Entwurf einer Note der UdSSR an die Regierungen der drei Westmächte mit folgender Kernaussage an: Die Sowjetunion habe eine Deklaration der DDR über deren Achtung und Unterstützung des Interimabkommens erhalten. Die Regierung der DDR nehme zur Kenntnis, daß die Vier Signatarstaaten Maßnahmen treffen würden, „um die Ausnutzung des Territoriums von Westberlin für Aktionen, die zur Verletzung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten führen könnten, sowie für feindliche Propaganda gegen sie nicht zuzulassen." Demgegenüber erkläre die Regierung der DDR, daß sie gegen Westberlin gerichtete Aktionen vom Territorium der DDR und Ostberlins nicht dulden werde. 218 Der Vorgang weist einerseits auf die politische Unmündigkeit der DDR-Führung hin. Die UdSSR hatte das Politbüro nicht vorher befragt, sondern lediglich informiert. Eine Interimsregelung, die nach dem Scheitern des Pariser Gipfels ausgeschlossen zu sein schien, bot der SED zwar Verbesserungen, aber keine sie befriedigende Lösungen. Das Problem der Republikflucht wäre nicht geklärt, die Frage einer Erweiterung der Rechte der DDR in und um Berlin erneut zurückgestellt worden. Die Verhärtung der Standpunkte - nach einer Phase erkennbarer Kompromißbereitschaft und die Wiederaufnahme des sowjetischen Konfrontationskurses in der Folge des Pariser Eklats schuf nun eine Lage, die den Interessen der SED stärker entgegenkam. Die in den Sommermonaten des Jahres 1960 von Chruschtschow wiederholte Ankündigung, er werde mit der DDR einen separaten Friedensvertrag abschließen und ihr die sowjetischen Rechte in

215

216 217

218

Vgl. Schreiben Chruschtschows an Adenauer, 30. 1. 1960 (Übersetzung), in: ebenda, J IV 2/202/76, S. 12. Vgl. Neues Deutschland, 7. 7. 1960. Entwurf eines Interimabkommens über Westberlin, 11.5. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/465, Bl. 8f. Ebenda, Bl. 10.

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Berlin restlos übertragen, nahm die SED umso ernster, als der sowjetische Regierungschef nun auch die militärischen Konsequenzen dieses Verfahrens stärker ins Kalkül zu ziehen schien. In einer Botschaft an Macmillan unterstrich Chruschtschow am 3. August seine Absicht, mit der DDR einen Friedensvertrag abzuschließen, wenn der sowjetische Wunsch nach einer Gesamtregelung bei den Westmächten kein Verständnis finde. „Es wäre unvernünftig, gegen diese unsere Friedensaktion mit Krieg zu drohen. Sie wissen, daß es gefährlich ist, uns mit Krieg zu drohen", erfuhr der englische Premier.219 Die sowjetische Führung wollte es auf einen militärischen Konflikt um Berlin aber nicht ankommen lassen. Inwiefern diese Position im Westen, aber auch bei der SED, im Sommer 1960 bekannt war, bleibt fraglich. Umgekehrt wußten auch Chruschtschow und Ulbricht nicht, ob überhaupt und unter welchen Umständen der Westen einen Krieg um Westberlin führen würde. Die Drohung der Sowjetunion mit einem Separatvertrag - das freilich wußte Chruschtschow - konnte den Westen nur zur „Kapitulation" oder zu entschlossenem Handeln drängen. In jedem Fall war ein Vorgehen zu wählen, das einerseits sowjetische Kampfentschlossenheit und ostdeutschen „Friedenskampf demonstrierte, aber nicht unkalkulierbare Gefahren heraufbeschwor. Eine Unterminierung der westlichen Position und des Viermächte-Status von Berlin konnte deshalb nur schrittweise in Form einer „Salami-Taktik"220 erfolgen. Das prägte die sowjetische Überlegung, welche Funktion die DDR in diesem Prozeß übernehmen sollte, und es veranlaßte die SED zu der Frage, inwiefern sie die Entwicklung für ihren spezifischen Anerkennungsprozeß selbst ausnutzen konnte. Eine Übereinkunft zwischen dem sowjetischen und ostdeutschen Vorgehen schien sich im Spätsommer 1960 in der Taktik zu finden, der DDR schrittweise eine De-Facto-Übernahme alliierter Rechte zu ermöglichen. Vollendete Tatsachen schaffen - das war die Devise der östlichen Verbündeten. Am 29. August nahm das Innenministerium der DDR den „Tag der Heimat" westdeutscher Vertriebenenverbände zum Anlaß, Bundesbürgern für die Zeit vom 31. August bis zum 4. September 1960 ein Betreten Ostberlins zu verweigern, wenn sie sich nicht im Besitz einer entsprechenden schriftlichen Genehmigung befänden. Westmächte und Bundesregierung protestierten. Noch handelte es sich offensichtlich um einen „Test". Einige Tage später schlug Ulbricht der Sowjetunion die Einführung einer allgemeinen unbegrenzten Visumspflicht für Westdeutsche, die den Ostteil Berlins besuchen wollten, vor. Über die Konsequenzen war sich Ulbricht klar: „Wir möchten uns jedoch in dieser Frage zunächst mit dem Präsidium des ZK der KPdSU konsultieren", schrieb er am 6. September 1960, „da wir damit rechnen müssen, daß die Bonner Bundesregierung wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen in Form der Einschränkung des Handels gegen die Deutsche Demokratische Republik, aber vielleicht auch gegen die Sowjetunion durchführen wird." Sollte man die Maßnahmen weiterführen gab Ulbricht zu bedenken - dann sei es notwendig, „genau vorher die wirtschaftlichen Folgen zu überprüfen und zu vereinbaren, durch welche Maßnahmen die DDR wirtschaftlich unabhängiger von Westdeutschland gemacht werden kann." 221 Ulbricht kalkulierte also westdeutsche wirtschaftliche Gegenmaßnahmen ein. Sie schienen ihm als Preis für die Durchsetzung seiner Ziele in Berlin keineswegs zu hoch. Mit der Frage 219 220 221

Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 8565. Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 477. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 6. 9. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/184, Bd. 1.

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der Kosten verband sich auch die Überlegung, ob nicht ein Teil davon - die Politik der „Störfreimachung" nahm hier seinen Ausgang - die UdSSR übernehmen könnte. Wollte er sowohl die politische Souveränität als auch die ökonomische Unabhängigkeit steigern? Beabsichtigte er gar, eine Entscheidungssituation für Moskau herbeizufuhren? Am 13. September folgte der nächste Schlag: Die SED führte eine Visumpflicht für Westberliner ein, die das Territorium der DDR als Transitweg benutzten. Westdeutsche Pässe von Westberlinern wurden als Personaldokument nicht anerkannt. Die erwartete Kündigung des Interzonenhandelsvertrags blieb nicht aus. Ulbricht drängte den bislang zustimmenden Chruschtschow zu neuen repressiven Maßnahmen. Er versuchte, die UdSSR jetzt mit Aktionen, die von ihr weder genehmigt noch mit ihr abgesprochen waren, in Zugzwang zu setzen. Einigen der in Bonn akkreditierten Diplomaten, u. a. dem Apostolischen Nuntius Erzbischof Corrado Bafile, wurde das Betreten Ostberlins verweigert. Als dem amerikanischen Botschafter in der Bundesrepublik Walter C. Dowling - obwohl er gleichzeitig Chef der amerikanischen Militärmission in Berlin war - am 22. September von Volkspolizisten am Brandenburger Tor die Weiterfahrt in den Ostsektor mit der Begründung verboten wurde, er habe keine Erlaubnis der DDR-Regierung zum Betreten ihrer Hauptstadt, reagierte die UdSSR befremdet. Am 23. September berichtete der stellvertretende Außenminister der DDR, Johannes König, dem Staatsratsvorsitzenden (seit dem 12. September 1960) der DDR Ulbricht über einen Besuch des sowjetischen Botschaftsrates Seljaninow im DDR-Außenministerium: „Seljaninow wollte wissen, ob es seitens unseres Ministeriums oder anderer Stellen der DDR eine Anweisung zur Kontrolle westlicher, in Bonn akkreditierter Diplomaten gäbe. Aus seinen Ausführungen war zu entnehmen, daß er erstaunt war, daß eine solche Kontrolle gegenüber westlichen Diplomaten durchgeführt wird." Der sowjetische Diplomat erbat sich Erklärungen der DDR und Informationen, ob die SED „neue Maßnahmen" in der Frage der Kontrolle von Diplomaten plane. Er ließ seine Besorgnis erkennen, „daß sich eventuelle Maßnahmen der Behörden der DDR gegen die Botschafter bzw. Diplomaten westlicher Botschaften auch gegen die sowjetische Botschaft bei ihren Besuchen Westberlins richten könnten. Er ließ deutlich durchblicken, daß über Maßnahmen dieser Art die sowjetische Botschaft im voraus informiert werden möchte." 222 Einige Tage darauf wurde Seljaninow erneut vorstellig: „Er teilte mit, daß die Botschaft der UdSSR vor kurzem eine neue Direktive ihrer Regierung erhalten habe, die eine verstärkte Aktivität in bezug auf Westberlin vorsehe, u. a. in bezug auf Handel, Kultur usw. Das würde auch eine verstärkte Tätigkeit der Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft mit sich bringen [...]. Er bat dann darum, daß, wenn neue Maßnahmen zur Kontrolle der Einreise westlicher Diplomaten in das demokratische Berlin ergriffen würden, man die Aufgaben, die sich für die sowjetische Botschaft aus der neuen Direktive ergeben würden, berücksichtigen sollte. Nach seiner Meinung sollten sich sowohl neue Maßnahmen unsererseits als auch die Aufgaben, die sich für die sowjetische Botschaft aus den neuen Direktiven ergeben, nicht miteinander kreuzen." 223 Die Verstimmung der sowjetischen Diplomatie ergab sich zum einen aus der Eigenmächtigkeit der SED. Die UdSSR zeigte zum anderen, daß sie sich zum Viermächtestatus Entscheidungen vorbehielt und die DDR hier faktisch keine Kompetenzen besaß. Freilich wollte sie sich auch nicht von der SED in internationale Schwierigkeiten bringen lassen. 222

223

Bericht des stellvertretenden Außenministers König an Ulbricht, 23. 9. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/128. Bericht Königs an Ulbricht, 27. 9. 1960, in: ebenda. Vgl. auch H. M. Harrison, a.a.O., S. 340f.

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Im übrigen schimmerte die Besorgnis besonders der sowjetischen Botschaft in Ostberlin durch, ihre spezielle Kompetenz im Umgang mit den Diplomaten der drei Westmächte von der SED beeinträchtigen zu lassen. Ulbricht sah sich genötigt, Chruschtschow am 18. Oktober über den Vorgang am Brandenburger Tor Bericht zu erstatten und sich gleichzeitig - sichtlich verärgert über Seljaninow - zu verteidigen. Wenn Seljaninow auf die Gleichbehandlung der westlichen und sowjetischen Diplomaten in Berlin aufmerksam gemacht habe, irre er. Mit der UdSSR habe die DDR einen Freundschaftsvertrag; sie unterhalte gleichzeitig diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik und zum Westen. „Aber die USA fordern unkontrollierte Einreise in die Hauptstadt der DDR, um zu demonstrieren, daß sie die DDR nicht anerkennen. Genosse Seljaninow hat diesen grundsätzlichen Unterschied nicht beachtet. Die CD-Schilder sind für uns kein Ausweis, da man sie im Laden in Westberlin ohne weiteres kaufen kann. Wir haben schon vor längerer Zeit die staatlichen Organe der DDR angewiesen, Kontrollen von CD-Wagen durchzuführen, da viel mehr CD-Wagen von Westdeutschland nach Westberlin fahren, als es dort Mitarbeiter von Botschaften gibt." Ulbricht führte weiter aus, er sei nicht der Meinung, „daß durch unsere Kontrolle die Arbeit der sowjetischen Organe in Westberlin erschwert wird." Er wandte sich gegen die Praxis derjenigen Staaten, die die DDR nicht anerkennen wollten aber verlangten, daß ihre Vertreter - „ohne sich auszuweisen" - einfach in die Hauptstadt der DDR fahren könnten. 224 In dieser für Ulbricht erstaunlich harten „Gegendarstellung" trat die in Verfahrensfragen von der sowjetischen Auffassung deutlich abweichende ostdeutsche Position zutage. Ulbricht ließ Chruschtschow wissen, das Politbüro habe zwar bereits Beschlüsse über die Ausweispflicht von westlichen Diplomaten und über die Prüfung der Einreise von Ausländern nach Ostberlin gefaßt. Die Regierung erlasse aber erst entsprechende Verordnungen, „wenn ein neuer Anlaß dazu vorliegt und vorher die Zustimmung der sowjetischen Freunde eingeholt ist."225 Mit dieser Aussage unterstrich Ulbricht sein Konzept einer forcierten Politik gegen das Viermächtestatut und den Willen der SED, eine - wenn notwendig - konfrontative Politik weiterzuverfolgen; er fand sich aber gleichzeitig zu einer prinzipiellen Anerkennung des sowjetischen Primats in der Berlinfrage bereit. Auch Norden wiegelte in der internationalen Öffentlichkeit, u. a. auf einer Kundgebung in Wien am 18. Oktober 1960, ab. 226 Dennoch war Ulbricht alles in allem zu weit „vorgeprescht". Er bewertete nicht nur die sowjetische politische Interessenlage falsch und nahm Moskauer Versprechungen und Ankündigungen zu sehr für bare Münze; er übersah auch, daß die UdSSR in hohem Maße Wert auf ein neues Handelsabkommen mit der Bundesrepublik legte, in dem die Berlinfrage eine Rolle spielte.227 Das alles führte wieder zu einem vorsichtigerem Agieren der UdSSR. Chruschtschow verdeutlichte Ulbricht auf der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien im November 1960 realpolitische Notwendigkeiten. Chruschtschow nahm zu den deutschen Wünschen Stellung. „Einige Erscheinungen, die die Souveränität der DDR verletzen", so zitiert ihn der Aktenvermerk, „[seien] auch nicht genügend in der Vergangenheit beachtet worden, Dinge die de facto vom Westen erobert wurden. Sie jetzt zu beseitigen, bedeutet eine Zuspitzung der Lage, was nicht erwünscht wäre. Die Sowjetunion habe erklärt, bis zum 224 225 226 227

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 18. 10. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/128. Ebenda. Vgl. Rede Nordens auf einer Kundgebung in Wien, 18. 10. 1960, in: ebenda, NL 217/48, Bl. 189f. Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 483f.

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entsprechenden Termin eines neuen Gipfeltreffens nichts am bestehenden Zustand zu ändern. Man dürfe hier keinen Wortbruch zulassen." 228 Das war eindeutig. Chruschtschow wies vor allem Ulbrichts Forderungen, die alliierte Deutschlandrechte berührten, eindeutig zurück. Hier stellt sich erneut die Frage, ob die UdSSR überhaupt beabsichtigte, einzelne ihrer Deutschland- und Berlinrechte an die DDR abzutreten. Vorbehaltsrechte bedeuteten Kontrollmöglichkeiten, weniger gegenüber der DDR. Viel wichtiger schien es Moskau, in Deutschland als (denkbares) Ganzes präsent zu sein und über den Mechanismus alliierter Rechte in der Lage zu bleiben, jederzeit in die Entwicklung „rechtmäßig" einzugreifen. Chruschtschow wies in der Unterredung auf die Möglichkeit eines „Übergangsvertrages" in Form einer Viermächteregelung hin. Diese - bemerkenswerterweise rein alliierte - Übereinkunft vor einem Friedensvertrag, „die innerhalb eines bestimmten Zeitraums Verhandlungen zwischen beiden deutschen Regierungen und Verständigung verlangt", wurde vom Ersten Sekretär der KPdSU offensichtlich als praktikabler Kompromiß betrachtet. Erst wenn sich beide Elemente, eine alliierte Übereinkunft und innerdeutsche Verhandlungen, nicht verwirklichen ließen - fuhr Chruschtschow in der Besprechung fort - „wäre die Sowjetunion frei, einen Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Wenn die Westmächte nicht darauf eingehen, wird man zuspitzen müssen und den Friedensvertrag abschließen. Die Westmächte werden nicht wegen des Friedensvertrages einen Krieg beginnen." 229 War sich Chruschtschow dessen sicher? Seine Planung schob in jedem Fall eine Entscheidung hinaus. Konnte er den drängenden, tatsächlich unter Zeitdruck agierenden Ulbricht zunächst abweisen, ohne daß er das prinzipielle Versprechen zurücknehmen mußte? Als sich beide Staatsmänner am 30. November 1960 in Moskau in der Berlinfrage auf einen Kompromiß festlegten, schienen sich ihre operativen Positionen weitgehend angenähert zu haben. Aber schon wenige Wochen später zeigte sich, daß sich weder Chruschtschow noch Ulbricht an ihre Verabredungen hielten. 230 Der Grundkonflikt blieb bestehen: Chruschtschow versprach der SED - ohne sich zeitlich festzulegen und in dem Bestreben, keine neuen Spannungen aufkommen zu lassen - die Übergabe von Hoheitsrechten. Ulbricht, der realistisch erkannte, daß der Westen in der Berlinfrage nicht so einfach nachgeben würde, legte sich zwar auf Zurückhaltung fest, drängte aber weiter. Er führte diese Politik des Drucks sowohl gegenüber Moskau als auch gegenüber dem Westen fort. Seine „Nadelstiche" in den „Körper" Westberlins hörten nicht auf. Als sich im Politbüro der SED wieder eine sichtbare Neigung herauszubilden schien, Einreisefragen dogmatisch zu handhaben, mahnte die UdSSR im Dezember 1960, es sei „zweckdienlich, aus Gründen, die bei der Zusammenkunft in Moskau ausführlich besprochen wurden, gegenwärtig eine Verschärfung zu vermeiden." 231 Das schien die SEDFührung zunächst so hinnehmen zu müssen. Sie verzichtete jedoch nicht darauf, ihre Wünsche immer wieder in Moskau nachdrücklich vorzutragen und Berlin- und friedensvertragliche Planungen intern voranzutreiben. 228

229

231

„Aktenvermerk über die Unterredung Walter Ulbrichts mit Genossen N. S. Chruschtschow", undat., in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/30, Bd. 4. Die Konferenz fand am 30. 11. 1960 in Moskau statt. Deutscherseits nahmen neben Ulbricht die Politbüromitglieder Matern und Rau, im weiteren Leuschner, Axen und Florin teil. Der von Chruschtschow geführten sowjetischen Delegation gehörten A. I. Mikojan, A. A. Gromyko, M. Perwuchin, 1.1. Iljitschow und I. F. R. Ryshkow an. Ebenda. Vgl. H. M. Harrison, a.a.O., S. 337. Papier für Ulbricht, 22. 12. 1960, wahrscheinlich vom Botschafter der DDR in Moskau, in: SAPMOBArch, ZPA, J IV 2/202/40, S. lf.

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11. SED-Berlinplanungen unter Zeitdruck und neue ostdeutsch-sowjetische Dissonanzen Die ersten Wochen des Jahres 1961 arbeitete die Führung der SED angestrengt ihre Konzeption weiter aus. Die Auffassung der UdSSR von der Nichtexistenz eines Viermächteabkommens über Westberlin und über die Perspektive einer Übergangsregelung boten ihr „die völkerrechtliche Bestätigung" des eigenen Standpunkts und die Grundlage für weiterfuhrende Überlegungen. 232 Die verantwortlichen ZK-Gremien diskutierten eine vom MfAA ausgearbeitete Plattform. In der Westberlinfrage standen zwei Varianten im Vordergrund. Im Teil A (Variante Freie Stadt) gingen die Planenden von der Möglichkeit aus, daß die Freie Stadt für eine „gewisse Dauer" währungspolitisch an die Bundesrepublik gebunden bleibt. Beide deutsche Staaten sollten „Sonderbeauftragte bei der Regierung der Freien Stadt" unterhalten. In der Frage der Verkehrsverbindungen empfahl das Papier - auch mit Rücksicht auf die Forderungen der Westmächte - flexiblere Lösungen. So wurde eine Beteiligung der Freien Stadt an der Verwaltung der Wasserstraßen und der Reichsbahnanlagen erwogen. Der Teil B (Variante Interimabkommen) artikulierte die bekannten (vier) Punkte der UdSSR, hielt aber ausdrücklich die Nichteinbeziehung Ostberlins in eine solche Regelung fest. Eine Viermächtekommission sollte die geplante „Einstellung der Wühltätigkeit" und Propaganda gegen die DDR kontrollieren. Unabhängig von beiden Varianten wurden im Papier die „Beseitigung der Überreste des 2. Weltkrieges in Westberlin" (Teil C) gefordert: Dazu gehöre die Auflösung der alliierten Kommandantur und noch bestehender Dreibzw. Viermächteorgane sowie die Sicherung und Gesamtkontrolle des freien Zugangs der Wege zwischen Westberlin und der Bundesrepublik. Die Westmächte sollten ihre Befugnisse auf Westberlin und die Bundesrepublik, die UdSSR ihre Rechte auf die DDR übertragen. Alle Transportleistungen, die von der DDR für die Westmächte erbracht würden, müßten bezahlt werden. Die östlichen Maßnahmen, so wurde resümiert, müßten so gestaltet werden, „daß der Gegner dadurch seinerseits zu Kompromißvorschlägen gedrängt wird" und er - nicht die DDR - gezwungen sei, an die Genfer Vorschläge anzuknüpfen. In der Frage des Friedensvertrags sollte an die Bezeichnung „Gesamtdeutscher Ausschuß" nicht mehr angeknüpft werden. 233 Der Begriff widersprach dem Souveränitätsanspruch der SED. Gleichzeitig entwickelte das MfAA Vorstellungen über einen möglichen Übergangsfriedensvertrag. Dazu gab es bei der Leitung des Ministeriums „hinsichtlich einzelner Vorschläge", wie Winzer am 10. Januar 1961 an Ulbricht schrieb, „Meinungsverschiedenheiten". Der Vorschlag für einen Übergangsfriedensvertrag, „der zunächst fixiert, was gegenwärtig Realität ist", liefe - so Winzer - „in seiner ursprünglichen Fassung auf eine Sanktionierung der Pariser Verträge und der aus ihnen folgenden Aufrüstung Westdeutschlands hinaus". Das sei zwar im wesentlichen behoben worden. Doch Elemente dieser Gefahr enthalte er noch immer. Der Gedanke eines Übergangsvertrages könnte aber geeignet sein, „die Diskussion um den Friedensvertrag 232

233

Stichwort-Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 4. 1. 1961: „Die gegenwärtige Lage und die Hauptaufgaben 1961", Anlage 3 zum Protokoll 1/61, in: ebenda, J IV 2/2/743, Bl. 8. Diskussionsplattform des MfAA für das ZK der SED: „Möglichkeiten des taktischen Vorgehens in der Frage Friedensvertrag und Westberlin", Januar 1961, in: ebenda, J IV 2/202/129, S. 6-18.

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insgesamt wieder in Gang zu bringen." 234 Der Entwurf eines Übergangsfriedensvertrags fixierte als „weitestgehenden Kompromiß" die Existenz zweier deutscher Staaten und der nach 1945 festgelegten Grenzen, sah die Aufhebung der Vorbehaltsrechte der Westmächte (nicht die der UdSSR!) und der alliierten Notstandshoheit in der Bundesrepublik vor. Im weiteren wurde ein Gewalt- und Kernwaffenverzicht beider deutscher Staaten und ihre Aufnahme in die UNO festgehalten. Von beiden Staaten eingegangene internationale Abkommen sollten, soweit sie mit Geist und Buchstaben des Vertrages vereinbar seien, weiter gelten. Bundesrepublik und DDR - hier wird der Dissenz im MfAA zu suchen sein - könnten ihren Bündnisorganisationen weiter angehören. 235 Die Planungen wiesen auf eine realistischere Problemsicht verschiedener SED-Politiker hin. Gleichzeitig wurde der aggressive Ton gegen den Westen, zumindest intern, gemildert. Hier wirkte sich dann doch die zeitweilige sowjetische Zurückhaltung aus. Die Planungen vom Januar 1961 zeigen deutlich, daß es der SED mit einer Regelung des Westberlin- und Deutschlandproblems (Friedensvertrag) nicht nur ernst war, sondern sie diese auch für realisierbar hielt. Daflir spricht auch ein Maßnahmeplan, der von einem separaten Friedensvertrag mit der DDR ausging. Das alternative Konzept setzte eine separate Friedenskonferenz noch im Dezember 1961 voraus. UdSSR, Volkspolen und CSR sollten als Initiatoren der Konferenz in Erscheinung treten, 29 Staaten der ehemaligen Antihitlerkoalition zu ihr eingeladen werden. Andere Staaten hätten laut Plan die Möglichkeit, sich dem Friedensvertrag anzuschließen. Eine Deklaration über Westberlin wurde als Teil des Friedensvertrags bezeichnet. Alle Fragen des Transports durch die DDR und des Überfliegens ihres Territoriums - so würde die UdSSR die Westmächte nach Abschluß des Friedensvertrages unterrichten - sei nun Sache der DDR, müßten mit ihr beraten werden. Vor Beginn der separaten Friedensverhandlungen - so plante die SED - sollte im November 1961 eine Außenministerkonferenz der sozialistischen Staaten stattfinden. 236 Im Politbüro waren die politisch-konzeptionellen Diskussionen der einzelnen Pläne und alternativen Vorstellungen offensichtlich bereits Mitte Januar 1961 abgeschlossen worden. Die innenpolitische Unruhe, die immens gestiegene Republikflucht vor allem, setzte die SED-Führung unter Druck. Für einen (vorläufigen) Abschluß der Diskussion spricht auch der Umstand, daß Ulbricht die ostdeutschen Vorschläge Chruschtschow am 19. Januar 1961 übermittelte. Er ging hier zweigleisig vor. Am 18. Januar 1961 traf, für die KPdSU unerwartet, Hermann Matern auf seinem Weg nach Peking in Moskau ein. Obwohl er versicherte, die Delegation der DDR wolle in China nur wirtschaftliche Fragen verhandeln, ging die sowjetische Führung davon aus, daß mit dem Chinabesuch der Versuch verbunden war, Druck auf die UdSSR auszuüben. 2 3 7 In seinem Brief betonte Ulbricht etwas vordergründig einige offiziell-propagandistische Maßnahmen der DDR. Hier standen die für die UNO-Tagung im März 1961 geplanten Abrüstungsvorschläge der DDR und die Idee eines zehnjährigen Friedens zwischen beiden deutschen Staaten im Vordergrund.

234 235 236

237

Schreiben Winzers an Ulbricht, 10. 1. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/129, S. 1. Ebenda, S. 2f. Vgl. „Maßnahmeplan zu organisatorischen Fragen im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Abschlusses eines Friedensvertrages mit der DDR und der Einberufung einer Friedenskonferenz", undat., offensichtlich Januar 1961, in: ebenda, J IV 2/202/129. Vgl. Harrison, a.a.O.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

Ulbricht favorisierte gegenüber der UdSSR zwar das Ziel einer Freien Stadt, hielt es aber aus „taktischen Gründen" - wie er Chruschtschow anvertraute - nicht für günstig, wenn die DDR vorschlüge, in dieser Frage an die Genfer Verhandlungen anzuknüpfen. In der Westberlinfrage orientierte er sich an den dargelegten Vorstellungen und ließ seine Bereitschaft zu einer Zwischenlösung „für die nächsten zwei Jahre" erkennen. Die DDR, schrieb er im gleichen Brief, halte es für möglich, daß es 1961 zu einem Kompromiß komme, der darauf hinausliefe, daß nur „einige Reste des Krieges" beseitigt werden würden. „Der Sinn eines Kompromisses besteht darin, den beiden deutschen Staaten 1 Vi-l Jahre Zeit zu geben für die Vorbereitung eines Friedensvertrages, über die Abrüstung und die Herbeiführung einer friedlichen Koexistenz als Vorbedingung fur eine spätere Wiedervereinigung." Dies klang moderat, hatte aber einen von Ulbricht kühl analysierten Hintergrund, wie im folgenden zu erkennen ist: „Die Möglichkeiten, im Jahre 1961 wenigstens einen Teil des Krieges in Westberlin und in Deutschland abzubauen, sind deshalb günstig, da die Adenauer-Regierung in der Zeit der Bundestags-Wahlkampagne nicht an einer Zuspitzung der Lage interessiert ist und Präsident Kennedy im ersten Jahr seiner Präsidentschaft ebenfalls keine Verschärfung der Lage wünscht." 238 Demgegenüber übte Ulbricht - nach Absprache im Politbüro deutlich Kritik an den übrigen Staaten des Warschauer Vertrags, die eine friedliche Lösung der deutschen und der Berlinfrage als eine Angelegenheit betrachteten, die nur die UdSSR und die DDR anginge. Deshalb schlug er Chruschtschow eine diese Probleme behandelnde Beratung des Politischen Konsultativrates der östlichen Paktorganisation vor. Im Brief unterstrich Ulbricht aber gleichzeitig seine unveränderten konkreten Forderungen: eine Beseitigung dés Besatzungsstatuts, der westlichen Kommandanturen, Militärmissionen und Rundfunkstationen, die Herabsetzung der ausländischen Truppenstärken in Westberlin sowie einen Abschluß von Verträgen des Westens mit der DDR über die Transitwege und Schaffung einer DDR-Flugleitzentrale.239 Wenngleich die Vorstellungen und Pläne der SED im einzelnen an bestimmten Bedingungen orientiert blieben und mehrere Möglichkeiten einbezogen, repräsentierten sie insgesamt illusionistisches Denken und eine weitgehende Unfähigkeit, sachlich zu analysieren. Die im wesentlichen unverändert dogmatische Haltung eines offensichtlich renitenten Ulbricht beunruhigte die sowjetische Führung sichtlich. Chruschtschow hielt eine schriftliche Erinnerung an die Linie vom 30. November 1960 für geboten. In einem Brief vom 30. Januar 1961 schrieb er an Ulbricht: „Wir sind natürlich mit Ihnen einer Meinung darüber, daß die Fragen der Beseitigung des Besatzungsregimes in Westberlin auf der Basis eines Friedensvertrages mit der Deutschen Demokratischen Republik gelöst werden müssen [...]. Darum ist es wünschenswert, die in Ihrem Brief [vom 19. 1. 1961 - M. L.] behandelten Maßnahmen, die sich unter gewissen Umständen als notwendig erweisen werden, mit dem Abschluß eines Friedensvertrags zu koppeln. Wenn es nicht gelingen wird, mit Kennedy zu einer Verständigung zu kommen, werden wir, wie vereinbart, gemeinsam mit Ihnen den Zeitpunkt ihrer Durchfuhrung bestimmen." 240 Mit dieser auf Zeitgewinn setzenden Taktik mußte sich Chruschtschow selber unter Erfolgszwang setzen. Was geschah, wenn man sich mit Kennedy nicht arrangieren konnte? 238

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 19. 1. 1961 (die hier zitierte deutsche Fassung ist mit dem 18. 1. 1961 datiert), in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/129, S. 1-8. « s Ebenda. 24 ° Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 30. 1. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/129.

SED-Berlinplanungen unter Zeitdruck

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Eine Übereinkunft mit dem amerikanischen Präsidenten hätte freilich die vagen Abmachungen mit der SED obsolet gemacht. Er beginne die „sachliche Erörterung dieser Fragen mit Kennedy". Die „vorgenommene Abtastung" zeige, so ließ Chruschtschow Ulbricht wissen, „daß es einiger Zeit bedarf, bis Kennedy seine Position in der Deutschlandfrage deutlicher absteckt und es klar wird, ob die Regierung der USA gewillt sein wird, gegenseitig annehmbare Beschlüsse zu erzielen." 241 Dennoch zog Chruschtschow, wie dem Schreiben auch zu entnehmen war, möglicherweise als Folge von Diskussionen im Präsidium der KPdSU, durchaus einen härteren Kurs für den Fall ins Kalkül, daß sich ein Arrangement mit den USA als unmöglich erweisen sollte. Inwieweit dann Forderungen der DDR „aktuell" werden konnten, ließ er dahingestellt sein. Aber genau das mußte die ostdeutschen Verbündeten in ihren Hoffnungen auf die „große" Lösung bestärken: Separatvertrag und Entschärfung der „Zeitbombe" Westberlin. Dieses Ziel trat auch auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Warschauer Vertragsstaaten am 28. und 29. März 1961 in Moskau zutage. Ein Friedensvertrag mit der DDR setze „das von den Westmächten über Westberlin verhängte Besatzungsstatut außer Kraft", führte Ulbricht hier aus. Bei dieser „völkerrechtlich klaren Situation" stelle die SED aber in Rechnung, „daß für eine Übergangszeit eine provisorische Regelung" erforderlich sein werde. So wurde dem Westberliner Senat und den Westmächten nach einem Abschluß eines Friedensvertrags mit der DDR „die Möglichkeit gegeben, sie interessierende Fragen in bezug auf Westberlin durch Vertragsabschluß mit uns zu regeln." Ulbricht gab zu erkennen, daß in Westberlin, das nicht in die Gesetzgebung der Bundesrepublik einbezogen werden dürfe, auf vertraglichem Weg alles beseitigt werden müsse, was als feindlich gegenüber der DDR gelte. Er resümierte: „Alle diese Abmachungen und Regelungen bringen eine schrittweise Umwandlung der heutigen Frontstadt Westberlin in eine entmilitarisierte Freie Stadt. Uns schwebt also keine schroffe Änderung aller Verhältnisse, sondern ein Übergangsstadium vor." Der DDR-Staatsratsvorsitzende befürchtete zwar westliche Sanktionen, bemerkte aber im Plenum der Tagung realistisch, daß J e d e Boykott- und Blockade-Maßnahme" gegen die DDR auch den ungehinderten Verkehr nach und von Westberlin stören würde". 242 Hier lag in der Tat der neuralgische Punkt des Westens. Nüchtern betrachtet, formulierte Ulbricht Ende März 1961 erneut ein ostdeutsches - langfristiges - Maximalprogramm. Er ging also nicht von einem Erfolg, sondern von einem Scheitern sowjetisch-amerikanischer Verhandlungen aus. Seine Ausführungen über Etappen und Übergangsregelungen blieben dem großen Ziel untergeordnet. Sie waren zweifellos Ausdruck einer Orientierung an den realen Verhältnissen, gleichzeitig aber auch an dem sowjetischen Ziel, die Ausgangsbedingungen schrittweise zu verändern und einen militärischen Konflikt zu vermeiden. Die in Moskau versammelten Ostblockführer zeigten sich - folgt man der Darstellung eines Konferenzteilnehmers, des stellvertretenden CSSR-Verteidigungsministers Jan Sejna - aber „entsetzt", als Ulbricht das Ziehen einer Stacheldrahtbarriere quer durch Berlin vorschlug. Vor allem die „notorischen Renitenten, die später auf Dauer die Harmonie des Blockes verwirren sollten", verweigerten ihre Zustimmung. Janos Kadar, der ungarische Erste Sekretär, sah „eine ernste Schädigung des Ansehens der gesamten kommunistischen Bewegung voraus." Rumäniens Parteichef Gheorghe Gheorghiu-Dej, „an westlichen Wirtschaftsbeziehungen interessiert, widersetzte 241 242

Ebenda. Wortlaut der Rede Ulbrichts auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Paktes, 29. 3. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/351, Bd. 3, S. 14f.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

sich am heftigsten mit dem Argument, solche Radikalität müsse zum offenen Konflikt mit dem Westen fuhren." Da sich auch Chruschtschow gegen eine solche Maßnahme aussprach, erhielt Ulbricht dafür keine Ermächtigung. 243 Dennoch deutete sich im Unterschied zur „liberalen" Periode Ende 1960 wieder - was auch auf die Befindlichkeit sowjetischer Politik hinweist - eine härtere deutschlandpolitische Gangart an. Der Warschauer Pakt demonstrierte vor den Gesprächen Chruschtschow-Kennedy Stärke. Offensichtlich beeinflußte die konfrontative Konzeption des Politbüros, so wenig es sowjetische Entscheidungen prinzipiell zu bestimmen vermochte, Moskau in dieser schwankenden Situation. Warum die sowjetische Führung sich selbst politische „Wechselbäder" verordnete und einen deutschlandpolitischen Zickzack-Kurs verfolgte, ist nicht geklärt. Hier spielen mit Sicherheit auch subjektive Faktoren eine Rolle. Chruschtschow beabsichtigte, den „neuen Mann" der USA, Kennedy, zu beeindrucken. Die Taktik, die SED einmal vorzuschicken, um sie ein anderes Mal „zurückzupfeifen", wird nicht nur Ausdruck des Bemühens gewesen sein, den Westen zu verunsichern und zu zermürben. Vielmehr fehlte der sowjetischen Politik eine klare Konzeption. Demgegenüber verfügte die SED über ein eindeutiges Ziel, aber nicht über die Mittel, diese zunächst in Moskau und im Warschauer Pakt durchzusetzen.

12. Das Scheitern ost-westlicher Krisenregelungsversuche im Sommer und Herbst 1961 Den härter werdenden deutschlandpolitischen Kurs der Sowjetunion bekam die Bundesregierung bald zu spüren. Ein an sie gerichtetes Memorandum der sowjetischen Regierung vom 17. Februar 1961244 spiegelt in der Form zwar noch den moderaten Ton wider, den Chruschtschow dem Westen gegenüber seit dem Herbst 1960 anschlug, ließ aber Adenauer über die unveränderten sowjetischen Ziele nicht im Zweifel. Die UdSSR wandte sich gegen den Standpunkt der Bundesregierung, daß ein Friedensvertrag nur mit einer gesamtdeutschen Regierung und ausschließlich im Zusammenhang mit einem Abkommen über eine allgemeine Abrüstung möglich sei. Die Sowjetregierung erklärte sich zu einer zeitweiligen Westberlinregelung vor dem Abschluß eines Friedensvertrags nur unter der Bedingung bereit, daß man für diesen einen „streng vereinbarten Termin" finde; komme der Vertrag nach Ablauf der Frist nicht zustande, würde die UdSSR mit der DDR einen separaten Friedensschluß vereinbaren. Das in seiner Mischung aus Drohung und Friedensbeteuerungen bemerkenswerte Dokument stellte nicht nur eine Reaktion auf die unveränderte Haltung der Bundesrepublik zur deutschen und Berlin-Frage, sondern auch auf verschiedene Erklärungen dar, die westliche Staatsmänner - u.a. Kennedy und de Gaulle - zu aktuellen Problemen Anfang Februar abgegeben hatten. Die westdeutsch-sowjetischen Gegensätze verschärften sich immerhin so deutlich, daß eine Erneuerung des bilateralen Kulturabkommens im Mai 1961 an der Berlinklausel scheiterte. Adenauer, der im Juni 1961 von dem deutschen Ziel sprach, daß Europa einmal ein

243 244

Zit. nach: J. Rühle/G. Holzweißig, 13. August 1961. die Mauer von Berlin, Berlin 1988, S. 17. Vgl. entsprechenden Auszug aus dem Text in: Hartl/Marx, a.a.O., S. 486-488.

Das Scheitern ost-westlicher Krisenregelungsversuche

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großes, gemeinsames Haus für „alle Europäer wird, ein Haus der Freiheit"245, sah die Grundbedingung für die Lösung der anstehenden Probleme in einer weltweiten Entspannung, die „nicht schnell und mit einem Male", sondern nach und nach, vielleicht stückweise" eintreten werde."246 Für die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und ihrer Politik der friedlichen Koexistenz - von ihm als ein Mittel des östlichen „Klassenkampfes" erkannt schlug der Bundesaußenminister der Bundesregierung und den USA vor, die Forderung nach einem „allgemeinen, vollständigen Frieden" als ein „höheres Ziel" zu erheben. 247 In der Frage einer friedensvertraglichen Regelung wußte auch er nichts besseres, als dem Westen zu empfehlen, „die Nerven [zu] behalten und nötigenfalls auch weiter [zu] warten."248 Voller Erwartung schaute die Welt, blickten vor allem die Deutschen auf das Gipfeltreffen zwischen Chruschtschow und Kennedy in Wien, das am 3. Juni 1961 begann. Der amerikanische Präsident machte in Paris Zwischenstation. Er führte hier mit de Gaulle Besprechungen, die in der Berlin- und Deutschlandfrage eine prinzipielle Übereinstimmung der Positionen erkennen ließen. Chruschtschow fuhr offenbar in der Erwartung nach Wien, daß sich die neue politische Führung der USA den sowjetischen Positionen annähern würde. Im Vorfeld der Unterredung hatte die Sowjetunion - dies deutete sich bereits im Wahlkampf Kennedys gegen den in Moskau suspekten Richard Nixon an - Angriffe auf Kennedy unterlassen und ihm auf verschiedene Weise den guten Willen der sowjetischen Führung signalisiert, sich mit den USA in weltpolitischen Fragen ins Benehmen zu setzen. Die Begegnung der beiden so grundverschiedenen Personen geriet zum Fiasko. Die internationale Öffentlichkeit erfuhr nur sehr wenig über den konkreten Verlauf der Gespräche und über die Ursachen ihres Scheiterns. Erstaunlich war, daß sofort nach der Beendigung des Treffens Ulbricht von der sowjetischen Führung die wörtliche Niederschrift der Gespräche übermittelt wurde. 249 Ulbricht war also sowohl über das Gesamtergebnis als auch über den ihn brennend interessierenden Verlauf der Diskussion über die deutsche Frage, den Friedensvertrag und die Berlinregelung informiert. So wußte er, daß Chruschtschow Westberlin zum Territorium der DDR gehörend bezeichnet und Kennedy eine Verständigung darüber „nahegelegt" hatte, einen Zeitraum von 6 Monaten zu vereinbaren, innerhalb dessen Vertreter beider deutscher Regierungen „zusammentreten und sich über Deutschland betreffende Fragen verständigen sollen. Wenn sie nach Ablauf dieser Frist unter sich zu keiner Einigung in der Frage der Wiedervereinigung kommen können, so werden wir [die UdSSR - M. L.] uns der Verantwortung für die deutsche Frage entledigen." Kennedy zeigte sich hier kompromißbereit: „Ich denke es wäre gut, wenn West- und Ostdeutschland einen Weg zur Normalisierung ihrer Beziehungen finden würden." Er weigerte sich jedoch, Chruschtschow in den Fragen des Status von Berlin und eines Friedensvertrags Zugeständnisse zu machen. Als der sowjetische Regierungschef mit dem separaten Friedensvertrag mit der DDR und „den sich daraus ergebenen Konsequenzen" drohte und Kennedys Frage, ob das bedeute, daß „unser Zugang nach Westberlin gesperrt wird", bejahte, konterte der amerikanische Präsident: „Wenn man uns aber jetzt einseitig aus Westberlin veijagt und uns unsere vertraglichen 245

246 247 248 249

Unkorrigiertes Manuskript der Rede Adenauers auf dem Schlesiertreffen am 11. 6.1961 in Hannover, in: Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus (StBKA-H) Nr. 02-23, S. 4. Korrigiertes Manuskript der gleichen Rede in: ebenda, S. 5. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 26. 5. 1961, in: BA Koblenz, NL 239/158, Bl. 207. Schreiben v. Brentanos an E. Gerstenmaier, 8. 7. 1961, in: ebenda, Bl. 236. Vgl. „Niederschrift der Unterredung zwischen Gen. N. S. Chruschtschow und J. F. Kennedy" am 3. und 4. 6. 1961 (Übersetzung), in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/331, Bd. 2.

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Rechte nimmt, dann werden alle Verpflichtungen der USA gegenüber anderen Ländern zu einem einfachen Fetzen Papier und niemand wird mehr zu den Vereinigten Staaten Vertrauen haben [...]. Sie aber schlagen jetzt vor, mit einem einzigen Federstrich das gegenwärtige Kräftegleichgewicht zu unseren Ungunsten zu verändern." 250 Chruschtschow, der ein „provisorisches Abkommen über Deutschland" vorschlug, ging jedoch von seiner konfrontativen Position nicht ab. In der Sitzung am Nachmittag des 4. Juni spitzten sich die Gegensätze zu. Kennedy suchte nach Kompromißformeln, blieb aber in der Sache hart. Er artikulierte die Entschlossenheit, den Status quo zu verteidigen. Sein Gegenüber reagierte zunehmend feindselig: „Ich nehme Ihre Herausforderung an, denn wenn Sie den Krieg wollen, werden wir antworten müssen." Kennedy stellte frostig fest: „Sie wollen also die bestehende Lage ändern", worauf Chruschtschow entgegnete, daß er keinen Krieg wolle; „wenn Sie ihn uns aber aufzwingen sollten, wird es einen geben. Das können Sie also Macmillan, de Gaulle und Adenauer sagen. Beachten Sie also, Herr Präsident, daß dies unser unumstößlicher Entschluß ist und wir den Friedensvertrag im Dezember dieses Jahres unterzeichnen werden." Kennedy: „Ja, es scheint einen kalten Winter zu geben in diesem Jahr." 251 Beim Lesen des Protokolls überrascht die primitiv ideologisch begründete weltrevolutionäre Phraseologie 252 Chruschtschows, während Kennedy, sehr traditionell, das Prinzip des politischen Gleichgewichts und den Gedanken des Ausgleichs 253 betonte. Ulbricht und das Politbüro - insofern es vom Protokoll Kenntnis erhielt - konnten die Zuspitzung der Situation, eine jetzt deutlich werdende Kriegsgefahr, erkennen. Das ist auch für die Untersuchung der folgenden Politik der SED und für eine Beurteilung ihrer Position relevant. Die engere Führungsriege sah sich und ihren harten Berlin- und Deutschlandkurs bestätigt. Sie entnahm dem Gespräch eine offensichtlich feste sowjetische Entschlossenheit, den Friedensvertrag mit der D D R unbedingt abzuschließen. Und sie ersah aus dem Papier auch die zeitliche Eingrenzung von sechs Monaten. Wenngleich sie immer mit einer Zurücknahme der sowjetischen Position rechnen mußte - auch, weil Chruschtschow unberechenbar war - so konnte sie mit höchster Wahrscheinlichkeit von der westlichen Entschlossenheit ausgehen, den Status quo gegebenenfalls mit allen Mitteln zu verteidigen. Das schien jetzt auch Chruschtschow endgültig zu wissen. Da eine westliche „Kapitulation" nur noch eine abstrakte Denkmöglichkeit war, stellte sich ihm die Frage definitiv so: Krieg um Berlin oder eine Sicherung der DDR auf der Grundlage des Status quo. Letzteres aber bedeutete - über kurz oder lang - den Bau einer Mauer. In Wien waren die Würfel gefallen. Die folgenden Wochen wurden von beiden Seiten genutzt, Entschlossenheit zu demonstrieren. Die Sowjetunion mag auf ein Nachwirken ihrer Wiener Drohung gehofft haben. Das bereits am 4. Juni von Chruschtschow an Kennedy übergebene Deutschland-Memorandum 2 5 4 hielt die politischen Positionen Moskaus fest. Das martialische Auftreten verschiedener sowjetischer Generale und Marschälle, das plakativ zur Schau getragene Siegesbewußtsein sowjetischer Politiker und eine Reihe militärischer Maßnahmen vermittelten der Weltöffentlichkeit das Bild einer kriegsbereiten, starken Sowjetunion. Die USA stellten sich ganz ähnlich dar. Auch hier wurden u. a. sowohl die Personalstärke der Streitkräfte als auch die 2so Niederschrift vom 4. 6. 1961, in: ebenda, S. 23-31. Ebenda (Nachmittagssitzung), S. 3. Vgl. Niederschrift der Unterredung am 3. 6. 1961, in: ebenda, S. 7, 16. 2 « Vgl. ebenda, S. 7, 8, 17f. 2 5 4 Vgl. ebenda, J I V 2/202/129 und Sitzung des Politbüros, Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll 25/61,9. 6. 1961, in: ebenda, J IV 2/2A/825. Vgl. dazu auch ADN-Meldung, 10. 6. 1961. 251

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Die SED im Vorfeld der „Mauer". Der Sommer 1961.

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militärischen Ausgaben erhöht. Beiden Supermächten lag jedoch nichts an einer Eskalation der Spannungen, die dazu führen konnte, die Kontrolle über die Entwicklung zu verlieren. Die UdSSR forderte die USA in einem Gespräch ihres Diplomaten Georgi Kornijenko mit dem Präsidentenberater Arthur Schlesinger am 5. Juli 1961 auf, ihrerseits Garantien für Westberlin zu formulieren. 255 Sollten Chruschtschow und das KPdSU-Präsidium noch auf ein Nachgeben der Amerikaner gehofft haben, hätte die Rundfunk- und Fernsehrede 256 Kennedys vom 25. Juli 1961 die letzte Illusion zerstören müssen. Der amerikanische Präsident formulierte in dieser Rede, die ein Angebot zu neuen Verhandlungen einschloß, seine „three essentials" zu Westberlin: Erstens die Anwesenheit westlicher Truppen in Berlin, das keine Statusveränderung erfahren dürfe, zweitens den freien Zugang von und nach Berlin, drittens die Freiheit und Lebensfähigkeit der Stadt. Die USA verpflichteten sich, Westberlin unter allen Umständen zu verteidigen, notfalls atomar; sie zeigten dem Osten aber auch, in welchem Rahmen dieser die Sicherung der DDR betreiben könnte. Kennedys Berlinstrategie, wie er sie am 25. Juli dargestellt hatte, „war defensiv par exellence." 257 Aber war das in Moskau voll erkennbar?

13. Die SED im Vorfeld der „Mauer". Der Sommer 1961. Es ist ungewiß, ob von der Sowjetunion der Wunsch der DDR, die innerberliner Grenze abzuriegeln, erst jetzt, nach der Kennedy-Rede, für praktisch ausführbar gehalten wurde. Der DDR zeigte sich kein anderer Ausweg mehr. Die Frage stellte sich definitiv: Entweder man bereitete der sich seit dem späten Frühjahr dramatisch entwickelnden Republikflucht ein Ende oder stellte die Existenz der DDR - eher kurz- als langfristig - zur Disposition. Die Sowjetunion sah das aber nicht nur aus machtpolitischen Gründen so. Sie verband mit der Existenz der DDR eine prinzipielle Frage. Auf sie wies der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anastas Mikojan, Mitglied des Präsidiums der KPdSU, am 6. Juni 1961 im kleinsten Kreis hin. Mikojan bezog sich auf ein Gespräch mit dem hochbetagten englischen Labourpolitiker Clement Attlee, der ihm gesagt habe, der Kommunismus sei für unterentwikkelte Länder, aber nicht für hochentwickelte Industriestaaten gut. Der sowjetische Politiker meinte, es sei tatsächlich eine grundsätzliche Frage, ob sich der Kommunismus auch in diesen Gesellschaften als „richtig und überlegen" erweise: „Die DDR ist ein solcher Staat. Sie ist der westliche Vorposten des sozialistischen Lagers [...]. In der DDR wird sich unsere Weltanschauung, unsere marxistisch-leninistische Theorie beweisen müssen.[...] Die DDR, Deutschland, ist das Land, in dem sich entscheiden muß, daß der Marxismus-Leninismus richtig ist, daß der Kommunismus auch für die Industriestaaten die höhere, bessere Gesellschaftsordnung ist. Und weil das so ist, deshalb ist die Bewahrung des Sozialismus in Deutschland nicht nur Eure Sache allein." Mikojan bemerkte, die UdSSR habe einst „Reparationen bei Euch herausgeholt", nun helfe man der DDR. Ideologische Erwartungshaltung (es werde „auch die Zeit kommen, wo das in Westdeutschland schlechter gehen wird. Wir sollen optimistisch sein") verband sich mit dem unveränderten Ziel des Einholens und 255

Vgl. S. Prokop, Unternehmen „Chinese Wall". Die D D R im Zwielicht der Mauer, Frankfurt/Main 1993, S. 151. 256 vgl. Wortlaut, in: Archiv der Gegenwart, XXX, Jg. 1960, S. 9241-9243. 257 W. Stützle, Kennedy und Adenauer in der Berlin-Krise 1961-1962, Bonn-Bad Godesberg 1973.

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Überholens der Bundesrepublik: „Das kann mehrere Jahre, das kann 5 oder 10 Jahre dauern [...]. Wir müssen alles tun, damit die Entwicklung bei Euch immer stetig aufwärts geht". 2 5 8 Mikojan faßte zusammen: „Und gegenüber Westdeutschland können und dürfen wir uns einen Bankrott nicht leisten. Wenn der Sozialismus in der DDR nicht siegt, wenn der Kommunismus sich nicht hier als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir [Das Wort „wir" ist in der Quelle gesperrt gedruckt] nicht gesiegt." 259 Die DDR konnte von Moskau also auch aus ideologischen Gründen nicht aufgegeben werden. Ihr Ausscheiden aus dem sozialistischen System hätte hier - vor allem aber bei der sowjetischen Bevölkerung - zu tiefen Zweifeln in die Sieghaftigkeit des Kommunismus und in den anderen Lagerstaaten möglicherweise zu inneren Turbulenzen geführt. Für die zutiefst ideologische Prägung der sowjetischen Führungsspitze spricht die „Endzeit"-Vorstellung des (sozialistischen) Deutschland. Eschatologische Visionen und Messianismus gingen indirekt auch in das Krisenkonzept der kommunistischen Führungen ein. Ulbricht hatte am 15. Juni 1961 anläßlich einer internationalen Pressekonferenz erklärt, niemand in der D D R habe die Absicht „eine Mauer zu errichten". 260 Noch Ende Juli 1961 verneinte er diesen Plan unter der Bedingung, daß der Westen friedliche Absichten bezeugt und zu „normalen Beziehungen" übergeht. 261 Es bleibt unklar, von welchem Zeitpunkt an dem Ersten Sekretär die unmittelbare Notwendigkeit und dann die praktische Möglichkeit einer Grenzsperrung bewußt war. Offensichtlich hoffte auch das Politbüro bis zuletzt auf eine „große Lösung" des Westberlinproblems durch ein Abkommen über eine Freie Stadt oder auf eine „kleine" Interimsregelung, die den Außendruck wenigstens abmilderte. Offenbar fuhr er für eine bestimmte Zeit zweigleisig; er wartete eine russisch-amerikanische Übereinkunft ab und bereitete gleichzeitig die Abriegelung vor. Sie besaß für Ulbricht vor allem ideologische Brisanz, mußte er sie doch, wenn eine Einigung Washingtons und Moskaus in letzter Minute nicht zustande kam, vor der Bevölkerung legitimieren bzw. erklären. Das war um so schwieriger, als die nun in aller Schärfe zutage tretende Krise des DDR-Regimes sichtbar war und die Unzufriedenheit des Volkes - wie u.a. Berichte des MfS bezeugen 262 - anwuchs. Die Lebensmittelversorgung erreichte eine kritische Phase. Als die Bundesregierung in dieser Situation eine Soforthilfe anbot, lehnte die S E D sie mit der Begründung ab, Bonn weigere sich, einen Friedensvertrag abzuschließen. 263 In Wirklichkeit ging es aber darum, Lieferungen aus der Sowjetunion sicherzustellen, weil das Politbüro - offensichtlich schon mit entsprechenden Planungen beschäftigt - im Fall der Grenzsperrung einen neuen innerdeutschen Handeisstop erwartete. Der vom 6. Plenum des ZK der SED am 6. Juli 1961 verkündete „Deutsche Friedensplan" 2 6 4 , der die sofortige Bildung einer deutschen Friedenskommission aus Vertretern der Regierungen und Parlamente beider deutscher Regierungen vorschlug, leitete eine neue Propagandaaktion ein. Die Wiederholung konföderativer Angebote und die Hervorhebung „Niederschrift über die wichtigsten Gedanken, die Genosse Mikojan in einem Gespräch mit Genossen Leuschner im kleinsten Kreis [...] äußerte." Anlage 2 zum Protokoll 24/61, Sitzung des Politbüros vom 6. 6. 1961, in: SAPMO-BArch, J IV 2/2/766, Bl. 8. 2 5 9 Ebenda, Bl. 9. 2 6 0 Vgl. bei C. Cate, Riß durch Berlin. Der 13. August 1961, Hamburg 1980, S. 45. 2 6 1 Vgl. Rühle/Holzweißig, a.a.O., S. 83. 2 6 2 Vgl. Mitter/Wolle, a.a.O., S. 328-350. 2 6 3 Vgl. Neues Deutschland, 9.7.1961. 264 vgl. Wortlaut, in: Archiv der Gegenwart XXXI. Jg. 1961, S. 9200-9202. 258

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der Prinzipien von Nichteinmischung und Gewaltverzicht im Verhältnis der beiden Staaten sollte den Eindruck eines „Abkommens des guten Willens" vermitteln, brachte aber in der Sache nichts Neues. Der „Friedensplan" enthielt eine prophylaktische Rechtfertigung für den Mauerbau. Post factum als das große Angebot der „letzten Stunde" dargestellt, hätte seine Ablehnung durch die Adenauerregierung - dieser Logik folgend - zum „antifaschistischen Grenzwall" beigetragen. In den Wochen vor dem 13. August 1961 spitzte sich propagandistisch alles auf eine kurze, falsche und primitive Argumentationskette zu: Die SED wolle den Frieden. Die Bundesregierung lehne alle Vorschläge dazu ab, rüste im Gegenteil die unter nazistischer Führung stehende Bundewehr auf. Und sie plane einen Angriff gegen die DDR. Diese müsse sich wappnen. Gleichzeitig besaß der „Friedensplan" tatsächlich auch den Charakter einer Offerte der letzten Stunde, da er versuchte, den Kurs auf das sowjetische Maximalziel eines Friedensvertrags und einer Freien Stadt noch einmal propagandistisch zu untermauern und zu einem plötzlichen Nachgeben des unter Druck stehenden Westens beizutragen. Das „Prinzip Hoffnung" spielte auch in der stark irrationalen Politik der SED seine Rolle. Spätestens Mitte Juni 1961 stand für Ulbricht fest, daß es für ihn zur Abschottung der Grenze in Berlin keine realistische Alternative gab. Die ersten vorbereitenden Schritte unternahm er wahrscheinlich im Alleingang, denn er informierte am 27. Juni das Politbüro lediglich darüber, daß er dem Präsidium der KPdSU die „Notwendigkeit der Durchfuhrung einer Beratung mit den 1. Sekretären der Zentralkomitees der volksdemokratischen Länder über die organisatorische und politische Vorbereitung des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland" 265 mitgeteilt habe. Unklar ist, ob er im Politbüro bzw. gegenüber allen seinen Mitgliedern schon sein Ziel offenbarte. Die Wortkombination „Vorbereitung des Abschlusses eines Friedensvertrages" verwendeten er und die Eingeweihten von nun an, manchmal etwas modifiziert, als die (getarnte) Bezeichnung für die Grenzabsperrung. Für den Historiker kann der Begriff deshalb in die Irre führen, weil damit gleichzeitig auch Prozesse und Maßnahmen bezeichnet wurden, die mit der Weiterführung der Politik (und der Kampagne) zum Abschluß eines Friedensvertrags im Zusammenhang stehen. Das verweist auf den Umstand, daß UdSSR und DDR zunächst auf zwei Gleisen fuhren: Grenzabschottung und Weiterverfolgung friedensvertraglicher Ziele. Es ist weiter zu untersuchen, in welcher Beziehung beide zueinander standen und miteinander wirkten. Offensichtlich am 5. Juli übermittelte Ulbricht Chruschtschow, bereits den Text seiner Rede, die er anläßlich des Treffens der Ersten Sekretäre in Moskau - anvisiert war der 3. August - halten wollte. 266 Die Vorschläge - so schrieb er - seien im Politbüro beraten worden. Dem Schreiben lag ein „Material über die Kontrolle des Verkehrs, über die Kontrolle des Flugwesens" an. „Was die Kontrolle des Straßenverkehrs von Bürgern der DDR nach Berlin betrifft und von der Hauptstadt der DDR nach Westberlin, so sind alle notwendigen Maßnahmen ausgearbeitet". 267 So hieß es viel- und nichtssagend schon Anfang Juli 1961. Am 5. Juli wurde auch ein Schreiben Ulbrichts an den ungarischen Ersten Sekretär Janos Kadar und an die chinesische Führung abgeschickt. 268 Kadar antwortete auf den Konferenzwunsch der

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Beschluß des Politbüros, Protokoll 28/61, 27. 6. 1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/770, Bl. 3. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, undat.(offensichtlich vom 5. 7. 1961), in: ebenda, J IV 2/202/272, Bd. 1. Ebenda. Vgl. Schreiben Ulbrichts an Kadar und die chinesische Führung, in: ebenda.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag bis 1961

SED positiv.269 Auch die undatierten Schreiben an die übrigen Ersten Sekretäre der kommunistischen und Arbeiterparteien der Staaten des Warschauer Paktes fixierten den Wunsch von Beratungen „über die politischen, diplomatischen, ökonomischen und organisatorischen Vorbereitungsarbeiten für den Abschluß eines Friedensvertrages". Mit Chruschtschow, so war angemerkt, habe man sich konsultiert; er sei einverstanden. 270 Offensichtlich herrschte in der sowjetischen Führung Ratlosigkeit. Mitte Juli hielten sich Honecker und Verner zu Vorbesprechungen in Moskau auf. In einer „besonderen Information an Genossen Walter Ulbricht" berichteten sie von den Gesprächen mit dem im sowjetischen ZK für die deutsche Frage verantwortlichen Funktionär Karpin. Seinen Ausführungen sei zu entnehmen gewesen, daß die sowjetischen Genossen „gewisse Diskussionen in der Richtung Friedensvertrag, besonders West-Berlin-Frage" führten und sie nicht wüßten, „wie man all diese Fragen praktisch lösen soll, weil sie noch keine bestimmten Vorstellungen von einzelnen Problemen haben." Daß letzte Entscheidungen von der zögernden sowjetischen Regierung noch nicht getroffen und unterschiedliche Auffassungen in der KPdSU im Streit lagen, zeigt die Bemerkung Karpins, es könnten Chruschtschow Vorschläge unterbreitet werden, „die gegenwärtig nicht im Einklang mit unseren [der SED - M. L.] Maßnahmen stehen". Man werde aber in Moskau „militärische Fragen in Zusammenhang mit dem Friedensvertrag und Westberlin beraten und [empfehle], daß wir [die SED - M. L.] uns gut darauf vorbereiten müssen." Auch KPdSU-Präsidiumsmitglied Michail A. Suslow habe in diese Richtung Bemerkungen gemacht. 271 Die von den Emissären Honecker und Verner konkretisierten Vorstellungen der SED mußten der KPdSU als „Überrumpelungsaktion" erscheinen. Chruschtschow schien in der Tat unschlüssig zu sein. Vorbehalte gegen die von Ulbricht geforderte radikale Lösung hatte er offensichtlich nicht nur, weil die Reaktion des Westens trotz der Signale aus Washington nicht bis ins letzte kalkulierbar war. Die Schließung der Grenze stellte sich ihm viel stärker als eine Bankrotterklärung des Sozialismus und als eine damit verbundene Gefahr von Unruhen in der DDR dar. Eine gewisse Vorentscheidung war vielleicht schon gefallen, als Ulbricht gegenüber dem sowjetischen Botschafter in Berlin, Perwuchin, - wie der sowjetische Diplomat Juri A. Kwizinskij berichtet - Ende Juni oder Anfang Juli 1961, erklärte, daß „wenn die gegenwärtige Situation der offenen Grenze weiter bestehenbleibe, der Zusammenbruch unvermeidbar [sei]. Als Kommunist warne er davor und lehne alle Verantwortung dafür ab, was weiter geschehe". 272 Nachdem zunächst keine Reaktion Moskaus erfolgte, habe Chruschtschow über Perwuchin Ulbricht sein Einverständnis mit der Grenzschließung signalisiert und die SED-Führung zum Beginn entsprechender Vorbereitungen „unter größter Geheimhaltung" ermächtigt. 273 Kwizinskij berichtet, daß nur Erich Mielke, Innenminister Karl Maron und Verkehrsminister Erwin Kramer von Ulbricht in die Aktion eingeweiht wurden. 274 Das scheint fraglich. Zumindest wußten Erich Honecker und Paul Verner davon. Auch Hermann Matern und Heinz Kessler dürften informiert gewesen sein. Ulbricht ließ der UdSSR keine Zeit. Am 25. Juli übermittelte er Chruschtschow einen detaillierten Plan, der 269 270

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Vgl. Schreiben Kadars an Ulbricht, 10. 7. 1961 (in russ. Sprache), in: ebenda. Schreiben Ulbrichts, undat. (wahrscheinlich 5.7.1961), an alle Ersten Sekretäre der kommunistischen und Arbeiterparteien der Staaten des Warschauer Paktes, in: ebenda, J IV 2/202/245, Bd. 2. E. Honecker u. P. Verner: „Besondere Information an Genossen Walter Ulbricht", Leipzig, 15.7.1961, in: ebenda, J IV 2/202/131. J. A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 179. Ebenda, S. 180. Vgl. ebenda, S. 180f.

Die SED im Vorfeld der „Mauer". Der Sommer 1961.

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sowohl auf die Legitimation der geplanten Grenzaktion abzielte als auch geeignet sein konnte, den Kurs auf einen Friedensvertrag fortzusetzen. So sollten Schreiben Ulbrichts als Staatsratsvorsitzender an die Führer der „neutralen Staaten" und Noten an die 29 ehemals in der Antihitlerkoalition vereinten Länder zu einer Friedenskonferenz und zur „Bekämpfung der Bonner Maßnahmen im Ausland" beitragen. Vor allem wollte Ulbricht Titos Position sondieren und sie „nach Möglichkeit" beeinflussen". 275 In diesem Papier spiegelte sich das sowjetische Interesse wider, eine andere Möglichkeit als den Mauerbau bis zuletzt auszuloten. Ulbricht favorisierte Alternativen nicht. Allerdings zeigt sich in einem weiteren Konzeptionsentwurf, daß auch die SED-Führung durchaus beabsichtigte, die Vorarbeiten für einen Friedensvertrag unbeschadet ihrer Mauer-Pläne fortzusetzen. 276 Das ZK studierte u. a. die Verfahren und Ergebnisse der Friedensabschlüsse des Jahres 1947 (Italien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Finnland) und 1951 [Japan] 277 . Ulbricht setzte die Prioritäten eindeutig. Im Vorfeld der Moskauer Beratung erhielten für ihn mit den Bündnispartnern abzusprechende wirtschaftliche Maßnahmen, „die am Tage des Abbruches des Handelsabkommens und des Wirtschaftsboykotts durch Westdeutschland erfolgen" 278 , höchsten Stellenwert. Das „Grenzgängerproblem", das noch Anfang Juni auch Chruschtschow gegenüber 279 als schwierig darstellt worden war, war nun obsolet geworden. Aber hier zeigte sich am deutlichsten, daß einmal groß angelaufene Aktionen aus Gründen der Geheimhaltung des Grenzabriegelungsplans nicht ohne weiteres beendet werden konnten. So bereiteten Staatsorgane noch immer „klassenbewußt" Maßnahmen vor (oder führten sie durch), die angesichts der generellen Lösung als solche vollkommen unsinnig waren. Indes liefen die geheimen Vorbereitungen auf Hochtouren. Am 24. Juli 1961 berichtete die Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED, daß bislang 54,1 km Grenzfläche durch Sperren „verdrahtet" worden seien. Sie forderten für die übrigen 92,2 km eine bestimmte (im Text genannte) Menge an Stacheldraht, Maschendraht, Krampen, Holz und Betonpfählen „allerhöchst" an. 280 Auch die verkehrstechnischen Vorbereitungen liefen auf vollen Touren. 281 Aus heutiger Sicht erstaunt es, daß offensichtlich nichts davon bekannt wurde. Die Akten geben keinen Aufschluß darüber, wer im Politbüro in den „großen" Plan vielleicht nach und nach eingeweiht wurde. Verschiedene Aussagen sind ambivalent. Matern erklärte noch am 31. Juli 1961 im Demokratischen Block, die SED sei nicht daran interessiert, „daß unsere Leute nach Westdeutschland fahren". Man müsse die Westreisen - und so sollte man öffentlich diskutieren - „vorübergehend für eine ganze Zeit weitgehend einschränken, wenn nicht sogar 275

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Anlage zum Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 24. 7. 1961: „Plan diplomatischer Schritte und außenpolitischer Maßnahmen zur Vorbereitung des Abschlusses des Friedensvertrages und der Westberlin-Regelung", in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/130, Bd. 6. Vgl. „Vorschläge zur Durchführung der Beratungen" (in Moskau, 3.-5. 8. 1961), in: ebenda, J IV 2/202/130, Bd. 6. Entwurf der ZK-Abteilung Grundsatzfragen: „Verfahren und Partner des Friedensschlusses", 26. 7. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/130, Bd. 6. „Vorschläge zur Durchfuhrung der Beratungen", a.a.O. Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, undat. (wahrscheinlich Anfang Juni 1961), in: ebenda, J I V 2/202/129. Vgl. Übersicht der ZK-Abteilung Sicherheitsfragen (Wansierski), 24. 7. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/65. H. Kessler u. E. Kramer: „Maßnahmen zur Kontrolle des Verkehrs der Reichsbahn und Stadtbahn", streng vertraulich (mit handschr. Anmerkungen Ulbrichts), undat., in: ebenda, JIV 2/202/130, Bd. 6, S. 5, 9.

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einstellen." 282 Norden kündigte am 15. Juli an, daß die Zeit vorbei sei, „wo man allgemein über die Notwendigkeit des Friedens" geredet habe, j e t z t steht auf der Tagesordnung der Abschluß des Friedensvertrages". 283 Vom 3. bis 5. August tagten die Ersten Sekretäre der kommunistischen Führungsparteien mit dem bekannten Ergebnis. In Moskau wurde die Schließung der Grenze zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins für die Nacht vom 12. zum 13. August 1961 beschlossen. Das Politbüro erfuhr die Entscheidung am 7.8.1961 offiziell. Es ordnete einen formalen Beschluß des Ministerrates der D D R an. Die Großkundgebung zum 90. Geburtstag Karl Liebknechts am 14. August auf dem Potsdamer Platz falle aus. 2 8 4 Ulbricht konnte nach der stabsmäßig vollzogenen Absperrung der Grenzen zu Westberlin erleichtert aufatmen. Chruschtschow befand sich, wenngleich er seine entscheidende Zustimmung gegeben hatte, in einer etwas anderen Situation. Die Vermutung, daß er bis zuletzt auf eine andere Lösung hoffte und für ihn ein Friedensvertrag und eine Westberlinregelung konsensfahig waren, liegt nahe. Daß auch Hoffnungen auf ein Einlenken des Westens bis zuletzt bestanden, scheint die protokollarische Überlieferung der Unterredung zwischen ihm und dem italienischen Ministerpräsidenten Amintore Fanfani am 2. und 3. August 1961 in Rom, kurz vor dem Treffen der Ersten Sekretäre, zu bestätigen.

14. Ein Versuch in letzter Minute? Die Gespräche Chruschtschow-Fanfani am 2. und 3. August 1961 Chruschtschow zog in diesem Gespräch alle „Register". Er legte den Gedankenaustausch so an, daß verschiedene Auffassungen und Informationen wichtige Bündnispartner Italiens erreichen konnten. Mit dieser Absicht erzählte er Fanfani, daß seine Wissenschaftler eine Bombe mit etwa 100 Mio. TNT Sprengkraft entwickelt hätten, die sie erproben möchten. Und die Raketenleute sagen, so fügte er hinzu, daß sie imstande seien, diese Bombe zu befördern. „Was soll ich machen?", fragte er Fanfani rhetorisch: „Soll ich die Versuche erlauben? Um so mehr, da man uns jetzt mit Krieg droht, wenn wir einen Friedensvertrag mit Deutschland unterzeichnen. Und nun kämpfe ich mit mir selbst." 285 Ein amerikanischer Politiker (John McCloy) habe ihm gesagt, die Militärs würden auf Kennedy drücken, „aber auf mich drückt man doch auch." Chruschtschow drohte mit der Wiederaufnahme von Atomwaffenversuchen. „Die Bombe ist entwickelt und muß erprobt werden [...]. Denn wenn man uns angreift, dann werden Atomwaffen eingesetzt." 286 Die deutsche Frage bezeichnete Chruschtschow bemerkenswerterweise als „Hauptfrage, die allen schon zum Halse heraushängt." Er gab Fanfani zu verstehen, daß Adenauer, der ein alter Mann sei, aber an der „Spitze der deutschen Regierung" stehe, offensichtlich den 282

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Stenografische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks vom 31. 7.1961, in: ebenda, IV 2/15/25. Rede Nordens auf der SED-Bezirksdelegiertentagung in Gera, in: ebenda, NL 217/51, Bl. 5. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 39/61, 7. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/781, Bl. 2f. Niederschrift der Unterredung Chruschtschow-Fanfani, 2. 8. 1961 (für Umlauf im Politbüro), in: ebenda, J IV 2/202/329, S. 12. Ebenda, S. 13.

Die Gespräche Chraschtschow-Fanfani

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Verstand verliere. 287 Er, Chruschtschow sympathisiere mit Ulbricht, und Kennedy sympathisiere mit Adenauer. Aber was bedeutet das? fragte er: „Daß nunmehr schon wir - Rußland und Amerika, der Warschauer Vertrag und die NATO - aneinandergeraten. Und weshalb? Deshalb, weil Adenauer nicht mit Ulbricht zusammenkommen will. Das ist ja eine wüste Logik! Wenn sie nicht zusammentreffen wollen, dann sollen sie doch ohne einander leben. Ich begrüße in dieser Beziehung de Gaulle. In der Unterredung mit mir sagte er, er sei gegen die Wiedervereinigung, da er das als gefährlich für Frankreich betrachtet. Auch Macmillan sagte in einer persönlichen Unterredung mit mir, er sei für zwei Deutschland. Aber von der Tribüne aus sagt das weder der eine noch der andere." Chruschtschow wiederholte seine Forderung nach einem Friedensvertrag, der mit der DDR abgeschlossen werde. Westberlin gehöre zwar „sowohl moralisch als auch juristisch zur DDR", man wollte es aber nicht „schlucken." 288 Er wolle eine friedliche Lösung und denke auch, es werde „deshalb keinen Krieg geben, weil besonders Adenauer ihn nicht will." Adenauer sei sich im klaren darüber, daß eine Stunde nach dem Beginn der Kampfhandlungen Westdeutschland vernichtet sein werde. Chruschtschow legte Fanfani immer wieder den Gedanken nahe, daß „keine anderen großen Streitfragen" offen blieben, wenn die deutsche und die Berliner Frage gelöst würden. 289 Der italienische Ministerpräsident äußerte angesichts der Ausführungen Chruschtschows die Befürchtung, daß ein Krieg, ungeachtet dessen, daß keiner ihn wolle, „infolge gegenseitigen Mißtrauens" ausbrechen könne. 2 9 0 Daraufhin formulierte der sowjetische Politiker eine Art von „Essential": „Ich möchte dazu sagen, daß auch wir als erste schießen können in dem Falle, wenn eine Verletzung der Grenzen erfolgt. Wenn die Flugzeuge des Westens ohne Erlaubnis über die sogenannte Luftbrücke nach Westberlin fliegen, werden wir sie abschießen." 291 Am Ende der Besprechung am 2. August ging Chruschtschow auf sein Verhältnis zu Eisenhower und auf das von ihm angeblich erklärte Ziel ein, Deutschland zu zwingen, „Geld für die Rüstung auszugeben", um es als wirtschaftlichen Konkurrenten zu schwächen. 292 Am 3. August artikulierte Chruschtschow seine antideutschen Vorbehalte, die er offensichtlich mit der Absicht verband, den Westen untereinander und gegen Bonn auszuspielen: „Sie denken, Deutschland zu fangen, aber Deutschland will euch alle miteinander fangen, ja mehr noch, es hat euch bereits gefangen. Westdeutschland ist gegenwärtig das wirtschaftlich stärkste Land in Westeuropa. Ein militantes Land mit einer mächtigen Industrie. Seine Währung, die Mark, ist so fest, daß selbst der Dollar vor ihr sein Haupt verneigt." Er fragte Fanfani, ob dieser garantieren könne, daß Westdeutschland sich nicht gegen die UdSSR wendet. „Schalten Sie diese Möglichkeit aus? Ich nicht." 293 Er kam noch einmal zum Kernpunkt zurück, als er Fanfani erklärte, daß er die Rede Kennedys [vom 25. Juli - M. L.] als „militärisches Ultimatum" betrachte. Die UdSSR nehme diese Herausforderung an: „Werden wir den Krieg führen. Wir bereiten uns auf den Krieg vor. Sie bereiten sich auf den Krieg vor. Wir werden den Friedensvertrag mit Deutschland unbedingt unterzeichnen und damit das Besatzungsregime in Westberlin liquidieren. In diesem Fall erfolgt der Zugang nach Westberlin entweder über unsere Leichen ober über ein internationales Abkommen." „Wenn Sie", so wandte er sich an 287 288 289 290 291 292 293

Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 40. Niederschrift der Unterredung Chruschtschow-Fanfani, 3. 8. 1961, in: ebenda, S. 2f.

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Fanfani, „fest entschlossen sind, als Antwort darauf Krieg zu führen, dann wird es Krieg geben. Das ist kein Ultimatum, sondern Realität."294 Die Unterredung mit Fanfani wirft die Frage auf, ob Chruschtschow 48 Stunden vor dem Beginn der Konferenz der Partei- und Regierungschefs der sozialistischen Staaten zu einem Bau der Mauer möglicherweise noch nicht definitiv entschlossen war. Es spricht nicht unbedingt dagegen, daß die praktischen Vorbereitungen, die man noch „5 Minuten vor zwölf hätte stoppen können, schon angelaufen waren. Im übrigen bestand auch die Möglichkeit, daß die Ersten Sekretäre einer Reihe sozialistischer Länder der Aktion, die ja noch nicht beschlossene Sache war, prinzipiell, in wichtigen Punkten oder ihren Zeitpunkt betreffend, skeptisch gegenüberstanden und den schwankenden Chruschtschow in einer (möglichen) Absicht bestärkt hätten, den Mauerbau zunächst um einige Wochen zu verschieben, um Zeit zu gewinnen. Es bestand im Vorfeld des Treffens - Ulbricht trug seine Argumente erst am 4. August vollständig vor - für Chruschtschow noch die Möglichkeit, die Konferenz mit dem Ziel eines Ost-West-Kompromisses in den beiden Hauptfragen umzuorientieren. Das gestattete auch die offizielle Tagungsordnung. Aber selbst, wenn für Chruschtschow die Entscheidung so feststand, wie sie dann am 4./5. August fiel, verblieb eine, wenngleich geringe, Chance, sie zunächst auszusetzen. Wenn der Westen ein Zeichen gegeben hätte - Fanfani vermittelte es nicht, oder wenn die USA innerhalb der nächsten Tage ein Einlenken signalisiert hätten! So spekulativ war die Sache nicht. Fanfani konnte mit seinen Mitteln westliche Regierungen informieren. Chruschtschow wußte, daß am 5. August in Paris eine Außenministerkonferenz der drei Westmächte und der Bundesrepublik zu Berlin stattfinden sollte und auch Kennedy eine weitere Stellungnahme (sie erfolgte am 10. August) plante. Es ist nicht strittig, daß Fanfani, der auf Grund seiner gemäßigten Haltung im akuten Konflikt ein auch für Chruschtschow durchaus geeigneter Vermittler - in jedem Fall aber Medium - sein konnte. Offensichtlich überschätzte der kommunistische Führer die inneren Widersprüche im Westen und auch die Kriegsangst verschiedener Politiker auf der Gegenseite. Er verband die Taktik des gegenseitigen Ausspielens westlicher Regierungen - die Bemerkungen zur Position de Gaulles und Macmillans erhärten das - mit dem üblichen, aber jetzt extrem zugespitzten Ressentiments gegen Deutschland und seine ökonomische Potenz. Hier mußte auch Eisenhower als „Kronzeuge" dienen. Und er verband all das mit neuen Drohungen, die einem westlichen Staatsmann gegenüber kaum schärfer hätten artikuliert werden können. Chruschtschow entwickelte Druck, weil er eine endgültige Entscheidung wollte. Er sah Pression immer noch als Möglichkeit, die westliche Geschlossenheit auszuhebein. Zu dieser Taktik gehörte auch die Atomdrohung: (neue Riesenbombe, Trägerraketen, neue Kernwaffentests.) Und vor allem signalisierte er Washington, daß ein bewaffneter Konflikt ein Atomkrieg sein würde. Angesichts seiner Bemerkung über das „militärische Ultimatum" Kennedys muß gefragt werden, ob er die „three essentials" richtig bewertete oder in ihnen die Möglichkeit einer amerikanischen Auslegung sah, die eine Anwendung von Gewalt um Berlin provozieren konnte. Fraglich bleibt auch, wie die übrigen sowjetischen Führer die Lage wirklich beurteilten, was vor allem die Militärs dachten und für den Ernstfall planten. War die Bemerkung über den Druck der Militärs nur eine taktische Finesse? Erst am 13. August war der Beschluß unumkehrbar geworden. Von Ulbricht initiiert, wurde er letztendlich, aber nur durch das sowjetische Einverständnis zum Bündnisgesetz erhoben, wirksam.

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Ebenda, S. 17f.

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Mit den Maßnahmen des 13. August 1961 und der Errichtung der Mauer in den folgenden Monaten sicherte die SED die Existenz der DDR, und erhielt vor allem ihre eigene Macht. Die Mauer türmte sich gegen das eigene Volk auf. Ihre Ergebnisse sind hinreichend bekannt, ihre langfristigen Folgen längst nicht überwunden. Zwar wuchs die Mauer als Bauwerk des Kalten Krieges empor, doch zeugte sie von der Menschenverachtung eines diktatorischen Systems, das die eigene Unfähigkeit in Beton goß und dessen Ausweglosigkeit zu einem Stacheldraht wurde, der - doppelsinnig - letzte Auswege versperrte. So geriet die Mauer der SED nicht nur zum Schandmal, sondern dem gesamten Ostblock zu einem Bollwerk, das nicht einen imaginären Klassenfeind, sondern viele Menschen vom inneren Engagement für den realen Sozialismus abhielt.

15. Der 13. August der SED und seine unmittelbaren Folgen Wenngleich KPdSU und SED nach der Ausschaltung des „Störfaktors" der offenen Grenze nicht ganz zu Unrecht aufbessere Zeiten im nun geschlossenen System hofften, blieb ihnen die Mauer als eigene Bankrotterklärung bewußt. Das SED-Politbüro fühlte sich bemüßigt, auch Moskau gegenüber die Notwendigkeit und Legitimation des „antifaschistischen Schutzwalls" immer wieder zu begründen. Bezeichnenderweise spielten hierbei die veröffentlichten Argumente - Westberlin sei Kriegsherd gewesen, und die Mauer der Weg, um einen Angriff der NATO in letzter Stunde zu verhindern - intern kaum eine Rolle. Die SED führte zu Recht wirtschaftliche Ursachen, den hohen westdeutschen Lebensstandard und das Unvermögen einer „mit dem alten Produktionsapparat arbeitenden" DDR an, den Stand der Bundesrepublik auch nur annähernd zu erreichen. Auch „hausgemachte" Ursachen, zumindest für die Eskalation der Fluchtbewegung, wurden jetzt genannt: „Eine große Rolle spielte auch bei vielen Menschen die Torschlußpanik. Die Propagandakampagne für den Abschluß des Friedensvertrages bis Dezember 1961 und die Feindpropaganda über eventuelle Gegenmaßnahmen veranlaßten manche Leute, die DDR schnell zu verlassen, weil sie annahmen, daß die Grenzen für lange Zeit geschlossen werden." 295 Politische Gründe verschwieg das Politbüro; die Probleme Demokratie, Grundrechte, Freiheit und Reformen gehörten auch im innerkommunistischen Umgang einer Tabuzone an. Dafür nahm Ulbricht sofort theoretische Ableitungen für die KPdSU vor: „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bewiesen, daß es nicht möglich ist, daß ein sozialistisches Land wie die DDR einen friedlichen Wettbewerb mit einem imperialistischen Land wie Westdeutschland bei offener Grenze durchführen kann. Solche Möglichkeiten sind erst gegeben, wenn das sozialistische Weltsystem in der Pro-KopfProduktion die kapitalistischen Länder übertroffen hat." 296 Ulbricht informierte Chruschtschow falsch, wenn er von einem „Umschwung im Denken" der DDR-Bevölkerung, sogar von ihrer „Freude" darüber berichtete, „daß den Feinden ein richtiger Schlag versetzt worden ist." Redete sich das Politbüro diese Zustimmung der Bevölkerung selbst ein? „Nur mit einem Teil der jungen Intelligenz, dem die Erfahrungen der kapitalistischen Zeit fehlen," so führte Ulbricht fort, „gibt es größere Auseinandersetzun295

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Anlage zum Schreiben des Politbüros des ZK der SED an das Präsidium des ZK der KPdSU: „Zur Entwicklung der Lage vom Juli 1961 bis Januar 1962 und zu den nächsten Aufgaben, in: ebenda, J I V 2/202/131, Bd. 7. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 16. 9. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/130, Bd. 6, S. 2.

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gen." 297 Insgesamt schätze er die Lage jetzt so ein, „daß sich die DDR weiter festigen wird. Wir müssen dabei sehen, daß auch, wenn die Grenzen geschlossen sind, der Wettbewerb mit Westdeutschland weiter geht." 298 Die Mehrheit der Bevölkerung der DDR war zweifellos gegen die Grenzschließung. Zur Wahrheit gehört aber auch, daß einige Bürger des realsozialistischen Staates, unter ihnen viele Intellektuelle, die Mauer als eine Chance für politische Reformen ansahen, die nun unter den Bedingungen einer von außen ungestörten Entwicklung möglich schienen. Ulbricht dachte aber nicht an Demokratisierungsprozesse. Gleich nach dem 13. August 1961 nahmen repressive Maßnahmen vor allem gegen die kritische Jugend eher noch zu. „Mit Provokateuren wird nicht diskutiert" war die Losung. Die FDJ ging in den Ordnungseinsatz,299 und repressive Maßnahmen gegen oppositionelle Gruppen, die aber nur vereinzelt sichtbar wurden, zeigten auch die Mentalität übereifriger Funktionäre, Andersdenkende in dem Bewußtsein zu schikanieren, daß diese nicht mehr fliehen konnten. 300 An der Grenze selbst ließ die Parteiführung ein mörderisches Sicherungssystem errichten. Ein „Schießbefehl" erging zumindest indirekt, und er blieb „Schreibtisch"-Tat. Schon am 22. August 1961 erhielt Norden vom Politbüro den Auftrag, bei der NVA und VP zu veranlassen, daß von Gruppen, Zügen und Kompanien „schriftliche Erklärungen" u. a. darüber abgegeben werden, „daß jeder, der die Gesetze unserer Deutschen Demokratischen Republik verletzt - auch wenn erforderlich - durch Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird."301 Zwei Jahre später, im September 1963, prahlte Norden vor Offizieren der Grenzbrigade Berlin: „Ihr haut alle diejenigen auf die Finger, die ihre Schweineschnauze in unseren sozialistischen Garten hineinstecken wollen.[...] Ihr schießt also nicht auf Bruder und Schwester, wenn ihr mit der Waffe den Grenzverletzer zum Halten bringt. Wie kann der ein Bruder sein, der die Republik verläßt, der die Macht des Volkes verrät, der die Macht des Volkes antastet. [...] Mit Verrätern muß man ernst sprechen. Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben, heißt unmenschlich am ganzen Volke handeln." 302 Das war die Diktion jakobinischer Terrorherrschaft. Der Westen reagierte auf die Grenzabriegelung mit verschiedenartigen Protesten. Sie gestalteten sich bei den unmittelbar Betroffenen am schärfsten. Der Regierende Bürgermeister Westberlins, Willy Brandt 303 und die westalliierten Stadtkommandanten 304 antworteten zuerst. Der amerikanische Außenminister und sehr bald darauf die Regierungen der drei Westmächte schlössen sich ihnen mit Noten 305 an. Auch die Bundesregierung schickte eine Protestnote 306 nach Moskau. Doch blieb es bei diesen diplomatischen Aktionen. Der Handlungsspielraum beider Seiten war abgesteckt und die „three essentials" vom Osten respektiert 2 7

9 Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 8. 299 Vgl. J. Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993, S. 54-61. 300 Vgl. H. Weber, Von der SBZ zur DDR, Bd. 2, 1956-1967, Hannover 1967, S. 61. 301 Sitzung des Politbüros, 22. 8. 1961, Anlage 1 zum Protokoll 45/61, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/787, Bl. 11. 302 Protokoll des Referats Nordens vor der Grenzbrigade Berlin, 30. 9. 1963, in: ebenda, NL 217/56, Bl. 161. 303 Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 9287. 304 Vgl. ebenda, S. 9287f. 305 Vgl. ebenda, S. 9290. 306 Vgl. ebenda, S. 9287.

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worden. Niemand erwog ernstlich, der Sowjetunion, die am Rubikon der von Washington markierten Grenze halt machte, der Beschädigung formaler alliierter Prinzipien wegen mit Waffengewalt entgegenzutreten. Die UdSSR versuchte im übrigen, den Mauerbau herunterzuspielen. Die von der DDR getroffenen „Maßnahmen" seien nur „zeitweilige", erfuhren die Westmächte. 307 Nur Willy Brandt verlangte in einem Schreiben vom 16. August von Kennedy, der ihm auch persönlich nahestand, wirksame Gegenmaßnahmen. 3 0 8 Die blieben aus, weil sie neue Spannungen, vielleicht einen bewaffneten Konflikt heraufbeschworen hätten. Die USA beließen es bei demonstrativen Aktionen. So besuchte Vizepräsident Lyndon B. Johnson in Begleitung des ehemaligen amerikanischen Militärgouverneurs in Deutschland, General Lucius Clay, die drei Westsektoren, und die zahlenmäßige Stärke der amerikanischen Garnison wurde hier - mehr symbolisch - erhöht. Die Bundesregierung zeigte sich von den Ereignissen überrascht. Es muß offen bleiben, ob sie wirklich vollkommen ahnungslos war. So hatte der Zeitungsverleger Axel Springer am 28. Juli 1961 sowohl den amerikanischen Botschafter Dowling mündlich als auch Bundesaußenminister v. Brentano (am 29. Juli) in einem Brief davon in Kenntnis gesetzt, daß Ulbricht beabsichtige, einen „perfekten Vorhang" quer durch Berlin zu ziehen. 309 Der 13. August 1961 führte offensichtlich zu „großer Ernüchterung hinsichtlich der Möglichkeiten der westdeutschen Politik" und zu einem damit verbunden „langsamen und schmerzhaften" Prozeß der Überprüfung außen- und deutschlandpolitischer Positionen. 310 Die alte Politik Bonns, die DDR möglichst schnell durch westliche Stärke, mit einem entsprechenden Druck auf Moskau und über die Mechanismen von Alleinvertretung und Hallsteindoktrin einer demokratischen Wiedervereinigung zuzuführen, steckte in einer Sackgasse. Vor allem zeigte sich das Ende des „Rituals westlicher Wiedervereinigungsbeschwörungen", die „nüchternen Formulierungen politischer Minimalpositionen" des Westens wichen. 311 Zwar lieferte der Mauerbau der Bundesregierung auch zusätzliche Argumente gegen das ostdeutsche System gegenüber Drittstaaten, aber die neue Grenzanlage wurde auch hier „ein sichtbares Zeugnis der Eigenstaatlichkeit der DDR." 312 Skepsis und Resignation bestimmten auch das innenpolitische Klima in Bonn. Für die Bundesregierung kam der 13. August auch insofern „ungelegen", als Bundestagswahlen bevorstanden. Die Frage, ob die nach wie vor als „unzuverlässig" beargwöhnte sozialdemokratische Opposition die von Wehner Ende Juni 1960 verkündete Unterstützung der Außen-, Integrations- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung wirklich als eine prinzipielle Einverständniserklärung auffaßte, konnte sie nicht beantworten. Er glaube, schrieb v. Brentano an Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, „daß der sogenannte neue Kurs der Sozialdemo-

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Vgl. Note der UdSSR an die USA, Frankreich und Großbritannien, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/331/Bd. 2. Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 9289f. Vgl. Schreiben Barth's (persönl. Referent Adenauers) an v. Brentano, 3.1. 1962, in: BA Koblenz, NL 239/44, Bl. 195f. H. Haftendorn, Abrüstungs- und Entspannungspolitik zwischen Sicherheitsbefriedung und Friedenssicherung. Zur Außenpolitik der BRD 1955-1973, Düsseldorf 1974, S. 58. Chr. Kleßmann, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1955-1963, in: J. Foschepoth (Hg.), Adenauer und die Deutsche Frage, Göttingen 1988, S. 71. H. End, Zweimal deutsche Außenpolitik. Internationale Dimensionen des innerdeutschen Konflikts 1949-1972, Köln 1973, S. 47.

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kraten nur auf wahltaktische Erwägungen zurückzuführen ist."313 Die von ihm entworfene Regierungserklärung Adenauers (18. August) appellierte mehr an die UdSSR als sie diese kritisierte. Er sei sich darüber im klaren, übermittelte er an Adenauer, daß man sie kritisieren werde, weil sie nicht hart genug ist."314 Im Unterschied zum „Falken" Willy Brandt gehörte Adenauer am 13. August eher zu den „Tauben". Zum einen weigerte er sich auch gegenüber dem drängenden Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, sichtbaren Sofortmaßnahmen zur Vorbereitung eines Kriegs zuzustimmen 315 , zum anderen faßte er den Entschluß, trotz der großen Protestveranstaltung am 16. August vor dem Schöneberger Rathaus nicht nach Westberlin zu fliegen. Er wolle nicht zur Verschärfung der Situation beitragen, begründete er seinen wohldurchdachten Entschluß. 316 Sein Motiv schien glaubhaft. Adenauer wiegelte ab. In den Tagen unmittelbar nach dem 13. August dominierten „Kriegsfurcht, Überlegungen kalter Staatsräson und Wahlkampfkalkül" sein Handeln. 317 Aber er blieb eben in einer entscheidenden Stunde der kühle Pragmatiker. Das kostete ihn wahrscheinlich bei den Wahlen am 17. September 1961 die absolute Mehrheit. Als er - zu spät - nach Westberlin fuhr, war die Unterstützung der Wähler, die ein entschlosseneres Handeln der Regierung erwartet hatten, für die CDU gesunken. 318 Die Bundesregierung führte das für sie unbefriedigende Wahlergebnis sowohl auf „manche eigene Fehler" als auch auf die „unsichere Reaktion unserer Alliierten" zurück. Beide Ursachen hätten dazu beigetragen, die Verwirrung der Wähler zu steigern.319 Auch im Westen ging ein Kapitel der Nachkriegsgeschichte zu Ende.

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Schreiben v. Brentanos an Gerstenmaier, 8. 7. 1961, in: BA Koblenz, NL 239/158, Bl. 228. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 17. 8. 1961, in: ebenda, Bl. 242. 315 Vgl. H.-P. Schwarz, a.a.O., S. 655f. 3 fi i Ebenda, S. 663. 31 ? Ebenda, S. 665. 318 Vgl. ebenda, S. 666. ™ Schreiben v. Brentanos an A. H. van Scherpenberg, 3. 10. 1961, in: BA Koblenz, NL 239/179, Bl. 52. 314

KAPITEL 4

Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach dem Mauerbau 1961-1963

1. Der neue Berlinvorstoß Ulbrichts im Schutz der Mauer im Herbst 1961 und die sowjetische Reaktion Während die Berlinproblematik auf der internationalen Ebene mehr und mehr Gegenstand von Erklärungen und Noten wurde, sicherten SED und Regierung der DDR in aufwendigen Aktionen das politische Umfeld der entstehenden Grenzbefestigungen ab. So wurde die Überwachung der Fernsprech- und Fernschreibverbindungen erweitert und der innerdeutsche Postverkehr neuen Kontrollen unterworfen. Die einzelnen Fachministerien planten Maßnahmen im Falle eines Abbruchs der Nachrichtenverbindungen und des Postverkehrs mit dem Westen ein; sie suchten nach „Ausweichwegen". 1 Am 16. September informierte Ulbricht die sowjetische Führung über die weitere Befestigung der Grenze: „Die Taktik, schrittweise die Maßnahmen durchzuführen," habe es dem Gegner erschwert, „sich über das Ausmaß unserer Maßnahmen zu orientieren und uns erleichtert, die schwachen Stellen an der Grenze zu finden." Ulbricht hatte Anlaß zu Optimismus: „Man m u ß sagen, daß der Gegner weniger Maßnahmen unternommen hat, als zu erwarten war. Die Entsendung von 1500 Mann amerikanischer Banditen wird die Westberliner mehr stören als uns. Der Aufmarsch von Sowjettruppen in Bereitschaftsstellung sowie der Einsatz von Truppenteilen der Nationalen Volksarmee in Berlin hat auf den Gegner sehr ernüchternd gewirkt." 2 Der konfrontative Kurs des Politbüros erhielt zweifellos durch die sowjetische Kraftdemonstration Auftrieb. So hatte Chruschtschow das Politbüro der SED bereits am 28. August streng vertraulich von der Wiederaufnahme sowjetischer Kernwaffentests informiert. „Die Erprobung neuer Typen von Kernwaffen in der Sowjetunion", so erfuhr Ulbricht, sei „zweifellos eine kalte Dusche für die Hitzköpfe im Westen, die im Zusammenhang mit dem Standpunkt des sozialistischen Lagers in der Frage des deutschen Friedensvertrages die Kriegsvorbereitungen verstärken." 3 Das Politbüro verfolgte nunmehr, die Gunst der Stunde nutzend, die Taktik, die erreichten Ergebnisse zügig auszubauen. Dabei ließ es sich von der Erkenntnis leiten, daß die Mauer das Berlinproblem durch den Wegfall der 1

Schreiben von Staatssekretär Serinek (Ministerium für das Post- und Fernmeldewesen) an Ulbricht (mit Anlage), 31. 8. 1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/110, Bd. 1. 2 Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 16. 9. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/130, Bd. 6. 3 Schreiben des ZK der KPdSU an das ZK der SED, 28. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/245, Bd. 2.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

Fluchtmöglichkeit relativiert hatte, es aber als solches nicht endgültig gelöst war. Die SED war mit dem „Schlag" vom 13. August, der schließlich nur die „zweitbeste" Lösung darstellte, ihrem Maximalziel nicht nähergekommen, die Kontrolle über Westberlin zu erhalten. Sie betrachtete es weiter als ihre Aufgabe, den alliierten Status Berlins und die Rechte der Westmächte schrittweise zu Gunsten der DDR abzubauen. Die Fortsetzung dieser Politik setzte nicht nur die Erkenntnis voraus, daß die Berlinkrise weitergehen würde, sondern auch die Bereitschaft, diese durchzustehen bzw. Zuspitzungen in Kauf zu nehmen. Ein derartiger Kurs verlangte Kaltblütigkeit, ein hohes Maß an Kraftvertrauen und wohl auch an Ignoranz. Bereits am 21. August schlug Staatssekretär Winzer Ulbricht vor, nicht nur für in Westberlin tätige Diplomaten, sondern auch für Angehörige der im Westteil akkreditierten Militärmissionen eine Ausweispflicht einzuführen. Das gleiche sollte auch für in der Bundesrepublik arbeitende Diplomaten, „die mit CD-Fahrzeugen in die Hauptstadt der DDR einfahren", gelten.4 Ulbricht wies Winzer an, er solle bei Botschafter Perwuchin anfragen, ob die UdSSR etwas dagegen einzuwenden habe, wenn sich diese Diplomaten an der Grenze zur DDR „mit Papieren ausweisen müssen". 5 Drei Wochen später richtete Ulbricht ein Schreiben an Chruschtschow, in dem der SED-Führer erkennen ließ, daß er die Frage des Luftverkehrs, der Flugverbindungen über dem Hoheitsgebiet der DDR, geklärt wissen wollte.6 Ulbricht nahm wieder einmal sowjetische Deklamationen bewußt wörtlich. Sowohl eine am 25. August vom sowjetischen Botschafter in Bonn Andrej A. Smirnow abgegebene Erklärung, der zivile Luftverkehr nach Berlin solle baldmöglichst in die Hoheit der DDR fallen, als auch eine dementsprechende sowjetische Note vom 2. September, die „unkontrollierte kommerzielle Lufttransporte von deutschem Personal"7 kritisierte, fanden Eingang in Ulbrichts Überlegungen. Beide Ersuchen bzw. Anfragen der SED berührten allergische Punkte des alliierten Berlinstatus und - zumindest teilweise - die „three essentials". Ein offensichtlich beunruhigter Chruschtschow antwortete am 28. September auf den neuen Versuch Ulbrichts definitiv: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen, da die Maßnahmen zur Sicherung und Kontrolle der Grenzen der DDR mit Westberlin erfolgreich durchgeführt wurden, da die Westmächte zu Verhandlungen neigen und in New York bereits Kontakte zwischen der UdSSR und den USA aufgenommen wurden, sollten Schritte vermieden werden, die die Situation verschärfen könnten, besonders in Berlin. In diesem Zusammenhang erscheint es besonders angebracht, sich neuer Maßnahmen zu enthalten, die die von der Regierung der DDR errichtete Kontrollordnung an der Grenze mit Westberlin verändern würde." 8 Chruschtschow plädierte also für eine moderate Politik. Die Frage, inwiefern Ulbricht über die tatsächlichen Ziele verschiedener Aktionen der sowjetischen Politik informiert gewesen war, bleibt offen. Im Fall der Luftkorridore, die vom Westen als „Schlagader der Freiheit" empfunden wurden, versuchte die Sowjetunion gleich nach dem 13. August die „three essentials" auf die Probe zu stellen. 9 Das geschah allerdings sehr vorsichtig. Da in den sowjetischen Verlautbarungen im wesentlichen ein propagandistischer Hauptsatz immer wiederkehrte - die Luftwege von und nach Westberlin würden durch „revanchisti4

Schreiben Ulbrichts an Winzer, 21. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/324. Schreiben Winzers an Ulbricht, Stoph und Maron, 21. 8. 1961, in: ebenda. 6 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 16. 9. 1961, in: ebenda. 7 Vgl. Tass-Meldung, Moskau, 2. 9. 1961. 8 Schreiben Chruschtschows an Ulbricht, 28. 9. 1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/130, Bd. 6. 9 W. Stützle, a.a.O., S. 140f. 5

Der neue Berlinvorstoß Ulbrichts und die sowjetische Reaktion

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sehe" Personen und Organisationen mißbraucht werden - stellten die plakativen Tests gleichzeitig einen Versuch dar, von den Ereignissen am neuen „Grenzwall" abzulenken. Während die Sowjetunion in den ersten Wochen und Monaten nach dem 13. August weitgehend unsystematisch daran ging, die Belastbarkeit der neuen Situation zu prüfen, versuchte die SED, diese „aus der Bewegung heraus" weiter zu verändern. Ulbrichts Andeutungen gegenüber Chruschtschow begannen die Staatsorgane der DDR bereits praktisch umzusetzen. In einigen Fällen verweigerten Volkspolizisten amerikanischen Diplomaten und Offizieren das Betreten Ostberlins, weil sie sich nicht auswiesen. Als ihnen der Zugang durch Eskorten und amerikanische Panzer demonstrativ verschafft wurde 10 , eskalierten die Spannungen. Das Bild der sich Ende Oktober am Berliner Grenzübergang Checkpoint Charlie gegenüberstehenden westlichen und sowjetischen Panzer hätte mit „Kraftprobe" überschrieben werden können; es signalisierte aber durchaus reale Konfliktgefahr. In dem Willen, Entschlossenheit zu demonstrieren, hielten sich die westlichen Militärs nicht immer an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Die schnelle Klärung der Situation unterstrich jedoch ein sowjetisch-amerikanisches Desinteresse an einer Eskalation, die von der DDR provoziert worden war. Die Sowjetunion hinderte das Politbüro zwar nicht an einer „massenwirksamen" Fehldarstellung des Panzerzwischenfalls an der innerberliner Grenze und an Heldenposen - Ulbricht zeichnete u. a. die am Übergang Friedrichstraße diensthabenden Volkspolizisten aus -, untersagte ihr aber einen diplomatisch-politischen Vorstoß. Die Parteiführung nahm zur Kenntnis, daß ihre im Wortlaut fertiggestellte, an die „Regierungen der Welt" adressierte Note über die „amerikanische Provokation" an der Staatsgrenze der DDR „nach dem heutigen Telefongespräch des Genossen Ulbricht [aus Moskau - M. L.] hinfallig geworden ist." 11 Die im aggressiven Ton abgefaßte polemische Note der DDR, die im übrigen völlig absurde Vorwürfe gegen die Amerikaner erhob 12 , stellte den Kompromiß der „three essentials" prinzipiell in Frage. Sie mußte der Sowjetunion als ein Versuch der DDR erscheinen, sich auf internationaler Ebene in Probleme einzumischen, die weder in ihrer Kompetenz lagen noch in dieser Situation „hochgekocht" werden sollten. Der SED mißlang ein taktischer Versuch, den Prozeß des Infragestellens hoheitlicher Rechte in Berlin auf eine primitivkonfrontative Weise im Fluß zu halten. Ulbrichts Aggressivität resultierte auch aus der Erkenntnis, daß das (zweite) sowjetische Ultimatum, Moskau werde bis Jahresende 1961 einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abschließen, durch Chruschtschow am 27. Oktober 1961, anläßlich des XXII. Parteitages der KPdSU, unmißverständlich zurückgenommen worden war. 13 Dies hatte nicht nur zu einer tiefen Enttäuschung beim deutschen Ersten Sekretär gefuhrt, sondern auch die Frage aufgeworfen, wie es nun weitergehen sollte. Eine Perspektive - sei sie offensiv oder defensiv formuliert und ein Plan über die weiteren berlinpolitischen Schritte der Sowjetunion fehlten augenscheinlich. Ulbricht schien auch nicht zu verstehen, daß die „Sicherung" der Grenze und die neuen Kontrollmöglichkeiten - in seinen Augen nichts anderes als eine Verbesserung der sowjetischostdeutschen Position - Chruschtschow nicht zur Fortfuhrung der Offensive veranlaßten. In einem offensichtlich während des XXII. Parteitages der KPdSU, dem er als Leiter der SED-Delegation beiwohnte, verfaßten Brief bat Ulbricht Chruschtschow um eine Konsulta10 11 12 13

Vgl. Archiv der Gegenwart, XXXI., Jg. 1961, S. 9418. Beschluß des Politbüros, Protokoll 55/61, 31. 10. 1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/797, Bl. 2. Vgl. ebenda. Vgl. Rede Chruschtschows, in: Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 9425-9429.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

tion mit dem Präsidium des ZK der KPdSU. Ulbricht verwies nachdrücklich auf seine Anfang August anläßlich der Tagung der Ersten Sekretäre in Moskau mit Chruschtschow getroffene Vereinbarung, daß „vor einem Abschluß eines Friedensvertrages eine Vereinbarung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten über die Westberlinfrage herbeigeführt werden soll". Nachdem Chruschtschow nicht auf einen Friedensvertrag bis zum 31. Dezember 1961 bestehe - so folgerte Ulbricht sei nun die weitere Taktik zu vereinbaren. Er schlug Chruschtschow zunächst eine neue Offerte der DDR an die Bundesrepublik mit folgender „Idee", wie er es nannte, vor: Solange die Herstellung normaler völkerrechtlicher Beziehungen noch nicht möglich sei, müßten Ostberlin und Bonn „ein Minimum an Maßnahmen zur Sicherung des Friedens und der Entwicklung normaler Beziehungen" vereinbaren. Ulbricht sah u. a. die Verpflichtungen beider deutscher Staaten, gegenseitig die Souveränität auf ihren Hoheitsgebieten zu achten, ihre Rüstungen einzufrieren und auf die Produktion von Atomwaffen zu verzichten, als wesentliche Teile seines „Verständigungsvorschlages" an. Im weiteren sollten sich beide deutsche Regierungen über ihre Position zum Inhalt des deutschen Friedensvertrags konsultieren, Verhandlungen über die Gestaltung ihrer Beziehungen „im Sinne einer Konföderation", besonders über die Anerkennung beiderseitiger Reisepässe, über den Verzicht auf Diskriminierungen und den Abschluß eines Handelsvertrags führen sowie für einen Nichtangriffspakt zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO eintreten. Dabei betrachtete Ulbricht ein militärisch neutrales Deutschland als einzigen Ausweg.14 Dieser Vorschlag war nicht neu. Der rationale Kern seines Anliegens lag auf dem Berliner Gebiet. Und hier bezog er wieder „kämpferische" Rechtfertigungspositionen. So verwies er auf die Richtigkeit der Reduzierung der Übergänge zu den Westsektoren auf sieben und auf die Spezifizierung dieser, weil es unmöglich gewesen sei, „an einer größeren Zahl von Kontrollpunkten gleichzeitig Deutsche und Ausländer zu kontrollieren". Botschafter Perwuchin, so führte Ulbricht an, habe gegen diese Maßnahme „mit der Berufung auf ViermächteBeschlüsse Einwendungen erhoben. Dieses Argument konnten wir jedoch nicht anerkennen. Wir lassen uns von dem taktischen Gesichtspunkt leiten, in unseren Sicherungsmaßnahmen so weit zu gehen, daß es nicht zu ernsthaften Komplikationen kommt." 15 Das war außer der dezenten Kritik an Perwuchin eindeutig ein Verlangen nach mehr Verantwortung und Mitbestimmung der DDR. Ulbricht ließ dabei erkennen, daß er bereit war, die Grenzen seines „taktischen" Handelns anzuerkennen. Doch wo lagen diese? Welche Kriterien legten die KPdSU und das Politbüro für „Grenzüberschreitungen" an, und was vor allem verstand Ulbricht unter „ernsthaften Komplikationen"? Er unterbreitete einen Katalog von dringenden Bitten, die folgt man seiner Argumentation - die Risikoschwelle nicht überschritten. Die UdSSR möge von den Westmächten fordern, die Patrouillen der amerikanischen Garnison von Berlin nach Helmstedt, auch wenn sie bislang von UdSSR-Jeeps begleitet wurden, einzustellen. 16 Darüber hinaus bat Ulbricht Chruschtschow, einer Ausweispflicht für alle Militär- und Zivilpersonen der drei Westmächte gegenüber der DDR-Grenzpolizei zuzustimmen. Weigerte sich der Westen, diese Neuregelung anzuerkennen, schlug Ulbricht vor, die Grenze - mit Ausnahme der Verbindungswege - bis zu einem „Ergebnis von Regierungsverhandlungen" zu sperren. Die Westmächte und Bonn würden - darauf müsse man gefaßt sein, so merkte er 14

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 30.10.1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 182/1206, Bl. 34-36. Ebenda, Bl. 32f. 's Vgl. ebenda, Bl. 33. 15

Der neue Berlinvorstoß Ulbrichts und die sowjetische Reaktion

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absichtsvoll an - mit „einem gezielten Embargo" reagieren. 17 Dieser Vorschlag lief auf eine neue Berlinblockade hinaus und schloß eine zügige „Störfreimachung" ein. Ulbricht verfolgte seine Politik der schrittweisen Unterhöhlung des Berlinstatus auch in der Absicht, vollendete Tatsachen zu schaffen. Diese Maßnahmen, suggerierte er Chruschtschow, „bereinigen das Vorfeld für eine friedliche Lösung des Westberlinproblems". Nachdem klargestellt sei, „daß eine Anerkennung irgendwelcher Rechte der Westmächte nicht in Frage kommt", könnten Verhandlungen zwischen der UdSSR und den USA sich auf eine Lösung konzentrieren. Sicher sei, so fuhr er fort, daß sich in Westdeutschland die Auseinandersetzung über die Deutschlandpolitik der Regierung dann zuspitzen würde. Natürlich sei anzunehmen, daß die Sowjetunion auf die Entsendung von Posten zum Ehrenmal (im Tiergarten) und zum Kriegsverbrechergefängnis Spandau verzichten müsse; der sowjetische Vertreter in der alliierten Luftsicherungszentrale „könnte vorerst noch bleiben, obwohl seine Anwesenheit dort soweit die Interessen der Deutschen Demokratischen Republik in Frage kommen - keinen Nutzen bringt". 18 Die Planung Ulbrichts, die sich eindeutig gegen alliierte Abmachungen richtete, sah nach Beginn der Verhandlungen zwischen der UdSSR und den USA einen Beschluß der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung darüber vor, „daß die Gesetze und Verordnungen der Volkskammer entsprechend der Verfassung der DDR in der Hauptstadt der DDR unmittelbar volle Gültigkeit haben." Auch dies bedeutete einen eklatanten Bruch des geltenden Besatzungsrechts, war politisches Hasardspiel. Inwiefern war sich Ulbricht dessen bewußt? Er rechne damit, brachte er für Chruschtschow zu Papier, daß sich in den nächsten Monaten „die Frage des Luftverkehrs zuspitzen wird". „Provokatorische Flüge" von Transportmaschinen und Hubschraubern der Westmächte über der Hauptstadt der DDR erhärteten seine Vermutung, fügte er an. Ulbricht hatte schon eine Lösung bereit: Man müsse ins Kalkül ziehen, daß der sowjetische Vertreter in der alliierten Flugsicherungszentrale gezwungen sein werde, diese „unter Protest zu verlassen". So ergebe sich die Notwendigkeit, sofort eine DDR-Flugsicherungszentrale fertigzustellen. 19 Die SED nehme an, so schloß Ulbricht die Darlegung seiner Gedanken und Wünsche, daß es bei den Verhandlungen zwischen der UdSSR und den USA um die Frage der Verbindungswege nach Westberlin, die „Beseitigung des Besatzungsstatus in Westberlin", eine schrittweise Verminderung der alliierten Streitkräfte auf seinem Territorium, um die Entfernung westdeutscher Dienststellen, die Einstellung der Diversions- und Spionagetätigkeit und die Auflösung des RIAS gehe. Ein Anliegen erschien ihm als besonders wichtig: „Außerdem steht noch auf der Tagesordnung die Beseitigung solcher Reste des Krieges wie die Militärmissionen, die in der DDR ihr Unwesen treiben." 20 Sie waren - wie schon dargelegt - ein besonderer Dorn im Auge der Parteiführung. Die Führung der SED zeigte mehr Selbstbewußtsein. Das gewachsene Vertrauen in die eigene Kraft bekam, wie zu keiner Zeit davor, auch Moskau zu spüren. Als das bekannte sowjetische Presseorgan „Neue Zeit" in ihrer Nummer 46 vom 15. November 1961 eine Landkarte abdruckte, „auf der die Hauptstadt, das demokratische Berlin, als außerhalb der DDR liegend gekennzeichnet" war, beschloß das Politbüro, von der Redaktion der Zeitschrift nicht nur eine Berichtigung des „prinzipiellen politischen Fehlers" zu verlangen, sondern 17

Ebenda, •s Ebenda, 19 Ebenda, 20 Ebenda,

Bl. Bl. Bl. Bl.

36. 38. 39f. 41.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

auch den Vertrieb dieser Ausgabe in der DDR einzustellen bzw. „sie aus den Kiosken zurückzuziehen". 21 Ähnliches sollte erst wieder am Ende der achtziger Jahre unter dem Eindruck der Perestroika geschehen. Obwohl dieser Beschluß eine - wenngleich nicht zufällige - Episode blieb, dokumentierte das Schreiben Ulbrichts vom 30. November 1961 die politischen Ziele und das politische Denken der kommunistischen Führung in Ostberlin in ihrer Kontinuität. Eine Antwort Chruschtschows ließ sich bislang nicht nachweisen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fiel sie so aus, wie sie im Schreiben des sowjetischen Partei- und Regierungschefs am 28. September 1961 an Ulbricht kategorisch fixiert worden war: keine Verschärfung der Situation. Einige Beobachter im Westen vermuteten in den unterschiedlichen Standpunkten Chruschtschows und Ulbrichts, der zu Recht als „Hardliner" gesehen wurde, das Ergebnis einer raffinierten Arbeitsteilung. Die eingesehenen Dokumente bestätigen das Urteil von Hope M. Harrison, daß die Unterschiede zwischen den beiden kommunistischen Führern reale waren und nicht etwa geplante bzw. inszenierte Differenzen. Auch Harrisons Vermutung, daß die Meinungsunterschiede in der Berlinfrage nicht vollkommen beigelegt wurden, trifft zu. 22 Nach dem 13. August 1961 artikulierte sich zum einen die latente Unzufriedenheit mit der Deutschland- und Berlinpolitik der KPdSU, vor allem die mühsam unterdrückte Enttäuschung über die Zurücknahme des friedensvertraglichen Ultimatums. Zum anderen vertrat die SED in einer Situation sich abzeichender Beruhigung nach der Grenzschließung wieder ihr altes konfrontatives Maximalprogramm. Die Defizite der Souveränität der DDR durch die als Folge des Zweiten Weltkrieges entstandenen alliierten Rechte waren 15 Jahre nach Kriegsende für die SED in der Tat schwer zu ertragen. Ihre Forderung, das Berlinstatut und verschiedene fremde Rechte schrittweise zugunsten der eigenen Unabhängigkeit zu beseitigen, schien um so mehr verständlich, als ihre innenpolitische Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stand. Der Bevölkerung mußte endlich Souveränität und Stärke wirksam demonstriert und bewiesen werden, daß die DDR international beachtet wurde und ihre Interessen durchzusetzen vermochte. Gerade im Innern gestaltete sich das Berlinproblem kompliziert. Ein großer Teil der Bevölkerung - wohl wissend, was die Transformation des Westteils Berlins zur Freien Stadt oder ähnliche Pläne ihrer Staatspartei bedeuteten - wünschten hier ganz offensichtlich keine Statusveränderung. Für viele bedeutete die Existenz Westberlins eine Hoffnung. Von hier aus erreichten RIAS und der Sender Freies Berlin auch die ostdeutschen Wohnstuben, und der andere Teil der Stadt besaß für sie trotz der Mauer Anziehungskraft und blieb eine, wenngleich ferne, Alternative. Das Systemduell in Berlin ging weiter, und nicht wenige Ostdeutsche standen insgeheim auf der anderen Seite der Berliner „Barrikade". Der vom Politbüro als großer Erfolg gefeierte 13. August löste verschiedene Probleme der SED nicht. Ihre Angst vor imaginären oder tatsächlichen Agentenzentralen, DDR-feindlichen Organisationen, „Hetzsendern" u.a.m. behielt ihre wichtigste territoriale Basis, „Provokationen" - was immer die SED darunter verstand - drohten weiter. So besaß sie ein vitales Interesse an einer endgültigen Lösung des (ihres) Westberlinproblems. Ende Oktober 1961 standen sich im Osten bei aller Einigkeit im Prinzipiellen, zwei unterschiedliche Wege zur Lösung des Berlinproblems gegenüber: Die UdSSR hielt nach dem Mauerbau vor allem aus weit- und europapolitischen Gründen im wesentlichen an der Respektierung des allierten Berlinstatus, wie es im Juli 1961 vom 21 22

Beschluß des Politbüros, Protokoll 60/61,23. 11. 1961, in: ebenda, JIV 2/2/802, Bl. 1. Vgl. H. M. Harrison, a.a.O., S. 333-348.

Der neue Berlinvorstoß Ulbrichts und die sowjetische Reaktion

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Westen in den „three essentials" definiert worden war, fest. Sie wollte neue Spannungen verhindern und ein durch das schwelende Berlinproblem entstehendes Konfliktrisiko möglichst kleinhalten. Sie übte zwar partiell Druck aus und drohte hin und wieder, hütete sich aber, ihren propagandistischen Ankündigungen Taten folgen zu lassen. Moskau verzichtete keineswegs auf das Ziel einer Statusveränderung in und um Berlin zu seinen Gunsten, sah diese Aufgabe aber nun als langfristig und als nur auf dem Verhandlungsweg lösbar an. Die Mauer verschaffte der UdSSR die für Entscheidungen notwendige Zeit, denn die Gefahr für die Existenz der DDR war zunächst gebannt. Gespräche über endgültige Regelungen wurden jetzt wieder möglich, der Handlungsspielraum für Chruschtschow vergrößerte sich. Die DDR hingegen wollte den Berlinstatus und die „three essentials" nicht anerkennen, sondern möglichst kurzfristig - überwinden. Insofern befand sie sich in einem zeitweiligen methodischen Gegensatz zum gemäßigten Berlinkurs der UdSSR. Ulbricht setzte auf Spannungen; ja er trug zu ihnen in dem Maße bei, in dem er von ihnen eine Beschleunigung des Souveränitätsprozesses erwartete und solange sie nicht - wiederum in seinem Verständnis - einen militärischen Konflikt auslösten. Er zeigte Risikobereitschaft und wich vom Prinzip der Konfrontation nicht prinzipiell und nur selten ab. Seine an Chruschtschow übermittelten Wünsche stellten durchweg, wenngleich unterschiedlich stark, alliierte Abmachungen in Frage. Mehr noch belasteten sie die sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen schon in ihrem Vorfeld. Wollte er sie verhindern? Ulbricht konnte sich über die Risiken eines Kurses, der solche Marksteine wie die Legitimationspflicht für Diplomaten der Westmächte, die Liquidierung der alliierten Luftkontrolle und Militärmissionen sowie den juristischen Anschluß Ostberlins an die DDR setzte, nicht hinwegtäuschen. Dennoch beurteilte er seine Chancen offensichtlich hoch. Er überschätzte sie. Sicherlich lagen der neuen Siegeszuversicht und der nicht nur zur Schau gestellten Offensivmentalität eine Reihe fundamentaler politischer Fehlanalysen zugrunde. Illusion und Wirklichkeit lagerten im politischen Denken des Politbüros dicht nebeneinander, Spekulation und nüchterne Sichten gingen eine enge Symbiose ein. Der 13. August bildete sich im politischen Verständnis der SED zweifellos als ein Erfolg ab. Waren die Bedingungen für eine Lösung des WestberlinProblems nicht tatsächlich günstiger geworden? Warum, so mochte sich Ulbricht fragen, sollten Schritte, die in seinem Denken im Vergleich zum geglückten großen Coup des 13. August die kleineren waren, mit etwas Fortune nicht möglich sein? Für Ulbricht stellte sich überdies der in vielem unerwartet geringe Widerstand des Westens, aber auch im eigenen Land, als Schwäche der „Konterrevolution" - vor allem der USA - dar. Ulbricht war zu klug, um seine Gegner einfach zu unterschätzen. Er überschätzte vielmehr die eigenen und sowjetischen Positionen und auch Widersprüche im westlichen Bündnis. Oppositionelle Bewegungen in der Bundesrepublik bewerteten er und das Politbüro in der Regel zu hoch. Zu schnell leiteten führende Funktionäre der SED von an sich ganz unwesentlichen Niederlagen Adenauers, dessen Einbruch bei den Herbstwahlen 1961 geradezu als Flammenzeichen einer neuen „antiimperialistischen" Oppositionsbewegung in Westdeutschland begrüßt wurde, den eigenen politischen Sieg ab. Als ein geradezu konstitutives Element „traditionellen" Siegesdenkens wirkte die ewige Hoffnung auf die große Krise im Westen. Andererseits war das Warten auf eine Veränderung, die in vielem schon mit dem Sturz Adenauers erreichbar schien, nicht völlig unbegründet. Bonner Kontroversen entzündeten sich mehr und mehr an der Deutschlandpolitik. In der neuen Koalition auf Zeit mit der widerborstigen FDP kriselte es, bevor der „Alte" am 8. November zum vierten Mal zum Bundeskanzler gewählt wurde. Bis zuletzt, wie auch das

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Politbüro wußte, sperrte sich die Bundestagsfraktion der Liberalen gegen eine neue Kanzlerschaft Adenauers. „Wir müssen alles versuchen, um nötigenfalls eine Handvoll vernünftiger Menschen aus der FDP herauszubrechen. Dazu können [...] informelle Fühlungnahmen dritter Personen beitragen."23 Diese Zeilen H. v. Brentanos zur Kanzlerwahl im Bundestag hätten auch, wenngleich mit einer ganz anderen Zielsetzung, von Ulbricht geschrieben sein können. Die SED und Blockparteien gingen bei ihrer Suche nach neuen Bündnispartnern daran, die FDP noch stärker deutschlandpolitisch zu infiltrieren.24 Sozial- und freie Demokraten, auf die man in Ostberlin setzte, sollten vor allem für die friedensvertraglichen Vorstellungen der SED gewonnen werden. Der Westen blieb präsent. Bei alldem war augenfällig, daß die SED auch deshalb taktierte, weil ihre Leitmacht, wie schon angedeutet, über ein klares politisches Konzept offenbar nicht verfügte. Interessenkonflikte zwischen den Führungen von KPdSU und SED konnten erst aufbrechen, nachdem die existentielle Frage für die DDR mit dem Mauerbau gelöst war. Meinungsverschiedenheiten mit der sowjetischen Botschaft entstanden vor allem deshalb, weil diese unmittelbar für den Verkehr mit den Westmächten in Berlin verantwortlich zeichnete und sich mit den westalliierten Stadtkommandanten in praktischen Fragen arrangieren wollte. Es muß auch die Frage gestellt werden, ob sowjetische Politiker, einschließlich der Diplomaten in Deutschland, gegenüber dem zunehmend fordernden, aber auch belehrenden Unterton Ulbrichts subjektive Aversionen entwickelten und in welchem Maße dies einen politischen Niederschlag fand.

2. Die forcierte Berlinplanung der SED im Kontext westlicher Unsicherheiten und Ost-West-Sondierungen Die Führung von SED und Staat ging nach wie vor von der Notwendigkeit - aber auch der Realisierbarkeit - eines Friedensvertrags aus. Wegen der sowjetischen taktischen Kurskorrektur wußte das Politbüro, daß Moskau, die Idee des ultimativen Separatvertrags zurücknehmend, nun wieder eine Regelung mit beiden deutschen Staaten anstrebte. Für die UdSSR, die der globalen außenpolitischen Konzeption der Besitzstandsicherung folgte, war ein Separatvertrag nur mit der DDR an sich wertlos. Sie wollte die Bundesrepublik in ein völkerrechtswirksames friedensvertragliches System einbinden. Zwar blieb ein Friedensvertrag nur mit der DDR eine theoretische Variante; er konnte aber praktisch nur als Drohung, die sich abgriff, von - zweifelhaftem - Wert sein. Da ein gesamtdeutscher, mit einem gesamtdeutschen Rat o. ä. Gremien abgeschlossener Friedensvertrag nicht mehr in Frage kam, blieb der Sowjetunion nur die Perspektive, Friedensverträge mit der DDR und mit der Bundesrepublik abzuschließen. Demgegenüber behielt die SED die Möglichkeit eines Separatvertrags nach dem Muster der Chruschtschow-Ankündigung vom Juni 1961 als Maximallösung für die DDR im Visier und sah ihn, offensichtlich im Unterschied zu den in dieser Frage bestimmenden Kräften in der sowjetischen Führung, als erreichbar an. Diese Variante eines Separatabkommens bot im Verständnis der Parteiführung den kürzesten Weg zu Souveränität und " Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 20. 9. 1961, in: BA Koblenz, NL 239/158, Bl. 259f. 24 Vgl. Vorlage für die 26. Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstandes der LDPD, 24. 10. 1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/15/75, S. 15.

Berlinplanung der SED im Kontext westlicher Unsicherheiten

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Anerkennung, letztlich auch zu innerer Stabilität. Ein gesamtdeutscher Friedensvertrag, wie er noch vor 1961 von der SED angesichts der Republikflucht-Problematik für nützlich gehalten worden war, verlängerte diesen Weg augenscheinlich, pflasterte ihn mit unwägbaren Risiken und stellte die Frage, wohin er am Ende führe. Im Falle separater Friedensverträge aller Siegermächte des zweiten Weltkriegs mit der DDR und der Bundesrepublik mußte die SED Zugeständnisse an den Westen und an die Bundesrepublik einkalkulieren. Wenngleich er u. a. deshalb nicht als beste aller Möglichkeiten empfunden wurde, stellte sich jedoch ein mit beiden Staaten getrennt abgeschlossener Friedensvertrag, weil er Chancen für eine Anerkennung der DDR in sich barg, gegenüber dem für die SED unbefriedigenden Status quo immerhin als die bessere Lösung dar. So fixierte die Parteiführung in ihren Planungen diese von der UdSSR vorgegebene Lösungsvariante. Ihre Konzeption der Vorbereitung war einfach und plausibel: Da am Termin der Friedenskonferenz für 1961 nicht festgehalten werden könne, müsse die DDR prüfen, „welche wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen und evtl. auch militärischen Schritte und Maßnahmen sie unternehmen muß, um die am 13. August gewonnene Position zu festigen und auszubauen". 25 So gingen einige im politischen Denken der SED-Führung dringliche praktische Maßnahmen weiteren friedensvertraglichen Planungen voraus: Am 15. September wurde die bislang dem Innenministerium unterstellte Deutsche Grenzpolizei dem Verteidigungsministerium zugeordnet und ein Kommando der Grenztruppen der DDR gebildet. Fünf Tage später beschloß die Volkskammer im Verteidigungsgesetz die allgemeine Wehrpflicht. Sie wurde auf Ostberlin ausgedehnt. Die „allseitige Stärkung" der DDR, zum propagandistischen Begriff geworden, bildete die Grundlage für die systematische Vorbereitung eines separaten Friedensvertrags. Die SED strebte dazu eine Außenministerkonferenz der sozialistischen Staaten für Dezember 1961 an. Wichtig war die im Zusammenhang mit der internen Diskussion über ein „Gesetz über die Staatsbürgerschaft" der DDR entstandene Festlegung der SED-Spitze, daß im Friedensvertrag mit der DDR nicht mehr von deutschen Staatsbürgern, sondern von Staatsbürgern der Deutschen Demokratischen Republik gesprochen werden dürfe. 26 So zeigte sich gerade auf diesem sensiblen Gebiet nach dem 13. August 1961 bereits ein gezielter Abgrenzungskurs. Das Politbüro erteilte dem MfAA im September 1961 den Auftrag, die durch den 13. August 1961 unterbrochenen konzeptionellen Überlegungen über einen separaten Friedensvertrag mit der DDR zügig fortzusetzen. Die Grundlage hierfür bildete der Entwurf eines Friedensvertrags mit der DDR, den die Sowjetunion - offensichtlich als Alternativmodell zum Vorschlag eines Friedensvertrags mit Gesamtdeutschland (vom 10. Januar 1959) - bereits im Frühjahr 1959 nach Berlin gesandt hatte. Wegen der sich anders als erwartet entwickelnden Ereignisse wurde er aber nicht mehr diskutiert. Für die Politbüroberatung am 16. September 1961 erhielt Ulbricht von Winzer eine Übersicht der anstehenden Probleme und Aufgaben zum Friedensvertrag und zur Berlinpolitik, „wie sie sich aus den bisherigen Beratungen und Vorschlägen des MfAA ergeben." 27 Das in diesem Zusammenhang erarbeitete vorläufige Konzept stellte lediglich eine Stellungnahme zum inzwischen zweieinhalbjährigen sowjetischen Entwurf und eine Modifizierung der ostdeutschen Wünsche vom 24. Juli 1961 dar. So 25

26 27

„Vorschläge zur Diskussion über die weitere Taktik der D D R im Kampf um den Friedensvertrag und die Lösung der Westberlin-Frage", undat. (1961), in: ebenda, J IV 2/202/127, Bd. 3. Vgl. ebenda. Schreiben Winzers an Ulbricht, 16. 9. 1961, in: ebenda, J IV 2/202/130, Bd. 6.

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ging die SED von einer prinzipiellen Anerkennung der Auslandsschulden des deutschen Reiches vor 1945 aus, ohne zu spezifizieren, an wen die DDR diese - anteilmäßig - und in welcher Höhe begleichen würde. Sie verweigerte aber eine Entschädigung für Verluste, die Deutsche während des Kriegs durch alliiertes Einwirken erlitten hatten und schlug einen deutsch-sowjetischen Austausch von im Krieg geraubten Kunstschätzen vor. Sie regte außerdem an, Bestimmungen über Westberlin nicht in den separaten Vertrag, sondern in ein Zusatzprotokoll aufzunehmen. Bis Oktober 1961 sollten weitergehende Überlegungen über Folgeabkommen des Friedensvertrags vorgelegt werden. Insgesamt deckte sich die ostdeutsche Stellungnahme mit dem Inhalt und Ziel des Friedensvertragsentwurfs der UdSSR. Als eine DDR-Vertragsdisposition betonte sie aber „die Stellung der DDR als souveräner Staat", vor allem die ihr „mit dem Abschluß eines Friedensvertrages eingeräumten Rechte" stärker.28 Das Dokument enthielt u. a. eine Reihe realistischer Vorschläge. So sah es neben der OderNeiße-Grenze ein zeitweiliges Verbleiben beider Staaten in ihren Militärblöcken vor und erkannte die Auslandsschulden des ehemaligen Deutschen Reiches und Entschädigungen für die von den Nationalsozialisten angerichteten Schäden im Ausland prinzipiell an. 29 Am 16. September 1961 beriet sich Ulbricht mit leitenden Partei- und Staatsfunktionären, darunter Paul Verner, Heinz Hoffmann, Horst Keßler, Peter Florin, Sepp Schwab und Erich Mielke über rechtliche und wirtschaftliche Probleme des Friedensvertrags, aber auch über Fragen des Verkehrs und der Rückgabe von Kulturgütern. Bemerkenswert hierbei war der Umstand, daß man offensichtlich von einem Friedensvertrag der DDR zunächst nur mit der Sowjetunion ausging. 30 Die angestrengten Arbeiten zur Vorbereitung eines Friedensvertrags, aber auch die realistischen Ansätze im Detail lassen erkennen, daß es die DDR mit einer vertraglichen Regelung ernst meinte. Parallel dazu verlief die Arbeit an einer „Deklaration über die Bildung der Freien Stadt Westberlin" und an einem „Statut der Freien Stadt Westberlin". „Die Deklaration über die Bildung der Freien Stadt Westberlin" - so meldete Sepp Schwab - sei „als ein ganz neues Dokument ausgearbeitet worden". Der stellvertretende Außenminister informierte Ulbricht, die im Statut enthaltene wichtigste Verpflichtung für den Stadtstaat, „keine politische oder wirtschaftliche Vereinigung mit einem anderen Staat einzugehen", habe das MfAA dem österreichischen Staatsvertrag [Mai 1955] entnommen. Hier ginge es eben auch um die Verhinderung des Beitritts Westberlins zur EWG". 3 1 Sieht man von der Anmaßung der SEDFührung ab, Deklarationen und Statute für ein Territorium auszuarbeiten, über das sie weder Mandat noch Macht besaß, so kommt einerseits die illusionistische Tendenz in der Ostberliner Politik zum Ausdruck. Andererseits trat aber auch die Tatsache hervor, daß die SED intern an ihren Maximalvorstellungen festhielt und sich nach wie vor Realisierungschancen ausrechnete. Ob Pläne Wirklichkeit werden würden, hing natürlich vom Westen, aber auch von der Sowjetunion ab. Am Jahresende 1961 war absehbar, daß die Berlinproblematik auch 1962 der Hauptgegenstand der SED-Deutschlandpolitik sein würde. Propagandistisch begann das neue Jahr eigentlich bereits am Ende des alten mit der Auswertung des XXII. Parteitages der KPdSU. In Verkennung der wirtschaftlichen und 28

29 30 31

Papier des M f A A : „Probleme und Aufgaben im Zusammenhang mit der Vorbereitung und den Abschluß eines Friedensvertrags mit der D D R " , 16. 9.1961, mit Anschreiben Winzers an Ulbricht, in: ebenda, J IV 2/202/130, Bd. 6, S. 1. Vgl. ebenda, S. 3, 6. Vgl. „Protokoll über Besprechung bei Genossen Walter Ulbricht", 16. 9. 1961, in: ebenda. Streng geheim: Schreiben Winzers an Ulbricht, 5. 10. 1961, in: ebenda.

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sozialen Ressourcen der UdSSR hatte die sowjetische KP den Aufbau des Kommunismus beschlossen. Natürlich vermittelten die Erfolge der Sowjetunion nicht nur ihren Bürgern den Eindruck eines kraftvollen Aufstiegs. Die Umstellung der Rubelwährung im Verhältnis 10:1 im Januar 1961, die Inbetriebnahme eines neuen Wolgakraftwerks im September und des ersten Aggregats des Bratsker Wasserkraftwerkes im November u.a.m. erweckten den Eindruck von Stabilität und eines gigantischen wirtschaftlichen und technischen Aufschwungs. Mehr noch beeindruckten die Welt der Triumph der Sowjetunion im All: Am 12. Februar 1961 startete eine Venussonde in den Weltraum, am 12. April umkreiste der sowjetische Fliegermajor Juri Gagarin mit seinem Raumschiff Wostok 1 als erster Mensch die Erde, und im August umflog sein Kollege, Major German Titow, gleich siebzehnmal den „blauen Planeten". All das und die kommunistischen Hoffnungen und Wünsche erfüllten auch die Delegierten des 14. Plenums des ZK der SED vom 23.-25. November 1961, die dem Referat des Ersten Sekretärs Walter Ulbricht zuhörten. Die sowjetischen Reformansätze und die Weiterfuhrung der schwierigen Entstalinisierung standen nicht im Vordergrund seiner Auswertung des XXII. Parteitages. Dagegen nahmen der „Erfolg" am 13. August 1961, neue Pläne und Ziele der DDR, aber auch die Aufgaben eines Friedensvertrags und einer Berlinregelung einen großen Teil seiner Ausführungen ein. Sie gipfelten in der Behauptung, daß die DDR „der rechtmäßige deutsche Staat" und „zugleich auf Grund der geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten der berufene Vertreter der nationalen Interessen des Deutschen Volkes" sei. 32 Indes hatte das ZK keinen Grund zum Jubeln. Die innenpolitische Krise wirkte auch nach dem Mauerbau in die Planwirtschaft hinein. Sie produzierte eine Wirklichkeit, die von wirtschaftlichen Mißerfolgen gezeichnet war. Zwar mußten die Unzufriedenen nun im Land bleiben, doch erzeugten vor allem die Folgen der Zwangskollektivierung im Agrarbereich, die erst jetzt voll auf die Lebensmittelversorgung durchzuschlagen begannen, immer neue Verärgerung und Demotivation. Dennoch versuchte Ulbricht - in der Öffentlichkeit immer ein wenig den Eindruck erweckend, als verfüge er mit der DDR nicht über einen kleinen Staat, sondern über eine potente Großmacht - in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Anfang Januar 1962 unterrichtete ihn Moskau über die Gespräche Gromykos mit dem Botschafter der USA in der UdSSR, Llewellyn Thompson. Ulbricht erfuhr, daß die USA, kämen Gespräche über Berlin zustande, sie über die Gesamtstadt, also auch über ihren Ostteil, zu führen gedachten und nicht bereit seien, Behinderungen des alliierten Personals durch Organe der DDR in Kauf zu nehmen. Thompson erklärte zudem, die Westmächte würden die DDR weder de jure noch de facto anerkennen. 33 Ulbricht nahm aber auch die Entgegnung Gromykos zur Kenntnis: Bei einem Scheitern der Bemühungen um einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland werde ein Separatvertrag mit der DDR abgeschlossen, und dann seien die USA gezwungen, über die Zufahrtswege nach Westberlin mit der DDR eine Übereinkunft zu treffen. Bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags mit der DDR könnte man jedoch - so schlug der sowjetische Außenminister seinem amerikanischen Kollegen vor - über den Status Westberlins als freie entmilitarisierte Stadt eine Übereinkunft treffen. 34 Thompson antwortete laut Bericht mit einem Gegenvorschlag der USA: Erstens die Bildung eines Korridors zwischen Westberlin und Westdeutschland unter Kontrolle der Westmächte 32 33

34

Referat Ulbrichts auf der 14. Tagung des ZK der SED, 23.-25. 11.1961, in: ebenda, NL 90/295, Bl. 25. Vgl. „Aufzeichnung der Unterredung des Genossen Gromyko mit Botschafter Thompson" (dt. Übersetzung), 2. 1. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/131, Bd. 7, S. 2f. Ebenda, S. 6.

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und zweitens die Schaffung eines internationalen Organs, das den freien Zugang zur Stadt sichert, möglicherweise unter Beteiligung von Vertretern beider Staaten.35 Diesen Plan lehnte Gromyko mit dem Verweis auf die souveränen Rechte der DDR ab. Die Begegnung in Moskau zeigte, daß die sowjetische Führung wieder eine härtere Gangart anzuschlagen begann. War dies auch ein Resultat der ergebnislosen Gespräche, die Gromyko mit dem amerikanischen Außenminister Dean Rusk im September 1961 in New York geführt hatte? Vermutete die sowjetische Führung in der Kompromißbereitschaft der Amerikaner Schwäche? Gromyko hatte jedenfalls mit einem Anflug von Überheblichkeit nach Ostberlin berichten lassen, daß während des ganzen Gesprächs zu spüren gewesen sei, „daß Rusk nur den Gedanken suggerieren wollte, einen Zusammenstoß zwischen der UdSSR und den USA unbedingt zu vermeiden. Es war zu spüren, daß dies der Hauptgedanke war."36 Eine zu „weiche" Haltung unterstellte auch die Bundesregierung dem amerikanischen Außenminister, als der sich bereit zeigte, über alles - auch über atomwaffenfreie und entmilitarisierte Zonen in Europa und über den militärischen Status der Bundesrepublik - zu sprechen: „Aber da geben wir doch alles einfach weg!", rief Adenauer entsetzt aus.37 Außenminister v. Brentano schrieb an den deutschen Botschafter beim Vatikan: „Herr Rusk scheint gar nicht zu merken, daß er ständig eigene Positionen preisgibt und sich in einer lebensgefährlichen Weise dem Standpunkt der Gegenseite annähert." Er (Brentano) werde nicht darauf verzichten, „auf die Entwicklung in Washington Einfluß zu nehmen; davon hängt mehr ab als von den innenpolitischen Diskussionen in Bonn". 38 Die Verstimmung in der Bundesregierung über die Anzeichen eines Arrangements zwischen Moskau und Washington ohne eine ihres Erachtens genügende Berücksichtigung der deutschen Interessen erhöhte für den Bundeskanzler die Attraktivität der von seinem Moskauer Botschafter Hans Kroll favorisierten Idee direkter Verhandlungen zwischen ihm und Chruschtschow. 39 Der eigenwillige Kroll, der zum sowjetischen Partei- und Regierungschef einen vergleichsweise engen Kontakt unterhielt, entwickelte eine eigene, mit Adenauer und dem Auswärtigen Amt - letztes stand ihm ohnehin mit Distanz gegenüber - vorher nicht abgesprochene Initiative. Am 9. November 1962 suchte er Chruschtschow auf und unterbreitete ihm den Vorschlag eines Viermächte-Abkommens über Berlin. Der Übereinkunft sollte laut Kroll ein gesonderter Vertrag zwischen der UdSSR und der DDR mit der Bestimmung folgen, dieses alliierte Viermächte-Abkommen seitens Ostdeutschlands „loyal zu erfüllen". Gleichzeitig sah Kroll ein Abkommen zwischen „der Stadt Berlin" und der DDR „über die praktische Regelung aller technischen Fragen, die die Verbindung Berlins mit der Außenwelt" - insbesondere mit der Bundesrepublik - regelte, vor. Im übrigen sollte eine Verständigung (als pactum de contrahendo) zwischen der UdSSR und den drei Westmächten darüber hergestellt werden, daß bald nach dem Abschluß eines Berlin-Abkommens Verhandlungen über den Abschluß des Friedensvertrags und über Abrüstung begonnen werden würden. Dieses Verfahren, so schloß Kroll, setze die Verpflichtung aller Partner voraus, unverzüglich 35 Vgl. ebenda, S. 12. Niederschrift der Unterredung zwischen Gromyko und Rusk (Dt. Übersetzung), 21. 9. 1961, in: ebenda. 37 H. Osterheld, „Ich gehe nicht leichten Herzens...". Adenauers letzte Kanzleijahre - ein dokumentarischer Bericht, Mainz 1987, S. 73. 38 Schreiben v. Brentanos an Botschafter (beim Hl. Stuhl) A. H. van Scherpenberg, 3. 10.1961, in: BA Koblenz, NL 239/179, Bl. 53. 39 Vgl. Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann, S. 700-702. 36

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alles zu tun, um die Weltlage zu verbessern und internationale Spannungen abzubauen. 4 0 Kroll warnte im Anschluß an seine Vorschläge Chruschtschow davor, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Dadurch entstehe die Gefahr, „daß sich die Sowjetregierung [...] in bestimmten Fragen die Hände bindet und somit ihre Möglichkeiten für künftige Verhandlungen mit der Bundesrepublik einengt". Persönlich an Chruschtschow gewandt, merkte er an, daß dieser natürlich entgegnen könne: „Kroll ist ein alter Fuchs, er will den Abschluß eines Friedensvertrags mit der DDR verzögern." Dennoch sei seine (Krolls) Bemerkung „kein Trick". Er meine jedoch, daß, bevor Friedensvertragsverhandlungen „mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg begonnen werden können, erst eine Entspannung erzielt werden [muß]. Gegenwärtig sind die Beziehungen zwischen den Ländern zu sehr gespannt." 41 Chruschtschow hielt zwar an der Alternative des separaten Friedensvertrags mit Ostberlin fest. Er erklärte jedoch das Einverständnis seiner Regierung - sollte sich die westliche Seite mit einem Gesamtfriedensvertrag und zu einer Lösung des Berlin-Problems auf dieser Grundlage nicht bereit finden -, „uns vorher mit den Westmächten über das Statut der Freien Stadt zu verständigen, um dieses dann dem Friedensvertrag mit der DDR als Anhang beizufügen". Er sei auch mit den anderen Punkten Krolls einverstanden. 42 Als der Botschafter, der offensichtlich etwas überrascht war, fragte: „Die wirtschaftlichen und finanziellen Verbindungen der Bundesrepubik mit Westberlin werden also bestehen bleiben?", bejahte Chruschtschow, stellte aber die Bedingung, „daß weder die DDR noch die Bundesrepublik irgendwelche Regierungsstellen in der Freien Stadt unterhalten". 43 Chruschtschow äußerte auch die Ansicht, man müsse, nachdem beide Seiten ihre militärische Macht verstärkt hätten, „einige Schritte zurück tun". Als Kroll anmerkte, daß die „Hauptsache" die Beseitigung der Berliner Mauer sei, wehrte der Erste Sekretär des ZK der KPdSU ab: „Das wird schwer gehen. Darüber müssen sie mit Ulbricht sprechen. Vielleicht geht es, aber dazu bedarf es einer Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR und zwischen Westberlin und der DDR. Andernfalls wird die Mauer noch fester werden." 44 Chruschtschow bat, Adenauer seine besten Grüße zu übermitteln, merkte aber sarkastisch an, „es wäre gut, wenn der Kanzler eine kalte Dusche nehme. Er muß sich von den Krusten säubern, die sich in all den Jahren angesetzt haben, und den Weg für eine Realpolitik freimachen. Es steht mir natürlich nicht an, mich in Ihre Bündnisangelegenheiten einzumischen, aber der Westpresse nach zu urteilen, verfolgt die Bundesrepublik eine derart unreale Politik, daß selbst Amerika, England und Frankreich schon anfangen, verärgert darüber zu sein." Nach einer kurzen Diskussion über die Eigenständigkeit westdeutscher Politik sagte Kroll, „daß es sich um einen rein persönlichen Plan handelt. Aber ich werde mich bemühen, den Kanzler von seiner Zweckmäßigkeit zu überzeugen." 45 Abschließend meinte Chruschtschow, die Idee der Freien Stadt stamme von ihm. „Ich habe viel überlegt, konnte aber nichts besseres finden. [...] Wenn eine Freie Stadt geschaffen wird, so sind wir zu beliebigen Garantien bereit." Die UdSSR sei auch gewillt, den von Kroll herausgestellten Gefühlen der Deutschen gegenüber Berlin als die 40

„Auszüge aus der Unterredung des westdeutschen Botschafters in Moskau, H. Kroll, mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, N. S. Chruschtschow", 9.11.1962, in: SAPMO-BArch, JIV 2/202/132, Bd. 8, S. 1-3. 4) Ebenda, S.5f. 42 Ebenda, S. 6f. « Ebenda, S. 7f. 44 Ebenda, S. 9. 45 Ebenda, S. 10.

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traditionelle Hauptstadt „soweit es unter den entstandenen Bedingungen möglich ist", Rechnung zu tragen.46 Er erklärte sein Einverständnis mit Krolls Bitte, wegen des „inoffiziellen" Charakters des Besuchs in einer Verlautbarung nicht zu erwähnen, daß er „auf meinen Wunsch" stattgefunden habe. 47 Von dieser interessanten Unterredung - Kroll erstattete dem über den Alleingang nur mäßig überraschten Adenauer darüber in Bonn Bericht - wurde Ulbricht von Chruschtschow umgehend in Kenntnis gesetzt. Insofern erhielt der Moskauer Gedankenaustausch eine „gesamtdeutsche" Dimension. Das Politbüro konnte befriedigt zur Kenntnis nehmen, daß ein separater Friedensvertrag mit der DDR und über die „Freie Stadt" für die KPdSU offensichtlich wieder aktuell zu werden schien.

3. Solidaritätsansprüche und neue offensive Ansätze im politischen Kurs der SED-Führung versus sowjetische Versuche zur „Dämpfung" Ulbricht reagierte erfreut über das sowjetische Beharren: „Das ZK der SED dankt dem ZK der KPdSU für die bedeutende Hilfe, die uns die Sowjetregierung gewährt." Dank gesagt wurde auch für die Übermittlungen des Geprächsprotokolls Gromyko-Thompson und für die Verhandlungsdirektive für Gromyko anläßlich seines Treffens mit Rusk. 48 Zeitweilig schienen die taktischen Standpunkte von KPdSU und SED nun wieder eine Einheit zu bilden. Die DDR erklärte sich damit einverstanden, so formulierte es Ulbricht, „eine Schiedskommission der Garantiemächte für die Schlichtung von Streitigkeiten in Fragen der Zufahrtswege anzuerkennen." 49 Dies war jedoch weniger ein Zugeständnis der SED als eine probate Möglichkeit, als Mitglied der Kommission eine internationale Anerkennung zu gewinnen. Dafür konnte sie auf anderem Gebiet zurückstecken. So teilte Ulbricht der sowjetischen Führung mit, daß die „Zwischenfälle" mit Offizieren der westlichen Militärmissionen zwar „sehr unangenehm" seien, die ostdeutsche Führung aber „Befehl gegeben [habe], daß gegenüber Kraftwagen von Militärmissionen, auch wenn sie sich im Sperrgebiet befinden, von der Schußwaffe nicht Gebrauch gemacht werden darf'. 50 Leiteten versöhnliche Gesten, wie es in der Politik der SED wiederholt vorgekommen war, am Ende nur eine neue Offensive ein? In der Tat war das so. Diesmal ging es gegen die westalliierten Reisebüros, die über die Einreise von Bürgern der DDR in das westliche Ausland entschieden. Das MfAA kündigte in einer internen Erklärung die Errichtung von konsularischen Büros der DDR im Ausland an. Im Außenministerium entbrannte, wie Winzer Ulbricht am 6. Februar 1962 berichtete, „eine recht hitzige Debatte". Offensichtlich verlangte die Parteiführung eine solche Erklärung, denn niemand im Kollegium des MfAA, der Minister eingeschlossen - meinte Winzer - sehe „gegenwärtig auch nur die geringste Chance einer Verwirklichung" [von konsularischen Büros der DDR im Ausland], Man sei der Auffassung, fuhr er fort, „wir würden uns damit nur eine neuerliche politische diplomatische Niederlage einhandeln, die uns sowohl gegenüber

46 47 48 49 50

Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 12. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 30. 1. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/132, Bd. 8, S. 2. Ebenda. Ebenda, S. 3.

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der Bevölkerung der DDR als auch gegenüber der internationalen Öffentlichkeit von Schaden sein müßte". Im übrigen befürchtete Winzer durch eine Veröffentlichung die Gefährdung noch bestehender Reisemöglichkeiten. 51 Die Liquidierung der Travelboards und die Anerkennung von Pässen der DDR könne, so urteilte der Staatssekretär, „öffentlich nur durchgesetzt werden, wenn die DDR in dieser Sache die volle und aktive Unterstützung der Staaten des Warschauer Vertrages hat so wie Bonn in seiner Alleinvertretungsanmaßung die Unterstützung der NATO hat" 52 . Damit war ein heikles Thema angeschnitten. Die willkürliche Handhabung von Reisegenehmigungen für das „kapitalistische Ausland" - d. h. für die Einreise in Staaten, in denen die DDR keine konsularischen Vertretungen unterhielt - verärgerte die SED zu Recht. Andererseits verfuhren die westlichen Travelboards selektiv und kleinlich, weil inzwischen fast nur noch regimetreue Bürger der DDR in westliche Richtung reisen durften. Dieser Eingriff in die Souveränität der DDR wog um so schwerer, als die Bündnispartner der DDR bislang nur unzureichend Hilfe leisteten bzw. - wegen ihrer eigenen Schwäche - zu wirksamen Hilfeleistungen kaum in der Lage waren. Ulbricht ging das Problem jetzt prinzipiell an. Er bat das Präsidium des ZK der KPdSU am 8. Februar, sich für ein „solidarisches Eintreten" aller Staaten des Warschauer Paktes und dafür auszusprechen, allen Versuchen entgegenzuwirken, DDR-Bürger durch die Verweigerung von Reiseerlaubnissen von wissenschaftlichen, technischen, kulturellen und Sport-Veranstaltungen auszuschließen. Das sei laut Ulbricht entweder durch die Errichtung von DDR-Konsulaten möglich, oder - falls dies nicht zu realisieren sei - durch die Wahrnehmung der Interessen der DDR durch befreundete Länder. Er ließ anklingen, daß diese ein zu geringes Interesse am internationalen Renommé der DDR zeigten. Mit dem diskreten Hinweis auf all das, was die Westmächte in ihren Berliner Sektoren geschaffen hätten, bat Ulbricht um die Errichtung eines großen kollektiven Ausstellungsgebäudes in Ostberlin. Die Hauptstadt der DDR müsse ein Zentrum verschiedener Tagungen und Veranstaltungen werden. Im übrigen, merkte Ulbricht lakonisch an, sollten die sozialistischen Staaten endlich Botschaftsgebäude bauen. 5 3 Ulbricht fühlte sich durch die übrigen Länder des Warschauer Pakts nicht nur zu wenig unterstützt. Er mißtraute verschiedenen Führern der Bruderparteien, weil er ihre Mentalität, aber auch verschiedene Zwänge kannte, unter denen diese vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht standen. So beobachtete er aufmerksam die Entwicklung von Kontakten der Bundesrepublik u. a. mit Polen, Ungarn und Rumänien. Anfang 1962 deutete sich bereits an, daß das vierte Kabinett Adenauer unter Federführung von Gerhard Schröder (CDU) - in Herbst 1961 hatte er das Außenressort übernommen - Pläne für eine Verbesserung besonders der wirtschaftlichen Beziehungen zu den sozialistischen Staaten vorbereitete. Für die SED bestand jetzt die latente Gefahr einer Unterwanderung der deutschlandpolitischen Position der Staaten des Warschauer Pakts möglicherweise durch westdeutsche Kreditofferten und handelspolitische Angebote. So ist verständlich, daß Ulbricht zwei große Gefährdungen heraufdämmern sah: eine gewisse Geneigtheit seiner Verbündeten, gegen „Kasse" die Wiedervereinigungsvorstellungen der Bundesregierung zumindest zu tolerieren und deren steigendes Desinteresse an einer sie belastenden „Störfreimachung" der ostdeutschen Wirt51 52 53

Schreiben Winzers an Ulbricht, 6. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/131, Bd. 7. Ebenda. Anlage zum Schreiben des Politbüros des ZK der SED (Ulbricht) an das Präsidium des ZK der KPdSU, 8. 2. 1962, in: ebenda, S. 19f.

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schaft. Da solche Entwicklungen nur unter der Bedingung einer relativen Entspannung möglich zu sein schienen - was auch in Bonn erkannt wurde betrachtete Ulbricht deren wirtschaftliche Folgen skeptisch. Das Politbüro sei der Auffassung, übermittelte er Chruschtschow am 8. Februar 1962, „daß, wenn es zu einer Minderung der Spannungen zwischen der UdSSR und den USA und auch Westdeutschland kommen sollte, der ökonomische Kampf zwischen Westdeutschland und der DDR die Hauptform des Kampfes sein wird. Es ist anzunehmen, daß im Falle einer Minderung der Spannungen die Bonner Regierung auf dem Wege der Ausnutzung der wirtschaftlichen Verbindungen mit der DDR und des Vorschlages einer gewissen Kreditgewährung die DDR unter Druck setzen wird." Diese Aussage erhärtet die Vermutung, daß für Ulbricht eine Liberalisierung des zwischendeutschen Handels, die in seinen Augen eine potentielle Abhängigkeit vom Westen konstituiert hätte, nicht ins Konzept der „Störfreimachung" paßte. Er mahnte Geschlossenheit in RGW und Warschauer Pakt an und forderte eine neue Beratung der Ersten Sekretäre der kommunistischen Parteien der Bündnisstaaten. „Wir denken, es ist an der Zeit, zu vereinbaren, in welcher Weise die Staaten des Warschauer Vertrages gegen die von der NATO organisierte Kampagne zur Diffamierung und Isolierung der DDR auftreten und wie sie die DDR durch ihre diplomatischen Vertretungen in allen Ländern unterstützen." 54 Dieses Anliegen vertrat er auch bei den sichtbar aktivierten bilateralen Gesprächen innerhalb des Paktes. So appellierte er im Mai 1962 an die Prager Führung, „gemeinsam die Hallstein-Doktrin [zu] durchbrechen, damit die DDR in den neutralen Staaten anerkannt wird", und er trat, um das gegenüber Bonner Verlockungen noch einmal klarzustellen, gegen jede Wiedervereinigung auf. „Eine Vereinigung von Kapitalismus und Sozialismus ist nicht möglich. Es gibt nur eine Zukunft: das ist der Sieg des Sozialismus in der DDR und die Überwindung des Imperialismus in Westdeutschland durch die westdeutsche Bevölkerung selbst."55 Insgesamt wird das verstärkte Bemühen der SED um einen „Schulterschluß" im sozialistischen Lager deutlich, indirekt aber auch die mangelnde Bereitschaft der „Bruderländer", für die DDR Opfer zu bringen. Diese unbefriedigende Entwicklung mag zum steigenden Aktionismus der Berlin- und Deutschlandpolitik der SED und zu einem ausgesprochenen Provokationskurs beigetragen haben. Ulbricht kritisierte die sowjetische Botschaft am 15. Februar 1962, daß sie dem amerikanischen Stadtkommandanten nicht die Einreise nach Ostberlin verbot, als der Chef der sowjetischen Garnison am Betreten des amerikanischen Sektors gehindert worden war. Eine imaginäre „Hetze" und die „provokatorischen Vorschläge der USA in bezug auf die Annexion der Hauptzufahrtswege von Westberlin nach Westdeutschland" zum Anlaß nehmend, verbot die DDR im Feburar 1962 Angehörigen der amerikanischen Truppen in Uniform „bis auf weiteres" ein Betreten der Hauptstadt der DDR. „Es ist also höchste Zeit, daß einige Schritte unternommen werden, die zeigen, wie das wirkliche Kräfteverhältnis ist", forderte Ulbricht von Botschafter Perwuchin.56 Die Grundlage der selbstherrlichen Entscheidung bildete ein Politbürobeschluß vom 13. Februar, der ganz nebenbei festlegte, daß die Westmächte die Benutzung der durch die DDR führenden Fernkabel zu bezahlen hätten. 57 54 55

56 57

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 8. 2. 1962, in: ebenda, S. 4. Protokoll der Verhandlungen zwischen den Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der CSSR, 14. und 18. 5. 1962, Prag, in: ebenda, JIV 2/202/361, Bd. 2, S. 3, 7. Schreiben Ulbrichts an Botschafter Perwuchin, 15. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/131, Bd. 7, S. 2f. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 6/62,13. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/813, Bl. 2.

Offensive Ansätze der SED-Führung versus sowjetische Versuche zur „Dämpfung"

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Die Westmächte protestierten bei der Sowjetunion. Wenngleich die UdSSR im ersten Halbjahr 1962 wieder einen härteren Berlin-Kurs verfolgte, mußte sie die SED-Führung veranlassen, auf Eskalationen zu verzichten. Der stellvertretende sowjetische Außenminister Wladimir Semjonow versicherte Ulbricht in einem Gespräch am 1. März 1962, daß die UdSSR keinerlei westliche Vorschläge auch nur erörtern werde, „die die Notwendigkeit der Achtung der Souveränität der DDR nicht berücksichtigen". Damit kam der Kenner der Mentalität des SED-Politbüros dem Bedürfnis Ulbrichts nach Kontinuität und Sicherheit entgegen. So sagte er auch ausdrücklich die Unterstützung Moskaus bei der Errichtung konsularischer Büros der DDR im Ausland und diplomatische Hilfen zu. Aber er erbat sich auch „Mäßigung". Die - in dem ihm vorgelegten Entwurf einer Note an die Westmächte enthaltene - Andeutung über mögliche Gegenmaßnahmen der DDR könnte man aus taktischen Gründen „noch mehr dämpfen". Auch hinsichtlich des Transits von Bürgern westlicher Länder durch die DDR „sollte man sich vielleicht besser vorsichtiger ausdrücken", legte Semjonow dem Ersten Sekretär nahe. 58 Dennoch setzte das Politbüro seinen Eskalationskurs fort. Mit zum Teil grob verfälschten Darstellungen versuchte Ulbricht, bei Chruschtschow immer wieder neue Maßnahmen durchzusetzen. Tenor der Mitteilungen war, daß der 13. August die Lage zwar prinzipiell stabilisiert habe, aber der „Gegner systematisch ein Netz der Verbindungen und Stützpunkte in der DDR ausbaut" und die „Spionagezentralen und revanchistischen und militaristischen Organisationen" von Westberlin aus zu „schärferen Methoden der Provokation" übergingen. Die unsinnigsten Zusammenhänge, etwa zwischen Bombenlegern, Bundesnachrichtendienst und der französischen Terrororganisation OAS (Organization de l'Armée Secrète) wurden konstruiert. 59 Damit versuchte die SED, die KPdSU zu neuen antiwestlichen Schritten zu veranlassen bzw. Aktionen der SED im nachhinein oder bereits im voraus als rechtmäßig erscheinen zu lassen. Gleichzeitig beunruhigten Ulbricht die sich häufenden blutigen Grenzzwischenfälle. Die ersten Todesschüsse an der Mauer warfen ein schlechtes Licht auf die DDR und verursachten Unruhe im In- und Ausland. „Nach dem 13. August war mir klar, daß eine solche Grenze mitten in einer Stadt Gefahren mit sich bringt", schrieb der Staatsratsvorsitzende am 6. Juli 1962 nach Moskau. Er schlug Chruschtschow einen Sperrgürtel diesseits und jenseits der Mauer von jeweils 100 m Breite vor. Botschafter Perwuchin habe ihn ersucht, „von der weiteren Propagierung dieses Vorschlages Abstand zu nehmen". Die DDR beginne dennoch mit der Errichtung eines solchen Gürtels. Es sei jetzt Sache des US-Außenministers Rusk, fuhr Ulbricht fort, „dafür zu sorgen, daß auch auf der Westberliner Seite ein Gebiet von 10-100 m von der Grenze als Sperrgebiet erklärt wird. Wenn das der Fall ist, werden auch wir öffentlich erklären, daß auf unserer Seite ein solches Sperrgebiet ist. Praktisch machen wir das bereits." Die DDR plane die Einführung von Sonderausweisen für das östliche Sperrgebiet. „Wir würden es begrüßen, wenn stillschweigend eine Absprache zwischen Genossen Dobrynin [Botschafter der UdSSR in den USA M. L.] und Herrn Rusk über die Schaffung einer solchen Sperrzone zustande käme" 60 , schloß der Staatsratsvorsitzende, dem politische Cleverness nicht abzusprechen war, seinen Brief. Da die KPdSU zögerte, erneuerte Ulbricht am 23. Juli seine Bitte an das Parteipräsidium. Da

58

59 60

Schreiben Winzers an Ulbricht, 1. 3. 1962, mit Anlage: Niederschrift der Besprechung zwischen Ulbricht und dem Stellvertretenden sowjetischen Außenminister Semjonow, in: ebenda, JIV 2/202/132, Bd. 8, S. 4. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 30. 5. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/66, S. 3. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 6. 7. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/132, Bd. 8, S. 3, 5.

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die USA das Ansinnen Ulbrichts ablehnten, ging es jetzt nur noch um die Bestätigung eines Sperrgebiets entlang der Ostseite der Grenze. 61 Die Zeit drängte. Am 17. August 1962 verblutete der 18jährige Ostberliner Peter Fechter an der Berliner Mauer, nachdem er bei einem Fluchtversuch angeschossen worden war. Das Entsetzen und die Empörung der Deutschen und der Weltöffentlichkeit verunsicherte die Parteiführung. Es entstand das Bedürfnis nach einer gewissen inneren „Arbeitsteilung" in Konfliktfällen. Das MfAA regte - „da sich jeder Zeit neue Zwischenfälle in Westberlin ereignen können" - bei dem für Sicherheitsfragen zuständigen Politbüromitglied Erich Honecker an, möglichst bald „eine klare Linie in der Zuständigkeitsfrage zu vereinbaren, die der neuen Sachlage Rechnung trägt". Der federführende Staatssekretär Winzer schlug vor, daß bei Fragen von „grundsätzlicher Bedeutung", die Westberlin und die Verkehrswege betreffen, sich die Regierung bzw. das MfAA an die Außenministerien der drei Westmächte wenden sollten. Bei örtlichen Zwischenfällen an der Staatsgrenze zu Westberlin habe der Stadtkommandant der DDR im Auftrag des DDR-Verteidigungsministeriums den jeweiligen Befehlshaber der Besatzungstruppen in Westberlin anzusprechen. Bei örtlichen Zwischenfallen, „die das Leben und die Gesundheit von DDR-Bürgern in Westberlin beeinträchtigen", sollte sich das MfAA an den Westberliner Senat wenden, wenn das „Verkehrswesen der DDR in Westberlin" (S-Bahn) betroffen war, an den Westberliner Verkehrssenator. Der von Ulbricht prinzipiell gebilligte Vorschlag lief darauf hinaus, die Zuständigkeit des MfAA für den Verkehr mit dem Senat „entsprechend der von uns betriebenen Verselbständigung des Gebiets von Westberlin Schritt für Schritt auszubauen" 62 . Das entsprach sowohl dem Anerkennungskurs als auch dem unveränderten Ziel einer Umwandlung Westberlins. Das neue Reglement entzog aber auch dem Innenministerium der DDR jede Zuständigkeit. Die Position der SED in der Anerkennungsfrage verhärtete sich derart, daß die Signale des Senats, über inoffizielle Kontakte und Mittelsmänner zu Weihnachten 1962 ein Passierscheinabkommen abzuschließen, überhört wurden: „Es erfolgen darüber keine Verhandlungen auf kirchlicher Basis bzw. mit dem Roten Kreuz", befand das Politbüro.63

4. SED und Bundesregierung im Konflikt mit der „Zufahrtsbehörde" und anderen alliierten Vorstellungen Am 19. Oktober 1962 verabschiedete das Politbüro ein neues Papier über „Westberlin betreffende Fragen." Als Ziel der DDR formulierte das höchste Gremium der SED die Beseitigung des Besatzungsregimes in der Teilstadt, die „Ausschaltung jeglichen Einflusses der NATO auf Westberlin" und ihre Umwandlung in eine Freie Stadt.64 Im Kern zeigte die SED keine Veränderung ihres Standpunkts. Ihr war aber klar, daß man sich auf Übergangsregelungen und Kompromisse einstellen müßte. In der Frage der Trup« Siehe FN 59. Schreiben Winzers an E. Honecker, 30. 8. 1962. Mit Anmerkung Ulbrichts: „Gen. Honecker, Florin und Schwab: Bitte Entwurf ausarbeiten. In: ebenda, IV 2/20/17. 63 Beschluß des Politbüros, Protokoll 50/62,13. 11. 1962, in: ebenda, JIV 2/2/857, Bl. 6. 64 Internes Papier: „Westberlin betreffende Fragen", 19.10.1962, in: ebenda, JIV 2/202/132, Bd. 8, S. 1. 62

SED und Bundesregierung im Konflikt mit der „Zufahrtsbehörde"

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penstationierung entwickelte die Parteiführung Vorstellungen, die verschiedene sowjetischamerikanische Verhandlungsergebnisse berücksichtigten. So hatte Gromyko am 24. April 1962 die Stationierung symbolischer Truppenverbände der UNO oder blockfreier Staaten in Westberlin vorgeschlagen.65 Sie sollten die westalliierten Kontingente ersetzen. Demgegenüber erarbeitete die amerikanische Regierung einen Plan zur Schaffung einer Internationalen Berlinbehörde. Das Konzept, in Washington ausdrücklich als Diskussionsgrundlage bezeichnet, sah die Kontrolle der Land- und Luftverbindungen von und nach Berlin durch eine Behörde von 13 gleichberechtigten Mitgliedern vor. An dieser Institution sollten die Vier Besatzungsmächte, zwei Ostblockstaaten (Polen und die CSSR), drei neutrale Länder (Schweden, Schweiz, Österreich) und beide deutsche Staaten sowie Ostberlin und Westberlin mit je einem Vertreter teilnehmen. 66 Ulbricht hatte den Vorschlag der USA pauschal abgelehnt: Die DDR beanspruche die Kontrolle des Verkehrs „zu hundert Prozent".67 In ihrem Papier vom 19. Oktober stimmte die SED jedoch erneut einer internationalen Schiedsstelle zu. Sie solle bei Streitfragen, die sich aus einem abzuschließenden Berlinabkommen in der Frage der Zufahrtswege ergeben könnten, tätig werden. Die Schiedsstelle sollte sich nach Auffassung der SED aus Vertretern der potentiellen Garantiemächte des Abkommens und je einem Repräsentanten der DDR und Westberlins zusammensetzen. 68 Damit wurde zum einen die von der SED vorausgesetzte Hoheit der DDR über die Verbindungswege nicht prinzipiell in Frage gestellt. Zum anderen gewährleistete die Mitarbeit der DDR in der Schiedsstelle die faktische internationale Anerkennung des ostdeutschen Staates. Im übrigen blieb Bonn ausgespart. Breiten Raum nahmen Überlegungen zur vorläufigen Truppenstationierung ein. Die SED entwickelte drei theoretische Möglichkeiten. Die erste Variante sah Polizeikräfte unter UNO-Flagge, zusammengesetzt aus Kontingenten zweier NATO- und zweier sozialistischer Staaten vor, die zweite Variante Kontingente der drei Westmächte und der in der ersten Variante genannten 4 Staaten, ebenfalls unter UNO-Flagge. Die dritte Variante, als „äußerster Kompromiß" bezeichnet, akzeptierte Polizeikräfte der drei Westmächte unter UNO-Flagge. Im Falle einer fortdauernden Anwesenheit der Westmächte, so wurde fixiert, müsse „eindeutig klargestellt werden", daß es hierfür „kein absolutes oder originäres Siegerrecht gibt." Im übrigen sei ein dem Deutschlandvertrag (1954) ähnliches Übereinkommen zwischen Westberlin und den Westmächten ausgeschlossen. Die Unterstellung der Polizeikräfte unter die UNO-Kontrolle dürfe auch nicht zu einer Umwandlung des Besatzungsstatuts in eine UNO-Hoheit führen. Im weiteren wurde ausgeführt, daß die UNO-Transportkolonnen nur freie Durchfahrt durch die DDR erhielten, wenn sie vom Oberkommandierenden der UNO-Polizeikräfte bei den Organen der DDR angemeldet werden würden. Das Dokument legte die strikte Trennung Westberlins von der Bundesrepublik fest. Alle westdeutschen Dienststellen seien aufzulösen, die Übernahme von bundesdeutschen Gesetzen und Organisationen^1) sei verboten. 69 Alles lief auf die Freie Stadt Westberlin und auf eine Neutralisierung der Westsektoren hinaus. Nur in taktischen Fragen zeigten sich in der Abstimmung mit der sowjetischen Politik geringe Modifizierungen. Eine Episode belegt, wie dogmatisch die SED ihre Pläne handhabte: Als

« Vgl. Tass-Meldung, Moskau, 25. 1. 1962. 66 Hartl/Marx, a.a.O., S. 533f. 67 Ebenda, S. 534. « Siehe FN 64. ® Ebenda, S. 2f, 5f.

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der neue Botschafter der UdSSR, Pjotr A. Abrassimow, sich mit dem Gedanken trug, den Bonner Botschaftern der drei Westmächte, die gleichzeitig Missionschefs in Westberlin waren, seinen Antrittsbesuch abzustatten, reagierte Winzer empört: „Unser Standpunkt kann doch nur sein, daß die Bonner Botschafter für Westdeutschland nicht aber für Westberlin zuständig sind. Die ,alte Tradition', von der Genosse Abrassimow spricht, ist eben die Vier-MächteTradition, an deren Aufrechterhaltung wir kein Interesse haben können." Zwar merkte Ulbricht handschriftlich an: „Keine Bedenken, wenn die Begegnung in Westberlin stattfindet."70 Aber auch Ende 1962 ließ die SED keinen Zweifel daran, daß sie in Berlin entscheiden wollte. In der Bundesrepublik und in Westberlin nahm man die Politik der ostdeutschen „Nadelstiche" mit Verärgerung, aber ohnmächtig zur Kenntnis. Auch der Verschlechterung des Berlinstatus durch kleine Schritte der SED, etwa als im August 1962 ein DDR-General zum Berliner Stadtkommandanten ernannt wurde, hatten Bundesregierung und Senat nichts Wirksames entgegenzusetzen. Politische Skeptiker in Bonn bezweifelten, daß man gerade in der BerlinFrage langfristig um offizielle Kontakte mit der DDR herumkommen könne. Die Taktik der SED, jede Bewegung im zwischendeutschen Verhältnis mit der Begründung zu blockieren, Verbesserungen könnten nur durch offizielle Verhandlungen erreicht werden, war auf die Dauer durchaus wirksam. Die SED saß am längeren Hebel: Sie übte immer neue Pressionen aus und war in der Lage, die Reaktionen des Westens ruhig abzuwarten; steckte er zurück, konnte sie „entgegenkommen". Hatte z. B. der Senat ein dringliches Anliegen, erfuhr er aus Ostberlin, er möge sich offiziell an die Regierung der DDR wenden, wenn er verhandeln wolle.71 Auch die diplomatischen Interventionen der Bundesrepublik in Moskau, die mit dem Ziel unternommen wurden, auf Ostberlin Einfluß zu nehmen, nützten nichts. Als z.B. Botschafter Hans Kroll im Februar 1962 hier eine Note gegen den Plan eines separaten Friedensvertrags mit der DDR übergab - die Behörden in der sogenannten DDR würden dann „noch hemmungsloser ihre Politik der Krisen und Katastrophen fortsetzen" 72 -, erhielt er die Antwort, daß Bonn mit der DDR verhandeln solle. Die westdeutsch-sowjetischen Beziehungen befanden sich nach dem 13. August 1961 auf einem Tiefpunkt. Der Einbruch wurde aber nicht nur durch die Entwicklungen an der Berliner Mauer ausgelöst. Die Verschärfung des Umgangstons resultierte auch aus dem Scheitern verschiedener diplomatischer Initiativen im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion. Bereits am 27. Dezember hatte die Sowjetregierung in Moskau Botschafter Kroll ein höchst bemerkenswertes Dokument übergeben lassen. Da es weder eine Unterschrift trug noch eine Adresse und Anrede enthielt, konnte es nach internationalen diplomatischen Normen keine Note, eigentlich auch kein Memorandum, sondern bestenfalls eine Aide mémoire sein.73 Der Absender, die sowjetische Regierung, ging in einem ungewöhnlich freundlichen Ton, der frei war von jeglicher Drohung und Polemik, auf die Möglichkeiten einer prinzipiellen Verbesserung der bilateralen Beziehungen ein. Leitidee des Schreibens war, die Bundesrepublik als die „natürliche" Partnerin der Sowjetunion in Europa darzustellen und Bonn die Westmächte als die eigentlichen Gegner bewußt zu machen. Sie nicht die UdSSR - seien die Konkurrenz der Deutschen, die für die egoistischen Großmacht70

Schreiben Winzers an Ulbricht, 21. 12. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/132, Bd. 8. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 65/61, 22.12. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/807, Bl. 1. 72 Note der Bundesregierung an die Regierung der UdSSR, überreicht durch H. Kroll an 1.1. Iljitschow, 21. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/132, Bd. 8, S. 20. " Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 526f. 71

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ziele des Westens mißbraucht würden. Die UdSSR legte der Bundesregierung in beschwörenden Formeln nahe, die „von den NATO-Führern aufgezwungene aggressive Politik" aufzugeben: „Es müssen die eigenen Interessen festgelegt werden - die Interessen der Bundesrepublik, ihrer Bevölkerung, des deutschen Volkes, und diese können ohne eine Normalisierung der Beziehungen zur UdSSR nicht gesichert werden." Die Offerte der Sowjetunion an die Bundesrepublik bestand im wesentlichen in der Aufforderung, daß diese „ihre besondere günstige geographische und technisch-ökonomische Lage ausnutzt und auf beiderseitig vorteilhafter Grundlage in Kontakt mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern und mit deren Wirtschaft tritt". 74 Das Aide mémoire fugte sich in die Taktik der UdSSR ein, die Bundesrepublik aus ihrem Bündnissystem herauszulösen und sie von ihren Partnern zu entfremden. Da in Moskau die gewünschte Reaktion Bonns schwerlich erwartet werden konnte, zielte das Dokument überwiegend auf propagandistische Wirkung ab: Wieder einmal habe die Bundesregierung eine Chance verspielt, als sie die ausgestreckte Hand der Sowjetregierung zurückwies. Offensichtlich baute die UdSSR auf die Tragfähigkeit des Arguments, daß Deutschland sich nach Ost und West orientieren müsse, wenn es politisch stark und wirtschaftlich erfolgreich sein wolle. Die Vorteile eines Austausches sowjetischer Rohstoffe gegen deutsche Fertigprodukte lagen für viele Zeitgenossen auf der Hand. Hier spekulierte man nicht zu Unrecht auf die Interessen der deutschen Wirtschaft, für die die UdSSR ein lukrativer Markt sein konnte. Politisch war dieses Dokument unbedeutend. Friedensvertrag vor Wiedervereinigung, Anerkennung der DDR, Freie Stadt Westberlin ohne Westmächte und ostdeutsche Kontrolle ihrer Zufahrtswege blieben die Postulate. Als die Bundesregierung mit ihrer Note vom 21. Februar 196275 die politischen Forderungen der UdSSR zurückwies, verschärfte sich der Ton gegenüber Bonn. Die Bundesrepublik geriet nun wieder zur „aggressivsten Kraft" in der NATO und zum Hegemon der EWG. Die erneuten sowjetischen Angriffe riefen in Bonn kaum Besorgnis hervor. Viel mehr beunruhigte Adenauer die neue „weiche" Tendenz in der amerikanischen Deutschlandpolitik. Am 11. April ging im Palais Schaumburg ein amerikanisches Ersuchen ein, innerhalb von zwei Tagen zu einem Papier Stellung zu nehmen, das die Grundlage neuer amerikanisch-sowjetischer Verhandlungen sein sollte. Der an anderer Stelle erwähnte Plan einer internationalen Zufahrtsbehörde, deren Mehrheiten letztlich vom Verhalten ihrer kleinen neutralen Mitglieder - Österreichs, der Schweiz und Schwedens - abhängig war, sei, so beschied Adenauer dem stellvertretenden amerikanischen Verteidigungsminister Paul Nitze und US-Botschafter Dowling, für ihn „einfach unmöglich". 76 Adenauer lehnte ab, weil die in Aussicht genommene Beteiligung beider deutscher Staaten an der Zufahrtsbehörde einer de facto-Anerkennung der DDR gleichkam. Doch enthielt das amerikanische Verhandlungspapier noch andere für Adenauer in der konkreten Situation problematische Punkte: die Nichtweitergabe von Kernwaffen, Nichtangriffsvereinbarungen zwischen den Militärblöcken, die Einrichtung einer permanenten Konferenz der stellvertretenden Außenminister der Vier Mächte in Berlin und die Aufnahme gesamtdeutscher Beziehungen. Es brachen interne Querelen aus, als Adenauer erfuhr, daß Außenminister Schröder offensichtlich schon vor dem Kanzleramt über die amerikanischen Pläne nicht nur informiert war, sondern sie auch billigte. Adenauer brachte mit Hilfe v. Brentanos und 74 75 76

Bulletin der Bundesregierung, Bonn, 10. 1. 1962. Bulletin, 21. 2. 1962. Schwarz, a.a.O., S. 743.

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Sonderministers Heinrich Krone die Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien hinter seine Position: Keine Zufahrtsbehörde hieß die Devise. Und er ließ - vermutlich durch v. Brentano - Verlauf und Ergebnis der Sitzung in die Medien lancieren.77 Damit gelangten auch die geheimen amerikanischen Gedankengänge in die Öffentlichkeit. Die KennedyAdministration reagierte verärgert über diese Indiskretion, die man in Unkenntnis des Hintergrunds dem Bonner Botschafter in Washington, Wilhelm Grewe, anlastete. Wer auch immer wen informiert haben mochte: Der Zweck der Information war erfüllt. Die vorzeitige Veröffentlichung der Ziele des amerikanischen Positionspapiers verhinderte dessen Übergabe an die Sowjetunion. Auf Wunsch der USA berief Adenauer Grewe, der seine Linie in Washington konsequent vertreten hatte, als Botschafter ab. Gleichzeitig kritisierte er Bundesaußenminister Schröder, der, um das „Image eines bedingungslos konservativen Schildknappen Adenauers" loszuwerden, sich außenpolitisch von der „Woge Kennedys" tragen ließ und im Innern die Unterstützung des FDP-Fraktionsvorsitzenden Erich Mende und „sogar des pragmatischen Flügels der SPD um Fritz Erler und Willy Brandt" fand. 78 Das Auswärtige Amt hielt am 19. April fest, daß die Bundesrepublik eine internationale Zufahrtsbehörde nicht ablehne. Es wies jedoch auf den Widerstand der USA gegen die Auffassung der Bundesregierung hin, daß die DDR an dieser nicht beteiligt werden dürfe. Bonn strebe einen Modus vivendi an, wisse aber nicht, ob die UdSSR an ihm interessiert sei. Ein Papier über „draft principles" der USA müsse aber so „hieb- und stichfest gemacht werden", meinte das Amt, daß Moskau, „falls dieses Papier zum Vertragstext wird, keine Möglichkeit habe, den Modus vivendi auszuhöhlen". 79 Der einen harten Kurs vertretende Fraktionsvorsitzende v. Brentano vertrat diese Auffassung anläßlich einer Amerikareise Ende April/Anfang Mai 1962 auch gegenüber Kennedy und anderen Politikern der USA. Die freie Zufahrt nach Berlin sei ein Recht des Westens. „Wenn man die Nerven behielte", so sagte er nach einem internen Bericht, „könne man sehr wohl diese Zufahrtsbehörde ablehnen." In jedem Fall müsse man, da dies die „endgültige de facto-Anerkennung" vollziehe, einen DDRVertreter im Gremium ablehnen. Auch in der Frage der von den USA vorgeschlagenen gesamtdeutschen Ausschüsse bremste v. Brentano ab: Kommissionen, die Beziehungen zwischen der „sowjetischen Zone" und der Bundesrepublik regeln könnten, seien zu begrüßen, wenn sie sich aus Vertretern der Vier Mächte bildeten, müßten aber abgelehnt werden, wenn sie von Vertretern der „Sowjetzone" und der Bundesrepublik beschickt werden sollen.80 In ihrem Kurs gegen den Rusk-Plan einer internationalen Zufahrtsbehörde erhielt Adenauer von General Julius Klein, der u. a. Chef der einflußreichen Julius Klein Public Relations war, die Information, daß seine republikanischen Freunde im Senat Adenauer ihre „ausgesprochene Unterstützung zugesagt" hätten. Die US-Regierung versuche jetzt, „einen Weg zu finden, der ihre (der Republikaner) Gedanken berücksichtigt", versicherte Klein. Er deutete Adenauer gegenüber an, „daß ein konstruktiver Gegenvorschlag von deutscher Seite jetzt von großer Wichtigkeit" sei."81 Dieser 77 78 79

80

81

Vgl. ebenda, S. 744. Ebenda, S. 747. Aufzeichnung des Referats 704 des Auswärtigen Amtes (AA), 19.4.1962, in: BA Koblenz, NL239/111, S. 2. W. Pohle: „Bericht über eine Reise (Brentanos) nach Amerika", 24.4.-5.5.1962, in: ebenda, NL 239/39, Bl. 44f. Schreiben von (General) J. Klein an Adenauer, (Kopie), 9. 5. 1962, in: ebenda, NL 239/110.

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erübrigte sich allerdings; die Position der Bundesrepublik erschien in aller Welt unzweideutig und kaum wandelbar. Die deutschlandpolitischen Differenzen zwischen Bonn und Washington betrafen im Frühjahr 1962 immer wieder die Behandlung der DDR. Der außenpolitische Experte der CDU, Kurt Birrenbach, der in zahlreichen Sondermissionen zu einem intimen Kenner der amerikanischen Deutschlandinteressen geworden war, berichtete v. Brentano über die Auffassung der Regierung in Washington, daß „der jetzt ins Auge gefaßte Grad der Respektierung der Zone vom Standpunkt einer späteren Wiedervereinigungspolitik aus gesehen ungefährlich [sei]". Die Berlinkrise werde in Washington nicht mehr wie 1961 als „tödlich", sondern nur noch als „ernst" gesehen. Birrenbach sah darin einen deutlichen Hinweis der USA auf ihre schwere Verantwortung, im Atomzeitalter die letzte Entscheidung über Krieg und Frieden treffen zu müssen. Dennoch hätten sie ihm glaubhaft gemacht, daß die Vereinigten Staaten „nach Ausschöpfung aller vernünftigen Verhandlungsmöglichkeiten" bereit seien, „für die von ihnen als essentiell bezeichneten Rechte in Berlin auch das Risiko eines Krieges auf sich zu nehmen". 8 2 Obgleich das außer Frage stand, erfaßten die deutsch-amerikanischen Differenzen auch den militärischen Bereich. Paul Nitze wurde Mitte April 1962 anläßlich eines internen Gesprächs im Bonner Auswärtigen Amt von einem Teilnehmer, General Albert Schnez (Chef des Führungsstabes der Bundeswehr) darauf aufmerksam gemacht, daß die deutsche und amerikanische Beurteilung „der voraussichtlichen sowjetischen militärischen Operationen nicht übereinstimmten". Die deutsche Seite drängte darauf, „die Planung für den militärischen Schutz des deutschen Zivilverkehrs nach Berlin voranzutreiben". Während Nitze Zurückhaltung übte, vertrat die Bundesregierung die Auffassung, der Schutz müsse mit Rücksicht auf die psychologische Situation in Berlin, „bereits bei ernsten Störungen und nicht erst bei völliger Unterbrechung einsetzen". 83 Die Unstimmigkeiten zwischen der Bundesregierung und der amerikanischen Administration, verkörpert durch Adenauer und Kennedy, beschleunigten die Entwicklung der deutschfranzösischen Beziehungen. Zum einen lehnte Präsident de Gaulle wie Adenauer die neuen deutschlandpolitischen Überlegungen der Amerikaner ab, zum andern verfolgten beide energisch das Ziel einer politischen Europäischen Union, der England ablehnend gegenüberstand. Auch das persönliche Verhältnis zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem französischen Staatspräsidenten gestaltete sich zunehmend freundschaftlicher. Blieb jetzt nur noch der Block Frankreich und Deutschland? Offensichtlich entschloß sich Adenauer gegenüber den USA „den offenen Krach [zu] riskieren."84 „Unter Umständen", so zeichnete Horst Osterheld, Leiter des außenpolitischen Büros im Bundeskanzleramt den Gedankengang Adenauers am 9. Mai 1962 auf, „müßten wir bereit sein, mit den Amerikanern einige Jahre in Spannung zu leben. Wir müßten mehr auf das deutsch-französische und das europäische Pferd setzen. [...] Er [Adenauer] ist nicht bereit hinzunehmen, was uns zugemutet wird, auch wenn es von unseren Freunden, den Amerikanern kommt. Hier wollen sie Konzessionen anbieten, die uns den Lebensatem beengen; hier sollen wir Opfer bringen, welche die Zukunft unseres Volkes wieder ins Unberechenbare rücken." 85 82 83

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Schreiben Birenbachs an v. Brentano, 19. 6. 1962, in: ebenda, NL 239/166, Bl. 385. Ausarbeitung des Referats 301 des AA über Besuch des Sts im US-Verteidigungsministerium, P. Nitze, 17. 4. 1962, in: ebenda, NL 239/111, S. 4. Schwarz, a.a.O., S. 747. H. Osterheld, a.a.O., S. l l l f .

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

5. Die Auswirkungen der internen Bonner Differenzen und des Kubakonflikts auf die Politik zu Berlin und zum Friedensvertrag Auch in der Bundesrepublik entstanden dem greisen Bundeskanzler neue deutschlandpolitische Schwierigkeiten. Zwar hatte auch die FDP bei der Bildung der neuen Bundesregierung eine Koalitionsvereinbarung unterschrieben, die ausdrücklich eine „irgendwie geartete Anerkennung eines deutschen Teilstaates auf dem Gebiete der sowjetischen Besatzungszone", eine „direkte oder indirekte Sanktionierung der Unrechtmaßnahmen vom 13. August 1961" und ein Anerkennen „der Kontrolle des zivilen Luftverkehrs von und nach Berlin durch die Sowjetunion oder den Behörden der SBZ" ausschloß.86 Doch nun beriet die FDP-Führung seit Anfang April 1962 insgeheim ein von ihr bei dem Leiter der FDP-Pressestelle und Deutschlandexperten, Wolfgang Schollwer, in Auftrag gegebenes Deutschlandpapier, das von der Anerkennung zweier deutscher Staaten, der „Souveränität der DDR bis zur Wiedervereinigung" und einer militärisch verdünnten und atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa ausging. Als Gegenleistung sollte die Sowjetunion für eine Absetzung Ulbrichts und seines Führungszirkels, eine Entstalinisierung und eine Liberalisierung in der DDR sorgen, die Freiheit Berlins garantieren und den innerdeutschen Reiseverkehr wiederherstellen. 87 Der FDP ging es um die Frage, ob eine Politik des Nichtverhandelns, des Abwartens und der kategorischen Ablehnung aller Vorschläge der Gegenseite die Bundesrepublik auf die Dauer nicht in eine internationale Isolierung führen, die Lage Berlins zusätzlich erschweren und die Aussichten auf eine befriedigende Lösung der deutschen Frage gänzlich zerstören müsse. 88 Deshalb schlug Erich Mende dem Bundeskanzler am 21. August 1962 eine Friedensvertragskonferenz unter Beteiligung der DDR vor.89 Die Bundesregierung, so empörte sich v. Brentano, könne nicht „neben Leuten aus Pankow" sitzen: „Wenn zwei Regierungen auf der Konferenz auftauchen, ist die Teilung Deutschlands besiegelt."90 Wie die westdeutsch-amerikanische Verstimmung konnten der Sowjetunion auch die verschiedenen Dissonanzen in der Regierungsarbeit von CDU/CSU und FDP nicht verborgen bleiben. Auch die Stimmungen in der CDU selber, vor allem bei kritischen deutschlandpolitischen Köpfen, wurden von den sowjetischen Organen sorgsam verfolgt und zu beeinflussen versucht. So nahm die sowjetische Botschaft in Ostberlin u.a. Kontakt zu dem bekannten Berliner CDU-Politiker Ferdinand Friedensburg auf. 91 Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Unstimmigkeiten mit den USA und in der eigenen Koalition zu dem eigenartigen deutschlandpolitischen Vorstoß Adenauers vom 6. Juni 1962 beitrugen. Zwar entkrampfte sich das gespannte Verhältnis zu Washington wieder, und Kennedy ließ seine Pläne zur Schaffung einer Zufahrtsbehörde fallen, doch entschloß sich

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Vereinbarung, Januar 1962, in: BA Koblenz, NL 239/168, Bl. 206. Vgl. Deutschlandpolitik der FDP. Daten und Dokumente von 1945 bis heute, hg. von d. Bundesgeschäftsstelle der FDP, Bonn 1976, S. 18f. 88 H. W. Rubin (Hg.), Freiheit, Recht und Einigkeit. Zur Entspannungs- und Deutschlandpolitik der Liberalen, Baden-Baden 1980, S. 119. 89 Vgl. Schreiben Mendes an Adenauer (Kopie), 21. 8. 1962, in: BA Koblenz, NL 239/159. 90 Schreiben v. Brentanos an Mende, in: ebenda, Bl. 134. 91 Vgl. Bericht Friedensburgs, 17. 3. 1962, in: ebenda, Bl. 16. 87

Die Auswirkungen der internen Bonner Differenzen und des Kubakonflikts

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Adenauer nun doch, den seit langem auf „Eis" liegenden Vorschlag, mit der Sowjetunion einen zehnjährigen „Burgfrieden", einen „Waffenstillstand", einzugehen, aus der Reserve zu holen. Glaubte er wirklich, daß die UdSSR, als er den Plan Sowjetbotschafter Smirnow mündlich - ohne den eigenen Außenminister und die USA im voraus zu informieren übermittelte, auf seinen Vorschlag einging? Doch schien der Handel einzuleuchten: Innerhalb von zehn Jahren sollte man die Dinge so belassen, wie sie sich nun einmal in Deutschland darböten. „Allerdings müsse dafür gesorgt werden, daß die Menschen in der DDR freier leben könnten, als es jetzt der Fall sei." In der Zwischenzeit würde eine Atmosphäre der Beruhigung eintreten, und alle strittigen Probleme, u. a. Deutschland und Berlin betreffend, könnten dann viel leichter geklärt werden. 92 Chruschtschow beschied am 2. Juli 1962 negativ, die UdSSR erhob die alten Forderungen unverändert. Ihr sechsseitiges Aide mémoire wies das „Waffenstillstands"-Angebot Adenauers zurück. 93 Das bestärkte ihn in seinem unnachgiebigen Kurs gegenüber der UdSSR, mehr aber noch in der Absicht, die bilateralen Beziehungen zu Frankreich, das im Berlinkonflikt Moskau gegenüber eine ebenfalls harte Gangart eingeschlagen hatte, weiter zu intensivieren. In der CDU setzten viele Politiker nicht nur europa-, sondern auch deutschlandpolitisch prononciert auf de Gaulle und seinen Einfluß in der Welt: So schlug der CDU-Politiker Ernst Majonica, der Vorsitzende des außen- und verteidigungspolitischen Arbeitskreises der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Adenauer vor, de Gaulle, da dieser „einen großen Einfluß" auf den indischen Premierminister Jawaharlal Nehru habe, zu bitten, bei einem geplanten Treffen „von sich aus" deutsche und Berlin-Fragen anzuschneiden. 94 Im Herbst 1962 wurde die deutschland- und berlinpolitische Diskussion in Bonn durch die „Spiegel-Affare" aus den Schlagzeilen gedrängt. Sie hatte insofern Auswirkungen für die Deutschland- und Verteidigungspolitik der Bundesregierung, als der Exponent einer Mitverfügung der Bundesrepublik über Mittelstreckenraketen, Bundesverteidigungsminister FranzJosef Strauß, über sie stolperte. Die Affäre traf Adenauer, der in vielem kein Freund seines Verteidigungsministers war. In der Sache hielt er doch ebenfalls an einer begrenzten atomaren Ausrüstung der Bundeswehr aus Gründen der Gleichberechtigung in der NATO und natürlich der Abschreckung des Ostens vor einem Angriff konsequent fest. Im Affront des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel" gegen die Sicherheitspolitik seiner Regierung und in dem kritischen Engagement des „Spiegel"-Herausgebers Rudolf Augstein, dessen Verhaftung zum Skandal eskalierte, sah Adenauer einen Machtzuwachs für diejenigen Kräfte, vor allem in der FDP, die sich gegen ihn und seine außenpolitische Gesamtorientierung, gegen ein Sonderbündnis mit Frankreich und gegen die Atombewaffnung wandten. Die befürchtete Regierungskrise brach in der Tat aus. Am 19. November 1962 traten die fünf FDP-Minister aus der Bundesregierung aus. Schaden nahm auch das Ansehen der Bundesrepublik in den USA. V. Brentano verwies auf die wachsende Kritik in einflußreichen politischen Kreisen: „Man sage, daß die gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland keine Rechtssicherheit gewährten. Die Spiegel-Affäre habe gezeigt, daß die Bundesregierung es in der Hand habe, mißliebige Journalisten oder andere kurzerhand verhaften zu lassen." 95 Kritik kam auch aus der CDU/CSU-Fraktion, die sich darüber beschwerte, daß sie „bedauerlicherweise bis zum 92

Schwarz, a.a.O., S. 750. 93 Vgl. ebenda. 94 Schreiben Majonicas an Adenauer (Kopie), 5. 9. 1962, in: BA Koblenz, NL 239/32, Bl. 23. 95 Schreiben v. Brentanos an MdB M. Güde, 16. 11. 1962, in: ebenda, NL 239/17, Bl. 93f.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

heutigen Tag über die entscheidenden Ursachen der Regierungskrise nicht unterrichtet worden [sei]". Die Fraktion tappe im Dunkeln. 96 In der SED wurden Ausmaß und Brisanz der Spiegel-AfFäre erstaunlicherweise unterschätzt und die Möglichkeiten ihrer propagandistischen Ausnutzung relativ wenig genutzt. Offensichtlich sah das Politbüro in der ganzen Angelegenheit nichts weiter als bourgeoise Flügelkämpfe und den Theaterdonner eines Systems, das es pauschal als Scheindemokratie abqualifiziert hatte. Die Kuba-Krise überraschte Adenauer und das Bundeskabinett. Als sich ab dem 22. Oktober 1962 die Entwicklung zu überstürzen begann, hielt man in Bonn fest zu Kennedy. Am Abend dieses Tages überbrachte Botschafter Dowling ein Schreiben Kennedys, aus dem der Ernst der Lage und die Entschlossenheit der Amerikaner zur Blockade Kubas abzulesen war, wenn die sowjetischen Mittelstreckenraketen dort nicht abgebaut würden. Als der Botschafter in Begleitung eines CIA-Mannes die Luftaufnahmen vom Raketenaufbau auf der Insel hervorholte, wurden Außenminister Schröder, Staatssekretär Hans Globke und Horst Osterheld vor die Tür geschickt. Das war eine völlig überflüssige Maßnahme. Wenige Tage später fanden sich die geheimen Luftbilder in jeder besseren Tageszeitung. Am nächsten Tag, dem 23. Oktober, richtete Adenauer an Kennedy per Schreiben die Botschaft, daß er dessen Vorgehen vorbehaltlos billige.97 Adenauer gehörte in den konfliktreichen Tagen zu den „Falken" des Kubakonflikts. Ihn entsetzte der Gedanke, daß die Sowjets im Falle eines Weiterbaus der Raketenbasen vor der Küste Amerikas wesentliche militärische Positionsverbesserungen erlangen könnten, und es beunruhigte ihn folgender Satz des Kennedy-Briefes vom 22. Oktober: „Mich beschäftigt stark die mögliche Verbindung dieses geheimen und gefährlichen Vorgehens [der Russen in Kuba - M. L.] mit der Lage in Deutschland und Berlin."98 So wußte auch Kennedy den alten Kanzler zu packen. Als Botschafter Dowling diesem auf dem Höhepunkt der Krise am 28. Oktober mitteilte, daß die Gewaltanwendung wahrscheinlich nicht mehr gestoppt werden könne, erklärte Adenauer, er wolle nicht stoppen. „Er sei für beide Maßnahmen gleichzeitig: Bombardierung [Kubas - M. L.] und Invasion. Die Raketen müssen weg."99 Wie bekannt, arrangierten sich Chruschtschow und Kennedy wahrhaftig in letzter Minute. Die Kuba-Krise als ein letzter Höhepunkt des Kalten Krieges leitete seine Überwindung ein. Sie war gefahrlich und heilsam zugleich. Die SED ordnete eine Reihe organisierter Proteste, Demonstrationen und Resolutionen gegen die amerikanische Kubapolitik an. Das Politbüro nahm aber eine im ganzen vorsichtige Haltung ein. „Es ist alles zu vermeiden, was die von den USA beabsichtigte Schürung einer weltweiten Kriegspsychose fordern könnte", schrieb Ulbricht bereits am 23. Oktober 1962 an das Politbüro. „Unser Ton muß fest, aber besonnen sein. Unsere Sicherheit und Stärke beruht auf der Geschlossenheit des sozialistischen Lagers, auf seiner Friedenspolitik, seinem ständigen Wachstum. Ruhig und mit starken Nerven setzen wir in der DDR so wie bisher unsere Friedenspolitik des sozialistischen Aufbaus fort." Ulbricht unterzeichnete diese Direktive persönlich. 100 Daß man nur um Haaresbreite an einem Krieg vorbeigekommen war, konnte auch die SED nachvollziehen. „Auf dem Höhepunkt der Ereignisse im karibischen Meer war 96 97 98 99 100

Schreiben des MdB P. Bausch an v. Brentano, 23. 11. 1962, in: ebenda, NL 239/4, Bl. 55. Vgl. Schwarz, a.a.O., S. 770f. Zitiert nach ebenda, S. 770. Ebenda, S. 773. Direktive des Politbüros: „Zur Provokation des USA-Imperialismus gegen Kuba", Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll 46/62, 23. 10. 1962, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2A/929, S. 4.

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der Atomkrieg nicht mehr nur eine Sache der Antikriegspropaganda, er war zu einer politischen Realität geworden", schrieb Winzer an die Leiter der Auslandsvertretungen der DDR. Es müsse gefragt werden, warum es erst jetzt „am äußersten Rande eines Atomkrieges" zu einer Verständigung über strittige Fragen der internationalen Politik komme. 1 0 1 Wenngleich die Nationale Volksarmee der DDR mit einer militärischen Kraftprobe rechnete und viele ihrer Angehörigen, in ideologischer Verblendung, die Verhandlungsbereitschaft der UdSSR als „Zurückweichen und militärische Schwäche" 102 kritisierten, atmeten alle Beteiligten (und Nichtbeteiligten) erleichtert auf. Würde es nun auch eine Entspannung in der Berlin- und Deutschlandpolitik geben? Würde die UdSSR einlenken? Zunächst sah es nicht danach aus. Im Gegenteil: Als die Bundesregierung am 18. Dezember 1962 auf Empfehlung des NATORates ein Ausfuhrverbot für Pipeline-Röhren an die Sowjetunion verhängte und die Moskauer Regierung in aller Form gegen das „Röhrenembargo" protestierte, sah es eher nach neuen Gewitterwolken aus. Im zweiten Halbjahr 1961, insbesondere aber in den ersten sechs Monaten des Jahres 1962, offenbarte sich in der Berlinpolitik beider deutscher Staaten eine eigenartige deutsche Parallelität. Das Thema Friedensvertrag blieb auf beiden Seiten präsent, ordnete sich aber dem Berlinproblem unter. An sich von größerer Dimension und komplizierter Problematik, erschlossen sich die Sachverhalte und die Konfliktmomente eines deutschen Friedensvertrags in erster Linie über den Mechanismus des Berlin-Problems, das eigentlich der friedensvertraglichen Lösung der Deutschlandfrage untergeordnet war. Die Entwicklung von OstWest-Konflikt und Kaltem Krieg und vor allem der konkreten Deutschlandinteressen der Großmächte, die letztlich im Dualismus der Supermächte ihren bündigsten Ausdruck fanden, kehrte das Verhältnis vom allgemeinen zum besonderen zeitweilig politisch um. Die Berlin-Krise schob sich in den Vordergrund der politischen Bühne und verdeckte die Tiefe des deutschlandpolitischen Hintergrunds. Die Aktualität der Berlin-Frage, ihre Affinität für Spannungseskalation und Krieg lenkte die Ausmerksamkeit der west-östlichen Gesellschaften magisch auf einen politisch-geographischen Punkt, von dem aus die Welt atomar aushebelbar schien. Vergleicht man die Berlinpolitik der Bundesregierung und SED-Führung, fällt zunächst eine gewichtige Ähnlichkeit ins Auge. Beide repräsentierten im genannten Zeitraum einen harten Konfrontationskurs. Kennedy und die fuhrenden Politiker im Westen, prinzipiell bereit, für die Freiheit Berlins und seiner Zufahrtswege, sollten Vernunft und friedliche Mittel versagen, den bewaffneten Konflikt zu riskieren, favorisierten einen flexiblen Kurs. Sie zeigten Kompromißbereitschaft; dagegen lehnte die Bundesregierung Konzessionen an den Osten und eine beweglichere Politik gegenüber Moskau als zu „weich" ab. Während Moskau bei seiner im ganzen konfrontativen und ultimativen Berlinpolitik das Kriegsrisiko scheute und mit Rücksicht auf die globalen Interessen der UdSSR und den Weltfrieden Eskalationen zu begrenzen suchte, drängte die SED zu einer aggressiven, aber nichtmilitärischen Lösung der Berlinfrage und zeigte sich risikobereit. Sie suchte Entscheidungen, die den Frieden, in der erklärten Absicht, ihn zu erhalten, objektiv gefährdeten. Beide deutsche Regierungen einte die Absicht, ihre Berlinziele mit äußerster Konsequenz, zwar ohne militärische Mittel, 101

102

„Politischer Brief Winzers an alle Leiter der Auslandsvertretungen der DDR, 17.11.1962, in: ebenda, IV 2/2028/52, S. 6f. „Bericht über die politisch-ideologische Arbeit zur Zeit der Ereignisse in Kuba", undat., in: ebenda, IV 2/12/16, Bl. 208.

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aber mit Stärke und Härte durchzusetzen. Beide versuchten, Druck auf ihre Bündnispartner auszuüben. Sowohl die SED als auch die Bundesregierung gerieten dabei zumindest zeitweilig in einen Konflikt mit ihren jeweiligen Führungsmächten. Wenngleich ihre Funktionen als Triebkräfte des Berlinkonflikts ähnlich waren, so verhielten sich die Motive des berlinpolitischen Handelns beider deutscher Regierungen zueinander diametral entgegengesetzt. Während die SED mit der Aspiration auf Hoheitsrechte in Berlin und mit der angestrebten Kontrolle über die Verbindungswege der Stadt die Souveränität der DDR erweitern und die internationale Anerkennung, bzw. Aufwertung erreichen wollte, suchte die Bundesrepublik machtpolitischen, aber auch moralischen Geboten und dem Grundgesetz folgend, genau das zu verhindern. Bei der Analyse des konkreten Prozesses darf freilich nicht übersehen werden, daß sich die Bundesrepublik und das westliche Bündnis beim Berlinproblem völkerrechtlich, politisch und moralisch im Recht befanden und nach Lage der Dinge insgesamt defensiv handelten. Zu berücksichtigen bleibt aber auch eine durch Alleinvertretungsanspruch und Hallsteindoktrin mitverursachte besondere Empfindlichkeit und Aggressivität der SED, die den prinzipiellen und politischen Grundsätzen ihres politischen Gegners natürlich nicht zu folgen vermochte.

6. Chruschtschows berlinpolitische Korrekturansätze und die „verordnete" Passierscheinpolitik der SED-Führung Am 12. Januar 1963 nahmen die DDR und das Kuba Fidel Castros diplomatische Beziehungen auf. Am 14. Januar rief die Bundesregierung, getreu der Hallsteindoktrin, ihren Botschafter aus Havanna ab. Was für die SED ein propagandistischer Erfolg war, blieb für die Bundesrepublik folgenlos. Der kubanische Schritt zog keine neuen Anerkennungen der DDR nach sich. Insofern gab es kein kubanisches Beispiel. Die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik hinderte viele Staaten der Dritten Welt, von denen viele Bonner Entwicklungshilfe erhielten, daran, mit der DDR völkerrechtliche Verbindungen einzugehen. Kuba befand sich, ähnlich der DDR, in einer weitgehenden Isolation. Im übrigen erfuhr die Bundesrepublik am Beispiel Jugoslawiens, des für sie ungleich wichtigeren Landes, daß ein Abbruch völkerrechtlicher Beziehungen nicht unbedingt eine Trübung der wirtschaftlichen und anderer Verbindungen bedeuten mußte. Ein hochrangiger jugoslawischer Politiker hatte mit seinem Spott so Unrecht nicht: „Mit der Bundesrepublik haben wir keine Beziehungen, diese sind jedoch gut. Mit der DDR haben wir Beziehungen, diese sind jedoch sehr schlecht."103 Die ersten Wochen des neuen Jahres legte das Politbüro ein Hauptaugenmerk auf die Vorbereitung des VI. Parteitages, der ein neues Programm der SED und ein neues Parteistatut verabschieden sollte. Innenpolitische, vor allem wirtschaftliche Probleme standen im Vordergrund, lenkten vorläufig von den Fragen eines Friedensvertrags und einer Westberlinregelung ab. In den Vordergrund der politischen Auseinandersetzung mit dem Westen rückten konkrete Fragen. Sie wiesen auf die unveränderte Interessenlage der sowjetischen Europa- und 103

Ausarbeitung des Referats 705 des AA: „Das Verhältnis der Bundesrepublik zu den osteuropäischen Satellitenstaaten, insbesondere Polen und Jugoslawien", 18.4.1962, in: BA Koblenz, NL 239/111, S. 4.

Chruschtschows berlinpolitische Korrekturansätze

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Deutschlandpolitik hin: Sicherung des Besitzstands der UdSSR durch eine völkerrechtliche Fixierung des Status quo. Das bedeutete besonders eine Festschreibung der bestehenden Grenzen einschließlich derjenigen an Oder und Neiße. Die Forderung nach einer „Anerkennung der Realität" faßte ein ganzes Programm in kürzester Form zusammen. Nach dem Kuba-Schock vom Herbst 1962 gaben Chruschtschow und die sowjetische Führung einer wirksamen Entspannung eine größere Chance. Das bedeutete für sie praktisch, ihren konfrontativen Berlinkurs zu überdenken, der möglicherweise zu dem Krieg fuhren konnte, der in Kuba im Oktober des vergangenen Jahres gerade noch verhindert worden war. Neue Ideen von Konfliktbegrenzung und vertrauensbildenden Maßnahmen schlössen aber die Gefahr einer neuen Runde des Wettrüstens in ein globales Konzept ein. Die Sowjetunion besaß vor allem quantitativ einen Vorsprung in der konventionellen Rüstung, die USA ein immer noch erhebliches Plus auf den Feldern atomarer Bewaffnung, hier vor allem bei der Entwicklung von Mittelstreckenraketen und von Langstreckenbombern. Daher hatte die Chruschtschow-Regierung Interesse an einem Stop der amerikanischen atomaren Rüstung und überhaupt an einer Weiterentwicklung nuklearer Waffen. Die Sowjetunion beunruhigte auch der Gedanke einer Ausdehnung der amerikanischen Atomstreitmacht innerhalb der NATO, etwa eine Teilhabe der Bundesrepublik an Nuklearwaffen. Vor allem wollte die UdSSR eine Regelung der deutschen Frage im Sinne der Zwei-Staaten-Theorie. Das legte sie auf die Anerkennung der DDR als zweiten deutschen Staat und damit auf die Überwindung der Isolation der SED fest und engte ihre deutschlandpolitische Beweglichkeit erheblich ein. Diese im wesentlichen seit 1955 unveränderte Deutschlandstrategie trat auf dem VI. Parteitag der SED, dem Chruschtschow als Gast beiwohnte, in einer aktuellen „Gemengelage" hervor. Ulbricht schlug in seiner Rede vor dem Plenum des vom 15.-21. Januar tagenden Parteitages ein in sieben Punkten abgefaßtes „Abkommen der Vernunft und des guten Willens" vor, das von der Existenz „zweier deutscher Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung" ausging. Im einzelnen sollten Existenz und Grenzen des jeweils anderen deutschen Staates und seine politische und gesellschaftliche Ordnung respektiert und von beiden Seiten ein feierlicher Gewaltverzicht ausgesprochen werden. Eine zentrale Position nahm Punkt 3 mit einem ebenfalls feierlichen Verzicht beider Staaten auf die „Erprobung, den Besitz, die Herstellung und den Erwerb von Kernwaffen sowie auf die Verfügungsgewalt über sie" ein. Es folgte ein Rüstungsstopgebot, verbunden mit der Verpflichtung, die Ausgaben für militärische Zwecke nicht zu erhöhen. Die gegenseitige Anerkennung der Reisepässe und der Staatsbürgerschaft, führte Ulbricht fort, seien die Voraussetzung für eine Normalisierung des Reiseverkehrs. Jede Diskriminierung und ungleiche Behandlung der Bürger beider deutscher Staaten seien zu unterlassen. Die letzten beiden Punkte behandelten die Herstellung normaler Sport- und Kulturbeziehungen und den Abschluß eines ausbaufähigen zwischendeutschen Handelsvertrags. 104 Der Vorschlag implizierte zwar die Konföderationsidee, betonte aber stärker als bisher eine dauerhafte Zweistaatlichkeit. Neu war die Unterstellung, es gäbe eine Staatsbürgerschaft der DDR, die 1963 weder in der Verfassung des Teilstaats verankert noch per Gesetz eingeführt worden war. Das von Ulbricht entworfene Programm blieb im wesentlichen am Ziel einer Anerkennung der DDR orientiert, wenngleich sich eine neue sowjetische Entspannungsoffensive in verschiedenen moderateren Formulierungen andeutete. 104

Archiv der Gegenwart, XXXII. Jg. 1963, S. 10362.

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Entspannung sollte offensichtlich um das Westberlinproblem keinen Bogen schlagen. So beabsichtigte Chruschtschow, sich am 17. Januar in seiner Pankower Residenz mit Berlins Regierendem Bürgermeister Willy Brandt intern zu treffen. Die Vorbereitungen waren durch dessen Berater Egon Bahr und den Botschaftsrat in der sowjetischen diplomatischen Vertretung in Ostberlin Viktor Belezki getroffen worden. Abrassimow informierte das Politbüro. Brandt kam dann nicht, weil er laut Information von der CDU-Fraktion des Senats unter Druck gesetzt worden war.105 Sie drohte mit dem Bruch der Berliner SPD/CDU-Koalition; Adenauer hingegen billigte Brandts Absicht. 106 Im großen hatte der enttäuschte Chruschtschow mehr Glück. Am 14. Januar nahmen UdSSR und USA Gespräche über die Einstellung von Atomwaffentests auf. Auch in der Berlinfrage redete man wieder miteinander. Auf der Grundlage einer sowjetischen Initiative trafen sich der amerikanische Außenminister Dean Rusk und der sowjetische Botschafter Anatoli Dobrynin zu einem Sondierungsgespräch in der Berlinfrage. Mitte April 1963 setzte man auch die Unterredung über Deutschland fort. Dabei kam zwar nicht mehr als ein Meinungsaustausch heraus. Aber man fand immerhin zu einem Dialog. Welchen Stellenwert besaß das Berlinproblem für die Sowjetunion noch zu Beginn des Jahres 1963? Mitte Februar 1963 führte Botschafter Abrassimow mit Staatssekretär Otto Winzer ein aufschlußreiches Gespräch. Der Diplomat informierte über die sowjetischen Pläne zu Westberlin. Die UdSSR habe, wenngleich man in Moskau neue amerikanische Vorschläge für möglich halte, „im gegenwärtigen Zeitpunkt keine Absicht, weitere Gespräche zwischen der Sowjetunion und den USA über Westberlin zu führen". Für Moskau stehe aber nach wie vor die Aufgabe einer „fortschreitenden Loslösung" der Stadt vom Westen, die Betonung ihrer Selbständigkeit, zur Diskussion. Abrassimow nannte dafür notwendige Maßnahmen: Die Vorbereitung für die Errichtung eines „selbständigen Generalkonsulats der UdSSR in Westberlin", unabhängig von der Ostberliner sowjetischen Botschaft, sowie Sondierungen über die Möglichkeit, ein gemischtes sowjetisch-Westberliner Handelsunternehmen und damit die Basis für eine selbständige Handelsvertretung der UdSSR in Westberlin zu schaffen. Da die kulturellen Beziehungen „bedeutend" erweitert werden sollten, plane man auch ein sowjetisches Kultur- und Informationszentrum und eine Vergrößerung des Pressevertriebs. Im übrigen versuche die UdSSR, ihre Arbeit mit in Westberlin tätigen westlichen Konsuln zu verbessern und hier neue Verbindungen zu schaffen. Es sei dringend notwendig, meinte der Botschafter, „mit diesen Leuten zu arbeiten, um sie nicht den Amerikanern zu überlassen". 107 Für die SED besonders interessant war die Aussage des Diplomaten, daß die westlichen Botschafter bei ihren Besuchen in der Ostberliner sowjetischen Botschaft nur in ihrer Eigenschaft als „Hohe Kommissare" empfangen werden würden. Er merkte an, daß die neuen Widersprüche zwischen Frankreich und den USA über Berlin politisch ausgenutzt und Washington dadurch zu Kompromissen u. a. in den Fragen der Auflösung der westalliierten Kommandanturen und der Unterstellung der Truppen unter die UNO-Flagge bewegt werden müßte. Abschließend riet er Winzer, unbedingt eine Regelung herbeizuführen, die es ermögliche, daß auch Westberliner in die DDR fahren können. Bislang durften das nur Westdeut-

105

106 107

Vgl. Information von W. Eberlein über eine Information des sowjetischen Botschafters P. Abrassimow, 18. 1. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/202/133. P. Koch, Willy Brandt. Eine politische Biographie, Berlin 1988, S. 258. Vermerk über eine Aussprache zwischen Abrassimow und Winzer, 18. 2.1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/133, S. lf, 4.

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sehe. Die Westberliner verständen das nicht. 108 Damit gab er zu verstehen, daß Moskau an einem allzu starren Junktim der DDR - Einreisegenehmigungen nur über offizielle Regierungsabkommen - nicht interessiert war und Flexibilität geraten sei. Abrassimows Ausführungen zeigen, daß die UdSSR auch im Verhältnis zu Westberlin an Entspannung interessiert war. Der Vorschlag zur Bildung der Freien Stadt fand intern keine Erwähnung mehr. Das Konzept, die alliierten Kommandanturen aufzulösen und die Besatzungstruppen einem UNO-Kommando zu unterstellen, blieb zwar in der Diskussion, schien aber nur noch im Zusammenhang mit den französisch-amerikanischen Spannungen eine aktuelle Dimension zu besitzen. Vielmehr drang die UdSSR auf praktische Maßnahmen. Sie richteten sich zwar auch auf eine Verbesserung der sowjetischen Position in Westberlin und waren geeignet, den alliierten Status der Stadt schrittweise abzubauen bzw. - z. B. durch Generalkonsulat und Verträge - zu „infiltrieren". Sie klammerten aber neue Drohungen, Ultimaten und andere konfrontativen Elemente aus. In vielem schienen sie ambivalent. Die Sowjetunion gab das Endziel nicht auf: Westberlin sollte „selbständig" werden. Die flexiblere Konzeption gefährdete den allmählich in Gang kommenden Entspannungsprozeß nicht; sie besaß langfristigen Charakter. Die von Abrassimow übermittelten sowjetischen Ziele setzten insbesondere Gespräche und Kontakte mit Westberliner Politikern voraus. Inwiefern widersprach die an der Notwendigkeit weltweiter Entspannung orientierte sowjetische Kurskorrektur dem Konzept der SED? Wie bereits angedeutet, hatte die Parteiführung auf dem VI. Parteitag mit einer gewissen Umorientierung auf die neuen Schwerpunkte Rüstungsstop und Verbot von Atomwaffen begonnen. Geschickt brachte sie den Friedensvertrag ins Spiel. „Die fehlende deutsche Friedensregelung macht ernsthafte Fortschritte in der Abrüstungsfrage unmöglich. Sie begünstigt auch die Aufblähung der Streitkräfte." 109 Die SED hielt eine „strenge Kontrolle" über die Ausschaltung von Kernwaffen, über einen Rüstungsstop und über die Verminderung konventioneller Streitkräfte in beiden deutschen Staaten durch eine paritätisch zusammengesetzte Kommission aus Vertretern der NATO und des Warschauer Vertrages, wie sie der dänischen Kommunistischen Partei vertraulich mitteilte, für möglich. 110 Das Politbüro beschloß, daß für den von Ulbricht vorgetragenen Sieben-Punkte-Plan des VI. Parteitages eine „breite internationale Unterstützung herbeizufuhren" sei. Außerdem sei dafür Sorge zu tragen, daß in der internationalen Öffentlichkeit „der Boden für spätere offizielle Schritte" vorbereitet werde. Die Notwendigkeit einer Friedensregelung wurde zwar wiederholt, gleichzeitig aber auch vom Politbüro die Bereitschaft „zu Kompromissen" herausgestellt. 111 Ein möglicher Ausgleich konnte in der Bereitschaft der SED liegen, Gespräche mit Westberliner Stellen unterhalb der offiziell-staatlichen zu führen und auch Kontakte zu Kreisen aufzunehmen, die der SED bislang suspekt waren, zum Beispiel zu Repräsentanten der Kirchen. Die UdSSR hatte zu Sondierungen ermuntert. Der sowjetische Botschafter in Bonn, Smirnow, wies Ulbricht sogar in „Anbetracht der großen Rolle, die die katholische Kirche in der BRD spielt, und ihrer Verbindungen zum Vatikan [wegen]" auf deren Kontakt108 109

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Vgl. ebenda, S. 7. Konzeption für die Beratungen mit einer Delegation des Zentralkomitees der KP Dänemarks, Anlage 1 zum Protokoll 12/63, Sitzung des Politbüros vom 23. 4. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/876, Bl. 8. Vgl. ebenda, Bl. 9. Maßnahmeplan für die langfristige Arbeit mit dem „Abkommen der Vernunft und des guten Willens" (7-Punkte-Vorschlag), Anlage 3 zum Protokoll 9/63, Sitzung des Politbüros vom 2.4.1963, in: ebenda, J IV 2/2/873, Bl. 19f.

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wünsche hin. 112 Abrassimow begrüßte auch ostdeutsche Gesprächsvorstellungen im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Besuchsmöglichkeiten für Westberliner in der DDR. Kontaktaufnahmen schienen um so greifbarer, als im SPD-geführten Westberliner Senat ein Umdenken stattfand. Nachdem die Mauer die Einflußzonen scharf markiert hatte, mußte sich die Stadtregierung unter Willy Brandt überlegen, wie man den Ängsten und der Enttäuschung der Westberliner und ihrem Verlangen, etwas zu tun, um die Grenze mitten durch die Stadt etwas erträglicher zu machen, entsprechen könne. Die sowjetisch-amerikanischen Sondierungsgespräche waren offensichtlich in dieser Frage ergebnislos. Auch eine anhaltende Weigerung des Senats der sich bislang als einzig rechtmäßiger Vertreter Berlins dargestellt hatte - mit der DDR zu verhandeln, blieb ohne Erfolg. So stellte „die allmähliche Aufgabe des Alleinvertretungsrechtes des Senats einen ersten Schritt dar, etwaige Gespräche mit der anderen Seite prinzipiell zu ermöglichen und konkret vorzubereiten. Der neue Pragmatismus ließ es ferner geraten erscheinen, gegenüber den West-Berlinern eine Sprache zu wählen, die die machtpolitischen Gegebenheiten nicht verhüllte. Von Berlin als der ,Hauptstadt im Wartestand' war nun nicht mehr die Rede." 113 Bereits im Januar 1962 hatte Brandt anläßlich eines Gesprächs mit dem Magazin „Der Spiegel" signalisiert, daß er bereit sei, Ostberliner Regierungsvertreter oder sogar Vertreter des Außenministeriums der DDR als Gesprächspartner zu akzeptieren. 114 Eine wichtige Voraussetzung für Brandts Flexibilität war sein Sieg bei den Wahlen zum Westberliner Abgeordnetenhaus am 17. Februar 1963. Die SPD erhielt 61,9 Prozent der Stimmen. Sie ging dennoch eine Koalition mit der FDP [7,9 Prozent] ein. Damit besaß Brandt ein sicheres demokratisches Mandat für Verhandlungen mit der DDR. Anfang April 1963 führte der Leiter des Presse- und Informationsamts des Senats, Egon Bahr, in Ostberlin inoffizielle Gespräche mit einem (nicht genannten) Regierungsvertreter der DDR. Bahr, der gerade eine USA-Reise hinter sich hatte, berichtete über die amerikanische Bereitschaft, der östlichen Auffassung zuzustimmen, daß die Kontingente in Westberlin keine NATO-Truppen seien. Bahr wußte um die Empfindlichkeit der SED in dieser und in der Frage der von der Bundesregierung immer wieder reklamierten Zugehörigkeit Westberlins zur Bundesrepublik. Er erklärte sich zu der Formulierung bereit, daß die Bundesrepublik „Westberlin nicht verwaltet und dort keinerlei anordnende Funktionen ausübt". Aktionen der SPD gegen Adenauer lehnte er ab: Je länger dieser auf seinem Posten verbleibe, „desto vorteilhafter wäre das für die Sozialdemokraten".115 Gespräche bahnten sich auch über Kontaktpersonen an. So berichtete der Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen des Presseamts beim Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Hermann von Berg, im August 1963 über die Ambitionen bekannter westdeutscher Journalisten, mit Stoph über die Ideen Bahrs zu sprechen und den Senat „in eine verschärfte Kontrastellung zu Bonn" zu bringen, was doch im Sinne der DDR liege.116 Der bekannte Fernsehjournalist Hanns W. Schwarze, der eine leitende Funktion im ZDF bekleidete, bot 112

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Schreiben Smirnows an Ulbricht, 22. 5. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/115. Vgl. dazu auch Schreiben Smirnows an Abrassimow (Kopie), ebenda. Vgl. Wetzlaugk, a.a.O., S. 177. Der Spiegel, 10. 1. 1962, S. 30. „Niederschrift der Unterredung mit dem Leiter der Abteilung Presse und Information des Westberliner Senats, E. Bahr", 16. 4. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/133, S. 2, 4. Aktennotiz v. Bergs über Gespräch mit Gembarth (stellv. Chefredakteur der Hauptabt. Politik des Westdt. Rundfunks), 2. 8. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/116.

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von Berg, der im Begriff war, der wichtigste Kontaktmann zum Westen zu werden, an, Brandt und Bahr zu sich nach Haus einzuladen. Von Berg folgerte zutreffend: Dieser offenbare Versuch zur Kontaktaufnahme decke sich mit der Aussage Brandts, man solle über vieles reden: „Wir können nicht auf dem offenen Markte ausbreiten, was dieses Viele sein könnte. Aber man sollte sich jedenfalls intern darüber verständigen." 117 Mitte des Jahres 1963 zeichnete sich ein Thema deutlich ab: Passierscheine für Westberliner zum Betreten Ostberlins, möglicherweise der DDR. Genau das hatte Moskau im Auge, wenngleich sich Chruschtschow in dieser Frage u. a. gegenüber dem Generalsuperintendenten der evangelisch-lutherischen Kirche in Westberlin, G. Heibich, für „neutral" erklärte. Er sei „nur ein Zuhörer", meinte Chruschtschow. Daß er das nicht war, zeigt seine im übrigen gezielte Androhung: „Ich sage ihnen im Vertrauen: wenn diese Nichtanerkennung der DDR auch in Zukunft fortgesetzt wird, dann werden wir zusammen mit Genossen Walter Ulbricht Maßnahmen erarbeiten und bestimmte Hindernisse für die Beziehungen Westberlins zur Außenwelt errichten, damit Brandt die Tatsache der Existenz der DDR noch stärker verspürt." 118 Das waren wieder einmal martialische Gesten Chruschtschows, dem bewußt war, daß Heibich, der im übrigen eindringlich um menschliche Erleichterungen für drangsalierte Christen in der DDR bat, das nicht für sich behalten würde. Seine kräftigen Worte berührten aber den „wunden" Punkt der Passierscheinverhandlungen. Der Senat wollte sie auf möglichst niedriger Ebene mit dem Ziel eines Verwaltungsabkommens führen, die DDR dagegen auf einer staatlichen Ebene, um ein Regierungsabkommen zu erreichen. Der Streit drohte das menschliche Anliegen zu vereiteln, zumal schon einmal - im Dezember 1962 - ein von Brandt initiiertes Passierscheinabkommen an dieser Frage der „Anerkennung", für die DDR eine Angelegenheit des Prestiges, gescheitert war. Vor allem deshalb waren interne Vorverhandlungen, die von Berg u. a. mit dem Chef der Berliner Senatskanzlei Dietrich Spangenberg geführt hatte 119 , und Fühlungnahmen zwischen DDR-Emissären und dem Fraktionsvorsitzenden der CDU im Westberliner Abgeordnetenhaus, Franz Amrehn 1 2 0 , bzw. mit einem offensichtlich vom Senat geschickten Mittelsmann, schon im Frühjahr 1962 ergebnislos verlaufen. In seiner Sitzung am 23. September 1963 beauftragte das Politbüro den stellvertretenden Außenminister der DDR, Johannes König, Brandt in einem Brief die sofortige Aufnahme von Kontakten vorzuschlagen. Als Verhandlungsführer benannte das Politbüro den Abteilungsleiter im MfAA Michael Kohl und Gerhard Herder, einen Mitarbeiter des gleichen Ministeriums. 121 Obwohl von Passierscheinen konkret nicht die Rede war, bedeutete das für die SED auch dafür die prinzipielle Weichenstellung. Ein Angebot des stellvertretenden Vorsitzenden des DDR-Ministerrats Alexander Abusch an Brandt, Westberlinern für die Zeit vom 15. Dezember 1963 bis 5. Januar 1964 Tagesaufenthaltsgenehmigungen zum Besuch ihrer Verwandten in Ostberlin auszustellen, erfolgte offiziell erst Anfang Dezember. Ulbricht erklärte die Verhandlungen zur „Chefsache". Selbst die technischen Fragen der Ausgabe von Passier117 118

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Aktennotiz v. Bergs über Gespräch mit H. W. Schwarze (ZDF), 25.7. 1963, in: ebenda. „Niederschrift der Unterredung des Genossen N. S. Chruschtschow mit dem Generalsuperintendenten der evangelischen Kirche in Westberlin, G. Heibich, 3. 7. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/133, S. 8. Vgl. J. Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993, S. 82. Vgl. ebenda. Vgl. Entwurf eines Schreibens J. Königs an W. Brandt, 23. 9. 1963, Anlage 9 zum Protokoll 32/63, Sitzung des Politbüros vom 17. 9. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/896, Bd. 2, Bl. 199-201.

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scheinen sollten ihm zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Abteilung Sicherheit des ZK habe ihm, so wies das Politbüro am 12. Dezember an, Jeden Tag über den Stand und über die Probleme, die sich bei der Durchfuhrung dieser Aktion ergeben", zu berichten. 122 Ulbricht wollte die Gespräche offenbar zu einem Ergebnis führen. Die offiziellen Verhandlungen zwischen Erich Wendt und dem Westberliner Senatsrat Horst Korber endeten mit dem (ersten) Passierscheinabkommen am 17. Dezember 1963. Nach Angaben der DDR fanden in der Zeit zwischen dem 19. Dezember 1963 und dem 5. Januar 1964 1 242 810 Besuche von Westberlinern im anderen Teil der Stadt statt. 123 Die Passierscheinregelung, der die Bundesregierung - wenngleich nicht ohne Bedenken zugestimmt hatte, trug kurzfristig zu einer Verbesserung der Atmosphäre in Berlin und Deutschland bei. Ulbricht war mit dieser Aktion gut beraten. Indirekt führte sie, die von der SED propagandistisch ausgiebig genutzt wurde, zumindest zu einer Kenntnisnahme der DDR und ihrer Regierung. Die „salvatorische Klausel" des Protokolls, beide Seiten hätten festgestellt, „daß eine Einigung über die Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte", 124 umging zwar eine formale Anerkennung der Staatlichkeit des Gesprächspartners DDR, wertete ihn aber auf. Die Bedeutung des Passierscheinabkommens für die Parteiführung wird nicht nur in dem Umstand sichtbar, daß das Politbüro in der Zeit vom 12. bis 17. Dezember in dieser Angelegenheit fünfmal zusammentrat. Noch am 17. Dezember, dem Tag der Unterzeichnung, schrieb Ulbricht an Chruschtschow, daß der Abschluß „ein Beispiel [sei] für die Möglichkeit, die auch für Verhandlungen zwischen der Regierung der DDR und der Regierung der Bundesrepublik in Bonn geschaffen werden sollte."125 Das Verfahren und das Ergebnis der Verhandlungen ließen der SED einen beachtlichen Interpretationsspielraum. Vor allem konnte sie sich als Initiatorin der Entspannung und als Interessenvertreterin der Westberliner empfinden und präsentieren. Die bekannte westdeutsche Oppositionelle Klara Maria Faßbinder, die führend in der mit der SED verbundenen Friedensbewegung tätig war, drang auf die Weiterführung der aus ihrer Sicht vernünftigen humanitären Aktion: „Dann sind Sie, die DDR, der Sieger und das wird Ihnen international mehr als alles helfen", übermittelte sie Abusch. 126 Genau daraufkam es der SED an. Das Passierscheinabkommen fügte sich in den berlinpolitischen Kurs der KPdSU relativ harmonisch ein. Die UdSSR wußte seit dem Beginn der Berlin-Krise Ende 1958 durchaus härtere und weichere Gangarten, je nach aktueller Lage, entweder zu kombinieren oder einmal die eine, ein anderes Mal die andere in den Vordergrund zu rücken. Das Passierscheinagreement stand jedoch nicht in der bislang durchgängig konfrontativen Kontinuität ostdeutscher kommunistischer Berlin- und Deutschlandpolitik, wie sie seit 1948 betrieben worden war. Stellten das Passierscheinabkommen und Kontaktversuche die Ausnahme von der Regel dar oder eröffneten sie eine flexiblere Linie der SED-Politik? Änderten sich die berlinpolitischen Ziele des Politbüros und damit möglicherweise dessen Position zu einem Friedensvertrag?

122 '23 >24 >25

Beschluß des Politbüros, Protokoll 45/63, 12. 12. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/910, Bl. lf. Vgl. G. Keiderling, Berlin 1945-1986. Geschichte der Hauptstadt der DDR, Berlin 1987, S. 162. D. Mahncke, a.a.O., S. 220. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 17.12.1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/202/141, Bd. 1, S. 2. >26 Schreiben K. M. Faßbinders an A. Abusch, 20. 12. 1963, in: ebenda, IV A2/2038/115.

Maximalforderungen der SED und die veränderte sowjetische Interessenlage

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7. Die neuen Maximalforderungen der SED zu Berlin in der Auseinandersetzung mit der veränderten sowjetischen Interessenlage In den ersten Monaten des Jahres 1963 befand sich die UdSSR in einer politisch-diplomatischen Offensive, die sich gegen die westlichen Pläne einer NATO-Atomstreitmacht, das Röhrenembargo und auch gegen den im Januar abgeschlossenen deutsch-französischen Vertrag richtete. Gleichzeitig sondierte sie zusammen mit den USA die Möglichkeiten eines Atomteststopabkommens. Diese Vorstöße lenkten ihre Aufmerksamkeit von den Themen Berlin und Deutschland in gewisser Weise ab. Erst als Präsident Kennedy im Anschluß an einen Besuch der Bundesrepublik am 26. Juni 1963 in Westberlin eintraf und dort seine denkwürdige Rede hielt, konzentrierte die Sowjetunion ihr Interesse wieder kurzfristig auf diesen Brennpunkt der Weltpolitik. Kennedys Rede auf dem Rudolf-Wilde-Platz vor dem Schöneberger Rathaus gipfelte in die Worte. „Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: ,Ich bin ein Bürger Roms.' Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann: ,Ich bin ein Berliner.' Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen, worum es heute in der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen. [...] Ein Leben in der Freiheit ist nicht leicht und die Demokratie ist nicht vollkommen. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen." 1 2 7 Das Auftreten Kennedys in Westberlin zeitigte vor allem psychologische Wirkung. Der höchste politische Repräsentant der USA demonstrierte die Entschlossenheit, für die Stadt und ihre Bewohner mit allen ihm zur Verfugung stehenden Mitteln einzutreten. Er erklärte sich mit den Westberlinern solidarisch. Darin lag die Hauptursache für die Sympathiewoge, die dem amerikanischen Präsidenten entgegenschlug. Der Zufall wollte es, daß der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow - Anlaß war der 70. Geburtstag Ulbrichts - sich fast zur gleichen Zeit in Berlin aufhielt. So wurde eine Kundgebung mit dem temperamentvollen sowjetischen Politiker am 2. Juli 1963 in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle zu einer Art Gegenveranstaltung. Zwar kritisierte Chruschtschow vor allem „Kanzler Adenauer und sein Sprachrohr Brandt, der sich als Sozialist bezeichnet, aber ein Lakai des Kapitalismus ist." Aber es zeigte sich besonders unverhohlener Ärger und Enttäuschung über Kennedy, dem er Doppelzüngigkeit vorwarf: „Man kann sich schwer vorstellen, wie ein und derselbe Mensch in so kurzer Zeit und obwohl sich in der internationalen Lage keine wesentliche Veränderungen vollzogen haben, Reden halten kann, in denen Äußerungen enthalten sind, die einander ausschließen." 128 Der Zorn über Willy Brandt mag etwas künstlich gewesen sein, denn Chruschtschow plante für den 2. Juli 1963 ein Treffen mit dem so übel Kritisierten. Ulbricht nahm zum Plan Chruschtschows mit Belehrungen darüber, was dieser dem Regierenden Bürgermeister eigentlich sagen sollte und mit der Anmerkung, daß die interne Zusammenkunft „nur stattfinden [könnte] in Ihrem Wohnsitz in Niederschönhausen" Stellung. Ulbricht schien von einem

127

Zitiert nach: Archiv der Gegenwart, XXXIII. Jg. 1963, S. 10655. « Zit. nach: ebenda, S. 10672f.

12

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Dialog zwischen Chruschtschow und Brandt nicht sonderlich begeistert gewesen zu sein. Mit seinem tendenziösen Urteil, daß die Situation, durch die „Restaurierung der alten Kräfte in Westdeutschland" gefährlich sei, versuchte er Chruschtschow aufzustacheln: „Die Lage ist sogar schlimmer als vor dem zweiten Weltkrieg, da die USA jetzt auch noch bereit sind, den westdeutschen Militaristen das Mitbestimmungsrecht über den Einsatz von Atomwaffen in der NATO zu gewähren." 129 Warum das von Chruschtschow gewünschte Treffen mit Brandt nicht stattfand, bleibt fraglich. Noch einmal flackerte Ende Juni/Anfang Juli 1963 der Konflikt auf. Es muß dahingestellt bleiben, ob Chruschtschows Kritik an Kennedys Auftreten in Berlin das Politbüro veranlaßte, Moskau mit neuen Vorstellungen über die Erweiterung der Rechte der DDR in Westberlin zu konfrontieren. Offensichtlich erst nach den Besuchen der so befähigten und doch so ungleichen Führer der beiden gegensätzlichen Welten erarbeitete die SED-Parteiführung Anfang bis Mitte Juli 1963 einen ganzen Katalog von Wünschen und Fragen, die Außenminister Lothar Bolz bei einer für den 18. Juli 1963 geplanten Konsultation mit dem sowjetischen Außenminister Gromyko in Moskau vortragen sollte. Unmittelbarer Anlaß der Konsultation war die für Mitte Juli 1963 angesetzte Besprechung der Ersten Sekretäre der kommunistischen und Arbeiterparteien der RGW-Staaten in Moskau. Am 15. Juli lag Ulbricht ein Positionspapier des MfAA vor, das federführend von dem Leiter der Rechtsabteilung des Ministeriums, dem begabten jungen Staats- und Völkerrechtler Michael Kohl, erarbeitet worden war. Das als „Arbeitsmaterial" bezeichnete Papier umfaßte 12 Punkte, über die sich die SED mit Moskau abstimmen wollte. Es sah u. a. die „ordentliche Bezahlung" aller Dienstleistungen der DDR für die „Okkupationstruppen" der Westmächte, Mieten und Kabelbenutzungsgebühren, die Abschaffung der „Wehrmachtstarife" für die Eisenbahn, der bislang kostenlosen Benutzung der Bahnanlagen und eine Erhebung von Straßenbenutzungsgebühren für die Westalliierten vor. Angehörige dieser Truppen sollten nach dem Papier nur noch gegen Valuta-Umtauschbescheinigungen in Ostberlin kaufen dürfen. Prinzipiell hätten alle Ausländer und Westdeutsche „einen gewissen Betrag ihrer Währung gegen DM der Deutschen Notenbank [der DDR - M. L.] einzutauschen". 1 3 0 Den vorrangig ökonomischen Zielen folgten wichtigere politische: erstens die Einführung der Ausweispflicht für alle Militärpersonen der Westmächte im Verkehr zwischen der Bundesrepublik und Westberlin gegenüber den Organen der DDR. Diese Ausweise seien vom Ministerium des Innern der DDR auszustellen. In diese Ausweispflicht sollten auch die Angehörigen der Militärverbindungsmissionen der Westmächte mit dem Sitz in Potsdam einbezogen werden. Das MfAA schlug vor: In „Umkehrung der,Agententheorie' des ehemaligen Außenministers Dulles [müsse] stärker zum Ausdruck kommen [...], daß die sowjetischen Kontrollorgane für die DDR tätig werden. Dies könnte z. B. dadurch geschehen, daß Organe der DDR (evtl. nicht Grenztruppen, sondern z.B. Transportpolizei) stärker in die Kontrollen der sowjetischen Organe einbezogen werden." Unter „bestimmten Umständen" könne die DDR die Einreise für Militärpersonen aller NATO-Staaten sperren. Eine Ausnahme dürfe nur der Transit von Truppen der drei Westmächte nach Westberlin bilden. Ein Mißbrauch der festgelegten Luftstraßen durch den zivilen Luftverkehr müsse ausgeschlossen werden. Die „Permits" der vorläufigen Schiffahrtserlaubnisscheine für die deutschen Küsten, 129 130

Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 7. 6. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/338, S. 2. „Arbeitsmaterial zu den bei der Konsultation in Moskau zu erörternden Problemen". Von M f A A (Kohl) an Ulbricht, in: ebenda, J I V 2/202/133, S. 1, 6, 12.

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Flußmündungen und Binnenwasserstraßen seien zu beseitigen. 131 Das stellte den bislang weitestgehenden konkreten Forderungskatalog der SED dar. Zweitens bestimmte das Papier, daß alle Militärpersonen der Westmächte, die sich in der DDR und Ostberlin bewegten, den Gesetzen der DDR unterliegen sollten. 132 Das bedeutete die Aufhebung vereinbarten alliierten Rechts. Drittens wurde die Liquidierung der Travelboard-Büros in Westberlin und der Permit Offices in Warschau, Prag, Budapest, Bukarest und Sofia verlangt und viertens die Aufhebung des alliierten Abrechnungsbüros für das Post- und Fernmeldewesen in Westberlin gefordert. 133 Bemerkenswert war der Wunsch, Institutionen (Permit Offices) zu beseitigen, die nicht auf deutschem Territorium lagen. Besonders wichtig schien der SED die Maßnahme gegen den „Intimfeind" Militärmissionen zu sein: „Zur Stärkung des internationalen Ansehens der DDR ist es auf jeden Fall erforderlich, zumindest die Ausweispflicht der Angehörigen der westlichen Militärmissionen in Potsdam bei Reisen durch die DDR durchzusetzen." 1 3 4 Damit war eine Art politisches Minimalziel für die Moskauer Verhandlungen formuliert. Es schien aber auch ein „Schlüssel" gefunden, um auch andere, alliiertes Recht in Frage stellende Souveränitätswünsche der SED umfassend zu erfüllen. Das Papier, das speziell für Ulbricht angefertigt und dann von ihm „abgesegnet" worden war, belegt, daß die Führung der SED nicht um einen Zoll von ihrem Ziel, schrittweise die Hoheit über die Verbindungswege und damit die Kontrolle der alliierten Militärbewegungen zwischen Westberlin und dem Bund zu erlangen, abgewichen war. Ulbricht stellte allerdings keine Forderungen mehr, die direkt eine Umwandlung der rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Innern Westberlins nach sich gezogen hätten. So verletzte er intellektuell nur ein „essential" - das des freien (auch von Beschränkungen freien) Zugangs in die Stadt. Aber auch hier muß man differenzieren. Während die politischen Forderungen insgesamt alliiertes (Nachkriegs-)Recht beeinträchtigten, mußten - sicher auch aus der Sicht des Westens - ökonomische Wünsche, die Gebühren u.a. betrafen als durchaus legitim und verhandelbar gelten. In der Summe reflektierte das Papier die konfrontative Kontinuitätslinie der SED-Berlinpolitik. Es sagte viel über die Ziele und die geplanten Methoden einer spezifisch ostdeutschen Berlinpolitik und auch über die Ideologie Ulbrichts und seines Zirkels, aber nichts über die errechneten Chancen aus, in Moskau hierfür Akzeptanz zu finden. Nach einem umfangreichen Aktenvermerk konferierten die beiden Außenminister Gromyko und Bolz am 18. Juli 1963 in zwei Sitzungen miteinander: vormittags von 10.00 bis 11.30 Uhr und nachmittags von 15.00 bis 18.30 Uhr. Der deutschen Delegation gehörten neben Bolz Verteidigungsminister Heinz Hoffmann und die Minister Willy Rumpf [Finanzen] und Erwin Kramer [Verkehr] sowie Otto Winzer, Michael Kohl, Botschafter Rudolf Dölling und der Leiter der 1. Europaabteilung im MfAA, Herbert Krolikowski, an. Die sowjetische Seite vertrat der Außenminister, sein Stellvertreter Wladimir Semjonow, der Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte der Warschauer Paktstaaten Marschall Andrej A. Gretschko, General Wladimir D. Iwanow, der Leiter der 3. Europaabteilung des sowjetischen Außenministeriums Iwan I. Iljitschow und sein Stellvertreter Valentin Falin. 131

Ebenda, S. 14-16, 33f., 40. 132 Ebenda, S. 19. 133 Vgl. ebenda, S. 22, 25. 134 Ebenda, S. 17.

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A u f der Tagesordnung standen drei Punkte: Erstens: „Über die Beseitigung der Überreste des zweiten Weltkrieges und des Okkupationsregimes." Zweitens: „Über die Durchbrechung der Hallstein-Doktrin." Drittens: „Über die Organisierung einer langfristigen internationalen Kampagne gegen die Überreste des zweiten Weltkrieges." 135 Man bediente sich also auch intern einer Terminologie, die von den offiziell-propagandistischen Schlagworten nicht abwich. Bolz trug die Wünsche und Vorstellungen der SED vor. Gromyko erklärte das Einverständnis der UdSSR in der Frage von Dienstleistungen. Man sollte „von den Gebühren ausgehen, die die D D R im normalen Verkehr fordern könne und die auch international üblich seien". Zum Problem des Transitverkehrs der „Okkupationstruppen" sehe die UdSSR perspektivisch eine Möglichkeit, „einen deutschen Vertreter zu den Kontrollen heranzuziehen, wenn die bisherige Regelung erhalten bleibe". Gromyko drückte sich aber auch in dieser Zukunftsfrage vorsichtig aus: Es sei wichtig zu sehen, daß sich diese Fragen „der Form nach zwar als technische Probleme darstellen, im eigentlichen Sinne aber ernste politische Probleme sind, die man bei möglichst geringem Risiko für die eigene Seite mit möglichst vielen Vorteilen lösen müsse".136 Seine Überlegung, was einmal sein könnte, blieb deshalb außerordentlich vage. Kategorisch lehnte er den Wunsch nach der Ausweispflicht und Kontrolle der westlichen Militärmissionen ab: Die UdSSR „halte im gegenwärtigen Zeitpunkt eine Veränderung des Verkehrs der Angehörigen der Militärmissionen nicht für zweckmäßig. Selbst wenn es auch nur zu gewissen Änderungen käme, müsse man mit Gegenmaßnahmen rechnen, die zur Schließung der sowjetischen Missionen in Westdeutschland fuhren könnten." Die Sowjetunion und der Warschauer Pakt, bemerkte der sowjetische Außenminister nüchtern, könnten bei einem derartigen Vorgehen „mehr verlieren als gewinnen". 137 Er stellte noch einmal zur Frage des Transits der „Okkupationstruppen" mit gleicher Deutlichkeit definitiv fest, „daß diese zurzeit nicht der Gesetzgebung der D D R unterliegen. Bei Zwischenfällen werden die sowjetischen Organe tätig." Gromyko ließ zwar das sowjetische Verständnis für die Vorstellungen der SED erkennen, aber er „betonte nochmals, daß man die gegenwärtige bestehende Praxis nicht ändern sollte, abgesehen von der möglichen Beteiligung eines deutschen Vertreters bei den sowjetischen Kontrollen." 138 Mit dieser Ausführung wies die UdSSR-Regierung das politische Hauptanliegen der SED zurück. Sie wünschte keine Veränderungen in der Transitregelung. Zum einen hielt sie sich damit voll an die „three essentials", die von der SED in Frage gestellt wurden, zum anderen stellte sie ihre Hoheitsrechte in keiner Weise zur Disposition. Dabei konnte sie der SED sowohl ihren guten Willen zur Übertragung souveräner Rechte an die D D R bekunden als auch ihr herzliches Bedauern darüber aussprechen, das Ziel aus internationalen Gründen nicht verfolgen zu können. Dennoch überlege die UdSSR - so verlautete als Trost - wie man die Bewegungsfreiheit der „Okkupationstruppen" einschränken könne. Das betreffe, führte Gromyko aus, die „massenhafte Einreise von Angehörigen der Okkupationstruppen in die Hauptstadt der DDR". So denke man daran, Autobusse nicht mehr nach Ostberlin hereinzu-

„Aktenvermerk über die erste Konsultation am 18.7.1963 von 10.00 bis 11.30 Uhr im Ministerium für Auswärtige Beziehungen der UdSSR", Moskau, in: ebenda, J I V 2/202/133, S. 1. Ebenda, S. 2. 137 Ebenda, S. 3.

13S

138

Ebenda, S. 4f.

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lassen. „Man müsse dafür natürlich noch einen entsprechenden Vorwand finden und auch prüfen, welche Maßnahmen der Gegenseite in Zukunft daraus entstehen könnten." Vielleicht, so überlegte Gromyko, könnte man auch eine „zahlenmäßige Quote" festsetzen, so daß die Einreisen von sowjetischen Militärangehörigen nach den Westsektoren mit den Einreisen westalliierter Militärpersonen nach Ostberlin verrechnet würden. Die SU sei aber der Ansicht - und damit folgte eine weitere Absage -, daß bei Besuchen von Diplomaten und anderen „offiziellen Persönlichkeiten" der Westmächte keine Veränderungen vorgenommen werden sollten.139 In der Frage einer möglichen Liquidierung des Travelboard reagierte Gromyko sachlich-kühl: „Die DDR solle auf die Dienstleistungen dieses Büros verzichten. Natürlich müsse die DDR aber dabei selbst die Schlußfolgerungen für die Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens ziehen. Mit den Schlußfolgerungen der DDR werde die UdSSR einverstanden sein." Die Permit-Offices berührten die Angelegenheiten anderer sozialistischer Staaten, die ein Interesse daran hätten, „daß einige Aktivitäten der Permit-Offices beibehalten würden". Also auch hier ein Negativbescheid.140 Zum Post- und Fernmeldewesen, so erfuhr die ostdeutsche Delegation von Gromyko, habe die UdSSR noch keine Meinung. Als brisant hatte sich die Vorstellung der SED dargestellt, bei „Provokationen" bzw. wenn es zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr käme, gemeinsame ostdeutsch-sowjetische „Grenzmaßnahmen" durchzufuhren. Gromyko entschied laut Aktenvermerk etwas salomonisch: „Es sei aber sehr schwierig, von vornherein festzulegen, welche Schritte in einer solchen Situation ergriffen werden müssen." Hier sollte man in der konkreten Situation entscheiden: „Derartige komplizierte Fragen könnten nicht vorab festgelegt werden."141 Damit war auch dieser Punkt schnell vom Moskauer Verhandlungstisch. Mehr Raum nahmen Gromykos Ausfuhrungen zur Luftsicherung und Benutzung der Lufttrassen ein. Nachdem die ostdeutschen Gäste das ideologische Schreckgespenst einer Zweckentfremdung der Luftkorridore heraufbeschworen hatten, räumte Gromyko, ein, „daß durchaus ein Mißbrauch der Lufttrassen vorkommen könne. Wie man hier reagieren müsse, bedürfe einer genauen Prüfung. Dies seien sehr delikate und sehr schwerwiegende Probleme. Die sowjetische Seite halte es nicht für zweckmäßig, ihren Vertreter aus der Luftsicherungszentrale zurückzuziehen [...]. Letztlich könne man den Mißbrauch der Lufttrassen nur mit Gewalt verhindern. Gerade im Zusammenhang damit sei die jeweilige Situation sorgfältig abzuwägen." Der sowjetische Außenminister lehnte auch die Beteiligung eines DDR-Vertreters in der Luftsicherungszentrale rundweg ab. Die Westmächte gingen darauf nicht ein. Die Zurückweisung ihrer Forderung schadete aber dem Prestige der DDR. Im ganzen könne man die Frage der Souveränität der DDR über ihren Luftraum nicht lösen. „Im Gegenteil würde durch die Beteiligung eines DDR-Vertreters der Eindruck entstehen können, daß die DDR diese Institutionen legalisiere."142 So machte Gromyko die sowjetische Entscheidung durchaus glaubwürdig. Die ostdeutsche Vorstellung über die faktische Auflösung der alliierten Luftsicherungsbehörde traf einen sowjetischen Nerv. Zum einen beabsichtigte die UdSSR aus politischen Gründen nicht, diese Behörde, die außer der Verwaltung des Spandauer Kriegsverbrechergefängnisses das letzte Organ des 1948 aufgelösten Alliierten Kontrollrats war, zu liquidieren. Die Behörde garantierte eine Mitkontrolle auch des Westberliner Luftraums. 139 140 141

Ebenda. Ebenda, S. 5f. Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 6f.

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Zum anderen erforderten militärische Gründe eine Weiterarbeit der sowjetischen Vertreter in diesem Organ. Im übrigen orientierte sich Gromyko weiter an den „three essentials", wenn er zu Recht darauf hinwies, daß eine Veränderung des Lufttrassen-Regimes Gewaltanwendung bedeutete. In einem Punkt ließ die Moskauer Führung mit sich reden. Ein gemeinsamer Beschluß hielt fest, daß Militärangehörige, die Ostberlin und die DDR besuchten, sich innerhalb dieser Territorien den in der DDR geltenden Gesetzen und Vorschriften unterzuordnen hätten. Würden diese verletzt, sei „entsprechend" zu handeln, „wobei im Falle der Notwendigkeit zwischen unseren Vertretern Kontakte aufzunehmen sind". Bei der Ordnung für Einreisen von Ausländern (Nichtdiplomaten) in die DDR, so gestand die UdSSR der SED zu, könne man Veränderungen vornehmen, „einschließlich der Einführung eines Visaregimes oder einer anderen für die DDR wünschenswerten Regelung".143 Zur Organisierung der „Kampagne gegen die Überreste des zweiten Weltkrieges" trug Gromyko seinen deutschen Genossen auf, ihre Vorschläge zu präzisieren. Besondere Bedeutung komme dabei, so beschied der sowjetische Minister, „einer klaren Formulierung des Selbstbestimmungsrechtes zu, da das Selbstbestimmungsrecht auch von der Adenauer-Regierung propagandistisch ausgewertet werde und man sich genau überlegen müsse, mit welchen Argumenten man in der Welt ankomme". 144 Diese Aufforderung, an Ulbricht im Konjunktiv weitergeleitet, klang für die SED ungewohnt. Das Selbstbestimmungsrecht, das bislang für sie eher ein Fremdwort gewesen war, bekam durch den Umstand Bedeutung, daß es in der Bonner Argumentation zur Wiedervereinigung eine zentrale Kategorie darstellte. Die Bundesregierung führte den Begriff erfolgreich gegen eine SED ins Feld, die den Volkswillen augenscheinlich ignorierte. So trat auch in der Skrupel nicht kennenden sowjetischen Argumentation - wie so oft mit negativem Vorzeichen - die deutsch-deutsche Aufeinanderbezogenheit zutage. Im übrigen erhielten der Begriff und Inhalt von „Selbstbestimmung" nur in einer Entspannungsphase, die einen ideologischen Streit ermöglichte, gewisses Gewicht. Verständnis zeigte die UdSSR für den Wunsch der deutschen Seite, „gemeinsame Maßnahmen der sozialistischen Staaten mit dem Ziel der Vorbereitung der Anerkennung der DDR und der Herstellung diplomatischer oder zumindest konsularischer Beziehungen des einen oder anderen kapitalistischen Landes zur DDR durchzufuhren". Das Anliegen war auch Moskau nur recht; immer wieder gaben die Staaten des Warschauer Pakts, nach außen Schulterschluß mit der SED demonstrierend, entsprechende Bekenntnisse ab, an die sie sich dann ungern binden ließen. Bolz zeigte Augenmaß: Die Aufmerksamkeit der sozialistischen Staaten müsse sich in der Anerkennungsfrage „auf eine begrenzte Zahl von Staaten [...] konzentrieren, um sie zur Normalisierung der Beziehungen zur DDR und ihrer Anerkennung zu veranlassen".145 Die Nachmittagssitzung des 18. Juli leiteten Semjonow und Winzer, die in ihren jeweiligen Außenministerien als politische Vordenker galten; der sowjetische Diplomat als bester Deutschland-Kenner, Winzer als Pragmatiker und vertraut mit der sowjetischen Mentalität. Gromyko und Bolz nahmen an der Nachmittagssitzung offensichtlich nicht teil. Semjonow 143

144

145

„Arbeitsnotizen, Erwägungen, die während der Konsultationen zum Ausdruck gebracht wurden", 18. 7. 1963, in: ebenda, S. 5f. „Aktenvermerk über die erste Konsultation am 18.7.1963 von 10.00 bis 11.30 Uhr im Ministerium für Auswärtige Beziehungen der UdSSR", Moskau, in: ebenda, J IV 2/202/133, S. 8. „Arbeitsnotizen, Erwägungen, die während der Konsultationen zum Ausdruck gebracht wurden", 18. 7. 1963, in: ebenda, lOf.

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galt als einflußreicher, aber vorsichtiger Politiker. Zur Auflockerung der Atmosphäre mag beigetragen haben, daß er Winzer persönlich kannte und schätzte. So glättete Semjonow einige Aussagen, die Gromyko - keineswegs nur im Umgang mit westlichen Politikern barsch definitiv und hart in den Raum gestellt hatte. So sagte Semjonow der SED die Unterstützung der UdSSR gegen das Travelboard zu; es müßten aber solide Maßnahmen sein, „die nicht das Risiko eines Prestigeverlustes einschließen". Winzer gab dem klugen Semjonow dezent zu verstehen, daß die DDR gegen geheime Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und den sozialistischen Staaten über konsularische Fragen sei. Denn nur „offizielle konsularische Beziehungen", so führte er aus, könnten „im Kampf gegen die Bonner Ausschließlichkeitsanmaßung" genutzt werden. Eine Einbeziehung Westberlins in Vereinbarungen, die sozialistische Staaten mit Bonn eingingen, müsse ausgeschlossen werden. 146 Dies lag voll im sowjetischen Interesse. Ein Dissenz tat sich woanders auf. Die UdSSR wandte sich gegen den von der DDR beabsichtigten Pflichtumtausch für Westdeutsche und Ausländer. Ein Zwang, fremde Landeswährungen, Devisen, in DM-Ost wechseln zu müssen, meinte Semjonow, könnte eine „Kampagne des Gegners" auslösen, „der es hochspielen werde, daß die DDR eine Art Zoll bei der Einreise verlange". Er, Semjonow, habe „vom moralisch-politischen Standpunkt Bedenken". 147 Der stellvertretende sowjetische Außenminister erläuterte auf eine entsprechende Frage noch einmal die Prinzipien der östlichen Berlinpolitik. Die Rechtslage der Transitwege sei von derjenigen in der Hauptstadt der DDR zu unterscheiden. Im ersten Fall gelten internationale Abmachungen, im zweiten die Bestimmungen der DDR. Winzer akzeptierte, warf dann aber noch einmal die Frage des Luftverkehrs auf. Semjonow hatte bereits klargestellt, daß die UdSSR die Praxis des zivilen westlichen Flugverkehrs von und nach Westberlin nicht zu verändern gedenke - hier sei ein Gewohnheitsrecht geschaffen worden -, als Winzer die Absicht der SED äußerte, eine internationale Kampagne gegen den nichtvertraglichen zivilen Flugverkehr zu eröffnen. Der Gesprächspartner konterte: Man dürfe die Situation nicht überspannen. „Wir sollten als die stärkere Seite in der Westberlinfrage mehr mit Fakten als mit Propaganda arbeiten. Westberlin befinde sich in unserer Zange [...]. Angesichts dieser guten Ausgangsposition solle man sich nicht auf kleine Provokationen des Gegners einlassen. Je stärker von unserer Seite der Grund gelegt wird, umso besser sei später die Wirkung. Nicht durchsetzbare Vorschläge seien schlechte Vorschläge." 148 Das richtete sich als vernünftige Mahnung natürlich an Ulbricht. Winzer mag enttäuscht gewesen sein, aber er kam offensichtlich nicht umhin, die sowjetische Position - wenn er sie überhaupt verstand - zu akzeptieren. Semjonow wies am Schluß der Besprechung recht eindrucksvoll auf verschiedene Ziele und Methoden des neuen berlinpolitischen Kurses der UdSSR hin. Die Beseitigung der Überreste des Zweiten Weltkrieges müsse immer als Schritt zum Friedensvertrag dargestellt werden. Er bleibe das „wesentlichste Ziel". Die Sowjetunion werde „weiterhin auf einen Friedensvertrag drücken und den Westmächten keine Ruhe in Westberlin lassen. Wie bei einer Schilderung von Tschechow werde man die Schrauben aus den Geleisen nehmen, nicht alle, sondern immer nur die zweite, so daß der Zug nicht entgleist, aber immer eine unruhige Lage entsteht."!

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147 148

„Aktenvermerk über die Beratung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der deutschen und der sowjetischen Delegation zu den Moskauer Konsultationen am 18. 7. 1963 von 15.00 bis 18.30 Uhr", in: ebenda, S. 11. Ebenda, S. 15f. Ebenda, S. 25.

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Es werde keinen Separatfriedensvertrag mit der DDR geben: „Ein deutscher Friedensvertrag muß her." 149 Was die Frage der diplomatischen Anerkennung der DDR betreffe, so gestand Semjonow, habe die UdSSR „zur Zeit noch keine konkreten Überlegungen". 150 Die politische Praxis bestätige diese Aussage. Resultierte die Konzeptionslosigkeit der Moskauer Führung, die bereits 1955 die Zwei-Staaten-Theorie verkündet und damit bei der Anerkennungspolitik in die Pflicht genommen war, aus einer Unterbewertung der DDR? Hatte man bislang geglaubt, einen „schnellen" Friedensvertrag abschließen zu können, der eine in der Tat aufwendige Strategie zur Durchsetzung der Anerkennung der DDR erübrigte? Einiges spricht dafür. Gesichert erscheint die durch die Praxis der späteren Jahre erhärtete Aussage des kompetenten Semjonow, daß die UdSSR Westberlin künstlich als Unruheherd erhalten und über ihn gegebenenfalls wieder Druck auf die Westmächte ausüben wollte. Von außerordentlich großer Bedeutung für Ulbricht war auch Semjonows eindeutige Bemerkung, daß ein separater Friedensvertrag mit der DDR für Moskau nicht mehr in Frage komme, ein deutscher Friedensvertrag aber aktuell bleibe. Die Unterredung der DDR-Regierungsdelegation mit der Leitung des sowjetischen Außenministeriums kam einem klassischem „Befehlsempfang" gleich. Das Gespräch zeigte die relativ schwache Position der SED, die erst jetzt, ab dem zweiten Halbjahr 1963, begann, die seit 1960 andauernde permanente Systemkrise, vor allem ihre wirtschaftlichen Auswirkungen, zu überwinden. Die Diskussion des 18. Juli 1963 es ist den Akten nicht zu entnehmen, ob die für den 19. Juli angesetzte abschließende Vollsitzung noch stattfand - verdeutlichte der SED den berlinpolitischen Kurswechsel der KPdSU. Die Sowjetunion schaltete auf längerfristige Lösungen um, nahm der Auseinandersetzung die konfrontative Schärfe und respektierte die „three essentials", die zum Maß berlinpolitischer Entscheidungen Moskaus gerieten. Trotz markiger Sprüche, die Chruschtschow und sowjetische Militärs gelegentlich in der davon nicht mehr sonderlich überraschten ostwestlichen Öffentlichkeit äußerten, setzte die sowjetische Führung jetzt auf einen bedingten Entspannungskurs, der risikoreiche Experimente in und um Berlin nicht mehr zuließ. Die politische Konzeption Moskaus veränderte sich, denn der Atomwaffenteststopvertrag stand auf der Tagesordnung. Die Erfahrungen aus der gefährlichen Doppelkrise um Kuba und Westberlin trugen zu einer nachhaltigen Abschwächung des Kalten Krieges bei. In Moskau wog man die Chancen und Risiken einer Konfrontationspolitik gegeneinander ab. Ein ähnlicher Prozeß prägte auch die amerikanische Politik. Nicht erst in den siebziger Jahren, sondern bereits jetzt entwickelte sich die systemübergreifende Erkenntnis, daß ein atomarer Krieg die Menschheit nicht nur schwer schädigen, sondern möglicherweise vernichten könnte. Semjonows Ausführungen belegen, daß die KPdSU an ihren Zielen zu Berlin festhielt. Ihr Verzicht auf einen separaten Friedensvertrag bedeutete auch die Aufgabe der hochgesteckten Pläne zur Bildung einer Freien Stadt, die ja über den Mechanismus oder doch im Umfeld eines Friedensvertrags entstehen sollte. Die Ablehnung eines Separatvertrags zerstörte alle Hoffnungen der SED auf eine Übertragung sowjetischer alliierter Hoheitsrechte auf die DDR. Die schon angelaufene Entwicklung erhielt nun die Qualität des Definitiven. Die sowjetische Entscheidung entzog der SED eine wesentliche Grundlage ihres vorrangig konfrontativen und risikoreichen Berlinkurses. Sie erschien in Moskau am 18. Juli 1963 mit einem Maximalprogramm. Einen Tag später fuhr ihre Delegation faktisch mit einem Minimalprogramm nach Hause. Ulbrichts weitreichende i « Ebenda, S. 31. 150 Ebenda, S. 33.

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Forderungen, letzter wirklicher Höhepunkt und Ausklang seiner aggressiven Krisenpolitik, erwiesen sich als untaugliches Mittel, die Sowjetunion noch einmal in eine der SED genehme Richtung zu drängen. So erscheint der von Moskau gewünschte neue politisch flexiblere Akzent der SED, der sich in der Passierscheinlösung zeigte, als eine Konsequenz der sowjetischen Umorientierung in Berlin. Er ersetzte den konfrontativen Impetus der DDRPolitik keineswegs, sondern wurde ihm zunächst zur Seite gestellt. Er war Korrelat und Korrektiv, barg aber eine prinzipiell andere - die kooperative - Möglichkeit schon in sich. Flexibilität und Beharrung vermischten sich jetzt. Andere Probleme stellten sich, die andere Lösungsmethoden erforderten.

8. Deutsche Initiativen im Kontext sowjetisch-amerikanischer Entspannungspolitik Die neuen Probleme wurden wiederum von der UdSSR definiert. Zu Beginn des Jahres 1963 stand der deutsch-französische Freundschaftsvertrag vom 22. Januar (Elyseevertrag) im Vordergrund der gemeinsamen östlichen Propagandaangriffe. Das Politbüro beachtete kaum, daß das Abkommen auch als Konsequenz aus dem Scheitern der Pläne zur Bildung einer Europäischen Politischen Union abgeschlossen worden war und zur Polarisierung der mehr auf die USA bezogenen Bonner Politiker um Schröder („Atlantiker") und der stärker frankreichorientierten Kräfte unter Führung Adenauers („Gaullisten") beitrug. Die SED-Führung lehnte die ganze Westintegration undifferenziert ab. Die Fehlbewertung des Elyseevertrages durch die SED nahm absurde Züge an. Er sei vom „Geist der Aggression und des Krieges" geprägt und „öffne" die Grenzen Frankreichs vollständig für den Einmarsch der westdeutschen Bundeswehr". Schließlich wollten die „westdeutschen Imperialisten" mit Hilfe des neuen Vertrags „ihre eigene Vorherrschaft in Westeuropa errichten, Frankreich fest an ihre Revanche- und Kriegspolitik binden, ihre Hand auf die französischen Kernwaffen legen und den Weg zur friedlichen Koexistenz, zur Abrüstung und Entspannung mit neuen Barrieren verbauen". 151 So lautete das zu einer Regierungserklärung erstarrende Urteil des Politbüros. Die völlig haltlosen Angriffe des Ostens auf den deutsch-französischen Vertrag prallten in Bonn ab. Hier machte man sich zum Abkommen andere Sorgen. Die Spannungen zwischen Frankreich und den USA einerseits und der Bundesregierung und Washington andererseits nahmen infolge des Vertrags zu. Kennedy verlangte auch gegenüber v. Brentano, der sich eher als „Atlantiker" fühlte, eine stärkere Beteiligung an der Verteidigung Europas, die auch auf eine höhere finanzielle Belastung der Bundesrepublik hinauslief und beklagte die mangelnde französische Kooperationsbereitschaft. Der C D U / CSU-Fraktionsvorsitzende gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß man die gemeinsame Politik „notfalls auch ohne Frankreich" fortsetzen müsse. Vielleicht sei „gerade das ein Weg, um de Gaulle zu zeigen, daß er sich selbst isoliere, und damit einen gewissen Einfluß auf ihn auszuüben" 152 , vertraute er Kennedy an. Während Adenauer in den letzten Monaten seiner 151

152

Entwurf einer Erklärung der Regierung der DDR (30. 1. 1963), Anlage zum Arbeitsprotokoll 1/63, Sitzung des Politbüros vom 29. 1. 1963, in: ebenda, J IV 2/2A/945. Aufzeichnung des Gesprächs v. Brentanos mit Präsident Kennedy, 22. 3. 1963, Washington, in: BA Koblenz, NL 239/111, S. 3.

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Kanzlerschaft noch stärker auf eine enge französisch-deutsche Kooperation setzte und deshalb auch in den eigenen Reihen heftig kritisiert wurde, 153 signalisierte der „Atlantiker" Kurt Birrenbach nach einem Gespräch mit Walt Rostow, dem Vorsitzenden des politischen Planungsstabs im US-Außenministerium, die USA seien bereit, der Bundesrepublik die Rolle eines „Seniorpartners" in der westlichen Allianz einzuräumen. 154 Auch diese Entwicklung erhielt in der Propaganda der SED, obwohl sie prinzipiell von den deutsch-französisch-amerikanischen Unstimmigkeiten Kenntnis hatte, keinen hohen Stellenwert. Offensichtlich war man in Ostberlin auch vom „Kampf der UdSSR gegen das westdeutsche Röhrenembargo abgelenkt, das die Atmosphäre zeitweilig wieder zu vergiften drohte. Als die Engländer andeuteten, anstelle der Bundesrepublik in das lukrative Liefergeschäft einzusteigen, versprach Kennedy Bonn, Jeden nur möglichen Druck auf die Engländer" auszuüben. 155 Diesmal ließ sich Chruschtschow nicht zu einer Überreaktion verleiten. In Berlin und in der deutschen Frage gab er wohl auch angesichts eines deutlicher werdenden westlichen Rückzugs Ruhe. In der Tat führte die beginnende atmosphärische Entspannung auch im Westen zu einer neuen Phase der deutschlandpolitischen Rat- und Perspektivlosigkeit. Die Zeit der internationalen Verhandlungen über die deutsche Frage war vorbei. Westberlin, „der frühere Pfahl im Fleisch der Sowjetzone", so unterstrich es das Bonner Auswärtige Amt, habe sich „in ein Sorgenkind der westlichen Gemeinschaft verwandelt"156, weil das Problem von der deutschen Frage abgekoppelt werden würde. Die Außenminister der Vier Mächte sollten, hielt das Außenamt fest, ihre Botschafter in Deutschland beauftragen, „aus gegebener Zuständigkeit der originären Rechte der Siegermächte in Berlin" gleichzeitig ihre Verantwortlichkeit für die Lösung der deutschen Frage wahrzunehmen und nach weiteren Entspannungsmöglichkeiten zu suchen. 157 Aber hier ging es nicht nur um das bislang hochgehaltene Junktim zwischen der deutschen und Berliner Frage, das langfristig nicht aufrechtzuhalten war. Die Entspannungstendenz schlug sich auch als westliche Deutschlandmüdigkeit nieder. Schließlich übersah man in der Bundeshauptstadt auch nicht, daß sich die Westmächte der Verantwortung für die Wiedervereinigung Deutschlands gern entledigt hätten. „Viele Regierungen", so bemerkte v. Brentano, seien nur zu gern bereit, das Problem, möglicherweise durch eine Anerkennung der DDR, auszuräumen. „Es sind nicht nur solche, die im Lager des Weltkommunismus stehen." Wenn Bonn die „Zone" anerkenne, so verdeutlichte der CDUPolitiker einem Bekannten, „dann werden viele das gerne als Vorwand oder als Anlaß benutzen, um ein Gleiches zu tun, d.h. sich endgültig mit der Tatsache zweier Staaten abfinden." Immerhin sah er, daß man die Wiedervereinigung nicht mit freien Wahlen einleiten könne und zunächst Vereinbarungen auf anderen Gebieten - „vielleicht Teilvereinbarungen für Rüstungsbeschränkungen und über Rüstungskontrollen" 158 - treffen müsse. Wie standen die Westmächte tatsächlich zu einem Engagement für die Lösung des deutschen Problems, nachdem die akute Gefahr in Berlin gebannt schien?

! » Vgl. Schwarz, a.a.O., S. 810-826. >5" Memorandum K. Birrenbach, Oktober 1963, in: BA Koblenz, NL 239/79, Bl. 135. 155 Aufzeichnung des Gesprächs v. Brentanos mit Präsident Kennedy, 22. 3. 1963, Washington, in: ebenda, NL 239/111, S. 3. 156 „Politische Notiz" des AA, undat., wahrscheinlich Mitte 1963, in: ebenda, NL 239/190, Bl. 4. 157 Ebenda, Bl. 5. 158 Schreiben v. Brentanos an H. Spiecker, 11. 2. 1963, in: ebenda, Bl. 133f.

Deutsche Initiativen und sowjetisch-amerikanische Entspannungspolitik

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Die USA gaben zu erkennen, daß sie die DDR weder rechtlich noch realpolitisch anerkennen, aber eine „gewisse faktische Aufwertung" Ostdeutschlands in Kauf nehmen würden, wenn sie damit verhindern könnten, daß die UdSSR den Westen interessierende Abkommen mit dem Hinweis auf eine Ausklammerung der DDR scheitern ließen. 159 Die USA seien nicht bereit, „für die Wiedervereinigung militärische Mittel einzusetzen". Es sei ihr Ziel, so hielt Birrenbach fest, „die Lage in Mitteleuropa flüssig zu halten, um bei einer künftigen Evolution im Ostblock eine zukünftige Lösung des Deutschlandproblems möglich zu machen". 160 Der ehemalige amerikanische Außenminister Dean Acheson, der 1963 außenpolitischer Berater Präsident Kennedys war, faßte die Meinung der Westmächte intern so zusammen: „Man könne wohl sagen, daß England nur den status quo beibehalten wolle und bereit wäre, alles zu tun, um Schwierigkeiten mit der Sowjetunion zu vermeiden. De Gaulle empfinde in Wirklichkeit dasselbe, sage aber, daß er zu seinen deutschen Freunden stehe. [...] Was Amerika angehe, so denke es an die Wiedervereinigung Deutschlands als ein Fernziel." 161 Diese globale Einschätzung, so richtig sie im Kern sein mochte, verdeckte freilich die politischen Differenzen innerhalb der drei westlichen Führungsländer. Der junge Rainer Barzel, im letzten Kabinett Adenauer Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, verwies z. B. auf die Zusicherungen von Labourpolitikern, die ihm versichert hätten, eine „prodeutsche Politik" machen und Ulbricht in keiner Weise anerkennen zu wollen. 162 Diskussionen brachen offensichtlich überall in den westlichen Hauptstädten auf. Ganz zweifelsfrei brachte die Beendigung des Berlinkonfliktes wieder Bewegung in die politische Landschaft, aber nicht in Deutschland. Die DDR-Führung erfuhr von dem stellvertretenden sowjetischen Außenministers Wassili W. Kusnezow, der in Begleitung von Botschafter Abrassimow am 11. Oktober 1963 bei Ulbricht, Hermann Axen (seit Anfang 1963 Kandidat des Politbüros des ZK der SED) Bolz und Peter Florin, dem Leiter der ZK-Abteilung Internationale Verbindungen, weilte, von den neuen sowjetischen Lageanalysen. Kusnezow berichtete über die Begegnung einer sowjetischen Regierungsdelegation mit dem amerikanischen Außenminister in New York. Rusk habe sich prinzipiell für einen Friedensvertrag, der leider zur Zeit nicht möglich sei, ausgesprochen und angemerkt, daß sich die Kontakte zwischen der DDR und der Bundesrepublik positiv entwickelten und auch die Entspannung und europäische Sicherheit Fortschritte machten. Ebenso verbesserten sich die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den osteuropäischen Staaten. 163 Das mag Ulbricht mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen haben, sah er doch darin vor allem den Versuch Bonns, mit Kreditangeboten und Offerten zur Errichtung von Handelsvertretungen an die Staaten des Warschauer Vertrags die DDR von den „sozialistischen Bruderländern" zu isolieren. Ulbricht befürchtete eine Störung der Wirtschaftsbeziehungen „zwischen den RGW-Ländern im allgemeinen und zur Deutschen Demokratischen Republik im besonderen", beobachtete „Zersetzung" und „Aufweichung" in den betreffenden sozialistischen Ländern und urteilte, daß Bonn die „Störung der Einheit und 159 160 161

162 163

Memorandum K. Birrenbach, Oktober 1963, in: ebenda, NL 239/79, Bl. 126. Ebenda, Bl. 127. Aufzeichnung des Gesprächs v. Brentanos mit Acheson, 20. 3. 1963, Washington, in: ebenda, NL 239/111, S. lf. Vgl. Schreiben Barzels an v. Brentano, 15. 7. 1963, in: ebenda, N L 239/171, Bl. 61. Aktenvermerk über das Gespräch, 10.10.1963, Anlage 1 zum Protokoll 35a/63, Sitzung des Politbüros vom 11. 10. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/900, Bl. 11.

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Geschlossenheit des sozialistischen Lagers und im besonderen der Beziehungen der einzelnen sozialistischen Länder zur Sowjetunion" 164 beabsichtige. Sein politisches Gespür trog nicht. Tatsächlich glaubte Bundesaußenminister Schröder, mit einer „Politik der Bewegung", mit lockenden wirtschaftlichen und finanziellen Angeboten - die östlichen Devisenkassen waren ständig leer - östliche Regimes, vor allem in Warschau, Bukarest und Budapest, den Zielen der Bonner Deutschlandpolitik geneigter machen zu können. So dachte Ulbricht im Prinzip nicht falsch, wenn er in dieser Politik ein Ausspielen der sozialistischen Staaten untereinander und den Versuch sah, die UdSSR und die DDR zumindest deutschlandpolitisch vom eigenen Bündnis abzukoppeln. Wenn das auch letztlich am Druck Moskaus scheiterte und es vor allem nicht gelang, Polen zur Annahme einer Westberlin-Klausel in ein Handelsabkommen (7. März 1963) zu bewegen, war doch eine Differenzierungsabsicht unverkennbar. Für Schröder bedeutete die Verweigerung der Berlinklausel durch Warschau allerdings keine Überraschung; „denn was wir damit von den Polen forderten, war nicht mehr und nicht weniger, als daß sie für ihren Teil die Berlin-Konzeption des Ostblocks verließen, um sich auf die Seite des Westens zu schlagen. Ich glaube, es hieße die Persönlichkeit und die Stellung Gomulkas falsch einschätzen, wenn man seinen Widerstand nur für ein taktisches Manöver gehalten hätte." 165 Schröder fuhr scharfsinnig mit der Frage fort, „ob wir deshalb, weil wir die Ostblockregierungen anläßlich von Wirtschaftsverhandlungen nicht zur Aufgabe ihrer Berlin-These bewegen können [Westberlin dürfe nicht von Bonn vertreten werden M. LJ, auf wirtschaftliche Vereinbarungen verzichten oder ob wir uns dieses Mittels bedienen sollen, um ein gewisses Maß von Kontakten mit diesen Regierungen aufrechtzuerhalten dies in der Hoffnung, dann auch einmal zu Fortschritten auf anderen Gebieten zu gelangen". 166 Hier zeigten sich zumindest Ansätze zum Wandel der bundesdeutschen Deutschland- und Ostpolitik. In einem anderen Schreiben an v. Brentano hatte Schröder die Billigung des deutsch-polnischen Handelsabkommens durch den Bundestag als risikolos bezeichnet, „weil es - ohne unsere politischen und rechtlichen Positionen in der Deutschland- und Berlinfrage zu beeinträchtigen - möglicherweise nützliche Ansätze zu einer im deutschen Interesse notwendigen Auflockerung in Osteuropa bietet". 167 Die wirtschaftlich starke und auch politisch attraktive Bundesrepublik konnte sich zweifellos ein hohes Maß an „Magnetismus" in Richtung Osten leisten, ohne jemals in die Gefahr zu geraten, von dort aus selbst „angezogen" zu werden. Das „Schaufenster" Bundesrepublik beunruhigte Ulbricht zu Recht. Er besaß keine Mittel, seine Anziehungskraft zu reduzieren. Die ostdeutsche Ohnmacht wurde verstärkt durch eine deutliche Ineffektivität des Außenministeriums. Axen und Florin beschwerten sich im Oktober 1963 bei Ulbricht über die „unbefriedigende Arbeit" des MfAA. Der Minister sei „nur nominell Leiter des Ministeriums. Er leitet und entscheidet nichts." Es herrsche Ressortgeist und Konzeptionslosigkeit.168 Das war eine selten offene Kritik. Tatsächlich ging das Politbüro daran, im Ministerium, das prinzipielle Fragen nicht zu entschei164 Vorlage des MfAA für das Politbüro: „Einschätzung der gegenwärtigen Außenpolitik Westdeutschlands" (überarbeitet von Axen, Florin und Geggel), Anlage zum Arbeitsprotokoll 38/63,29.10.1963, in: ebenda, J IV 2/2A/996. Schreiben Schröders an v. Brentano, 27. 7. 1963, in: BA Koblenz, NL 239/180, Bl. 22. 166 Ebenda, Bl. 23. 167 Schreiben Schröders, 12. 7. 1962, in: ebenda, Bl. 27. 16 « ZK-Hausmitteilung Axen und Florins an Ulbricht, 16. 10. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/183, Bd. 2, S. 2.

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den hatte und weitgehend ein ausführendes Organ blieb, personelle Veränderungen vorzunehmen. Eine ganz andere wichtige personelle Entscheidung sah man verstärkt nach dem April 1963 beim „Gegner" heranreifen. Der Rücktritt Adenauers nahte, und schon lag eine Bewertung seiner (und Ludwig Erhards) Persönlichkeit vor: „Die Persönlichkeit des Kanzlers war eine der wichtigsten Klammern, um die widerstreitenden Interessengruppen in der CDU/CSU zusammenzuhalten. [...] In der letzten Zeit ist nun der Differenzierungsprozeß noch weiter fortgeschritten und hat sogar die Führungsspitze erfaßt. Es ist daher zu erwarten, daß nach dem Rücktritt Adenauers die Krise in der CDU einen Höhepunkt erreichen und möglicherweise für längere Zeit anhalten wird. Das ist vor allem dann zu erwarten, wenn Erhard, eine offensichtlich schwache Figur, Nachfolger Adenauers werden sollte. Seine Kanzlerschaft wird ohnehin nur als Übergangslösung gedacht und sicherlich nur bis zu den nächsten Bundestagswahlen befristet sein. Diese Periode wird dann vermutlich ausgefüllt sein mit Auseinandersetzungen um die Nachfolge Erhards sowie mit einer Vielzahl von Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen von der CDU vertretenen sozialen Gruppen um innere [...] Probleme Westdeutschlands. Erhard dürfte als Kanzler schwerlich in der Lage sein, diese Auseinandersetzung unter Kontrolle zu halten." 169 Die Prognose für Erhards Regierungsübernahme sollte sich in vielem als richtig erweisen. Hier „prophezeite" die SED, was in Bonn hinter vorgehaltener Hand und nicht ohne Beteiligung des „Rhöndorfer Alten" in Umlauf gesetzt wurde. Ein spekulativer Ansatz zeigte sich in der Hoffnung der SED, daß nach dem Abgang Adenauers die politischen Eliten in der Bundesrepublik, vorrangig im Parteienspektrum von CDU und CSU, von einer Dauerkrise erfaßt werden würden. Diese Prognose wurde - unterschwellig - in der Hoffnung getroffen, daß man mit dem schwächeren Erhard besser auskommen könne. Die liberalere Denkart des potentiellen Adenauer-Nachfolgers, dessen Skepsis gegenüber wirtschaftlichen Sanktionen gegen die DDR Ostberlin nicht verborgen geblieben war, sein im Vergleich mit Adenauer geringeres Engagement für die Integration Westeuropas und für eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit nährten diese Hoffnungen. Würde Erhard als Bundeskanzler die von der Sowjetunion besonders beargwöhnten Atomwaffenpläne, die von der SED in einem eigenartigen Zusammenhang mit dem europäischen Einigungsprozeß gesehen wurde, aufgeben? Im November 1962 hatte die Parteiführung „die Bestrebungen, Westeuropa als eine dritte Kraft zu entwickeln", nicht nur als die Verhinderung des Friedensvertrags, sondern als eine Vergrößerung der Kriegsgefahr gesehen, weil dieses neue Westeuropa - aus der Perspektive der SED-Führung folgerichtig - zu einer „eigenen Atommacht" werden müsse. „Der Stoß dieser dritten Kraft", so philosophierte sie, „ist bei [einer] Verschärfung der Gegensätze zu den USA in erster Linie politisch-militärisch gegen die DDR gerichtet." 170 Der ganze Westen schien sich also gegen die DDR verschworen zu haben. Hier spiegelte sich aber auch eine Sorge der Sowjetunion wider, die sich in der Atomwaffenrüstung mit den USA zu arrangieren begann. Das Gespenst eines Atomabkommens zwischen Paris und Bonn ging im Osten um. In Ostberlin trat aber noch die Besorgnis hinzu, daß eine weitere Annäherung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik verschiedene europäische Entspannungsschritte, die 169

170

Arbeitsbüro: „Eine Bemerkung zur politischen Orientierung der KPD in der nächsten Zeit", 22. 4. 1963, in: ebenda, IV 2/1003/18, S. 2. Arbeitsbüro: „Über die Behandlung der Probleme Westdeutschlands auf dem VI. Parteitag", 23. 11. 1962, in: ebenda, IV/1003/1, S. 6.

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Die Position der S E D zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

ohne Beteiligung der DDR nicht möglich schienen, eine indirekte Anerkennung der DDR über den Mechanismus internationaler Verträge - blockieren könnten. Die Diskussion über eine Berlinregelung und einen Friedensvertrag wurde nämlich im zweiten Halbjahr 1963 vom Thema eines Atomwaffenteststop-Abkommens überlappt und zeitweilig verdrängt. Die SED sah in diesem geplanten internationalen Vertrag die Chance einer indirekten Anerkennung der DDR; diese Möglichkeit wurde von der Bundesregierung als Gefahr für den Alleinvertretungsanspruch und die Wiedervereinigung wahrgenommen. Im weiteren beschäftigten Bundesregierung und Politbüro die Verhandlungen zwischen Washington und Moskau über die Nichtweitergabe von Atomwaffen und das Angebot der UdSSR, einen Nichtangriffspakt zwischen beiden Militärblöcken abzuschließen. Auch das wirkte sich auf die Lage in Berlin und Deutschland aus.

9. Die Position von SED und Bundesregierung zum Atomteststop-Abkommen und zur Nichtweitergabe von Kernwaffen 1963 In deutlicher Besorgnis schrieb v. Brentano am 22. Mai 1963 an den belgischen Außenminister Paul Henry Spaak, der sich einige Tage zuvor in der sowjetischen Zeitung „Iswestija" 171 für ein Abkommen ausgesprochen hatte, daß der Abschluß „des von Ihnen befürworteten Nichtangriffspaktes aber die völkerrechtliche Anerkennung der sowjetisch besetzten Zone als unabhängiger Staat voraussetzen [würde]". Der belgische Politiker, der von 1957 bis 1961 Generalsekretär der NATO war, wurde vom CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden auf eine (angebliche) Unvereinbarkeit seiner Erklärung „mit dem Geist und dem Inhalt der zwischen uns geschlossenen Bündnisverträge" aufmerksam gemacht. 172 Die Kritik fiel um so deutlicher aus, als ein Nichtangriffspakt, der vor allem im Hinblick auf die neue Phase des Wettrüstens nur plakative Bedeutung gehabt hätte, die tatsächlichen Probleme, z.B. Rüstungskontrollen und gegenseitige Truppeninspektionen, mehr verschleierte als löste. Zudem mißtraute die Bundesregierung nach wie vor vertraglichen Regelungen, die in ihren Augen nur zu einer scheinbaren Entspannung führten, aber gleichzeitig das tendenzielle Desinteresse der Verbündeten an einer Lösung des Deutschlandproblems weiter forderten. Zumal in den USA mehrten sich Stimmen für ein Abkommen zwischen beiden Militärorganisationen, die ihm, wie der Bonner Botschafter in Washington, Karl Heinrich Knappstein, ausführte, „einige Sorgen" bereiteten. „Wir sollten in der Frage des Nichtangriffspaktes hart bleiben. Ob Pakt oder,Arrangement' - jede Nichtangriffsvereinbarung würde den schlechten Status Quo nur zementieren." 173 , schrieb er nach Bonn. Kurt Birrenbach, der kontinuierlich in enger Fühlung zu wichtigen amerikanischen Politikern und Militärs stand und die Lage nüchterner zu beurteilen schien, gab jedoch „Entwarnung". 174 So konnte Schröder die Zustimmung zu einem Austausch von Nichtangriffserklärungen von einer konkreten Entspannung in der Berlin- und Deutschlandfrage abhängig machen. Aber er baute noch einen weiteren Vörbe-

171 172 173 )74

Vgl. Interview Spaaks in: Iswestija, 16. 5. 1963. Schreiben v. Brentano an Spaak, 22. 5. 1963, in: B A Koblenz, N L 239/164, Bl. 358. Schreiben Knappsteins an v. Brentano, 29. 7. 1963, in: ebenda, N L 239/27, Bl. 67. Vgl. Schreiben Birrenbachs an v. Brentano, 20. 8. 1963, in: ebenda, N L 239/160, Bl. 319.

SED und Bundesregierung zum Atomteststop-Abkommen

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halt ein: „Wir gehen davon aus, daß für diese Erklärungen eine Form gefunden werden kann, die eine Anerkennung der sogenannten ,DDR' vermeidet." 175 Höher schlugen die Wogen in der Frage des Beitritts der Bundesrepublik zum Atomteststop-Abkommen, das von den USA, der UdSSR und England am 5. August 1963 unterzeichnet wurde. Es verbot alle Kernwaffenversuche, unterirdische ausgenommen. Die SED befürwortete den Vertrag uneingeschränkt. Die DDR trat ihm bereits am 8. August 1963 bei und leistete damit eine Unterschrift, die eine indirekte staatliche Anerkennung durch die anderen Teilnehmerländer nach sich ziehen mußte. Adenauer wandte sich vor allem deshalb gegen das Abkommen. Er fühlte sich als ein „Opfer der amerikanischen Entspannungspolitik". 176 Neigte er anfangs dazu - weil eine Aufwertung der DDR drohte - die Unterschrift unter den Vertrag einfach zu verweigern, so überdachte er die Reaktion angesichts der Gefahr, die deutsch-amerikanischen Verstimmungen damit noch zu verschärfen. V. Brentano und andere einflußreiche CDU- und CSU-Politiker lehnten das Abkommen bis zuletzt entschieden ab. Der Fraktionsvorsitzende sah „die Zweistaatentheorie der Sowjetunion in aller Unbefangenheit legalisiert" 177 und befürchtete, daß ä la longue Bundesrepublik und Verbündete „mit der Zone im gleichen Rang am gleichen Tisch sitzen werden". Wenn die DDR zunächst de facto als gleichberechtigtes Völkerrechtssubjekt anerkannt werde, so schrieb er am 30. Juni 1963 besorgt an Außenminister Schröder, „dann hat sich die russische Politik durchgesetzt. Alle zwischen uns und den Alliierten vereinbarten Vorbehalte, wie sie aus dem Deutschlandvertrag, aus den zahlreichen Entschließungen der NATO, aus der Berliner Viermächteerklärung [...] ersichtlich sind, werden damit praktisch hinfällig." 178 Auch Kreise, die den USA ausgesprochen freundlich gegenüberstanden - durch Birrenbach am deutlichsten vertreten -, fühlten sich von den USA „überfahren". Der CDU-Politiker legte zwar einen Beitritt zum Atomwaffenteststop-Abkommen nahe, weil dieser nicht zu umgehen sei, riet aber, die Bonner Unterschrift gegenüber den USA „als Druckmittel [zu] benutzen, um das Maximum an Konzessionen bei den Amerikanern zu erreichen". 179 Die USA kamen Bonn am 12. August 1963 mit einer Erklärung von Außenminister Rusk über die Nichtanerkennung der DDR trotz deren Beitritt zum Abkommen entgegen. 180 Eine ähnliche Klausel 181 ermöglichte es Adenauer, das Abkommen am 19. August 1963 von seinen Bevollmächtigten unterzeichnen zu lassen, freilich mit den größten Bedenken. Die vom auswärtigen Arbeitskreis der CDU/ CSU-Fraktion im Bundestag geforderte Aufnahme einer Berlinklausel in das Ratifizierungsgesetz 182 scheiterte dagegen an der alliierten Rechtslage. Nicht der westdeutsche Vertragsbeitritt an sich, sondern die Klausel der Bundesregierung über die Nichtanerkennung der DDR trotz ihrer völkerrechtswirksamen Unterschrift führte in der SED zu Reaktionen. Es erscheine ihm unmöglich, schrieb Winzer am 17. August 1963 an Ulbricht, „daß die Sowjetregierung eine Unterzeichnung durch die Bonner Regierung stillschweigend hinnimmt, die mit einer solchen Erklärung verbunden ist". Er empfahl, auf 175

Vgl. Bulletin der Bundesregierung, 8. 5. 1962. Vgl. Schwarz, a.a.O., S. 840-849. 177 Schreiben v. Brentanos an K. Th. von und zu Guttenberg, 29. 7.1963, in: BA Koblenz, NL 239/175, Bl. 23. 178 Schreiben v. Brentanos an Schröder, 30. 6. 1963, in: ebenda, NL 239/180, Bl. 19f. 179 Schreiben Birrenbachs an v. Brentano, 6. 8. 1963, in: ebenda, NL 239/160, Bl. 328f. 18 ° Vgl. Archiv der Gegenwart, a.a.O., S. 10742f. 181 Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 552. 182 Vgl. Schreiben E. Majonicas an Schröder, 11. 10. 1963 (Kopie), in: BA Koblenz, NL 239/75, Bl. 3.

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

eine sowjetische Stellungnahme hinzuwirken, „die feststellt, daß die Behauptung der Bonner Regierung Geist und Buchstaben des Vertrages widersprechen und Ausdruck einer aggressiven Revanchepolitik sind". Gegebenenfalls könne die UdSSR als Depositär des Vertrages erklären, meinte Winzer, daß die DDR als souveräner Staat unterzeichnet habe und gleichberechtigtes Mitglied des Vertrages geworden sei.183 Dem entsprach die Sowjetunion im wesentlichen. Als der Geschäftsträger der Bundesrepublik in der UdSSR, Günter Scholl, am 21. August 1963 dem sowjetischen Ersten stellvertretenden Außenminister Wassili W. Kusnezow die Erklärung der Bundesregierung überreichen wollte, wies der sowjetische Politiker die Entgegennahme zurück: Die Bundesregierung spreche „widerrechtlich im Namen ganz Deutschlands". Das entbehre rechtlich wie politisch jeder Grundlage. 184 Mehr Raum in der Diskussion der Parteiführung der SED nahm die seit Herbst 1963 von den beiden Supermächten in Vorgesprächen behandelte Frage der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen ein. Die Sowjetunion informierte das Politbüro Anfang Oktober 1963 ausführlich über den Stand der Verhandlungen. Die DDR war wie die UdSSR an einem Abkommen außerordentlich interessiert, schien es doch der Bundesrepublik den Zugang zu Atomwaffen endgültig zu verlegen. Außerdem bot es doch eine weitere Gelegenheit einer internationalen Aufwertung, wenn die DDR diesem beitrat. In der sowjetischen Mitteilung kam der prinzipielle Konsens zwischen Moskau und Washington zum Ausdruck, keinerlei Kernwaffen an Staaten zu übergeben, die diese bislang nicht besaßen. Die USA zögerten nach der Information an Ulbricht jedoch, sowjetische Formulierungen in einen Vertragsentwurf zu übernehmen, „die die Schaffung multilateraler oder irgendwelcher anderer vereinigten Kernstreitkräfte der NATO mit Beteiligung Westdeutschlands verhindern würden". Aber das war für Moskau entscheidend. Die UdSSR, hieß es in der etwas hölzernen Mitteilung dann auch weiter, wolle trotzdem einen Zustand erreichen, bei dem die „westdeutschen Revanchisten" keine Kernwaffen in die Hand bekämen und der es ausschlösse, daß die Regierung oder die Bundeswehr innerhalb oder außerhalb der NATO über solche „nach eigenem Ermessen" verfügen könnten. 185 Die SED teilte den sowjetischen Standpunkt vorbehaltlos. In ihrem Antwortschreiben gab sie aber zu bedenken, daß in Westdeutschland drei Mächte Truppen mit Kernwaffen unterhielten und die Bundesrepublik selbst über Kernwaffenträger verfüge. Da es keine Gewähr dafür gebe, daß Bonn keine Verfügungsgewalt über Kernwaffen erhalte, bat das Politbüro die UdSSR, folgende Formulierung zu überprüfen: Kernwaffenstaaten sollten sich vertraglich verpflichten, „Staaten, die nicht über solche Waffen verfügen, keine Verfügungsgewalt über Kernwaffen und keine Beteiligung an der Verfügungsgewalt über Kernwaffen - weder unmittelbar noch mittelbar durch Militärbündnisse - einzuräumen und diesen Staaten keine Hilfe bei der Herstellung solcher Waffen zu leisten". Umgekehrt sollten Nichtbesitzer ihren Verzicht erklären, auf alle direkten und mittelbaren Wege in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen, über sie zu verfugen oder mitzuverfugen. 186 Das war eine interessante Initiative.

183 184 185

186

Schreiben Winzers an Ulbricht, 17. 8. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 182/1305, Bl. 30f. Hartl/Marx, a.a.O., S. 552. Mitteilung der Regierung der UdSSR an die DDR über die Verhandlungen über den Nichtweitergabevertrag, Anlage 1 zum Protokoll 34/63, Sitzung des Politbüros vom 3. 10. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/2/898, Bl. 12f. „Antwort der DDR auf die Information der Regierung der UdSSR", Anlage 1 zum Protokoll 34/63, in: ebenda, Bl. 4-8.

SED und Bundesregierung zum Atomteststop-Abkommen

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Der Vorschlag richtete sich natürlich eindeutig gegen die Atomwaffenambitionen der Bundesregierung, wenngleich die SED unterstrich, daß in ein entsprechendes Abkommen Formulierungen Eingang finden sollten, „die es sowohl der NATO unmöglich machen, eine vereinigte Kernstreitmacht unter Einschluß Westdeutschland zu schaffen, als es auch den Warschauer Vertragsstaaten untersagen, eine vereinigte Kernstreitmacht unter Einbeziehung der DDR zu bilden". Das Politbüro fürchtete insgesamt, eine Verfügungsgewalt Bonns über Atomwaffen würde dem bundesdeutschen Konkurrenten „eine erhebliche politische und militärische Aufwertung" eintragen.187 Die Dimension der zwischendeutschen Auseinandersetzung trat auch in der Unterredung Ulbrichts mit Kusnezow und Botschafter Abrassimow am 11. Oktober 1963 zutage. Kusnezow verwies auf die praktische Unmöglichkeit für die Bundesrepublik, an Atomwaffen und deren Produktionsunterlagen heranzukommen. Ulbricht blieb aber skeptisch. Mit seiner Frage, ob das nur auf die USA zutreffe, brachte er eine Weitergabe von Atomwaffen durch Frankreich, das einen Beitritt zu einem Nichtweitergabevertrag ablehnte, in die Diskussion. Dies sei kein Problem, meinte Kusnezow, wenn Westdeutschland dem Abkommen beitrete. Ulbricht sah zwar ein, daß durch die UdSSR derzeit nicht mehr zu erreichen sei, mißtraute dem Vorschlag aber offensichtlich weiter. Adenauer, so meinte er, würde versuchen, „Schritt für Schritt voranzukommen". Die Schaffung einer multilateralen Kernstreitmacht innerhalb der NATO, vermutete Ulbricht, „wird auch die Zusammenarbeit der rechten SPD-Führung mit der CDU festigen". Dieser Gedanke bewegte den Ersten Sekretär seit langem. Das Problem besaß für ihn nicht nur militärische, sondern auch politische Dimensionen. Militärpolitisch sah Ulbricht eine andere Bedrohung: Konflikte begännen nicht mit atomaren Sprengköpfen, über die bislang nur die USA verfügten, meinte er. Da die Bundesrepublik aber über Trägermittel für Atomwaffen verfüge, bestehe die Gefahr, daß im Verlauf einer mit konventionellen Waffen begonnenen Auseinandersetzung sich die Lage ändern könnte. 188 Es herrschte Übereinstimmung in der zusammenfassenden Auffassung, daß die Sowjetunion nichts unversucht lassen dürfe, um „vereinigte Kernwaffeneinheiten der NATO zu verhindern, damit Westdeutschland nicht an Kernwaffen herankommt". 189 Kuznezow beurteilte die Lage optimistisch. Rusk habe Gromyko erklärt, wenn die USA und die UdSSR in Fragen der Abrüstung übereinkämen, „so würde sich Westdeutschland dem nicht widersetzen. [...] Die USA seien kein Affe am Stock Westdeutschlands", wenngleich die Vereinigten Staaten kein Abkommen mit Moskau auf Kosten ihrer Verbündeten schließen würden. 190 Während des Gesprächs wurde Ulbrichts konfrontative Grundhaltung deutlich. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich von der Ideologie des Kalten Krieges, Feindbildern und pauschalen Verurteilungen der Gegenseite zu trennen. Er verlangte von Westdeutschland Leistungen. Bemerkenswert „platt" war seine Bemerkung, daß „Entspannung in Deutschland" nur möglich sei, „wenn der Revanchismus in Westdeutschland beseitigt wird".191 Die Entspannung, wie sie sich konkret abzeichnete, erfüllte nicht seine Erwartungen. Die sowjetische Politik schien ihn immer dann zu befremden, wenn diese größere Flexibilität Ebenda, Bl. 9. Aktenvermerk über das Gespräch, 10.10.1963, Anlage 1 zum Protokoll 35a/63, Sitzung des Politbüros vom 11. 10. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/900, Bl. 7-10. 189 Ebenda, Bl. 11. 190 Ebenda, Bl. 17f. »» Ebenda, 19f. 188

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

entwickelte. Es darf angenommen werden, daß er sich - Moskau zutiefst verbunden zumindest dann überfahren fühlte, wenn es hier zu gelegentlich abrupten taktischen Kurskorrekturen in der Außenpolitik kam. Die Skepsis gegenüber einer Entspannung, die er mit Wahrscheinlichkeit auch als ein Ergebnis des sowjetischen Zurückweichens vor den neuen Konzepten und Formen der amerikanischen Außenpolitik empfand, teilte er mit Adenauer, der - genau umgekehrt - die Gefahr eines Aufweichens der amerikanischen Position gegenüber Moskau zu beobachten glaubte. Von Mentalität, Herkunft und Traditionen, politischen Grundhaltungen, Wertanschauungen und Weltsicht grundverschieden, war ihnen, dem konservativen Demokraten und dem orthodoxen Kommunisten - beide über politisches Gespür verfügend - das tiefsitzende Mitrauen in die Verläßlichkeit ihrer jeweiligen Bündnispartner eigen. Ulbricht hegte Vorbehalte sicherlich in dem Bewußtsein, daß er sowie Partei und Staat existenziell in Frage gestellt werden würden, wenn Moskau seine Unterstützung entzöge. Dennoch war er zu flexibleren Schritten durchaus in der Lage. Sein Brief an den neuen Bundeskanzler Ludwig Erhard - das Schreiben war im Politbüro am 10. Dezember 1963 zum Atomwaffenverzicht beschlossen worden -, schlug eine moderatere Tonart an. Wenn er Erhard bat, persönlich dazu beizutragen, „daß die Furcht vor einem Kernwaffenkrieg von den deutschen Menschen genommen und daß der Graben zwischen beiden deutschen Staaten durch eine Kernwaffenrüstung der Bundesrepublik Deutschland nicht noch vertieft wird"192, äußerte sich nicht nur die gegen die westdeutschen Atompläne gerichtete östliche Verhinderungsstrategie. Der Brief, dem ein Vertragsentwurf über einen umfassenden gegenseitigen Verzicht auf Kernwaffen beigefügt war und der freilich auch eine propagandistische Funktion zu erfüllen hatte, ordnete sich in die beweglichere sowjetische Entspannungspolitik ein. Sie war Ulbrichts Sache nicht. Bereits jetzt, am Ende der „Ära Adenauer", die doch gleichzeitig eine „Ära Ulbricht" war, mißtraute der mächtigste Mann des ZK der SED einer Entspannung, vor allem ihrer deutschen Form eines „Wandels durch Annäherung". Frühzeitig sah er in ihr eine besonders abgefeimte und raffinierte Methode der Aufweichung des Sozialismus. Tatsächlich schien ihm seine im Kalten Krieg gewonnenen Erfahrung Recht zu geben, daß internationale Spannungen eher zur Festigung des sozialistischen Lagers und der DDR beigetragen hatten und die Gefahr einer Destabilisierung viel stärker durch Abnahme des Außendrucks und innere Liberalisierungsprozesse entstand. Die Ereignisse von 1953 im eigenen Land, in Polen und Ungarn 1956, bestärkten ihn in der Auffassung, daß eine Entspannung, die eigentlich nur in dem Maße, wie sie die DDR stärkte, willkommen war, innen- und außenpolitisch abgesichert werden mußte. Bereits jetzt - nicht erst in der „Ära Honecker" - erreichte die gezielte Abgrenzung des realen Sozialismus von den westlichen Freiheits- und Ordnungsvorstellungen der demokratischen Bundesrepublik eine neue Qualität. Sie führte aber auch zu neuen innenpolitischen Problemen. Wie sollten z. B. brutale innenpolitische Maßnahmen, die man bislang als Konsequenzen des Kalten Krieges zu legitimieren gesucht hatte, unter Entspannungsbedingungen begründet werden? Noch konnte Ulbricht repressive Maßnahmen der DDR - zumindest außenpolitisch - mit dem in der Tat immer zweifelhafter werdenden Alleinvertretungsanspruch (plus Hallsteindoktrin) begründen. Bot das in Egon Bahrs denkwürdiger Tutzinger Rede vom Juli 1963 entworfene Konzept eines „Wandels durch Annäherung", das sich - Bonner Dogmen in Frage stellend zur deutschland- und ostpolitischen Konzeption der SPD entwickelte, der SED mehr Chancen als Risiken? Das Abgehen von der Alleinvertretung, die zumindest implizit konfrontativ Beschluß des Politbüros, Anlage 1 zum Protokoll 44/63, 10.12. 1963, in: ebenda J IV 2/2/909, Bl. 6.

Die informelle Struktur der ostdeutsch-sowjetischen Kooperation

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war, zog nicht den Verzicht auf die innere Liberalisierung im Ostblock nach sich. Das Wandlungskonzept respektierte den Status quo, schuf aber, zunächst gedanklich antizipiert, durch kooperative Formen der Systemauseinandersetzung die Grundlage für dessen Überwindung. Am Jahresende 1963 ahnte das die Führungsriege um Ulbricht mehr, als sie es letztlich wissen konnte. Der Kalte Krieg neigte sich nach der Beilegung des Doppelkonflikts Kuba - Westberlin seinem Ende zu. Sichtbarster Ausdruck dafür war die Einrichtung eines „heißen Drahts", einer direkten Telefonverbindung zwischen Moskau und Washington im Frühjahr 1963. Atmosphärisch schien sich vieles schneller zu verbessern als konkret politisch. Immerhin gab es neben dem Atomteststop-Abkommen aber auch hier eine Reihe brauchbarer Ansätze. Die beiden Supermächte, die nötigenfalls nur bedingt Rücksicht auf die mit ihnen verbündeten deutschen Querulanten nahmen, verhandelten auf unterschiedlichen Ebenen verschiedenartige Probleme. Auch die Abrüstungsfrage wurde diskutiert, wenngleich ohne greifbare Ergebnisse. In Genf tagte die 18-Mächte-Abrüstungskonferenz. 193 Einige internationale Prozesse fanden im Politbüro des ZK der SED einen bemerkenswert geringen Widerhall. Erfahrungsgemäß verstärkte sich das Interesse der Parteiführung an bestimmten Problemen in dem Maße, wie sie unmittelbar Fragen der inneren Stabilisierung und Souveränität der DDR berührten oder von der UdSSR explizit nahegelegt wurden. Im Verhältnis zwischen dem ostdeutschen Staat und seiner Führungsmacht während der Berliner Krise, das vor allem unter dem Aspekt der Handlungsspielräume für die SED zu untersuchen war, fällt vor allem die Entwicklung der informellen Struktur der ostdeutschsowjetischen Kooperation ins Auge.

10. Die informelle Struktur der ostdeutsch-sowjetischen Kooperation im Konflikt um Berlin und den Friedensvertrag Die Zusammenarbeit mit der UdSSR ist für die Gesamtbewertung des Verhaltens der SED in der Berlin-Krise und zum Friedensvertrag außerordentlich bedeutsam. Eine im Vergleich zur ersten Hälfte der fünfziger Jahre auffällige Neigung der sowjetischen Führung, die deutschen kommunistischen Bündnispartner über deutschland- und berlinpolitische Entwicklungen und Aktionen und über Gespräche zu diesen Fragen mit westlichen Staatsmännern zu informieren, war bereits seit 1955 erkennbar. Sie wurde nach 1957 deutlicher und verstärkte sich während des Berlinkonflikts weiter. Natürlich blieben ihre Intensität und Richtung an die sowjetischen Interessen gebunden. Moskau gestaltete die Informationspolitik nach den eigenen politischen Prioritäten. Informationen wurden in der Regel zweckgebunden vermittelt, etwa, wenn ein Bericht vom Oktober 1958 über negative Verhandlungen mit Eisenhower mit der Aufforderung verbunden wurde, „einen schärferen Kurs gegenüber Westdeutschland" einzuschlagen. 194 Die KPdSU instrumentalisierte ihre Informationen nicht nur, sie selektierte sie auch - vor allem aus Geheimhaltungsgründen. Im Verlauf des Berlinkonflikts, 193

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Vgl. dazu H. Haftendorn, Sicherheit und Entspannung. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1955-1982, Baden-Baden 1983, S. 198f. „Aktenvermerk über Gespräche mit leitenden Mitarbeitern des sowjetischen MfAA anläßlich der Nationalfeier der DDR", 7. 10. 1958, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/474, Bl. 134,

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Die Position der SED zur Berlinregelung und zum Friedensvertrag nach 1961

der sich intensivierte, wurde zur Planung und praktischen Koordinierung von Maßnahmen eine erweiterte und vor allem schnellere Information der SED-Führung notwendig. Offensichtlich wuchs auch das Vertrauen Chruschtschows in seine Ostberliner Partner. Das wirkte sich vor allem auf die Qualität der aus Moskau übermittelten Nachrichten aus. In der Regel erfolgten hochbrisante Informationen über den „Parteiweg", weniger Wichtiges über Botschaften oder andere staatliche Kanäle. Etwa seit Beginn des Jahres 1958 wurde das Politbüro kontinuierlich über die sowjetisch-westdeutschen Beziehungen und über die Absichten Moskaus in Bonn informiert. So zeigen die Berichte über die Gespräche zwischen Adenauer und Botschafter Smirnow, daß Ulbricht z. B. über die sowjetische Taktik informiert war, über Erich Ollenhauer und Erich Mende gezielt Druck auf Adenauer in deutschlandpolitischen Fragen auszuüben, ihn „in eine schwierige Lage [zu] bringen und der Opposition gegen Adenauer Argumente zu geben". 195 Das war u.a. für die Koordination der subversiven Tätigkeit in der Bundesrepublik außerordentlich wichtig. Fraglich bleibt, inwiefern die sowjetischen Informationen, die sich selten in den Anlagen der Politbürositzungen finden, von Ulbricht an dieses Gremium (oder Teile dessen) weitergegeben wurden. Es muß als gesichert gelten, daß Ulbricht hier „filterte". Einzelne sowjetische Übermittlungen wurden in den Politbürositzungen nur mündlich weitergegeben.196 Die sowjetische Führung erteilte Auskünfte in einer Reihe von Fällen offensichtlich nicht in schriftlicher Form. Informelle Gespräche zwischen sowjetischen und ostdeutschen Politikern, die wiederholt in Aktennotizen und zusammenfassenden - seltener in wörtlichen - Protokollen überliefert sind, bildeten eine wichtige Grundlage für die praktische Kooperation zwischen der SED und der KPdSU. Mit dem Beginn der akuten Systemkrise in der DDR 1960, deutlicher noch im folgenden kritischen ersten Halbjahr 1961 erhöhten sich Umfang und Qualität der sowjetischen Informationen noch einmal beträchtlich. Das schien die sich dramatisierende Entscheidungssituation zu erzwingen. Es läßt aber auch auf eine Aufwertung vor allem Walter Ulbrichts als Ansprech- und als Bündnispartner der UdSSR schließen. Eine gewisse Zäsur bildete die Übermittlung des (sowjetischen) Wortprotokolls des Wiener Gesprächs zwischen Chruschtschow und Kennedy vom Juni 1961, das nicht nur die Deutschland-, sondern auch die Welt- und Sicherheitspolitik behandelte und der SED somit die internationale Dimension sowjetischer Pläne stärker erkennbar werden ließ. Wortprotokolle über die Unterredungen Chruschtschows und anderer sowjetischer Politiker mit westlichen Staatsmännern, u. a. Fanfani, folgten. In diese Linie einer relativ umfassenden Information fügen sich auch die Berichte der KPdSU über die beginnenden Schwierigkeiten Moskaus mit der Volksrepublik China, die eine Grundlage für die barsche Kritik des SED-Politbüros an der Pekinger Führung bildeten. 197 Hier zeigte sich die verstärkte gegenseitige Information zwischen Moskau und Ostberlin vor allem ideologiepolitisch. Eine Arbeitsteilung auf diesem Gebiet, im Prinzip schon immer vorhanden, schien sich nach dem Mauerbau zu verstärken. So bat die UdSSR, die im Oktober 1961 eine Offensive zur Unterstützung der griechischen Kommunisten und Linksparteien eröffnen wollte, das ostdeutsche ZK z. B. um die Veröffent-

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Telegraphische Information von Botschafter König, Moskau, an die Regierung der DDR, 20. 2.1958, in: ebenda, J IV 2/202/125. Vgl. u.a. die streng vertrauliche Information über die Gespräche Adenauer-Smirnow, Oktober 1958, in: ebenda, NL 90/474 und Ollenhauer-Smirnow, Januar 1960, in: ebenda, J IV 2/2/684. Vgl. Anlage 1 zum Protokoll 29/63, Sitzung des Politbüros vom 27. 8.1963, in: ebenda, JIV 2/2/893, Bl. 7-9.

Die informelle Struktur der ostdeutsch-sowjetischen Kooperation

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lichung von Materialien, „die die Zusammenarbeit und Unterstützung entlarvt, die die griechischen Reaktionäre den westdeutschen Militaristen gewähren und umgekehrt auch die westdeutsche Unterstützung für die griechische Reaktion darstellen". 198 Eine für das Politbüro besonders wichtige Informationsquelle stellten die z.T. wörtlichen Mitschriften der Gespräche Chruschtschows mit dem Botschafter der Bundesrepublik in der UdSSR, Hans Kroll, dar. Sie informierten Ulbricht einerseits über die Position Adenauers und des Bundeskabinetts zu den Problemen des Friedensvertrags und Westberlins bzw. über mögliche westdeutsche Ambitionen und Kompromisse, andererseits über sowjetische Pläne und Maßnahmen. 1 9 9 Auch die nach Ostberlin übermittelten ausfuhrlichen sowjetischen Berichte über die Moskauer Verhandlungen zwischen Gromyko und dem amerikanischen Botschafter Thompson (u. a. vom 2. und 12. Januar sowie vom 1. und 9. Februar 1962) besaßen für das Politbüro einigen Wert 200 , ging es doch auch um Anerkennungsstrategien der USA. Gerade in „amerikanischen" Fragen, die die Interessen der SED berührten, baten die Regierung der DDR und die SED-Parteiführung nicht nur um eine Unterrichtung, sondern um eine Beteiligung. Vor allem in geheimsten Bereichen traten Empfindlichkeiten gegenüber der UdSSR hervor. Als die DDR monierte, daß bei der Übergabe des USA-Piloten Powers, der am 1. Mai 1960 auf seinem Aufldärungsflug über sowjetischem Territorium abgeschossen worden war, ein vereinbarter ostdeutscher Vertreter auf der „Brücke der Einheit" nicht beteiligt gewesen sei, wies die sowjetische Seite den Vorwurf zurück. Winzer gestand gegenüber dem falsch unterrichteten Ulbricht das „Mißverständnis" ein. „Das gesamte Übergabeverfahren war mit dem MfS der DDR abgestimmt und die Übergabe erfolgte in Anwesenheit offizieller Vertreter der DDR." 2 0 1 Diese Bagatelle gibt aber auch Auskunft über das wachsende Selbstbewußtsein Ulbrichts und der Führung der SED. Die sich verdichtende informelle Struktur der ostdeutsch-sowjetischen Kooperation, zu deren Effektivität die intensivierten Konsultationen zwischen den Partei- und Staatsfuhrungen auf den verschiedensten Ebenen beitrugen, war sowohl eine Voraussetzung als auch ein Ergebnis des östlichen Kampfes um Berlin und den Friedensvertrag. Offensichtlich nahm auch der Anteil der Vorabinformationen, der Benachrichtigungen über beabsichtigte Aktivitäten Moskaus zu. Die unbestrittene Erhöhung der informativen Qualität der ostdeutschsowjetischen Zusammenarbeit drückte das wachsende Gewicht aus, welches die DDR und die SED vor allem nach dem Mauerbau im östlichen Bündnis, speziell für die sowjetische Politik, erhielt. Sie ist jedoch nicht das einzige und auch nicht das wichtigste Kriterium für die Entwicklung von Handlungsspielräumen für die SED gegenüber der Sowjetunion. Darauf soll am Schluß der Darstellung noch einmal eingegangen werden.

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Schreiben der Botschaft der D D R in Moskau an das ZK der SED, 18. 10. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/51. Vgl. u. a. „Auszüge aus der Unterredung des westdeutschen Botschafters in Moskau, H. Kroll, mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, N. S. Chruschtschow", 9. 11. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/132, Bd. 8, S. 1-12. Vgl. Schreiben Ulbrichts an die Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, 21. 2.1962, in: ebenda, IV 2/20/88. Schreiben Winzers an Ulbricht, 1. 3. 1962. Mit Anlage: Niederschrift einer Besprechung UlbrichtSemjonow, in: ebenda, J IV 2/202/132, Bd. 8.

KAPITEL 5

Die deutsche Frage, die Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen in der Berlinkrise

1. Deutsche Perspektiven, „transzendente" Einheitsvorstellungen und realer Abgrenzungskurs der SED Im Verlauf der Auseinandersetzung um Berlin und den Friedensvertrag hielt die SED weiter an ihrem ideologischen Anspruch fest, Deutschland irgendwann unter sozialistischem Vorzeichen wiederzuvereinigen. Wichtigstes politisches Instrument der „nationalen" Auseinandersetzung auf deutschem Boden blieb der Konföderationsplan. Das Konzept war aber vor allem nach der Eskalation der Spannungen um Berlin nichts anderes mehr als eine Fiktion. Daß sich die SED von diesem „nationalen Dauerbrenner" nach wie vor eine große massenpolitische Wirkung erhoffte, unterstreicht u. a. das Einschalten Chruschtschows bei der Abfassung immer neuer Teilvarianten von Konföderationsvorschlägen an die Bundesregierung. 1 Wenngleich im Politbüro praktisch nur die fortdauernde Eigenstaatlichkeit der DDR akzeptiert und gerade im Kontext des Konflikts um Friedensvertrag und Westberlin die Stärkung der DDR und deren völkerrechtliche Anerkennung als Hauptaufgabe begriffen wurde, beschäftigten Fragen der deutschen Perspektive die Ideologen der Partei. Dies zum einen, weil man sich gegenüber dem Volk, das an der Einheit festhielt, „national" in die Pflicht genommen hatte. Zum anderen mußte man dem „patriotischen" Selbstverständnis und der großen Vision einer von sozialen und nationalen Widersprüchen befreiten deutschen Zukunftsgesellschaft genügen. Vor allem nach dem Mauerbau erhielten Fragen nach den weiteren Entwicklungswegen in Deutschland und deren Ziel - nachdem die antifaschistische Legitimation im Sinne der SED hinlänglich geklärt zu sein schien - neue Bedeutung. Das Politbüro wiederholte auf seiner Sitzung am 19. September 1961 in Verbindung mit der Aussage, daß „die von der Bonner Regierung seit 1945 (!) bis jetzt vertretene Politik" am 13. August gescheitert sei, den zum Dogma erstarrten Lehrsatz, daß die nationale Frage in Deutschland „Beseitigung des Imperialismus und Militarismus hieße." 2 Dieses Postulat schien indes doch etwas dürftig. Ulbricht holte im November 1961 in einer Beratung der 1 2

Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 22.5.1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/202/249, Bd. 1. Beschluß des Politbüros, Protokoll 49/61,19. 9. 1961, in: ebenda, JIV 2/2/791, Bl. 3.

Deutsche Perspektiven, „transzendente" Einheitsvorstellungen und Abgrenzungskurs der SED

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Blockpartei-Führungen etwas weiter aus, wenn er das „Wesen der Nationalen Frage" in der Überwindung des Widerspruchs zwischen den „imperialistischen Kräften und [den] Interessen des deutschen Monopolkapitals" und den „friedlichen Interessen des Volkes" sah. Er fuhr fort, daß der Aufbau und der Sieg des Sozialismus Grundbedingung für die Lösung der nationalen Frage sei und der Übergang zum Kommunismus auch in der DDR vollzogen werde, „selbst wenn sich in Westdeutschland bis dahin die Lage noch nicht verändert hat." Eine Variante der „Magnettheorie" kam auch zum Tragen: „Hauptaufgabe für unsere Partei und der Nationalen Front" sei es, „unsere Gesellschaft so zu entwickeln, daß sie gegenüber Westdeutschland eine absolute Überlegenheit auf allen Gebieten unter Beweis stellt." 3 Dies sollte ihr unter den Konditionen der Ende 1961 einem Höhepunkt zustrebenden gesellschaftlichen, besonders wirtschaftlichen Krise, aber auch der eigenen Skepsis schwerfallen. „Das deutsche Volk", gestand das Politbüro dem Präsidium des ZK der KPdSU, sei „schwer zu überzeugen", daß die kleine DDR, die „bedeutend schlechtere wirtschaftliche Beziehungen hat als Westdeutschland, seine Politik der friedlichen Lösung der deutschen Frage durchsetzen kann." 4 Die SED forcierte die Tendenz einer weiteren Isolierung der DDR vom anderen deutschen Staat. Bei genauerem Hinsehen hätten zumindest Zweifel darüber entstehen müssen, ob der SED-Führung an der Wiedervereinigung und an der Bewahrung der Nation wirklich lag. Daß Ulbricht und seine Ideologen die Gegner der Wiedervereinigung immer auf der anderen Seite fanden und mit Schuldzuweisungen nicht sparten, gehörte zum „patriotischen" Standard. Nachdenklich mußte machen, daß der Erste Sekretär, während er in den Fragen von Berlinverkehr, Friedensvertrag u.a.m. immer eine eindeutige Antwort wußte, „nicht voraussagen" konnte, „wann die westdeutsche Bevölkerung die Kraft haben wird, diese Lage [im Innern der Bundesrepublik - M. L.] zu ändern. Ob wir es wünschen oder nicht: Wir müssen auf längere Zeit mit dem Bestehen zweier grundverschiedener und voneinander völlig unabhängiger deutscher Staaten rechnen". So stimmte er zunächst seine Genossen auf einen „St. Nimmerleinstag" ein. Seine Prognose nahm geradezu zynische Offenheit an: „Nicht nur mit dem Bestehen, sondern mit dem Nebeneinanderbestehen, denn wir können nicht die Geographie Europas ändern. Heute stehen sich diese beiden deutschen Staaten feindlich gegenüber. Das ist unerträglich, aber leider Tatsache." 5 Immer wieder verzweifelten Funktionäre der SED z. B. an Intellektuellen, denen es „noch nicht gelungen [sei], sich von der sogenannten Kultur der,Frontstadt' Westberlin freizumachen", an Lehrern, die eine „einheitliche deutsche Pädagogik" lehrten und an Bürgern der DDR, die eine „Einheit um jeden Preis" anstrebten. 6 Seit dem Beginn des Jahres 1962 verstärkte die SED das „epochale" Element ihrer Argumentation. „Gemäß dem Charakter der modernen Epoche, der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus und gemäß den nationalen Interessen des deutschen Volkes" sei es historisch notwendig, „in engster Freundschaft und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen soziali3

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„Niederschrift über die Ausführungen des Genossen Walter Ulbricht. Beratung der Blockparteien am 21. 11. 1961", in: ebenda, IV 2/15/25, S. lf. „Zur Entwicklung der Lage vom Juli 1961 bis Januar 1962 und zu den nächsten Aufgaben". Anlage zum Schreiben des Politbüros des ZK der SED an das Präsidium des ZK der KPdSU, 8. 2.1962, in: ebenda, J I V 2/202/131, Bd. 7. Redemanuskript Ulbrichts für eine öffentliche Kampfdemonstration, 14. 1. 1962, Anlage 17 zum Protokoll 1/1962, Sitzung des Politbüros vom 9./10. 1. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/808, Bd. 2, Bl. 258. „Bericht über Bezirksleitungssitzungen zur Auswertung des 14. Plenums des ZK", Anlage la zum Protokoll 1/62, Sitzung des Politbüros vom 9. 1. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/808, Bd. 1, Bl. 12.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

stischen Ländern den Sozialismus in der DDR zum Siege zu fuhren und danach zur Errichtung der Grundlagen der kommunistischen Gesellschaft überzugehen, unabhängig davon, wie sich die internationalen Beziehungen und die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten weiterentwickeln."7 Hier war eigentlich schon vorgegeben, was das Leben in der DDR in der folgenden Zeit außerordentlich negativ beeinflussen sollte: das Moment der Abschottung und der faktischen Selbstisolierung. Während die SED-Führung von der modernen Epoche sprach, deren grenzübergreifende wirtschaftliche und handelspolitische Notwendigkeiten, Interdependenzen und Kooperationszwänge nicht geleugnet wurden, verbarrikadierte sie sich in einem deutschen Kleinstaat, dessen einzige internationale Perspektive die Anbindung an ein ökonomisch kurzatmiges Sowjetimperium schien. Zweifellos trug der internationale berlinpolitische Konfrontationskurs zur Trennungspolitik bei, entstand auch bei der SED eine seltsame Form revolutionärer „Wagenburgmentalität", die durch den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik und die Hallsteindoktrin verstärkt wurde. Gelegentlich geriet die Parteiführung in einen Widerspruch zu ihren eigenen Wiedervereinigungsabsagen. Das geschah zwangsläufig und immer dann, wenn sich besondere Aktionen gegen die USA, fremde Einflüsse, die EWG u.a.m. richteten. Dann mußte nämlich die „Einheitsfront der westdeutschen Arbeiter mit der Arbeiterklasse der DDR [...] die feste nationale Klammer geschaffen" und der Weg zu einem „einheitlichen friedliebenden Deutschland" - weil es eben gegen den „internationalen Imperialismus" ging - gebahnt werden. 8 Hier entstanden Ungereimtheiten. Auch gegenüber den westdeutschen Kommunisten ließ man hin und wieder anklingen, daß „eine Wende zur Herstellung der Einheit Deutschlands" doch noch erfolgen könnte, wenn man die DDR stärke und den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse und aller westdeutschen Friedenskräfte aktiviere.9 So machten die Vorstellungen der SED zur Wiedervereinigung und Zukunft Deutschlands einen diffusen Eindruck. Wo konkrete Aussagen fehlten, füllten ideologische „Ersatzstoffe" konzeptionelle Lücken. 1962/63 entwickelte die SED die Losung: „Die DDR ist der Bundesrepublik eine ganze historische Epoche voraus." Sie verkörpere10 bzw. ihr gehöre 11 die Zukunft. „Die DDR ist die Heimat alles Guten und Schönen aus Vergangenheit und Gegenwart des deutschen Volkes"; es sei ein „Glück auch für die Menschen in Westdeutschland, daß es die DDR gibt."12 Zur Perspektive Deutschlands wagte sich Ulbricht im März 1963 am weitesten vor. In einem Brief an den Vorsitzenden der KPD, Max Reimann, äußerte er, es ginge darum, „offen auszusprechen, daß in einem Teil Deutschlands, in der DDR, die sozialistische Zukunft ganz Deutschlands schon begonnen hat." 13 Abgesehen davon, daß er den Sinn einer Konföderation, die offiziell die Übertragung des Modells DDR auf die Bundesrepublik ausschloß, ad absurdum führte, löste sich Ulbricht 1963 noch keineswegs von der politisch-transzendentalen Vorstellung eines in weiter Ferne liegenden einheitsstiftenden Sieges des SED-Sozialismus. 7 8 9

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Ebenda. Beschluß des Politbüros, Anlage 3 zum Protokoll 51/62, 20. 11.1962, in: ebenda, JIV 2/2/858, Bl. 28. Entwurf einer Grußadresse an den Parteitag der KPD. Anlage 1 zum Protokoll 15/63, Sitzung des Politbüros vom 14.5.1963, in: ebenda, J IV 2/2/879, Bl. 12f. Westkommission: 3. Aktionsplan zur Auswertung der XVIII. Deutschen Arbeiterkonferenz und des IV. Deutschen Turn- und Sportfestes, 18. 9. 1963, in: ebenda, IV 2/1002/2, Bl. 247. Westkommission: Maßnahmeplan zur Auswertung des nationalen Dokuments, 31.3.1962, in: ebenda, IV 2/2028/16. Ebenda. Schreiben Ulbrichts an das Politbüro des ZK der KPD (M. Reimann), 27. 3. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/117, S. 5.

Deutsche Perspektiven, „transzendente" Einheitsvorstellungen und Abgrenzungskurs der SED

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So schien er auch an der Einheit der deutschen Nation festhalten zu wollen; er verstärkte aber in der Praxis den „antikapitalistischen" Abgrenzungskurs vor allem gegenüber Westdeutschland. Das zeigte sich zum einen in dem Bestreben, einen separaten Friedensvertrag mit der UdSSR abzuschließen, was per se zu einer weiteren innerdeutschen Distanzierung beigetragen hätte. Aber allein der politische Wille zum gesonderten Abkommen, zu einer DDR-Souveränität an sich, zu Hoheitserweiterungen und zur „Störfreimachung" besaß eine Tendenz zur Ausgrenzung aus dem alten National-, nicht nur dem Staatsverband. In diesem Zusammenhang ging vom Plan einer „Freien Stadt" Westberlin - als Teil der historischen deutschen Hauptstadt - gleichfalls ein gegen den Nationalstaat gerichteter Impuls aus, ein Trend zur Auflösung eines nationalen Ganzen - ohne daß eine übernationale Alternative auch nur angedacht worden wäre. Die Äußerungen verschiedener Politbüromitglieder zur Einheit der Nation waren weitgehend ambivalent. Sie besaßen keine theoretische bzw. wissenschaftliche Fundierung; sie waren außerordentlich pragmatisch und orientierten sich in der Regel an der jeweils aktuellen Situation und am konkreten Kreis der Anzusprechenden. So wandte sich Grotewohl gegenüber Parteifunktionären gegen jedes „gesamtdeutsche Gerede", um zur gleichen Zeit - vor Akademikern - feierlich zu fordern, daß die „Fragen der Kultur" vor jeder Spaltung bewahrt werden und die Deutschen „in den Fragen, in denen ihre Vorfahren bereits Jahrhunderte miteinander gesprochen, gesungen und gelebt haben", miteinander kommunizieren müßten. 1 4 Hier drängt sich nicht selten die Frage auf, ob man schlicht log, oder sich als Opfer des eigenen Taktierens der Widersprüchlichkeit der eigenen Ausführungen nicht mehr oder nicht mehr voll bewußt war. Zum anderen übten der Mauerbau und seine Folgen auf die SED einen Zwang zur weiteren Abgrenzung gegenüber dem Westen aus. Jeder neue Stein im „Schutzwall" schien weitere Maßnahmen nach sich zu ziehen. Der Hang zum Perfektionismus, preußisch-bürokratische Akribie und verwaltungstechnische Kleinlichkeit entwickelten - relativ unabhängig vom erklärten oder heimlichen Willen des einzelnen Politbüromitglieds - eine gewisse Eigendynamik, schufen funktionale Kettenreaktionen, die kaum noch zu unterbrechen waren. Als die westliche Presse kurz nach dem 13. August 1961 verstärkt auf „Prozesse, Aussiedlungen, Feindarbeit u. a." in der DDR hinwies, über die die DDR-Bezirkspresse direkt oder mittelbar informiert hatte, legte Politbüromitglied Albert Norden fest, daß ab sofort darüber in den Zeitungen nicht mehr berichtet werden dürfe. Darüber hinaus sei die Belieferung des Westens „mit unseren Bezirkszeitungen" - so ordnete der Spitzenfunktionär an - sofort einzustellen. 15 Abgrenzung präsentierte sich im Umfeld des Berlin-Konflikts in doppelter Form; sie wirkte nach außen und im Innern. Kultur- und Sportveranstaltungen in der DDR hatten zunehmend die politische Funktion erhalten, von Veranstaltungen im Westen abzulenken. 16 Jetzt intensivierte sich die Jagd nach in der DDR verbreiteter Westliteratur, und westliche Kultur, Kunst, Wissenschaft und Technik wurden gezielt isoliert. Am 28. August 1961 ordnete das Politbüro z. B. an, die Mitarbeit von DDR-Bürgern an westdeutschen Zeitschriften und westdeutschen Gesellschaften unter dem „Gesichtspunkt" zu überprüfen, diese Tätigkeit einzustellen. Es sei 14

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Nicht veröffentlichter Text der Ansprache Grotewohls auf dem Empfang zur Zehnjahres-Feier der Deutschen Akademie der Künste, 24. 3. 1960, in: ebenda, NL 90/251, Bl. 396. Fernschreiben Nordens an die Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen der SED, 16.9.1961, in: ebenda, IV 2/2028/50. Vgl. ZK-Hausmitteilung der Arbeitsgruppe Kirchenfragen (W. Barth) an Norden, 20. 7. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/41.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

u. a. eine Vorlage „über die Liquidierung der Beteiligung am (hochwichtigen) Deutschen Normenausschuß" vorzulegen, dessen ostdeutsches Büro sei zu „liquidieren" und das vorgefundene Material zu beschlagnahmen. Da die SED „noch andere Stellen" in Berlin und der DDR vermutete, „die als Stützpunkte des Gegners" zu betrachten seien", wurden umfangreiche Überprüfungen festgelegt.17 Die Nähe des Berlinkonflikts und der friedensvertraglichen Auseinandersetzung war augenscheinlich: In Ostberlin noch tätige Westberliner Kräfte, vor allem im künstlerischen und technischen Bereich, sollten nach dem Wunsch des Politbüros „allmählich ausgeschaltet" und verpflichtet werden, sich Aufenthaltsgenehmigungen der DDR zu besorgen.18 Noch einschneidender wirkten generelle Reisebeschränkungen. „Bis zum Abschluß eines Friedensvertrages", so befand man im Haus des Zentralkomitees, dürften Wissenschaftler der DDR „an keiner wissenschaftlichen Tagung in Westdeutschland teilnehmen und auch nicht zu Gastvorlesungen an westdeutsche Universitäten fahren." Ausnahmeregelungen sollten nur für Forscher erteilt werden, „die die Gewähr dafür geben, daß sie die Belange der Deutschen Demokratischen Republik allseitig vertreten." 19 Bereits 1958 hatte die Parteiführung gegen „gesamtdeutsche Mitgliedschaften" in internationalen Organisationen Front gemacht. Es seien keine „gesamtdeutschen", sondern künftig nur noch „selbständige" Mitgliedschaften einzugehen. Wenn das nicht möglich sei, sollte bis zum Eintreten „günstiger internationaler Bedingungen" - ausschließlich eine Mitarbeit ohne juristischen Status erfolgen, sofern eine Beteiligung „vom fachlichen Standpunkt" aus überhaupt notwendig sei.20 So verständlich der Wunsch der SED nach einer Gleichberechtigung von DDR-Persönlichkeiten in internationalen Gremien auch war - die vor allem gegen das westdeutsche Übergewicht gerichteten Maßnahmen führten die DDR schrittweise in die allerdings von vielen Funktionären akzeptierte Isolation. Der Abbau gesamtdeutscher Verbindungen vollzog sich noch gezielter und systematischer. Das Politbüro bezeichnete Mitte September 1961 gesamtdeutsche Institutionen als „historisch überlebt"; sie seien aufzulösen bzw. „eindeutig zu Gremien der DDR zu machen". Das gleiche Prinzip galt auch für die Rundfunk- und Fernseharbeit. 21 Der Hauptangriff richtete sich gegen die noch gesamtdeutsch verfaßten und organisierten kulturellen Gesellschaften. Goethe-, Schiller-, Shakespeare-, Hölderlin-, Dante-, BarlachGesellschaften u.a.m. standen zur Disposition.22 Abgrenzungsanweisungen erhielten aber auch die Reichsbahn 23 und andere Institutionen.

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Beschluß des Politbüros, Protokoll 45/61, 22. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/787, Bl. 6. Ebenda. Vgl. dazu auch Anlage 2, Bl. 15 und Anlage 9, Bl. 34-36. Ebenda, Anlage 1, Bl. 12. 20 „Prinzipien der Mitarbeit der DDR in internationalen Organisationen unter besonderer Berücksichtigung gesamtdeutscher Fragen." Beschlußvorlage der Außenpolitischen Kommission des ZK für das Politbüro, 18. 3. 1958, in: ebenda, IV 2/20/2, S. 1. 21 Papier der Westkommission, 16. 9. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/22. 22 ZK-Hausmitteilung der Abteilung Kultur an Norden, 24. 8. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/42. 23 Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 58/61, 14. 11. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/800, Bl. 2. 18

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Veränderungen in der SED-Westarbeit

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2. Veränderungen in der Struktur und Organisation der SED-Westarbeit Die Westarbeit erfolgte überwiegend verdeckt. Die einsetzende Auseinandersetzung um Westberlin und die zugespitzte Argumentation in der Frage des Friedensvertrags forcierte den konspirativen Charakter der in die Bundesrepublik gerichteten Tätigkeit. Die Entwicklung verstärkte sich zum einen, weil die westdeutschen Behörden Gegenmaßnahmen ergriffen und sich ihre repressiven Maßnahmen intensivierten. Zum anderen zwangen Friedenspropaganda und „nationale" Glaubwürdigkeit, der eigenen Bevölkerung zu suggerieren, daß nur der Westen Spionage betreibe. Die Beteiligung des MfS an der Westarbeit hatte 1958/59 einen deutlichen Schub erhalten. Staatssicherheitsminister Erich Mielke wurde vor allem zur Absicherung der propagandistischen Kampagnen mit der umgehenden Beschaffung neuen konkreten Materials, u. a. über die „Korruption und die hitlerische Aktivität einer Reihe von Bundestagsabgeordneten", beauftragt. 24 Die brisante zwischendeutsche Situation nach dem Herbst 1958 berührte auch die Strukturen und die organisatorischen Formen der ostdeutschen Westarbeit. Wie dargestellt, fielen nicht erst nach dem Mauerbau die Ineffektivität des spezifischen Apparates, Kooperationsschwächen, Konzeptionslosigkeit und auch die mangelnde Qualifikation vieler Mitarbeiter auf. Da es überdies immer wieder zu parteiinternen Kompetenzkonflikten kam, hatte das Politbüro der SED bereits Ende Januar 1959 neue Zuständigkeiten beschlossen: Oberstes Gremium der Westarbeit blieb die formal nur beratende gesamtdeutsche Kommission (Westkommission) beim Politbüro. Bislang firmierte diese unter der Leitung Materns als „Kommission für die Arbeit nach Westdeutschland" beim Politbüro. Ihr gehörte u. a. Friedrich Ebert an. 25 Daneben arbeitete die Westabteilung des ZK, die dessen Sekretariat unterstand. Dem von Ulbricht direkt kontrollierten Sekretariat des ZK wurde die gesamte Koordinierung „der Arbeit nach Westdeutschland" übertragen. Das betraf vor allem alle organisatorischen Verbindungen nach Westdeutschland, die Arbeit mit der SPD „vom Standpunkt der Zusammenarbeit mit der SED und der Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zur DDR" und die Organisierung der „Unterstützung von Maßnahmen der KPD in Westdeutschland." Es bestanden eine Reihe von Arbeitsgruppen, z. B. das für die Anleitung der KPD verantwortliche „Arbeitsbüro". Dem „Büro" stand Hermann Matern vor, während Albert Norden, der gleichzeitig Vorsitzender des Ausschusses für Deutsche Einheit war, und die von ihm geleitete ZKAbteilung für Agitation und Propaganda sowie die Agitationskommission beim Politbüro beauftragt wurden, die Rundfunk- und Fernsehtätigkeit der DDR nach Westdeutschland zu kontrollieren. Gewerkschaftsfragen unterstanden - auf dem Papier - grundsätzlich dem Sekretariat des Bundesvorstandes des FDGB. Für die Arbeit der Nationalen Front und der Blockparteien in Westdeutschland, einschließlich der dort tätigen „Friedensausschüsse", der Komitees gegen Atombewaffnung u.a.m. zeichnete das Büro des Präsidiums der Nationalen Front verantwortlich. Die Leitung der West-Jugendarbeit oblag dem Sekretariat des Zentralrats der FDJ. Einzelne Verantwortlichkeiten sowie die Art der Tätigkeit der mit Westarbeit

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„Vorschläge für die Weiterfuhrung unserer Offensive für Friedensvertrag und demokratische Einheit". Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll 41/58, Sitzung des Politbüros vom 30. 9. 1958, in: ebenda, J IV 2/2A/656, S. 4f. 25 Beschluß des Politbüros, Protokoll 32/58, 29. 7. 1958, in: ebenda, J IV 2/2/603, Bl. 16.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

befaßten Abteilungen in den DDR-Ministerien, in Organisationen, insbesondere im „Kulturbund", wurden ebenfalls im Politbüro festgelegt. Dem Ausschuß für Deutsche Einheit ordnete das Politbüro folgende Sachbereiche zu: die innenpolitischen Fragen Westdeutschlands, Probleme der „Widerstandsbewegung", die Veränderung der sozialen Lage einzelner Bevölkerungsschichten und die Auswertung von Berichten bundesdeutscher Institute. 26 Der Ausschuß geriet vor allem nach dem Aufflammen des Berlinkonflikts zu einer propagandistisch-ideologischen Zentrale der ostdeutschen Westarbeit. Formal dem Ministerrat unterstehend, organisierte der in wichtigen Fragen sehr konspirativ arbeitende Ausschuß - nach außen als eine Art „Chefankläger" in einem ewig währenden Anklageprozeß gegen die „militaristische", von „Nazis gelenkte", „revanchistische" und „imperialistische" Bundesrepublik wirkend - vor allem die großen ideologischen Kampagnen gegen Bonn. Ihr Chef, Albert Norden, „enthüllte" pausenlos ehemalige Nazis in den einzelnen Bereichen der westdeutschen Gesellschaft; emsig trug der Ausschuß besonders mit Hilfe des MfS Belastungsmaterial zusammen oder ließ es, wenn keine Beweise vorlagen, gelegentlich von diesem anfertigen. 27 Die Zuordnung von Zuständigkeiten in der Westarbeit durch das Politbüro bedarf des Kommentars. Erstens handelte es sich hier vorrangig um organisatorische Festlegungen. Die SED bestimmte die Inhalte und Prioritäten. Entschieden wurde prinzipiell in dem von der Westkommission beratenen Politbüro. So stellten Nationale Front, FDJ-Zentralrat u.a.m., deren mit der Westarbeit beschäftigten Büros und Sekretariate überdies mit Vertrauenspersonen der SED-Führung besetzt waren, im wesentlichen ausfuhrende Organe dar. Zweitens veränderte sich die organisatorische Struktur der Westarbeit vor allem im Parteibereich häufig, was Zuständigkeitsüberschneidungen, Funktionsdopplungen und Ressortkonflikte aber erfahrungsgemäß weder ausschloß noch zur beabsichtigten Effektivität der Westarbeit wesentlich beitrug. Die ständigen Neu- und Umbildungen der mit Westarbeit befaßten Parteiorgane erschweren dem Historiker die Darlegung eines klaren Bildes der Organisationsstrukturen. Bereits im Juni 1959 erhielt die Westkommision, die nun als Kommission für Gesamtdeutsche Arbeit beim Politbüro bezeichnet und erneut umgebildet wurde - den Vorsitz übernahm Albert Norden -, den Auftrag, „für eine straffe operative Leitung der gesamten Arbeit nach Westdeutschland zu sorgen". Sie bekam eine Weisungsberechtigung für alle Organisationen und Institutionen, soweit es ihre Arbeit nach Westdeutschland betraf.28 Am 27. September 1960 löste das Politbüro das sich mit der KPD befassende „Arbeitsbüro" aus Effektivitätsgründen auf und beschloß die Erweiterung der Westkommission auf bis zu 70 Genossen. Zum Ziel ihrer Arbeit wurde erklärt, alle „nationalen Kräfte" zu sammeln und „die zum Kampf gegen die Atomkriegspolitik der Bonner Regierung entschlossenen Kräfte, vor allem in der Arbeiterklasse, maximal zu stärken und zu befähigen, den Volkskampf gegen das Adenauerregime erfolgreich zu führen". Die zusätzliche Bildung einer SPD-Arbeitsgruppe29 unter der Leitung von Heinz Geggel deutete auf die Bedürfnisse der aktuellen Auseinandersetzung hin: In der Berlinkrise und im „Kampf um den Friedensvertrag" sollten die Arbeiterklasse und alle „nationalen" Kräfte für die ostdeutsch-sowjetischen

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Anlage zum Arbeitsprotokoll 4/59, Sitzung des Politbüros vom 20.1.1959, in: ebenda, JIV 2/2A/677. Vgl. Notiz Nordens „zur Besprechung mit Gen. Ulbricht" (undat.), in: ebenda, IV 2/2028/3. Anlage 3 zum Protokoll 27/59, Sitzung des Politbüros vom 2.6.1959, in: ebenda, JIV 2/2/631, Bl. 4,26. Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll 46/60, Sitzung des Politbüros vom 27. 9. 1960, in: ebenda, J IV 2/2A/778.

Veränderungen in der SED-Westarbeit

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Vorstellungen gewonnen werden. Nicht zufällig stand die Verhinderung der unpopulären Atombewaffnung im Vordergrund. Ein Politbürobeschluß vom 15. November 1960 unterstrich das Bemühen der Parteiführung, der zugespitzten Situation Rechnung zu tragen. Der Westkommission wurde die Anleitung, Durchführung und Kontrolle der Beschlüsse der SED auf dem Gebiet der gesamtdeutschen Arbeit als „zentrale Aufgabe" zugewiesen. Man beauftragte sie, der Parteiführung Konzeptionen für einzelne Gebiete auszuarbeiten, die Westarbeit in den Bezirken der DDR anzuleiten und zu kontrollieren und angesichts der gespannten Lage „ständig die Offensive gegenüber dem Gegner zu gewährleisten." Die Aufgabe der Kommission als Koordinatorin der „gesamtdeutschen Arbeit" blieb in der Berlinkrise herausragend. 30 Neben der Arbeitsgruppe SPD-Politik wurden innerhalb der Westkommission, die durch Instrukteure für die DDR-Bezirke auch personell erweitert wurde, noch andere sachbezogene Arbeitsgruppen (u. a. für „nationale und Friedensprobleme") gebildet. Sie sollten die Sammlung „aller nationalen und friedliebenden Kräfte in Westdeutschland bis in die Reihen der Bourgeoisie" vorantreiben, wie es hieß. Ein Hauptaugenmerk hatte die Kommission auf „Enthüllungen" zu legen, „die zur Auslösung von Differenzen und politischen Krisen in Bonn beitragen." 31 Das entsprach nicht so sehr dem Kontext von Berlinkrise und Friedensvertrag im allgemeinen als dem besonderen Bedürfnis, von der akuten Krisensituation in der DDR abzulenken, den eigenen Staat als den antifaschistisch-rechtmäßigen zu legitimieren und die Bundesrepublik als den von Nazis beherrschten Nachfolgestaat der braunen Diktatur zu diskreditieren. Die Destabilisierung der Bundesrepublik, zumindest einiger ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche, blieb auch nach dem Mauerbau das Ziel der SEDFührung. Im März 1963 bildete das Politbüro das nun „Westkommission beim Politbüro" genannte Gremium - der Begriff „gesamtdeutsch" war inzwischen gänzlich verpönt - erneut nach dem nun in der Wirtschaft der DDR eingeführten „Produktionsprinzip" um. 3 2 Die Wirkung von Berlinkrise und Auseinandersetzung über den Friedensvertrag auf die Struktur und den Umfang der Westarbeit läßt sich auch an Effektivitätsversuchen auf der Bezirks- und Kreisebene in der DDR ablesen. Überall bestanden in den Kreisleitungen der SED Westkommissionen, die den Westkommissionen der SED-Bezirksleitungen unterstanden. 33 Sie und die Berliner Parteizentrale unterhielten eine zahlenmäßig starke, an Hand der Akten quantitativ kaum exakt feststellbare „Truppe" von sogenannten Einsatzkadern in Westdeutschland. Ihre umfangreichen Berichte 34 vermittelten interessante, durch die subjektive Perspektive des Betrachters gebrochene und von Erfolgszwängen eingefärbte Einschätzungen der westdeutschen Situation, von der Lage in bestimmten Bereichen, von Kontakten und Persönlichkeiten. Nicht zufallig häuften sich die Berichte in den Jahren des Berlinkonflikts. Nimmt man die Berichte der Einsatzkader anderer Parteien, von Organisationen der DDR, staatlichen Stellen und privaten Personen hinzu, ergibt sich eine konspirative „Berichtsliteratur". Über die Westarbeit der SED hinausgehend, leistete sie einen Beitrag zur Entwicklung 30

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Beschluß des Politbüros: „Aufgaben, Struktur und Zusammensetzung der Kommission für gesamtdeutsche Arbeit beim Politbüro" (Westkommission), Anlage 3 zum Protokoll 52/60, 15. 11. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/733, Bl. 21f. Ebenda, Bl. 23f. Anlage 8 zum Arbeitsprotokoll 10/63, Sitzung des Politbüros vom 9.4.1963, in: ebenda, JIV 2/2A/956. Vgl. ebenda, IV/2/1992/16, Bl. 249. Vgl. ebenda u.a. IV A2/2028/41.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

des Kalten Kriegs in Deutschland, bot aber auch eine Grundlage der deutschen Kultur-, Sitten- und Alltagsgeschichte in einer wechselvollen Nachkriegsperiode. Der Mauerbau und das damit verbundene Abschneiden traditioneller gesamtdeutscher Verbindungslinien brachten aber auch für die SED Nachteile. Das betraf vor allem die Westarbeit. Während die damit befaßten Partei- und Staatsorgane bislang über eingespielte Mechanismen, Methoden und Kontaktwege verfügten, brachte die Grenzabriegelung alles durcheinander. „Nach dem 13. August sind in der Westarbeit, vor allem einiger Massenorganisationen, Tendenzen der Stagnation und der Liquidierung der Arbeit nach Westdeutschland aufgetreten" 35 , klagte die Westkommission des Politbüros. Das lag aber nicht nur am neuen Grenzregime, sondern auch an der mangelnden Flexibilität und schlechten Kooperation der einzelnen Träger der Westarbeit innerhalb der Parteibürokratie. Dies störte um so empfindlicher, als gerade drei große ideologische Kampagnen angelaufen waren. Während sich Organisationsfragen auf dem Territorium der DDR allmählich klären ließen, wurde die Verbindungsarbeit dauerhafter geschädigt. Die Westkommission wies - sichtbar unter Druck geratend - an, es sei zu sichern, „daß die wichtigsten Verbindungen zu westlichen Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und anderen aufrechterhalten bleiben." Erst jetzt schien das Fehlen eines Überblicks über die „wichtigsten Verbindungen" aufzufallen. Viele der von den Westkommissionen der SED-Bezirksleitungen und von den zentralen Leitungen der Massenorganisationen angegebenen Kontakte in die Bundesrepublik wurden tatsächlich nur noch „auf dem Papier" unterhalten. Da andere Westverbindungen, die von den offensichtlich unter Erfolgszwang stehenden Parteiorganisationen an die Zentrale gemeldet worden waren, sich plötzlich als ineffektiv und instabil entpuppten, setzte man in der Westkommission stärker auf den „illegalen Apparat" des FDGB im Westen. Der schien z. T. solidere Arbeit geleistet zu haben. Die Parteiführung beschied, daß dieser jetzt vor allem bei der Herstellung von Druckmaterial stärker herangezogen werden müsse. Flugblattagitation sollte nun, da es nicht mehr möglich war, beliebig „Einsatzkader" in den Westen über die geschlossene Grenze zu schicken bzw. von der Bundesrepublik in die DDR zu holen, stärker eine der erneuerten Formen der Westarbeit bilden. Die schriftliche Agitation, so prognostizierte die Westkommission beim Politbüro der SED, gewinne ebenso wie eine verbesserte Rundfunk- und Fernsehagitation der DDR in westlicher Richtung an Bedeutung. Sie gab auch die Anweisung, daß bei privaten und anderen DDR-Reisen „alle westdeutschen Besucher in gründlich vorbereiteten Aussprachen erfaßt werden." Die einzelnen Bezirks- und Kreisleitungen der SED wurden ermahnt, „strengstens darauf zu achten, daß im wesentlichen nur solche Besucher in die DDR kommen, die von fortschrittlichen Bürgern unserer Republik, vor allem von Genossen und anderen gesellschaftlich aktiven Bürgern eingeladen werden." Da Kontaktleute, Mittelsmänner und Kuriere unentbehrlich waren, erhielt die Westkommission vom Politbüro den Auftrag, in Verbindung mit der Abteilung Sicherheit (des ZK) und dem Innenministerium „westdeutschen Kadern" zu ermöglichen, „ohne Gefährdung [...] Aussprachen mit uns zu fuhren." Außerdem solle überprüft werden, inwiefern Briefe und Telegramme in Westberlin aufgegeben werden und Kurierfahrten und andere „illegale Maßnahmen" von Fall zu Fall durchgeführt werden könnten. 36

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Westkommission: „Zur Verbesserung der Arbeit nach Westdeutschland", 11. 1. 1962, in: ebenda, 2/2028/16, S. 2. Westkommission: Vorlage für das Politbüro „betr. die Weiterfuhrung der gesamtdeutschen Arbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen", 25. 8. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/9.

Die Präzisierung der Feindbilder der SED-Führung

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Mitten im Berlinkonflikt geriet die subversive Tätigkeit der SED in eine organisatorische Krise. Sie deutete sich schon durch den Wegfall von Blankoaufenthaltsgenehmigungen für Kader der „gesamtdeutschen Arbeit" Anfang Juni 1961 an. Bislang kamen in der Bundesrepublik lebende Sympathisanten und Parteigänger der SED, unter ihnen linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter, häufig, wie berichtet wurde, „einfach zur Staatsgrenze." Hier wurden sie bereits von „Beauftragten" erwartet oder die Grenzorgane der DDR „wußten Bescheid." Diese besaßen Blankoeinreiseexemplare, auf deren Grundlage die konkrete Aufenthaltsgenehmigung sofort ausgestellt wurde. Der Sekretär der Westkommission beim Politbüro, Hans Rentmeister, beschwerte sich bei Albert Norden über die mit Aufwand und längeren Wegen verbundene Auflage, daß Aufenthaltsgenehmigungen nunmehr beim Innenministerium der DDR beantragt und von diesem dem Antragsteller anschließend zugeschickt werden sollten. Da dieses Verfahren an Überprüfungsvorgänge gekoppelt sei, würde sich nicht nur der Zeitaufwand unerträglich vergrößern, bemängelte Rentmeister, sondern die Möglichkeit entstehen, daß staatlichen Stellen „unsere internsten Verbindungen bekannt werden" und dadurch Sicherheitsgefährdungen heraufbeschworen würden. 37 So wirkten Berlinkonflikt und Mauerbau auch für den verdeckten „Klassenkampf der SED als Katalysatoren. Die akute Konfliktsituation nach 1958 brachte weniger neue deutsche Themen als veränderte Prioritäten, Problemmodifizierungen und eine Verschärfung politischer Fragestellungen, Polemiken und Feindbilder hervor.

3. Die Präzisierung der Feindbilder der SED-Führung und die Modifizierung des Klassenkampfschemas Ulbricht focht den Berlinkonflikt vordergründig als persönlichen Kampf gegen den Intimfeind Bundeskanzler aus. Adenauer habe „den gleichen Auftrag wie Hitler [ihn] an die westdeutschen Monopole gegeben hat. Das ist unsere Hauptthese" 38 , erklärte er z. B. im Januar 1960 im Demokratischen Block. Der ostdeutsche Parteiführer sah in Adenauer die Inkarnation des wiedererstandenen „westdeutschen Imperialismus". Keine anderen Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte stießen sich in solch einem hohen Grad ab und zogen sich gleichzeitig so an wie beide auf ihre Art herausragenden politischen Antipoden. Adenauers Ulbrichtbild war weniger emotionaler Natur als die pauschal negative Skizze, die der Staatsratsvorsitzende vom Bundeskanzler zu entwerfen pflegte. Adenauer sah den SED-Chef vor allem als Werkzeug Moskaus. Der sich so geschmäht Fühlende schimpfte den Bonner „Spalter" zwar ebenfalls einen Paladin (der USA), führte diese Betrachtungsweise aber immer wieder auf eine eigentümliche Art ad absurdum: Adenauer sei schlimmer als die Amerikaner, dränge sie zur Atomrüstung, versuche die Westmächte für seine revanchistischen Ziele einzuspannen u.a.m. Vorrangig wegen seiner schwächeren Position in der deutschen Auseinandersetzung reagierte Ulbricht empfindlicher, sah in allem einen perfiden Angriff des Bundeskanzlers auf seine Person. Dahinter verbarg sich auch die maßlose Überbewertung und Überschätzung seiner eigenen Person und Position. So verwies der Erste Sekretär zu Unrecht auf eine „Anordnung Adenauers, in allen Ländern die Kampagne gegen Genossen 37 38

Schreiben Rentmeisters (Westkommission) an Norden, 8. 6. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/11. Stenographische Niederschrift der Sitzung des Demokratischen Blocks, 26. 1. 1960,IV 2/15/24, S. 18.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

Ulbricht zu fuhren." Die fiktive westliche Kampagne führte zur realen östlichen, als auf einem neuen Höhepunkt der Berlinkrise vom Politbüro eine „Kampagne gegen Adenauer und die westdeutschen Politiker" beschlossen wurde. 39 In den seltensten Fällen konzidierte das Politbüro Adenauer und seiner Politik Erfolge. Bemerkenswerterweise war es der „Chefideologe" Albert Norden, der dem Bundeskanzler mit dem Abflauen des Berlinkonflikts - freilich sehr intern und auch indirekt - solche bescheinigte, wenn er dem Politbüro von SED und KPD riet, diese Erfolge, „wenn wir die Lage richtig beurteilen wollen", anzuerkennen. Norden konstatierte einen „ernsten Einbruch" des „westdeutschen Imperialismus" in die Bevölkerung, „auch in die werktätige Bevölkerung", und betonte, daß vor allem die „EuropaIdeologie" und die EWG-Politik, für die Adenauer stand, „bewußt oder unbewußt in werktätige Schichten Eingang gefunden hat." 40 Auch insofern stellte der Bundeskanzler für die SED-Führung die allgemeinste (und personifizierte) Zusammenfassung westdeutscher Politik dar. Sachfragen, politische Ziele und Prognosen wurden von den führenden Politikern der DDR an die Person Adenauers geknüpft. Bis zum Ausgang der fünfziger Jahre bildete die Beseitigung der Regierung Adenauer im Konzept der SED eine Art Traumziel. Es verblaßte nach dem Beginn der Berlinkrise zusehends. Bei der gegenwärtigen politischen Verteilung der Kräfte, so führte Grotewohl am 22. Dezember 1959 in einer internen gemeinsamen Tagung der Politbüros von SED und KPD aus, halte er es für zweifelhaft, „politische Prognosen aufzustellen, die etwa an einen Sturz Adenauers oder eine völlige Veränderung der Situation glauben lassen können." Grotewohl bezweifelte, daß man durch die Bundestagswahlen 1961, wenngleich bis dahin noch viel Zeit sei, das Kräfteverhältnis grundlegend revidieren und die Verhältnisse prinzipiell umwandeln könne. Er sah jedoch folgendes Ziel als realistisch an: „Man muß Adenauer soviel schädigen, wie man kann [...]. Wir können seine gegenwärtige Position stark erschüttern. Ein solches erfolgreiches Einwirken durch unsere Teilnahme an diesen Wahlen [Bundestagswahlen 1961 - M. L.] ist immerhin ein großer politischer Erfolg, wenn es uns gelingt, die Position Adenauers stark zu erschüttern, so daß diese Erschütterung direkte Auswirkungen auf die CDU und auch auf die SPD haben." 41 Und noch im Juni 1963, kurz vor dem Ende der „Ära Adenauer", schrieb Ulbricht an Chruschtschow, seine (Ulbrichts) „Beweisführung [muß] darauf gerichtet sein, die AdenauerPolitik zu diskreditieren und zu helfen, die Regierungsumbildung in Bonn vorzubereiten." 42 Das Politbüro bediente sich in der Auseinandersetzung über den Friedensvertrag verschiedener Schwachstellen in der Wiedervereinigungspolitik Adenauers. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, inwiefern man zum deutschlandpolitischen Kurs der Bundesregierung in Opposition stehende gesellschaftliche und politische Kräfte für eigene Ziele einspannen konnte. Die Westpolitik der SED erfaßte insbesondere nach dem Parteitag der CDU in Karlsruhe (26.-29. April 1960) wieder stärker nationale „bürgerliche" Kräfte. Das „nächste Kettenglied zur Änderung des Kräfteverhältnisses in Westdeutschland" wurde noch einmal als die „Schaffung einer breiten, einheitlich auftretenden Friedensfront, in der die Arbeiterklasse ihre führende Kraft verwirklicht", beschrieben. Doch über welche Themen konnten die einzelnen Mitglieder einer zukünftigen „Volksfront" von der SED angesprochen und motiviert werden? » Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 6/62, 13. 2. 1962, in: ebenda, J IV 2/2A/876, S. 4. 40 Protokoll der gemeinsamen Beratung der Politbüros von SED und NPD, 19. 2. 1963, in: ebenda, IV 2/1003/229, Bl. 26. 41 Stenographische Mitschrift der gemeinsamen Tagung der Politbüros von SED und KPD, 22.12.1959, in: ebenda, J IV 2/2/681, Bl. 72f. 42 Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 7. 6. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/338, S. 6.

Die Präzisierung der Feindbilder der SED-Führung

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Sowohl ihre Konzeption zur Gewinnung von SPD und Gewerkschaften als auch die noch zu Beginn der Berlinkrise favorisierte Vorstellung, westdeutsche Arbeiter massenweise anzuziehen, erwiesen sich als wenig realistisch. Noch im Januar 1959 hatte die SED-Parteifuhrung beschlossen, daß nach einem „genau festzulegenden Plan damit zu beginnen [sei], bei Arbeitern in Westdeutschland eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Verlangen reift, das Leben in der Existenzunsicherheit Westdeutschlands aufzugeben und in die DDR überzusiedeln." 43 Ab Frühjahr 1960, als die Massenflucht nach Monaten einer zeitweiligen Beruhigung in umgekehrter Richtung wieder einsetzte, trug man der veränderten Lage auf eine besondere Art Rechnung: Die Westkommission empfahl nunmehr, die „Schwäche der adenauerschen Position in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands viel offensiver", nämlich vor allem im Hinblick auf national gesinnte oppositionelle Kräfte im Bürgertum der Bundesrepublik, „auszunutzen". „Wenn wir den Gedanken von Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten, den Gedanken der Konföderation [...] wieder intensiver popularisieren", so hoffte die Westkommission, „werden wir in Westdeutschland verhältnismäßig große Aufgeschlossenheit finden und der Adenauer-Regierung erhebliche Schwierigkeiten bereiten können." Die Westkommission sah die „nationale Seite", den „nationalen Inhalt" der SED-Politik propagandistisch auch deshalb als von „außerordentlicher Bedeutung" an, weil es „in Westdeutschland sehr weit verbreitete nationalistische Strömungen gibt." 44 Kündigte sich eine Neuauflage der Strategie der fünfziger Jahre an? Gegen die Politik Adenauers gerichtete bürgerliche Bewegungen und die ihr entsprechenden oppositionellen Parteien und Organisationen, u. a. die Gesamtdeutsche Volkspartei [GVP], der Bund der Deutschen [BdD] und die Volksbefragungsausschüsse - mehr oder weniger alle irgendwie von der SED unterstützt waren aber ausnahmslos gescheitert. Die extrem nationalistische Propaganda der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, die vor allem antiamerikanisch angelegt gewesen war und insgesamt antiwestlich hatte wirken sollen, konnte in ihrer Impertinenz und Primitivität nach 1957/58 von der SED nicht mehr durchgehalten werden. Zwar verschwand das Element nationaler Deklamation nicht, und die „Überfremdung" der deutschen Kultur u.a.m. wurde wortreich beklagt, doch mußte die Parteiführung sowohl das gewachsene Ansehen der Amerikaner in der Bundesrepublik als auch den inzwischen hohen Grad der Zustimmung der Bevölkerung zur Westintegration berücksichtigen. Besonders die 1957 in Rom gegründete EWG erlangte, trotz aller negativen östlichen Prognosen, schnell Popularität. Die „nationale" Argumentation des Politbüros wandelte sich in der Frage des Gemeinsamen Marktes mehr zu einer „antiimperialistischen". Die EWG und andere westliche Integrationspläne (u.a. die einer Freihandelszone) seien „Kampfpläne gegen das sozialistische Lager, die EWG die „wirtschaftliche Ergänzung zur NATO." 45 Die Bundesrepublik würde nicht nur versuchen, die Vorherrschaft in der EWG zu erlangen, sondern diese auch benutzen, um durch die Propagierung einer „westeuropäischen Autarkie" den Ost-West-Handel zu lähmen 4 6 Diese Auffassung ging von einer einseitigen und in dieser Konsequenz völlig falschen Interpretation der Westintegration als bloßer Gegenkonzeption 43

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„Vorschläge für die Weiterentwicklung unserer Offensive nach und in Westdeutschland". Anlage zum Arbeitsprotokoll 4/49, Sitzung des Politbüros vom 20. 1. 1959, in: J IV 2/2A/677, Bd. 1, S. 3, 8f. Westkommission: „Zur Einschätzung des Parteitages der C D U / C S U [CDU - M. L.] in Karlsruhe", undat. (1960), in: ebenda, J IV 2/202/100, S. 6. ZK-Papier: „Die Projekte eines g e m e i n s a m e n Marktes' und einer Atomgemeinschaft der Montanunionländer", 27. 2. 1957, in: ebenda, NL 62/115, Bl. 142. Ebenda.

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zum Weltsozialismus aus. Allerdings bewertete die Parteiführung die EWG auch als „ein weiteres bedeutendes Hinderais" auf dem Weg zur Lösung des Deutschlandproblems. 47 Mehr und mehr wurden neue Elemente einer internationalen „Verschwörung" entdeckt. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit wichen so auch „deutsch-nationale" internationalistischen Betrachtungsweisen. Diese erfaßten Themen, die von der UdSSR als brennend aktuell herausgestellt wurden: Atombedrohung und Sicherheit, Gewaltverzicht und Friedenserhaltung. Wenn „oppositionelle Kräfte" in der Bundesrepublik angesprochen wurden, spielten solche Themen und natürlich die Probleme des Friedensvertrages und Berliner Fragen eine Rolle. Da die Wiedervereinigung nicht mehr im Vordergrund stand, schwächten sich patriotische Gefühlsbekundungen und Schlagwörter ab. Sie wurden in übergreifende Propagandazusammenhänge eingeordnet. Die SED-Emissäre gingen zwar auf ihre Partner als „gute Deutsche" zu, sprachen diese aber stärker in ihrer Eigenschaft als „Friedensfreunde" an. Schließlich zeichne sich der wahre Patriot dadurch aus, daß er sein Vaterland nicht Verderbnis und Krieg aussetzen möchte. Wer sein Land wirklich liebe, unterstütze die sowjetische Verständigungspolitik. Dieses argumentative Grundschema erhielt während des Berlinkonflikts, von dem tatsächlich Bedrohung ausging, feste Umrisse. Es schien rationaler als ein sozialistisch eingefärbtes System demagogischer Vaterlandspolemik, denn es konnte sowohl auf eine reale Kriegsgefahr als auch auf den systemübergreifenden Wunsch nach Frieden und Sicherheit aufbauen, ohne die Werte „Nation" und „Wiedervereinigung" explizit in Frage stellen zu müssen. Und gerade sie bildeten nach 1958 eine Grundbedingung und eine Einstiegsmöglichkeit, um mit verschiedenen westdeutschen Persönlichkeiten in ein Gespräch zu kommen, sie - denn nur darum ging es der SED - für die sowjetische und für die ostdeutsche Politik zu vereinnahmen. Auf die umfangreichen Westkontakte der SED im Untersuchungszeitraum kann im Rahmen dieser Darstellung nicht ausführlich eingegangen werden. Die hier interessierende Frage lautet, inwiefern die Auseinandersetzung um Berlin und den Friedensvertrag zu Veränderungen der Kontaktpolitik der SED beigetragen haben.

4. Akzentverschiebungen in der Westarbeit der SED nach 1960: Von der SPD zum Bürgertum Am Ende der fünfziger Jahre intensivierte die Führung der SED ihr Werben um die SPD beträchtlich. Sie ging davon aus, daß die Sozialdemokraten die wichtigsten und geeignetsten Bündnispartner der SED in ihrem Bestreben seien, die Machtkonstellation der Bundesrepublik grundlegend zu verändern. Deutliche taktische Kurskorrekturen berücksichtigten vor allem nach Beginn der Berlinkrise die Überlegung, daß man nunmehr auch auf die lange Zeit als „Erfüllungsgehilfen des Imperialismus" verunglimpfte SPD-Führung zugehen und mit ihr - nicht gegen sie - die Idee einer antiimperialistischen Aktionseinheit verwirklichen müsse. 48 47

48

SED-Entwurf eines Briefes des Präsidiums der Volkskammer an die Parlamente der Montanunionstaaten, undat. (1957), in: ebenda, NL 90/467, Bl. 243. Vgl. M. Lemke, eine neue Konzeption?, Die SED im Umgang mit der SPD 1956-1960, in: J. Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 372-375.

Akzentverschiebungen in der Westarbeit der SED nach 1960

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Offensichtlich trugen auch sowjetische Interventionen dazu bei, daß der aus ideologischen Gründen vom Politbüro zunächst heftig zurückgewiesene 49 Deutschlandplan der SPD vom 18. März 1959 im Prinzip begrüßt wurde. Er sei „zweifellos ein bedeutender Beitrag zur gesamtdeutschen Diskussion über die Wege zur Wiedervereinigung des Landes" und sei auch von „wesentlicher internationaler Bedeutung." 50 Als ein positives Moment der SPD-Politik bewertete der SED-Führungszirkel die Bereitschaft der Sozialdemokraten, mit der Regierung der DDR unter gewissen Bedingungen zu sprechen. Die Hoffnung, SED und SPD könnten den Kern einer Art „Volksfront" gegen das Adenauerregime bilden, zerschlug sich im Juni 1960 mit dem Einschwenken der SPD auf die außen-, deutschland- und sicherheitspolitische Linie der Bundesregierung schlagartig. Die SED korrigierte ihren Kurs erneut. Nunmehr griff man die SPD-Spitze wieder undifferenziert an, versuchte sie von der Parteibasis zu isolieren und eine interne Parteiopposition unter Einschluß unterer Funktionärsebenen zu schaffen. 51 Diese Vorgänge wurden im Umfeld der eskalierenden Berliner Krise besonders relevant, weil sie die SED zu Zielgruppenkorrekturen veranlaßten, nachdem die taktisch flexiblere Konzeption des Umganges mit der Gesamt-SPD gescheitert war. Die Desillusionierung über die SPD trug ab 1960 eindeutig zu einer stärkeren Orientierung auf nichtsozialdemokratische, vor allem „bürgerliche Kräfte" bei. Das eröffnete zwar keine neue Traditionslinie der SEDWestpolitik, führte aber zu Akzentverschiebungen. Zum einen bemühte sich die SED, nachdem die Ansätze dafür u. a. mit dem Bund der Deutschen (BdD) gescheitert waren, wieder um die Konstituierung einer bürgerlichen oppositionellen Sammlungspartei in der Bundesrepublik. Der von der SED gesteuerte „Zentralausschuß der ausgeschlossenen und ausgetretenen ehemaligen SPD-Mitglieder" ergriff im September 1960 die Initiative zur Gründung einer Sammlungspartei, an dessen Vorbereitungskongreß 17 oppositionelle Vereinigungen und Gruppen teilnahmen. 52 Die neue Partei entstand, vor allem mit Blick auf die Bundestagswahlen 1961, im Dezember 1960 als Deutsche Friedensunion (DFU). Bereits auf dem von Ostberlin gesteuerten Vorbereitungskongreß (Frankfurt am Main, 30. September 1960) hatten sich unterschiedliche Strömungen und Interessen der an der zukünftigen Partei Beteiligten gezeigt. An einer sozialistischen Zielstellung konnte die SED, die keineswegs auf alle Gründungskräfte Einfluß besaß, kein Interesse haben. Sie bediente sich einiger Repräsentanten der neuen Partei, wenn diese - ganz im Sinn, aber nicht „im Sold" des Ostens - den Kampf gegen die Atomrüstung, für Abrüstung, friedliche Koexistenz und Verhandlungen, aber auch gegen die westdeutschen Notstandsaktivitäten, gegen den „Abbau demokratischer Rechte" u.a.m. zu Zielen erhoben. Die Erhaltung des von der SED unerwünschten „Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen", wie es Klara Maria Faßbinder formulierte 53 , war durchaus ein Motiv vieler Mitglieder in der heterogenen DFU. In der folgenden Zeit legte das Politbüro das Hauptaugenmerk darauf, die neue Partei in die gewünschte Richtung zu lenken, SED-konforme Kräfte in ihren Leitungen Vgl. Neues Deutschland, 1.4.1959 und Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 15/59,1.4.1959, in: SAPMO-BArch, ZPA, 2/2A/689. 50 Papier: „Über den Deutschland-Plan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands" (in deutschem und russ. Text), 3. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/86, S. 2-4. 51 Vgl. M. Lemke, a.a.O., S. 376f. 52 Vgl. „Bericht über die erste Zusammenkunft aller oppositionellen Kräfte zur Vorbereitung einer Gruppierung zu den Bundestagswahlen 1961, 30. Sept. 1960 in Frankfurt/M.", undat.[offensichtlich Juli/August 1969] in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/2028/26, S. 1. » Ebenda, S. 2-4.

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avancieren zu lassen und unabhängige Persönlichkeiten zu entmachten. Die Beeinflussung der DFU erfolgte in der Regel über den illegalen Apparat der KPD. Die Partei allerdings zerschlug oft mehr politisches Porzellan, als sie im Sinne der SED wirklich konstruktiv anleitete. Zwar akzeptierte die DFU die umfassende Unterstützung durch Ostberlin. Ihre Leitung, berichtete Norden dem Politbüro, kritisierte aber verschiedentlich „die Gängelei" durch die KPD, „die sie besonders auf der Länderebene" in ihrer Arbeit einenge: „Die KPD trage oftmals eine sektiererische Linie in die DFU hinein. Sie verlange zu ultimativ ein vorbehaltloses Bekenntnis zur DDR, anstatt auch die Kräfte zu fordern, die zwar noch Vorbehalte zur DDR haben, aber in allen Fragen der Abrüstung mit uns gehen. Vor allem wurde bemängelt, daß in vielen Fragen seitens der KPD-Vertreter das Diktat an die Stelle der Diskussion trete." 54 Immerhin registrierte das Politbüro eine Unterstützung von seiten der DFU in der Deutschland- und Berlinfrage. Das verlangte ein begrenztes Eingehen auf die an sich suspekten nationalen Wünsche einer Reihe der DFU-Mitglieder. Dabei bediente sich das Politbüro desselben kategorischen Tons, den Norden bei der KPD kritisiert hatte. „Es ist zweckmäßig, wenn die DFU mit einer nationalen Proklamation herauskommt", ordnete man im Sommer 1961 an und fuhr im Befehlston fort: „Ausgehend von der Diskussion in der Bevölkerung ist darzulegen, was die Perspektive der Deutschen ist. Der Ausweg aus der gegenwärtigen Lage besteht darin, jetzt mit der Politik der Bonner Ultras Schluß zu machen." 55 Insgesamt geriet die DFU - gegen den Willen eines großen Teils ihrer Mitglieder und von einer Reihe von Funktionären offensichtlich unzureichend wahrgenommen - in das Fahrwasser sowjetischer und ostdeutscher Berlin- und Deutschlandpolitik. Die SED verstärkte auch ihre Arbeit mit den „Bürgerlichen". Sie sprach aber nicht mehr alle möglichen Personen und Kreise an, sondern konzentrierte sich gezielter auf wirklich wichtige Persönlichkeiten. Dabei war es relativ unrelevant, ob diese der Regierung oder der Opposition, der einen oder der anderen Partei oder Gruppierung angehörten, wenn sie nur Einfluß besaßen oder den hoffnungsvollen Eindruck erweckten, daß sie irgendwann einmal über Macht verfügen würden. Nach dem Beginn der Berliner Krise, ganz deutlich ab 1960, warb die SED-Führung um die Gunst der bundesdeutschen Industrie. Dahinter standen wirtschaftliche, viel mehr aber politische Absichten. Es galt den Alleinvertretungsanspruch und die Bonner Hallsteindoktrin über Handelskontakte auszuhebein. Anknüpfungspunkte boten die Ostgeschäftsinteressen von Unternehmen wie Mannesmann, Krupp und Flick, die sorgfaltig beobachtet wurden. So sollte die SED überprüfen, notierte sich Hans Rentmeister, Mitglied der Westkommission, am 20. Januar 1960, ob die Möglichkeit bestehe, diesen Konzernen „einen größeren Anteil am Handel des sozialistischen Weltmarktes zu erschließen." Man müsse ihnen eine derartige Perspektive klarmachen. 56 Rentmeister schlug u. a. Zusammenkünfte des namhaften Industrieclubs Düsseldorf mit renommierten Persönlichkeiten der DDR vor, vielleicht mit dem Physiker Manfred von Ardenne oder einem bekannten Staatsfunktionär. Vor allem sollten vor Beginn der Leipziger Messen interne Gespräche Ulbrichts oder Heinrich Raus mit westdeutschen Industriellen stattfinden. Auch müsse versucht werden, so legte Rentmeister nahe, trotz aller Schwierigkeiten „an die Kreise des Mittelstandes [...] heranzukommen." 57 54

55 56 57

Bericht Nordens an das Politbüro über den Weltkongreß für Allgemeine Abrüstung und Frieden in Moskau, 17. 7. 1962, in: ebenda, J IV 2/2J/837, S. 9. Beschluß des Politbüros, Protokoll 45/61, 22. 8. 1961, in: ebenda, JIV 2/2/787, Bl. 3. Aktennotiz von Rentmeister, 20.1.1960, in: ebenda, IV 2/1002/8, Bl. 30f. Ebenda, Bl. 31.

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In der Folge stand u. a. der Krupp-Konzern im Mittelpunkt des ostdeutschen Interesses. Man konstatierte sowohl einen Beitrag Krupps zu den „Hegemonie-Bestrebungen" Adenauers, als aber auch „von der Vernunft gebotene" sachliche Handelsbeziehungen [des Unternehmens] mit den sozialistischen Ländern „im Sinne der friedlichen Koexistenz." Dem Politbüro wurde in einem Papier des ZK geraten, den „Schwerpunkt in den Stellungnahmen zu Krupp weiterhin auf den Osthandel und dessen positive Seiten" zu legen. 58 Die Bemühungen um Krupp machten Fortschritte. Dazu trug auch das Entgegenkommen der SED gegenüber persönlichen Wünschen des Krupp-Generalbevollmächtigten bei. 59 Eine wichtige Kontaktmöglichkeit bot nach wie vor die Leipziger Messe. Hier gelang es der SED weniger durch politische Sympathiewerbung als durch handfeste Handelsofferten, westdeutsche Industrielle zu allgemeinen Äußerungen über die Bedeutung des Ost-West-Handels zu bewegen. Während die bundesdeutschen Wirtschaftler damit in keiner Weise eine prokommunistische Stellungnahme zu Zeitfragen beabsichtigten, bauschten die Medien der DDR verschiedene Äußerungen gewaltig und tendenziös - zumeist als eine Anerkennung der DDR - auf. Tatsächlich ließ sich ein deutscher Staat DDR am wenigsten auf der Leipziger Messe übersehen. Bundesaußenminister v. Brentano registrierte industrielle Gutmütigkeit mit böser „antikapitalistischer" Kritik: „Die Instinktlosigkeit dieser Menschen ist in der Tat erschrekkend", schrieb er am 11. März 1960 an Adenauer. „Dabei ist es das Ergebnis der Politik der Bundesregierung, daß diese Herren ihre gewaltigen Unternehmungen wiederaufbauen und Vermögen schaffen konnten, die unvergleichbar sind mit den Größenordnungen der vergangenen Zeit." Die Beziehungen zu „diesen Kreisen der Wirtschaft", riet er, sollten überprüft werden. 60 Zielte das intensivierte Bemühen auch auf eine politische Beeinflussung der westdeutschen Großindustrie im Sinne der berlin- und friedensvertraglichen Positionen der SED ab, trug das nüchterne geschäftsorientierte Herangehen verschiedener westlicher Wirtschaftsmanager an die Frage notwendiger Kontakte zur DDR alles in allem zu einer partiellen Entkrampfung der Situation bei.

5. Die Entwicklung, die Ziele und die Methoden der SED-Kontaktpolitik im Berlinkonflikt und bundesdeutsche Reaktionen Verschiedene, zumeist verdeckte Kontakte zwischen der SED bzw. ihren Gewährsleuten mit Politikern und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Bundesrepublik hatte es nach 1946 bzw. nach der Gründung beider deutscher Staaten regelmäßig gegeben. Die östlichen Motive blieben nicht im dunkeln. Wie schon dargelegt, ging es der SED um die Gewinnung westdeutscher Einflußpersonen für die Positionen der DDR bzw. UdSSR. Damit war in der Regel das Ziel verbunden, westdeutsche Parteien, Organisationen und andere staatliche oder nichtstaatliche Gremien zu infiltrieren. Wegen des Kalten Kriegs und des innerdeutschen Sonderkonflikts gestalteten sich innerdeutsche Kontakte in hohem Maß 58

59 60

Papier der ZK-Abteilung Internationale Verbindungen für Politbüro und Sekretariat des ZK der SED, 20. 6. 1960, in: ebenda, IV 2/2028/39. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 29/62, 2 6 . - 2 8 . 6. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/836, Bl. 1. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 11. 3. 1960, in: BA Koblenz, N L 239/158, Bl. 32.

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konspirativ und nicht selten geheimdienstlich. Die Gründe, mit der SED oder mit anderen Kräften der DDR Kontakte zu knüpfen, waren westlicherseits höchst verschieden. Vielen um die Einheit Deutschlands besorgten Ansprechpartnern der SED ging es darum, das deutsche Gespräch zu pflegen, um ein weiteres, vor allem geistiges Auseinanderdriften beider deutschen Teile, die „Zementierung" der Spaltung zu verhindern. Viele, die die Wiedervereinigung als erstrangiges Ziel verinnerlicht hatten, dachten patriotisch, insofern sie das Gebot der Einheit vor die Notwendigkeit der Freiheit, der Einbindung in den Westen, setzten. Eine lange Reihe von in der Bundesrepublik politisch wirkenden Personen suchte den innerdeutschen Kontakt vor allem, um die negativen Folgen des „Sonderkonflikts" für die Deutschen irgendwie zu begrenzen, meinten sich auf „Seitenwegen" dem Ziel eines einigen und freien Deutschlands nähern zu können. Konnte man sich den Machthabern in Ostdeutschland, die doch im wahrsten Sinne des Wortes die Macht hatten, gänzlich verweigern? Führte eine Position absoluter Nichtanerkennung all dessen, was sich DDR nannte und in deren Namen geschah, nicht zu neuen Spannungen und Verhärtungen? Konnte man andererseits mit der DDR sprechen, ohne das Regime der SED politisch und moralisch anzuerkennen? Kamen verschiedene „Anerkenner" a priori in die Lage, zu „Schönfärbern und Helfershelfern der SED-Diktatur im Westen" zu werden. 61 Der verschärfte Ost-West-Konflikt spitzte diese und andere Fragen nach 1958 weiter zu. In der Bundesrepublik mehrten sich die Stimmen, die das Verbot offizieller Gespräche mit der DDR in Frage stellten und zu einer generellen Überprüfung des Alleinvertretungsanspruchs und der Hallsteindoktrin aufriefen. Die Berlinkrise wirkte dabei als Katalysator. Die SED beobachtete den deutschlandpolitischen Differenzierungsprozeß in der Bundesrepublik jetzt noch genauer. Bereits im Vorfeld der sich abzeichnenden Berliner Krise hielt sie Veränderungen in der Haltung einflußreicher Personen und ihre dezenten Kontaktsignale fest. Bereits im Mai 1958 verdichteten sich in Ostberlin Informationen über einen Meinungswandel zur Kontaktpolitik bei dem Präsidenten des Deutschen Bundestages Eugen Gerstenmaier (CDU). Durch ein internes Gespräch, das der Politiker mit einem ostdeutschen Bekannten führte - ohne freilich zu wissen, daß es sich hier um einen „berichtspflichtigen" Vertrauensmann des Generalsekretärs der Ost-CDU Gerald Gotting handelte (der wiederum der SED berichtete) - wurde dem Politbüro folgendes bekannt: Gerstenmaier trat nicht nur für eine atomwaffenfreie Zone nach dem Plan des polnischen Außenministers Rapacki vom Oktober 1957 ein, sondern auch für das Ausscheiden beider deutscher Staaten aus ihren Paktsystemen. Beide deutschen Teile benötigten jeweils „nur eine Polizeitruppe, über deren Stärke man sich einigen könne." In dieses Problem, so äußerte Gerstenmaier nach dem Bericht, falle auch der Abzug aller ausländischen Truppen aus Deutschland. Wichtig war, daß er gegenüber dem aufmerksamen Gesprächspartner seine Bereitschaft erklärte, darüber „mit Walter Ulbricht zu sprechen." Auf die erstaunte Nachfrage des Informanten habe Gerstenmaier noch einmal ausdrücklich unterstrichen, daß es ihm ernst sei mit dieser Gesprächsbereitschaft.62 Der Bericht erscheint um so glaubwürdiger, als der Bundestagspräsident bereits im Januar in einen Konflikt mit Adenauer geraten war, als er erklärte, mit der außenpolitischen Methode des Kanzlers - einem seines Erachtens unflexiblen Alleinvertretungskurs nicht mehr übereinzustimmen. Gerstenmaier wich in den Augen des Regierungschefs „vom 61

62

Vgl. J. Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin und Frankfurt/M. 1992. Mitteilung von H.-W. Mascher an G. Gotting, 2. 5. 1958, in: SAPMO-Arch, ZPA, IV 2/15/40.

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Pfad der offiziellen Deutschlandpolitik" ab, obwohl er bislang nicht zu erkennen gegeben hatte, daß er - wie etwa Herbert Wehner - zu Gesprächen mit Institutionen der DDR bereit sei. Einen Meinungswandel Gerstenmaiers bei der Beurteilung der Verhältnisse zur DDR glaubte Adenauer jedoch tatsächlich zu beobachten: „Er tut es aus Geltungsbedürfnis", merkte er böse an. 63 Adenauers Kritik fruchtete. Der Bundespräsident ließ verschiedene Gesprächspläne fallen. Die SED hielt auch nach den gescheiterten Genfer Gesprächen an den Kontakten mit der FDP fest, obwohl die Unterredungen unregelmäßig geführt wurden. Die Verbindungen wurden vorrangig über Funktionäre der LDPD der DDR gehalten. Eine Darstellung der Beziehungen zwischen der DDR und der FDP, die auch die Zeit der Berliner Krise berücksichtigt, liegt vor. 64 Freilich wäre auch hier einiges nachzutragen, so u.a. die internen Kontakte der DDR mit dem Berliner FDP-Landesvorsitzenden William Borm, der das Politbüro, zumindest indirekt, über politische Pläne Westberliner Politiker in Kenntnis setzte. 65 Mit dem Beginn der Berlinkrise verstärkte die SED-Parteifuhrung ihre Kontaktversuche gegenüber sozialdemokratischen Politikern sichtbar. Die Fühlungnahme lief über das Büro des Präsidiums des Nationalrates der Nationalen Front unter der Federführung von Walter Vesper, eines Vertrauensmanns Ulbrichts, der häufig an ihn persönlich berichtete. Vesper, der bis Juni 1952 Abgeordneter der KPD im Bundestag gewesen war, versuchte in Kenntnis der westlichen Verhältnisse die neue Offensive flexibler zu gestalten. Daran hinderten ihn die dogmatischen Glaubenssätze des Politbüros, vor allem aber dessen Feindbilder erheblich. Ende 1958 konzentrierte sich die SED-Führung auf die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion. Fritz Baade, zu dem schon länger Verbindungen bestanden, Willy Müller (Worms), Wilhelm Reitz, Erich Meyer, Karl Meitmann, Helene Wessel u. a. standen im Mittelpunkt. 66 Aber vor allem Baade und Wessel, die der SED als einflußreich und flexibel galten, wandten sich energisch gegen das sowjetische Berlinultimatum. Baade vertrat diese Position trotz seiner Überzeugung, daß die Berliner Bundestagssitzung (1.-3. Oktober 1958) und die dort gefaßten Beschlüsse „eine maßlose Dummheit des Westens gewesen seien, die zu einer Reaktion der Sowjetunion hätten fuhren müssen." Helene Wessel lehne es aufgrund der Haltung der DDR zur Berlinfrage ab, „mit uns zu verhandeln" 67 , berichtete ein sachlicher Vesper. Einige der von Emissären im Westen aufgesuchten SPD-Bundestagsabgeordneten weigerte sich, mit der SED in Kontakt zu treten, andere verwiesen auf Herbert Wehner und Carlo Schmidt. Man sollte diese, nicht „kleine" Bundestagsmitglieder ansprechen. Nur Karl Meitmann erklärte sich bereit, mit einem Kreis seiner Genossen über die Standpunkte der DDR zu sprechen und mit ihnen zur Aussprache nach Berlin zu kommen, allerdings unter der Bedingung eines

63 64

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67

H.-P. Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann, S. 374f, 438, 471f. Vgl. R. Engelmann, Brüchige Verbindungen. Die Beziehungen zwischen F D P und LDPD 1956-1966, in: R. Engelmann/P. Erker, Annäherung und Abgrenzung. Aspekte deutsch-deutscher Beziehungen 1956—1969, München 1993, S. 77-115. „Niederschrift der Unterredung mit dem Vorsitzenden der Westberliner Organisation der FDP, Borm", 16. 4. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/133, S. 1-5. „Zusammenfassung der wichtigsten Argumente und Meinungen aus Gesprächen mit Funktionären der SPD und anderen Persönlichkeiten Westdeutschlands", 18. 12. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/115. Bericht des Nationalrates der Nationalen Front, Büro des Präsidiums (W. Vesper) an Ulbricht, 18.12. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/115, S. 1-3.

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„internen Rahmens". 68 Die angesprochenen SPD-Bundestagsabgeordneten lehnten Einladungen zum Besuch der DDR zumeist ausdrücklich ab. 69 Interessant war, daß einige von ihnen scharf kritisierten, daß die CDU die SPD Jahrelang als Helfershelfer der Kommunisten beschimpft und selbst aber Kontakte mit der DDR gepflegt" hätte. 70 Dies erleichterte den in Westdeutschland angesprochenen SPD-Funktionären, die Abgesandten der SED wenigstens anzuhören. Vereinzelt ergaben sich längerfristige Kontakte. Anfang März 1959 erweiterten die für Westarbeit Verantwortlichen den Personenkreis der in der SPD anzusprechenden Führungskräfte auf Landtags- und Stadtverordnete sowie Mitglieder von Distriktvorständen. Dabei standen - wie Ulbricht berichtet wurde - der Friedensvertrag, die Westberlinfrage und die Konföderation als Themen im Vordergrund.71 Die SED schickte u.a. zwei Volkskammerabgeordnete zu Johannes Rau. Rau, der sich Heinemann verbunden fühlte und 1952 der GVP und 1957 der SPD beigetreten war, galt als junger begabter Aufsteiger. 1958 übernahm er den Vorsitz der Wuppertaler Jungsozialisten und einen Sitz im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Als kritischer Gesprächspartner zeigte er sich nach dem Bericht daran interessiert, „mit uns Gespräche zu fuhren" und mit einem Freund die Leipziger Messe zu besuchen. Dabei sprach er die Erwartung aus, daß er die Möglichkeit erhalte, in Leipzig mit christlichen Kreisen der DDR in Verbindung zu kommen. Er bemängelte die Weigerung der DDR, Gustav Heinemann eine Einreisegenehmigung auszustellen. Verärgerung bei Rau registrierten die DDR-Gäste auch über die „nicht immer objektive", und „mitunter entstellende" Berichterstattung der DDR, u. a. über Herbert Wehner.72 Mehr Glück hatten die Kontaktleute der SED beim SPD-MdB Graf von Wedel.73 1959 erreichte die SED-„Reisediplomatie" einen Höhepunkt. Die Diskussion über den Friedensvertrag und den Status Berlins, die Ereignisse um und in Genf, der SPD-Deutschlandplan u.a.m. aktivierten das „gesamtdeutsche" Gespräch. Zunehmend fuhren Volkskammerabgeordnete, Mitglieder von DDR-Bezirks- und Kreistagen, Funktionäre der Blockparteien und Massenorganisationen, Delegierte von Betrieben, wissenschaftlichen und kulturellen Organisationen in den Westen. Die viele Bände zählenden Reiseberichte von Instrukteuren und „Einsatzkadern", die offiziell als Privatpersonen fuhren und privat agierten, ergaben ein klares Bild von den Zielen und den Methoden der SED und ihrer Bündnispartner in der DDR. Wenngleich sich im Prinzip seit 1949 hier wenig geändert hatte - das Gewinnen von Bündnispartnern im Westen blieb die Hauptaufgabe, und auch die Methoden standen seit langem im wesentlichen fest -, zeigte sich zum einen die immens starke Konzentration auf die SPD, zum anderen - inhaltlich - der Diskussionsprimat der Probleme Friedensvertrag, Abrüstung und Atomwaffenverbot (für die Bundesrepublik). Aber auch Konföderation und zwischendeutsche Verhandlungen bildeten Schwerpunktthemen. Als taktisches Element standen 1959 Einladungen zu Besuchen in die DDR deutlich im Vordergrund. Hier zeigten sich gerade verschiedene Betriebs- und Gewerkschaftsdelegationen aus der DDR besonders aktiv. Umgekehrt erschienen westdeutsche Besuche der DDR unverfänglich, wenn man sie als rein privat deklarierte. Staatliche Stellen

«8 Ebenda, S. 6f. ® Ebenda, S. 8. ™ Ebenda, S. 9. 71 Vgl. Bericht W. Vespers an Ulbricht, 2. 3. 1959, in: ebenda, S. 1-3. 72 Westkommission: Bericht über Kontakte, Februar 1959, in: ebenda, IV 2/1002/153, Bl. 50, 52. 73 Vgl. Bericht, 2. 11. 1959, in: ebenda, IV 2/1002/14, Bl. 12.

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und die Leitung der SPD - die ja für zwischenmenschliche Kontakte offiziell eintrat - konnten in diesem Fall kaum prinzipiell intervenieren. Zudem blieb das plausible Argument der ostdeutschen Gastgeber nicht ungehört, sie, im Osten des deutschen Vaterlandes, suchten doch nur die deutsche „Verständigung". Diese Behauptung war subjektiv in den meisten Fällen nicht falsch, denn viele „Einsatzkader" glaubten - obwohl sie objektiv Beauftragte der SED waren - an die Notwendigkeit ihres Handelns im Sinne von deutscher Einheit und Verständigung. Dazu kam, daß gerade Propagandisten der SED und der DDR-Gewerkschaften von der „historischen" Rechtmäßigkeit ihrer Politik, mit den Genossen der SPD die „Einheit der Arbeiterklasse" herzustellen, überzeugt waren. Zur Einladungstaktik gehörte auch, daß umworbene SPD-Funktionäre von möglichst hochkarätigen Reisenden aus der DDR angesprochen wurden. Damit versuchte man, auch der Eitelkeit der Hofierten zu schmeicheln. Zudem stellte man den Besuchten häufig Unterredungen mit wichtigen SEDPolitikern in Aussicht, wenn sie in die DDR reisten. So überbrachte ein emsig umherreisender bekannter Volkskammerabgeordneter dem jungen niedersächsischen SPD-Landtagsabgeordneten Peter v. Oertzen eine - von ihm angenommene - Einladung in Verbindung mit dem Angebot eines Gesprächs mit Wilhelm Koenen. 7 4 Das alte ZK-Mitglied leitete das Sekretariat der Nationalen Front. Neben SPD-Bundestagsabgeordneten wurden verstärkt sozialdemokratische Kommunalpolitiker, darunter Oberbürgermeister und Bürgermeister, angesprochen. 75 Wenngleich eine Reihe von umworbenen SPD-Politikern sich zu Besuchen der DDR, insbesondere der Leipziger Messe, und zu inoffiziellen Gesprächen bereitfanden 76 , übernahmen sie weder ideologische Positionen der SED, noch ließen sie sich für deren politische Ziele vereinnahmen. Gab es in verschiedenen konkreten Fragen Übereinstimmung, so grenzten sich die angesprochenen SPD-Funktionäre im Prinzipiellen ab. Von der streitbaren Humanistin Helene Wessel, der ehemaligen Zentrumspolitikerin und Mitbegründerin der GVP, seit 1957 SPD-Bundestagsabgeordnete, berichtete eine Volkskammerabgeordnete, daß sie zwar für Abrüstung und den Rapacki-Plan eintrete, aber die Verhältnisse in der DDR heftig attackiert habe, vor allem den Kirchenkampf der SED und die Person Ulbrichts. 77 Die häufigen Reisen von Mitgliedern und Funktionären unterer Parteiebenen veranlaßten den Parteivorstand der SPD, der mehr über die propagandistische „Ausschlachtung" von Gesprächen als über die Möglichkeit von „Abwerbungen" durch die SED beunruhigt schien, zur Ausarbeitung von Richtlinien für Ostkontakte. Ein am 30. Januar 1960 veröffentlichter Beschluß, der sieben Grundsätze und eine gleiche Anzahl organisatorischer Prinzipien enthielt, ging von der strikten Ablehnung „organisatorischer und politischer Beziehungen" zu kommunistischen Organisationen, besonders zur SED, aus. Sie würden nur zu propagandistischen Zwecken mißbraucht werden. „Informative Kontakte" befürwortete der SPD-Parteivorstand jedoch. 78 Nach der außenpolitischen Umorientierung der SPD Ende Juni 1960 korrigierte die Führung der SED auch ihre Kontaktstrategie gegenüber sozialdemokratischen Politikern. Jetzt sprach man Bundestagsabgeordnete nicht mehr relativ undifferenziert - „flächendeckend" -

74 75 76 77 78

Reiseberichte, Februar 1959, in: ebenda, IV 2/1002/153, Bl. 40. Vgl. ebenda, Bl. lf. Vgl. ebenda, Bl. 50-53. Vgl. ebenda, Bl. 88f. Vgl. Druckschrift. Hg. Bundesvorstand der SPD, Bonn 1960.

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an, sondern konzentrierte sich auf einflußreiche Persönlichkeiten, die die Gewähr zu bieten schienen, daß sie mit der SED im Gespräch bleiben und sich möglicherweise gesamtdeutsch profilieren wollten. So redete im Frühjahr 1961 der Erste Sekretär der Bezirksleitung der SED Frankfurt/Oder mit dem SPD-MdB Wilhelm Dröscher, der als ein „kommender Mann" der SPD galt, im märkischen Fürstenwalde über aktuelle Probleme und Wahlkampffragen. Dröscher, der Interesse an der Weiterfuhrung der Gespräche bekundete, wies darauf hin, daß Herbert Wehner zumindest über seine Reise nach Fürstenwalde zu einem „persönlichen Freund", informiert sei. Er trug Wünsche der SPD indirekt und in subtiler Weise vor: Die DFU sei zu schwach, um die 5%-Klausel überpringen zu können. Sie entziehe der SPD nur Stimmen und sei deshalb „ein Kind Adenauers." 79 Dröscher wußte, daß seine Ausfuhrungen Ulbricht erreichen würden. Er konnte nicht wissen, daß sie die Konzeption der SED für den Wahlkampf 1961 und ihre Taktik bestätigten, die DFU zu Lasten der „rechten" SPD zu stärken. Für die SED unbefriedigend verliefen die im Herbst 1960 wiederaufgenommenen, durch einen Mittelsmann geführten internen Gespräche mit Gustav Heinemann, einem Bundestagsabgeordneten der SPD. Er kritisierte die „Salamitaktik" der DDR, in der Berlinfrage Entscheidungen herbeizufuhren, insbesondere verschiedene, seines Erachtens nur irritierende östliche Äußerungen. Man „könne doch nicht im Ernst glauben", so empörte er sich gegenüber dem der SED-Führung berichtenden Vollmer (Geschäftsführer der „Gruppe Ost im Ausschuß zur Förderung des Berliner Handels"), „dadurch seinem Ziele näherzukommen." Der Geschäftsführer des von der SED gesteuerten Vereins sollte vor allem feststellen, ob Heinemann etwas gegen die Kündigung des Interzonenhandelsabkommens unternehmen könnte. Der erklärte denn auch, mit Willy Brandt über den innerdeutschen Handel sprechen und sich erkundigen zu wollen, „wie es mit den Vollmachten des Dr. Leopold in Wirklichkeit aussähe." Der Patriot Heinemann hob die nationale Bedeutung des innerdeutschen Handels hervor. Er meinte, daß es „eine Fülle von Menschen" gebe, die gegen Atomaufrüstung und Militarismus sei: „Aber anstatt in Westdeutschland selbst solche Bewegungen wachsen zu lassen, sei es das Bestreben unserer Partei [der SED, M. L.] gewesen, überall die Hände dazwischen zu haben." Dadurch, so fuhr Vollmer mit seiner Wiedergabe der Meinung Heinemanns fort, seien die Bewegungen diskreditiert worden. Offensichtlich sei die SED schlecht über die wirkliche Lage in Westdeutschland informiert; „oft glaube man an die eigene Propaganda." Heinemann erklärte, er habe den Eindruck, daß die für eine Annäherung eintretenden Westdeutschen „nicht als Verbündete behandelt würden, sondern daß man sie immer nur von unserer Partei [der SED - M. L.] benutzt hätte." Seine und Martin Niemöllers (evangelischer Kirchenpräsident der Landeskirche Hessen und Nassau) Äußerungen seien von der DDR-Presse effektvoll entstellt oder aus dem Zusammenhang gerissen worden, „ohne Rücksicht darauf, wie es in Westdeutschland gegen sie verwendet werden könnte", kolportierte der SED-Kontaktmann. 80 Heinemanns Position schloß eine Unterstützung der SED in ihrer Berlin- und Deutschlandpolitik aus. Folgerichtig zog sich das Politbüro, das im November 1960 außerdem auf Kontakte u.a. zu den Bundestagsmitgliedern Herbert Kriedemann, Willy Müller (SPD), Willy Max Rademacher und Robert Margulies (FDP) gesetzt hatte 81 , verstimmt von Heinemann zurück. 79

Bericht „über die Aussprache mit dem BT-Abgeordneten Wilhelm Dröscher, Rheinl./Pf.", 10.3.1961, in: SAPMO-BArch, ZPA IV 2/2028/25, S. 3f., 5. 80 Bericht der Westkommission, November 1960, in: ebenda, IV 2/2028/40. si Vgl. Information, 23. 11. 1960, in: ebenda.

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Nach 1961 verstärkten sich im Umgang mit den so schwierigen SPD-Politikern, die zumindest ansatzweise an Kontakte mit verschiedenen Mitgliedern der SED - nicht mit deren Führung - dachten, seit 1945 bereits sichtbare Motive der SED fiir Gespräche: „Antifaschismus" und die gemeinsame kämpferische sozialdemokratische Vergangenheit. Alte persönliche Bekanntschaften erwiesen sich als nützlich. So zeigte sich der führende bayerische SPD-Politiker Waldemar von Knoeringen, bis 1963 Vorsitzender der SPD in Bayern und bis 1962 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, anläßlich eines Kontaktgesprächs mit einem von der Westkommission entsandten wissenschaftlichen Mitarbeiter der Technischen Universität Dresden im Juli 1963 bereit, sich mit dem SED-Politiker Max Seydewitz, einst sächsischer Ministerpräsident, zu treffen. 82 Ein anderer „Unverdächtiger" versuchte im Auftrag der Westkommission zur gleichen Zeit bei dem bayerischen SPD Politiker Wilhelm Hoegner, der zweimal bayerischer Ministerpräsident und bis 1962 sozialdemokratischer Fraktionsvorsitzender im Münchener Landtag war, für die Politik der SED zu werben. Er überbrachte einen Brief des Alt-Sozialdemokraten in der SED, Otto Buchwitz, der zu den moralisch integren Persönlichkeiten der Einheitspartei gehörte und der auch in sozialdemokratischen Kreisen einen guten Ruf besaß. 83 Praktische Schritte folgten dem nicht.

6. Politische Sondierungen und Infiltrationsversuche der SED in der Wechselbeziehung mit den Interessen westdeutscher Organisationen Kontaktversuche, die es immer gegeben hatte, nahmen auch in anderen Bereichen nach 1958 einen deutlichen Aufschwung. Sie waren weder alle SED-gelenkt, noch gingen sie einseitig vom Osten aus. Eine erhebliche Anzahl bundesdeutscher und Westberliner Persönlichkeiten versuchten von sich aus sowohl mit der SED als auch mit sowjetischen Stellen über eine Klärung von deutscher und Berliner Frage Fühlung aufzunehmen. Inoffizielle Gespräche führten auf „höchster Ebene" u. a. den Verleger Axel Springer und den Publizisten Hans Zehrer, Chefredakteur der Zeitung „Die Welt", mit dem ersten Mann der UdSSR zusammen. Chruschtschow zeigte sich im Vorfeld der Berlin-Krise vom Vorschlag Springers, eine gemeinsame deutsche Expertenkommission zu bilden, die u. a. eine gemeinsame Plattform für die Wiedervereinigung erarbeiten sollte, angetan, wie nach Ostberlin berichtet wurde. Springer und Zehrer deuteten auch an, daß bei einer Wiedervereinigung die Veränderungen in der Wirtschaft der DDR nicht rückgängig gemacht würden und auch andere Fragen - die u. a. das Schulsystem betrafen - gelöst werden könnten. 84 Da die SED stark auf eine Anbindung bürgerlicher Kräfte abzielte, mußte sie sowohl ihren Bündnisparteien - besonders LDPD und CDU - insgesamt als auch deren Repräsentanten ein gewisses Maß an kontrollierbaren Handlungsfreiheiten einräumen. Davon machte u. a. auch der Volkskammerpräsident der DDR, Johannes Dieckmann (LDPD), der als ehemaliger 82 83 84

Vgl. Information der Westkommission für Büro Ulbricht, 1. 7. 1963, in: ebenda, J IV 2/202/90. Vgl. Information der Westkommission für Büro Ulbricht, 15. 7. 1963, in: ebenda. Vgl. „Auszug aus einem Aktenvermerk über eine Unterredung mit Gen. Iljitschow" (Leiter der 3. Abteilung des sowjetischen Außenministeriums), 9. 2. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/75., S. 5f.

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Politiker der Deutschen Volkspartei (DVP) und Sekretär Gustav Stresemanns mit vielen alten Bekannten - vor allem Politikern und Diplomaten - Verbindung hielt, regen Gebrauch. 85 Dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Blockparteien, die gern eine eigene Westpolitik bzw. einen eigenen Beitrag zu der kommunistischen Kontaktpolitik geleistet hätten, nicht eigenständig arbeiten konnten und auch in Einzelfragen solange beschlußunfähig blieben, wie die SED-Westkommission nicht entschieden hatte. 86 Ost-CDU und LDPD, die ihre Westarbeit arbeitsteilig auf verschiedene bürgerliche Kreise in der Bundesrepublik richteten, hatten vergleichsweise größere Erfolge bei der politisch-propagandistischen Aktivität im anderen deutschen Staat, weil sie vielen immer noch als nichtkommunistische Parteien mit (bedingt) eigenen nationalen Vorstellungen galten und einen gewissen Abstand zum im Osten praktizierten Sozialismus glaubhaft machen konnten. Auch war ein großer Teil ihrer Mitglieder und „Einsatzkader", die aus dem Bürgertum stammten, mental besser als viele SED-Kader in der Lage, auf ihre Gesprächspartner und ihr soziales Umfeld einzugehen. Andererseits gewann aber auch der Westapparat der SED die Erfahrung, daß sich mit den „bürgerlichen" Kräften in Westdeutschland oft besser reden ließ als mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. So erfuhr das Politbüro, daß die Kampagne, mit „verschiedenen Gruppen und Kreisen" außerhalb der Arbeiterbewegung in den Fragen Friedensvertrag, Berlin und deutsche Konföderation ins Gespräch zu kommen, „ohne erhebliche Schwierigkeiten", verlaufe. Vesper berichtete Ulbricht Anfang März 1959 von erfolgreichen Gesprächen u.a. mit Hamburger Wissenschaftlern, dem Sudetendeutschen Klub(!), der Gesamtdeutschen Union München, dem Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), mit der Bayernpartei und „mit einer Gruppe von Verwandten der am 20. Juli 1944 beteiligten Offiziere der Naziwehrmacht." 87 Hier zeigte sich die bereits 1957 auf Weisung des Politbüros gegründete „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere", die zur „Verstärkung des Kampfes gegen den Militarismus", insbesondere zur „Einwirkung auf die ehemaligen Offiziere und die Offiziere der Bundeswehr" gebildet worden war, aktiv und keineswegs erfolglos. Die Arbeitsgemeinschaft entstand faktisch als Organisation der SED-,,Westarbeit". Die Parteiführung definierte deren Hauptziel mit der „systematischen ideologischen Beeinflussung der ehemaligen Offiziere und Soldaten in Westdeutschland, sowie der Offiziere und Soldaten der Bundeswehr." Ihre ostdeutschen Mitglieder, zum Teil prominente Generale und Offiziere der ehemaligen deutschen Wehrmacht, die dann bis 1957 in der KVP/NVA gedient hatten, erhielten u.a. die Aufgabe, persönliche Verbindung mit ehemaligen Offizieren in Westdeutschland „zwecks späterer Organisierung von Offiziers- und Soldatentreffen in Berlin oder an Grenzpunkten DDRWestdeutschland" aufzunehmen. Sie sollten auch Verbindungen zu einzelnen Soldatenorganisationen in Westdeutschland herstellen „zwecks ihrer ideologischen Beeinflussung und späteren Einbeziehung in den aktiven Kampf gegen die Atomkriegsvorbereitung", wie es hieß. Die Führung der Arbeitsgemeinschaft, die überdies Kontakte mit Organisationen der Kriegsdienstverweigerer aufzunehmen hatte, wurde dem Chef der Politischen Verwaltung des DDR-Verteidigungsministeriums unterstellt. 88 Der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Of-

85

Vgl. Aktennotiz Dieckmanns für Ulbricht, 16. 10. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/115. Vgl. Aktennotiz Geggels, 24. 10. 1962, in: ebenda, IV 2/1002/44, Bl. 80f. « Bericht Vespers an Ulbricht, 2. 3. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/115, S. 1. 88 Entwurf einer Vorlage für das Politbüro, undat. (wahrscheinlich Sommer 1957) in: ebenda, IV 2/12/7., Bl. 113f. 86

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fiziere gelang es, ihre westdeutschen Verbindungen auch nach 1961 aufrechtzuerhalten. Ihr „Mitteilungsblatt" fand im Westen Interesse; die alten „Kameradschaften" erwiesen sich offensichtlich als stabil. 89 Das kam der SED gerade bei der Atomdebatte zustatten, aber auch in der Auseinandersetzung über die Strukturen der neuen Bundeswehr, die von einigen alten westdeutschen Offizieren als zu wenig „national" empfunden wurde. Sie verkörperten den alten, nicht demokratisch geläuterten militärischen Führungstyp. Problematischer gestaltete sich, vor allem 1959 und 1960 auf einem Höhepunkt der Berlinkrise besonders sichtbar werdend, die Westarbeit mit den Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften. Zum einen schloß die zuweilen kaschierte Religions- und Kirchenfeindlichkeit der SED-Führung ein Vertrauensverhältnis zu den noch gesamtdeutsch organisierten Kirchen allgemein aus. Ihr deutsch-universales Arbeitsprinzip war der auf Eigenständigkeit und Abgrenzung bedachten kommunistischen Führungselite im Umfeld der Auseinandersetzung über einen separaten Friedensvertrag ein besonderes Ärgernis. Die Spannungen mit den ostdeutschen Bischöfen und dem kirchlichen Verwaltungsapparat, die zeitweilig das Ausmaß eines Kirchenkampfes annahmen, schlugen sich auf die Versuche, wichtige Personen der westdeutschen Kirchen im Sinne der SED-Deutschlandpolitik zu beeinflussen, ausgesprochen negativ nieder. Gewinnen konnte man bestenfalls evangelische „Dissidenten". Einzelne geistliche Würdenträger wie Niemöller folgten zwar dem Gedanken eines innerdeutschen Dialogs auf allen Ebenen, und sie konnten in den Fragen einer Westbindung und Wiederbewaffnung von Ostberlin in gewissem Maße politisch benutzt werden; sie blieben aber prinzipiell Verteidiger von Parlamentarismus, Demokratie und Toleranz und insofern für die SED „unsichere Kantonisten". Als der ostdeutsche Herrschaftsapparat gegen die Kirchen in der DDR zunehmend repressiv vorging, verweigerten sich die westdeutschen Gliederungen dem nationalen Werben der SED und ihren Friedensparolen. Persönliche Animositäten gewannen noch größere Bedeutung. Die Führungsriege um Ulbricht sah vor allem in dem lutheranischen berlin-brandenburgischen Landesbischof Otto Dibelius ihren Intimfeind. Er galt ihr nicht nur als Verkörperung von DDR- und Sozialismusfeindlichkeit, sondern als Repräsentant der „Reaktion" überhaupt und - da er 1957 den Militärseelsorgevertrag mit der Bundesregierung unterschrieben hatte - als der „NATO-Bischof' an sich. In der Tat repräsentierte der langjährige Ratsvorsitzende der EKD die seit 1949 andauernde negative Kontinuität im Verhältnis Kirche-Staat in der DDR wie kein anderer. Von der SED in eine Ecke gedrängt, in die der obrigkeitsgläubige und preußischen Amtskirchentraditionen verbundene altkonservative Bischof eigentlich nicht hinein wollte, unterstrich er seit Beginn der Berliner Krise immer wieder die Zusammengehörigkeit der alten Hauptstadt. Im Oktober 1959 beschloß das Politbüro, den Ostberliner Oberbürgermeister anzuweisen, Dibelius „vorzuladen" und ihm mitzuteilen, daß er sich aufgrund seiner Opposition „selbst den Boden für jedes weitere Auftreten im demokratischen Berlin entzogen hat." 90 Das Ostberlinverbot für den Gesamtstadtbischof verschärfte die Berliner Situation. Der Bischof blieb aber standhaft. Auch seine Pfarrer widersetzten sich der SED. Das verärgerte Politbüro gab ein Buch in Auftrag, das „so auszuarbeiten [sei], daß die Verbindung Dibelius mit dem deutschen Imperialismus klar nachgewiesen wird." 91 Es ordnete eine Pressemeldung an, nach der gegen den

89 90 91

Vgl. Bericht von Oberst Lewerenz an das Büro Norden, in: ebenda, IV 2/2028/54, Bl. 135f. Beschluß des Politbüros, Protokoll 48/59, 20. 10. 1959, in: ebenda, J IV 2/2/672, Bl. 5. Beschluß des Politbüros, Protokoll 8/60, 22. 2. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/689, Bl. 1.

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Bischof, der beim Generalstaatsanwalt der DDR „zur Vernehmung erscheinen soll", ein Ermittlungsverfahren eröffnet worden sei. Dieser Vorgang, Verwarnungen von Berliner Geistlichen, die Beschlagnahme von Kirchenzeitungen u.a.m. brachten auch westdeutsche Kirchenmänner zusätzlich gegen die SED auf, die um die Unterstützung der Kirche in der Berliner und in der nationalen Frage buhlte. Ein Dialog schloß sich unter diesen Bedingungen aus. Eine Veranstaltung in der Ostberliner Marienkirche im Februar 1960 zum Anlaß nehmend, beauftragte das Politbüro die im Parteiapparat und Staat kirchenpolitisch Verantwortlichen zusammen mit den Ministern Mielke und Maron (Inneres) zu prüfen, wie man die Kontrollen von Einreisen westlicher Kirchenvertreter „verbessern" könne. 92 Dieses konfrontative Grundmuster engte die westpolitischen Handlungsspielräume der SED im Verlauf der Berlinkrise weiter ein. Die kirchlichen Repräsentanten - viele von ihnen aus Überzeugung Antikommunisten - zeigten sich östlicher Infiltrationspolitik gegenüber widerstandsfähig. Wie zu keiner anderen Zeit in der Entwicklung der DDR offenbarte sich in der Berlinkrise für die SED der „Hauptmangel" der Kirchen: Sie waren die einzigen noch intakten gesamtdeutschen Institutionen. Eine ganz andere Problematik ergab sich für die SED im Umgang mit aktiven „Bürgerlichen" aus Sicherheitsgründen. Dies betraf nicht nur Westdeutschland, sondern - im weitesten Sinne - auch sowjetische „Ranküne". Schon in den fünfziger Jahren hatte Ulbricht sowjetisch-westdeutsche Kontakte zur Deutschlandpolitik mit Unbehagen beobachtet. Er ließ sich nicht gern übergehen. Wie brisant innerdeutsche Kontakte und wie wenig durchschaubar ihre Protagonisten waren, wenn die Sowjetunion beteiligt war, offenbarten die FDPInitiativen. Als Wolfgang Döring den Abgesandten der SED (Gerhard Kegel und Walter Vesper) im April 1959 erzählte, daß ihn der westdeutsche Geheimdienst, der „Gehlenapparat", zu dem er gute Beziehungen habe, informiert habe, er wisse von seinem (Dörings) Treffen mit Matern und Dieckmann (im Frühjahr 1959)93, dürfte das im Politbüro Beunruhigung hervorgerufen haben. Die SED-Gesprächspartner bezweifelten gegenüber dem Politbüro, daß Döring - wie er behauptete - nach dem ersten Kontakt mit ihnen zu einem Gespräch in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin war. Aber genau das stellte sich als wahr heraus. 94 Glaubhaft ist auch Dörings Behauptung, daß er den sowjetischen Botschafter in Bonn, Smirnow, über seine Gespräche in der DDR informiert habe. 95 Das war für Ulbricht ärgerlich, weil er die sowjetische Seite von sich aus offensichtlich nicht über die Unterredungen, die vor allem über die Bildung von deutschen Parlamentarierdelegationen zur Genfer Konferenz geführt worden waren, informiert hatte. In der sowjetischen Botschaft mußte auf der Grundlage des Döring-Rapports der Eindruck entstehen, daß die SED-Führung den FDP-Politiker als Gesprächspartner mehr oder weniger offiziell anerkenne und ihm die Aktivitäten für die Genfer Delegationen überlasse. So sah sich Ulbricht, nachdem er Dörings Darstellung der innerdeutschen Verabredungen einem sowjetischen Botschaftsbericht entnahm, genötigt zu korrigieren. „Wir sind nicht interessiert daran", schrieb er an Perwuchin, „daß Herr Döring, der Verbindungen zum Gehlen-Apparat besitzt, bevor ihm präzise Erklärungen vorliegen, von sich aus mit beliebigen Parlamentariern der verschiedenen Parteien spricht. Diese Besprechungen werden über das Büro der Nationalen Front 92 93 94 95

Vgl. Protokoll 10/60, Sitzung vom 8. 3. 1960, in: ebenda, J IV 2/2/691, Bl. 3. Bericht Kegels und Vespers (für Politbüroumlauf), 27. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/249. Vgl. Bericht der sowjetischen Botschaft in Ostberlin, 25. 4. 1959, in: ebenda. Vgl. Bericht Kegels und Vespers (für Politbüroumlauf), 27. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/249.

Politische Offerten der SED-Führung an die Bundesrepublik

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organisiert." 96 Das „Spannungsdreieck" Ostberlin-Bonn-Moskau schuf merkwürdige Situationen. Es zeigte sich, daß nicht nur Ulbricht, sondern auch die sowjetische Seite wünschten, nicht hintergangen zu werden.

7. Die politischen Offerten der SED-Führung an die Bundesrepublik und die deutschlandpolitischen Korrekturversuche Adenauers Da offizielle staatliche Beziehungen nicht bestanden und sich unbedingt zu klärende Probleme nicht von selbst lösten, wurden andere Lösungswege gesucht. Ob Verwaltungsabsprachen oder Übereinkünfte über den Handel, ob technische oder zivilrechtliche Abmachungen: ganz versiegte das schmale Rinnsal zwischendeutscher Regelungen auch während der Berlinkrise nicht. Allein die Tatsache, daß Deutschland zwar gespalten, aber bis in den Hochsommer 1961 - bei allen sich häufenden Schwierigkeiten - noch einen innerdeutschen Reiseverkehr, einen kulturellen und Sportaustausch u.a.m. kannte, erzeugte immer wieder die Notwendigkeit, gemeinsame Regelungen zu finden, Informationen, so begrenzt sie auch immer waren, auszutauschen und auch partiell, z. B.beim Verkehr, zu planen. Überdies brachten sich beide Seiten im deutschen Sonderkonflikt Schäden bei, die man begrenzen mußte. An einer Eskalation von Spannungen war gerade denjenigen in beiden deutschen Staaten nicht gelegen, die zum einen noch gesamtdeutsch dachten und zum anderen - „vor Ort" mit den Alltagsproblemen befaßt - vom Leben gezwungen waren, pragmatisch zu handeln. Daß die innerdeutsche Konfrontation und ein Gebot zu vernünftigen Regelungen auch im Denken der Politbüromitglieder eng miteinander verwurzelt waren, zeigte der Bau der ElbStaustufe im westdeutschen Geesthacht, die sich für die Wasserwirtschaft und den Schiffsverkehr der DDR nachteilig auswirken konnte. Das Politbüro drohte Bonn mit unsinnigen Gegenmaßnahmen, ging aber gleichzeitig von der Möglichkeit einer Lösung des Problems aus. 97 Inoffizielle Gespräche fanden regelmäßig statt. Die SED führte sie, wenn es die Durchsetzung von propagandistischen Zielen gebot; sie forcierte Dialoge aber auch in Sachfragen, wenn von diesen unabwendbar Handlungsbedarf ausging. So ließ man eben nicht nur Heinemann, sondern u.a. auch den kompetenten FDP-Bundestagsabgeordneten Robert Margulies in der Absicht ansprechen, sich für die Wiederankurbelung des innerdeutschen Handels einzusetzen, was dieser Politiker, der in seiner Fraktion über Einfluß verfügte, versprach. 98 Wenngleich diese Unterredungen ständig mit wenig produktiven Dialogen über die „nationale Mission" der DDR, über Sinn und Zweck eines Friedensvertrages und mit „propagandistischen Einlagen" der DDR-Emissäre verbunden waren, zeitigten sie - oft indirekt wirkend - sachbezogene Ergebnisse. Die als große Initiativen von SED und DDR-Regierung dargestellten östlichen Offerten dagegen führten im Grunde zu nichts. Sie waren aber insofern keine reinen politischen Phantasieprodukte, als sie wechselnde konkrete sowjetische Ziele nicht nur agitatorisch 96 97 98

Schreiben Ulbrichts an Botschafter Perwuchin, 28. 4. 1959, in: ebenda, J IV 2/202/249, Bd. 1. Vgl. Sitzung des Politbüros, Protokoll 33/59, 7. 7. 1959, in: ebenda, J IV 2/2/657, Bl. 4. Bericht über ein Gespräch mit dem Bundestagsabgeordneten R. Margulies, 7.11.1960, in: ebenda, IV 2/2028/40.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

ummantelten, sondern in ihnen wurzelten. Wurden sie, was zu erwarten war, vom Westen abgelehnt, konnte man „Bonn" als den Gegner von Frieden, Einheit und Verständigung hinstellen. Sollte die Gegenseite wider Erwarten darauf eingehen, erhielt die sowjetische Deutschlandpolitik Unterstützung. Entwickelten sich dann der eine oder andere Punkt eines angebotenen Vertrags oder Abkommens zu einem Risikofaktor, blieb der SED die Möglichkeit, auf Korrekturen zu bestehen. Wenn der Westen sie verweigerte, stand der Weg offen, Verhandlungen abzubrechen. Allein die Tatsache, daß man offiziell sprach, erfüllte schon den Zweck einer Anerkennung. Die SED bot nach 1955 allerdings prinzipiell nichts mehr an, was sie eindeutig festgelegt und sie, wie 1952, in den Zwang gebracht hätte, z. B. freien Wahlen zustimmen zu müssen. Aber gerade deshalb erscheint die westliche Weigerung, bestimmte Offerten der SED auf ihre Substanz hin zu prüfen, als fragwürdig, als phantasie- und mutlos. Indem man die SED beim Wort nahm, hätte man die Unaufrichtigkeit ihrer deutschlandpolitischen Offerten wirkungsvoll entlarven können. Deutungsfähig ist der Umstand, daß verschiedene Vertragsangebote an die Bundesrepublik in der Konfliktzeit 1959-1963, wie der Entwurf eines zwischendeutschen Nichtangriffspakts, im Politbüro sorgfältig beraten wurden." Spricht Sorgfalt für Ernsthaftigkeit? Unter den vielen SED-Offerten stachen, zunächst propagandistisch, zwei Pläne heraus: Der am 17. April 1960 vom ZK der SED in Form eines Offenen Briefes an die „Arbeiterschaft" Westdeutschlands veröffentlichte „Deutschlandplan des Volkes" und der „Deutsche Friedensplan" vom 6. Juli 1961. Das erste, auf die westdeutschen Sozialdemokraten zielende polemische Dokument entstand als SED-Pendant zum Deutschlandplan der SPD, in der man schon vor der „Wende" vom Juni 1960 - spätestens seit dem Godesberger Parteitag im November 1959 - Zeichen eines deutschlandpolitischen Kurswechsels zu beobachten glaubte. 100 In dem streng vertraulichen Politbüroentwurf erhob die SED mit dem demagogisch zum Deutschlandplan „des Volkes" hochstilisierten Dokument den Anspruch, „den Plan zur Rettung der deutschen Nation" zu besitzen. Sein Ziel sei es, die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem friedliebenden, demokratischen Staat „auf dem Wege der Konföderation" herzustellen. 101 Rationaler Kern des Ganzen war neben der Sympathiewerbung für die SED die Absicht, die Sozialdemokraten an ihren eigenen Deutschlandplan zu binden. Der SED-Plan machte auch im Hinblick auf die geplante Gipfelkonferenz als Zusammenfassung der ostdeutschen Position einen gewissen Sinn. Ein in großer Aufmachung veröffentlichter Brief Ulbrichts an Adenauer vom 23. Januar 1960 und der Entwurf eines Schreibens von Pieck an Bundespräsident Heinrich Lübke deklamierten dagegen nur. Es ist nicht klar, warum der Brief an Lübke, der die Vorschläge einer Volksabstimmung über den Verzicht auf Atomrüstung, eine allgemeine deutsche Abrüstung, Verständigung und über einen Friedensvertrag enthielt, zurückgestellt wurde. 102 Möglicherweise hätte er dem wenige Tage später beschlossenen, im wesentlichen identischen, „Deutschlandplan des Volkes" zuviel vorweggenommen. Das zweite auf seine Art herausragende SED-Dokument stellt der „Deutsche Friedensplan" vom 6. Juli 1961 dar. Er entstand, als Ulbricht die „Mauer" bereits konkret plante. Seine Forderungen waren nicht 99 100 101

102

Vgl. Sitzung des Politbüros, Anlage 8 zum Protokoll 26/59,26.5.1959, in: ebenda, JIV 2/2/650, Bl. 30. Vgl. M. Lemke, a.a.O., S. 375. Streng vertraulicher Entwurf des „Deutschlandplans des Volkes", Anlage 1 zum Arbeitsprotokoll 17/60, Sitzung des Politbüros vom 14. 4. 1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2A/749, S. 32f. Vgl. Briefentwurf, Anlage zum Arbeitsprotokoll 15/60, Sitzung des Politbüros vom 5. 4. 1960, in: ebenda, J IV 2/2A/747.

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neu: die Bildung einer paritätischen „Deutschen Friedenskommission" zur Erarbeitung von Friedensvertragsvorschlägen, der Abschluß eines zwischendeutschen „Abkommens des guten Willens" mit Rüstungsbegrenzung und Respektierung der bestehenden Gesellschaftsordnungen, die Aufnahme der beiden deutschen Staaten (bis zur Wiedervereinigung) in die UNO, die Umwandlung Westberlins in eine entmilitarisierte „Freie Stadt" und die Bildung einer deutschen Konföderation 103 . Dennoch besteht die Möglichkeit, daß die SED, sozusagen in letzter Minute, doch noch einmal die Möglichkeit einer westlichen Kompromißbereitschaft testen wollte. Ein entsprechender sowjetischer Wunsch ist nicht auszuschließen. Lehnte der Westen ab, konnte man die Grenzmaßnahmen später auch als ein Ergebnis der Ablehnung des „Friedensplans" bezeichnen. Von einigem Interesse bleibt der vom Politbüro im Februar 1961 als Staatsratsvorschlag konzipierte „Gottesfriedensbeschluß". Seine Grundidee wurde bereits von der 11. Tagung des ZK der SED (15.-17. Dezember 1960) verkündet. Ein zehnjähriger Frieden zwischen beiden deutschen Staaten bedeutete nach dem Entwurf einen für diese Zeit befristeten Verzicht auf eine beiderseitige Gewaltanwendung, „also eine Art Gottesfrieden", wie es hieß. Die Unterbindung jeder Art von „Kriegs- und Revanchepropaganda", die Vereinbarung eines Rüstungsstops und der Verzicht auf eine atomare Bewaffnung, eine Vereinbarung über die Unterstützung des Vorschlags, eine atom- und raketenfreie Zone in Mitteleuropa zu schaffen und eine Verpflichtung, sich für einen Nichtangriffsvertrag zwischen NATO und Warschauer Pakt einzusetzen 104 , bildeten den Kern des vernünftig erscheinenden (angeblichen) Staatsratsentwurfes. Sowohl der Konföderationsvorschlag als auch friedensvertragliche und Westberlin betreffende Forderungen fehlten. Nur dieser Umstand macht den Plan interessant. Im Vergleich zum „Gottesfrieden" stellte der „Deutsche Friedensplan" einen Rückschritt dar. Aber was wollte, was sollte ein „Gottesfriedensplan"? Warum vor allem verschwand er so schnell aus der Propaganda der SED? Offensichtlich wich er dem „Deutschen Friedensplan", weil dieser mit seinen Maximalforderungen zu Westberlin den Ambitionen der Parteiführung besser entsprach als das minimierte „Gottesfriedens"konzept. Das mußte zwar nicht ganz aufgegeben werden - man fand es modifiziert im neuen Plan wieder -, doch ging es eine so enge Symbiose mit Berlin- und Deutschlandzielen ein, daß seine originelle Hauptidee verlorenging. Das Politbüro konnte nicht wissen, daß der Bundesregierung der Gedanke eines innerdeutschen „Waffenstillstands" ebenfalls nicht fremd war. Immerhin zielte der Plan eines Stillhalteabkommens, den sich Adenauer erdachte, auf einen „Burgfrieden" der ähnlich dem „Gottesfriedensplan", ebenfalls auf zehn Jahre befristet sein sollte. Freilich lagen dem andere Überlegungen zugrunde. Im Gegensatz zu vielen seiner Anhänger und Wähler, die den grandiosen Wahlsieg im Herbst 1957 auch als Bestätigung seiner Bündnis- und Deutschlandpolitik interpretierten, war sich Adenauer seines Weges zur Wiedervereinigung nicht mehr sicher. Eine Herstellung der deutschen Einheit durch freie Wahlen stellte er aufgrund der sowjetischen Interessenlage zunehmend in Frage. Tatsächlich steckte die regierungsamtliche Deutschlandpolitik in einer Sackgasse. Eine „Politik der Stärke", die weniger militärische Überlegenheit als eine optimale wirtschaftliche, politische und moralische Kraftentfaltung des Westens meinte und Moskau veranlassen könnte, die DDR freizugeben, griff nicht. Da sie weitgehend als aggressiv 103 104

Vgl. G. Zieger, Die Haltung von SED und D D R zur Einheit Deutschlands 1949-1987, Köln 1988, S. 93. Vgl. Sitzung des Politbüros, Anlage 12 zum Protokoll 9/61,21.2.1961, in: SAPMO-BArch, ZPA, J I V 2/2/751, Bl. 209.

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mißverstanden werden konnte, brachte sie nur neue Risiken mit sich, enthielt aber - in ihrer magnettheoretischen Anlage - Elemente des Langfristigen. Aber das zählte in der akuten Krisensituation nicht. Diese zog - kurzfristig - eine mehr defensive Politik nach sich, die nicht mit Schwäche verwechselt werden darf. Adenauer sah es als seine Hauptaufgabe an, die freiheitlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik zu sichern. Dieses Ziel erfüllte nur die Westintegration, garantierte nur das Bündnis. Zwar scheute er vor allen „Experimenten" zurück, die diese conditio sine qua non seiner Deutschlandpolitik in Frage zu stellen schienen. Doch wurde ihm bewußt, daß weder die Einheit noch die Liberalisierung der Politik in Ostdeutschland, die als aktuelles Ziel dringlicher schien als eine in die Zukunft entrückende Wiedervereinigung, auf den ausgetretenen Wegen maximalistischer Deutschlandpolitik zu erreichen waren. Seine alte Meinung, daß der „Schlüssel zur deutschen Frage" in Moskau liege, führte unter den Bedingungen des anhaltenden Kalten Kriegs zu einer neuen Frage: Konnte man mit der UdSSR einen Preis für die Freiheit der Menschen in der DDR vereinbaren, der einerseits eine Veränderung des Status quo und der Ordnung der Bundesrepublik und andererseits den für den Osten inakzeptablen Anschluß der DDR an diese ausschloß? Im März 1958 offerierte Adenauer dem neuen sowjetischen Botschafter in Bonn, Smirnow, intern die Idee einer neutralisierten DDR: „Könnte ein neutraler Status der DDR nach dem Vorbild Österreichs bei gleichzeitiger Umgestaltung im Innern nicht so etwas wie eine akzeptable Kompromißlösung darstellen?"105 Adenauers Sondierung war kühn. Während er die Regierung, die Opposition und die übrige Welt darauf festzulegen suchte, die brüchig werdende deutschlandpolitische Kontinuität zu bewahren, suchte er zu einem Zeitpunkt nach neuen Lösungswegen, als sich die Konfrontation zwischen Ost und West verschärfte. 106 Die UdSSR zeigte sich an einer „Österreich-Lösung" für die DDR nicht interessiert. Doch blieb die Idee einer inneren Autonomie für die DDR, die von freiheitlich-rechtsstaatlichen Verhältnissen gekennzeichnet sein sollte, bei Adenauer - latent - präsent. Die Überlegungen Adenauers über einen flexibleren Umgang mit der DDR erreichten immer dann eine neue Qualität, wenn zwei Faktoren, die gelegentlich zusammenfielen, politisch bestimmend zu werden schienen: eine sich außenpolitisch zuspitzende Situation und Bündniskonflikte um Fragen des deutschland- und sicherheitspolitischen Kurses. Gleich nach dem Beginn der Berlinkrise - der sowjetische Friedensvertragsentwurf lag offensichtlich vor - beauftragte Adenauer seinen Staatssekretär im Kanzleramt, Hans Globke, mit der Ausarbeitung eines wiedervereinigungspolitischen Plans, der der neuen Situation auf flexible Art Rechnung tragen sollte. Naturgemäß mußte die Frage der Behandlung der DDR im Vordergrund stehen. Der Globkeplan 107 , der Anfang 1959 vorlag, hielt eindeutig am Prinzip der demokratischen Legitimierung durch freie Wahlen fest. Insofern enthielt er ein „maximalistisches" Grundelement. Daraus leiteten sich die Einzelmaßnahmen ab: eine innerhalb von fünf Jahren in der DDR und in der Bundesrepublik getrennt durchzuführende Volksabstimmung über die Wiedervereinigung und parallel dazu gesamtdeutsche freie Wahlen. Aus diesen sollte eine demokratisch legitimierte gesamtdeutsche Volksvertretung hervorgehen, die nicht nur eine Regierung zu wählen, sondern auch darüber zu entscheiden habe, ob das Einheitsdeutschland der NATO oder dem Warschauer Pakt beitrete. Eine Option für

106 107

Zit. nach H.-P. Schwarz, a.a.O., S. 426. Vgl. ebenda, S. 426. Vgl. Text der 1. und 2. Fassung des Planes, in: R. Morsey/K. Repgen, Adenauerstudien, Bd. III, Untersuchungen und Dokumente zur Ostpolitik und Biographie, Mainz 21974, S. 202ff.

Politische Offerten der SED-Führung an die Bundesrepublik

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Neutralität sparte Globke aus. Allerdings schränkte er ein: Entschiede sich das wiedervereinigte Deutschland für die NATO, sollte das Gebiet der bisherigen DDR von allen militärischen Verbänden, Einrichtungen und Anlagen frei bleiben. Die gleiche Bestimmung galt für das westdeutsche Territorium, wenn man für den Warschauer Pakt votierte. Das neue Element des Planes äußerte sich in der Vorstellung Adenauers und Globkes, die für eine Übergangszeit als souverän zu akzeptierende DDR völkerrechtlich anzuerkennen. Diese Konzession implizierte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR, obwohl in der zweiten Fassung des Globkeplanes vom 17. November 1960 nur noch von „amtlichen Beziehungen" die Rede war. Befristete Anerkennung zu welchem Preis? Die DDR sollte die demokratischen Grundrechte (in der zweiten Fassung: Menschenrechte) garantieren, alle inneren und zwischendeutschen Reisebeschränkungen aufheben und wie die Bundesrepublik ihre Existenz durch die Volksabstimmung und - ergab diese eine Mehrheit für die Wiedervereinigung - durch freie Wahlen zur Disposition stellen. Der Plan reflektierte die Absicht, in der DDR eine Entwicklung in Gang zu setzen, die mit der im Saarland nach 1955 vergleichbar war. „Die viel größere politische und wirtschaftliche Attraktivität der Bundesrepublik würde dann zur Folge haben, daß die Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt [in der Übergangszeit - M. L.] nicht mehr allzu drückend wäre." 108 Für die damalige Situation (und für die vorliegende Darstellung) war die Behandlung Berlins im Papier aufschlußreich: Berlin (Gesamtberlin) sollte „Freie Stadt" werden. Ein Artikel bestimmte, daß die Grund-bzw. Menschenrechte auf ihrem gesamten Gebiete zu gelten hätten. Ein weiterer Artikel kodifizierte das selbständige Handeln der Freien Stadt unter der Leitung eines Senats. Der ungehinderte Verkehr der Freien Stadt mit der Außenwelt in alle Richtungen und die Freizügigkeit der Bewohner und Besucher wurde im Plan ebenfalls als ein Gebot explizit festgehalten. Der Handel und der Warenverkehr sollten frei sein, eine Erhebung von Zöllen im Transitverkehr der Stadt vorbehalten bleiben. Die Freie Stadt, die (in der zweiten Fassung) finanzielle Zuschüsse annehmen oder Darlehen aufnehmen könnte, sollte entmilitarisiert sein. Zugelassen sei, wie es hieß, nur eine „ausreichende" Polizei. Die Stadt dürfe weder fremde Nachrichtendienste beherbergen noch eigene schaffen. Hier trug man der Propaganda der DDR besonders Rechnung. Der Globkeplan sah innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Vertrags freie Wahlen in Berlin vor. Die aus ihr hervorgegangene Volksvertretung, so wurde weiter bestimmt, habe den Senat zu wählen. Bundesrepublik und DDR zögen dann innerhalb von drei Monaten ihre Dienststellen aus der Freien Stadt vollständig ab. Der Plan billigte ihnen Vertretungen beim Senat zu. Sollte sich bei der Volksabstimmung keine Mehrheit für die deutsche Wiedervereinigung finden, hätten die Berliner über den Status ihrer Stadt abzustimmen: Anschluß an die DDR bzw. an die Bundesrepublik oder aber Beibehaltung des Freistadtstatus. Im Fall der Wiedervereinigung war Berlin als deutsche Hauptstadt vorgesehen. Der erst 1974 veröffentlichte Globkeplan wurde politisch nie wirksam. Dennoch bleibt auch nicht Realisiertes, bleibt Geplantes und Gedachtes Geschichte. Zum einen gibt das Papier Auskunft über relativ weitreichende alternative Vorstellungen Adenauers zur Lösung der deutschen Frage. Es markierte eine gewisse Zäsur in den politischen Konzeptionen des Kanzlers. Man kann sie bei allen Unschärfen bündig charakterisieren: Freiheit für die Ostdeutschen vor Wiedervereinigung durch freie Wahlen. Zum anderen fragt sich, unter welchen Bedingungen der Plan eine Chance hatte, in die Ost-West-Auseinandersetzung 108

H.-P. Schwarz, a.a.O., S. 479.

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einbezogen zu werden und - vor allem - wie UdSSR und DDR reagiert hätten. Eine generelle Zustimmung stand kaum zu erwarten. Gegen sie sprachen die Adenauerschen Absicherungen: Volksentscheid, freie Wahlen und Demokratisierung der DDR. Einer Freien Stadt hätte der Osten, wie wir aus den SED-Quellen wissen, niemals unter der Bedingung zugestimmt, daß Ostberlin in sie einbezogen würde. Hätte der Globkeplan wenigstens Ansatzpunkte für eine deutschland- und berlinpolitische Übereinkunft in einer Situation bieten können, die von beiden Seiten als gefährlich und aus Sicherheitsgründen als veränderungsbedürftig empfunden wurde? In den Fragen von Übergangslösungen, befristeten Stillhalteabkommen und technischen Regelungen schienen sich begrenzte Kompromisse angeboten zu haben. Für die Frage, ob der Globkeplan oder Elemente dessen einen Dialog in Gang gesetzt und möglicherweise zu einer beiderseitigen Kompromißbereitschaft beigetragen hätte, findet sich noch weniger eine Antwort. Hier können mögliche gute Absichten nicht für die Tat genommen werden. Man muß auch beachten, daß dem Bundeskanzler, der nach 1959 immer stärker in die Auseinandersetzung um seine Nachfolge verwickelt wurde, wenig Zeit blieb, verschiedene neue Gedanken über deutschlandpolitische Kurskorrekturen politisch umzusetzen. Er mußte mit einem erheblichen Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen. So teilte sein Außenminister zwar die prinzipiellen Positionen des Kanzlers, betrachtete seine Ansätze zur Flexibilität jedoch mit Skepsis. Beide Politiker empfanden die Wiedervereinigung primär als „Wiederherstellung der staatsbürgerlichen und politischen Freiheitsrechte" in Ostdeutschland. V. Brentano bezeichnete es nach Ausbruch der Krise als „vordringliche Aufgabe", Berlin zu sichern. Politische Schritte in der deutschen Frage leitete der konservativen Wertvorstellungen verbundene, an einer politischen Moral festhaltende Politiker von seiner Überzeugung ab, daß die UdSSR in der Ostzone keinen selbständigen Staat errichtet habe. Es handle sich vielmehr um eine Annexion, „die sich in den modernen Formen des Bolschewismus vollzogen hat." Er resümierte: „Auf der Grundlage des Status quo läßt sich [...] eine dauerhafte friedliche Ordnung nicht errichten. Der Wunsch, den Deutschen jenseits der Zonengrenze das Recht auf Selbstbestimmung zurückzugeben, ist kein Ausdruck irredentistischer Gesinnung [...]. Ich glaube vielmehr, daß alle Staaten der freien Welt ein eigenes Interesse daran haben müssen, diesen Tatbestand zu ändern, dessen Fortdauer auf unbestimmte Zeit zu einer Gefahr für den Frieden werden kann. 109 Bei v. Brentano, der den von der Hallsteindoktrin völkerrechtlich flankierten Wiedervereinigungskurs prinzipiell fortzuführen gedachte, mischten sich die scharfe Analyse des Sowjetsystems und der weltpolitischen Lage mit Wunschdenken und deutschlandpolitischen Überzeichnungen. So sah er eine „gefährliche Situation" entstehen, wenn der Westen sich mit der Lage abfinde und auf eine deutsche Wiedervereinigung verzichte. Vor allem witterte der honorige Christdemokrat in der von ihm beobachteten Tendenz, die deutsche Frage mit der UdSSR lösen zu wollen, unübersehbare Risiken.110 Er glaubte sie 1959/60 nicht nur „ansatzweise" - wie er glossierte - bei der parlamentarischen Opposition zu sehen, sondern auch bei Adenauer. So spielte bei den „ziemlich freimütigen internen Diskussionen" zum Chruschtschow-Ultimatum Adenauer durchaus mit dem Gedanken, mit der DDR - ohne diese de jure anerkennen zu wollen - über Fragen der Berliner Zufahrtswege zu verhandeln: „Und wenn dann so einer, der sich drüben Minister nennt, hieri n Schreiben v. Brentanos an M. J. Bonn (Professor in Eton), 15.11.1959, in: BA Koblenz, NL 239/5, Bl. 88f. no Ebenda, Bl. 89.

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herkommt, werden wir es hinnehmen. Daran stirbt man nicht. Das war auch schon früher meine Meinung." 111 Diese Auffassung entsprach dem Globkeplan. Den Außenminister irritierte die offensichtliche Neigung des sicherlich auch über verschiedene Inkonsequenzen seiner Verbündeten verärgerten Kanzlers vielleicht noch mehr, über separate Kontakte mit Moskau laut nachzudenken. Bereits im Januar 1960, nicht erst 1962, beauftragte Adenauer seinen Moskauer Botschafter Hans Kroll, Chruschtschow einen „Burgfrieden" vorzuschlagen. Der sowjetische Ministerpräsident reagierte am 28. Januar 1960 intern: „Ihr Botschafter sagte mir, daß die Bundesregierung nichts dagegen habe, einen Burgfrieden - wie er sich ausdrückte herzustellen. Wir sind damit einverstanden, aber ein solcher Frieden kann nur auf gegenseitiger Grundlage hergestellt werden." 112 Adenauer sondierte kontinuierlich. Als v. Brentano hörte, daß Adenauer beabsichtigte, „sich demnächst in Bonn mit dem russischen Ministerpräsidenten über das Berlin-Problem und über die deutschrussischen Beziehungen auszusprechen", meldete er bei Adenauer in einem Brief vom 16. November 1960 größte Bedenken an: „Es wäre verhängnisvoll, wenn in Amerika der Eindruck entstehen würde, daß die Bundesregierung tatsächlich auf der Suche nach einer neuen außenpolitischen Konzeption sei." 113 Der Außenminister bat den Regierungschef, ihn auf der bevorstehenden Brüsseler NATO-Außenministerkonferenz zu der Erklärung zu ermächtigen, daß die Bundesregierung direkte Verhandlungen mit der UdSSR über die Berlin- oder Deutschlandfrage für unmöglich halte. 114 Hier standen sich wenigstens zeitweilig, aber immer in Spannungssituationen sichtbar werdend, eine taktisch flexiblere und eine relativ starre Linie der Deutschlandpolitik gegenüber. Beide Linien ergänzten sich im Berlin-Konflikt stärker, als sie sich ausschlössen. Gerade in der CDU standen Gruppierungen mehr hinter dem Gedanken der Flexibilität oder mehr hinter dem des Beharrens, ohne daß ihre Teilnehmer und „Sympathisanten" festumrissene dauerhafte interne deutschlandpolitische Koalitionen eingingen. Deutschlandpolitische Stellungnahmen blieben von innerparteilichen Widersprüchen, Kompetenzstreitigkeiten, Frustrationen und machtpolitischen Ambitionen nicht unberührt. So wollte v. Brentano, als er sie im Herbst 1961 übernahm, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wieder „ein eigenes Profil" geben. „Sie war in den letzten Jahren [...] mehr oder weniger zum Vollzugsorgan der Bundesregierung geworden." 11S , kommentierte er. Nach der Schlappe in den Bundestagswahlen von 1961 glitt dem alten Kanzler auch die Deutschlandpolitik mehr und mehr aus den Händen. Die SED rechnete mit dem baldigen Rücktritt Adenauers. Den Bundestagswahlkampf 1961 hatte sie als „Klassenschlacht" angelegt, in die sie sich kräftig einzumischen gedachte.

8. Die politisch-ideologische Offensive der SED bei der Bundestagswahl 1961 Die innerdeutsche Auseinandersetzung erreichte zwischen dem Mauerbau und dem Wahltermin in der Bundesrepublik (17. September 1961) einen Höhepunkt. Doch begann die SEDFührung die„heiße Phase" der Wahlvorbereitungen. Dabei spielten sowohl die innere Krise in 111 112 113 114 115

Zit. nach Schwarz, a.a.O., S. 486. Schreiben Chruschtschows an Adenauer (Kopie), 28.1.1960, in: SAPMO-BArch, ZPA, JIV 2/202/76. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 16. 11. 1960, in: BA Koblenz, NL 239/158, Bl. 124. Vgl. ebenda. Schreiben v. Brentanos an L. von Gumppenberg, 4. 12. 1961, in: BA Koblenz, NL 239/17, Bl. 159.

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der D D R als auch die Berliner Lage eine Rolle - bereits zu Beginn des Kalendeijahres. Angesichts seiner im Politbüro am 4. Januar 1961 geäußerten Vermutung, daß Adenauer keine internationalen Verhandlungen vor den Wahlen wolle, drängte Ulbricht auf einen frühzeitigen Termin für eine internationale Konferenz. Er beabsichtigte, sich mit einem neuen gesamtdeutschen Vorschlag direkt an Adenauer zu wenden, gab aber als das eigentliche Ziel an, „dafür zu sorgen, daß die Frage Westberlin und eines Friedensvertrages mit Deutschland in den Mittelpunkt der westdeutschen Wahlen kommen." 116 Bereits in der Diskussion des Wahlplans für die K P D Mitte Februar 1961 entwickelte Ulbricht den gemeinsam tagenden Politbüros von SED und K P D seine Konzeption. Zunächst stellte er die rhetorische Frage, in welchen Punkten man die Adenauerregierung „beschuldigen" müsse: Erstens setze diese durch die Atomrüstung den Friedens aufs Spiel. Zweitens belaste sie durch Rüstungen und Staatslasten das Volk „zugunsten der Interessen der Millionäre und Finanzkapitalisten, dazu gehören die Kosten für die imperialistische Expansion, die sogenannte Entwicklungshilfe." Drittens hätte sie ermöglicht, daß im Innern der wachsende Einfluß des Militarismus zu Konformismus und zu einem „klerikalen Militarismus" geführt und Jedes geistige Leben unterdrückt [habe]." Die Bilanz der Adenauerpolitik sei eine „politische Restauration, die Wiederholung des alten Weges." 117 Ulbricht erging sich in spekulativen Wahlprognosen: Für Adenauer sei Strauß der Nachfolger, wenngleich Erhard in den Vordergrund gestellt werde. Deshalb müsse man „den Stoß gegen Strauß schon jetzt führen, denn faktisch besteht die politische Führung der Adenauer-Regierung aus Adenauer, Strauß, [Robert] Pferdmenges und [Hermann J.] Abs. Die vier Mann sind faktisch die Führung. Der Schröder ist durchführendes Organ." So entstand das wahlpolitische Feindbild. Immer wieder tauchten die Namen Pferdmenges, des Kölner Bankiers und Vertrauten Adenauers, und des Direktors der Deutschen Bank, Abs, als die Symbolfiguren der SED für den westdeutschen „Imperialismus" auf. Ulbricht sah es als Wahlziel an zu erreichen, „daß eine starke Fraktion der Friedenskräfte in das Parlament einzieht [...] die konsequent für Frieden und Demokratie ist. Das heißt, die Aufgabe besteht darin, die 5-Prozent-Klausel zu überspringen, damit diese Gruppe in das Parlament kommt." Man müsse also - so folgerte er - die Wähler auffordern, nur für solche Kandidaten zu stimmen, die für „Minimalforderungen" eintreten. Als „Minimalforderungen" bezeichnete er u. a. die Abrüstung, ein Atomwaffenverbot, die finanzielle Belastung der „Millionäre", Verhandlungen mit der D D R und eine Ablehnung der „Kolonialisierungspolitik" der N A T O . So sollte man auch für Thomas Dehler ( F D P ) stimmen, wenn er dafür eintrete: „Ich sehe in ihm einen Vertreter der nationalen Bourgeoisie, die gegen die Atomrüstung ist", meinte der Erste Sekretär. Auch für taktische Fragen gab es Anweisungen: Es werde Fälle geben, „wo wir den SPD-Kandidaten hervorstellen gegenüber dem DFU-Mann. Wir werden die erste Stimme den SPD-Kandidaten geben, wir differenzieren wie z. B. im Fall [Fritz] Baade, dort werden wir einfach alle Stimmen für Baade geben und auf einen Gegenkandidaten der D F U verzichten. Es muß klar sein, daß wir nicht in jedem Falle in jedem Wahlkreis einen DFU-Kandidaten aufstellen werden." Sieht man einmal von der anmaßenden Art und Weise Ulbrichts ab und bewertet den Umstand, daß die D F U zu einer „aufzustellenden" oder nicht ins Spiel zu bringenden Schachfigur der SED

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„Stichwort-Protokoll", Anlage 3 zum Protokoll 1/61, Sitzung des Politbüros vom 4. 1. 1961, in: SAPMO-BArch, Z P A , J I V 2/2/743, Bl. 17. Aussprache zwischen den Politbüros von SED und K P D über die Vorbereitung der Bundestagswahlen 1961, Anlage 1 zum Protokoll 9/61, 21. 2. 61, in: ebenda, J I V 2/2/751, Bl. 18.

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degradiert wurde, nicht allzu hoch, so fällt das Prinzip der „Volksfront" ins Auge, einer „nationalen Front" aller Gegner des Systems in der Bundesrepublik. Ulbricht prognostizierte Westdeutschland auf der gleichen Tagung dann auch „eine Koalitionsregierung aller Friedenskräfte, von den Vertretern der Gewerkschaft angefangen bis zur nationalen Bourgeoisie. D.h. eine Regierung aus Gewerkschaftern, Bauern, Vertretern der Intelligenz, die sich ausgezeichnet haben im Kampf gegen die Atomrüstung und für Verständigung sind. Eine solche Regierung wird kommen, ob sie unmittelbar nach diesen Wahlen kommen wird, oder wenn Adenauer nicht mehr Bundeskanzler sein wird, steht noch nicht fest. Aber eine solche Regierung wird in Westdeutschland unbedingt kommen. Das muß man so kategorisch verkünden, daß keiner Zweifel daran hat, daß das nicht die Wahrheit ist."118 Bemerkenswert an dieser Wahlkonzeption war, daß die SPD im Gegensatz zum vorangegangenen Wahlkampf von 1957 und den nach 1961 folgenden Bundestagswahlkämpfen als Partei insgesamt nicht unterstützt wurde. Der Hauptgrund fand sich im außenpolitischen Kurswechsel der Sozialdemokraten. Ulbricht war sich der Widersprüchlichkeit des Anspruches, die „Aktionseinheit" der Arbeiterklasse mit den Sozialdemokraten zu schaffen, aber deren Partei als „proimperialistisch" abzuqualifizieren, bewußt. Sollten Wähler fragen, warum wir nicht generell für die SPD stimmen, so sei, ermahnte er die illegale KPD, zu antworten, „weil durch Beschlüsse von Godesberg und Hannover [SPD-Parteitag, November 1960 - M. L.] die SPD selbst auf die Bildung einer sozialdemokratischen Regierung verzichtet hat." Die SPD habe sich durch die Schuld ihrer rechten Führer selbst die Möglichkeit genommen, eine Mehrheit zu bekommen, kommentierte der Erste Sekretär. So sei Brandts Nominierung als SPD-Kanzlerkandidat in Hannover ein Ausdruck der Tatsache, „daß sie ihre Position als Sozialdemokraten aufgegeben haben und auf die Position des deutschen Imperialismus übergangen sind." Ulbricht erhob den Vorwurf eines Verrats der sozialdemokratischen Führung „an den eigenen Mitgliedern" und an den „Interessen der Nation." Die Ausführungen gipfelten in der Aufforderung an die Sozialdemokraten, den Kampf gegen ihre Parteispitze zu führen. 119 Ulbricht ließ erkennen, daß die SED einen Wahlsieg der SPD nicht so sehr für unmöglich als für nicht wünschenswert halte. Eine SPD-Regierung sei willkommen gewesen, hätte es nicht Godesberg und Hannover gegeben. „Jetzt muß man also dagegen sein"120, schlußfolgerte er. Im entsprechenden Entwurf des Wahlpapiers der Westkommission vom 2. Mai 1961 hieß es dann, der „Hauptstoß" werde zwar gegen Adenauer und besonders gegen Strauß geführt, um dessen „gefährliche Rolle" kampagnemäßig zu enthüllen. Man müsse den Wahlkampf aber auch nutzen, um die Auseinandersetzung in der SPD weiter zu fordern und den politischen Kampf gegen Brandt, Wehner und den DGB-Vorsitzenden Willy Richter mit dem Ziel zu führen, „diese Abenteurer" als Helfer der Militaristen zu entlarven.121 So stellte die SEDWahlkonzeption kein bloßes Verweigerungskonzept gegenüber der SPD, sondern ein offensives Kampfprogramm gegen den ideologischen Gegner Sozialdemokratie dar. Der Westkommission oblag die Bestimmung von Wahlkampfmethoden. „Wir mischen uns in den westdeutschen Wahlkampf ein, indem wir konzentriert und mit vielfaltigen Formen und 118 119 120

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Ebenda, Bl. 19, 20. Ebenda, Bl. 21,23. Aufzeichnung des Arbeitsbüros: „Bemerkungen (Ulbrichts) zum Entwurf des Wahlplanes der KPD", 22. 2. 1961, in: ebenda, IV 2/1003/2, S. 3. Entwurf der Westkommission: „Politik und Taktik unseres Einwirkens im Kampf zu den Bundestagswahlen am 17. 9. 1961", 2. 5. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/3.

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Methoden [...] der westdeutschen Bevölkerung den Ausweg aus der Sackgasse der Bonner Kriegspolitik zeigen." Druckschriften, Radio- und Fernsehsendungen sowie verschiedene Veranstaltungen seien sorgfältig vorzubereiten. Auf staatlicher Ebene plante die Kommission einen Schritt, „der in aufsehenerregender Weise erneut unsere Position [...] sichtbar macht, den Friedenskräften in Westdeutschland Rückhalt gibt und den Gegner in dieser Grundfrage erneut in die Defensive zwingt." Die Kommission schlug die Unterzeichnung einer Erklärung über einen Gewaltverzicht zwischen beiden deutschen Staaten als dafür geeignet vor. Propagandistische Veranstaltungen in der Bundesrepublik, ein öffentliches Auftreten von Prominenten, die in die DDR übergesiedelt seien, eine Reihe „schlagkräftiger Enthüllungen" u.a.m. sollten andere Aktionen umrahmen. 122 Am 9. Mai 1961 erhob das Politbüro den Entwurf der Westkommission zum Beschluß. Als politische Ziele wurde fixiert, den Einfluß der DDR auf Westdeutschland zu erhöhen und die „Neugruppierung der Kräfte" in der Bundesrepublik zu erreichen. Ulbrichts Weisung gemäß setzte die Parteiführung auf keine westdeutsche Partei, sondern auf die Unterstützung aller Kräfte, „die eine Alternative zur Politik der Bonner Militaristen vertreten und den Prozeß der Differenzierung in den verschiedenen Klassen und Schichten mit dem Ziel [betrieben], die aggressivsten Kräfte zu isolieren." 123 Das Politbüro beschloß Ende August 1961, das von Ostberlin gelenkte westdeutsche Friedenskomitee zu veranlassen, „einen Appell an alle Wähler in Westdeutschland herauszugeben, in dem inhaltlich zum Ausdruck gebracht wird, warum sie [...] weder Adenauer noch Brandt wählen dürfen." 124 Das war in der Tat schwer zu vermitteln, wußten doch auch viele KPD-Mitglieder mit der Losung: „Wer Brandt wählt, wählt Strauß" nicht so recht umzugehen. Außerdem leuchtete vielen nicht ein, daß man Adenauer am besten dadurch treffen könne, wenn man Brandt nicht wähle. 125 Mit der Konzipierung eines faktischen Zweifronten-Wahlkampfes erreichte die SEDFührung einen Gipfelpunkt illusionären Denkens. Es kann nur als absurd bezeichnet werden, wenn in Ostberlin versucht wurde, im Umfeld des Berlinkonflikts angesichts der eigenen inneren Schwäche eine „Volksfrontpartei" dadurch in den Bundestag zu hieven, daß man sowohl Adenauer als auch Brandt als Kanzler verhinderte. Die fundamentale Fehlanalyse des westdeutschen Wählerwillens und die Ignoranz gegenüber bundesdeutschen Verhältnissen und Kräftekonstellationen führte zu einer herben Enttäuschung. Die verteufelte SPD-Führung konnte auf einen Gewinn von über vier Prozent der Stimmen gegenüber der Wahl von 1957 hinweisen. Adenauer blieb Kanzler. Trotz des immensen Aufwandes an Geld, Material, Instrukteuren und (bis zum 13. August 1961) „Einsatzkadern" erhielt die insgeheim favorisierte DFU ganze 1,9 Prozent der Wählerstimmen. Nach dem 13. August 1961 litten alle westdeutschen Kräfte, die von der DDR im Wahlkampf sichtbar unterstützt worden waren, unter den ostdeutschen Zuwendungen. Ihnen leistete die SED einen „Bärendienst". Die aufwendige, aber ergebnislose oder sogar negative Wahlhilfe, an der in der DDR alles beteiligt worden zu sein schien, was Rang und Namen hatte 126 , erzeugte beim Politbüro neue Frustrationen. Sie entluden sich in oft eigentümlicher Weise gegen die SPD. So redete sich die SED-Führung - die konstatierte, daß die erEbenda. „Politik und Taktik zu den Bundestagswahlen am 17.9.1961", Anlage 4 zum Protokoll 21/61, Sitzung des Politbüros vom 9. 5. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/763, Bl. 87f. 1 2 4 Beschluß des Politbüros, Protokoll 46/61, Sitzung vom 29. 8. 1961, in: ebenda, J IV 2/2/788, Bl. 3.. 125 Vgl. Bericht vom Juni 1961, in: ebenda, IV 2/2028/25. 1 2 6 Vgl. Schreiben M. von Ardennes an Norden, 12. 8. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/56, Bl. 42.

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wünschte Spaltung der SPD ausblieb - eine „Krise in der Sozialdemokratie" ein. 127 Ulbricht versuchte, dem Präsidium der KPdSU zu suggerieren, die SPD-Führer seien „auch gegenüber der Sowjetunion weniger verhandlungsbereit als die Adenauer-Regierung." Auch wenn diese Behauptung im Frühjahr 1962 nicht völlig unbegründet war, vermittelte das rückwirkend falsch „belichtete" Bild von der SPD eine Art von politisch-pathologischem Befund: So behauptete das Politbüro allen Ernstes, mit ihrem Deutschlandplan von 1959 sei es der SPD nicht gelungen, „den allmählichen Abzug der sowjetischen Truppen und die Differenzierung in der Regierung und in der Nationalen Front der DDR zu erreichen." Jetzt, unter den Bedingungen der Berlinkrise, so wurde unbekümmert weiterbehauptet, suchten rechte SPD-Führer „den Sturz der Regierung der DDR herbeizuführen." Mit Hilfe der NATO „und mit Hilfe westdeutscher oder USA-Kredite an die DDR, die mit politischen Bedingungen verbunden sind, wollen sie die DDR aufrollen und hoffen, danach zur stärksten Partei in Deutschland zu werden. Deshalb ist die SPD-Führung der Hauptträger der antikommunistischen Propaganda und Diversionstätigkeit." 128 Offensichtlich steckte in diesem Unsinn sowohl die SED als auch die KPdSU hatten den Deutschlandplan der SPD begrüßt - ein rationaler Kern. Die SED warnte die Bruderpartei vor Kontakten mit der SPD und versuchte ihr Feindbild auf Moskau zu übertragen. Das „Anschwärzen" der SPD in Moskau unterstreicht, daß die SED-Führung, während der Berlinkonflikt zeitweilig abzuflauen schien, bereit war, den Konfrontationskurs gegenüber den staatstragenden Kräften in der Bundesrepublik durchzuhalten.

9. Innerdeutsche Konflikteskalation und die ersten Versuche einer Schadensbegrenzung 1962 Im ersten Halbjahr 1962 verschärfte sich das zwischendeutsche Verhältnis schlagartig. Zuweilen nahm es aber auch komische Züge an. Einerseits ließ der für die Westarbeit verantwortliche Chefideologe Albert Norden buchstäblich nichts aus, um dem politischen „Gegner" Schaden zuzufügen. So ließ er im Februar 1962 einen Plan für eine Aktion von gezielten Falschmeldungen erarbeiten. Sein primitiver und einleuchtender Hauptgedanke war, daß einige Monate lang in längeren oder kürzeren Abständen Pressemeldungen erfolgen müßten, „in denen mitgeteilt wird, daß eine Beratung mit verantwortlichen Funktionären der DDR mit namhaften Politikern Westdeutschlands stattgefunden habe." Einmal - so wurde konkretisiert - sollte es sich um FDP-, ein anderes Mal um CDU- und SPD-Politiker gehandelt haben. Es entsprach den geltenden Feindbildern, wenn eine Kampagne gegen Strauß ins Auge gefaßt wurde. Dabei sei von Aktionen gegen den bayerischen Politiker zu berichten, die (angeblich) von Kreisen um Erhard, v. Brentano und Schröder „eingefädelt" werden und von Intrigen, „um die Vormachtstellung der Katholiken gegenüber den Protestanten einzuengen." Um eine gewisse Stimmung in Teilen der westdeutschen „Bevölkerung, vor allem der Arbeiterklasse, gegen die Millionäre [...] zu schaffen", so fuhr man fort, sollte das Deutsche Wirt127

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Offensichtlich Notiz über eine gemeinsame Sitzung der Politbüros von SED und KPD für A. Norden, 28. 10. 1961, in: ebenda, IV 2/2028/16. Anlage zum Schreiben des Politbüros an das Präsidium des ZK der KPdSU, 8.2.1962, in: ebenda, JIV 2/202/31, Bd. 7.

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schaftsinstitut der DDR ermitteln, wer größere Geldsummen in der Schweiz oder anderen Staaten deponiert. Außerdem sei eine Meldung des „Spiegel" über ein Gespräch Adenauers mit dem Präsidenten des BDI, dem Industriellen Fritz Berg, auszunutzen. Da man sich nicht über Belanglosigkeiten unterhalten haben werde, könnte eine rein spekulative Konstruktion wirksam werden: Die deutsche Industrie verfolge eine harte Linie gegen die Sowjetunion, aber auch gegen die Gewerkschaften, um die Notstandsgesetze unter Dach und Fach zu bringen. Berg habe verlangt, daß Josef-Hermann Dufhues, der geschäftsfuhrende CDUVorsitzende, die CDU „fest in den Griff' zu bekommen und den wichtigsten Mann der CDUSozialausschüsse, Hans Katzer, der den Gewerkschaften nahestand, „zurückzupfeifen" habe. Im weiteren plante man zu melden, Robert Kennedy sei von seinem Bruder nach Westberlin geschickt worden, um den Senat der Stadt darauf vorzubereiten, „daß auf die Dauer die Position von Westberlin nicht zu halten ist."129 Schizophren mutete an, daß man den „Klassenfeind", da die Lebensmittelversorgung in der DDR nicht stabilisiert werden konnte, gleichzeitig um mehrere Tausend Tonnen Fleisch, tierische Fette, Stärke und andere Lebensmittel gegen mittelfristige Kredite bat. 130 Kleinlichkeit, irrationales Denken und fehlende Rechtsstaatlichkeit gingen eine eigenartige, den außenpolitischen Konflikt begleitende und verschärfende Symbiose ein. So beauftragte das Politbüro noch im Juni 1963 den Ministerrat der DDR, den angeblich forcierten Sendungen von Päckchen an Bürger der DDR „durch Beschlagnahme dieser Sendungen entgegenzuwirken."131 Aber noch eine andere Form innerdeutscher Systemauseinandersetzung wurde belebt. Die Westkommission unternahm verstärkte Anstrengungen, um Konzepte für die Arbeit mit den „zeitweilig in Westdeutschland lebenden Bürgern der DDR" - wie die Republikflüchtigen nun genannt wurden - auszuarbeiten. Eine neue Kampagne lief an. Die SED setzte sich das Ziel, durch die Einwirkung auf ehemalige DDR-Bürger „die Unruhe und Unsicherheit des Bonner Systems" zu verstärken und „Arbeitswillige" unter den nun in der Bundesrepublik lebenden Flüchtlingen zurückzugewinnen. Spezielle Rundfunk* und Fernsehsendungen - Bürger der DDR sprechen zu ihren in Westdeutschland lebenden (geflohenen) Verwandten „und ermutigen sie zum Friedenskampf -, Wunschkonzerte, Berichte von Rückkehrern, Fernsehspiele, ein „Offener Brief an alle DDR-Bürger in Westdeutschland (der über deren Verwandte und Bekannte in der DDR zugestellt werden sollte), Appelle von Rückkehrern und die „Organisierung einer gezielten Briefaktion zur Rückgewinnung in Westdeutschland lebender DDR-Bürger", bildeten ideologische Fanfarenstöße. Eine besondere Aktion zielte auf eine wichtige Gruppe: auf die Jugendlichen. Ihr Motto lautete: „Wer sich dem Barras entziehen will, kommt zu uns." Eine spezielle Presse („Neue Bildzeitung") sollte Hinweise geben, „wie man am besten und schnellsten in die DDR zurückkommt." Die Westkommission schlug dem Politbüro vor, staatlicherseits eine „Repatriierungskommission" zu bilden und die Möglichkeit zu prüfen, „die in Westdeutschland lebenden DDR-Bürger zu registrieren" und für sie Auskunftsstellen zu schaffen. Man solle auch feststellen, so wurde empfohlen, „in welchem Umfang man einer gewissen Gruppe von Republikflüchtigen zeitweilige Aufenthaltsgenehmigungen geben kann." Die Fragen der 129

130 131

Papier: „Weitere Vorschläge für nach Westdeutschland gerichtete Aktionen". Für Norden, 17.2.1962, in: ebenda, IV 2/1002/3, Bl. 33-41. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 3/62, 23. 1. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/810, Bl. 7. Beschluß des Politbüros, Protokoll 18/63, 12. 6. 1963, in: ebenda, J IV 2/2/882, Bl. 4.

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Straffreiheit Republikflüchtiger sowie der Rückerstattung von Eigentum an sie sollten ebenfalls geklärt werden. 132 Die Angelegenheit, die mangels Rückkehrwilliger von Anfang an „akademisch" blieb, verlief im Sande. Der Berg kreiste und gebar eine Maus. Der auf Hochtouren arbeitende Propagandaapparat trug zur Weiterfuhrung einer Psychose des Kalten Krieges bei. Freilich gab es auch Kräfte in der Bundesrepublik und in Westberlin, die in ähnlich konfrontativer Weise nicht selten blindwütig konterten und damit zur Eskalation des innerdeutschen Propagandakriegs beitrugen. Er spitzte sich gefährlich zu, als der 18jährige Bauarbeiter Peter Fechter am 17. August 1962 bei einem Fluchtversuch durch Schüsse schwer verletzt wurde und an der Mauer verblutete. „Es war nicht der erste Tote an der Mauer, aber der erste, der öffentlich starb. Seine Hilferufe waren zu hören, bis sie verstummten." 133 Der die Menschenverachtung des repressiven Systems offenbarende Vorfall beleuchtete die Künstlichkeit der Mauer schlaglichtartig. Das Politbüro trat die Flucht nach vorn an. Es bezichtigte in Umkehrung der Tatsachen die Westseite eines „Schießbefehls" und leitete eine verlogene Kampagne gegen den „Mord an DDR-Grenzposten" ein. 134 An der Grenze floß immer mehr Blut. Die Emotionen gingen hoch. Bundesregierung und Berliner Senat zeigten sich über diese Entwicklung zutiefst beunruhigt. An der Mauer wurde geschossen, der Verkehr auf den Zufahrtswegen nach Berlin erfuhr nach wie vor Behinderungen, die Spaltung Deutschlands vertiefte sich. War man zur Ohnmacht verdammt? Eine Reihe von Berliner SPD-Politikern war mit dem Regierenden Bürgermeister Brandt der Meinung, daß man Lage und Möglichkeiten neu durchdenken müsse, wenn man für die Menschen in Deutschland und Berlin etwas erreichen wollte. Aber das ging nicht ohne die DDR. Eine „Berliner Linie", wie sie später genannt wurde, die sich in zahlreichen Gesprächen zwischen Brandt und seinen engsten Vertrauten - u. a. Heinrich Albertz, Egon Bahr, Klaus Schütz, Dietrich Spangenberg - konzeptionell herausbildete, ging davon aus, daß man vernünftiges Handeln nicht allein Bonn und den Westalliierten überlassen konnte. Die als Bedrohung ihrer Lebenswelt aufgefaßte repressive Politik des Ostens und die Opfer an der Grenze ließen bei den Westberlinern eine Tendenz entstehen, „in Einheit und Solidarität zusammenzustehen und abweichende politische Meinungen als stabilitätsgefährdend anzusehen, als Unterminierungsversuche des Gegners zu disqualifizieren und zu verteufeln. Gesprächsbereitschaft mit dem Osten zu zeigen, galt teilweise als unverzeihliche Naivität oder als Aktion der Unverfrorenheit." Diese „obligatorische Härte" in der Rhetorik gegenüber dem Osten und die „Wagenburgmentalität" der Bevölkerung erlaubten der politischen Führung von Berlin (West) vorerst nicht, eine sachliche Beurteilung der Lage auch nur anzudeuten, der Bevölkerung die Möglichkeiten und Grenzen westlicher Macht zu verdeutlichen und „einen flexiblen Kurs in der Konfrontation mit dem kommunistischen Gegner einzuschlagen." 135 Diese Grenzen hatte auch die Bundesregierung zu berücksichtigen. Angesichts der blutigen Exzesse an der Mauer suchte auch sie nach Möglichkeiten, mit den Verantwortlichen in der DDR irgendwie ins Gespräch zu kommen. Anknüpfungspunkte 132

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Westkommission: „Einige Gedanken und Probleme zur Arbeit mit den zeitweilig in Westdeutschland lebenden Bürgern der DDR", 14. 8. 1963, in: ebenda, IV A 2/2028/39, S. 1-4. P. Bender, N e u e Ostpolitik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986, S. 124. Vgl. Anlage 1 zum Protokoll 38/62, Sitzung des Politbüros vom 2. 8. 1962, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/845, Bl. 5 u. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 38/62, 19. 6. 1962, in: ebenda, J IV 2/2A/903, S. 3. R. Hildebrandt, Kampf um die Weltmacht. Berlin als Brennpunkt des Ost-West-Konflikts, Opladen 1987, S. 109.

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boten einerseits Gespräche, die eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) unter Leitung von H. G. Beckh mit dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes (der DDR) und demjenigen des Landesverbandes Berlin (West) führte. Einem in diesem Gremium erarbeiteten Entwurf für ein Kommuniqué zu Erste-Hilfe-Leistungen bei Grenzzwischenfällen versagte Politbüromitglied Friedrich Ebert, der Ostberliner Oberbürgermeister, handschriftlich die Zustimmung. 136 Offensichtlich war hier die Absicht der SED bestimmend, Abkommen aus Gründen der Anerkennung der DDR nur offiziell-staatlich abzuschließen. So war diese Einstiegsmöglichkeit zu weiteren Kontakten blockiert. Eine weitere Kontaktchance lag in der Bereitschaft der SED-Führung, die Möglichkeit einer Entlassung von in DDR-Zuchthäusern inhaftierten politischen Gefangenen zu überprüfen. Bereits zu Beginn der Berlinkrise hatte Ulbricht intern recht zynisch erklärt, wenn sich verschiedene Kräfte in der Bundesrepublik - er meinte den Bundesjugendring - für eine Aufhebung des KPD-Verbots einsetzten, „lassen wir auch ein paar heraus." 137 Die Bundesregierung zeigte sich an diesem humanitären Anliegen sehr interessiert. Ende Januar 1962 suchte der offensichtlich von ihr beauftragte ehemalige Generalbundesanwalt der Bundesrepublik Max Güde, ein pragmatischer Mann, den Ostberliner Anwalt Friedrich Karl Kaul auf. Den Kontakt vermittelte, wie der Ostberliner „Staranwalt" der Westkommission und Mielke mitteilte, ein Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes, Beckh.138 Kaul, der die SED in Rechtsfragen vertrat und engste Beziehungen zum Politbüro unterhielt, gab sich verwundert, daß sich Güde mit dem Anliegen, von der ostdeutschen Justiz verurteilte Studenten der Freien Universität zu begnadigen, an ihn wende. Derartige Fragen seien von „offizieller Stelle" zu behandeln. „Man sollte mit Kleinem beginnen", habe Güde entgegnet, „und dann vielleicht später zur Lösung größerer Probleme zu kommen." 139 Doch liefen die Verhandlungen über einen Austausch von Gefangenen, die in Westdeutschland zumeist wegen Spionagedelikten einsaßen, erfolgreich an. 140 Die westdeutschen Staatsanwaltschaften entließen „in aller Stille" auch eine Reihe ehemaliger KPD-Funktionäre, die wegen „Staatsgefährdung" inhaftiert waren.141 In kürzester Zeit entwickelte sich ein ganzes Geflecht von Konsultationen und Verhandlungen über die Freilassung von politischen Gefangenen in der DDR, an der verschiedene Institutionen in beiden deutschen Staaten beteiligt waren. Auch Skurriles trat dabei zu tage. Als ein Dozent für Forstwissenschaft an der Universität Göttingen in Ostberlin von der Stasi verhaftet wurde, bat die durch den Hannoveraner Rechtsanwalt Achim von Winterfeld vertretene westliche Seite Kaul, die Verteidigung des Angeklagten, der dann zu 3 % Jahren Zuchthaus wegen (angeblicher) Spionage verurteilt wurde, zu übernehmen. Hier machte man den „Bock" offensichtlich zum „Gärtner". Kaul übernahm es auch, die sich für ihren Dozenten einsetzende Göttinger Universität zu veranlassen, in einem Brief in die DDR „ihr Bedauern" über das Vergehen ihres Dozenten auszudrücken und zu erklären, „daß von Göttingen aus alles geschehen würde, um derartige 136

„Entwurf fur Communiqué", 28. 8.1962, Anlage 1 zum Protokoll 38/62, Sitzung des Politbüros vom 28. 8. 1962, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2A/918. 137 Wortprotokoll der gemeinsamen Sitzung der Politbüros von SED und KPD, Anlage zum Protokoll 52/58, 20. 12. 1958, in: ebenda, J IV 2/2/624, Bl. 40. 138 Aktennotiz der Westkommission, 9. 1. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/128. ! » Schreiben Kauls an das ZK (Stadler), 2. 2. 1963, in: ebenda, IV 2/2028/57, Bl. 268. 140 Vgl. ebenda, Bl. 274-276. 141 Vgl. interne Meldung des Bonner ADN-Korrespondenten, 28. 9. 1962, in: ebenda, IV/2/2028/83, Bl. 67.

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Wiederholungen zu vermeiden." Die Göttinger Universitätsleitung, so fand Kaul heraus, wollte mit diesem Brief nicht nur die Haftentlassung ihres Mitarbeiters bewirken. Sie habe sich auch engagiert, um - wie er Ulbricht mitteilte - „die Voraussetzungen für vernünftige Beziehungen zwischen den Universitäten beider Staaten zu ermöglichen." Dies schien so belangvoll zu sein, daß Kaul auch Minister Mielke „einen genauen Bericht" über den Vorgang erstattete. 142 Güde und Kaul setzten ihre Besprechungen, die zeitweilig den Charakter eines Handels annahmen, u. a. im Büro Winterfelds in Hannover fort. Es ging um brisante Einzelfälle. Dabei wirkte sich aus, daß Güde den Stand der Dinge falsch interpretierte, weil er offensichtlich nicht darüber informiert war, daß die DDR und der Bundesnachrichtendienst, mit hoher Wahrscheinlichkeit in Person seines Chefs Gehlen, Abmachungen mit der DDR eingegangen waren. 143 Auf der westlichen Seite spielten interne Rivalitäten eine Rolle. Rechtsanwalt Diether Posser, der als Verteidiger eines wichtigen, in der DDR inhaftierten Gehlen-Mannes in die Zusammenhänge eingeweiht war, meinte gegenüber Kaul, „daß die Seite, die Güde vertritt, daran interessiert sei, Gehlen in der Angelegenheit [...] Oskar Neumann/Richard Scheringer Schwierigkeiten zu machen." 144 Die beiden ehemals hochrangigen KPD-Funktionäre bildeten Bestandteile eines „Deals", der offensichtlich zwischen Bundeskanzleramt und BND, aber nicht mit den Justizorganen abgesprochen war. Langsam nahmen die Gespräche mehr politische Formen an. Güde und von Winterfeld sprachen mit Kaul am 28. Mai 1963 sowohl über Probleme von Kindesrückführungen als auch über die Verhaftung von drei Medienkorrespondenten der DDR in Bonn. Güde, der selbst Bundestagsmitglied der CDU war, akzeptierte den Vorschlag Kauls, Berichterstatter der DDR in der Bundeshauptstadt offiziell zuzulassen, als Verhandlungsgrundlage. Die an sich unsinnige Verhaftungsaktion sei auch bei Bundestagspräsident Gerstenmaier auf Befremden gestoßen. Die DDR - so fuhr Güde fort - sollte die drei in die Schlagzeilen gekommenen Korrespondenten zurückrufen und sie durch drei neue ersetzen. An einer Regelung müßten zwar Heinrich Krone (Sonderminister) und Rainer Barzel (Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen) beteiligt werden; er sehe aber Chancen. 145 Der Westen akzeptierte. Kaul erhielt die Information, daß Gerstenmaier bereit sei, die drei neuen Korrespondenten zu akkreditieren. 146 Nebenbei verhandelte Kaul in eigener Sache. Er wollte die Aufhebung des Verbots seiner anwaltlichen Tätigkeit in Westberlin durch den Senat erreichen. Hier unterstützte ihn Güde, der persönlich mit Innensenator Heinrich Albertz sprach. Der agile Kaul schickte auch Beckh vor, der Willy Brandt die Wiederzulassung Kauls und eines weiteren DDR-Anwalts in Westberlin im Austausch gegen zwei in Ostberlin zuzulassende westliche Rechtsanwälte schmackhaft zu machen versuchte. 147 Kaul berichtete Norden über einen durch von Winterfeld am 14. Juni 1963 unterbreiteten Vorschlag, den das Politbüromitglied sofort Ulbricht mitteilte. Es handle sich um die westliche Initiative, „eine bevollmächtigte Kommission aus Juristen beider deutscher Staaten zu bilden. Offensichtlich gibt es bis in Bonner Regierungskreise hinein starke Bestrebungen in 142 143

144

145 146 147

Bericht Kauls an Ulbricht, 10. 5. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/112. Bericht (offensichtlich Kauls) über das „Zusammentreffen mit Generalbundesanwalt i.R. Güde im Büro Rechtsanwalts v. Winterfeld in Hannover", 22. 2. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/130. Bericht Kauls an Norden über den Besuch des Rechtsanwalts D. Posser am 23 2.1963, in: ebenda, IV A2/2028/132. Bericht Kauls über das Zusammentreffen mit Güde und von Winterfeld, 28. 5. 1963, in: ebenda. Vgl. Schreiben Kauls an das Büro Norden, 28. 6. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/130. Vgl. Schreiben Kauls an Norden, 9. 7. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/129.

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dieser Richtung. Es erhebt sich die Frage, wie wir uns dazu stellen [...]. Meines Erachtens kann es nichts schaden, wenn wir zunächst Kaul einmal ermächtigen, sich völlig unverbindlich die Vorschläge der westdeutschen Seite anzuhören", schlug Norden seinem Ersten Sekretär vor.148 Ulbricht lehnte aber umgehend ab. Diese Idee stamme von Willy Brandt, so glaubte er zu wissen. Der Regierende Bürgermeister versuche, Juristen über das Rote Kreuz einzuschalten. Brandt solle sich an die Regierung der DDR wenden, die „etwa 5 km von ihm entfernt, ihren Sitz hat". 149 , beschied Ulbricht. Dazu schien der Senat auf der Suche nach geeigneten Formen des Kontaktes auch bereit zu sein. Jedenfalls wurde Kaul am 4. September 1963 sowohl von Posser als auch (nachmittags) von Güde mitgeteilt, „daß ganz offenbar Brandt, Albertz und der Pressechef des Senats [Bahr] das Vorfeld für eine Verhandlung mit der DDR abgetastet hätten und daß sie durch die Parteifreunde von Güde, also die CDU, wieder zurückgescheucht worden sind." 150 So blockten, wenn es ernst wurde, offensichtlich beide Seiten ab. Die DDR benötigte massenwirksam darstellbare Erfolge, die westliche Seite verweigerte jede Form von Anerkennung. In der Tat nutzte die SED alle Formen amtlicher Kontakte propagandistisch, die sich im Justizbereich andeuteten. Als sich in Bonn Stimmen mehrten, die für eine begrenzte Kooperation bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Straftaten plädierten, beauftragte das Politbüro die Justizministerin der DDR ,Hilde Benjamin, zusammen mit Matern „eine prinzipielle Stellungnahme zur Frage der Sauberkeit in der Justiz" auszuarbeiten. Der Generalstaatsanwalt der DDR, Josef Streit, habe - so hieß es in der Direktive weiter - den westdeutschen Justizminister zur Einsichtnahme in das Material einzuladen. 151 Diese Anweisung wurde sofort an die Presse weitergegeben. Antifaschistische Reklame vermochte die Unrechtshandlungen der DDR-Justizministerin und ihres Justizapparates aber nicht zu verschleiern. So schlug die widerrechtliche Verurteilung des im Juni 1961 aus Westberlin verschleppten Redakteurs der Gewerkschaftszeitung „Metall", Heinz Brandt, zu 13 Jahren Zuchthaus immer noch gewaltige Wellen.152 Die internationalen Proteste rissen nicht ab. Auch die UNO schloß sich diesen Aktionen in einem Zirkular an. Wenngleich besonnene Kräfte, die an den internen Gesprächen über den Gefangenenaustausch beteiligt waren, eine akzeptable rationale Lösung empfahlen, beharrte das Politbüro, immer neue politische Haken schlagend153, auf seinem in aller Welt kritisierten Standpunkt. Insgesamt führte aber ein beiderseitiges Interesse an einem Austausch politischer Gefangener, auch geheimdienstlich Tatiger, zu Sondierungsversuchen, die bald über die ursprünglichen Ziele hinausgingen. Hier nahm einerseits der später einsetzende Freikauf von Gefangenen seinen Anfang, andererseits forderten die internen Gespräche insgesamt die Anbahnung allgemeinerer politischer Kontakte.

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ZK-Hausmitteilung Nordens an Ulbricht, 18. 6. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/128. i « ZK-Hausmitteilung Ulbrichts an Norden, 20. 6. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/131. iso Information Kauls für Norden, 5. 9. 1963, in: ebenda, IV A2/2028/125. 151 Beschluß des Politbüros, Protokoll 32/62, Sitzung vom 17. 7. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/839, Bl. 3. 152 Vgl. H. Weber, Geschichte der DDR, München 1989, S. 334f. 153 Vgl. Politbüropapier: „Maßnahmen auf die Zirkulierung eines Dokumentes über die Verurteilung des Spions Heinz Brandt im Wirtschafts- und Sozialrat der UNO", Anlage 1 zum Protokoll 16/63, Sitzung des Politbüros vom 21. 5. 1963, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/880, Bl. 6-8.

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10. Die internen Kontakte zwischen Politbüro und Bundesregierung im Spätsommer 1962 Mehrfach entstanden, ohne daß man es voneinander wußte, in beiden deutschen Regierungen gleiche politische Bedürfnisse. Sie betrafen konkrete Angelegenheiten. Die Möglichkeit von Passierscheinen z.B. erwog nicht nur der Berliner CDU-Politiker Franz Amrehn 1 5 4 , sondern - unabhängig von ihm - auch der mit Ulbricht befreundete Vorsitzende des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR, Gerhart Eisler: „Erstens hättest Du die Initiative genommen und es würde über diese Initiative in der ganzen Welt gesprochen werden", schrieb er an den Parteichef. Zweitens würde das Vertrauen zum Vorsitzenden des Staatsrats der DDR auch im Westen wachsen und drittens könnte man dadurch die Lage der SEW in Westberlin im Wahlkampf zum Abgeordnetenhaus vom 17. 2. 1963 „sehr erleichtern". Mit der Erkenntnis, daß es natürlich ein gewisses Risiko gebe, er aber meine, „ohne Risiko kann man keine Politik machen" 155 , schloß Eisler den klugen Brief ab. Solche Parallelitäten bildeten eine der notwendigen Voraussetzungen für deutschlandpolitische Neuansätze. Doch bevor diese sichtbar Gestalt annehmen konnten - eine Form, die sich den veränderten Bedingungen nicht nur anpaßte, sondern auch für zukünftige Politik geeignet schien - bedurfte es weiterer Versuche, Schaden in Deutschland zu begrenzen und Regelungen zu finden, die einer Eskalation innerdeutscher Spannungen entgegenzuwirken vermochten. Beide deutsche Führungen besaßen auch hierfür kein Konzept. Bot der schon erwähnte Plan eines „Burgfriedens" nicht vielleicht doch einen gewissen Lösungsansatz? Dessen Fragwürdigkeit kam in der Wahl des Zeitpunktes seiner Diskussion zum Ausdruck. Adenauer offerierte ihn - wieder einmal - in einer Situation, in der sich die Gefahr zu erhöhen schien, „daß die USA berlinund deutschlandpolitisch einen status quo minus mit der Sowjetunion zu vereinbaren bereit waren." 156 Andererseits ging die UdSSR auf Adenauers „Burgfrieden" 1962 nicht ein, weil sie einen größeren Vorteil für sich durch Verhandlungen mit den Westmächten erwartete. Als sie 1963 ein gewisses Interesse signalisierte, verfügte der Bundeskanzler schon nicht mehr effektiv über die Macht. Allerdings versuchte Chruschtschow Anfang April 1963 noch einmal, Adenauer aus der Reserve zu locken. Über seinen Botschafter in Bonn, Smirnow, ließ er Hans Kroll ansprechen, der inzwischen - bis zu seiner bevorstehenden Pensionierung - im Auswärtigen Amt arbeitete. Anliegen der sowjetischen Regierung war es, Adenauer zu direkten bilateralen Gesprächen zu ermuntern. Smirnow erhielt für das Gespräch mit Kroll, der zu einer Reise in die UdSSR eingeladen wurde, folgende Direktive: „Wenn entschieden wird, zu diesem Zwecke [Verhandlungen] Herrn Kroll nach Moskau zu entsenden, so überlassen wir dem Kanzler die Wahl, wie er ihn schickt: inkognito oder als offizieller Bevollmächtigter oder zur Erholung auf Grund der Kroll vorliegenden Einladung." Chruschtschow zeigte auch die Bereitschaft zu einem Treffen „auf höchster Ebene", das auch in Bonn möglich sei. Unter dem Vermerk „Persönlich für Kroll" ging Chruschtschow auf dessen Rapallo-Anspielung ein: „Die sowjetische Regierung ist überzeugt davon, daß, wenn ein Abkommen analog Rapallo, ausgehend von den ureigensten Interessen der beiden Staaten [...] erzielt wird [...], so würde

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Vgl. Aktennotiz Denglers (Nationalrat) für Norden, 19. 3. 1962, in: ebenda, IV 2/2028/65, Bl. 93. Schreiben Eislers an Ulbricht, 14. 11. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/66, S. lf. W. Link, Neuanstöße in der Deutschlandpolitik 1961-1973, in: Vierzig Jahre Deutschlandpolitik im internationalen Kräftefeld, hg. von A. Fischer, Köln 1989, S. 34.

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ein solcher Akt einen dauerhaften Frieden in den Beziehungen zwischen unseren Ländern, den Frieden für die Völker Europas und nicht nur Europas herbeiführen. Wir sind überzeugt davon, daß die Weisheit einer solchen Politik den Staatsmännern beider Länder, denjenigen, die eine solche Aktion vollbringen, den Dank vieler Generationen wie deutscher so auch Sowjetmenschen erbringen würde." 157 Bonn ging auf die Offerte nicht ein. Damit schloß das letzte Kapitel eines „Burgfriedens". Jetzt stellte sich die Frage neu, wie sich, wenn eine „sowjetische" Lösung nicht in Sicht war, die innerdeutsche Problematik weiterentwickeln würde. Inwiefern und in welchen Formen konnte Bonn zu begrenzten Abmachungen mit „Pankow" kommen, wenn es sich auch zeigte, daß Ulbricht von Moskau zu einlenkenden Schritten nicht genötigt wurde und die Unterhandlungen über den Gefangenenaustausch zwar eine vage Kontaktmöglichkeit, aber noch längst keine innerdeutsche Gesprächswirklichkeit schufen? Die Bundesregierung, aus einer anderen Interessenlage heraus auch das Politbüro, mußten nach praktikablen Lösungen suchen. Relativ stabil entwickelte sich - sieht man einmal von der Kündigungsepisode im Herbst 1960 ab - der innerdeutsche Handel. An seinen beträchtlichen Vorteilen zeigte die DDR ein großes Interesse. Im übrigen besaß man in der „Treuhandstelle" ein Organ, das eine gewisse Kontinuität repräsentierte und seit langem über die notwendigen Verbindungen zum ostdeutschen Apparat verfugte. So erschien Adenauer eine Kontaktaufnahme über die von Kurt Leopold geleitete Treuhandstelle für den Interzonenhandel am aussichtsreichsten. Hier war die DDR übrigens im März 1962 mit der Bitte u.a. um einen langfristigen Warenkredit vorstellig geworden. 158 Mitte August 1962 informierte Politbüromitglied Matern über die „westdeutschen Bemühungen zur Intensivierung des Handels Westdeutschlands mit der DDR." 159 Das Politbüro hielt es für geraten - offensichtlich hatte Bonn schon die Möglichkeit von politischen Gesprächen in der Treuhandstelle signalisiert -, hier nur „über Wirtschaftsfragen" zu verhandeln. 160 Das entsprach der Linie des Ersten Sekretärs, politische Fragen nur auf einer offiziell-staatlichen Ebene zu behandeln und Ergebnisse in einer völkerrechtlich verbindlichen Form zu fixieren. Im weiteren blieb erkennbar, daß Ulbricht ein Maximum an Leistungen des Westens, vorrangig wirtschaftliche Konzessionen, nur mit einem Minimum an politischen Gegenleistungen zu entgelten gedachte. Zur gleichen Zeit beauftragte Adenauer Kurt Leopold, der DDR politische Verhandlungen anzubieten. Darüber berichtete Ulbricht dem sowjetischen Botschafter Perwuchin am 5. September 1962. Am 23. August 1962 habe Kurt Leopold dem DDR-Vertreter bei den Treuhand-Verhandlungen, dem Abteilungsleiter im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, Heinz Berendt, „außerhalb der Tagesordnung" mitgeteilt „daß sein,höchster Chef (Adenauer) der Meinung ist, daß etwas geschehen müsse, um Zwischenfälle an der Grenze zu vermeiden. Man müsse sich gegenseitig sagen, was auf diesem Gebiet zumutbar sei [...]. Wir haben deshalb Herrn Leopold das anliegende Aide Mémoire [nicht auffindbar - M. L.] übergeben, in dem wir uns zu vertraulichen Kontaktaufnahmen und Besprechungen auf Staatssekretär-Basis bereit er-

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„Text einer Mitteilung für Kroll zur Übermittlung an Adenauer", undat., in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/76, S. 2-4. Beschluß des Politbüros, Anlage zum Protokoll 13/62, 19. 3. 1962, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/820, Bl. 36. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 36/62,14. 8. 1962, in: ebenda, J IV 2/2A/916. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 38/62, 28. 8. 1962, in: ebenda, JIV 2/2A/918.

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klären [...]. Herr Dr. Leopold hat inzwischen noch einmal angefragt über unsere Meinung zu der Anregung von Dr. Adenauer." 161 Ulbricht erwähnte u. a. die Bereitschaft Adenauers, den Swing auf225 Mio. Verrechnungseinheiten zu erhöhen und Renten und Pensionen an Personen in der DDR zu zahlen, die darauf einen Anspruch haben. „Damit hätte die DDR zusätzliche Einnahmen", bemerkte Ulbricht. Im übrigen wünsche Bonn Verwandtenbesuche von Westberlinern im „demokratischen" Sektor „von Zeit zu Zeit", wobei Besuche in umgekehrter Richtung erwünscht, aber nicht Bedingung seien." 162 In der Politbürositzung am 4. September 1962 erging der Beschluß, „Adenauer mitzuteilen, daß die Regierung der DDR zu Besprechungen über Fragen der Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten bereit ist. Die Regierung der DDR ist der Auffassung, daß die Besprechungen auf der Ebene von Staatssekretären gefuhrt werden können". Sie sei des weiteren mit der Erhöhung des Swing im zwischendeutschen Handelsverkehr einverstanden. „Wir sind der Meinung", so formulierte das Politbüro, „daß durch die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten das Mißtrauen vermindert wird, und daß dann gewisse Wünsche Westdeutschlands entgegenkommend geprüft werden können." 1 6 3 Hatte der Kanzler die Verhandlungsebene der Staatssekretäre vorgeschlagen? Die westdeutsche Hauptleistung, die Swing-Erhöhung, stand als solche fest. Auch die Gegenleistung schien klar: die Verhinderung von Grenzzwischenfallen und blutigen Eskalationen an der Mauer. Möglicherweise stand auch die Freilassung von Gefangenen aus der DDR zur Diskussion. Die Verhandlungen fanden statt. Leopold und sein Gesprächspartner, der Hauptabteilungsleiter im DDR-Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, Heinz Behrendt, handelten u. a. den Überziehungskredit aus. Schwierigkeiten habe es gegeben, weil die DDR auf eine staatliche Abmachung, die bundesrepublikanische Seite hingegen auf eine solche nur zwischen den „Währungsgebieten der DM-West und der DM-Ost" bestanden habe. 164 Folgt man dem Bericht des „Spiegel" von Anfang März 1963, so fand man eine Kompromißregelung. Die DDR erhielt ein vorrangig für den Kauf von Maschinen bestimmtes zinsloses Darlehen. Dafür erklärte sie sich bereit, an Westberliner Passierscheine zum Besuch Ostberlins auszugeben und auf den Abschluß eines entsprechenden Abkommens auf Regierungsebene zu verzichten. 165 Es kam aber offensichtlich nicht dazu, weil die DDR in letzter Minute darauf bestand, den stellvertretenden Außenminister der DDR Paul Wandel zur Unterzeichnung zu schicken. Als Bonn darauf nicht einging, habe die DDR-Seite die Vereinbarung nicht unterzeichnet. 166 Verschiedene Indizien weisen darauf hin, daß möglicherweise neben den genannten Verhandlungen interne politische Gespräche stattfanden. So erwähnt ein SED-Dokument aus dem Jahre 1964, daß „Herr Adenauer 1962 seine Vertreter ordentlich legitimiert habe." 167 Wer diese waren und mit welchem Ergebnis sie verhandelten, wenn denn verhandelt wurde, liegt im Dunkeln. Handelte es sich um die ersten, wenngleich vertraulichen Gespräche auf Regierungsebene? Fügt sich die Initiative Adenauers vom August 1962 in den Versuch, den deutschlandpolitischen Prozeß durch Offerten 161 162 163 164 165 166 167

Schreiben Ulbrichts an Botschafter Perwuchin, 5. 9. 1962, in: ebenda, J IV 2/202/111, S. 1. Ebenda. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 39/62, 4. 9. 1962, in: ebenda, J IV 2/2A/919, S. 2f. H. Hartl/W. Marx, Fünfzig Jahre sowjetische Deutschlandpolitik, Boppard 1967, S. 535. Vgl. Der Spiegel, 6. 3. 1963, S. 38. Vgl. Hartl/Marx, a.a.O., S. 536. Bericht H. v. Berg's, 16. 9. 1964, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/202/102, S. 2.

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Deutsche Frage, Wiedervereinigung und die innerdeutschen Beziehungen

an die Sowjetunion - wie durch das Angebot eines zehnjährigen „Burgfriedens" - zu dynamisieren? Eine staats- oder völkerrechtliche Anerkennung der DDR blieb für Adenauer unter den gegebenen Umständen einerseits nur abstrakte Denkmöglichkeit. Andererseits stand nicht zu erwarten, daß der Osten auf Bedingungen eingehen würde, die zur Aufhebung der DDR hätten beitragen können. So nutzte Adenauer seine deutschlandpolitischen Handlungsspielräume - auch gegenüber den eigenen Verbündeten -, um die Möglichkeiten für eine innerdeutsche „Schadensbegrenzung" und für Erleichterungen der Lage der Ostdeutschen, so minimal diese auch ausfallen mochten, zu vergrößern. Es war für ihn deutlich, daß das eigentlich nur über wirtschaftliche Mechanismen möglich war. In der ihm eigenen widersprüchlichen Flexibilität versuchte Adenauer deutschlandpolitisch noch einmal aktiv zu werden. Er nahm aus humanitären Gründen die Divergenz zwischen großen finanziellen Leistungen und minimalen politischen Erleichterungen als notwendigen Preis in Kauf. Als v. Brentano, der den innerdeutschen Handel auch weiterhin als potentielles Druckmittel verstand, ihn des erhöhten Swings wegen im Januar 1963 kritisierte168, betonte er seine unveränderte Position in der Anerkennungsfrage, gab aber auch klar zu verstehen, daß er weiterhin versuchen werde, die Lage der Leute in der DDR zu verbessern und ihnen „zu größerer Freiheit zu verhelfen." Er vertrat die Auffassung, daß die prinzipielle Nichtanerkennung des SED-Regimes einschlösse, daß „wir unsere Auffassungen doch immer wieder überprüfen." 169 Die innerdeutschen Kontakte liefen nach dem Rücktritt Adenauers weiter. Jetzt verstärkte u. a. auch die deutsche Wirtschaft, besonders der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), seine Kontakte in die DDR. Er strebte eine politische Vermittlerrolle an, wollte die Möglichkeit für „sondierende Gespräche mit Dienststellen der DDR" prüfen und zu einer „Aufweichung der verhärteten Fronten" beitragen. Der Verband ließ im Herbst nach Ostberlin übermitteln, daß man zunächst erörtern sollte, „daß zu einem bestimmten Zeitpunkt gewissermaßen als Vorleistung ein noch festzulegender Personenkreis von politischen Gefangenen' in beiden Staaten entlassen werden". Daneben sollten, „wenn Einigkeit über diese Frage erzielt würde", Abmachungen über die Verstärkung des innerdeutschen Handels getroffen und auch über das Kreditersuchen der DDR verhandelt werden. 170 Hier setzt sich der Kurs Adenauers kontinuierlich fort. Im folgenden Jahr zeigten sich erste Ergebnisse in den Abmachungen über einen Häftlingsfreikauf. Aber auch atmosphärisch schien sich einiges zu verändern. Bundesaußenminister Gerhard Schröder ließ über die bewährte Treuhandstelle (unter Vermittlung der sowjetischen Botschaft in Ostberlin) wissen, beide Seiten sollten die „Propagandakampagnen zur Aufpeitschung der Leidenschaften" einstellen. Er unterbreitete interessante politische Ideen. Folgt man dem Gewährsmann aus der Westberliner Treuhandstelle, so überlegte Schröder, ob man die Treuhandstelle möglicherweise in ein von der Bundesrepublik unabhängiges Organ umbilden und in der DDR ein paralleles Gremium schaffen könnte. Schröder beschäftigte auch der Gedanke einer von der SED geforderten KPD-Legalisierung. Man könne dieser vielleicht dann zustimmen, wenn in der DDR eine Oppositionspartei erlaubt werden würde. Nach einer „gewissen Annäherung" sei - so habe Schröder intern geäußert - auch die Bildung einer Konföderation möglich. Die Wiederverei168

Vgl. Schreiben v. Brentanos an Adenauer, 8. 1. 1963, in: BA Koblenz, NL 239/159, Bl. 73. Schreiben Adenauers an v. Brentano, 19. 1. 1963, in: ebenda, Bl. 75. 170 Vertrauliche Aktennotiz, undat. (offensichtlich Nationalrat, Herbst 1963), in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/2028/94. 169

Die internen Kontakte zwischen Politbüro und Bundesregierung

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nigung bliebe aber eine langfristige Aufgabe. „Dafür werden noch Jahrzehnte erforderlich sein." Eine Bedingung für sie sei, daß keine ausländischen Streitkräfte mehr auf deutschem Territorium ständen. 171 Eine Flut von internen Gesprächen hatte eingesetzt, und in Ostberlin begannen Unterhandlungen, u. a. zwischen dem stellvertretenden DDR-Minister für Außenund Innerdeutschen Handel, Gerhard Weiss, einerseits und Hans-Constantin Paulssen, dem Präsidenten (bis 1964) der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) sowie dem Hamburger CDU-Politiker Erik Blumenfeld andererseits über Fragen von Amnestien für politische Gefangene, Häftlingsfreikauf, Maßnahmen an der Mauer, Reisefreizügigkeit u.a.m. 172 Mit dem Ende des akuten Berlinkonflikts wurde eine neue Etappe zwischendeutscher Beziehungen vorsichtig eröffnet und mit dem Ziel der Konfliktbegrenzung, aber noch ohne ein allgemeines Konzept, weitergeführt.

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Information (offensichtlich der sowjetischen Botschaft in Berlin) an Ulbricht, 13. 1. 1964, in: ebenda, J IV 2/202/102, S. 2. Vgl. u.a. Berichte H. v. Bergs, 20. 6. 1964 und 16. 9. 1964, in: ebenda; Niederschrift der Gespräche Weiss-Blumenfeld, in: ebenda, J IV 2/202/99.

Fazit

Der Kalte Krieg als eine besondere Phase des Ost-West-Konflikts erfuhr durch die von der UdSSR ausgelöste zweite Berlinkrise, die im Herbst 1962 kurzzeitig mit dem Kubakonflikt zusammenfiel, einen letzten Höhepunkt. Obwohl die Berlinkrise der Jahre 1958 bis 1963 als internationale Auseinandersetzung auch Momente einer Konfliktbegrenzung, von Gesprächen und Konferenzen einschloß, erhöhte sie die Gefahr einer weltweiten Ost-West-Auseinandersetzung in den Formen des „heißen" Kriegs. Die Offensive um Berlin zielte zweifellos auf eine Positionsverbesserung der UdSSR in Deutschland und Europa zu Lasten des Westens ab, der eine Veränderung der Machtverteilung zugunsten Moskaus aus politischen und strategischen Gründen, aber noch weniger ein Infragestellen der damit verbundenen eigenen Glaubwürdigkeit hinnehmen konnte. Ein Zurückweichen in Berlin hätte eine schwere Erschütterung des westlichen Bündnisses nach sich gezogen. Insofern operierten die Westmächte aus einer Abwehrhaltung heraus im Prinzip defensiv, was zum einen offensive Elemente der Politik einschloß, zum anderen - trotz des vorwiegend abwehrenden Charakters westlicher Maßnahmen - neue Spannungen im Ost-West-Konflikt nicht verhinderte. Die Sowjetunion verfolgte nach 1945 ein Konzept der Sicherung des ihr nach dem Zweiten Weltkrieg zugefallenen politisch-territorialen Besitzstandes. Die Entfesselung der Berlinkrise im Jahre 1958, die auf eine Änderung des Status Westberlins und die Integration der Teilstadt in den sowjetischen Machtbereich abzielte und insofern expansiv war, widersprach dem Moskauer Sicherungs- und Herrschaftssanierungskonzept nur scheinbar. Die Sowjetunion sah sich, um den Zerfall der DDR aufzuhalten bzw. zu verhindern, nicht nur wegen ihrer ostdeutschen Interessenlage gezwungen, eine Berlinlösung herbeizufuhren. Als destabilisierendes Element für Ostdeutschland und das ganze sowjetische Machtimperium lag Westberlin politisch und strategisch nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum östlicher Weltmachtpolitik. Der Besitz Westberlins war für die Sowjetunion nur im Zusammenhang mit dem Erhalt der DDR und damit ihrer westlichen Flanke bedeutsam. Moskau konnte sich aber nach einer entsprechenden Sicherung durchaus die Frage stellen, ob ein alliierter Status, der immer die Möglichkeit bot, in deutsche Entwicklungen zu intervenieren, nicht geeignet sei durch Druck auf Westberlin und „Nadelstiche" - sowjetische Deutschlandinteressen besser zu erfüllen als durch eine faktische Okkupation. Alles in allem fugte sich die Moskauer Berlinoffensive in das Konzept sowjetischer Status quo-Sicherung in Europa. Bei allen militärischen Machtdemonstrationen und ideologischen Voraussagen der „Sieghaftigkeit" des Sozialismus, auch auf deutschem Boden ließ sich - im Gegensatz zum aggressiven

Fazit

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Charakter der Berlinoffensive - die defensive Grundposition des Kommunismus in Deutschland erkennen: Er faßte nicht wirklich Fuß, besaß auch in Ostdeutschland nicht die gewünschte Attraktivität, stieß sogar auf die zumeist hinhaltende Ablehnung der Bevölkerung. Insofern befand sich das kommunistische Lager, sieht man den größeren Zusammenhang nachkriegsgeschichtlicher Entwicklung, tatsächlich in einer allgemeinen Defensivposition. Sie erzeugte - zumindest unterschwellig - Aggressivität. Gegenüber Westberlin handelte die UdSSR - anders als 1948/49 - nach 1958 unter größerem Druck. Ihre Westflanke drohte zu zerfallen. Eine prinzipielle friedensvertragliche Lösung herbeizufuhren, erschien deshalb nicht nur verständlich, sondern auch legitim. Auch der Ärger Chruschtschows und der sowjetischen Führung ist nachvollziehbar, als mit dem „Störfaktor" Westberlin in ihren Augen nicht nur das „Schaufenster DDR" eingeschlagen wurde, sondern sich der Westteil erfolgreich auf dem Weg befand, seinerseits ein solches für den Osten zu werden. Die Westsektoren wurden zu einer vor allem ideologischen Nahtstelle zwischen Ost und West. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten hatten sich nach 1955 zu einem friedlichen Wettbewerb der beiden Systeme auch auf deutschem Boden bekannt. Mit der Berlinkrise begannen sie sich der eigenen Verpflichtung zu entziehen. Die freie Welt empörte weniger, daß die UdSSR versuchte, die Frage Westberlin - ursächlich ein realsozialistisches Problem - zu klären, sondern die Art und Weise, wie sie es zu regeln versuchte. Die Sowjetunion griff auf Druck, Zwang, Erpressung und unbestimmte Drohungen zurück, die schon 1948/49 versagt hatten, als es ihr darum ging, die Gründung der Bundesrepublik zu verhindern. Insofern zeigte sich Moskau weder lernfähig noch zu einer realen Analyse der konkreten Situation fähig. Man spielte auf Zeit, nahm dem Westen nicht ab, daß er eine permanente Belastung durchstehen würde, und glaubte zunächst auch nicht an die Ernsthaftigkeit des internationalen Verteidigungswillens. Hier zeigten sich nicht nur die Überschätzung des eigenen Regimes, der feste Glaube an ideologische Etappensiege und eine kommunistische Endzeit, sondern auch die zweckoptimistische Überbewertung innerwestlicher Widersprüche und Konflikte. Die Unterschätzung westlicher Potenzen schlug sich in Entscheidungssituationen, so etwa bei der Raketenkrise in Kuba, als ein moralischer Vorteil für den Westen nieder. Die Moskauer Führung wandte untaugliche, vor allem risikoreiche politische Mittel an. Sie waren geeignet, einen Prozeß der „heißen" Auseinandersetzung um Berlin auszulösen. Objektiv entspannend wirkte, daß der Westen sah, daß Chruschtschow tatsächlich keinen Krieg wollte, sich sowjetische Drohungen rasch abnutzten und ihr ständiges Wiederholen keineswegs westliche Angstgefühle steigerte. Eine Situation, wie sie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges eingetreten war, als viele Politiker so recht den bewaffneten Konflikt nicht wollten und der Weltenbrand dennoch entfacht wurde, trat nicht ein. Allerdings offenbarte die Berlinpolitik der Sowjetunion ein hohes Maß von gefährlichem Irrationalismus. Die UdSSR beschloß oder duldete Maßnahmen, die aus klar zu erkennenden Gründen in einen Gegensatz zu den eigenen Zielvorstellungen treten mußten. So stand eben nicht zu erwarten, daß der Westen Schikanen im Berlinverkehr mit Kompromißbereitschaft honorieren oder die Ankündigung neuer Sanktionen - etwa in der Frage von Grenzkontrollen - mit Verhandlungsbereitschaft beantworten würde. Schwerer wog die gleichermaßen chronische und akute Konzeptionslosigkeit der sowjetischen Berlinpolitik. Sie äußerte sich folgerichtig in Unentschlossenheit und produzierte Voluntarismus. Ihr Vorgehen machte die Sowjetunion häufig nicht nur für den Westen unberechenbar. Die Konzeptionslosigkeit reflektierte in vielem die subjektive Risikobereitschaft und Ängstlichkeit Nikita Chruschtschows. Der wollte zwar eine sowjetische Positions-

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Fazit

Verbesserung in und um Berlin, ließ sich aber den Ausweg zu Übergangslösungen und Rückzugswege offen. Die tagespolitisch bestimmte Art und Weise der Annäherung Moskaus an die Berlinproblematik führte zu einem politischen Zickzackkurs, von dem auch in der UdSSR offenbar niemand wußte, wohin er denn eigentlich fuhren würde. Im Westen hingegen blieb die Linie klar definiert: Keine Statusveränderung für Berlin, keine Positionsverbesserungen für die Sowjetunion, aber prinzipiell Verhandlungsbereitschaft. In Teilfragen blieben im westlichen Bündnis konzeptionelle Fehler, Kooperationsdefizite und unterschiedliche Auffassungen an der Tagesordnung. Die Interessenlage der DDR unterschied sich von der sowjetischen - trotz der prinzipiellen Übereinstimmung - beträchtlich. Während das Berlinproblem in andere Fragen des OstWest-Konfliktes eingebettet und deshalb für die Weltmacht Sowjetunion lediglich von großer Wichtigkeit war, besaß es für die SED existentielle Bedeutung. Es war für das Bestehen der DDR entscheidend, zunächst relativ unabhängig von der Frage, ob die Problemlösung von der SED als akut oder nur als latent angesehen wurde. Dabei blieb erheblich, daß in der Konfliktphase 1958/59 aus innenpolitischen Gründen der Handlungsbedarf für das SEDRegime schon groß, seit dem zweiten Halbjahr 1960jedoch zwingend war und nur noch in die Richtung einer Radikallösung wirkte: Abschottung der DDR von der Westberliner Teilstadt. Es existierte nur noch eine denkbare Alternative, die immer unwahrscheinlicher wurde: eine Kontrolle der Berliner Westsektoren durch den Osten. Im Unterschied zur sowjetischen Führungsmacht war für die DDR der Berlinkonflikt eng mit der gleichfalls existentiellen Frage der internationalen Aufwertung bzw. völkerrechtlichen Anerkennung verbunden. Im weiteren ließ sich die spezifische Auseinandersetzung für die SED aus historischen und politischen Gründen nur im Rahmen eines deutschen „Sonderkonflikts" führen, den die UdSSR über die DDR im wesentlichen als „Stellvertreterkrieg" führte. Umgekehrt nahm die DDR, die gemessen an den Möglichkeiten der Bundesrepublik über wenige internationale Verbindungen und eine schwache Reputation verfügte, am Konflikt in Berlin weitgehend als „Trittbrettfahrer" der sowjetischen Politik teil. Von Anfang an haftete ihr der „Makel" an, ein willenloser Vasall der Sowjetunion, deshalb aber ein illegitimer, vom Volkswillen nicht getragener deutscher (Nicht-)Staat zu sein. Versuchte sie in der Berlinfrage selbst Initiativen zu entwickeln, traf sie a priori der Vorwurf, nur im Auftrag Moskaus zu handeln. Dennoch entwickelte der ostdeutsche Staat aufgrund seiner Interessenlage spezifische berlinpolitische Aktivitäten. Sie reihten sich in den Gesamtzusammenhang der Krise in und um Berlin als Teil eines Ganzen ein. Eine wichtige Frage, die zu beantworten war, betraf zunächst die spezifischen Handlungsspielräume der SED in und um Berlin. Erstens wurde der berlinpolitische Handlungsrahmen für die SED von den deutschlandpolitischen Interessen der UdSSR und der Intensität des westlichen Einflusses auf die DDR, im besonderen durch die politische Macht der Bundesrepublik, bestimmt. Dabei konnte vor allem in der Zeit der Berlinkrise beobachtet werden, daß die UdSSR und die Bundesrepublik im Spannungsdreieck Moskau-Ostberlin-Bonn Konstellationen bildeten, die eine weitere Determinante der ostdeutschen Politik darstellten. So empfand die SED-Parteiführung das zeitweise heftige sowjetische Werben um die Bundesrepublik als eine Verunsicherung. Beiden deutschen Seiten war ein - zumindest zeitweiliges - Mißtrauen ihren Bündnispartnern gegenüber gemeinsam. Die internationale Situation, besonders die Lage im eigenen Bündnis, bestimmte die Entscheidungsmöglichkeiten für die SED nachhaltig mit. Als im Innern schwacher Staat fiel es der DDR schwer, dem hohen Außendruck wirksam zu begegnen. Zweitens determinierten die instabilen inneren Verhältnisse, die bis August 1961 die Tendenz

Fazit

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eines Zerfalls der SED-Herrschaft verstärkten, den berlinpolitischen Handlungsfreiraum stark. Unter den Bedingungen der akuten Systemkrise des DDR-Sozialismus, die seit Mitte 1960 mit dem Berlinkonflikt korrespondierte, verringerten sich die politischen Möglichkeiten für die SED in Berlin. Vor allem wirtschaftlich geriet die DDR in Schwierigkeiten, die die weitere ökonomische Abhängigkeit von der UdSSR in eine noch stärkere politische Bindung an diese umschlagen ließen. Die akute (berlinpolitische) Entscheidungssituation fiel für die SED/DDR mit dem Moment ihrer größten inneren Schwäche zusammen. Diese schlug sich partiell und zeitweilig auch als politischer Einfluß auf Moskau nieder. Sie erhielt politische Relevanz, als die DDR zusammenzubrechen drohte und Ulbricht die KPdSU zum Mauerbau und zu wirtschaftlichen Hilfeleistungen nötigte. Schwäche konnte aber nur in akuten Krisenbzw. Ausnahmesituationen in politischen Druck der SED auf die Sowjetunion verwandelt werden. Betrachtet man die Entwicklung der DDR insgesamt, - und hier macht die Zeit der Berlinkrise keine Ausnahme -, so kommt man an der Erkenntnis nicht vorbei, daß fehlende Eigenständigkeit und mangelnde Handlungsspielräume - ein Defizit an „Stärke" nicht instrumentalisierte „Schwäche" - die gesamte Politik Moskaus gegenüber Ostberlin und konkrete Entscheidungen bestimmten und die Sowjetunion veranlaßten, verschiedene Ansprüche und Wünsche der SED zu ignorieren bzw. zurückzuweisen. Wenngleich die akute Schwäche der DDR besonders nach Mitte 1960 den Handlungsspielraum der DDR einengte, hielten auch in der Berlinkrise Gegenwirkungen an. Zum einen stärkte die Entwicklung der DDR zum Juniorpartner der UdSSR und ihre politisch-ideologische Aufwertung im eigenen Block nicht nur die Selbstsicherheit der DDR - zumindest in den „guten" ökonomischen Jahren 1957 bis 1959 -, sondern bot auch neue Chancen für eine eigene politische Rolle. Diese Möglichkeiten resultierten nicht nur aus der zeitweilig verbesserten wirtschaftlichen Situation des Landes und aus dem Konzept Chruschtschows, die DDR zum „Schaufenster" des Ostens für den Westen auszubauen. Die „Überlegenheit" des Ostblocks sollte am exponierten Teil nachgewiesen werden. Auch aus politisch-ideologischen Gründen schienen sich neue Möglichkeiten für die SED zu ergeben. Die DDR profilierte sich in der sozialistischen Welt zum marxistisch-leninistischen Musterknaben. Das bekamen nicht nur Polen und Ungarn, sondern auch China zu spüren. Freilich gedachte die SED-Führung aus ihren ideologischen Angriffen - vor allem gegen Peking - Vorteile zu ziehen, die sich bei der Bildung von Handlungsspielräumen niederschlagen sollten. Bedingt positive Ergebnisse zeitigte auch die Praxis der Sowjetunion, die DDR in die sozialistische außenpolitische Arbeitsteilung gerade dort einzubeziehen, wo sie selber nicht aktiv oder ausreichend präsent sein konnte. An einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR besaß die UdSSR auch deshalb ein Interesse. Die KPdSU, die eine Sanierung ihres gesamten Herrschaftsbereichs anstrebte, wünschte besonders eine wirtschaftliche Stabilisierung der DDR. Es ist kein purer Zufall, daß mit dem Ende der Berlinkrise - der Beginn des NÖS im späten Frühjahr 1963 setzt hier eine wichtige Zäsur 1 - ein ökonomischer Aufschwung einsetzte. Er kam jedoch zu spät, um auf die abflauende Berlinkrise noch Einfluß nehmen zu können. Standen zunächst die berlinpolitischen Handlungsspielräume für die SED im Mittelpunkt, so war die Frage zu klären, welche Folgen die Berlinkrise für die Entwicklung allgemeiner Handlungsspielräume für die DDR zeitigte. Das betraf zuvorderst die Freiräume der SED gegenüber der Sowjetunion, deren Evolution nach 1955 die Tendenz einer Vergrößerung aufgewiesen hatten. Sie brach ab, als die innere Krise der DDR die SED zwang, sich ab 1960 1

Vgl. H. Weber, Die DDR 1949-1990, München 1993, S. 61.

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Fazit

vor allem ökonomisch noch stärker an die UdSSR zu binden. Parallel zu dieser Tendenz verlief der Prozeß der relativen Aufwertung der DDR im übrigen Ostblock weiter. Er trug aber als „Tendenz in der Tendenz" bzw. als systemimmanente Gegentendenz in der Berlinkrise wenig zu einem Abbau der sowjetischen Kuratel über die DDR bei. Wenngleich auch auf internationalem Gebiet eine schwache Gegentendenz auszumachen war, die u. a. durch die intensive, von Moskau gestützte Anerkennungspolitik nach 1955 erzeugt wurde, trug die Berlinkrise zur Minimierung von außenpolitischen Möglichkeiten für die DDR auch in der nichtkommunistischen Welt bei. Die Anziehungskraft und der Einfluß der Bundesrepublik stiegen weiter an. Sie wirkten sowohl international als vor allem auch auf die Bevölkerung der DDR, über deren Verhalten das Politbüro westliche Beeinflussung in erster Linie wahrnahm. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR gegenüber dem deutschen Nachbarstaat wurde durch die 1960 einsetzenden ökonomischen Turbulenzen der DDR deutlich vergrößert. Die Mauer entschärfte diese für die SED negative Entwicklung, beseitigte sie aber nicht. So leiteten sich die verschlechterten Bedingungen für die Entwicklung von Handlungsspielräumen für die SED wesentlich aus der Spezifik des innerdeutschen Verhältnisses und aus den relativ plötzlichen Veränderungen im Verhältnis zur UdSSR her. Diese generelle Tendenz erfaßte nicht nur die Außenpolitik, sondern auch die Verhältnisse in der DDR. Die verringerte Abwehrkraft des diktatorischen Systems forderte die „Infiltration" der DDR durch demokratische Wertvorstellungen und westliches politisches Gedankengut. Aber auch die sowjetische Penetration der DDR-Gesellschaft und eine - wenngleich modifizierte und in ihren Formen subtilere - Sowjetisierung von Teilbereichen setzte sich während und infolge der Berlinkrise fort. Sowjetische Regierungs- und Verwaltungsmodelle, so noch Mitte 1963 die Leitung der „Massenarbeit" in den Kreisen nach dem „Rayonsprinzip"2, wurden weiter übertragen. Ungleiche Wirtschaftsverträge benachteiligten die DDR und zwangen sie zu Termintreue und Qualitätsfertigung3, während sich die UdSSR gerade hier Freiräume schuf. Die UdSSR beeinflußte die Westarbeit der SED weiter. Dabei ist nicht zu übersehen, daß ein vorauseilender Gehorsam und spezielle Wünsche der SED sie dazu aufforderten. 4 In der Berlin- und Deutschlandpolitik, die einen Sonderraum der Außenpolitik darstellte, geschah nichts ohne das prinzipielle Einverständnis der UdSSR.5 Freilich benötigte die SED ihre Leitmacht, um sich in der internationalen Politik, nach 1959 vor allem im Bereich der UNO, allmählich etablieren zu können. 6 Alles in allem trug die Berlinkrise deutlich zu einem zeitweiligen Abbau von Handlungsspielräumen für die SED bei. Es bestätigte sich aber auch, daß die Beziehung der DDR zur Sowjetunion im ganzen kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis war. Die Abhängigkeit war beiderseitig gegeben. Sie trat zwar für beide Staaten nicht gleich stark und nicht gleichmäßig zutage, kennzeichnete aber auch die Beziehung Moskaus zu Ostberlin. Vor allem auf dem Gebiet praktischer Deutschlandpolitik - das zeigte sich am Beispiel der Berlinkrise deutlich - benötigte die UdSSR die DDR vor allem, aber nicht nur, als ausführendes Organ. Sowjetische Politik in Deutschland ließ sich ohne das Medium SED weder in der DDR vermitteln noch in die Bundesrepublik transportieren und dort propagieren. So blieb die KPdSU auf die Westarbeit der Einheitspartei als eine besondere 2 3

4 5 6

Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 19/63, 18. 6. 1963, in: ebenda, JIV 2/2/883, Bl. 3. Vgl. ZK-Hausmitteilung, Abt. Handel und Versorgung an Ulbricht, 18. 5. 1960, in: ebenda, J IV 2/202/40. Vgl. Vorschläge der Westkommission (Rentmeister) 31. 1. 1961, in: ebenda, IV 2/1002/8. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 13/62, 13. 3. 1962, in: ebenda, J IV 2/2/820, Bl. 1. Vgl. Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow, 8. 12. 1958, in: ebenda, J IV 2/202/184, Bd. 1, S. lf.

Fazit

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Dienstleistungsform angewiesen. Diese Art von Hilfe implizierte ein gewisses Maß von operativer Selbständigkeit der SED und von spezifischer Handlungsfreiheit. Sie setzte partnerschaftliche Zusammenarbeit in einem bestimmten Umfang voraus und zog erweiterte kooperative Möglichkeiten nach sich. Die Berlinkrise vergrößerte die politische Interdependenz. Gleichzeitig erhöhte sich - wie schon geschildert - 1960 bis 1963 insbesondere die wirtschaftliche Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion. Diese krisenbedingte Steigerung war einseitig. Sie störte die Kontinuität bisheriger sowjetisch-ostdeutscher Beziehungen durch das relativ plötzliche Entstehen neuer Ungleichgewichte. Die Berlinkrise wies einerseits auf das Typische der Korrelation zwischen der UdSSR und der DDR nach 1949 hin: auf die Existenz und die Ungleichheit gegenseitiger Abhängigkeit. Sie stellte andererseits einen Sonderfall der Beziehung dar, eine Ausnahme, die sich zwar in den beziehungspolitischen Gesamtzusammenhang einordnete, aber nicht typisch war für die Art und Weise und das Tempo der Entwicklung gegenseitiger Abhängigkeit. Gerade im politischen Bereich bleibt die Bezeichnung Abhängigkeit für das Verhältnis der DDR zur UdSSR unscharf. Demgegenüber treffen Begriffe wie Vasallität, Unterordnung und Kuratel das asymmetrische Verhältnis zu Moskau auch in der Zeit des Berlinkonflikts besser. Bei der Kennzeichnung der Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR in ihrer Gesamtheit scheinen Begriffe wie gegenseitige Abhängigkeit bzw. Interdependenz, aber auch Interessenclearing, den Erkenntnisprozeß weiterzuführen. In der Berlinkrise zeigte sich besonders, daß die UdSSR, die Ostberlin eindeutig unter vormundschaftlicher Kontrolle hielt, für die SED nicht nur der Hauptverbündete, sondern die Garantiemacht war, ohne die sich allgemeine macht- und sicherheitspolitische, aber auch ostdeutsche Sonderinteressen nicht durchsetzen ließen. So erschien es unmöglich, die Stabilisierung der SED und die völkerrechtliche Anerkennung der DDR sowie berlinpolitische Ziele ohne die Sowjetunion auch nur in Angriff nehmen zu wollen. Allgemein befand sich die SED in der Schwerkraft eines sowjetisch geführten Bündnisses, dessen ungleiche Bestandteile zwar zeitweilig in einen Widerspruch zur Dynamik der DDR gerieten, von dem aber - auch zugunsten der SED disziplinierende, ausgleichende und stabilisierende Wirkungen ausgingen. In der deutschen Frage hielt die SED auch während des Berlinkonflikts am Postulat der deutschen Wiedervereinigung öffentlich fest, während sie dieses Ziel faktisch längst aufgegeben hatte. Ein ideologisches, irrationales Langzeitprogramm ersetzte die bis Anfang der fünfziger Jahre einflußreiche Kurzzeitvorstellung, man könne über die Bildung einer gesamt deutschen Volksfront unter Führung der Arbeiterklasse das Modell DDR auf ganz Deutschland übertragen. Pläne und Vorschläge, wie das aufwendig propagierte Konföderationsprojekt waren in der Art ernst gemeint, als man sich von ihnen propagandistische und politische Positionsvorteile in der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden versprach. Sie besaßen aber keine Substanz in Hinsicht auf eine Wiederherstellung der deutschen Einheit. Die SED verfocht in der Berlinkrise die sowjetische Zweitstaaten-Theorie, allgemeinster Ausdruck des Verzichts auf eine für den Osten risikoreiche Wiedervereinigung, weitgehend unmodifiziert. Nach wie vor standen sich in beiden Teilen Deutschlands die Maximalforderungen gegenüber. Die Bundesregierung, die prinzipiell an der deutschen Einheit festhielt, verzichtete nicht auf die Forderung nach freien Wahlen, bestand aber seit 1958/59 nicht mehr darauf, sie an die erste Stelle von Schritten zur Wiedervereinigung zu setzen. Die SED vertrat den Primat des Friedensvertrags vor allen anderen innerdeutschen und internationalen Maßnahmen und lehnte freie Wahlen ab. Sie gedachte, gesamtdeutsche Gespräche soweit zu führen, wie diese zur Aufwertung und Anerkennung ihres Staates und zum Abbau bundesrepublikanischen Drucks beitragen konnten. Die Position der SED zu Berlin und zu einem Friedensvertrag leitete sich von dem übergrei-

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Fazit

fenden Interesse der SED ab, durch ihre Außenpolitik zur Konsolidierung und Stärkung der DDR als selbständigen Staat beizutragen. In der Auseinandersetzung um Westberlin verfocht sie zwei zusammenhängende Ziele: Erstens wollte die SED Westberlin in seiner Eigenschaft als Störfaktor, vor allem als „Fluchttor" zum Westen, beseitigen. Zweitens beabsichtigte sie, die Hoheit über Westberlin zu erlangen und damit zur Erweiterung der Souveränität der DDR und zu ihrer völkerrechtlichen Anerkennung beizutragen. Es ist bekannt, daß die Diktatur der SED durch Westberlin objektiv bedroht wurde. Es sollte weiter untersucht werden, inwiefern - über die Funktion eines Refugiums und eines Magneten für unzufriedene Ostdeutsche hinausgehend - Westberlin von der Parteiführung tatsächlich als Bedrohung und als Gefahrenherd für den Weltfrieden gesehen wurde. Wo entstanden auch außerhalb des Untersuchungszeitraums wirkliche, vielleicht sehr irrationale Ängste, und was gab man aus legitimatorischen und taktischen Gründen als in Westberlin entstehende oder geschürte Gefahr aus? Beide obengenannten Berlinziele kann man durchaus als zwei Etappen einer einheitlichen Aufgabenstellung betrachten. Zu Beginn der Krise, 1958/59, konnte das Problem nach Auffassung des Politbüros auf einen Schlag gelöst werden: Ein Friedensvertrag als Besiegelung der Souveränität und Anerkennung der DDR machte das drängende Fluchtproblem obsolet. Seit dem zweiten Halbjahr 1960 - nicht zufällig parallel zum Beginn der umfassenden inneren Systemkrise in der DDR - geriet, wenngleich das Endziel nicht aus den Augen verloren wurde, die Regelung des Problems Westberlin als Ziel der Fluchtbewegung zur aktuellen Aufgabe. Man kann sie bis zur Grenzschließung als Hauptsache betrachten. Zwischen 1959 und dem ersten Halbjahr 1961 zeigte sich augenscheinlich, daß die Ziele der SED-Führung von der internationalen Entwicklung nicht nur inhaltlich ad absurdum gefuhrt wurden, sondern auch zeitlich befristete Überlegungen und konzipierte Etappenplanungen ständig revidiert wurden. Nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 erhielt wieder der Abschluß eines Friedensvertrags, der von der SED - im Unterschied zur KPdSU - ganz einseitig als Separatabkommen mit der DDR gedacht wurde, im Rahmen des Berlinkonflikts den Charakter des Hauptziels. Es blieb die Frage zu klären, welche Vorstellungen der SED über eine Westberlinregelung als maximal und welche als minimal zu charakterisieren sind. Das Maximalprogramm der SED-Führung enthielt das Ziel, die Hoheit der DDR über Westberlin zu erlangen. Es basierte auf der weitgehend als realistisch beurteilten Annahme, daß die UdSSR - käme ein gesamtdeutscher Friedensvertrag nicht zustande - ihre alliierten Rechte in und um Berlin auf die DDR überträgt. Das entsprechende Versprechen Chruschtschows und der KPdSU erhielt für die SED nicht nur die Qualität einer Berliner Endzeitverheißung, sondern wurde sofort zum tagespolitischen Programm erhoben. Bereits im Umfeld der Genfer Außenministerkonferenz, als Chruschtschow sein Ultimatum vom November 1958 bereits zurückgenommen hatte, kam auch die SED-Führung zu dem Schluß, daß eine Veränderung des alliierten Status quo in Westberlin und auf den Zufahrtswegen nicht abrupt, sondern nur schrittweise erfolgen könne. Diese - wie es sich zeigte - inkonsequent umgesetzte Erkenntnis reflektierte keineswegs Kompromißbereitschaft. Sie war einerseits Ausdruck der sich verändernden sowjetischen Berlinpolitik. Andererseits äußerte sich in ihr das Bemühen Ulbrichts, das Maximalziel über Zickzackwege zu erreichen, ohne substantielle Abstriche am Konzept machen zu müssen. So wurde das Ziel nicht zurückgenommen. Es erfolgten lediglich ansatzweise Modifizierungen der Methoden und Wege. Weder ein gesamtdeutscher Friedensvertrag noch das Modell einer Freien entmilitarisierten Stadt Westberlin stellten optimale Ziele der SED-Führung dar. Ulbricht glaubte - wie dargestellt wurde offensichtlich nicht an die Umsetzung dieser sowjetischen Vorschläge. Sie hätten außerdem

Fazit

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weitgehende, von der DDR nicht gewünschte Kompromisse vorausgesetzt und Risiken für die SED nicht beseitigt: Ein Friedensvertrag mit ganz Deutschland schloß Zugeständnisse an die Bundesrepublik, die Möglichkeit einer demokratischen Wiedervereinigung und ein Ende der DDR ebensowenig aus wie eine Freie Stadt die Fluchtbewegung von Ost nach West. Ebensowenig garantierte ein Abkommen über eine Freie Stadt die Beteiligung der DDR an der Verwaltung der Zufahrtswege. Gesamtdeutscher Friedensvertrag und Freie Stadt, die also weder ein Optimum internationaler Anerkennung noch an innerer Stabilisierung in der DDR mit sich gebracht hätten, stellten als Varianten einer Westberlinregelung für die DDR-Führung - vor allem vor dem Mauerbau - dennoch einen Fortschritt dar. Einige Politbüromitglieder empfanden sie möglicherweise als das geringere Übel. Diese Formen einer potentiellen Lösung mußten jedoch in einen Widerspruch zum Maximalziel der SED treten, die Hoheitsrechte über den Westteil der Stadt und über ihre Zufahrtswege zu erlangen. Von Beginn des Konflikts an favorisierten Ulbricht und der engere Kreis der SED-Parteiführung deshalb die Lösung des separaten Friedensvertrags der Sowjetunion (und aller beitrittswilligen Staaten) mit der DDR. Er implizierte die volle Übertragung der Rechte der Sowjetunion, die dieser in der Folge des Zweiten Weltkrieges in Deutschland entstanden waren, auf die DDR. Allen anderen Regelungsversuchen, Übergangsverträgen, einer weitgehenden internationalen Kontrolle Berlins und seiner Zufahrtswege sowie entsprechenden UNO-Behörden stimmte die SED nur in dem Maße zu, wie sie von Moskau dazu gedrängt wurde. Auffallig war, daß sie, wenn Projekte scheiterten, nicht nach neuen Lösungen suchte, die nur über Kompromisse erreicht werden konnten, sondern immer wieder zum als „Notwendigkeit" propagierten maximalistischen Separatvertrag zurückkehrte. Dieser bedeutete für die UdSSR faktisch keinen deutschlandpolitischen Gewinn. Zum einen garantierte ein separates Abkommen mit der DDR den mitteleuropäischen Besitzstand der Sowjetunion nicht. Es widersprach sogar ihrer Sicherungs- und Konsolidierungsstrategie, wenn sie die DDR durch einen Akt zu sichern versuchte, den der Westen ablehnte und sich gleichzeitig weigerte, den Status quo in Europa und Deutschland vertraglich zu sanktionieren. Ein Kurs auf die Ziele der SED drohte zum anderen die Lage in und um Berlin zu verschärfen, ließ das Risiko eines bewaffneten Konflikts in greifbare Nähe rücken. Die Ankündigung, der DDR sämtliche Deutschlandrechte der UdSSR zu übertragen, besaß insofern politischen Hintergrund, als Chruschtschow beabsichtigte, mit ihr die USA, England und Frankreich zu einer Aufgabe ihrer Berliner Sektoren veranlassen zu können. Als das Gegenteil eintrat und sich der Westen in der Berliner Krise zum Schulterschluß formierte, sah Chruschtschow seine Mittel ausgeschöpft. Er zog sich von plakativen Maximalforderungen zurück. Den Rubikon der three essentials nicht überschreitend, fuhr Chruschtschow zwar in der ihm eigenen Unberechenbarkeit fort, gelegentlich zu drohen. Das Konzept eines separaten Friedensvertrags begann jedoch die Atmosphäre der beginnenden globalen Entspannung zu stören. Da ein gesamtdeutscher Friedensvertrag aufgrund der unvereinbaren ost-westlichen Interessenlage kaum mehr aussichtsvoll erschien, gab sich die UdSSR, die Übergangs- und Kompromißlösungen zu Berlin und den Zufahrtswegen nur noch mit halber Kraft betreibend, mit dem alliierten Status quo plus (die Abwendung eines Zerfalls der DDR) zufrieden. Anders die SED. Sie wich von ihren prinzipiellen maximalistischen Forderungen aus eigenem Antrieb nicht ab. Die wichtigste Methode ihrer Berlinpolitik blieb, die Äußerungen der Repräsentanten der Sowjetunion wörtlich und Chruschtschow dann beim Wort zu nehmen. Sowjetische Versprechungen und Verheißungen bildeten demonstrative Hand-

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lungsgrundlage der SED. Ulbricht, eine „Mischung von starrdogmatischer Haltung und flexibler Anpassung" 7 , der seine sowjetischen Genossen und ihre gewaltigen politisch-moralischen Ansprüche kannte, gab zu verstehen, daß die Partei und das Volk der DDR keinen Anlaß hätten, den Worten der „fuhrenden Genossen" im Kreml zu mißtrauen. In dem Maße, wie er öffentlich Chruschtschow, dessen Politik und dessen Glauben an den Sieg des Kommunismus pries und das große Vertrauen aller friedliebenden Menschen in den sowjetischen Berlinkurs unterstrich, hoffte er, den so Gelobten auf seiner mit starken Worten verkündeten konfrontativen Berlinlinie halten zu können. Ulbricht wußte zweifellos, daß die Übertragung alliierter Rechte an die DDR über den Mechanismus eines separaten Friedensvertrags risikoreich und gefahrlich war. So wußte er u. a. aus zuverlässigen sowjetischen Quellen, daß der Westen bereit war, notfalls mit Waffengewalt dem Versuch einer Veränderung des Status quo bzw. einer schwerwiegenden Verletzung der three essentials zu begegnen. So pokerte er hoch, wenn er und die übrigen Parteiführer die KPdSU immer wieder zu riskanten Aktionen drängte. Sicherlich waren - was nichts entschuldigt - Fehlanalysen der politischen Situation und eine gröbliche Überschätzung der eigenen Kraft einflußreich. Ideologische Lehrsätze, „transzendente" Erwartungen, der Glaube an den Sieg des Sozialismus und an die Kraft der vorgeblich schier pausenlos missionierenden Arbeiterklasse und der mächtigen Sowjetunion trugen zu falschen Lagebeurteilungen und unrealen Perspektiven ebenso bei wie die dem „Weltimperialismus" unterstellte Schwäche und die Erwartung der großen Krise im Westen. Erfolge der UdSSR nährten illusionäre Hoffnungen. So trat auch im Denken des Altstalinisten Ulbricht, dessen Bildung und analytischen Fähigkeiten im Gegensatz zu seinem politischen Ehrgeiz durchaus begrenzt schienen, Unverständnis für die seines Erachtens zu vorsichtige Haltung Moskaus zutage. Zum einen übersah Ulbricht nicht in jeder Hinsicht, daß die Weltmacht UdSSR andere Verpflichtungen besaß als die DDR oder auch die Bundesrepublik. Für die Sowjetunion, die in Kuba zu wirken begann, sich z. B. in Südostasien und Nordafrika engagierte, und die sich nun mit den chinesischen Querelen konfrontiert sah, konnte Westberlin nur zeitweilig eine erstrangige Rolle spielen. Als Leitmacht des sozialistischen Lagers übernahm sie nicht nur weitreichende internationale Verpflichtungen, die Moskau daran erinnerten, daß ihr Staat zwar militärisch und politisch auf dem Weg zur Supermacht war, in wirtschaftlicher Hinsicht aber fragil blieb. Chruschtschow erkannte mehr als Ulbricht, daß sich für die Sowjetunion eine Niederlage in Berlin auf andere Prestigefragen auswirken könnte. Zum anderen unterschätze Ulbricht Potenzen und Geschlossenheit der westlichen Demokratien, insbesondere die Verteidigungsfähigkeit der NATO. Insgesamt hörten Ulbricht und die Parteiführung nicht auf, „Störenfriede" der Berliner Entwicklung zu sein. Die „Initiativen" der SED hielten bis zum Ende der Berlinkrise zwar nicht pausenlos, aber kontinuierlich an. Die größeren und kleineren Schritte zur Überwindung bzw. Beeinträchtigung des alliierten Berlinstatus bildeten ihre Konstanten. Taktische Auflockerungen und flankierende Maßnahmen, manchmal auch Ansätze für einen kooperativen Umgang mit dem Westen - z. B. ostdeutsche „Gottesfriedens"idee und Passierscheinverhandlungen - stellten Variablen dar. Antiwestliche provokative Maßnahmen der SED und ihre Kampagnen gegen Bonn forderten nicht nur den Westen heraus. Sie waren auch darauf angelegt, die Sowjetunion zu neuen Offensiven in der Berlinpolitik zu drängen. Chruschtschow und die Führung 7

Vgl. Weber, H., Aufbau und Fall einer Diktatur. Kritische Beiträge zur Geschichte der DDR, Köln 1991, S. 127.

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der UdSSR und der KPdSU bremsten ostdeutsche provokante Aktionen ab. Immer wieder versuchten sie von Moskau oder von ihren Ostberliner Stellen aus, die SED zu mäßigen. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR - soweit bekannt ist - unternahm die ostdeutsche Führung mit dem Ziel, die UdSSR unter Zugzwang zu setzen, eigenmächtige Schritte. Mit ihren „Initiativen" erinnerte die SED die UdSSR nicht nur an deren Versprechen, die Hoheitsrecht der DDR zu erweitern. Sie wollte sich auch der Welt als souverän handelndes Völkerrechtssubjekt darstellen. Es zeigte sich ein signifikanter methodischer Konflikt zwischen der sowjetischen und der ostdeutschen Führung. Dabei spielte auch die Botschaft der UdSSR und die sowjetischen militärischen Organe in der DDR eine Rolle. Da ihnen der Verkehr mit den westalliierten Vertretungen und Garnisonen in Berlin oblag und sie auf ein Mindestmaß an erträglichen Beziehungen zu ihren westlichen Kollegen abzielten, hatten sie ein besonderes Interesse an einer Mäßigung der offensiven SED-Politik. Die Differenzen zwischen der KPdSU und der SED weisen auf das gewachsene Selbstbewußtsein der ostdeutschen Parteispitze hin. Die relative Aufwertung der DDR vor allem im sozialistischen Bündnissystem nach 1957 und das Bewußtsein eigener Kraft führten zu dem Umstand, daß ihre Führung eigene Interessen artikulierte und Differenzen mit der UdSSR riskierte, was vorher so nicht der Fall gewesen war. Erst ein bestimmter um 1960 erreichter Stand der der SED von der Sowjetunion gewährten bzw. von ihr erworbenen Handlungsspielräume ermöglichten den Konflikt. Die SED wollte die östlichen „Trümpfe" ausreizen. Sie riskierte einen bewaffneten Konflikt, ohne ihn zu wollen. Die Politik zugespitzter Konfrontation wurde vor allem deshalb gefährlich, weil auch die SED-Parteiführung nicht wußte, wie hoch die Schwelle zum Einsatz von Waffen wirklich lag und ob und unter welchen Bedingungen eine möglicherweise als begrenzter bewaffneter Zwischenfall in Berlin geführte Auseinandersetzung eskalieren und sich ausbreiten könnte. Offensichtlich nahm das Politbüro ein solches Risiko in der falschen Gewißheit in Kauf, daß der Westen entweder auf dem Verhandlungswege einlenken oder im Falle einseitiger östlicher Maßnahmen der Warschauer Pakt in der Lage sein würde, einen bewaffneten Konflikt durch die Demonstration militärischer Macht zu verhindern. Zu sowjetisch-ostdeutschen Meinungsverschiedenheiten trug bei, daß die Berlinpolitik Chruschtschows konzeptionslos, voluntaristisch und unentschlossen war, die SED hingegen über ein klares Maximalkonzept verfügte. Während sie preußisch-forsch und fordernd das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand ließ, wartete die UdSSR - sie hatte mehr Zeit als die unmittelbar vom Konflikt betroffene DDR - westliche Reaktionen ab. Der Dissens war weder inszeniert noch Ausdruck einer Arbeitsteilung. Er reflektierte, daß die UdSSR zu keinem Zeitpunkt wirklich bereit war, ihre nicht nur deutschland-, sondern auch europapolitisch relevanten Berlinrechte an die SED abzugeben. Eine Übertragung widersprach ihrem konservativen poststalinistischen Machtkonzept. Elemente des Konflikts mit der UdSSR und den anderen Bündnispartnern enthielt auch die gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen gerichtete Politik der „Störfreimachung". Dieser Kurs besaß zutiefst politischen Charakter. Er war darauf berechnet, eine noch schärfere Gangart, vor allem eine konsequentere Abgrenzungspolitik gegenüber Bonn einzuschlagen, wenn sich vor allem ökonomische Zwänge abschwächten. „Störfreimachung" stellte nichts anderes dar als Isolierung vom Weltmarkt und Ausrichtung auf die Bedürfnisse der UdSSR. Angesichts der internationalen Interdependenz, der Arbeitsteilung und der hochgradigen Spezialisierung blieb „Störfreimachung" ein anachronistiches Wirtschaftskonzept. Überdies stießen die Lieferwünsche der DDR sehr schnell an die Grenzen der wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten im Ostblock. Der Dauerwiderspruch im östlichen Bündnissystem entstand durch den nicht zu

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beseitigenden Umstand, daß die SED möglichst viel in hoher Qualität aus den RGW-Staaten zu importieren wünschte, diese aber nur zu Minimallieferungen bereit und fähig waren. Für den „sozialistischen Internationalismus" und für seine marxistisch-leninistische Theorie geriet die Berlinkrise zur „Stunde der Wahrheit". Nationale Interessen, eigenstaatliche Egoismen und das Unverständnis der eigenen Bevölkerungen, die nicht einsahen, für die sozial bessergestellten Bürger der DDR Opfer bringen zu müssen, trugen zum weitgehenden Desinteresse der Partei- und Staatsführungen im Warschauer Pakt und im RGW an einer „brüderlichen" Hilfe bei. Die Berlinkrise ließ „internationalistische" Schlagworte noch stärker zu Phrasen erstarren. Es war eben nicht nur der wirtschaftlichen Schwäche der sozialistischen Staaten geschuldet, wenn wirksame Unterstützung in einer schwierigen Lage weitgehend ausblieb. Es fehlte ein echter soldarischer Wille. So reduzierte sich der „sozialistische Internationalismus" wirtschaftlicher Art auf unwesentliche kurzfristige Zusatzlieferungen, die freilich von der DDR entgolten werden mußten. Aber nicht das war das Problem. Umfangreichere Zusatzlieferungen, vor allem von Rohstoffen, hätten der DDR, die über vergleichsweise große Industriekapazitäten verfügte, geholfen, ihre Produktion zu sichern. Die sozialistischen Partner zogen es jedoch - verständlicherweise - vor, ihre Rohstoffe selbst zu verarbeiten oder sie gewinnbringender, z.T. im westlichen Ausland, zu verkaufen. Am Beispiel der Berlinkrise läßt sich aber auch erkennen, daß die UdSSR nicht willens und in der Lage war, einen solchen Druck auf die übrigen Satellitenstaaten auszuüben, der umfangreiche zusätzliche Lieferungen an die DDR in Gang gebracht hätte. So wurde die Krisensituation auch in dieser Beziehung zum Kriterium für die Qualität des Bündnisses. Die UdSSR vollführte einen Balanceakt, wenn sie hier zugunsten der SED insistierte und gleichzeitig eine Verärgerung ihrer übrigen Satellitenstaaten zu verhindern suchte. Der Idealfall - Vorzugsbedingungen im Warenverkehr mit der Bundesrepublik ohne jegliche politische Konditionen und gleichzeitig verstärkte Rohstofflieferungen aus dem Osten zu erreichen - blieb für die SED eine Wunschgröße. Offensichtlich provozierte Ulbricht den Abbruch des innerdeutschen Handels, um das sozialistische Lager zu kontinuierlichen Dauerlösungen zu nötigen. Dies erhöhte zwar zumindest tendenziell die sowjetischen Einwirkungsmöglichkeiten, hätte aber den politischen Handlungsspielraum der DDR gegenüber der Bundesrepublik vergrößert. Nach dem Mauerbau rechnete das Politbüro mit einer erneuten Bonner Kündigung, die ihr wahrscheinlich entgegengekommen wäre, weil die Reserven für diesen „Ernstfall", die in der UdSSR gebildet wurden, erst dann für die DDR mobilisiert worden wären, wenn die Bundesrepublik den innerdeutschen Handel tatsächlich eingestellt hätte. In der Zeit der Berlinkrise entwickelten sich wirtschaftliche und politische Potenzen der DDR und der Souveränitätsbedarf der SED im wesentlichen umgekehrt proportional. Das trug - zumindest unterschwellig - zu der latenten bis offenen Aggressivität ihrer Berlinpolitik bei. Während ihre außenpolitische Grunddisposition wegen der inneren Verhältnisse und der weitgehenden außenpolitischen Isolierung eher defensiv war, entwickelte ihr deutschlandpolitischer Aktionismus hochstalinistische Züge und die Mentalität eines Kalten Kriegs. Überzeichnete Feindbilder, undifferenzierte Angriffe auf die Bundesrepublik und die ständigen Versuche Ulbrichts und seiner Genossen, die potentiellen westlichen Verhandlungspartner zu verteufeln, weisen daraufhin, daß die konfrontative Politik der SED noch an stalinistischen Formen festhielt, als die Sowjetunion bereits daran ging, nach subtileren Methoden in der Systemauseinandersetzung und Entspannungsmechanismen zu suchen. So vertiefte sich der in der Öffentlichkeit beobachtete Widerspruch zwischen der täglich unterstrichenen Friedensliebe der SED, Abrüstungsinitiativen sowie ihren Appellen, vernünftig zu verhandeln,

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und ihrem praktizierten unversöhnlichen „Klassenkampf'. Die SED erschien den meisten Deutschen unglaubwürdig. Im Berlinkonflikt wurde die Differenz zwischen den Zielen der SED und den Ergebnissen ihrer Politik besonders deutlich. Das einzige politische Resultat, die Abschottung der DDR, zeigte sich nicht erst in der Retrospektive als fatal. Schon 1961 sahen politisch Weitsichtige nicht nur die Bankrotterklärung einer hochgradig künstlichen Republik, sondern auch die Unmöglichkeit, deren innere Probleme einfach einzumauern. Die Sowjetunion versuchte offenbar intensiver und länger als bislang angenommen -, eine Abschottung der DDR von Westberlin durch einen „Grenzwall" wohl auch deshalb hinauszuzögern, weil im Denken Chruschtschows ein sicherheitspolitisches Restrisiko weiterzubestehen schien. Der Erste Sekretär des ZK der KPdSU hoffte bis zuletzt auf ein Einlenken der Westmächte, bot aber nur Kompromisse an, die nicht weit genug gingen. Das sowjetische Hauptbedenken leitete sich von „prinzipiellen" Überlegungen her. Die UdSSR mußte ihre Schaufenster-Konzeption als gescheitert oder doch im höchsten Maße in Frage gestellt sehen. Eine Abschottung Westberlins war mehr als nur der „Schwanengesang" für diese auf einen konstruktiven Gedanken beruhende Vorstellung und eine Bankrotterklärung für die DDR. Sie zog sowohl die Gefahr eines erheblichen sowjetischen Prestigeverlustes nach sich, als auch ein Infragestellen des Images des ganzen realsozialistischen Systems und seiner Perspektive. Damit nicht genug entstanden theoretische Probleme. Wurden nicht die These vom Sieg des Weltsozialismus und verschiedene, zu Dogmen erhobene marxistische Gesetze der geschichtlichen Entwicklung und damit verbundene Endzeitvorstellungen, die letztendlich alle von der Überlegenheit der „neuen Ordnung" ausgingen, durch die Mauer zur Disposition gestellt? Was geschah mit der Moskauer Theorie (und Praxis) der friedlichen Koexistenz, die doch weitgehend auf der Idee eines Systemwettbewerbs beruhte? Eine alte theoretische Streitfrage stellte sich angesichts der drakonischen Grenzmaßnahme neu: Kann der Sozialismus in hochentwickelten Industrieländern aufgebaut werden? Blieb von den Bemühungen Moskaus in der DDR und als Ergebnis sowjetischer Deutschlandpolitik letztendlich nur die Mauer? Auch deren Folgen mußte die Moskauer Führung beunruhigen. Die Schüsse an der Grenze trafen auch das sowjetische Ansehen in der Welt. Die Auseinandersetzung um Berlin hatte die UdSSR in den Augen der internationalen Öffentlichkeit verloren. Ihr hoher Einsatz im Konflikt zeitigte langfristig nur negative Konsequenzen. Die Existenz der DDR schien gesichert, doch blieb das Berlinproblem offen. Und ebenso offen blieb die Frage, ob sich der „reale" Sozialismus in der DDR unter den neuen Bedingungen behaupten würde und sich im Innern des Staates in der Zukunft kontinuierlich d. h. krisenfrei entwickeln könnte. Scheiterte eine Modernisierung des realen Sozialismus in der DDR auch unter der Bedingung der Mauer, so wurde realsozialistische Modernisierung als antikapitalistische Gegenkonzeption und als politisches Kampfprogramm gegen den Westen prinzipiell in Frage gestellt und die marxistisch-leninistische Fortschrittstheorie erheblich beschädigt. Die Berlinkrise und der ihr inhärente Mauerbau legten die wirtschaftliche, technologische und wissenschaftlich-technische Modernisierungsschwäche der DDR nicht nur in besonderem Maße bloß, sondern ließen diese Defizite auch unmittelbar politisch wirksam werden. Die gespannte Situation offenbarte auch das Dilemma der Politik der SED, eine krisenfreie Entwicklung durch Prärogativen der Partei, letztendlich durch eine direktivistische Modernisierung, herbeizufuhren. Das betraf auch die Außenpolitik. Die SED-Führung trieb die wichtigste - oktroyierte - Modernisierung im internationalen Bereich - die konsequente Ostbindung der DDR - in der Krise forciert dirigistisch voran. Das verstärkte den „künst-

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liehen" Zug der Ostintegration, auf deren Grenzen die SED - z.B. bei der „Störfreimachung" - sehr bald gestoßen war, und die Tendenz zur EntdifFerenzierung. Das Außenministerium verlor in der Zeit der Berlinkrise weiter an Entscheidungskompetenz. Das Politbüro der Partei nahm noch mehr die Eigenschaft einer politischen „Zentrale" an. Die institutionelle Fusionierung nahm nach 1958 - stärker noch nach dem Mauerbau - insbesondere auf dem Gebiet der Westarbeit relativ kurzfristig zu. In der Zeit der Berlinkrise verdeutlichten sich politische Ignoranz, Verdrängungsmentalität und Anpassungsunfähigkeit der SED-Führung. Sie blockierte Realitätserkenntnis, negierte bzw. unterschlug Tatsachen, behinderte Umdenkungsprozesse. Gleichzeitig erzwangen Berlinkrise und Mauerbau - letztendlich die neue Lage - aber auch eine Überprüfung verschiedener wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Positionen der SED. So bot die Krise verschiedene Korrekturmöglichkeiten und in der Folge wenig genutzte Reformansätze. Es wurde schon daraufhingewiesen, daß das NÖS 1963 auch unter dem Einfluß der Berlinkrise und des Mauerbaus konzipiert wurde. Schon 1960 hatte sich z. B. eine Verlangsamung des Anstiegs der Genossenschaftsbildung im kleinindustriellen und handwerklichen Bereich als Folge der krisenhaften Entwicklung gezeigt. Zwei Drittel des Handwerks blieben privat. Die Berlinkrise wirkte auch deutlich ideologisch: In ihrem Ergebnis betonte die Gesellschaftswissenschaft der D D R vor allem die Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit des „Imperialismus".8 Insgesamt verdeutlichte die Politik der SED in der Zeit von 1958 bis 1963 den Charakter der D D R als Staat und Gesellschaft einer Diktatur kommunistischer Prägung. Dieser Typ moderner Diktatur erwies sich in der Bewährungssituation der zweiten Berlinkrise als nur sehr bedingt anpassungs- und entwicklungsfähig. Es bestätigte sich zum einen, daß die Diktatur in der D D R im Unterschied zur „hausgemachten" nationalsozialistischen - nicht originär „deutsch" war, sondern ihr das sowjetische Diktaturmodell zugrunde lag. Berlinkrise und Mauerbau beleuchteten zum anderen schlaglichtartig, daß die „Diktatur des Proletariats" keine vorübergehende Etappe auf dem Weg zum Sozialismus, sondern nur dauerhafte Herrschaft der Partei, bzw. die ihrer Führung, sein konnte. Einerseits lag die Berlinkrise in der poststalinistischen Entwicklungsphase des „realen" Sozialismus. Der internationale Konflikt beschleunigte den Prozeß der Überwindung „hochstalinistischer" Politik - was vor allem in der Hinwendung zur Entspannung seinen Ausdruck fand. Andererseits belebte die Krisenlage Momente in der SED-Politik - u. a. Risiko- und Konfliktbereitschaft, rigorose Maßnahmen im Innern der D D R und ideologische Zuspitzungen - die zumindest zeitweilig und partiell auf einen Rückgriff auf stalinistische Methoden schließen ließen. Insofern trug die Krisenzeit Züge einer Übergangsperiode von hoch- zu poststalinistischen Politik- und Herrschaftsformen, die instrumentale Mischungen hervorbrachte. Das Beispiel der Berlinkrise zeigt deutlich, daß die innere politische Entwicklung die sozialen Prozesse bestimmte. Die These von einer „durchherrschten Gesellschaft" in der DDR 9 scheint sich auch an Hand der vorliegenden Untersuchung zu bestätigen. Die D D R drängte aus den bekannten Gründen auf eine Grenz„sicherung". Es entstanden in der UdSSR und im Ostblock Meinungsverschiedenheiten über die Art und Weise und über den Zeitpunkt einer Grenzschließung in Berlin. Bis zum 13. August 1961 existierte für Chruschtschow die Möglichkeit, die vorbereitete Aktion zu stoppen. Er versuchte, worauf u. a. das Gespräch mit dem italienischen Ministerpräsidenten Fanfani hinweist, den Westen

8 9

Horst Helmberger u. a., Imperialismus heute, Berlin 1965. Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: H. Kaelble u. a. (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553.

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zu einem Einlenken zu bewegen. Dieser Kurs entsprach eindeutig nicht mehr den Intentionen der SED-Führung, die angesichts der Unmöglichkeit, die „große" Lösung herbeizufuhren, konsequent auf eine radikale Variante - auch wenn sie nur eine zweitbeste Möglichkeit darstellte - drängte. Ulbricht sah, daß der Westen auf die sowjetischen Bedingungen für eine Regelung des Berlinkonflikts bzw. des Abschlusses eines gesamtdeutschen Friedensvertrags nicht eingehen würde. Die „Mauer" schuf nicht nur eine vollendete Tatsache. Sie bildete im Verständnis der SED-Führung auch eine unverzichtbare Voraussetzung, um das Berlinproblem im Sinn des ostdeutschen Maximalziels Schritt für Schritt klären zu können. Wenn die Schuld für die Grenzabschottung und die sich aus ihr ergebenden absurden und unmenschlichen Konsequenzen die DDR und ihre Verbündeten auch voll trifft, lieferte der Westen dem Osten für die Mauer quer durch Berlin so manches Argument. Die Bundesregierung hielt sowohl an dem zum Dogma erstarrenden Leitsatz einer westdeutschen Alleinvertretung und der dieser These außenpolitisch entsprechenden Hallsteindoktrin als auch, - wenngleich modifiziert - an der Richtlinie fest, daß es keine Entkoppelung von deutschem Problem und Entspannung geben könne. In Verbindung mit ihrem Beharren auf einem Fortbestehen des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 - was den nach 1945 entstandenen territorialen Status quo in Frage zu stellen schien - gab die eskalierende Berlinkrise den Staaten des Warschauer Paktes Anlaß für neues Mißtrauen. Die Bundesrepublik als demokratisches Staatswesen plante zu keiner Zeit eine Revision der nach dem Zweiten Weltkrieg eingetretenen Lage mit nichtfriedlichen Mitteln. Sie suchte im Gegenteil den Ausgleich mit ihren östlichen Nachbarn, stand sich dabei aber mit ihrem Alleinvertretungsanspruch selber im Wege. Eine westliche Politik des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes, die auf freie Wahlen nicht verzichten konnte, lief vor allem in einer Krisensituation Gefahr, als ein lediglich freiheitlich getarnter Kurs, der auf die Beseitigung der DDR zielte, empfunden und dargestellt zu werden. Zumindest den Schein der Legitimation ihrer Politik leitete die SED von der Begründung her, daß die „Werktätigen der DDR", vor allem die Partei, Arbeiterklasse und Regierung niemals freiwillig eine Beseitigung der „Errungenschaften der DDR" dulden würden. Da die Bonner „Militaristen" und „Revanchisten", die dies genau wüßten, - so argumentierte man weiter - dennoch dem Anschluß der DDR an Westdeutschland das Wort redeten, könnten sie nur kriegerische Absichten hegen. In diese Argumentation fugte sich formallogisch der „Beweis" ein, diese politischen Kräfte in Bonn bereiteten den bewaffneten Konflikt vor, indem sie u. a. Westberlin als Frontstadt ausbauten. In der Polemik der SED schimmerten immer allgemeinere sowjetisch-ostdeutsche Ziele, z. B. eine Behinderung der Aufrüstung in der Bundesrepublik und die Abwendung der Stationierung von Kernwaffen, durch. Oft schienen die einzelnen Mitglieder der SED-Parteiführung im Berlinkonflikt Opfer ihrer eigenen „antiimperialistischen" Ideologie geworden zu sein. Sie glaubten an eine kapitalistische militärische Bedrohung und handelten so, als bestehe diese tatsächlich. Der rationale Kern solcher Bedrohungs- und Verschwörungsempfindungen steckte zu einem Gutteil in der inneren Situation der DDR. Das Politbüro konnte oder wollte es sich nicht erklären, daß die Partei die Menschen nicht im Lande zu halten vermochte. Die Schuldigen schienen im Westen zu sitzen. Die DDRBürger - soweit es sich nicht um unverbesserliche „Konterrevolutionäre", Altnazis, Kriminelle und Asoziale handelte - brächte man mit Lügen, Versprechungen und Drohungen dazu, die Ostrepublik zu verlassen. Im Umfeld des Mauerbaus verschärfte sich in der DDR die repressive Art der Herrschaftsausübung, und die Tendenz einer kurzfristigen Vergrößerung des administrativen Apparats trat vor allem im Sicherheitsbereich zutage. Der „Grenzwall"

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engte die Freiräume der DDR-Bevölkerung zum einen durch den Wegfall des für viele letzten Ausweges, zum anderen durch die Eskalation von Sicherheitsmaßnahmen und dem Entstehen und der Nutzung neuer Kontrollmöglichkeiten weiter ein. Die Berlinkrise verlieh der Fusion von Staats- und Parteiapparat einen kräftigen Schub, und sie trug in erheblichem Maß zu einer Verschmelzung von Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR bei. Nach 1961 verstärkte die SED ihre systematischen Versuche, das Ausland über die innere Situation in der DDR hinwegzutäuschen. Keine noch so geschickte Propaganda und keine feierliche Deklaration konnten jedoch den fundamentalen Widerspruch zwischen der restriktiven Innenpolitik und den erklärten Prinzipien der Politik der SED einschließlich ihrer Bekenntnisse zur Treue gegenüber internationalen Verpflichtungen auflösen. Die tagtäglich gewonnene Erfahrung von Partei und Regierung, daß die Nichtanerkennung der DDR durch den Westen mehr war als ein abstraktes moralisches oder Verfassungsgebot, wirkte auf sie frustrierend. Der Druck, der von Alleinvertretungsanspruch und Hallsteindoktrin ausging, war für die SED stark und omnipräsent. Sie fühlte sich pausenlos angegriffen, begann hinter jedem Mißerfolg das gezielte Wirken der Bundesrepublik zu vermuten und entwickelte - z. T. erklärlicherweise - Verfolgungspsychosen. Für viele Beobachter im Ausland stellte sich, fragte man nicht näher nach den Ursachen des miserablen innerdeutschen Verhältnisses, die Situation so dar: Es bestand ein mächtiger deutscher Staat, der den kleineren, viel schwächeren deutschen Staat mit unfairen Mitteln bekämpfte, ihn - offensichtlich - beseitigen wollte. Diese Beobachtung gehört nicht nur zur Psychologie speziell des Berlinkonflikts. Sie ist auch notwendig, um verschiedene Reaktionen der SED zu verstehen nicht zu verteidigen. Diese Außensicht - es gab auch eine andere, kritischere - trägt zu einem ausgewogenen Bild vom Charakter der SED-Krisenpolitik bei. Die ständige Abwehrhaltung der SED führte zu einer verzerrten Wahrnehmung der Lage in Berlin, in Europa und in der Welt und forderte aggressive Stimmungen in ihrer Führung. Beide deutsche Staaten besaßen nicht nur unterschiedliche politische und sozioökonomische Ordnungen, sondern gegensätzliche Auffassungen von Geschichte und Tradition, von Zielen und Aufgaben der Politik, von Perspektiven und Menschenbildern. Die Krisensituation um Berlin verschärfte die Widersprüche zwischen den politischen Eliten beider Staaten, wenn es z. B. darum ging, das politische und soziale Selbstverständnis, aktuelle politische und dauerhaftere ethische Werte zu formulieren und den jeweiligen Standpunkt in der Nachkriegsentwicklung, in die man sich auch bündnispolitisch einzuordnen hatte, zu bestimmen. Die Positionen zu Kontinuität und Bruch deutscher Staatstradition spielten bei der Frage des Friedensvertrags eine besondere Rolle. Der Antifaschismus und die Vergangenheitsbewältigung bildeten Hauptmotive der antiwestdeutschen Aktionen der SED. Demgegenüber konnten die staatstragenden Parteien der Bundesrepublik, die keinen Kampf gegen die DDR an sich, sondern gegen ihr poststalinistisches System und seine Träger führten, den anderen, unter sowjetischem Kuratel stehenden, deutschen Teilstaat nicht moralisch und völkerrechtlich anerkennen. Und dies schon gar nicht unter dem Druck östlicher Ultimaten. Doch führte die westdeutsche Verweigerungshaltung nach 1958 noch tiefer in die innerdeutsche Krise. Zu einem Zeitpunkt, als die Methoden der Bonner Deutschlandpolitik hätten erweitert werden müssen, schrieb die Bundesregierung alte Grundsätze und politische Handlungsanweisungen fest, die der angespannten Situation nicht mehr gerecht wurden. Ein notwendiger Wandel deutschlandpolitischen Denkens und Handelns, seiner Doktrinen und Mechanismen fand zwischen 1958 und 1963 nicht statt. So ging man immer noch davon aus, daß die Bundesrepublik - obwohl die effektiven Machtverhältnisse in der DDR bekannt waren - keine Kontakte

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unterhalten dürfe, die auch nur auf eine indirekte Anerkennung des SED-Regimes hinauslaufen könnten. Diese Politik verärgerte die SED-Führung. Das führte dazu, daß die vor Beginn der Berlinkrise noch vorhandenen Freiräume der Bevölkerung im Verkehr mit dem Westen weiter eingeengt wurden. Im Umfeld des Berlinkonflikts - sichtbar nach dem Mauerbau leitete die SED eine neue Phase der Abgrenzung von der Bundesrepublik ein. Nichtanerkennung durch Bonn suchte sie mit dem Abbau deutscher Gemeinsamkeiten zu „bestrafen". Die plakativen Erklärungen der SED, für die Einheit und für Verbesserungen der Lage Deutschlands eintreten zu wollen, blieben ungeprüft, die Möglichkeit, die SED vor aller Welt zu zwingen, zu ihren Worten zu stehen, weitgehend ungenutzt. Zwar stellte Adenauer nach 1958 das Primat der freien Wahlen zugunsten von Erleichterungen für die Menschen in der DDR in Frage. Seine von der Skepsis gegenüber der deutschlandpolitischen Zuverlässigkeit seiner Verbündeten ausgelösten, durchaus produktiven Überlegungen blieben Gedanken. Dennoch spiegelte sich hier ein theoretisch weitgehender Korrekturversuch wider, der zwar nicht in die Gestaltung konkreter Maßnahmen, doch als Ansatz in die perspektivische Deutschlandpolitik einfloß. Im Handeln Adenauers und v. Brentanos traten zwei unterschiedliche Linien christdemokratischer Politik bei aller Einheit zutage: eine flexiblere und eine „prinzipielle", relativ starre. Auf die unkonventionelle Reaktion Adenauers auf Chruschtschows Offerten im Juni 1962, die sich in das entstehende Konzept beweglicheren deutschlandpolitischen Handelns einfügt, ist in der Adenauer-Literatur jüngst noch einmal hingewiesen worden. 10 Sie bestätigt die Erkenntnis, daß der aus dem Amt scheidende Bundeskanzler sowjetische deutschlandpolitische Umorientierungsversuche mit den zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten Moskaus, aber auch mit der Entwicklung Chinas in Verbindung brachte. 11 In der Berlinkrise wurde die DDR (wie auch die Bundesrepublik) zu einem Gegenstand des Konflikts. Sie entwickelte sich (im Unterschied zur Bundesregierung) aber nicht in gleichem Maße zum Subjekt dieses Prozesses. Im Unterschied zur SED-Führung und zur Regierung der DDR besaß die Bundesregierung entschieden größere wirtschaftliche und politische Handlungsspielräume. Sie verfügte zwar nicht über die Möglichkeit einer völkerrechtlichen, wohl aber über die einer praktischen Verbesserung ihrer Position in Westberlin durch die Festigung der Bindung der Teilstadt an die Bundesrepublik. Die wirtschaftliche Kraft der Bundesrepublik blieb die wirksamste Garantie für die Lebensfähigkeit der Westberliner Gesellschaft. Der Vergleich mit der DDR stellt vor allem die ungleich größeren Mitbestimmungsmöglichkeiten Bonns bei der Gestaltung gemeinsamer westlicher Berlinpolitik heraus. Die resultierten sowohl aus der weitgehenden tatsächlichen Souveränität der Bundesrepublik als auch aus ihrem wirtschaftlichen, militärischen und politischen Gewicht im Bündnis und in der Welt. Während sich das Politbüro der SED letztendlich in keiner wesentlichen, Berlin betreffenden Frage durchsetzte, verstand es das Kabinett Adenauer, die eigenen Vorstellungen gegenüber den Westmächten geltend zu machen, und sie vermochte es vor allem, die zeitweilig zu Abweichungen geneigten Verbündeten auf der gemeinsam beschlossenen deutschland- und berlinpolitischen Linie zu halten. Wie im Verhältnis der DDR zur Sowjetunion stimmten auch in der Beziehung der Bundesrepublik zu den Westmächten die Interessen prinzipiell überein. 10

11

Vgl. A. Poppinga, „Das wichtigste ist der Mut". Konrad Adenauer - die letzten fünf Kanzleijahre, Bergisch-Gladbach 1994, S. 513-516. Vgl. ebenda, S. 513f.

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Fazit

Beide deutsche Staaten stellten aus den unterschiedlichsten Gründen und auf ihre Art Triebkräfte des Berlinkonflikts dar. Die Bundesrepublik, weil sie, ihre Verbündeten zu gemeinsamem entschlossenem Handeln drängend, eine Klärung des Problems wollte. Sie erstrebte eine Regelung, die einerseits die Grenzen sowjetischer Macht durch die konsequente Zurückweisung östlicher Ansprüche deutlich markierte und andererseits weder die Lage der Bevölkerung in der DDR noch die Lösung der deutschen Frage erschwerte. Es gelang ihr nur, ihre erste Absicht durchzusetzen, was - machtpolitisch gesehen - mit dem Mauerbau vereinbar war. Die internationale Situation verhinderte die Umsetzung ihrer deutschlandpolitischen und - in bezug auf die Lage der Menschen in der DDR - Liberalisierungsabsichten. Aber gerade hier mußten vorsichtige Ansätze auch an den noch ehernen Grundsätzen bundesdeutscher Politik scheitern. Es bedurfte eines neuen Konzepts wie „Wandel durch Annäherung", um Erfahrungen in neues Denken und in flexibleres Handeln umzusetzen. Dennoch stellt sich die Frage, ob Ähnlichkeiten des späteren deutschland- und ostpolitischen Wandels mit den Korrekturversuchen im Denken und (ansatzweise) Handeln Adenauers während der Berlinkrise zufällig oder doch Erscheinungen zweier ähnlicher Denkrichtungen waren, die sich im wesentlichen unabhängig voneinander - aber aus innerer Notwendigkeit heraus - parallel zueinander entwickelten. Gingen nicht doch Elemente der späten Politik Adenauers, ohne freilich einen Ausgangspunkt für den Kurs der sozialliberalen Koalition zu bilden, in die Kontinuität der Ost- und Deutschlandpolitik der siebziger und achtziger Jahre ein? Die DDR steigerte den Berlinkonflikt sowohl durch ihre extrem konfrontativen Konzepte im Umgang mit der westlichen Seite als auch durch den Druck, den sie ausübte, um Moskau zu schnellen und weitreichenden Entscheidungen zu drängen. Ihr risikoreiches Konzept, eine innere Stabilisierung durch die internationale Anerkennung und diese entscheidend durch die Inbesitznahme der Hoheitsrechte über Berlin herbeizufuhren, trug zu internationalen Verhärtungen und zu einer zeitweilig gefährlichen Situation bei. Vor allem dann, wenn die UdSSR - punktuell - die Kontrolle über die SED zu verlieren schien, entstanden Gefahrenmomente. Letztendlich brachte die Berlinkrise, blendet man die durch den Mauerbau entstandenen anders gelagerten neuen inneren Möglichkeiten einmal aus, der SED weder die erstrebte Erweiterung ihres politischen Handlungsspielraums noch die gewünschte internationale Aufwertung. Beiden deutschen Akteuren ging es im Grunde um das Anerkennungsproblem. Es wurde zur deutschen Achse und zum deutschen Leitmotiv der Politik in der Berlinkrise. Die eine Seite wollte Anerkennung mit (fast) allen Mitteln und (beinahe) um jeden Preis, die andere suchte sie unter ähnlich hohem Einsatz zu verhindern. Zwei harte Positionen trafen aufeinander, zeigten sich insofern „deutsch", als sie unerbittlich, prinzipiell und kompromißlos waren. Das brachte beide Seiten - nicht nur die SED - wenigstens zeitweise in einen relativen Widerspruch zu ihren Führungsmächten. Der Berlinkonflikt hatte international und als stark bipolar geprägte Auseinandersetzung zwischen der UdSSR und den USA begonnen. In seinem Verlauf entwickelte er immer stärker die Tendenz zu einem innerdeutschen Schlagabtausch und erhielt spezifisch deutsche Perspektiven. Es war für Bonn und Ostberlin eine weitere Erfahrung, daß verschiedene politische Weichen nicht durch sie, sondern von ihren Führungsmächten gestellt wurden. So endete der „deutscher" werdende Konflikt wiederum international. Der Zwang zur Entspannung setzte ihm ein Ende. Wenngleich die Wiedervereinigung in der Zeit nach 1958 immer stärker von der weltpolitischen Tagesordnung verschwand, so zeigt die Untersuchung jedoch, daß der Berlinkonflikt

Fazit

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eine - wenngleich kurzfristige - Gegentendenz erzeugte. Er unterbrach die Latenzphase des deutschen Problems. In seinem Umfeld, zu der auch die Genfer Konferenz von 1959 gehörte, stellten sich erneut die Fragen nach der Zukunft Deutschlands, nach möglichen Wegen zur Wiedervereinigung und speziell nach Kompromissen. Der Konflikt zeigte aber auch stärker als zuvor die Verquickung von deutscher Einheit und europäischer Sicherheit. Der „Kampf um Berlin" zog für viele Politiker in West und Ost die Erkenntnis nach sich, daß die deutsche Frage und das Berlin-Problem als deren Unterfall nur noch im Zusammenhang mit einer Beendigung von Kaltem Krieg und Ost-West-Konflikt gelöst werden könnten. Der Berlinkonflikt ließ die Untauglichkeit militanter Formen einer Konfliktlösung erneut prinzipiell erkennen. Insofern besaß er eine Entspannungsperspektive. Die „Politik der Stärke", soweit sie militärische Machtentfaltung und Demonstration der Waffen meinte, geriet auf beiden Seiten in eine Sackgasse. In ihrer politischen, wirtschaftlichen und moralischen Eigenschaft erwies sich die „Stärke" des Westens der des Sowjetkommunismus eindeutig überlegen. Der Konflikt besaß aber auch für das innerdeutsche Verhältnis eine positive praktische Konsequenz. Beide Seiten erkannten, daß gerade in Konfliktsituationen eine Politik der Schadensbegrenzung notwendig war. So ging von der Auseinandersetzung zwischen der demokratischen Bundesrepublik und der Diktatur der SED ein neuer Impuls für interne Gespräche und Abmachungen u. a. über die Freilassung politischer Gefangener in der DDR aus. Die Untersuchung der Positionen der SED zum Berlinproblem und zur Frage eines Friedensvertrags verdeutlichte, daß die konkrete Entwicklung nur als Teil eines internationalen Prozesses rekonstruiert und analysiert werden konnte. Zum anderen zeigten sich „Verflechtung und Abgrenzung" einer „geteilten und zusammengehörigen" deutschen Nachkriegsgeschichte (Kleßmann) am speziellen Fall überdeutlich. Die Reaktion der einen wurde nur durch die Aktion der anderen deutschen Seite erklärbar. Hier agierten Zwillinge, so feindlich sie sich auch gegenüberstehen mochten, im Zweiklang. Eine Geschichte der DDR und vieler ihrer Teilbereiche wird nicht ohne Kenntnis und Berücksichtigung paralleler Handlungsabläufe in der Bundesrepublik geschrieben werden können.

Personenregister

Abrassimow, Pjotr A. 192, 202-204, 217, 223 Abs, Hermann 260 Abusch, Alexander 205-206 Achenbach, Ernst 125 Acheson, Dean 217 Adenauer, Konrad 16, 18-20, 22-23, 27, 30, 58, 60, 66, 99, 100, 107, 109-111, 120-122, 124, 129, 133-142, 146,148,149,158-161,166,167,172, 179,180,184-187,193-198, 202, 204, 207, 215, 217,219, 221,223, 224,226, 227, 237-239, 243-245, 248,254,256, 257,259-263, 269-272, 289, 290 Albertz, Heinrich 265, 267, 268 Alexandrow, Nikolaj M. 76 Amrehn, Franz 205,269 Andropow, Juri W. 74 Ardenne, Manfred v. 242, 262 Attlee, Clement 161 Augstein, Rudolf 197 Axen, Hermann 153, 217, 218 Baade, Fritz 245, 260 Bafile, Corrado 151 Bahr, Egon 202, 204,205, 224, 265, 268 Bahsen, Uwe 14 Balkow, Julius 66 Barth, Heinrich 171 Barth, Willi 231 Barzel, Rainer 217, 267 Baum, Bruno 77 Bausch, P. 198 Beckh, H. G. 266, 267 Belezki, Viktor 202 Bender, Peter 28 Benjamin, Hilde 268 Berendt, Heinz 60, 270, 271 Berg, Fritz 264 Berg, Hermann v. 204, 205, 271, 273 Berger, Wolfgang 91

Beri(j)a, Lavrentij P. 25 Birrenbach, Kurt 195, 216, 217, 220, 221 Blumenfeld, Erik 134, 273 Bolz, Lothar 26,109,110, 125, 127, 130,131, 134-137, 208-210, 212,217 Bonn, Moritz J. 258 Borm, William 245 Brandt, Heinz 268 Brandt, Willy 58, 101,170-172, 194, 202, 204, 205, 207, 248, 261, 262, 265, 267, 268 Brentano, Heinrich v. 20, 58, 76, 109-111, 120, 121,125,129, 130, 132-138, 141,142,148,159, 171, 172,180, 184, 193-198, 215-218, 220, 221, 243, 258, 259, 263, 272, 289 Brentano, Michael v. 20 Buchwitz, Otto 249 Bulganin, Nikolai A. 43 Burckhardt, Carl Jakob 136,142 Castro, Fidel 106, 200 Cate, Curtis 15 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 16, 18, 20, 28, 40, 42, 44-49, 51, 53, 54, 56, 59, 60, 63-68, 70, 71, 75, 77, 81, 90, 91, 95, 98-101, 105, 110, 111, 113-118, 121-123, 138-153, 155-161, 163-169,173-179, 184-186,188,189,197,198, 201, 205-208, 214, 216, 226-228, 238, 249, 258, 259, 269, 275-278, 280-284, 286, 289 Clay, Lucius 171 Cowles, Gardner 112 Cyrankiewicz, Josef 76 Dehler, Thomas 107, 125, 260 Dengler, Gerhard 49, 269 Deter, Adolf 112 Dibelius, Otto 251 Dieckmann, Johannes 249, 250, 252 Dobrynin, Anatoli 189, 202 Dölling, Rudolf 50,209

293

Personenregister Döring, Wolfgang 124, 125, 252 Dowling, Walter C. 151, 171, 193, 198 Dröscher, Wilhelm 248 Duckwitz, Ferdinand 132 Dufhues, Josef-Hermann 264 Dulles, John Foster 102,120, 208 Eberlein, Werner 202 Ebert, Friedrich 68, 99, 233, 266 Eckhardt, Felix v. 132 Eisenhower, Dwight D. 120, 138, 140, 141, 167, 168, 225 Eisenmann, Otto 110 Eisler, Gerhart 269 Engelmann, Roger 130 Erhard, Ludwig 58, 60, 121, 219, 224, 260, 263 Erler, Fritz 194 Ewald, Georg 49 Faddejew, N. W. 75 Falin, Valentin 209 Fanfani, Amintore 166, 167, 168, 226, 286 Faßbinder, Klara Maria 206,241 Fechter, Peter 190, 265 Florin, Peter 77, 113, 128, 130, 136, 148, 153, 182,190, 217, 218 Friedensburg, Ferdinand 196 Friedrich, Otto A. 148 Gagarin, Juri 183 Gaulle, Charles de 139-141, 158-160,167, 168, 194, 197, 215, 217 Geggel, Heinz 218, 234, 250 Gehlen, Reinhard 267 Gembarth 204 Gerlach, Heribert 14 Gerlach, Manfred 127 Gerstenmaier, Eugen 159, 171, 172, 244, 245, 267 Gheorghiu-Dej, Gheorghe 157 Globke, Hans 19, 198,256, 257 Gomulka, Wladislaw 50, 75, 78, 218 Gotting, Gerald 244 Greiner, Peter 15 Gretschko, Andrej A. 209 Grewe, Wilhelm 121, 131, 132, 194 Gromyko, Andrej 102,109, 110, 120, 130, 131, 134, 135,153,183,186,191, 208-213, 223 Grotewohl, Otto 20, 26, 28, 29, 31, 41,44, 48, 54, 56, 57, 68, 73, 74, 113,117,119,126,128, 130, 132, 140, 148, 231, 238 Grunert, Horst 136 Güde, Max 197, 266-268 Gumppenberg, L. v. 259 Guttenberg, Karl Theodor von und zu 221

Hacker, Jens 92 Harrison, Hope M. 16,143,178 Hartke, Werner 119 Hegedüs, Andräs 84 Heinemann, Gustav 107, 246, 248, 253 Heibich, G. 205 Herder, Gerhard 205 Herter, Christian 121, 131,133 Herzfeld, Hans 13 Hitler, Adolf 141 Hoegner, Wilhelm 249 Hoffmann, Heinz 182, 209 Hohmann, Heinrich 127 Holzweißig, Gunter 15 Honecker, Erich 164, 190, 224 Horn, Harlad 14 Iljitschow, 1.1. 153,192,209,249 Iwanow, Wladimir D. 209 Johnson, Lyndon B.

171

Kadar, Janos 157,163,164 Kaganowitsch, Lazar 48 Kampfinger, Hans 30 Karpin 164 Kassem, Abd al-Karim 106 Katzer, Hans 264 Kaul, Friedrich Karl 266-268 Kegel, Gerhard 124, 125, 252 Kennedy, John F. 14,16,19,156-161,166-168, 171, 194-196, 198, 199, 208, 215-217, 226 Kennedy, Robert 264 Kessler, Heinz 164, 165, 182 Kirchner, Rudi 127 Klein, Julius 194 Knappstein, Karl Heinrich 220 Knoeringen, Waldemar v. 249 Koenen, Wilhelm 247 Kohl, Michael 205, 208, 209 König, Johannes 46, 76, 127, 151, 205, 226 Korber, Horst 206 Kornijenko, Georgi 161 Korry, Edward M. 112 Kossygin, Alexej 75, 86 Kotow 43 Kramer, Erwin 68, 164, 165, 209 Krautwig, Karl 60 Kriedemann, Herbert 248 Kröger, Herbert 99 Krolikowski, Herbert 209 Kroll, Hans 132, 184-186,192,227,259, 269, 270 Krone, Heinrich 194, 267 Kusmin 56 Kusnezow, Wassili W. 217, 222, 223 Kwizinskij, Juri A. 164

294

Personenregister

Langguth, Gerd 14 Lemmer, Ernst 34 Leopold, Kurt 58, 60, 61, 248,270, 271 Leuschner, Bruno 53, 56, 65, 67, 71,153,162 Lewerenz 251 Liebknecht, Karl 166 Lippmann, Walter 113 Lloyd Selwyn 131, 132 Lübke, Heinrich 254 Macmillan, Maurice Harold 119, 138, 139, 141, 150,160,167,168 Mahncke, Dieter 14 Majonica, Ernst 197, 221 Mao Tse-tung 79, 81 Margulies, Robert 248, 253 Maron, Karl 164, 174,252 Mascher, H.-W. 244 Matern, Hermann 24, 26, 32, 35, 68, 72,100, 117, 153, 155, 164, 165, 233, 252, 268, 270 McCloy, John 166 Meißner, Wilhelm 125 Meitmann, Karl 245 Mende, Erich 125, 194, 196, 226 Menzies, Robert G. 138 Mewis, Karl 80 Meyer, Erich 245 Mielke, Erich 164, 182, 233, 252, 266, 267 Mikojan, Anastas I. 65,118,153,161, 162 Moissew 139 Müller, Ernst F. 15 Müller, Vincenz 30 Müller, Willy 245,248 Müller-Hegemann, Dietfried 15 Murville, Couve de 131, 132 Nasser, Gamal Abdel 41, 106 Nehru, Jawaharlal 40, 48,197 Neumann, Oskar 267 Niemöller, Martin 248, 251 Nitze, Paul 193,195 Nixon, Richard 159 Norden, Albert 20, 48, 49, 74, 76, 117, 128, 148, 152,166,170, 231, 233, 234, 237, 238, 242, 251, 262-264, 267-269 Novotny, Antonin 66 Nuding, Hermann 20 Nuschke, Otto 48 Oertzen, Peter v. 247 Ollenhauer, Erich 118,139,226 Osterheld, Horst 195,198 Ott, Harry 81 Patolitschew, Nikolai S. 65 Paulssen, Hans-Constantin 273

Perwuchin, Michail 33, 57, 61,153,164,174, 176,188,189, 252, 253, 270, 271 Petschull, Jürgen 15 Pferdmenges, Robert 260 Pieck, Wilhelm 20,254 Ponomaijow, Boris M. 74 Posser, Diether 267, 268 Powers, Gary 227 Prowe, Diethelm 14 Puschkin, Georgi M. 30, 43, 46, 74 Rademacher, Willy Max 248 Rapacki, Adam 106, 244 Rau, Heinrich 58, 60, 68,113,129,130,132, 153, 242 Rau, Johannes 246 Rehahn, Arne 125 Reimann, Max 129,141, 230 Reitz, Wilhelm 245 Rentmeister, Hans 237, 242, 278 Richter, Willy 261 Rose, Berthold 127 Rostow, Walt 216 Rühle, Jürgen 15 Rühle, Otto 30 Rumpf, Willy 209 Rusk, Dean 184, 186,189, 202, 217, 221, 223 Ryshkow, I. F. R. 153 Sacharow 113 Schäffer, Fritz 29, 30 Scharf, Kurt 61 Scheringer, Richard 267 Scherpenberg, Hilger van 130, 138, 172,184 Schirdewan, Karl 25, 79, 105 Schlesinger, Arthur 161 Schmidt, Carlo 245 Schnez, Albert 195 Scholl, Günter 222 Schollwer, Wolfgang 196 Schröder, Gerhard 136,187, 193,194, 198, 215, 218, 220, 221, 260, 263,272 Schütz, Klaus 265 Schwab, Sepp 20, 33, 129, 130, 132, 182, 190 Schwarze, Hanns W. 204, 205 Sefrin, Max 127 Sejna, Jan 157 Selbmann, Fritz 43 Seljaninow 151,152 Semjonow, Wladimir 189, 209, 212-214, 227 Serinek 173 Seydewitz, Max 249 Siemer, Erwin 58, 61 Siroky, Viliam 84 Slusser, Robert M. 14

Personenregister Smirnow, Andrej A. 139, 174,197, 203, 204, 226, 252, 256, 269 Sorin, Valerian 109,110,130-132 Spaak, Paul Henry 220 Spangenberg, Dietrich 205, 265 Sperber, Manus 110 Spiecker, Hans 216 Springer, Axel 171, 249 Stadler 266 Stalin, Josef Wissarionowitsch 105,116 Steenbeck, Max 44 Stoica, Chivu 84 Stoph, Willi 60, 68,117,174, 204 Strauß, Franz-Josef 136,172,197, 260-263 Streit, Josef 268 Stresemann, Gustav 250 Stützle, Walther 14, 16 Suslow, Michail A. 164 Thießen, Peter-Adolf 44 Thompson, Llewellyn 183, 186, 227 Tichomirow 65 Tito, Josip Broz 40, 73, 74, 165 Titow, German 183 Toure, Sekou 40 Tschechow, Anton 213 Ulbricht, Walter 16, 18-20, 25-33, 42-57, 59-71, 75-81, 84, 90, 91, 95, 98,99,105,109-114,

295 116-120,122-126, 130, 132, 133, 139-148, 150-160,162-171,173-183,185-192,196,198, 201, 203-209, 212-214, 217, 218, 221-230, 233, 234, 237, 238, 242, 244-248, 250-254, 260-263, 266-271, 273, 277, 278, 280-282, 284,286 Verner, Paul 20, 25, 27, 29,117,164,165,182 Vesper, Walter 110,124, 125, 245, 246, 250,252 Vockel, Heinrich 58 Vollmer 248 Wandel, Paul 271 Wansierski, Bruno 165 Wedel, Graf v. 246 Wehner, Herbert 124, 171, 245, 246, 261 Weiss, Gerhard 273 Wendt, Erich 206 Wessel, Helene 245,247 Wetzlaugk, Udo 14, 97,105 Winterfeld, Achim v. 266, 267 Winzer, Otto 26, 44,100,113,125,128-130,132, 135,154, 155,174,181, 186,187,189,190, 192, 199,202, 209, 212,213, 221, 222, 227 Wollweber, Ernst 25,79 Woroschilow, Kliment J. 48 Zehrer, Hans 249 Ziller, Gerhard 43 Zolling, Hermann 14