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German Pages 174 [175] Year 1971
INGO MITTENZWEI
Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen
Schriften zumProzessrecht Band 21
Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen Eine Untersuchung der Funktion von Aussetzung, Rechtshängigkeit und Rechtskraft bei Verfahrenskonkurrenzen
Von
Dr. Ingo Mittenzwei
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Gedruckt mit Unterstützung der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten
© 1971 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1971 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Prlnted in Germany ISBN 3 428 02414 1
Vorwort Die vorliegende Arbeit hat der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Sommersemester 1970 als Dissertation vorgelegen. Sie geht auf eine vor vielen Jahren gegebene Anregung meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Dr. Günther Jaenicke, zurück, hat sich allerdings im Verlauf der Untersuchung in eine ganz andere Richtung entwickelt als ursprünglich vorgestellt. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Gerhard Schiedermair, danke ich für das meiner Arbeit entgegengebrachte Interesse und die persönliche Förderung ebenso herzlich wie Herrn Professor Dr. Alexander Lüderitz, an dessen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilprozeßrecht ich zuletzt tätig war. Frankfurt am Main, im September 1970
Ingo Mittenzwei
Inhalt §1
Einleitung
11
1. Die Funktion der Aussetzung im Verfahrensrecht (11). 2. Be-
grenzung des Themas (12). 3. Verfahrensstillstand in der ZPO (14). 4. Methode und Aufbau (16).
1. Abschnitt
§2
Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
17
Die Abhängigkeit einer Entscheidung von Vorfragen . . . . . . . . . .
18
1. Behandlung in der Literatur (18). 2. Vergleich mit der Zwischenfeststellungsklage (19). 3. Subsumtion und Wertung (20)). 4. Logischer und organisatorischer Zusammenhang (23). 5. Vorfrage - Hauptsache (25). 6. Einfluß der Prozeßlage und Rangordnung der Vorfragen (26). 7. Zusammenfassung. Unterschied zwischen Abhängigkeit und Einfluß (31).
§3
Weitere Begriffsbestimmung
32
1. Begriff der Entscheidung (33). 2. Begriff des Rechtsverhältnisses (35). 3. Präjudizialität und Präjudiz (36). §4
Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die in der Literatur vertretenen Ansichten (37). 2. Die Auffassung des Gesetzgebers (38). 3. Konsequenzen der Gleichsetzung von Gegenstand und materieller Rechtsfolge (39). 4. Der Begriff des Streitgegenstandes in der heutigen Zivilprozeßrechtslehre (44). 5. Die erwartete Entscheidung als möglicher Anknüpfungspunkt (48).
37
8
Inhalt 2. Abschnitt
§5
Die Beziehungen der Aussetzung zu Rechtskraft und Rechtshängigkeit
51
Umfang der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
1. Grundsatz "ne bis in idem". Einfluß der materiell-rechtlichen Einordnung auf den Umfang der Rechtskraft (51). 2. Die Ausrichtung der präjudiziellen Rechtskraft am materiellen Recht (61). §6
Rechtskraft und Aussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
1. Der funktionale Zusammenhang zwischen Rechtskraft, Rechts-
hängigkeit und Aussetzung (63). 2. Die geschichtliche Entwicklung (70). 3. Bezug der Aussetzung zur präjudiziellen Rechtskraft (79). 4. Schlußfolgerungen für die Anwendung der Aussetzungsvorschriften und Neufassung des § 148 ZPO (82). §7
Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung . . . . . . . . . . . .
83
1. Prinzipielle Abgrenzung (83). 2. Die objektiven Grenzen der
Rechtshängigkeit (85). 3. Rechtshängigkeit, notwendige Streitgenossenschaft und Aussetzung (91). 4. Klageart und Rechtsschutzziel (99). 5. Rechtshängigkeit der zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung (104).
3. Abschnitt
§8
Konsequenzen für die Aussetzung und Modifikationen
109
Aussetzung bei rechtlichen Sinnzusammenhängen . . . . . . . . . . . . . .
109
1. Aussetzung als Auffangtatbestand (109). 2. Materielle Rechts-
kraft von Gestaltungsurteilen (114). 3. Der Einfluß der subjektiven Grenzen der Rechtskraft (115). §9
Berücksichtigung anderer Urteilswirkungen als Aussetzungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgreiflichkeit von Gestaltungsklagen (119). 2. Tatbestandswirkung einer erwarteten Entscheidung (125). 3. Die Interventionswirkung gemäß § 68 ZPO (128).
119
Inhalt
9
§ 10
Der Einfluß der Verfahrensart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aussetzung in der Zwangsvollstreckung (137). 2. Aussetzung im Urkunden- und Wechselprozeß, im Armenrechts- und Mahnverfahren und bei einstweiligen Verfügungen (143).
137
§ 11
Konkurrenz mit Prozessen anderer Gerichtszweige . . . . . . . . . . . .
147
1. Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte (147). 2. Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (153). 3. Aufrechnung mit Forderungen aus dem Zuständigkeitsbereich von Arbeitsund Schiedsgerichten (154). § 12
Analoge Anwendung des § 148 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158
1. Anhängige Normenkontrollverfahren (158). 2. Bevorstehende
Gesetzesänderungen (160). 3. Einholung erbbiologischer Gutachten (162).
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Literaturverzeichnis
165
§ 1 Einleitung
1. Sieht man sich in den bekannten Gesetzessammlungen unter dem Stichwort "Aussetzung" um, so begegnet man einer ganzen Reihe von Vorschriften, in welchen dieser Begriff in vielfältigem Zusammenhange und unter bemerkenswert unterschiedlichen Bedingungen verwandt wird.
Cum grano salis handelt es sich um Bestimmungen, in welchen den jeweiligen staatlichen Stellen die Möglichkeit eingeräumt oder die Pflicht auferlegt wird, mit einem laufenden Verfahren, das aus besonderen Gründen weder durch eine Entscheidung abgeschlossen noch zweckmäßig weitergeführt werden kann, einstweilen innezuhalten. Das technische Hilfsmittel, dessen man sich zu diesem Zwecke bedient, wird als "Aussetzung" des Verfahrens bezeichnet, wobei Verfahren in weitestem Sinne zu verstehen ist. So hat, um ein geläufiges verfassungsrechtliches Beispiel zu nennen, ein Gericht, gleich welchen Gerichtszweiges, nach Art. 100 GG bzw. Art. 133 Hess.Verf. 1 ein vor ihm schwebendes Verfahren auszusetzen, wenn es ein Bundes- bzw. Landesgesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Aber der Begriff Aussetzung begegnet uns nicht nur in prozessualen Situationen, in denen es gilt, ein anhängiges Streitverfahren als Ganzes aufzuhalten, sondern auch dort, wo im laufenden Verfahren die Ausführung eines Beschlusses - etwa des Beweisbeschlusses, durch den die Vernehmung einer Partei angeordnet wird, § 450 Abs. 2 ZPO- oder, sofern das Verfahren bereits durch eine Endentscheidung abgeschlossen ist, die Vollziehung der Entscheidung selbst aufgeschoben werden soll. So kann z. B. das Beschwerdegericht in der freiwilligen Gerichtsbarkeit wegen des fehlenden Suspensiveffekts der Beschwerde die Vollziehung der angefochtenen Verfügung2 , das Strafgericht die Vollstrekkung von Gefängnisstrafen (§§ 23, 26 StGB) oder Maßregeln der Sicherung und Besserung (§§ 42 h, 42 l StGB, 456 c StPO) zur Bewährung aussetzen3. 1 Entsprechende Artikel enthalten auch die meisten anderen Länderverfassungen. 2 § 24 III FGG; vgl. auch § 80 IV VwGO, § 32 IV 2 BverfGG. 3 Ebenso: §§ 20, 57 ff. JGG.
12
Einleitung
Im Vollstreckungsverfahren kann oder soll das Vollstreckungsgericht ferner die Vornahme einzelner Vollstreckungshandlungen unterlassen, etwa die Verwertung gepfändeter Sachen unter Anordnung von Zahlungsfristen zeitweilig aussetzen (§ 813 a ZPO) oder- auf Antrag- die Veräußerung von Wertpapieren, die im Zwangsversteigerungsverfahren zur Sicherheit für das Bargebot des Erstehers hinterlegt worden sind, bis zur Rechtskraft des Beschlusses, durch den der Zuschlag erteilt wurde, aufschieben (§ 108 ZVG) 4 • Der Sache nach handelt es sich auch bei der einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung5 oder der temporisierenden Zwischenverfügung nach § 18 GB06 um eine Aussetzung im angegebenen Sinne. 2. Die angeführten Beispiele erweisen die Notwendigkeit einer Begrenzung des Themas. Es leuchtet ein, daß nicht alle Aussetzungsvorschriften, deren vielgestaltige Verwendung hier nur angedeutet werden kann, und alle mit ihnen zusammenhängenden Fragen in die vorliegende Betrachtung einbezogen werden können. Die einzelnen Aussetzungsvorschriften sind zudem von recht unterschiedlichem dogmatischem Gewicht und nicht alle in gleicher Weise rechtlich interessant. Eine Begrenzung des Stoffes erfolgte nach verschiedenen Richtungen. Zunächst sollen im folgenden nur die rechtliche7 Sistierung eines anhängigen, noch nicht in irgendeiner Form erledigten Verfahrens und nicht die Aussetzung einzelner Vollstreckungshandlungen oder der Vollziehung bereits gefällter Zwischen- oder Endentscheidungen Gegenstand der Erörterung sein, und zwar, um den Begriff "Verfahren" noch zu präzisieren, nur die Sistierung gerichtlicher (Erkenntnis-)Verfahren8 • Weiterhin war bezüglich der zu behandelnden Ursachen eines Verfahrensstillstandes eine Grenze zu ziehen. Die Variationsbreite der möglichen Anlässe zur Aussetzung ist beträchtlich. So kann - um 4 Das "soll" in § lOB II ZVG bedeutet nach h. M. eine Pflicht des Gerichts zur Aussetzung, allerdings hat der Verstoß gegen diese Pflicht auf die Rechtsbeständigkeit der Veräußerung keinen Einfluß (vgl. Jäckel-Güthe, ZVG, §lOB Rdnr. 5; Steiner-Riedel, ZVG, § 108 Anm. 4; Zeller, ZVG, 7. Aufl., §lOB Anm. 2 f.; Wieczorek, ZPO, § 148, Anm. AI a 4); ebenso: § 116 ZVG (Aussetzungspflicht bei der Ausführung des Teilungsplanes); ferner: § 160 KO (Aussetzung der Abschlagsverteilung im Konkursverfahren). 5 §§ 707, 719, 732 II, 766 I 2, 769, 770, 771 III, 805 IV, 775 ZPO, 28, 30, 75, 76, 77ZVG. 6 Vgl. z. B. LG Düsseldorf JMBLNRW 1948, 150. 7 Nicht auch die "tatsächliche", vgl. Thomas-Putzo, Vorb. I 3 vor§ 239 ZPO. 8 Also z. B. nicht die Fälle der § 10 BRAO (Zulassung eines Rechtsanwalts) oder § 154 d StPO (Aussetzung des staatsanwaltliehen Ermittlungsverfahrens) oder § 244 AO (Aussetzung der Entscheidung über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf nach §§ 228 ff. AO).
§ 1 Einleitung
13
extreme Beispiele zu nennen - der Bundestag mit Hilfe seines sog. Reklamationsrechtes9 die Aussetzung eines gegen einen Abgeordneten eingeleiteten Strafverfahrens verlangen (Art. 46 IV GG) oder das Vormundschaftsgericht gern. § 68 JWG das Verfahren zur Anordnung der Fürsorgeerziehung durch Beschluß bis zu einem Jahr aussetzen, um die Wirkung eines solchen Schwebezustandes auf den Jugendlichen erzieherisch zu nutzen10. Die Aussetzung des Verfahrens kann aus Rücksicht auf die Angriffsund Verteidigungsmöglichkeiten der Parteien im Prozeß geboten11 oder doch wenigstens zweckmäßig sein12• Manchmal ist auch eine rasche Entscheidung des Rechtsstreits nicht unter allen Umständen die beste Lösung, etwa wenn eine gütliche Einigung möglich erscheint oder die Beziehungen der Parteien einer Neuordnung bedürfen13 . Handelt es sich in den genannten Fällen mehr um innerprozessuale, die Beteiligten betreffende Umstände, welche den Richter zur Anordnung des Verfahrensstillstandes veranlassen, so gibt es eine Reihe von anderen Aussetzungsvorschriften, bei deren Schaffung der Gesetzgeber vornehmlich die Beziehung zu einem anderen Prozeß im Auge hatte. Die Aussetzungsbefugnis dient hier dem Richter zur Herstellung einer zweckmäßigen Reihenfolge zwischen mehreren, dem Gegenstand nach verschiedenen, dem Stoff nach jedoch zusammenhängenden gerichtlichen Verfahren. Zu diesen Aussetzungsvorschriften gehören die §§ 148 ff. ZPO, die bezeichnenderweise nicht im 5. Titel des 3. Abschnitts der ZP0 14 eingeordnet worden sind, sondern im 1. Titel desselben Abschnitts15 im Zusammenhang mit den Vorschriften über die Prozeßleitung und insbesondere über die Trennung (§ 145 ZPO) und Verbindung (§ 147 ZPO) von Prozessen. Die systematische Stellung der Vorschriften bringt ihre prozessuale Aufgabe bereits deutlich zum Ausdruck: Nicht innerprozessuale, die Parteien betreffende Ereignisse, sondern die konkurrierende Beziehung zu einem anderen Verfahren, welche Klärung und gegebenenfalls Herstellung eines zweckmäßigen, den Aufgaben und dem Sinn des Prozeßrechts entsprechenden Verhältnisses erheischt, ist der primäre Anlaß zur Aussetzung. Dieser Prozeßkonkurrenz - soweit sie durch Aussetzungsvorschriften eine Regelung erfahren hat - gilt in erster Linie die Aufmerksamkeit der Untersuchung. Dazu Maunz-Dürig, Art. 46 GG, Rdnr. 72 ff. 1o Vgl. Riedel, § 68 JWG Anm. 1. 11 Vgl. §§ 145 III, 265 III, 429 d, 217 StPO; 246 ZPO. 12 §§ 145 I, II, 246, 265 IV StPO; 247 ZPO, auch §§ 75 VwGO, 46 FGO. 1a z. B. §§ 11 MSchuG; 620 ZPO, auch§ 681 ZPO. 14 Unterbrechung und Aussetzung des Verfahrens, §§ 239-252 ZPO. 15 Mündliche Verhandlung, §§ 128-165 ZPO.
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14
Einleitung
Freilich reicht das prozeßrechtliche Problem, welches durch den Einfluß mehrerer Rechtsstreitigkeiten aufeinander hervorgerufen wird, zur Deutung der Regelung in den §§ 148 ff. ZPO nicht aus. Die §§ 151 ff. ZPO lassen erkennen, daß ein zweiter Problemkreis berührt und hier zum Teil geregelt wird, nämlich die Zuständigkeit bestimmter Gerichte zur ausschließlichen Behandlung der ihnen zugewiesenen Rechtsgebiete, gesichert durch den Zwang zur Aussetzung der Verfahren, in denen Fragen aus diesen Rechtsgebieten für die Entscheidung erheblich sind. Stellt man die Vorschriften zusammen, die eine Aussetzung des Verfahrens zum Zwecke der Klärung für die Entscheidung erheblicher Vorfragen vorsehen, so ergeben sich zwei Gruppen: Einmal Vorschriften, die dem Richter die Aussetzung des Verfahrens zur Pflicht machen (z. B. Art. 100, 126 GG, Art. 133 Hess.Verf., Art. 177 III EWG-Vertrag; §§ 151-154, 578 II ZP016, 86, 97 V ArbGG, 60 BVerfGG, 11 II GebrMuG, 96 GWB, 20 Satz 3 MSchuG, 68, 83 DRiG, 37 UmwandlgsG (a. F.), 95 FGG), zum anderen Vorschriften, die dem Richter eine Befugnis zur Aussetzung einräumen (z. B. §§ 65, 148, 149, 953 ZPO, 94 VwGO, 262 II StPO, 114 SGG, 74 FGO, 33 BverfGG, 127 (147, 159, 161) FGG, 11 VertrHilfeG, 11 I GebrMuG, 46 II WEG, 468 AO (a. F.), 63 WDO, 60 PbefG). Die vorgenommene, auf den ersten Blick vielleicht äußerliche, an der Frage des richterlichen Ermessens hinsichtlich der Verfahrensgestaltung orientierte Einteilung hat einen tieferen Grund: Sie kennzeichnet die Grenzlinie zwischen den Aussetzungsvorschriften, deren Zweck die Sicherung einer vom Gesetzgeber gewollten ausschließlichen Beurteilungskompetenz bestimmter Gerichte ist, und Vorschriften, deren Sinn in der Regelung des Konkurrenzproblems bei verschiedenen, gleichzeitig anhängigen, gerichtlichen Verfahren liegt. Daß die Gruppe der Aussetzungsvorschriften, durch die eine Regelung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Rechtsstreitigkeiten erfolgt, neben dem - notwendigen - Merkmal der Anhängigkeit auch regelmäßig durch die Einräumung richterlichen Ermessens gekennzeichnet wird, ist eine Beobachtung, die schon jetzt festgehalten zu werden verdient. Mit diesen beiden Bereichen - dem Verhältnis mehrerer Prozesse zueinander und der Kompetenzverteilung unter verschiedenen staatlichen Organen im Hinblick auf bestimmte Rechtsfragen - ist der Gegenstand der Untersuchung bezeichnet. 3. Noch ein Wort zum Begriff des "Verfahrensstillstandes", wie er in der Zivilprozeßordnung gebraucht wird. Ursprünglich hatte der Ge16 § 578 II ZPO enthält ein Verbot der Klageverbindung von Nichtigkeitsund Restitutionsklage; insofern stellt die Vorschrift eine Ausnahme dar.
§ 1 Einleitung
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setzgeber im ersten Buch (5. Titel, 3. Abschnitt) drei Arten des verfahrensrechtlichen Stillstandes geregelt: a) Den als "Unterbrechung" bezeichneten, kraft Gesetzes und unabhängig vom Willen oder von der Kenntnis des Gerichts und der Parteien eintretenden Stillstand des Verfahrens ; es handelt sich hierbei durchweg um solche Fälle, in denen die eine oder die andere Partei der Verteidigung beraubt und deshalb eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedürftig wird17 ; b) die "Aussetzung" des Verfahrens kraft richterlicher Anordnung, die teils von Amts wegen, teils auf Antrag der Parteien, einmal notwendigerweise, ein anderes Mal nach dem Ermessen des Gerichts getroffen wird; c) das sog. "Ruhen" des Verfahrens, welches bis zur Prozeßrechtsnovelle vom 13. 2. 1924 von den Parteien beliebig durch Vereinbarung oder durch Ausbleiben im Termin herbeigeführt werden konnte, jetzt aber vom Gericht unter den in § 251 ZPO genannten Voraussetzungen angeordnet werden muß und damit zu einem besonders gestalteten Unterfall der Aussetzung geworden ise8 • Gegenstand des hier behandelten Themenkreises ist nur die durch richterlichen Beschluß anzuordnende Aussetzung des Verfahrens, nicht auch die automatisch kraft Gesetzes eintretende Unterbrechung. Dies ergibt sich bereits aus der oben vorgenommenen Abgrenzung hinsichtlich der den Stillstand des Verfahrens hervorrufenden Gründe, denn eine automatische Unterbrechung durch die Vorgreiflichkeit eines anderen anhängigen Verfahrens oder die Notwendigkeit der Klärung einer Vorfrage durch eine andere Behörde ist dem Gesetz unbekannt. Die Vorschrift des § 251 ZPO und die dort vorgesehene Möglichkeit, das Ruhen des Verfahrens auf Antrag beider Parteien anzuordnen, ergänzt zwar die Aussetzungsregel des § 148 ZPO, hat aber anders als diese nur die privaten Interessen der Parteien im Auge, denen Raum gewährt wird, soweit sie nicht das öffentliche Interesse an einer schnellen und zweckmäßigen Rechtspflege beeinträchtigen. Die Vorschrift kann deshalb ebenfalls aus der Erörterung ausgeklammert werden. Wenn im folgenden von Stillstand und Sistierung des Verfahrens gesprochen wird, so ist also immer an die Aussetzung des Verfahrens im Sinne eines durch das Prozeßgericht angeordneten oder anzuordnenden Stillstandes des Verfahrens gedacht. 17 § 241 ZPO: Verlust der Prozeßfähigkeit oder Wegfall des gesetzlichen Vertreters; §§ 239, 240, 242, 243 ZPO : Gesetzlicher Parteiwechsel infolge Verlustes der Aktiv- bzw. Passivlegitimation (Tod, Konkurs, Nacherbfolge, Nachlaßverwaltung) ; § 244 ZPO: Tod des Rechtsanwalts oder Verlust der Vertretungsfähigkeit im Anwaltsprozeß; § 245 ZPO: Eintritt des Stillstandes der Rechtspflege in Kriegszeiten. 18 Vgl. Rosenberg, Lehrbuch, § 122 Il.
16
Einleitung
4. Die Interpretation der Aussetzungsregeln erfordert zunächst eine Analyse der in den Vorschriften gebrauchten Begriffe; es wird zu klären sein, welchen Gehalt die Begriffe Abhängigkeit, Entscheidung, Rechtsverhältnis und Gegenstand (eines anderen vorgreifliehen Verfahrens) in der Bestimmung des § 148 ZPO haben. Freilich würde eine Wortinterpretation allein nicht genügen. Einmal führt sie, wie sich bald zeigen wird, selbst unter zusätzlicher Berücksichtigung des subjektiven Willens des Gesetzgebers zu einem - wenn nicht praktisch unbrauchbaren, so doch theoretisch- befremdlichen Ergebnis; zum anderen vermag die bloß begriffliche Rechtfertigung einer prozessualen Maßnahme, die immerhin eine temporäre Verweigerung des begehrten Rechtsschutzes zeitigt, nicht zu überzeugen. Man erwartet eine am objektiven Zweck des Gesetzes, der "ratio legis" ausgerichtete, die kollidierenden Rechtsprinzipien und Interessen sorgfältig abwägende Begründung. Somit erweist es sich als notwendig, die Aussetzung in einen historischen und teleologischen Zusammenhang mit anderen prozessualen Einrichtungen zu rücken, die ebenfalls die Aufgabe erfüllen, eine Mehrheit von sachlich gleichen oder zusammenhängenden Rechtsstreitigkeiten vernünftig zu ordnen. Anhand der herauszuarbeitenden Zwecke wird zu bestimmen sein, welcher Gebrauch - im Rahmen der durch den richtig verstandenen Gesetzeswortlaut gezogenen Grenzen- die nach dem Gesetz vorrangigen Interessen am meisten fördert. Vielleicht wird es sogar nötig werden, den Tatbestand der Aussetzung, dem heutigen Stand der Prozeßrechtstheorie entsprechend, neu zu formulieren.
1. Abschnitt
Der Tatbestand der Aussetzung nach§ 148 ZPO Man ist sich in Literatur und Rechtsprechung im Grundsatz darüber einig, daß die Aussetzung eines gerichtlichen Verfahrens eine Durchbrechung des Prinzips der staatlichen Rechtspflege bedeutet, alle Verfahren möglichst schleunig einer Entscheidung entgegenzuführen, und deshalb grundsätzlich nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen zulässig ist1• Außerhalb dieses gesetzlichen Rahmens kommt sie einer (zeitweiligen) Verweigerung des staatlichen Rechtsschutzes gleich und kann - von einigen später zu erörternden Ausnahmen abgesehen - grundsätzlich nicht gebilligt werden2 • Es ist deshalb zunächst einmal geboten, die tatbestandliehen Voraussetzungen des§ 148 ZPO zu klären. § 148 ZPO gestattet die Aussetzung, wenn die Entscheidung ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Verfahrens bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Gleichlautend oder ähnlich formuliert wie § 148 ZPO sind die §§ 94 VwGO, 74 FGO, 114 SGG, 262 II StPO. Demgegenüber kann das Bundesverfassungsgericht nach § 33 BverfGG sein Verfahren bis zur Erledigung eines bei einem anderen Gericht anhängigen Verfahrens bereits dann aussetzen, wenn "die Feststellungen oder die Entscheidung" dieses anderen Gerichts für seine Entscheidung "von Bedeutung" sein können. Ähnlich unbestimmt spricht § 149 ZPO von einem "Einfluß" der Ermittlung einer strafbaren Handlung auf die Entscheidung. Vergleicht man den Tatbestand der§§ 33 BverfGG, 149 ZPO mit denjenigen der zuerst genannten Vorschriften, so wird schon bei einem flüchtigen Zusehen deutlich, welche Fragen sich bezüglich der Festlegung der tatbestandliehen Voraussetzungen des § 148 ZPO zunächst stellen: Erstens, was bedeutet "Abhängigkeit" im Unterschied zu "Ein1 Wieczorek § 148 ZPO Anm. AI; Stein-Jonas, 18. Auft., § 148 ZPO Anm. I 1; ZöUer-Stephan, 10. Auft., § 148 Anm. I. Vgl. auch RGZ 70, 321 f., JW 1909, 194; JW 1894, 61/62; OLG Königsberg OlGRspr.13, 122. 2 Wieczorek § 148 ZPO Anm. A II; Stein-Jonas, 18. Auft., § 148 ZPO Anm. I 1 (in der 19. Auf!. abgeschwächt).
2 Mittenzwei
18
I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
fluß" bzw. der Formulierung "von Bedeutung"? Und zweitens, wovon muß die Entscheidung abhängen, oder anders gesagt: Welche Vorfragen berechtigen im Rahmen der genannten Vorschrift zur Aussetzung und welche nicht? § 2 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von Vorfragen
1. In der zivil- und verwaltungsprozessualen Kommentarliteratur finden sich zu den§§ 148 ZPO, 94 VwGO Ausführungen über die Frage, wie man sich die Abhängigkeit der Entscheidung von einem den Gegenstand eines anderen Verfahrens bildenden Rechtsverhältnis vorzustellen hat, in recht spärlichem Umfang. Meist begnügt man sich mit an den Wortlaut der Vorschriften angelehnten Definitionen und der Anführung einer mehr oder weniger umfangreichen Kasuistik. Werden weitergehende Umschreibungen der Abhängigkeit versucht, so kommt es zu Formulierungen wie: Die Abhängigkeit (Präjudizialität) liege vor, wenn das Rechtsverhältnis als Vorfrage für die Entscheidung über den Klagegrund, insbesondere die Sachbefugnis, oder für die Entscheidung über eine hier erhobene Einrede, Replik usw. oder eine Prozeßvoraussetzung in dem auszusetzenden Prozeß "in Betracht" komme3 • Angesichts solcher begrifflicher Bestimmungen der Abhängigkeit fragt man sich allerdings sogleich, worin nun eigentlich der Unterschied zu den in den §§ 149 ZPO, 33 BverfGG gewählten Ausdrücken (von Einfluß - von Bedeutung sein) zu suchen ist und ob ein solcher überhaupt besteht. Andererseits überrascht dann wieder die Gleichsetzung von "Abhängigkeit" und "Präjudizialität", die auch bei vielen anderen Autoren zu finden ist\ obwohl meistens wenige Sätze später ausgeführt wird, daß eine Rechtskraftwirkung für die Aussetzung nicht Voraussetzung sei, vielmehr jeder zu erwartende "tatsächliche Einfluß", inshesondere auf die Beweiswürdigung, genüge5 • Manchmal wird auch von 8 Stein-Jonas, 19. Aufl., § 148 ZPO Anm. II 1 a ; ähnlich Seuffert-Walsmann 148 ZPO Anm. 1 a 2. Abs. (" ... als sein Urteil beeinflussendes Moment in Betracht kommen kann") unter Berufung auf Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 179 f. 4 Förster-Kann § 148 ZPO Anm. 2 a; Hellwig, System, Teil1, S. 616; Nikisch, Lehrbuch, § 72 II; Rosenberg, Lehrbuch, §58 113 d; Seuffert-Walsmann § 148 ZPO Anm. 1 a; Sydow-Busch § 148 ZPO Anm. 2; Nicklisch, a.a.O., S. 35/36; Wieczorek § 148 ZPO Anm. B. 5 Stein-Jonas, 19. Aufl., § 148 ZPO Anm. II 1 a; Thomas-Putzo, 3. Aufl., § 148 ZPO Anm. 2 a; Nikisch, Lehrbuch, § 72 II; a. A. soweit ersichtlich nur Kuttner, Nebenwirkungen. S. 251.
§
§ 2 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von Vorfragen
19
"rechtlichem Einfluß" gesprochen6, sei es kraft einer Reflexwirkung7 , sei es als bloßer Beweisgrund8 • Letzteres ist jedoch irreführend; beispielsweise wird der "Beweiswirkung eines Urteils" bei der Erörterung des rechtlichen Interesses eines Nebenintervenienten in der Literatur keine Bedeutung beigemessen9 ; eine solche Wirkung des Urteils gibt es auch gar nicht. Von ihr könnte man höchstens sprechen, wenn der Richter das Urteil bis zum Beweise des Gegenteils als richtig anerkennen müßte; nach§ 286 ZPO ist er aber in der Lage, das Urteil frei zu würdigen. Wenn er in seiner Entscheidung durch das Urteil beeinflußt werden kann, so beruht dies darauf, daß bei der neuerlichen Prüfung einer bereits früher entschiedenen Frage die früher benutzten Beweismittel wieder auftauchen und nunmehr die Würdigung des anderen Richters aus dem Urteil ersichtlich ist. Natürlich kann die Wirkung, welche die Entscheidung auf die Überzeugung des Richters ausübt, als "Beweiswirkung" bezeichnet werden, nur kann dieser Wirkung - da der Richter nicht gezwungen ist, das vorgreifliehe Urteil zu berücksichtigen keine besondere Funktion zuerkannt und kein sich auf die Verhältnisse Dritter auswirkender "rechtlicher Einfluß" zugesprochen werden. Demnach steht soviel fest, daß die h.M. die in § 148 ZPO als Voraussetzung der Aussetzung geforderte Abhängigkeit nicht als irgendwie gearteten prozeß-"rechtlichen" Einfluß der (zu erwartenden) Entscheidung eines anderen anhängigen Verfahrens versteht, mögen es die gebrauchten Wendungen verschiedentlich auch nahelegen. Was aber bezüglich des Begriffes Abhängigkeit in der Beziehung Entscheidung zu Rechtsverhältnis gesagt wird, geht im Grunde nicht über das hinaus, was sich dem Wortlaut des § 148 ZPO selbst entnehmen läßt, von gelegentlichen aufschlußreichen Hinweisen wie "kraft Gesetzes oder rechtslogisch" bestehende Abhängigkeit10 einmal abgesehen. 2. Interessanterweise taucht die in § 148 ZPO vom Gesetzgeber verwandte Formulierung an einer anderen Stelle der Zivilprozeßordnung nochmals auf, nämlich bei der Zwischenfeststellungsklage. 6 Vgl. z. B. Baumbach-Lauterbach, 30. Aufi., § 148 ZPO Anm. 1 A; Zöller, 10. Aufi., § 148 ZPO Anm. II 1; Ziemer-Birkholz, § 74 FGO Rdnr. 9; KG OLGRspr 11, 68 (69). 7 z. B. 1. Prozeß: G klagt gegen den Hauptschuldner, der die Schuld bestreitet. 2. Prozeß: Klage des G gegen den Bürgen, der sich auf die Abweisung berufen könnte, wenn sie erfolgt (nach Hellwig, System, S. 616 Fußn. 8). 8 z. B. 1. Prozeß: Klage des A gegen den Testamentserben (T) auf Feststellung der Nichtigkeit des Testaments. 2. Prozeß: Klage des T gegen einen Nachlaßschuldner (nach Hellwig, System, S. 616 Fußn. 9). 9 Vgl. z. B. Wach, Handb. S. 629; Walsmann, Streitgenössische Nebenintervention, 1905, S. 140 f.; Nikisch, Lehrbuch, § 112 I 3 c S. 445; Hellwig, System I, § 90 s. 221/222. 10 Redeker-v. Oertzen, 3. Aufl., § 94 VwGO Anm. 1.
2*
20
I.
Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
Nach § 280 ZPO kann bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung der Kläger durch Erweiterung des Klageantrages, der Beklagte durch Erhebung einer Widerklage beantragen, daß ein im Laufe des Prozesses streitig gewordenes Rechtsverhältnis, "von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil abhängt", durch richterliche Entscheidung festgestellt werde. Aus der Begründung zu§ 283 des Entwurfs der CPO (dem heutigen§ 322 ZP0) 11 ergibt sich, daß § 280 ZPO im Zusammenhang mit § 322 ZPO gesehen werden muß. Der Gesetzgeber lehnte mit Rücksicht auf den wohlverstandenen Willen der Parteien die Lehre Savigny's ab, daß auch die in den Gründen enthaltenen Elemente des Urteils in Rechtskraft erwachsen, und beschränkte den Umfang der Rechtskraft auf die Entscheidung über den erhobenen Anspruch, gewährte aber stattdessen die Möglichkeit der Zwischenfeststellungsklage, um auf diese Weise den Parteien die Vorteile der Lehre Savigny's zu erhalten. Auch hier wird in der Literatur von "präjudiziellen Rechtsverhältnissen" gesprochen, die im Wege der Zwischenfeststellungsklage der Rechtskraft zugeführt werden könntenu. Ohne die Vorschrift des§ 280 ZPO näher zu erläutern, kann aus ihrem Vergleich mit § 148 ZPO jedenfalls schon jetzt die Einsicht gewonnen werden, daß die gleichlautende Formulierung der Abhängigkeit in beiden Vorschriften von der h. M. verschieden verstanden wird; während für die Aussetzung eine zu erwartende Rechtskraftwirkung nicht Voraussetzung sein soll, hat die Zwischenfeststellungsklage unstreitig ein Rechtsverhältnis zum Gegenstand, das, sobald es festgestellt ist, präjudizielle Rechtskraftwirkung entfalten würde. 3. Um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Entscheidung und Rechtsverhältnis näher zu erklären, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen. Die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die Rechtsordnung, stellt eine mehr oder minder vernunftgemäße, an der Idee der Gerechtigkeit orientierte Organisation dar, welche die Menschen ihrem sozialen Zusammenleben gegeben haben. Der Tatbestand jeder ordnenden gesetzlichen Vorschrift hat dabei einen für die menschliche Gemeinschaft in irgendeiner Hinsicht bedeutsamen und bestimmten, als möglich vorgestellten Sachverhalt zum Inhalt, an den der Gesetzgeber für den Fall seiner Verwirklichung eine bestimmte Rechtsfolge geknüpft hat. Jeder auf diese Weise normierte Sachverhalt kann aus einem einzigen Vorgang 11 Hahn-Stegemann, Ges. Materialien zur CPO, 1. Abt., 2. Aufl. (1881), S. 291; vgl. auch Oertmann, Inzidentfeststellungsklage, ZZP 22, 11 ff. 12 Rosenberg, Lehrbuch, § 92 III 1; Blomeyer, Lehrbuch, § 37 IV; SeuffertWalsmann, § 280 ZPO Anm.1; Förster-Kann, § 280 ZPO Anm. 1 u. a.
§
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oder Zustand bestehen, er kann aber auch mehrere Vorgänge bzw. Zustände zum Gegenstand haben oder beides verbinden. Die einzelnen Vorgänge, Zustände oder sonstigen Gegebenheiten werden als Tatbestandselemente bezeichnet13• Zur Kennzeichnung der verschiedenen Tatbestandselemente benutzt der Gesetzgeber teils Allgemeinvorstellungen, die in der Sprache mit bestimmten Worten oder Wortzusammensetzungen verbunden sind, teils bedient er sich gewisser Begriffe, die er bei der Schaffung des Gesetzes selbst gebildet oder - was sehr viel häufiger ist - die er dem in Lehre und Überlieferung gewachsenen Sprachgebrauch des Juristenstandes entnommen hat14• Jeder Begriff15 wird seinerseits bestimmt durch seine Definition, d. h. durch die möglichst erschöpfende Angabe der ihn kennzeichnenden Merkmale, häufig in Bezug auf einen ihn umfassenden Gattungsbegriff. Die aufgezählten Merkmale des jeweils definierten Begriffs sind - um es in einem Bild auszudrücken - gleichsam die Grenzpfähle seines Anwendungsbereichs. Wie ein Begriff definiert wird, hängt nicht allein von den - aus den Gesetzesmaterialien ersichtlichen - Vorstellungen des Gesetzgebers ab, sondern von den jeweils herrschenden Rechtsanschauungen, die sich oft in erstaunlich kurzer Zeit wandeln. Wendet nun ein Richter die einzelnen Rechtssätze auf einen bestimmten, von den Parteien vorgetragenen Lebenssachverhalt an, so prüft er, ob dieser ihm vorgelegte Sachverhalt diesseihen Merkmale aufweist, die den einzelnen Begriffen eines in Frage kommenden Tatbestandes aufgrund ihrer Definition zukommen. Hat z. B. der Tatbestand T die Begriffe A = a+b+c+d und B = x+y+z zum Inhalt und besitzt der vorgetragene Sachverhalt S ebenfalls die Merkmale a, b, c, d, x, y, z, so schließt er auf die Identität von T und S. Man bezeichnet diesen Denkvorgang gewöhnlich als "Subsumtion" des Sachverhalts unter eine Rechtsnorm11• Es ist einsichtig, daß die Anwendung eines Gesetzes im Wege der sog. Subsumtion selten ein bloßes logisches Schlußverfahren ist11• Fast immer 13 Vgl. über die verschiedenen Arten von Tatbestandselementen Larenz, Methodenlehre, 2. Auft., S. 209 ff. 14 Larenz, a.a.O., S. 215. 15 Zur "vollkommensten Methode" der Begriffsbestimmung i. S. Pascal's und zur "axiomatischen Methode" (Kettendefinitionen) vgl. Klug, Jur. Logik,
s. 14 ff.
16 Der Ausdruck ist aber zu eng, vgl. Klug, Jur. Logik, S. 6 Anm. 21. Zum Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung im einzelnen: Larenz, Methodenlehre, S. 228 ff. 11 Coing, Rechtsphilosophie, 2. Auft., S. 327 ff. Für Esser, Wertung, Konstruktion und Argument im Zivilurteil, S. 5, ist "Urteilen stets Werten". Zur Begründung einer rationalen Entscheidungstheorie ("Judicial Decision-Making") vgl. Weimar, Psychologische Strukturen richterl. Entscheidung, S.150 ff.
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
handelt es sich bei der Prüfung der Identität von Sachverhalt und Tatbestand um einen logisch-wertenden Vorgang, der einmal die Umsetzung der vielgestaltigen Lebenswirklichkeit in die Begriffe der Sprache, zum andern eine ganze Reihe juristisch-hermeneutischer Überlegungen erfordert (philologische Auslegung des Gesetzestextes; systematischer Zusammenhang der Vorschriften; Interessenanalyse; Bestimmung der vom Gesetzgeber gewollten Interessenwertung u. a.)18• Häufig enthält das Gesetz für den betreffenden Sachverhalt überhaupt keine Regelung, so daß eine Lösung - zu welcher der Richter verpflichtet ist - erst nach Ausfüllung der Lücke im Gesetz durch Herausarbeitung eines allgemeinen Grundsatzes möglich ist, was weitere, nicht selten komplizierte Arbeits- und Denkvorgänge erfordert (Verfolgung der historischen Entwicklung, der tragenden wirtschaftlichen, politischen, ethischen Ideen; Rechtsvergleichung; Fallanalyse; Herausarbeitung von Gesichtspunkten (Argumenten), Typen, evtl. neue Begriffsbildung u. ä.)19• Ist die Tragweite eines normierten Tatbestandes allerdings erst einmal geklärt und die Identität mit dem vorgelegten Lebenssachverhalt festgestellt, so macht der Schluß auf die in der jeweiligen Rechtsnorm vorgesehene Rechtsfolge im allgemeinen keine Schwierigkeiten mehr. Die Schlußfolgerung als solche bereitet dem Juristen die geringste Mühe, "die Hauptschwierigkeit liegt im Finden der Prämissen" 20 • Dennoch darf sich der Richter auch hier mit dem rein logischen Schluß auf die Rechtsfolge nicht ohne weiteres zufrieden geben, sondern muß letztere nunmehr im Hinblick auf die übergeordnete Gerechtigkeitsidee "werten" (Nichtanwendung einer Norm "contra legem"; Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormen). Eine festgestellte Rechtsfolge kann ihrerseits wieder ein Tatbestandselement für andere Rechtsfolgen sein, weil die einzelnen Rechtsnormen, wie gesagt, nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern als ein auf die Organisation des menschlichen Lebens gerichtetes, zusammenhängendes System teleologisch strukturiert sind. Jedes Urteil, das ein Richter über einen ihm unterbreiteten Sachverhalt fällt, stellt also in Wirklichkeit eine Vielzahl von Urteilen über alle möglichen Vorfragen dar, die bei der Subsumtion des Sachverhalts unter die einschlägigen Normen auftauchen. Kommt der Richter aufgrund seiner Schlüssigkeitsprüfung des Sachverhalts zu einem positiven Ergebnis und müßte er dem gestellten tR
Zu den methodischen Gesichtspunkten der Hermeneutik vgl. Coing, a.a.O.,
19
Zu den Möglichkeiten, die eine topische Denkweise dabei bietet, vgl.
s. 313 ff.
Horn, NJW 1967, 601 ff. (604 ff.); ferner Coing, a.a.O., S. 320. 20 Engisch, Logische Studien, S.13; vgl. aber Klug, Jur. Logik, S. 8.
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Antrag des Klägers stattgeben, so erwächst ihm eine weitere Aufgabe: Er muß nunmehr feststellen, ob der Sachverhalt, so wie er dargestellt wurde, sich tatsächlich zugetragen hat. Dabei ergeben sich neue schwierige Fragen: Wer hat welchen Beweis zu führen, welchen Beweiswert haben die von den Parteien angegebenen Beweismittel, sind die vernommenen Zeugen glaubwürdig, welche Schlüsse lassen sich aus ihren Aussagen, ihrem Verhalten ziehen u. a. m. Die Feststellung des "wahren" Sachverhalts, d. h. die- meist mittelbare - Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihre Erfassung mit den Worten unseres Sprachschatzes, ist wiederum ein wertender Vorgang. Die Erkenntnis von Tatsachen wird niemals allein durch Wahrnehmung bewirkt, sondern erfordert eine "kategoriale Verarbeitung" 21 • 4. Die Notwendigkeit, einzelne Fragen nacheinander zu lösen, hat in einem gerichtlichen Verfahren zwei verschiedene Ursachen. Die erste liegt in dem eben geschilderten Aufbau der gesetzlichen Tatbestände und der Tatsache begründet, daß jeder Denkvorgang, der zu einer mit der erkennbaren Wirklichkeit übereinstimmenden und allen Mitdenkenden nachvollziehbaren Lösung führen soll, sich bestimmten logischen Gesetzen unterwerfen muß, deren Vorhandensein überprüft werden kann. Werden diese allgemeinen Denkgesetze nicht eingehalten, so fehlt dem Denkvorgang die Evidenz und er bleibt anfechtbar oder gar unverständlich22 • Das gilt für die Jurisprudenz wie für alle Wissenschaften. Dabei ist aber zu beachten, daß in der Rechtswissenschaft mit "Logik" weniger eine exakte formallogische Operation23 als vielmehr eine "Denkrichtigkeit in einem weiteren Sinne" bezeichnet wird, bei der Lebenserfahrung, soziales Verständnis und Einfühlungsvermögen eine Rolle spielen24 • Die Rechtsfindung erfolgt eben überwiegend im Wege der Wertung, ganz abgesehen davon, daß die Subsumtion einer unendlichen Zahl von Fällen unter eine endliche Zahl von Normen immer nur zur mehr oder minder großen Annäherung, kaum jemals aber zur Identität von Sachverhalt und Tatbestand führen wird25 • 21 Engisch, Logische Studien, S. 57; eingehend Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, S. 29 ff. 22 Der Verstoß gegen die Logik ist als eine in jedem Falle revisionsbegründende Verletzung des materiellen Rechts angesehen worden; vgl. OGH Brit. Zone NJW 1949, 190; BGHSt. 6, 72. 23 Die Regeln der formalen Logik gelten schon für die Erfassung aller logischen Momente der Sprache als zu eng; vgl. Bubner, Sprache und Analysis, Einl. S. 11 f., 15 ff.; Strawson, ebda., S. 63 ff. (95). 24 Dazu Horn, NJW 1967, 604; anders Kralik, a.a.O., S. 5/6. 25 Vgl. Simitis, Recht und Staat, 1966, Heft 322, S. 10/11.
I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
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Aus der großen Zahl von Vorfragen, die sich bei der richterlichen Rechtsanwendung ergeben, hebt die Aussetzungsvorschrift des § 148 ZPO eine Gruppe heraus: die Entscheidung muß von "Rechtsverhältnissen" abhängen, die den Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens bilden können. Nur dieser kleine Teil von Vorfragen ist für die Bestimmung des Begriffs der Abhängigkeit relevant. Ohne an dieser Stelle schon auf den Streit über den Begriff des "Streitgegenstandes" im Zivilprozeß vorzugreifen, läßt sich jedenfalls soviel sagen, daß dieser inhaltlich auf Rechtsfolgen ausgerichtet ist, die der Kläger in seinem Klageantrag umreißt und über die das Gericht anhand des vorgetragenen Sachverhalts zu befinden hat. Um eine Aussetzung zu rechtfertigen, muß also die Entscheidung über die begehrte Rechtsfolge ihrerseits von Rechtsfolgen abhängen, die Gegenstand der Entscheidung eines anderen Gerichts werden können. Der vom Gesetzgeber geschaffene Zusammenhang zwischen einem Tatbestand T und einer Rechtsfolge R (wenn T vorliegt, soll R gelten) begründet bei Anwendung der Rechtsnorm auf einen Sachverhalt S eine logische Beziehung zwischen S und R (weil S = T, gilt R). Gehört die Rechtsfolge R zu den Tatbestandsvoraussetzungen einer anderen Rechtsfolge Rt (wenn Tt- dann Rt), so entsteht zwischen S ( = T) und Rt eine logische Abhängigkeit: nur wenn S und Tidentisch sind und R gilt, kann auch - sofern die zusätzlichen Tatbestandsmerkmale erfüllt sind- Rt gelten. Abhängigkeit im Sinne des § 148 ZPO bedeutet also einmal logische Abhängigkeit der Entscheidung von der rechtlichen Beurteilung eines Sachverhaltsteils. Soll die Rechtsfindung in einem staatlichen Machtspruch, einem Urteil, ihren Abschluß finden, so muß die Art und Weise des gerichtlichen Vorgehens auch in organisatorischer Beziehung geregelt sein. Durch die Organisation der von den Gerichten zu leistenden Arbeit ist einerseits zu gewährleisten, daß diese Arbeit überhaupt und in der für den Staat rationellsten Weise vorgenommen wird, andererseits aber auch, daß die erzielten Ergebnisse einen höchstmöglichen Grad an Richtigkeit erreichen. Aus diesem Grunde treten neben jene die Hauptsache selbst betreffenden Vorfragen noch eine ganze Reihe anderer Vorfragen, die sich aus den die einzelnen Verfahren regelnden prozessualen Gesetzen ergeben. Da ihre Beurteilung zwar für die Entscheidung über die Hauptsache nicht notwendig ist, wohl aber vor Abschluß der Gedankenarbeit vorgenommen werden muß, handelt es sich bei der zwischen diesen Vorfragen verfahrensrechtlicher Art und der Hauptsache bestehenden Beziehung nicht um einen logischen, sondern um einen organisatorischen Zusammenhang28 • 26
Kralik, a.a.O., S. 6.
§ 2 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von Vorfragen
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Organisatorische Vorfragen sind nicht nur die Sachurteilsvoraussetzungen, sondern alle Verfahrensfragen im weitesten Sinne, also alle die unzähligen Fragen, die sich im Laufe eines Prozesses ergeben können und die seinen Gang bestimmen, etwa ob ein Zeuge die Aussage verweigern, ob die Öffentlichkeit ausgeschlossen, das Verfahren sistiert werden darf usw. Abhängigkeit im Sinne des § 148 ZPO könnte deshalb ferner Abhängigkeit der Entscheidung über die Hauptsache von organisatorischen Vorfragen bedeuten; in dieser Hinsicht läßt sich Endgültiges aber erst sagen, wenn der Begriff des Streitgegenstandes geklärt ist. 5. Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß es zweckmäßig ist, zusätzlich zwei Begriffe in die Untersuchung einzuführen; sie seien im folgenden kurz erläutert: Unter einer "Frage" versteht man im täglichen Sprachgebrauch die Aufforderung oder Bitte an eine andere Person, über einen bestimmten, in der Frage näher bezeichneten Gegenstand eine Auskunft zu erteilen oder ein Urteil zu fällen. Sieht man von dem bloßen Auskunftsersuchen ab, so enthält jede Frage eine dem menschlichen Verstand gestellte noch ungelöste Aufgabe- kurz: ein Problem, das der Klärung bedarf. Eine solche Frage braucht nicht unbedingt an eine andere Person gerichtet zu werden, sie kann sich auch einfach "erheben". Mit dem Begriff "Vorfrage" wird aus dem beschriebenen Bereich eine gewisse Art von Fragen hervorgehoben, welche in einer bestimmten Stellung zu anderen Fragen stehen27 • Vorfrage ist jede Frage, die sich nur deshalb erhebt, weil die Beantwortung anderer Fragen ihre Lösung notwendig voraussetzt. Vorfragen für die richterliche Entscheidung sind demnach alle Fragen, von denen das Urteil über den klägerischen Antrag abhängt, gleichgültig ob die Abhängigkeit aus einem logischen oder organisatorischen Zusammenhang resultiert. Der Vorfrage steht der Begriff der "Hauptfrage" als Korrelat gegenüber. Die Vorfrage ist für die Lösung der Hauptfrage "vorgreiflich". Die Beziehung Vorfrage - Hauptfrage stellt jeweils ein Glied in der Kette einer Beweisführung dar. Mit der Hauptfrage darf der Begriff der "Hauptsache" nicht verwechselt werden. Letzterer bezeichnet nicht die Stellung einer bestimmten Frage in einem Gedankenablauf zu einer anderen Frage, sondern ihre Stellung in einem anhängigen Prozeß. Der Begriff Hauptsache hat in der ZPO nicht an allen Stellen die gleiche Bedeutung28 • Wird von einer "Verhandlung zur Hauptsache" ge27 28
Dazu Kralik, a.a.O., S. 4 f. Vgl. Rosenberg, Lehrbuch, § 8 VII 3.
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
sprochen, so bedeutet dies in der Regel die Verhandlung über den oder die von dem Kläger geltend gemachten (prozessualen) Ansprüche im Gegensatz zu der Verhandlung über Verfahrensfragen (so etwa §§ 39, 271 ZPO), in§ 274 I!III ZPO aber bereits die Verhandlung über Prozeßvoraussetzungen, die in § 274 II ZPO nicht genannt sind, in §§ 340 III, 345 ZPO den Gegensatz zu der Verhandlung über die Zulässigkeit des Einspruches29 • In § 99 ZPO umfaßt die Entscheidung zur Hauptsache auch die Abweisung der Klage aus prozessualen Gründen, in § 249 II ZPO sind die Parteihandlungen in Ansehung der Hauptsache die Handlungen zur Fortführung des Prozesses im Gegensatz zu den Handlungen, die der Geltendmachung, Abwendung oder Beseitigung des Stillstandes dienen. Mit dem Begriff "Hauptsache" sind in der vorliegenden Untersuchung die vom Kläger behaupteten Rechtsfolgen gemeint, deren Feststellung oder Bewirkung er vom Gericht begehrt, m. a. W.: die zu beurteilende, konkrete Rechtslage. Entscheidung über die Hauptsache bedeutet Entscheidung über privates Recht im Unterschied zur Entscheidung über organisatorische Fragen. 6. Die Antwort auf die Frage, ob die Entscheidung über eine Rechtsfolge von einem Rechtsverhältnis abhängt, d. h. ob dieses Rechtsverhältnis Vorfrage im oben definierten Sinne ist, kann je nach dem Stadium, in dem sich der Prozeß befindet, verschieden ausfallen. Legt man die Klageschrift zugrunde, so sind alle diejenigen Tatbestandsvoraussetzungen Vorfragen, die (durch den vorgetragenen Sachverhalt) erfüllt sein müssen, damit die vom Kläger begehrte Rechtsfolge vom Gericht zugesprochen werden kann. Geht man von der Prozeßlage aus, die sich nach der Erklärung des Beklagten zur Klageschrift ergibt, so erweitert sich der Kreis der Tatbestandsvoraussetzungen um diejenigen, auf welche der Beklagte seine Einwände stützt; denn der Erfolg der Klage, die Feststellung der Rechtsfolge, setzt nunmehr voraus, daß keiner der erhobenen Einwände begründet ist. Nimmt man den Zeitpunkt der Urteilsfällung, so kann sich für den Fall der Klageabweisung endlich ergeben, daß die Entscheidung tatsächlich nur von einer einzigen Vorfrage abhing - nämlich der im Urteil verneinten. Welches Stadium des Prozesses ist nun für die Beurteilung der Abhängigkeit von einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 148 ZPO maßgebend? Zunächst ist zu bemerken, daß der Begriff "Tatbestand" hier in einem weiteren Sinne als gewöhnlich verwendet wird; er bedeutet den Inbegriff aller Voraussetzungen einer vom Kläger begehrten, konkreten Rechtsfolge, welche erfüllt sein müssen, damit diese vom Gericht antragsgemäß festgestellt werden kann, gleichgültig, ob nun die Voraus29
Vgl. BGH NJW 1967, 728 mit weit. Nachw.
§ 2 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von Vorfragen
27
setzungen in einer einzelnen oder in mehreren, in systematischem Zusammenhang stehenden Vorschriften enthalten, dem (nicht normierten) Gewohnheitsrecht entnommen oder als zusätzliche, von Rechtsprechung und Literatur entwickelte Kriterien aufgestellt worden sind30 • Sodann müssen zwei - sich freilich überschneidende kreise auseinandergehalten werden:
Problem-
Die Tatsache, daß sich der Sachverhalt im Laufe des Verfahrens verändert, folglich ständig neue Vorfragen auftauchen und alte sich erledigen können, und der Umstand, daß jede vom Kläger begehrte Rechtsfolge einen Tatbestand mit verschiedenen, kumulativ geforderten Tatbestandsmerkmalen hat, aber auch verschieden gerechtfertigt sein kann, weil eine ganze Reihe von Rechtsgrundlagen mit unterschiedlichen Voraussetzungen vorhanden sind. Das erste Problem ähnelt der strittigen Frage, auf welcher Grundlage über die Prozeßvoraussetzung der Zulässigkeit des Rechtsweges zu urteilen ist. Während die Rechtsprechung den Streitgegenstand nach den vom Kläger behaupteten Tatsachen dem öffentlichen oder dem privaten Recht zuordnet, ohne den wahren Sachverhalt zu berücksichtigen3 \ wird in der Literatur die Ansicht vertreten, zumindesten die Einwendungen des Beklagten müßten zusätzlich geprüft werden32• Würde ein Gericht allein aufgrund der eingereichten Klageschrift vom Wortlaut des § 148 ZPO scheinbar gedeckt - einen Prozeß aussetzen, um ein vorgreifliches Urteil eines anderen Gerichtes abzuwarten, so ließe es außer acht, daß der Prozeß schon mit dem ersten Schriftsatz des Beklagten entscheidungsreif werden kann. Dieser könnte ja den Sachverhalt zugestehen und die Rechtsfolge anerkennen, oder zwar den Sachverhalt bestreiten, zugleich aber Tatsachen vortragen, welche die vom Kläger begehrte Rechtsfolge aus einem anderen rechtlichen Ge30 Um nicht in den Verdacht zu geraten, der klassischen, heute heftig befehdeten "positivistischen' Rechtstheorie das Wort zu reden, die sich die richterliche Entscheidungstindung als durch die Gesetze "erzwungen" und demgemäß objektiv bestimmbar vorstellte, sei darauf hingewiesen, daß die Abhängigkeit der Rechtsfolgen von Tatbeständen idealtypisch gedacht wird. Auch wenn sich der gegenwärtig tonangebenden Strömung in der Rechtstheorie jede richterliche Handlung im zivilrechtliehen Bereich als kreative "Wahl" darstellt, so wird doch anerkannt, daß die Situation, zu der insbesondere die Gesetze gehören, die Menge der möglichen Lösungen begrenzt, wenn sie auch die Zahl fast nie zu einer "einzigen" Lösungsmöglichkeit reduziert. Da der Richter aber - wie vorauszusetzen ist - seine Wahl rational, d. h. bewußt und überlegt, trifft, läßt sich seine Entscheidung unter jeder denkbaren Zahl von Lösungsmöglichkeiten funktional einer ganz bestimmten, von ihm gewählten zuordnen. 31 RGZ 167, 312 (315); BGHZ 29, 187 (189). 32 Vgl. Bötticher, DVBl 1950, 321 ff.; DRiZ 52, 4 t'f.; Blomeyer, Lehrbuch,
§ 4 I 3 a.
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
sichtspunkt rechtfertigen. Oder der Beklagte könnte Einwendungen erheben, die der Kläger seinerseits nicht zu widerlegen vermag. In allen diesen Fällen wäre dem Gericht ohne Rücksicht auf das vorgreifliehe Verfahren eine Entscheidung möglich, die Aussetzung bloße Zeitvergeudung. Man kann eine Aussetzung überhaupt erst vernünftig erwägen, nachdem die Parteien den Sachverhalt einschließlich seiner "Umgebung" - soweit diese für das jeweilige Entscheidungsproblem relevant ist - einigermaßen vollständig vorgetragen haben und das Gericht unter den Parteien streitige und unstreitige Tatsachen getrennt und gewürdigt hat. Muß das Gericht, bevor es eine Aussetzung ins Auge faßt, über den streitigen Sachverhalt Beweis erheben? Die Frage läßt sich nicht einheitlich beantworten: Handelt es sich um Tatsachen, die zum Tatbestand der für die begehrte Rechtsfolge R vorgreifliehen Rechtsfolge R1 gehören, so ist das Gericht zur Beweisaufnahme grundsätzlich nicht verpflichtet; die Aussetzung verfolgt gerade auch den Zweck, doppelte Beweiserhebungen über dieselbe Sache durch verschiedene Gerichte zu vermeiden - wenn auch nicht zu verhindern. Handelt es sich dagegen um Tatsachen, die der Tatbestand der vom Kläger begehrten Rechtsfolge R zusätzlich zu dem Tatbestand der vorgreifliehen Rechtsfolge R1 fordert, wird es in der Regel nötig sein, zunächst eine Beweisaufnahme durchzuführen; lassen sich die vom Kläger behaupteten Tatsachen nicht feststellen oder erweist sich der den Einwendungen des Beklagten zugrunde liegende Sachverhalt als wahr, so hängt die Entscheidung in Wirklichkeit von der Rechtsfolge R1 nicht ab und kann sofort gefällt werden. Der Wortlaut des § 148 ZPO, welcher die Abhängigkeit der Entscheidung vom Bestehen "oder" Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses fordert, scheint zwar eine Aussetzung zu gestatten, weil für den Fall des Nichtbestehens der Rechtsfolge R1 die Klage abgewiesen werden könnte, ohne Rücksicht darauf, ob die weiteren Voraussetzungen der Rechtsfolge R vorliegen oder nicht. Es handelt sich aber nur um eine scheinbare Abhängigkeit, und der Richter hätte einer Lösung der Vorfrage durch das andere Gericht tatsächlich nicht bedurft. Hinzu kommt der ungewisse Ausgang des vorgreifliehen Verfahrens; es läßt sich im Zeitpunkt der Aussetzung nicht sagen, ob das andere Gericht das Bestehen des Rechtsverhältnisses bejahen oder verneinen wird, und je nach dem müßten später unter Umständen die weiteren Voraussetzungen der geltendgemachten Rechtsfolge R doch noch geprüft werden, eine Arbeit, deren sich das Gericht in der Zwischenzeit eigentlich längst hätte entledigen können. Die Aussetzung würde allein den Anspruch des Klägers auf staatlichen Rechtsschutz unnötig hinauszögern.
§ 2 Die Abhängigkeit einer Entscheidung von Vorfragen
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Verteidigt sich, um ein Beispiel zu nennen, der Beklagte damit, daß der Kläger nicht Erbe sei und er selbst nichts aus der Erbschaft besitze, so kann das Gericht nicht wegen eines vorgreifliehen Erbstreits aussetzen, ohne die Frage des Besitzes geklärt zu haben. Denn selbst wenn der Kläger Erbe wäre, würde seine Klage abzuweisen sein, sofern der Beklagte nichts oder nichts mehr aus der Erbschaft besitzt. Entscheidend für die Forderung nach einer vorherigen Durchführung der Beweisaufnahme spricht schließlich der Zweck der Aussetzungsvorschriften, die einerseits die Ergebnisse des einen Prozesses für den anderen zur Verbesserung der Entscheidung nutzbar machen, andererseits den Parteien und dem Gericht die Kosten und Mühen einer doppelten gerichtlichen Prüfung ersparen und die durch letztere gleichfalls heraufbeschworene Gefahr widersprechender Entscheidungen über dieselbe Frage mindern sollen33• Steht aber noch gar nicht fest, ob das andere anhängige Verfahren wirklich eine Vorfrage zum Gegenstand hat, ist die Aussetzung in diesem Sinne "zwecklos". Denn fehlt eine weitere Voraussetzung der geltendgemachten Rechtsfolge, so wird weder durch ein positives noch ein negatives Ergebnis des anderen Verfahrens die Entscheidung verbessert oder die Vereinbarkeit der Entscheidungen beeinträchtigt; und eine doppelte gerichtliche Prüfung liegt wegen der verschiedenen Gegenstände der Untersuchung gar nicht im Blickfeld. Nur wenn ein- wahrscheinlich- negatives Urteil über die vorgreifliehe Rechtsfolge Rt unmittelbar bevorsteht und die Beweisaufnahme schwierig und umfangreich ist, kann es ausnahmsweise ökonomisch sein, die Entscheidung abzuwarten. Nicht alle Vorfragen, von denen die Entscheidung des Gerichts abhängt, stehen untereinander in einem Verhältnis von Vor- und Hauptfrage, nicht alle sind einander logisch nachgeordnet; das Gesetz stellt nicht nur verschiedene Merkmale innerhalb eines Tatbestandes sondern auch ganze Tatbestände selbst nebeneinander. Liegt in solchen Fällen eine Abhängigkeit im Sinne der Aussetzungsvorschriften vor, wenn einer der Tatbestände eine Rechtsfolge umfaßt, die Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits ist? In der Literatur sucht man auch zu dieser Frage vergeblich nach einer Stellungnahme. Zwar heißt es etwa bei Stein-Jonas-Pohle 3', eine Aussetzung erfordere nicht, "daß die Entscheidung des Rechtsstreits ohne Feststellung des präjudiziellen Rechtsverhältnisses unmöglich wäre", doch zeigen die zitierten Fundstellen3S, daß der Verfasser lediglich die Vgl. Stein-Jonas-Pohle § 148 ZPO Anm. I 2 und unten § 6. u § 148 ZPO Anm. II 1; ebenso Wieczorek § 148 ZPO Anm. B II a 3. 33
35
RGZ 37, 375; RG JW 1897, 367; JW 1898, 4/5 Nr. 8.
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
Unsicherheit im Auge hat, ob wirklich eine positive Entscheidung im vorgreifliehen Verfahren zu erwarten ist. Die Antwort wäre - auf unsere Frage bezogen - auch unrichtig. Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß bei Gleichrangigkeit der Vorfragen zunächst alle ansonsten in Betracht kommenden Tatbestandsmerkmale oder Rechtsgrundlagen geprüft werden müssen, ehe man von einer notwendigen Abhängigkeit der Entscheidung vom Bestehen oder Nichtbestehen der vorgreifliehen Rechtsfolge sprechen kann. Insgesamt ist also festzuhalten: Will das Gericht aussetzen, so muß es den Sachverhalt umfassend ermitteln und die ausschließliche Abhängigkeit seiner Entscheidung von der vorgreifliehen Rechtsfolge feststellen. Abhängigkeit liegt nur vor, wenn alle anderen Voraussetzungen für einen Erfolg des klägerischen Begehrens- einschließlich einer positiv verlaufenen Beweisaufnahmeerfüllt sind. Andernfalls ist die durch eine Aussetzung eintretende Verzögerung des Verfahrens für die Parteien nicht zurnutbar und regelmäßig unökonomisch38• Hat das Gericht bereits ausgesetzt und trägt der Beklagte neue Einwendungen vor, welche die Klage als unbegründet erscheinen lassen, so ist die Aussetzung grundsätzlich gemäߧ 150 ZPO wieder aufzuheben und in die Prüfung dieser Einwendungen einzutreten. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, daß der Kommentar von Stein-Jonas hinsichtlich der gleichlautenden Formulierung der Abhängigkeit in§ 280 ZPO auf dem hier für§ 148 ZPO vertretenen Standpunkt steht, die Abhängigkeit müsse eine wirkliche, nicht nur eine behauptete sein und im Falle der Konkurrenz mit anderen Streitpunkten bis zum Erlaß des Urteils fortdauern37• Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Voraussetzungen der begehrten Rechtsfolge nicht gleichrangig nebeneinander stehen, sondern kraft Gesetzes oder Parteiwillens nacheinander geordnet sind. Wird beispielsweise gegenüber einer Zinsklage vom Beklagten das Nichtbestehen der 36 Im Ergebnis ebenso: RG JW 1901, 34; wohl auch ZöHer-Stephan § 148 ZPO Anm. II 1. 37 Stein-Jonas, 18. Aufl., § 280 ZPO Anm. II 2. Bei § 280 ZPO erscheint dies allerdings - anders als bei § 148 ZPO - zweifelhaft, weil die Parteien gemäß § 278 ZPO in der Regel neue Angriffs- und Verteidigungsmittel bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vorbringen können, so daß sie eigentlich in keinem Zeitpunkt des Verfahrens mit Bestimmtheit voraussehen können, ob ein Rechtsverhältnis, das sie festgestellt haben möchten, wirklich Vorfrage ist oder nicht. Das Gericht müßte sich auf die Verhandlung und Prüfung einer Zwischenfeststellungsklage einlassen, ohne die erst am Schluß der mündlichen Verhandlung beurteilbare Frage der Zulässigkeit beantworten zu können. Vgl. Oertmann, ZZP 22, 11 (28); HeHwig, Lehrbuch III, S. 50 (insbes. S. 51 Fußn. 31).
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Kapitalforderung behauptet und wegen eines darüber vor einem anderen Gericht bereits schwebenden Verfahrens auf Aussetzung angetragen, so ist das Gericht durch die vom Beklagten außerdem hilfsweise vorgetragene Aufrechnung mit einer Gegenforderung nicht gezwungen, diese zuerst festzustellen, bevor es sich zur Sistierung entschließt. Denn nur für den Fall des Bestehens der Zinsforderung kommt eine Aufrechnung überhaupt in Betracht. Das Gericht ist an die Einhaltung einer bestimmten Reihenfolge der Prüfung kraft Gesetzes gebunden38 ; die vom Beklagten erhobenen Einwendungen stehen in einem echten Vorfragenverhältnis im oben definierten Sinne. 7. Fassen wir zusammen: Jedes richterliche Urteil besteht aus einer Kette logisch-wertender Denkvorgänge. Um eine Entscheidung über eine Rechtsfolge treffen zu können, ist es notwendig, Vorfragen zu stellen und zu beantworten. Indem Problem um Problem aufgeworfen wird, steigt man zunächst bis zu jener Vorfrage hinab, deren Beantwortung die Lösung keiner weiteren Vorfrage voraussetzt, um dann, auf ihr als Grundlage aufbauend, durch Lösung einer Frage nach der anderen wieder bis zu jener obersten und Ausgangsfrage aufzusteigen, aus der sich der Schluß auf die Rechtsfolge ergibt. In einer solchen Kette von Fragen und Antworten ist jede Aussage durch die vorhergehende bedingt. Der Zusammenhang unter den einzelnen Vorfragen und zur Hauptsache kann sowohl logischer wie organisatorischer Natur sein. Der rechtslogischen Beziehung zwischen Sachverhalt und Rechtsfolge entspricht die Beziehung Entscheidungsgründe - Urteil. Aus dem Umstand, daß die einzelnen gesetzlichen Tatbestände nicht nur nacheinander, sondern auch gleichrangig nebeneinander geordnete Elemente enthalten oder selbst gleichrangig nebeneinander stehen, ergibt sich die prozessuale Notwendigkeit, das Vorfragenverhältnis zwischen Entscheidung und Rechtsverhältnis, um dessentwillen ausgesetzt werden soll, durch Ausschaltung aller gleichwertigen Tatbestandselemente für den Zeitpunkt des Aussetzungsbeschlusses festzulegen. Nunmehr kann auch die eingangs gestellte Frage (S. 17) beantwortet werden, ob zwischen den in§ 148 und§ 149 ZPO gebrauchten Formulierungen "abhängen" und "von Einfluß sein" ein Unterschied besteht. Die Antwort lautet: Ja. Betrachten wir noch einmal die Struktur der Rechtsfindung: Jede ordnende Rechtsnorm enthält einen Tatbestand T und eine daran geknüpfte Rechtsfolge R; wird der Tatbestand T durch einen Sachverhalt 38
Nicht kraft Parteiwillens:
§ 45 II 2.
Lent-Jauernig,
Zivilprozeßrecht, 14. Aufl.,
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
S erfüllt, so spricht das angerufene Gericht die konkrete Rechtsfolge R aus; weil S = T, soll zwischen den Parteien kraft Gesetzes R gelten. Die Evidenz des logischen Schlusses auf die Rechtsfolge hängt von allen Fragen ab, welche die Identität von Sachverhalt und Tatbestand betreffen. Gäbe es nur solche einfach strukturierten Rechtsnormen, könnte das Problem der Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit eines anderen gleichzeitig anhängigen Verfahrens nicht entstehen. Um zu der in § 148 ZPO normierten Abhängigkeit zu kommen, müssen wir uns eine Rechtsfolge R1 vorstellen, welche die Rechtsfolge R mit dem Tatbestand T zu ihren Voraussetzungen zählt. Zugleich muß die konkrete Rechtsfolge R1 die Hauptsache eines anderen bereits anhängigen Verfahrens sein. Beide Gerichte müssen dann die Identität von T und S prüfen, das eine, um die begehrte Rechtsfolge R feststellen zu können, das andere, weil die konkrete Rechtsfolge R zu den Tatbestandsvoraussetzungen der begehrten Rechtsfolge R1 gehört. Der prozeßökonomische Vorteil der Aussetzung liegt für das zweite Gericht in der Ersparnis dieser Prüfung, sofern es die Schlußfolgerung des ersten Gerichts, R soll (soll nicht) gelten, ohne weiteres seiner Prüfung zugrunde legen darf. Der Begriff der Abhängigkeit im Sinne des § 148 ZPO aber kennzeichnet nichts weiter als den Umstand der Zugehörigkeit einer Rechtsfolge zu dem Tatbestand einer anderen Rechtsfolge. Wenn demgegenüber in § 149 ZPO die Aussetzung gestattet wird, falls die Ermittlung einer strafbaren Handlung auf die Entscheidung "von Einfluß", oder (nach § 33 BVerfGG) falls die Feststellungen für die Entscheidung "von Bedeutung" sind, so liegt auf der Hand, daß weder die strafbare Handlung noch die Feststellungen zum Tatbestand der im abhängigen Verfahren zu prüfenden Rechtsfolge gehören, sondern daß sie vielmehr lediglich als Gesichtspunkte die Annäherung von Sachverhalt und Tatbestand mitzubestimmen in der Lage sind. Die in den §§ 149 ZPO, 33 BVerfGG eingeräumte Aussetzungsbefugnis ist also wesentlich weiter38• § 3 Weitere Begriffsbestimmung Bei der Erörterung des Tatbestandes des § 148 ZPO und des Begriffs der Abhängigkeit wurde zunächst einmal ganz allgemein von dem Aufbau der gesetzlichen Bestimmungen mit Ordnungscharakter und dem Vorgang richterlicher Rechtsfindung ausgegangen, ohne daß die Begriffe "Entscheidung" und "Rechtsverhältnis", zwischen denen das Abhängigkeitsverhältnis bestehen soll, näher erläutert wurden; dies soll nunmehr nachgeholt werden. 39 Anders Kralik, a.a.O., S. 46, der aber wohl die Bedeutung der Logik gegenüber dem Vorgang des Wertens überbetont.
§ 3 Weitere Begriffsbestimmung
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1. In einem gerichtlichen Verfahren ist eine Entscheidung vorderhand jeder Ausspruch über eine eingetretene oder nicht eingetretene bzw. eine anzuordnende oder nicht anzuordnende Rechtsfolge1 • Entscheidungen sind demnach alle Urteile, Beschlüsse und Verfügungen des Gerichts. Wenn § 148 ZPO jedoch fordert, daß die Entscheidung "des Rechtsstreits" von dem vorgreifliehen Rechtsverhältnis abhängt, so nimmt der Wortlaut der Vorschrift eine Einschränkung vor: Zur Entscheidung des Rechtsstreits führen nur Endentscheidungen. Solche sind allerdings nicht nur Urteile, sondern gelegentlich auch Beschlüsse, etwa wenn die Berufung oder Revision als unzulässig verworfen (§§ 519 b II, 554 a II ZPO), oder ohne mündliche Verhandlung über ein Arrestgesuch entschieden wird (§ 922 ZPO); vor allem kennt das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit keinen Abschluß durch Urteil. Andererseits sind nicht alle Urteile Endentscheidungen.
Entscheidungen des Rechtsstreits müssen somit ohne Bezug auf eine bestimmte Form allgemein als solche definiert werden, welche den Streitgegenstand des Prozesses umfassend für die jeweilige Instanz erledigen. Es wird sich dabei regelmäßig - jedenfalls im Zivilprozeß um Urteile handeln; nicht ausreichend sind Entscheidungen über Kosten (§ 99 II ZPO) oder die VollstreckbarkeW. Von der hier vorgenommenen Definition der Entscheidung werden auch die Prozeßurteile umfaßt, da auch sie den Streitgegenstand für die jeweilige Instanz erledigen. In der Literatur vertritt man demgegenüber die Auffassung, eine Aussetzung komme nur in Betracht, sofern sich der rechtliche Einfluß 3 auf die Hauptsache auswirke; der Einfluß auf die Entscheidung über eine Prozeßvoraussetzung sei kein Aussetzungsgrund\ Diese Einschränkung ist weder vom Wortlaut der Vorschrift her gefordert noch sachlich geboten. Zwar besteht zwischen der Hauptsache und den Sachurteilsvoraussetzungen kein logischer, sondern ein organisatorischer Zusammenhang, doch ist dieser Unterschied nicht erheblich. Die Entscheidung eines Rechtsstreits ist nicht nur die Beantwortung einer Streitfrage anhand der Normen des materiellen Rechts, sondern immer auch die Feststellung der konkreten Rechtsfolge in der Form eines 1 2
Bl. 3
Vgl. Rosenberg, Lehrbuch, §54 I. Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., § 148 Anm. li 1; Wieczorek, § 148 ZPO Anm. Vgl. dazu oben § 2 Ziffer 1.
c Ziemer-Birkholz, 1966, § 74 FGO
Rdnr. 10 unter Berufung auf EyermannFröhler, 4. Aufl., § 94 VwGO Rdnr. 8; Klinger, 2. Aufl., § 94 VwGO Anm. A 2; Wieczorek, § 148 ZPO Anm. B 1 a 3 und RGZ 96, 335 (338). Vgl. jedoch Wieczorek, a.a.O., BI a. a. A. Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., § 148 ZPO Anm. li 1 ohne nähere Begründung; Zöller-Stephan, 10. Aufl., § 148 ZPO Anm. li 1. 3 Mittenzwei
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
Staatsaktes5• Folglich gehören alle prozessualen Normen, deren Tat~ bestände erfüllt sein müssen, damit das Gericht zu einer sachlichen Ent~ scheidung kommen kann, zu den Vorfragen der jeweils geltendgemach~ ten Rechtsfolge; nur darauf kommt es an. Die wiederholt zitierte Entscheidung des Reichsgerichts vom 14. 10. 19196 bietet für die Gegenmeinung keinen Rückhalt. Zwar wird sie von Wieczorek 1 richtig für den Grundsatz angeführt, eine Aussetzung sei unstatthaft, wenn das Gericht über die betreffende Frage sachlich nicht entscheiden könne, doch ging es in dem damals vom Reichsgericht zu entscheidenden Fall um § 10 Anfechtungsgesetz und die vom Reichsgericht aufgestellte These, es sei dem Richter auch bei Vorliegen eines nur vorläufig vollstreckbaren Schuldtitels unbedingt verwehrt, in sei~ nem Urteil über die Frage des Bestehens der Forderung selbständig zu entscheiden. Daraus folgerte es die Unanwendbarkeit des § 148 ZPO, weil diese Bestimmung dem Richter die Befugnis zur Aussetzung ein~ räume, ihm also die Möglichkeit, die Entscheidung selbst zu treffen, offen lasse. Fehle aber die Gelegenheit zur eigenen Entscheidung wie im vorliegenden Fall, so könne ihn § 148 ZPO nicht erfassen, da andernfalls der Richter zur Aussetzung geradezu gezwungen sei, eine Konsequenz, die dieser Vorschrift völlig fern liege. Es mag einstweilen dahingestellt bleiben, ob die Auslegung durch das Reichsgericht zutrifft7a, jedenfalls ist es verfehlt, aus diesem Urteil den Grundsatz abzuleiten, bei prozessualen Vorfragen komme eine Aussetzung nicht in Betracht; es steht bei der Prüfung der Sachurteilsvoraussetzungen anders als in dem geschilderten reichsgerichtliehen Fall keineswegs fest, daß eine Sachentscheidung unter keinen Umständen ergehen kann. Überhaupt scheint es nicht ausgeschlossen, daß die Erläuterungen
Wieczoreks1 , auf die sich die verwaltungsprozessuale Literatur bezieht,
mißverstanden werden. Läßt sich am Fehlen einer Prozeßvoraussetzung nicht zweifeln, so ist selbstverständlich nicht auszusetzen, sondern die Klage als unzulässig abzuweisen8 , regelmäßig auch dann, wenn das vorgreifliehe Verfahren die Beseitigung des Mangels erwarten läßt9 • Jedes 5 Vgl. Kralik, a.a.O., S. 47, für das Österreichische Recht, in dem dies ebenfalls umstritten ist. & RGZ 96, 335 (338). 1 a.a.O., § 148 ZPO Anm. B I a 3. 1 a Vgl. dazu unten § 9 zu Fußn. 33. 8 RG JW 1901, 457 Nr. 1; Baumbach-Lauterbach, 30. Aufl., § 148 ZPO Anm.
2A.
9 Anders OLG Harnburg JW 1937, 963, das allerdings in seiner Entscheidung unrichtigerweise von der Annahme ausging, bei der Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit handele es sich "um die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses".
§ 3 Weitere Begriffsbestimmung
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Hinauszögern der Entscheidung würde den Beklagten über Gebühr benachteiligen. Das Argument, eine zu enge Auslegung des § 148 ZPO führe zu unbilligen, formalistischen Ergebnissen und diene nicht den Zwecken der Rechtspflege, überzeugt nicht. Selbst wenn eine gegenwärtig unzulässige Klage demnächst zulässig werden und also erneut anhängig gemacht werden kann, so darf doch der Gesichtspunkt einer vernünftigen Prozeßökonomie nicht den Grundsatz überspielen, daß der Richter immer von der bestehenden Rechtslage auszugehen hat10• Das Ergebnis ist auch nicht "unbillig"; es ist bisher noch niemand auf den Gedanken gekommen, die Abweisung einer Klage, mit der eine nicht fällige Forderung geltend gemacht wurde, als unbillig zu tadeln, nur weil die gewährte Stundung demnächst ausläuft. Die Interessenlage ist aber im Falle der Abweisung einer Klage als zur Zeit unbegründet nicht anders als im Falle der Abweisung als zur Zeit unzulässig. Ferner kann ein Prozeß wegen einer Vorfrage, von der die Hauptsache abhängt und die den Gegenstand eines anderen Verfahrens bildet, nicht ausgesetzt werden, solange nicht feststeht, daß die Klage zulässig ist11 • Dies ergibt sich aus der vom Gericht einzuhaltenden Reihenfolge der Prüfung von Organisations- und materiellen Normen (S. 24). Und schließlich läßt sich nicht leugnen, daß eine Aussetzung wegen prozessualer Vorfragen selten vorkommen wird, weil die Vorfrage "Gegenstand" eines anderen Prozesses sein muß. Wann diese Voraussetzung erfüllt ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet und muß einstweilen zurückgestellt werden12• 2. Die Entscheidung muß vom Bestehen oder Nichtbestehen eines
Rechtsverhältnisses abhängen. Was man unter diesem Begriff sich vor-
zustellen hat, ist bekanntlich zweifelhaft; indes scheint es nicht angebracht, auf den weitverzweigten Streit ausführlicher einzugehen. Nur soviel sei dazu gesagt: Es besteht dem Inhalt nach Übereinstimmung darüber, daß ein Rechtsverhältnis eine durch Rechtsnormen geschaffene Beziehung zwischen verschiedenen Rechtssubjekten ist. Verschiedener Meinung ist man jedoch über die Frage, ob rechtliche Beziehungen auch zwischen einem Rechtssubjekt und einer Sache oder einem unkörperlichen Gegenstand (z. B. Namens-, Urheberrechte u. ä.) bestehen können13, oder ob es sich
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1 Förster-Kann, § 148 ZPO Anm. 2 a 2. Abs.; RG JW 1902, 359 (360); RGZ 70, 321 f. = JW 1909, 194 und ständig; KG OLGRspr. 2, 298. Vgl. im übrigen unten § 9 Ziffer 1. 11 Ebenso (anscheinend) OLG Karlsruhe JW 1933, 2225 Nr. 10. 12 Vgl. unten § 4. 13 So v. Tuhr, BGB, Allg. Teil I, S. 123; Enneccerus-Nipperdey, BGB, Allg. Teil, § 71 I; Rosenberg, Lehrbuch, § 86 II 1 a; Stein-Jonas, 18. Aufl., § 256 ZPO Anm. II 1; Eyermann-Fröhler, § 43 VwGO Rdnr. 3; Klinger, § 43 VwGO Anm. CI 1 a; Westermann, Sachenrecht, § 1 II 3 b.
s•
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
auch hier um eine Beziehung zu anderen Personen - einer unbestimmten Personenmehrheit - handeW'. Der Streit beruht auf einer unterschiedlichen Auffassung des Rechtsnormbegriffs: Sieht man das Wesen der Rechtsnorm in der Begründung von Pfiichten15, so können rechtliche Beziehungen nur zwischen Personen bestehen, hält man auch andere Funktionen der Rechtsnorm für wesensgemäß, so sind die Rechtsbeziehungen zwischen Personen und Sachen oder anderen Gegenständen durchaus denkbar. Die Streitfrage braucht hier nicht entschieden zu werden. Der Begriff "Rechtsverhältnis" in § 148 kann nicht anders aufgefaßt werden als in den §§ 256, 280 ZPO. Alle Fragen, die Gegenstand e:iner Feststellungsklage sein können, müssen auch den Begriff Rechtsverhältnis im Sinne des § 148 ZPO erfüllen und für eine Aussetzung ausreichen. Dies folgt aus der Korrelation zwischen den Begriffen Rechtsverhältnis und Gegenstand; da das Rechtsverhältnis den Gegenstand eines anderen anhängigen Verfahrens bilden muß, ist es notwendig, alle Vorfragen, die Hauptsache sein können, umgekehrt als Rechtsverhältnis für§ 148 ZPO genügen zu lassen. Die Auslegung des Begriffes muß Hand in Hand gehen mit der Auslegung des § 256 ZPO. Definiert man also mit der h. M. in der Literatur das Rechtsverhältnis als "jedes durch die Herrschaft einer Rechtsnorm über einen konkreten Tatbestand als Rechtsfolge dieses Tatbestandes entstandene rechtliche Verhältnis einer Person zu einer anderen Person oder zu einem Sachgut (Rechtsobjekt)" 16, so muß man diese Definition auch für § 148 ZPO übernehmen. Wegen der Einzelfragen, die sich bei der Anwendung dieses Begriffes ergeben, kann unbedenklich auf die Literatur zur Feststellungsklage verwiesen werden. 3. Wie wir gesehen haben, kommt es für die Frage der Abhängigkeit der Entscheidung von einer Vorfrage, die in einem anderen Rechtsstreit Gegenstand ist, nicht darauf an, ob die zu erwartende Entscheidung über die Vorfrage bindende Wirkung erzeugen wird oder nicht. Die Abhängigkeit folgt allein aus dem Aufbau der gesetzlichen Tatbestände. Es ist deshalb irreführend, wenn in der Literatur zum Teil Abhängigkeit mit Präjudizialität gleichgesetzt wird17• Präjudizialität liegt nur vor, wenn die Entscheidung eines Gerichts über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Rechtsfolge in einem späteren Prozeß, in dem die gleiche 14 So Nawiasky. Allg. Rechtslehre, S. 164, 166; Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 191; Ule, § 43 VwGO Anm. 2 a; Rupp, Grundfragen, S. 166 ff., 223 ff.; Goldschmidt, Prozeß als Rechtslage, S. 229 ff. 15 Sog. "lmperativentheorie" ; vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, 2. Auft.,
s. 182 ff.
Vgl. Stein-Jonas, 18. Auft., § 256 ZPO Anm. II 1 mit weiteren Nachweisen. Vgl. etwa Förster-Kann, § 148 ZPO Anm. 2 a; Stein-Jonas-Pohle, 19. Auft., § 148 ZPO Anm. 11 1; Nicklisch, a.a.O., S. 36, mit weiteren Nachweisen. 16
17
§ 3 Weitere Begriffsbestimmung
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Rechtsfolge als Vorfrage zu beurteilen ist, derart bindend wirkt, daß der Richter sich mit der bereits getroffenen Feststellung nicht in Widerspruch setzen darf. Präjudizialität ist eine Form der Rechtskraftwirkung, sie betrifft nicht das Verhältnis Vorfrage zu Hauptfrage, sondern das Verhältnis von früherem zu späterem Prozeß. Sie folgt zwar wie die Abhängigkeit den Konstruktionszusammenhängen materieller Rechtsnormen, beruht aber auf besonderen prozessualen Vorschriften und reicht keineswegs so weit wie die Abhängigkeit. Sie spielt für die Aussetzung unmittelbar schon deshalb keine Rolle, weil von einem noch anhängigen Verfahren keine bindende Wirkung ausgehen kann. Von der Präjudizialität sind die Präjudizien zu unterscheiden. Darunter versteht man gerichtliche Entscheidungen, die über den beurteilten Einzelfall hinausgehende, allgemeine - unter Umständen das Gesetzesrecht fortbildende - Rechtsgedanken und -prinzipien enthalten. Ihre "Bindung" beruht dabei regelmäßig nicht auf Organisationsnormen18, sondern auf der Autorität des urteilenden Gerichts und der Überzeugungskraft der angeführten Argumente. Eine formelle Bindung des präjudizierten Richters gibt es nicht19, doch kann sie sich für gesicherte Ergebnisse richterlicher Rechtsfortbildung entwickeln20 • Die Präjudizienwirkung bezieht sich im Unterschied zur Präjudizialität nicht auf konkrete, vom Erstrichter festgestellte Rechtsfolgen, sondern auf die Beurteilung abstrakter Rechtsfragen. Ob und welcher Zusammenhang zwischen den Aussetzungsvorschriften und erwarteten Präjudizien bzw. erwarteter Präjudizialität besteht, wird in den folgenden Abschnitten zu untersuchen sein.
§ 4 Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens 1. In der Literatur begnügt man sich, wenn man auf den Begriff "Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits" zu sprechen kommt, vielfach mit dem schlichten Hinweis, "daß das Rechtsverhältnis in dem anderen Prozeß den unmittelbaren Streitgegenstand (bilde), oder doch, wie bei der Aufrechnung, dort zur rechtskräftigen Entscheidung gelangt" 1. Dabei verweist man bezüglich des Begriffes Streitgegenstand zum Teil unbefangen auf die Erläuterungen über die zivil-
18 Ausnahmen z. B.: §§ 121 II, 136 GVG, 79 GBO, 28 li FGG oder auch§§ 546 vgl. dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, s. 248 ff. 19 Lüderitz, AcP 168 (1968), 329 (336) ; Zajtay, AcP 165 (1965), 97 (103). 20 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 83 ff.; Soergel-Si ebert, 10. Aufl., Einl. Rdnr. 17/18. 1 Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., § 148 ZPO Anm. II 1 c; ebenso Thomas-Putzo, 3. Aufl., § 148 ZPO Anm. 2 b; Nikisch, Lehrbuch, § 72 II, S. 281. li 2 ZPO, 132 li Nr. 2 VwGO;
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
prozessualen Streitgegenstandstheorien2 , obwohl man dort schon in der Überschrift von "prozessualem Anspruch" spricht und später ausdrücklich betont, daß es sich bei diesem nicht um ein subjektives, gegen einen privaten Gegner gerichtetes Recht "wie beim materiellen Anspruch" sondern um einen reinen, prozessualen Begriff handele3 • Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um solche Gesetzesauslegung als oberflächlich und unhaltbar zu entlarven. Mit dem bloßen klägerischen Begehren oder der abstrakten Rechtsfolgenbehauptung des Klägers, gekennzeichnet durch den Klageantrag und den vorgetragenen Sachverhalt (oder auch nur durch den Antrag), läßt sich im Rahmen des § 148 ZPO nichts anfangen4 • Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt logisch von konkreten, materiellen oder organisatorisch von konkreten, prozessualen Rechtsfolgen ab, nicht aber von einem diffusen Begehren oder einer von konkreten Tatbeständen abstrahierenden Rechtsfolgenbehauptung des Klägers. Das Gefüge der Vorschrift fordert, Streitgegenstand und konkretes, materielles Recht gleichzusetzen. Folgerichtig betont deshalb Rosenberg 5 , die Zivilprozeßordnung gebrauche den Begriff "Streitgegenstand" in mehrfachem Sinne und bei § 148 ZPO bedeute er das Recht oder Rechtsverhältnis, über das geurteilt werden soll; dies sei bei der Leistungsklage die rechtliche Beziehung, kraft deren der Kläger die Leistung vom Bekagten verlange, bei der Feststellungsklage das als bestehend oder nicht bestehend festzustellende Rechtsverhältnis und bei der Gestaltungsklage das geltend gemachte Recht auf Rechtsänderung6 • 2. Nun kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Gesetzgeber den Begriff Gegenstand in § 148 ZPO wirklich in diesem Sinne verstanden hat, sonst hätte er ihn nicht gut mit dem Begriff "Rechtsverhältnis" in Beziehung setzen können, der selbst als ein Begriff des materiellen Rechts verstanden wurde. Aber der Gesetzgeber kannte den Begriff Streitgegenstand im prozessualen Sinne, wie er heute ganz überwiegend gebraucht wird, noch gar nicht; für ihn war der jeweilige materielle Anspruch, das jeweilige materielle Rechtsverhältnis Gegenstand des Verfahrens7 • Thomas-Putzo, a.a.O. Thomas-Putzo, a.a.O., Einleitung II 5. 4 Sinngemäß: Blomeyer, Festschrift für Lent, S. 52, und Berliner Festschrift, S. 56, für die sich ebenfalls am Aufbau des materiellen Rechts orien2
3
tierende, präjudizielle Rechtskraft. 5 Lehrbuch, § 88 I a. 6 Im Anschluß an Rosenberg ebenso Blomeyer, Lehrbuch, § 40 II 2. 7 Schwab JuS 1965, 81.
§ 4
Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens
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Deshalb scheint es ziemlich gekünstelt, wenn man diesem Begriff an verschiedenen Stellen des Gesetzes unterschiedliche Bedeutung beimißt, ihn einmal als prozessualen Anspruch, ein andermal als das materielle Recht oder Rechtsverhältnis versteht; das Gesetz kannte nur einen Gegenstand des Rechtsstreits, nämlich den letzteren8 • Das Gleiche gilt für den Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches; auch er betrachtete das materielle Recht - mag es nun ein Anspruch im Sinne des § 194 BGB, ein Gestaltungsrecht oder ein Rechtsverhältnis sein - als den Gegenstand des Rechtsstreits, als den Streitgegenstand im heutigen Sinne. Es braucht nur auf die Bestimmungen über die Unterbrechung der Verjährung (§§ 209 ff. BGB), der Ersitzung (§ 941 BGB), die Entstehung des Anspruchs auf Prozeßzinsen (§ 291 BGB), auf die Vorschriften über die Haftungssteigerung des Beklagten und die Verminderung der Verpflichtungen des Klägers (§§ 292, 347, 818 IV, 987, 989, 991, 994 II, 996 BGB), oder die §§ 847 I 2, 1300 II BGB verwiesen zu werden, die alle nur dann recht verständlich sind, wenn man die an die Rechtshängigkeit geknüpften Wirkungen auf bestimmte materielle Rechte bezieht. 3. Setzt man Gegenstand des Rechtsstreits mit der konkreten, materiellen Rechtsfolge in eins, so stellt sich natürlich sogleich die Frage, wie diese materielle Rechtsfolge zu bestimmen ist. Entscheidet die Rechtsbehauptung des Klägers im vorgreifliehen Prozeß oder die abweichende Rechtsauffassung des Gerichts, das die Aussetzung seines Verfahrens plant? Und wie steht es, wenn der Richter des vorgreifliehen Prozesses offensichtlich eine andere Rechtsansicht vertritt als das aussetzende Gericht und über die vorgreifliehe Rechtsfolge möglicherweise gar nicht urteilen wird? Die konkrete, materielle Rechtsfolge scheint sich auf den ersten Blick nur bei Feststellungsklagen eindeutig individualisieren zu lassen. Kommen deshalb - so ist weiter zu fragen - als Verfahren, um derentwillen ausgesetzt werden kann, nur solche in Betracht, in denen über eine Feststellungsklage zu entscheiden ist? Der Wortlaut des § 148 ZPO könnte eine solche Auslegung nahelegen. Wie in den §§ 256, 280 ZPO wird "von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses" gesprochen und fortgefahren : " .. . das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist ... ". Die typischen familienrechtlichen Gestaltungsklagen werden in den §§ 151 ff. ZPO besonders geregelt. Tatsächlich hat der Gesetzgeber bei der Fassung des Tatbestandes des § 148 ZPO wie bei den §§ 256, 280 ZPO vor allem an die Feststellung 8
Vgl. Habscheid, Streitgegenstand, S. 21/22.
I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
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eines vorgreifliehen Rechtsverhältnisses gedacht, liegt doch die praktische Bedeutung der Feststellungsklage gerade darin, Rechts-, insbesondere Schuldverhältnisse im ganzen, oder absolute Rechte, deren wesentlicher Inhalt eine nur einzelne Ansprüche ergreifende Leistungsklage nicht erfaßt, als solche verbindlich festzustellen. Die römischrechtliche Vorstellung von der causa minor und der causa maior wirkte offenbar nach: der wichtigere (weil umfassendere) Prozeß, der Feststellungsprozeß, sollte vor dem unwichtigeren (weil spezielleren) erledigt werden9 • Andererseits stellt unzweifelhaft auch ein Leistungsurteil immer eine konkrete, materielle Rechtsfolge fest. Der Unterschied zwischen Leistungs- und Feststellungsklage ergibt sich lediglich aus dem unterschiedlichen Rechtsschutzziel, das der Kläger verfolgt. Während er mit der Leistungsklage über die Feststellung der Rechtsfolge hinaus die staatliche Durchsetzung seines Anspruchs erstrebt, begnügt er sich bei der Feststellungsklage mit der autoritativen, verbindlichen Feststellung des Rechtsverhältnisses bzw. Anspruches. Da jedoch jede Rechtsfolge zum Tatbestand einer anderen Rechtsfolge gehören und somit vorgreiflieh sein kann, bedeutet das unterschiedliche Rechtsschutzziel für § 148 ZPO kein geeignetes Abgrenzungskriterium. Die eingangs gestellte Frage kann also nicht mit Hilfe der Klagearten gelöst werden. Beurteilen die Richter des ersten und des zweiten Prozesses die Rechtslage unterschiedlich oder rechtfertigt sich die im vorgreifliehen Prozeß geltend gemachte Rechtsfolge aus mehreren Tatbeständen (so daß der Prozeß mehrere "Gegenstände" hat), bleibt die Antwort aus. Die Unsicherheit hinsichtlich der Abhängigkeit der Entscheidung vom Erstprozeß läßt sich nicht ausräumen. Gleiches gilt für Gestaltungsklagen. Zwar sind sie nicht auf die Feststellung schon vorhandener, sondern auf die Schaffung neuer Rechtsfolgen ausgerichtet, so daß die Dinge auf den ersten Blick anders zu liegen scheinen als bei den Feststellungs- und Leistungsklagen, wurde doch oben das vorgreifliehe Rechtsverhältnis als das aufgrund der Herrschaft einer Rechtsnorm über einen konkreten Tatbestand als Rechtsfolge entstandene rechtliche Verhältnis zwischen Personen definiert. Die Einbeziehung der Gestaltungsklagen scheint auch dem erwähnten Grundsatz zu widersprechen, daß die Entscheidung über einen geltend gemachten materiellen Anspruch immer nur von bestehenden Rechtsbeziehungen abhängen kann, nicht jedoch von erst in Zukunft noch zu schaffenden. Ist das zugrunde gelegte Rechtsverhältnis (noch} nicht vorhanden, so ist die begehrte Feststellung des Anspruchs zurückzuweisen, nicht aber zu warten, bis es - irgendwann - entstehen wird. 9
Vgl. dazu unten § 6 Ziff. 2.
§ 4 Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens
41
Es ist jedoch nicht geboten, bei den Gestaltungsklagen auf jene Rechtsfolgen abzustellen, die mit dem richterlichen Urteil entstehen werden. Auf sie ist zwar das klägerische Begehren gerichtet, Gegenstand des Verfahrens10 ist aber- sofern man der h. M. folgt 11 - das Recht des Klägers auf Rechtsänderung (Gestaltungsrecht) 12• Wird die Gestaltungsklage also beispielsweise abgewiesen, so wird das Nichtbestehen des Gestaltungsrechts festgestellt und wir haben es mit einem Feststellungsurteil, nicht mit einem Gestaltungsurteil zu tun. Ob das Gestaltungsrecht des Klägers - auf dessen Feststellung man übrigens klagen kann13 - besteht oder nicht besteht, davon kann die Entscheidung des auszusetzenden Prozesses abhängen, wenn das den Anspruch stützende Rechtsverhältnis im Falle des Bestehens des ausgeübten Gestaltungsrechts durch das Urteil rückwirkend entfallen würde, oder anders gesagt, wenn die bestehende Rechtslage durch die Existenz des ausgeübten Gestaltungsrechts auflösend bedingt, bzw. durch die Feststellung der Nichtexistenz aufschiebend bedingt ist. Das ist nicht der Fall, sofern das Gestaltungsurteil die bestehende Rechtslage nur für die Zukunft ändert, weil dann die Entscheidung nicht von der Existenz des Gestaltungsrechts abhängt. Selbst wenn es besteht, ist die gegenwärtige Rechtslage nicht in Gefahr, rückwirkend verändert zu werden. Die Konstruktion einer Abhängigkeit von Gestaltungsklagen ist nicht möglich, wenn man ein privatrechtliches oder öffentlich-rechtliches14 Gestaltungs(klag)recht verneint, wie es z. B. Blomeyer tut15, der andererseits aber gerade für § 148 ZPO Gegenstand und materielles Recht gleichsetzt16 • Wenn Blomeyer die Gestaltungsklage des materiellen "Kerns" berauben und den Streitgegenstand durch Antrag und Gestaltungsgrund bestimmen will, so folgt er damit der heute herrschenden - und auch hier vertretenen - Streitgegenstandslehre, die sich vom materiellen Recht weitgehend emanzipiert hat17• Es erscheint dann aber nicht konsequent, die in § 148 ZPO formulierte Korrelation Rechtsverhältnis- Gegenstand weiter beizubehalten. 10 -
setzt man ihn mit einem materiellen Recht gleich -.
Rosenberg, Lehrbuch, § 87 I 2; Nikisch, AcP 1955, 271 (289); EnneccerusNipperdey, Lehrbuch, Allg. Teil, § 73 I 3; Hellwig, System, § 105 I 5 und § 231 III 1 c; Seckel, a.a.O., S. 240 ff.; Arens, a.a.O., S. 33. 11
12 Der Unterschied zur Leistungsklage besteht wiederum nur im Rechtsschutzziel; mit Erlaß eines Gestaltungsurteils wird das Recht des Klägers sofort "vollstreckt". Vgl. Arens, a.a.O., S. 38 f. 13 Vgl. Rosenberg, Lehrbuch, § 86 II 1 a; das Gestaltungsrecht ist also ein "Rechtsverhältnis" im Sinne des § 256 ZPO. 14 z. B. Stein-Jonas, 18. Aufi., § 253 ZPO Vorbem. II 3; Goldschmidt, Lehrbuch, § 1, 1 b. 15 Blomeyer, Lehrbuch, § 40 V 3 unter Berufung auf Henckel, Parteilehre, s. 31 ff., 286 ff. 16 Blomeyer, Lehrbuch, § 40 II 2. 17 Vgl. Schlosser, Gestaltungsklagen, S. 356.
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
Setzt man Gegenstand des Rechtsstreits und materielles Rechtsverhältnis gleich, so scheint ferner die bekanntlich umstrittene Frage18, ob wegen prozessualer Vorfragen ausgesetzt werden darf, negativ beantwortet werden zu müssen; nicht weil die Entscheidung des Rechtsstreits von diesen Vorfragen nicht abhinge, sondern weil sie kein materielles Rechtsverhältnis darstellen. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß prozessuale Fragen die Hauptsache anderer anhängiger Verfahren bilden, daß sie zum mindesten in anderen Verfahren entschieden werden und bindende Wirkung entfalten können19. Ein Beispiel wurde bereits erwähnt20, zwei weitere seien hinzugefügt: Im ersten Prozeß klagen die Gesellschafter A, B und C gegen D auf Mitwirkung bei der Ausschließung des Gesellschafters E. Im zweiten Prozeß klagen A, B und C auf Ausschluß des E. Da die Gesellschafter A, B, C und D notwendige Streitgenossen sind (§ 140 HGB), fehlt ihnen die Prozeßführungsbefugnis, solange D nicht mitwirkt21 . Schwebt ein Entmündigungsverfahren über einen Prozeßbeteiligten, so ist der Gegenstand dieses Verfahrens für die vom Prozeßgericht von Amts wegen zu prüfende Prozeßfähigkeit vorgreiflich22. Als Lösung bietet sich an, unter Rechtsverhältnis im Sinne des § 148 ZPO nicht nur materielle Rechtsverhältnisse des Privatrechts, sondern auch prozessuale, d. h. durch Klageerhebung zwischen den Parteien entstandene, zu subsumieren23 ; "materiell" also in einem weiteren Sinne (prozessuale Vorschriften umfassend) zu verstehen. Gleichwohl bleiben bei dieser Lösung einige Gerichtsentscheidungen problematisch: Das Reichsgericht hat in einer älteren Entscheidung24 die Aussetzung eines Pachtprozesses mit der Begründung gebilligt, auch in dem anderen Prozeß (über eine einstweilige Verfügung) sei "in erster Reihe die Frage zu beantworten, ob die Klägerin Prozeßfähigkeit besitzt, der Beklagte sich also auf ihre Klage einlassen muß, und erst nach deren Bejahung (dürfe) das Gericht in eine Prüfung des Anspruchs eintreten". Mit Unrecht vermisse die Beschwerde die Präjudizialität eines Rechtsverhältnisses, welches den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreites bilde. Daß das Rechtsverhältnis dem Prozeßrecht angehöre, schließe die Anwendbarkeit des§ 139 CPO (= § 148 ZPO) nicht aus. 18 Siehe oben § 3 Fußnote 4. 19 Vgl. Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 3, mit weiteren Nachweisen (Einrede des Schiedsvertrages). 20 OLG Harnburg JW 1937, 963; siehe oben § 3 Fußnote 9. 21 Vgl. Baumbach-Duden, § 140 HGB, Anm. 3 A; Kohler NJW 1951, 5. 22 Zöller-Stephan, § 148 ZPO Anm. II 1. 23 So schon früh Skonietzki-Gelpcke, § 148 ZPO Anm. 4. 24 RG JW 1890, 45.
§ 4 Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens
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Ist es aber richtig, den Gegenstand des Verfahrens mit der Hauptsache gleichzusetzen, so kann die Auffassung des Reichsgerichts nicht zutreffend sein, denn daß die Feststellung der Prozeßfähigkeit nicht das Ziel und der Zweck sind, um dessentwillendie Klägerin das Verfahren in Gang gebracht hat, liegt auf der Hand. Die Prozeßfähigkeit mag dann ein Rechtsverhältnis im Sinne des § 148 ZPO sein, aber sie ist nicht Gegenstand eines anderen Verfahrens. Nicht anders liegt es, wenn es in dem einen Verfahren um den Einwand der Rechtshängigkeit geht, während man in dem anderen Verfahren über die Wirksamkeit der Klageerhebung streitet25 • Setzt man den Begriff Gegenstand mit Hauptsache gleich, kommt eine Aussetzung nach dem Wortlaut des § 148 ZPO nicht in Betracht, weil die wirksame Klageerhebung nicht Hauptsache des anderen Verfahrens ise8 • Sicher unrichtig ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts Mün-
chen21, das ein anhängiges Verfahren, in dem der Inhaber einer altrecht-
lichen Grunddienstbarkeit gegen den Eigentümer des dienenden Grundstücks auf Einwilligung in die Eintragung der Grunddienstbarkeit (Art. 187 I 2 EGBGB) geklagt hatte, mit folgender Begründung aussetzte :
"Nach § 894 BGB und § 22 GBO hat der Berechtigte die Wahl, ob er den Berichtigungsantrag auf die Bewilligung des davon Betroffenen oder auf den urkundlichen Nachweis der Unrichtigkeit der bestehenden oder der Unvollständigkeit wegen nicht bestehenden Eintragung stützen will. Kann er den urkundlichen Nachweis der Unrichtigkeit nicht führen und versteht sich der Verpflichtete nicht gutwillig zur Abgabe der Berichtigungsbewilligung in vorgeschriebener Form, dann erst ist der Berechtigte auf den Klageweg verwiesen. Ein Rechtsschutzbedürfnis ist jedoch zu verneinen, wenn der Berechtigte in der Lage ist, ohne die Bewilligung des Verpflichteten die Grundbuchberichtigung zu erlangen: das Grundbuchamt hat sie zu bewirken, wenn die Unrichtigkeit durch öffentliche Urkunden nachgewiesen ist." Der Klägerirr wurde anheimgestellt, ein Verfahren wegen Berichtigung des Grundbuchs anhängig zu machen. Dieses Verfahren sei für den vorliegenden Rechtsstreit präjudiziell. Da es sich um ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit handele, habe - ähnlich dem Fall des präjudiziellen Verwaltungsverfahrens - die Aussetzung angeordnet werden können, um die Entscheidung des Grundbuchamts erst zu veranlassen. Skonietzki-Gelpcke, § 148 ZPO Anm. 4. Nur wenn, wie Habscheid, Streitgegenstand, S. 147, und Pohle, SteinJonas, 19. Aufl., Einleitung E III 1 c, annehmen, sich der Streitgegenstand aus 2"
26
einer Rechtsfolgenbehauptung und einer Verfahrensbehauptung zusammensetzt, oder man mit Blomeyer, Berliner Festschrift, S. 59, Lehrbuch, § 40 III, zwei untrennbar verbundene Streitgegenstände (Verfahrensgegenstand und Hauptsache) annimmt, ließe sich die Auffassung des Reichsgerichts vielleicht halten. a. A. Bötticher, FamRZ 1957, 409 (410); Nikisch, AcP 156, 71 (73 f.); Henckel, Parteilehre, S. 194 f. 27 BayJMBl 1952, 216 f.
44
I.
Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
Selbst wenn man es als zulässig unterstellt, die Klägerin auf den Weg über§ 22 GBO zu verweisen28 , so liegt doch ein Fall der Aussetzung nach § 148 ZPO nicht vor. Die Frage des Rechtsschutzbedürfnisses - gibt es einen einfacheren und billigeren Weg?- ist nicht Hauptsache des anderen Verfahrens, sondern hängt lediglich von dessen Erfolg ab: mit der Abweisung des Berichtigungsantrages steht das Rechtsschutzinteresse an der Klage fest. Ist der Erfolg der Rechtsverfolgung in dem einfacheren Verfahren ungewiß, so darf diese Ungewißheit nicht durch Abwarten, sondern nur durch eine generelle Entscheidung der Frage beseitigt werden, ob man für das Rechtsschutzinteresse allein schon di€se Unsicherheit ausreichen oder aber Gewißheit fordern will. Behauptet der Kläger, er könne den Nachweis mit öffentlichen Urkunden nicht führen und der Beklagte willige nicht ein, und ist ihm diese Behauptung nicht zu widerlegen, so hat er ein berechtigtes Interesse an der erhobenen Klage29 • Die genannten Beispiele zeigen deutlich, daß es den aussetzenden Richter im Grunde gar nicht kümmert, ob die ihn beschäftigende Vorfrage Gegenstand des anderen Verfahrens ist, sondern daß es ihm allein auf das Ergebnis des anderen Verfahrens ankommt. Diese Einsicht verdient, vorläufig festgehalten zu werden. 4. Wiederholt haben wir davon gesprochen, daß der Begriff des Streitgegenstandes heute ganz überwiegend prozessuaL verstanden wird, ohne den Grund anzugeben, der dieses Umdenken des Begriffes notwendig machte. Es ist nicht möglich (und für unseren Zweck auch nicht nötig), den seit Jahren andauernden und keineswegs abgeschlossenen Streit um den "Zentralbegriff" des Prozeßrechts hier aufzurollen; die wichtigsten Gesichtspunkte, welche die Entwicklung vom materiell-rechtlichen zum prozessualen Anspruchsbegriff veranlaßt haben, seien jedoch zur Verdeutlichung des theoretischen Anliegens angesprochen.
Nach der -leicht belegbaren- Intention der Zivilprozeßordnung besteht zwischen den die Rechtskraft, Rechtshängigkeit, Klageänderung und Klagehäufung betreffenden Vorschriften eine wechselseitige Beziehung; wenn also der Gegenstand des Rechtsstreits begrifflich bestimmt wird, um auf diese Weise festzulegen, wann eine Klageänderung vorliegt, wann eine Klagehäufung, was rechtshängig ist und was rechtskräftig wird, so muß der Begriff so gefaßt sein, daß der Zusammenhang zwischen den Vorschriften gewahrt und Widersprüche vermieden werden30. Es ist z. B. unmöglich, auf ein neues Vorbringen des Klägers mit der Begründung nicht einzugehen, es handele sich um eine unzulässige 28 a. A. RG SeuffA 85, Nr. 148, Wieczorek, § 148 ZPO Anm. BI a 3.
S. 280; Rosenberg, Lehrbuch, § 85 li 2 b;
29 RG WarnRspr 1914, Nr. 126, S. 181/182. 30 St ein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., Einleitung E III 1 a.
§ 4 Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens
45
Klageänderung oder Klagehäufung, andererseits aber einer gleichzeitig oder später auf dasselbe Vorbringen gestützten Klage mit der Einrede der Rechtshängigkeit oder der Rechtskraft entgegenzutreten; eine solche prozessuale Fehlleistung wäre unerträglich. Dieser Zielsetzung wird zwar auch die materiell-rechtliche Auffassung des Gesetzgebers vom Streitgegenstand gerecht, doch führt sie in ihren praktischen Auswirkungen zu einer Reihe nicht akzeptabler Ergebnisse31. Zunächst ist es schon einmal zu eng, wenn in§ 322 ZPO von "Anspruch" gesprochen wird. Denn nur bei einer Leistungsklage könnte ein Anspruch des materiellen Rechts Gegenstand des Rechtsstreits sein, nicht aber bei einer Gestaltungsklage und nur selten bei einer Feststellungsklage. Sodann geht es in jedem Prozeß nur um behauptete, nicht um bestehende Rechte, was der Gesetzgeber allerdings - wie § 148 ZPO lehrt - bereits gesehen hat, denn er hat die Aussetzung an die Abhängigkeit der Entscheidung von dem "Bestehen oder Nichtbestehen" des Rechtsverhältnisses geknüpft. Ungelöst sind die Schwierigkeiten, die sich für die materiell-rechtliche Auffassung aus dem Problem der zivilrechtlichen Anspruchskonkurrenz ergeben32• Die modernen, modifizierten materiell-rechtlichen Streitgegenstandsiheorien vermeiden weitgehend die Mängel des Gesetzes, indem sie den Gegenstand des Rechtsstreits in der Rechtsbehauptung des Klägers sehen, die gegen den Beklagten erhoben wird und über deren Richtigkeit unter den Parteien Streit besteht33 , und das Problem der zivilrechtliehen Anspruchskonkurrenz dadurch lösen, daß sie in den Fällen, in welchen dieselbe Rechtsfolge aus verschiedenen Tatbeständen hergeleitet werden kann, die einzelnen Ansprüche zu einem einzigen materiell-rechtlichen Anspruch im weiteren Sinne zusammenfassen34. Die Rechtsbehauptung des Klägers ist aber vielfach nicht auf ein bestimmtes materielles Recht zugeschnitten. Beantragt er beispielsweise die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von 500,- DM, so behauptet er nicht konkret einen Anspruch aus Darlehen oder Bereicherung usw. Es ist ihm in der Regel durchaus gleichgültig, aus welchem rechtlichen Gesichtspunkt das Gericht der Klage stattgibt. Der Richter seinerseits ist verpflichtet, das Begehren unter allen in Frage kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, so daß er, würde der Kläger tatsächlich ein bestimmtes, materielles Recht behaupten, nicht etwa mit der 31 Vgl. Schwab JuS 1965, 81 ff.; Habscheid, Streitgegenstand, S. 29, S. 113 ff. 32 Dazu Schwab JuS 1965, S. 82; Habscheid, Streitgegenstand, S. 29. 33 Den Anstoß gab Nikisch, AcP 154, 273 ff.; vgl. auch AcP 156, 71 f. 34 Dazu Larenz, Schuldrecht II, § 69 VI; Esser, Schuldrecht, 2. Auft., § 23; Eichter AcP 162, 401; Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, 1968, 129 ff.; ähnlich Hencket, Parteilehre, S. 256 ff., unter dem Gesichtspunkt der Funktion des materiellen Anspruchs als Verfügungsobjekt.
46
I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
Begründung, dieses Recht sei nicht gegeben, die Klage abweisen könnte, sondern ihr aus einem anderen für vorliegend erachteten rechtlichen Tatbestand stattgeben müßte 35. Der Kläger muß nur genügend klar zum Ausdruck bringen, was er begehrt. Das Gleiche gilt für die Bestimmung der Voraussetzungen der Aussetzung. Nicht die Subsumtionstätigkeit des Klägers entscheidet darüber, welches materielle Recht er geltend macht, sondern die rechtliche Würdigung des die Aussetzung beabsichtigenden Richters. Die Bedenken gegen die materiell-rechtlichen Streitgegenstandstheorien ergeben sich aus dem Problem der Anspruchskonkurrenz; nur wenn es wirklich den bezeichneten materiellen Anspruch "im weiteren Sinne" gibt, lassen sie sich vertreten. Die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten, die Ursache für die Entwicklung eines prozessualen Streitgegenstandsbegriffs waren, sind aber noch nicht zufriedenstellend gelöst, so daß sich die modifizierten materiell-rechtlichen Streitgegenstandstheorien in der zivilprozessualen Literatur bisher nicht durchgesetzt haben. Unter dem "Gegenstand" eines Zivilprozesses wird deshalb hier das Begehren des Klägers verstanden, das auf die Feststellung oder Schaffung einer Rechtsfolge gerichtet ist und durch den gestellten Antrag und den zu seiner Begründung notwendigen Sachverhalt gekennzeichnet wird36. Nach dieser Definition des Streitgegenstandes gehört das Rechtsschutzziel (Leistung, Feststellung, Gestaltung) ebenso zum Inhalt des Streitgegenstandes37 wie der Sachverhalt, der dem Begehren zugrunde liegt38. Auf den Sachverhalt als Bestandteil des Streitgegenstandes kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn der Inhalt des Begehrens allein schon durch den Antrag hinreichend individualisiert wird, weil der Sachverhalt für die Bestimmung des Umfanges der Rechtskraft - insbesondere bei einer Klageabweisung - notwendig ist39. Allerdings hat der Antrag gegenüber dem Sachverhalt ein Übergewicht. Wird z. B. die Zahlung einer Geldsumme aus Kauf und Wechsel 35 Ausnahme: Der Kläger klagt beispielsweise auf Feststellung des Eigentums an einer bestimmten Sache. 36 Vgl. Arens, a.a.O., S. 23 und 39; Stein-Jonas, 18. Aufl., § 253 ZPO Anm. III 2; Lent-Jauernig, Lehrbuch, § 37 IV; Bötticher, FamRZ 1957, 409 (411); GHles ZZP 83 (1970), S. 69 Anm. 31. 37 Anders Nikisch, Lehrbuch, § 42 I 4; § 139 V (aber AcP 156, 71 [72]); dazu Bötticher, FamRZ 1957, 409 (411); Festschrift für Rosenberg, S. 86 ff. 38 Anders Schwab, Streitgegenstand, S. 186; Rosenberg, Lehrbuch, § 88 li 2; dazu Arens, a.a.O., S. 21 f., unter Bezug auf Habscheid, Streitgegenstand,
s. 107 f.
39 Vgl. unten § 5 Ziff. 1.
§ 4 Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens
47
begehrt, so liegen zwei Lebenssachverhalte vor, aber sie werden durch den Antrag zu einem Streitgegenstand zusammengefaßt40 • Wird dagegen die Zahlung der Geldsumme nur aus Wechsel verlangt, so ist der Kläger im Falle der Klageabweisung nicht gehindert, nun aus Kauf gegen den Beklagten vorzugehen41 • Nicht gefolgt wird der Auffassung, zum Inhalt des Streitgegenstandes gehöre auch eine "Verfahrensbehauptung": Der Kläger behaupte, die beanspruchte Rechtsfolge müsse ihm in dem eingeschlagenen Weg zugesprochen werden42 • Da sich nicht bestreiten läßt, daß über Prozeßvoraussetzungen nicht an sich, sondern immer in Bezug auf die in der Klage unterbreitete Hauptsache entschieden wird43 , stellt man sich die Verfahrensbehauptung und die Rechtsbehauptung als zwei Seiten ein und derselben Sache44 oder als untrennbar verbundene Teile45 vor. Wenn aber auch im Falle eines Prozeßurteils über die Hauptsache entschieden wird, so wird mit dieser Differenzierung der Unterschied zwischen Prozeß- und Sachurteil viel zu stark betont, weil es sich nur um verschiedene rechtliche Gesichtspunkte handelt, aus denen dem Begehren nicht stattgegeben wurde. Im übrigen trägt die Verfahrensbehauptung nichts zur Individualisierung des Streitgegenstandes bei46 : Ein Kläger, der die gleiche Forderung bei verschiedenen Gerichten einklagt, stellt jedesmal eine andere Verfahrensbehauptung auf, nämlich die, daß ihm das angerufene Gericht die behauptete Rechtsfolge zusprechen müsse. Gleichwohl läßt sich an der Rechtshängigkeit nicht zweifeln. Die Verfahrensbehauptung ist auch nicht nötig, weil das Gericht alle Prozeßvoraussetzungen von Amts wegen zu prüfen hat47 • Trotz dieser Kritik soll aber nicht übersehen werden, daß der insbesondere von Habscheid vertretene Streitgegenstandsbegriff prozessualer Natur ist, worauf es hier allein ankommt. Wie nun ist § 148 ZPO vom Boden einer prozessualen Streitgegenstandstheorie aus zu verstehen, die das klägerische Begehren und nicht das Bestehen oder Nichtbestehen eines materiellen Rechtsverhältnisses 40 Deshalb keine Klagehäufung, wohl aber Rechtskraft für beide materielle Ansprüche. 41 Zwei Anträge zwei Lebenssachverhalte - zwei Streitgegenstände; dazu unten § 5 Ziff. 1. 42 Habscheid, Streitgegenstand, S. 147; Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., Einleitung E III 1 b, c; ähnlich Blomeyer, Berliner Festschrift, S. 53 ff. (59); Lehrbuch, § 40 111. 43 z. B. erfolgt die Verneinung der Prozeßfähigkeit nur für den konkreten Streitfall und nicht etwa auch für einen Prozeß derselben Parteien mit anderem Streitgegenstand. 44 Habscheid, Streitgegenstand, S. 147. 45 Blomeyer, a.a.O. 46 Bötticher, FamRZ 1957, 409 (410). n Nikisch, AcP 156, 71 (73).
48
I.
Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
als Gegenstand des Zivilprozesses betrachtet? Eines scheint sicher: Folgt man grundsätzlich der prozessualen Auffassung vom Streitgegenstand - wobei einzelnen Modifikationen bei der Begriffsbestimmung keine Bedeutung zukommt -, so kann man die sich aus dieser Theorie ergebenden Schwierigkeiten nicht dadurch aufheben, daß man kurzerhand der Zivilprozeßordnung einen unterschiedlichen Gebrauch des Begriffes "Gegenstand" unterschiebt und behauptet, in§ 148 ZPO bedeute Gegenstand das materielle Recht oder Rechtsverhältnis. Denn erstens verstand der Gesetzgeber diesen Begriff an allen Stellen des Gesetzes gleich, weil er die Möglichkeit einer prozessualen Definition nicht kannte48, und zweitens kann der Gegenstand eines Verfahrens logischerweise immer nur ein prozessualer oder ein materieller sein - was davon abhängt, wie man ihn bestimmt -, nicht aber bald das eine, bald das andere, je nach dem, welche Rechtsnormen man gerade anwendet49 • Eine solche Interpretation des § 148 ZPO ist theoretisch unbefriedigend, nicht zuletzt deshalb, weil die prozessuale Streitgegenstandstheorie gerade wegen der Zweifel, die sich bezüglich einer Gleichsetzung von materiellem Recht und Streitgegenstand ergeben, entwickelt wurde. 5. Geht man von einem prozessual bestimmten, allgemein gültigen Streitgegenstand des Zivilprozesses aus, so kann ein materielles Recht oder Rechtsverhältnis nicht - wie es die Vorschrift des § 148 ZPO fordert - Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits sein. Die vom Gesetzgeberaufgrund einer anderen theoretischen Vorstellung formulierte Korrelation zwischen den Begriffen Rechtsverhältnis und Gegenstand läßt sich nicht länger aufrechterhalten. Damit stellt sich die Aufgabe, auf dem Fundament der vom Gesetz mit den Aussetzungsvorschriften verfolgten Zwecke und der Funktion der Aussetzung bei der Ordnung sachlich zusammenhängender, sich gleichwohl unabhängig voneinander entfaltender Prozesse Kriterien zu entwickeln, die es erlauben, öffentlich-rechtliche Interessen zu wahren, ohne den Anspruch des Klägers auf effektiven Rechtsschutz zu gefährden. Um den Anknüpfungspunkt zu finden, der den Weg zur Lösung des Problems eröffnet, müssen wir uns noch einmal den Gedankengang des Richters vergegenwärtigen, der eine Aussetzung des von ihm zu entscheidenden Rechtsstreits beabsichtigt. Haben die Parteien den wesentlichen Sachverhalt vorgetragen, so beginnt der Richter mit der SubVgl. oben § 4 Ziffer 2; Nikisch, Lehrbuch, § 42 I 4. Gleiches gilt etwa für § 60 ZPO; auch hier werden Anspruch und Gegenstand des Rechtsstreits als identisch behandelt. Anders liegt es dagegen in §§ 265, 325 III, 592, 688 ZPO, wo die Beziehung zum Gegenstand des Rechtsstreits fehlt. 48 49
§ 4 Der Gegenstand des vorgreifliehen Verfahrens
49
sumtion des Sachverhalts unter die in Betracht kommenden rechtlichen Tatbestände, welche die vom Kläger begehrte Rechtsfolge rechtfertigen könnten. Wir haben die dabei zu leistende, gedankliche Arbeit oben ausführlich geschildert (S. 20 ff.). Indem der Richter alle auftauchenden Vorfragen formuliert, stößt er auf Tatsachen, deren rechtliche Beurteilung einem anderen Gericht in einem anderen Verfahren ebenfalls obliegt. Der Richter wird, um sich zu vergewissern, ob es sich wirklich um den gleichen Sachverhalt handelt, die Akten einsehen oder sich von den an jenem Verfahren beteiligten Parteien die Schriftsätze geben lassen und nun anhand des vom Kläger gestellten Antrags und des vorgetragenen Sachverhalts die Identität prüfen. Er wird zunächst den Sachverhalt vergleichen, indem er den historischen Lebensvorgang anhand der Kriterien Zeit, Raum, Rechtssubjekte, Rechtsobjekte usw. individualisiert. Stellt er die Identität fest, so wird er weiter prüfen, ob die im Antrag begehrte Rechtsfolge für die Entscheidung seines Rechtsstreits, den er aussetzen will, vorgreiflieh ist. Er wird also die nackte Rechtsfolge des Antrags rechtlich qualifizieren, um festzustellen, ob sie zu den Tatbestandsvoraussetzungen einer von ihm selbst anzuwendenden Norm gehört. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der andere Richter nun später tatsächlich auch so entscheiden wird; er kann, wie gesagt, durchaus wiederum anderer rechtlicher Auffassung sein. Wir müssen also weiter modifizieren: Maßgeblich für die Frage, ob eine Vorgreiflichkeit des anderen Verfahrens vorliegt, ist die Überlegung, welche Entscheidung durch den anderen Richter zu erwarten ist. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß Pohle50 den Streitgegenstand geradezu als die vom Kläger beantragte Entscheidung definiert. Nach dem Ziel des Prozesses gefragt, könne kein Zweifel bestehen, daß um das Urteil, um die richterliche Entscheidung gestritten werde; denn sie verschaffe den Parteien Rechtsgewißheit über die zwischen ihnen bestehenden rechtlichen Beziehungen, wobei das Gericht gleichzeitig seiner Rechtsschutzaufgabe gegenüber dem Staat genüge. Der Kläger begehre das Urteil nicht als das bei der Verkündung gesprochene oder bei der schriftlichen Abfassung niedergeschriebene Wort, sondern um seiner "Urteilswirkungen" willen. Die Frage liegt nahe, ob es nicht auch dem eine Aussetzung erwägenden Richter um die Rechtsgewißheit hinsichtlich einer zu beantwortenden Vorfrage geht. Es ist im Grunde die Frage nach der prozessualen Funktion der Aussetzung und der mit ihr verfolgten Ziele. Schwerlich 50
Stein-Jonas-Pohle, 19. Auft., Einleitung E III 1 b.
4 Mittenzwei
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I. Der Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO
wird ein Richter ein Verfahren wegen einer materiell-rechtlichen Vorfrage aussetzen, obwohl nach der Prüfung des Sachstandes im vorgreifliehen Verfahren wegen fehlender Prozeßvoraussetzungen wahrscheinlich nur mit einem Prozeßurteil zu rechnen ist. "Worüber" in dem vorgreifliehen Verfahren "wie" entschieden werden wird, ist eine Frage, die sich jeder Richter vorlegen wird, wenn er eine Aussetzung beabsichtigt, und zwar unabhängig davon, welcher Streitgegenstandstheorie er den Vorzug gibt. Es scheint deshalb im Rahmen einer für § 148 ZPO möglichen Auslegung zu liegen, wenn eine prozessuale Streitgegenstandslehre statt auf den Gegenstand des Verfahrens auf die zu erwartende Entscheidung abstellt. Um diese Annahme zu rechtfertigen, ist es im folgenden nötig, Umfang und Funktion der Rechtskraft sowie ihren auffälligen Zusammenhang mit der Aussetzung genauer ins Blickfeld zu rücken.
2. Abschnitt
Die Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft § 5 Umfang der materiellen Rechtskraft 1. Gegenstand der materiellen Rechtskraft ist nicht der Gegenstand des Rechtsstreits, der Streitgegenstand, sondern die Entscheidung, die das Gericht über diesen fälat. Mit der Entscheidung ist die Ungewißheit beseitigt, die bis dahin über die rechtliche Einordnung des klägerischen Begehrens bestand2 • Gegenstand der Rechtskraft ist also der Streitgegenstand einschließlich des gerichtlichen Subsumtionsschlusses als Ganzes, d. h. einschließlich der rechtlichen Qualifikation der festgestellten materiellen Rechtsfolge durch das urteilende Gericht3•
Die Grenzen der Rechtskraft werden zunächst allgemein durch den Grundsatz "ne bis in idem" gezogen: Hat ein Gericht einmal über einen bestimmten Streitgegenstand verbindlich entschieden, so verweigert jedes andere Gericht eine nochmalige Entscheidung über den gleichen Gegenstand. Der Grundsatz gilt für alle Urteile, gleichgültig ob das Begehren des Klägers abgewiesen oder zugesprochen, ob die begehrte Rechtsfolge festgestellt oder die Rechtslage gestaltet wird. Allerdings liegt dem - aus dem römischen Recht stammenden - Grundsatz eine statische Prozeßanschauung zugrunde: er setzt Sachverhalt und Recht im Zeitpunkt der Entscheidung als ein für allemal festliegend voraus und berücksichtigt nicht, daß sich sowohl der Sachverhalt als auch das Recht weiter entwickeln können. Außerdem negiert er den Umstand, daß die Rechtskraft nach heute einhelliger Meinung eine doppelte Wirkung entfaltet: eine unmittelbare oder direkte und eine - dem römischen Recht ursprünglich unbekannte - mittelbare oder präjudizielle. Bezieht man die Prozeßdynamik und die unterschiedlichen Wirkungen der Rechtskraft in die Überlegungen bezüglich der Grenzen der Rechtskraft mit ein, so ist es notwendig, den Grundsatz "ne bis in idem" nach 1 Schwab, Streitgegenstand, S.139; Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 40, S.176; Henckel, Parteilehre, S. 293. 2 Rosenberg, Lehrbuch, § 88 li 3 c. 3 Götz, Urteilsmängel, S. 20 f.; JZ 1959, 681 (685); Lüke, JuS 1961, 188 (190); Habscheid, Streitgegenstand, S. 123; Henckel, Parteilehre, S. 295 f.; Zeuner, Objektive Grenzen, S. 32, mit weiteren Nachweisen. a. A. Nikisch, Streitgegenstand, S. 149 ff.; dazu Arens, a.a.O., S. 25 f.
52 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
verschiedenen Seiten hin zu modifizieren. Zu diesem Zweck müssen wir einmal zwischen klagabweisenden und zusprechenden Urteilen unterscheiden, zum anderen zwischen direkter und präjudizieller Rechtskraftwirkung. Insbesondere wird zu prüfen sein, welche Bedeutung die vom ersten Richter vorgenommene rechtliche Einordnung für die Rechtskraft hat. Wird eine Klage abgewiesen, die begehrte Rechtsfolge also verneint, so wird gleichzeitig damit positiv das Nichtbestehen dieser Rechtsfolge festgestellt. Insoweit scheint eine rechtliche Einordnung durch den Richter zu erfolgen; es wird das Nichtbestehen der Rechtsfolge etwa mit dem fehlenden Eigentum des Klägers, der Ungültigkeit des Vertrages, mit mangelndem Verschulden oder mit Erfüllung begründet. Obwohl die Abweisung der Klage auf diesen Rechtsgründen "beruht", sie also zu den tragenden Urteilselementen zählen, kann man aber von einer rechtlichen Einordnung nicht sprechen. Rechtlich eingeordnet werden können nur bestehende Rechtsfolgen4 • Hat die Subsumtion ein negatives Ergebnis, ist die eine oder andere Tatbestandsvoraussetzung nicht erfüllt, demzufolge der Schluß auf die jeweils vorgesehene Rechtsfolge nicht möglich, wird die Zuordnung der begehrten Rechtsfolge zu einer konkreten Norm gerade abgelehnt. Die Feststellung des Nichtbestehens der Rechtsfolge bleibt somit rechtlich unqualifiziert. Der auf den rechtlich-farblosen Streitgegenstand bezogene Grundsatz "ne bis in idem" wird also im Falle der Klageabweisung durch die Tatsache, daß jede richterliche Entscheidung das Begehren bestimmten, rechtlichen Tatbeständen zuordnet, nicht tangiert. Allenfalls kann man fragen, ob man die durch Antrag und vorgetragenen Sachverhalt individualisierte Rechtsfolge durch die vom Gericht im Hinblick auf bestimmte Normen- wenn auch mit negativem Ergebnis - vorgenommene Prüfung weiter individualisieren und damit die direkte Wirkung der Rechtskraft auf die gerade verneinten materiellen Ansprüche beschränken sollte5 • Da das Gericht die Klage nur abweisen darf, wenn es den prozessualen Streitgegenstand unter allen in Frage kommenden rechtlichen Gesichtspunkten6 untersucht hat, wird man diese Frage grundsätzlich verneinen können7 • Eine Rechtskraftbeschränkung läßt sich ausnahmsweise befürworten, wenn das Gesetz die Kompetenz des Gerichts auf die Prüfung eines vorgetragenen Sachverhalts unter bestimmten materiell-rechtlichen 4 Deshalb ist die Abweisung einer negativen Feststellungsklage nur eine scheinbare Ausnahme. 5 Blomeyer, Lehrbuch, § 89 III 4. 6 Nicht aber alle Tatbestandsmerkmale ein und derselben Rechtsnorm! 7 Vgl. Habscheid, Streitgegenstand, S. 287 f.
§ 5 Umfang der materiellen Rechtskraft
53
Gesichtspunkten beschränkt (§§ 29, 32 ZPO), weil andernfalls der vom Gesetzgeber eingeräumte Vorteil eines besonderen Gerichsstandes vom Kläger in vielen Fällen nicht ausgenutzt werden könnte8 • Die Beschränkung der Rechtskraft ergibt sich in diesen Fällen aber nicht aus den im Urteil getroffenen rechtlichen Feststellungen des Gerichts, sondern objektiv aus der Beschränkung seiner Kompetenz zur Entscheidung. Demnach spielt die rechtliche Einordnung bei der Klageabweisung weder für die direkte noch für die präjudizielle Rechtskraft eine Rolle. Da der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt unter allen in Frage kommenden rechtlichen Gesichtspunkten auf die begehrte Rechtsfolge hin geprüft, unter keine Rechtsnorm aber subsumiert wird, die Rechtsfolge also unqualifizierter, prozessualer Natur, d. h. durch Antrag und Sachverhalt bestimmt bleibt, kann ein klageabweisendes Urteil eigentlich überhaupt keine präjudizielle Rechtskraftwirkung entfalten. Von der präjudiziellen Rechtskraft eines klageabweisenden Urteils könnte man höchstens insofern sprechen, als die aus dem Sachverhalt rechtlich nicht ableitbare, als nichtbestehend festgestellte Rechtsfolge zu den Tatbestandsvoraussetzungen einer anderen Rechtsfolge gehört und der Kläger kontradiktorisch die verneinte Rechtsfolge erneut behaupten muß, um die nunmehr geltend gemachte Rechtsfolge durchzusetzen. In Wirklichkeit handelt es sich hier aber nicht um eine Bindung des zweiten Richters durch das erste Urteil, sondern um eine Präklusion des Klägers hinsichtlich bestimmter Tatsachen. Er kann einen Sachverhalt, über den bereits rechtskräftig entschieden ist, nicht noch einmal zur richterlichen Entscheidung stellen, auch nicht im Zusammenhang mit einem neuen Sachverhalt. Der zweite Richter lehnt jede rechtliche Auseinandersetzung mit den alten Tatsachen von vornherein ab; es kommt gar nicht erst zu dem Stadium, in dem der zweite Richter sich an den Inhalt des ersten Urteils gebunden fühlen könnte9 • Begehrt beispielsweise der Schuldner zunächst Aufhebung eines Schiedsspruches nach § 1041 ZPO und weist das Gericht die Klage ab, so kann der Schuldner die in diesem Verfahren behaupteten Aufhebungsgründe in der sich anschließenden Klage des Gläubigers auf Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruches (§ 1042 ZPO) nicht erneut vorbringen10• 8 Vgl. Rosenberg, Lehrbuch,§ 88 II 3 c; Henckel, Parteilehre, S. 278 f.; weitergehend Blomeyer, Lehrbuch, § 89 III 4. 9 Vgl. Bötti cher, Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, S. 511 ff. (526 f.); Rimmelspacher, a.a.O., S. 133. 10 Zur Rechtskraft des Gestaltungsurteils vgl. Henckel, Parteilehre, S. 31 f.,
209 f.,
s. 286 ff.
54 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Eine andere Frage ist es, inwieweit bei Wiederholung des Begehrens nach rechtskräftiger Entscheidung einzelne Rechtsnormen oder Tatbestandsmerkmale, deren Vorliegen das Gericht verneint hat, zu dem Zwecke herangezogen werden können, die Tragweite der inhaltsleeren Formel: "Die Klage wird abgewiesen", abzugrenzen11 • War beispielsweise eine Klage auf Zahlung von 1000,- DM wegen fehlender Aktivlegitimation des Klägers und wegen Nichteintritts einer Bedingung, von welcher der Anspruch abhing, abgewiesen worden, und macht der Kläger, nachdem er die Sachbefugnis erlangt hat, denselben Streitgegenstand erneut geltend, so muß das Gericht die Klage wegen Nichteintritts der Bedingung abweisen, selbst wenn es der Auffassung ist, daß der Anspruch von einer Bedingung gar nicht abhing12• Es ist ein Irrtum zu glauben, die Klageabweisung sei eine Folge der "Bindung" des Zweitrichters an die rechtlichen Feststellungen des ersten Richters; vielmehr erfolgt sie, weil der Kläger zwar bezüglich des ersten Abweisungsgrundes (Sachlegitimation) einen neuen Sachverhalt vorträgt, nicht jedoch bezüglich des zweiten (Bedingung). Über einen Sachverhalt, über den bereits rechtskräftig entschieden ist, wird ein zweites Mal nicht geurteilt. Anders sieht es HenckeP 3 : Trage eine Partei neue Tatsachen vor, die nur dann erheblich wären, wenn das verneinte Recht anders qualifiziert würde, als es in der Vorentscheidung geschehen sei, die dagegen nicht erheblich seien nach der im Urteil festgelegten rechtlichen Einordnung, so seien diese Tatsachen ungeeignet, an der Rechtskraft der Entscheidung zu rütteln. Wolle man für die Frage, ob neue Tatsachen geeignet seien, die Rechtskraft einer Entscheidung zu überwinden, die Entscheidungsgründe nicht als bindend ansehen, so könne die Rechtskraft ihre volle Wirkung nicht entfalten. Das ist m. E. nicht richtig: Wird eine Rechtsfolge verneint, so nimmt der Richter eine rechtliche Einordnung nicht vor; vielmehr erwägt er eine Einordnung nur, stellt dann aber das Fehlen bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen fest. Bejaht er daneben einige andere Tatbestandsvoraussetzungen einer bestimmten Rechtsfolge, so ist das für die Rechtskraft unerheblich, weil diese Würdigung das Urteil nicht trägt und also keine Feststellung - nämlich bezogen auf die getroffene Entscheidung - enthält. Grundsätzlich muß der Kläger seinen Vortrag durch solche neu entstandenen Tatsachen ergänzen, die sich auf die festgestellten, fehlenden Tatbestandsvoraussetzungen beziehen. Bringt er neu entstandene Tatsachen vor, die, wenn er sie im ersten Prozeß hätte Vgl. Zeuner, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft, S. 124, 125. Götz, Urteilsmängel, S. 21; ebenso Zeuner, a.a.O., S. 34. ts Parteilehre, S. 296.
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12
§ 5 Umfang der materiellen Rechtskraft
55
vorbringen können, zum Erfolg der Klage geführt hätten, so muß der zweite Richter der erneuten Klage stattgeben, und zwar schon deshalb, weil es niemals auszuschließen ist, daß der erste Richter das abgewiesene Begehren des Klägers dann rechtlich anders betrachtet hätte. Die alten Tatsachen gewinnen durch den neuen Vortrag sozusagen einen anderen, bisher nicht erkannten, rechtlichen Aspekt. Auf die ursprüngliche rechtliche Einordnung kam es im ersten Verfahren nicht an, weil auch die andere rechliehe Einordnung ohne die neuen Tatsachen zur Abweisung der Klage geführt hätte. Aus diesem Grunde erscheint es unrichtig, die Rechtskraft auf die positiv festgestellten Tatbestandsmerkmale zu erstrecken, wie es von Grunsky 14 vertreten wird. Überdies gehören bei einer Klageabweisung die als vorliegend festgestellten Tatbestandsmerkmale nicht zu den tragenden Urteilsgründen, weshalb eine Rechtskrafterstreckung auf die Urteilsgründe kaum mit dem Subsumtionsschluß gerechtfertigt werden kann. Warum in der hier vertretenen Auffassung ein Verstoß gegen das Prinzip der Waffengleichheit liegen soll, ist nicht einzusehen; wenn der Kläger obsiegt, ruht die festgestellte Rechtsfolge auf allen positiv festgestellten Tatbeständen, während einzelne abgelehnte Qualifikationen dem Kläger nicht schaden und dem Beklagten nichts nützen15• Eine neue Klage ist immer nur dann zulässig, wenn sich die nunmehr vorgetragenen, neu entstandenen Tatsachen gerade auf jenen Teil des gesetzlichen Tatbestandes beziehen, dessen Vorliegen im ersten Urteil verneint wurde16 ; anaererseits braucht der Kläger aber auch nur insoweit neu entstandene Tatsachen vorzutragen. Würde man auf diese Individualisierung der Klageabweisung durch die tragenden Rechtsgründe verzichten, so müßte etwa ein Kläger, der mit seiner Forderung mangels Fälligkeit abgewiesen wurde, einen völlig neuen Sachverhalt vortragen, eine Konsequenz, die das erste Gericht seinem Urteil überhaupt nicht zugedacht hat. Wichtig ist nur, sich vor Augen zu halten, daß es um den Verbrauch von Tatsachen geht, d. h. um die Begrenzung der Präklusionswirkung des Urteils, nicht der Bindungswirkung. Wird dem Begehren des Klägers im Urteil stattgegeben, so müssen wir zwischen der vom Urteil entfalteten direkten und präjudiziellen Rechtskraft unterscheiden. Bei der ersteren spielt die vom Gericht vorgenommene rechtliche Einordnung keine Rolle; es wird lediglich geprüft, ob aus dem gleichen Sachverhalt die gleiche (rechtlich nicht ein-
14
15 16
ZZP 76 (1963), S. 165 ff. (170).
Vgl. auch die Kritik bei RimmeZspacher, a.a.O., S. 126 ff. Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 35; Arens, a.a.O., S. 73.
56 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft geordnete) Rechtsfolge erneut begehrt wird 17• Hat das Gericht beispielsweise einer Zahlungsklage aus positiver Vertragsverletzung stattgegeben und wird nunmehr die gleiche Summe aus einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt, etwa aus unerlaubter Handlung, verlangt, so kommt es nicht darauf an, ob das Gericht diesen rechtlichen Gesichtspunkt gesehen und abgelehnt oder überhaupt nicht erörtert hat immer wird die Klage wegen Rechtskraft abgewiesen. Erwüchse dagegen der einzelne materielle Anspruch in Rechtskraft, so stünde die Rechtskraft einer erneuten Klage nicht im Wege, wenn das Gericht einen anderen materiellen Anspruch übersehen hätte18• Anders liegt es dagegen bei der präjudiziellen Rechtskraftwirkung; hier nützt der durch Antrag und Sachverhalt individualisierte, prozessuale Anspruch nichts, weil nur aus bestimmten materiellen Rechtsnormen hergeleitete Rechtsfolgen zum Tatbestand anderer Rechtsfolgen gehören, andererseits sich die präjudizielle Rechtskraft, wie schon gesagt, aber gerade an den materiellen Konstruktionszusammenhängen orientiert19• Unstreitig hat jedes Leistungsurteil, und um dieses geht es in erster Linie, außer dem Leistungsbefehl die Feststellung einer materiell-rechtlichen Rechtsfolge zum Inhalt. Dies ergibt sich bereits aus der Natur richterlicher Urteilsgewinnung; der Richter kristallisiert aus einem ihm unterbreiteten und auf seine Richtigkeit überprüften Sachverhalt anband der materiellen Rechtsnormen denjenigen materiellen Anspruch heraus, der den in der Klageschrift gestellten Antrag trägt20 • Läßt sich die gleiche materielle Rechtsfolge allerdings aus mehreren Rechtsnormen herleiten, so ist umstritten, inwieweit die vom Richter vorgenommene Zuordnung der Rechtsfolge zum Tatbestand einer bestimmten Norm, etwa unter gleichzeitiger Ablehnung der Herleitung aus anderen gesetzlichen Tatbeständen, den zweiten Richter zu binden vermag. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich darauf hingewiesen: Rechtskräftig wird nicht der einzelne materiell-rechtliche Anspruch, während sich der prozessuale Anspruch mit dem rechtskräftigen Urteil erledigt2 \ sondern rechtskräftig wird- mit den noch zu nennen17 Der Gegenstand der Rechtskraft wird durch Leistungsinhalt und tatsächlichen Entstehungsgrund hinreichend individualisiert, vgl. Nikisch, Streitgegenstand, S. 26; Rosenberg, Lehrbuch, § 88 II 3 c. 18 Vgl. Blomeyer, Lehrbuch, § 89 III 4. Wird dieselbe Rechtsfolge aus einem anderen Sachverhalt hergeleitet, so steht die Rechtskraft nicht entgegen, denn es handelt sich um einen anderen Streitgegenstand, wohl aber kann es am Rechtsschutzbedürfnis fehlen; z. B. Klage aus Wechsel, dann Klage auf die gleiche Summe aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis. 19 Blomeyer, Festschrift für Lent, S. 52; Berliner Festschrift, S. 56. 20 Lüke, JuS 1961, S. 189; Henckel, Parteilehre, S. 295 f. 21 So Habscheid, Streitgegenstand, S. 126; kritisch Jauernig, Zivilurteil, S.124.
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den Einschränkungen - der Schluß des Richters von einem festgestellten Tatbestand auf eine bestimmte konkrete Rechtsfolge 22 • Vor allem verdient Beachtung, daß der auf den rechtlich-farblosen Streitgegenstand bezogene Grundsatz "ne bis in idem" bei der präjudiziellen Rechtskraft ergänzt werden muß. Im Gegensatz zu der mit Hilfe einer Identitätsprüfung von Sachverhalt und Antrag bestimmten direkten Rechtskraftwirkung, läßt sich die präjudizielle Rechtskraft nur mit Hilfe eines anderen Kriteriums festlegen: der vom Richter vorgenommenen rechtlichen Einordnung der festgestellten Rechtsfolge23. Würde man auf ihre Teilnahme an der Rechtskraft gänzlich verzichten2\ so hätte dies zur Folge, daß die Rechtskraft zwar direkte Wirkung entfalten könnte, weil es insoweit auf eine rechtliche Einordnung nicht ankommt, präjudizielle dagegen nur in solchen Fällen, in denen eine andere rechtliche Einordnung zugleich die Existenz der (rechtlich nicht qualifizierten) materiellen Rechtsfolge berühren würde25 • Eine derartige Einschränkung der präjudiziellen Rechtskraft läßt sich mit der Funktion des Richters im Rahmen der Streitentscheidung nicht vereinbaren 26 und wird dem praktischen Bedürfnis nach Rechtsfrieden nicht gerecht; sie wird deshalb von der h.M. in Literatur und Rechtsprechung zurecht nicht geteilt27 , wenngleich zuzugeben ist, daß die Grenzziehung zwischen rechtskräftig festgestellter "conclusio" und den nicht in Rechtskraft erwachsenden einzelnen Tatbestandsmerkmalen (§ 322 ZPO) in Gefahr gerät, verwischt zu werden. 22 Insoweit der Richter diese Rechtsfolge "feststellt", hat sich der prozessuale Anspruch, gerichtet auf die "Feststellung" einer Rechtsfolge, in der Tat erledigt, wie Habscheid (S. 124/126) meint. 23 Wahrscheinlich liegt hier eine Wurzel des ausgedehnten Theorienstreits: Während die materiell-rechtlich orientierte Streitgegenstandslehre von der präjudiziellen Rechtskraft her den Gegenstand der Rechtskraft bestimmt, versucht es die prozeßrechtlich ausgerichtete umgekehrt von der direkten Rechtskraftwirkung her; beide Seiten beachten dabei zu wenig, daß die rechtliche Einordnung ein zusätzliches, zum Streitgegenstand hinzutretendes Kriterium ist, daß direkte und präjudizielle Rechtskraft also durch verschiedene "Gegenstände" abgegrenzt werden. Vgl. etwa Lent ZZP 65, 315 (342 f.).
24 So Jauernig, Zivilurteil, S. 130 f.; Nikisch, Streitgegenstand, S. 149 f. 25 Bader, a.a.O., S. 35 f.; der durch die Rechtskraft geschützte Bestand der festgestellten Rechtsfolge wird durch eine Vollstreckungsgegenklage wegen der zeitlichen Grenzen der Rechtskraft nicht in Frage gestellt. 26 Martens, ZZP 79 (1966); 404 (439), der eine Urteilswirkung, die unabhängig von der richterlichen Qualifikation der Rechtsfolge existieren soll, als nicht vorstellbar bezeichnet. 21 Allerdings ist nicht immer ganz klar, ob man die rechtliche Einordnung zur Individualisierung der Rechtsfolge benutzen und damit die direkte Hechtskraftwirkung einschränken will, oder ob man die rechtliche Einordnung zum rechtskraftfähigen Inhalt der Entscheidung rechnet und damit die präjudizielle Rechtskraftwirkung erweitert; vgl. die Nachweise bei Bader, a.a.O.,
s. 40 ff.
58 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft Die Bedenken, die gegen eine zu großzügige Ausweitung der Rechtskraft erhoben werden, sind allerdings von Gewicht. Der Kläger verlangt keineswegs immer die Zuerkennung einer bestimmten materiellen Rechtsfolge und das Gericht ist nicht verpflichtet, ja nicht einmal berechtigt, ihm mehr zuzusprechen, als er beantragt hat (§ 308 ZP0) 28 ; es wird nur soviel des vorgetragenen Prozeßstoffes prüfen, als zur Zuerkennung der vom Kläger begehrten Rechtsfolge unbedingt erforderlich ist29 • Schon aus diesem Grunde scheint es richtig zu sein, die Rechtskraft auf diejenige rechtliche Einordnung zu beschränken, welche das Gericht bezüglich der von ihm festgestellten Rechtsfolge ausdrücklich in positivem Sinne vorgenommen hat. Ferner darf die Beziehung zwischen Rechtskraft und Beschwer nicht aus den Augen verloren werden. Soweit die rechtliche Einordnung in Rechtskraft erwächst, muß es nämlich den Parteien gestattet sein, gegen Subsumtionsschlüsse, die für sie ungünstig sind, Rechtsmittel einzulegen; das führt- schon wegen§ 563 ZPO- zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten30• Um den Aufgaben der Rechtskraft gerecht zu werden, ist es jedoch gar nicht notwendig, die gesamte Subsumtionstätigkeit des Gerichts in die Rechtskraft mit einzubeziehen. Die Grenze darf nur nicht in dem "typischen Rechtsgrund" gesehen werden3 \ weil eine rechtliche Klassifizierung eines Anspruchs im Sinne des § 194 BGB nur anband konkreter Anspruchsnormen (z. B. §§ 611, 631 BGB), nicht aber durch den typischen Rechtsgrund erfolgen kann. Außerdem würde man mit dieser Grenzziehung den praktischen Bedürfnissen ebenfalls nicht gerecht werden. Gibt es doch einerseits Fälle, in denen es geboten erscheint, Tatbestandsmerkmale in die Rechtskraft mit einzubeziehen, soweit es auf sie bei der Zuerkennung der begehrten Rechtsfolge ankam32, wie es andererseits Fälle gibt, wo selbst die Beschränkung der Rechtskraft auf den typischen Rechtsgrund noch zu weit erscheint33• Es ist deshalb zweckmäßiger, bei der Präjudizialität erst einmal darauf abzustellen, welche rechtliche Einordnung das erste Gericht positiv vorgenommen hat, d.h. welcher konkreten Rechtsnorm es die von ihm festgestellte Rechtsfolge ausdrücklich zuordnete; nur soweit kann von einer "rechtlichen Einordnung" überhaupt gesprochen werden. Um das oben gebildete Beispiel wieder aufzugreifen: War der Zahlungsklage aus dem rechtlichen Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung stattgegeben worden, so ist der zweite Richter zunächst nur daran gebunden, daß es sich bei der festgestellten Rechtsfolge um einen Scha28 29 3D 31
32 33
Nikisch, Streitgegenstand, S. 149 f.; Blomeyer, Festschrift für Lent, S. 58. Lent, ZZP 65, 334. Vgl. Bader, a.a.O., S. 96 ff. RGZ 126, 234 (237); BGH LM § 322 ZPO Nr. 2; Arens, a.a.O., S. 28 ff. Vgl. das Beispiel bei Bader, a.a.O., S. 58. Hierzu Blomeyer, Festschrift für Lent, S. 58.
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densersatzanspruch aus positiver Vertragsverletzung handelt, weiter nicht. Kommt es in einem zweiten Prozeß darauf an, ob aus dem gleichen Sachverhalt die gleiche Rechtsfolge auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung hätte zugesprochen werden können, so kann er dies frei beurteilen, denn diese Einordnung hat das erste Gericht nicht vorgenommen. Die Freiheit ergibt sich allein schon daraus, daß der erste Richter - sofern er der Klage stattgibt - den vorgetragenen Sachverhalt nicht unter allen in Frage kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen braucht, sondern sich auf den nächstliegenden beschränken kann; dadurch können aber die anderen möglichen rechtlichen Einordnungen nicht ausgeschlossen sein, selbst wenn der Kläger dieselbe Rechtsfolge aus dem gleichen Sachverhalt unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht noch einmal beanspruchen darf. Gleiches muß gelten, wenn das Gericht die positive Vertragsverletzung zwar bejaht, die unerlaubte Handlung aber ausdrücklich verneint hat, oder umgekehrt, weil bei erfolgreicher Klage die Ablehnung eines Tatbestandes nicht zu den tragenden Urteilsgründen zählt, das Urteil also nicht auf ihr beruht. Die vom Gericht festgestellte Rechtsfolge wird lediglich durch die positive Einordnung materiell-rechtlich qualifiziert. Soweit die Herleitung der Rechtsfolge aus einem bestimmten Tatbestand abgelehnt, die Subsumtion also verneint wird, ordnet das Gericht die als bestehend festgestellte Rechtsfolge gerade nicht zu, sondern lehnt die Zuordnung ab. Ist der zweite Richter in diesem Punkte anderer Auffassung, so stellt er die Existenz der festgestellten Rechtsfolge nicht in Frage, im Gegenteil, er verleiht ihr sozusagen "ein zweites Bein". Wollte man dem zweiten Richter diese Freiheit nicht gewähren, würde man auf der anderen Seite den Kläger zwingen, gegen jede nachteilige Verweigerung der rechtlichen Einordnung vorsorglich ein Rechtsmittel einzulegen, ohne Rücksicht darauf, daß er aus anderem rechtlichen Grund bereits vollen Erfolg hatte; anders könnte er eine nachteilige Rechtskraftwirkung nicht verhindern. Diese unbefriedigende praktische Konsequenz einer zu weiten Ausdehnung der präjudiziellen Rechtskraft sollte nicht übersehen werden. Selbst die Beschränkung der präjudiziellen Rechtskraft auf die positiv vorgenommene rechtliche Einordnung führt nicht in allen Fällen zu zweckmäßigen Ergebnissen, insbesondere dann nicht, wenn die positive Zuordnung der festgestellten Rechtsfolge zu einer bestimmten konkreten Rechtsnorm, oder die Annahme eines bestimmten Tatbestandsmerkmales die Annahme eines anderen ausschließt. Hat z. B. der Kläger die Zahlung einer Geldsumme verlangt und streiten die Parteien um die Wirksamkeit des Vertragsschlusses, so nimmt die vom Gericht gewählte Einordnung "aus Werkvertrag" den Schein der Zufälligkeit
60 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
an, wenn es im Konkurs des Beklagten später darauf ankommt, ob der Kläger seine Forderung gemäß § 61 Ziff. 1 KO geltend machen kann, denn im ersten Verfahren spielte die rechtliche Einordnung keine Rolle und die Konsequenz einer etwaigen unrichtigen Qualifizierung war den Parteien nicht bewußt. Der zweite Richter wäre aber gehindert, eine andere rechtliche Einordnung vorzunehmen, weil der festgestellte Leistungsanspruch nur entweder aus Werkvertrag oder aus Dienstvertrag, nicht aber aus beiden Vertragstypen stammen kann. Ebenso liegt der Fall, wenn der Beklagte wegen fahrlässiger unerlaubter Handlung zum Schadensersatz verurteilt wird und im Wege der Vollstreckungsgegenklage mit einer später erworbenen Forderung aufrechnet; auch hier konnte der Kläger nicht von vornherein absehen, ob es auf die rechtliche Einordnung "aus vorsätzlich unerlaubter Handlung" jemals ankommen würde. Hier scheint es angebracht, bei der Frage, ob die Rechtskraft die rechtliche Einordnung erfaßt, darauf abzustellen, ob es für das Ergebnis der ersten Entscheidung auf die getroffene rechtliche Einordnung ankam, ob sich also an der zugesprochenen Rechtsfolge etwas durch eine andere rechtliche Einordnung geändert hätte, sei es hinsichtlich des Leistungsumfangs, der Leistungsart, sei es hinsichtlich irgendwelcher Nebenfolgen. Zu diesem Zweck braucht keineswegs der ganze erste Prozeß erneut aufgerollt zu werden3 \ vielmehr werden die Urteilsgründe sehr schnell ergeben, warum der erste Richter gerade die vorliegende Einordnung vorgenommen hat und keine andere. So kann es z. B. für die Fälligkeit der geltend gemachten Forderung erheblich gewesen sefn, ob sie "als Dienstlohn" oder "als Gesellschaftsgewinn" zu qualifizieren ist, und hatte der Beklagte Mitverschulden eingewandt, so kam es für den Anspruch aus unerlaubter Handlung darauf an, ob der Beklagte selbst vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat35• Es muß aber nicht immer der Bestand der Rechtsfolge selbst berührt werden, vielmehr genügt es, wenn das Gericht aus der vorgenommenen rechtlichen Qualifikation ersichtlich irgendwelche Konsequenzen abgeleitet, also beispielsweise bestimmte Vorschriften angewandt hat, die zwar in diesem Fall zum gleichen Ergebnis führten, eine bestimmte rechtliche Einordnung des Anspruchs aber voraussetzten35a. Begrenzt man den Umfang der präjudiziellen Rechtskraft auf rechtliche Einordnungen, die bereits für den Ablauf und Ausgang des ersten Verfahrens erheblich waren, so besteht mit der innerprozessualen Bindungswirkung "eine wesensmäßige Gleichheit in der Art und in den Wie Bader, a.a.O., meint (S. 102).Vgl. weiter die Beispiele bei Bader, S. 57 ff. 35 a z. B. Feststellung der Zuständigkeit (§§ 29, 32 ZPO). 34
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Grenzen der Bindung" 36, denn diese erschöpft sich von vornherein darin, das Gericht zu verpflichten, in demselben Verfahren ergangene, die Endentscheidung vorbereitende Urteile dem Endurteil zugrunde zu legen; ihre Funktion reicht nicht über das anhängige Verfahren hinaus. Die Rechtskraft aber würde an rechtliche Qualifikationen nur binden, soweit diese im innerprozessualen Bereich des ersten Prozesses selbst erheblich waren. Eine über die Kenntnisse der Parteien und die Bedeutung des ersten Verfahrens hinausgehende Bindungswirkung würde auch hier sinnvollerweise vereitelt37 • Kommt es dem Kläger gerade auf eine bestimmte rechtliche Einordnung an, so bleibt ihm die Möglichkeit, im Wege der Feststellungsklage auf eine bestimmte rechtliche Qualifikation anzutragen38• Mehr braucht für unsere Zwecke über den Umfang der Rechtskraft nicht gesagt zu werden. Die Tatsache, daß die materielle Rechtskraft die vom Gericht vorgenommene rechtliche Einordnung ergreift, macht sie als das von uns gesuchte, prozessuale Institut sichtbar, welches die Brücke zwischen Prozeßrecht und materiellem Recht schlägt39• 2. Die bisherigen Ausführungen über den Umfang der materiellen Rechtskraft machen deutlich: Die Grenzen der direkten Rechtskraftwirkung des Urteils lassen sich prozessual bestimmen; hier genügt es, die Identität des prozessualen Streitgegenstandes festzustellen, um zu einer praktisch brauchbaren Begrenzung der Urteilswirkung zu kommen'0. Ist über einen Antrag, bezogen auf einen bestimmten Sachverhaltskomplex, entschieden, so wird ein zweites Urteil über die gleichen Tatsachen von allen Gerichten verweigert41 • Jede Berücksichtigung des Inhalts der gefällten Entscheidung, also der materiell-rechtlichen Einordnung des Streitgegenstandes, der rechtlichen Feststellungen bezüglich des Sachverhalts, würde eine Einschränkung der direkten Rechtskraftwirkung bedeuten, eine Folge, die man durch Einführung der prozessualen Fassung des Verfahrensgegenstandes gerade zu vermeiden trachtete. Götz JZ 1959, 681. Die Verfasser der Zivilprozeßordnung gingen davon aus, daß das Urteil nicht weiter gehen dürfe, als es Absicht der Parteien war, eine Entscheidung herbeizuführen; das Urteil dürfe keine Folgen erzeugen, deren sich die Parteien im Laufe des Prozesses gar nicht bewußt geworden seien; vgl. Hahn, Materialien, 2. Bd., 1. Abt., S. 291, 608, 609; vgl. auch BGHZ 13, 265 (279 ff.). 38 BLomeyer, Festschrift für Lent, S. 60. Soweit dabei § 280 ZPO herangezogen werden kann, braucht der Kläger ein besonderes Rechtsschutzinteresse nicht nachzuweisen. 39 Zeuner, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 176. 40 Die subjektive Seite des Streitgegenstandes, über die noch zu sprechen ist, soll augenblicklich vernachlässigt werden. 41 Vgl. Stein-Jonas-Schumann-Leipold, 19. Aufl., 1969, § 322 ZPO Anm. III 5b. 36
37
62 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Demgegenüber leistet der Begriff des prozessualen Streitgegenstandes für die Bestimmung des Umfangs der präjudiziellen Rechtskraft nichts; ein prozessual bestimmter Streitgegenstand kann für einen anderen nicht vorgreiflieh sein. Vorfragen entstehen nur bei der Anwendung von Rechtsnormen, d. h. bei der Prüfung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen von gesetzlichen Vorschriften durch einen vom Kläger behaupteten Tatsachenkomplex erfüllt sind. Der Richter zerlegt die gesetzlichen Tatbestände in ihre Begriffe, bestimmt deren Merkmale und vergleicht sie mit dem vorgetragenen Sachverhalt. Stellt er Identität von Tatbestand und Sachverhalt fest, so "schließt" er auf die in der betreffenden Norm vorgesehene Rechtsfolge. Präjudizielle Rechtskraft bedeutet nichts anderes, als daß dem Richter im zweiten Prozeß die Entscheidung, ob Sachverhalt und Tatbestand identisch sind, partiell abgenommen wird. Ein Urteil kann präjudizielle Rechtskraft folglich nur entfalten, wenn man seinen Inhalt berücksichtigt, wenn man beachtet, welche Feststellungen der erste Richter bezüglich der materiellen Rechtslage getroffen hat. Die präjudizielle Rechtskraftwirkung orientiert sich an den Konstruktionszusammenhängen des materiellen Rechts. Ist beispielsweise zwischen A und B in einem Rechtsstreit rechtskräftig festgestellt worden, daß A Eigentümer des Grundstückes X sei, so kann in einem zweiten Prozeß, in dem A von B die Beseitigung einer Störung verlangt, B nicht mehr geltend machen, A könne die Beseitigung nicht verlangen, weil er nicht Eigentümer des Grundstücks sei. Das Gericht wird ohne nochmalige Prüfung des Eigentums der Klage stattgeben, sofern die anderen tatbestandliehen Voraussetzungen des Unterlassungsanspruches erfüllt sind. Ebenso liegen die Dinge, wenn A gegen B ein rechtskräftiges Urteil auf Leistung einer Sache erstritten hat, und in einem zweiten Prozeß A wegen nachträglicher Unmöglichkeit von B Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt; wendet B ein, ein gültiger Kaufvertrag sei nicht zustande gekommen, so wird er damit wenig Erfolg haben, denn Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch ist nach dem Gesetz nicht der Kaufvertrag, sondern die sich aus ihm ergebende, primäre Leistungspflicht des Schuldners, und diese ist in dem rechtskräftigen Leistungsurteil des ersten Prozesses festgestellt worden42 • Um die präjudizielle Rechtskraftwirkung eines Urteils zu bestimmen, ist der Rückgriff auf den Inhalt der Entscheidung unumgänglich. Auch diejenigen Prozessualisten, die für eine strenge Trennung von materiellem Recht und Prozeßrecht eintreten, haben niemals erwogen, auf die präjudizielle Wirkung der Rechtskraft gänzlich zu verzichten; 42
Zetmer, Objektive Grenzen der Rechtskraft, S. 13/14.
§ 6 Rechtskraft und Aussetzung
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für sie ist die präjudizielle Rechtskraft die Nahtstelle zum materiellen Recht, jene Stelle, nach der wir Ausschau gehalten haben, um die in § 148 ZPO infolge der prozessualen Bestimmung des Streitgegenstandes gestörte Korrelation zwischen den Begriffen "Rechtsverhältnis" und "Gegenstand des Rechtsstreits" durch eine neue zu ersetzen. § 6 Rechtskraft und Aussetzung
1. Ziel eines jeden Zivilprozesses ist die Schlichtung eines auf rechtlicher Ebene ausgetragenen Interessenkonflikts zwischen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft durch verbindliche, staatliche Entscheidung. Der Rechtskraft fällt dabei die Aufgabe zu, den Einwand der Unrichtigkeit gegenüber dem gefällten Urteil autoritativ zu verhindern1•
Zweck und Funktion der Rechtskraft müssen also vom Ziel des Prozesses, der Wiederherstellung des Rechtsfriedens in der Rechtsgemeinschaft, aus gesehen und bestimmt werden2 • Soll der Prozeß sein Ziel nicht verfehlen, so dürfen vor allen Dingen drei Aspekte des Verfahrens nicht aus dem Auge verloren werden: a) Der Verfahrensgang muß so eingerichtet sein, daß der Richter zu einem richtigen Urteil gelangen kann. Richtig ist das Urteil, wenn alle tür das Verfahren einschlägigen Vorschriften beachtet und das materielle Recht nach den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Überzeugungen angewendet worden ist. b) Der den Parteien, vornehmlich dem Kläger, gewährte Rechtsschutz muß effektiv sein. Je höher die Belastungen sind, die den Parteien bei der Durchsetzung oder Verteidigung ihrer Rechte zugemutet werden, je langwieriger und kostspieliger die Verwirklichung einer Rechtsposition ist, um so mehr wird die Effektivität des Rechtsschutzes verringert. c) Die Kosten des Prozesses müssen sich sowohl für die Rechtsgemeinschaft als auch für die Parteien im Hinblick auf die angestrebte Rechtsverwirklichung als tragbar und angemessen erweisen. Richtigkeitsgewähr, Effektivität des Rechtsschutzes und angemessene Begrenzung der sozialen Kosten der Rechtspflege treten bei dem BeRosenberg, Lehrbuch, § 148 li 4; allg. M. In großer Einmütigkeit - trotz unterschiedlicher Auffassungen im einzelnen - fast alle Autoren; z. B. Rosenberg, Lehrbuch, § 148 I 2; Blomeyer, Lehrbuch, § 88 II; Schönke-Kuchinke, Lehrbuch, § 1 II; Baumbach-Lauterbach, 30. Aufl.., Einf. 2 B vor §§ 322 ff. ZPO; Gotdschmidt, Prozeß als Rechtslage, S. 211, 212 u. a.; kritisch Pawtowski ZZP 80 (1967), 345 ff. (361 Anm. 80), der sich gegen die Trennung von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit ausspricht; dieses Problem ist hier nicht relevant. Vgl. dazu ferner Gaut, AcP 168 (1968), 27 ff.; Schumann, Festschrift für Bötticher, 1969, S. 289 ff. 1
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64 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft mühen um die Wiederherstellung des Rechtsfriedens in Widerstreit; sie lassen sich nicht miteinander vereinbaren, sondern müssen in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden3 • So erhöht die Einräumung von Rechtsmitteln und die Überprüfung der Entscheidung durch andere Gerichte die Wahrscheinlichkeit, daß sie richtig ist; andererseits kann eine übermäßig lange Prozeßdauer den Wert eines Prozeßgewinns derart schmälern, daß der gewährte Rechtsschutz effektiv gleich null ist. Gleiches gilt für die Kosten. In diesem Spannungsfeld zwischen Richtigkeitsgewähr und Prozeßökonomie wird die Rechtskraft verschiedentlich nicht zu Unrecht als das Opfer aufgefaßt, das die unterliegende Partei um des Prozeßzieles willen der Rechtsgemeinschaft bringen muß 4 • Hat der Kläger zunächst ein Interesse daran, möglichst schnell den mit der Klage erstrebten Rechtszustand durchzusetzen, so wandelt sich sein Interesse im Falle des Obsiegens nach Erlaß eines Urteils dahin, den nunmehr herbeigeführten Rechtszustand aufrecht zu erhalten. Wird seine Klage abgewiesen, so ist andererseits der Beklagte daran interessiert, nicht noch ein zweites Mal über dieselbe Frage prozessieren zu müssen. Diesen Interessen an der Erhaltung des Rechtsfriedens dient die Rechtskraft insofern, als sie Entscheidungen anderer Gerichte über denselben Streitgegenstand verhindert. Die Aufgabe der Rechtskraft, widerstreitende Entscheidungen verschiedener staatlicher Gerichte zu verhindern, wird als ein weiterer, wesentlicher Zweck betrachtet, zum Teil jedoch weniger, weil etwa die Parteien ein Interesse daran haben, die durch das rechtskräftige Urteil getroffene Regelung ihrer Rechtsbeziehungen und Schlichtung ihres privaten Interessenkonflikts als endgültig aufrecht zu erhalten, sondern weil widerstreitende Entscheidungen verschiedener Gerichte der Autorität staatlicher Rechtspflegeorgane abträglich seien und das Vertrauen in die Einheitlichkeit und Stetigkeit der Rechtspflege erschütterten5 • Jeder Widerspruch offenbare die Relativität allen Rechts, zeige die Grenzen aller Bemühungen um Gerechtigkeit und lasse die gerichtliche Entscheidung als eine Erkenntnis unter vielen und als subjektives Produkt eines einzelnen Gerichts erscheinen, das sie nach eigenem Recht und eigenem Maßstab getroffen habe6 • Der breiteren Bevölkerung fehle Im einzelnen vgl. Dorndorf, a.a.O., S. 35 ff. Vgl. etwa Stein, Grundriß, § 97 II; B ernhardt ZZP 66 (1953), 77 (78); Baumbach-Lauterbach, Einf. vor §§ 322 ff. ZPO, Anm. 2 B. 5 Vgl. etwa Hellwig, System Bd. I, § 229 III; Stein, Grundriß, § 97 II; Bötticher, Beiträge zur Rechtskraft, S. 54, 65, 66, 124, 195; Rosenberg, Lehrbuch, § 148 I 2; Nikisch, Lehrbuch, § 104 I; Gaul, Grundlagen des Wiederaufnahmerechts, S. 49; Thomas-Putzo, 4. Aufl.., § 322 ZPO Anm. 1; ablehnend früher schon Neuner AcP 134 (1931), 119 (120). 6 Rimmelspacher, a.a.O., S. 67, unter Bezug auf Hippe!, Wahrheitspfl.icht, s. 52 ff. 3
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§ 6 Rechtskraft und Aussetzung
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aber die notwendige Reife, um die Erkenntnis der Relativität allen Rechts zu verarbeiten7 • Diese sozialpsychologische Rechtfertigung und Deutung der Rechtskraft widerspricht der heute herrschenden Vorstellung von rechtsstaatlicher Demokratie8 • Selbst wenn jeder Justizirrtum den staatlichen Rechtspflegeorganen peinlich und jede unterschiedliche Beurteilung der Rechtslage dem Vertrauen in die Objektivität der Rechtsfindung abträglich wäre - was in unserer Gesellschaft angesichts der fortgeschrittenen Relativierung aller Werte schon faktisch bezweifelt werden muß -, verstieße eine Begrenzung der Kontrolle staatlicher Entscheidungen um des Ansehens der Gerichte willen und eine Verheimlichung der Unvollkommenheit aller Rechtsverwirklichung gegen zwei konstitutiv-demokratische Prinzipien: die Kontrolle und öffentliche Diskussion aller staatlich-autoritativen Entscheidungen und Entscheidungsvorgänge9. Für die teleologische Bestimmung der Rechtskraft ist die sozialpsychologische Rechtfertigung auch gar nicht notwendig. Dient die Einrichtung staatlicher Zivilgerichte dem Schutz privater Interessen einzelner Mitglieder der Rechtsgemeinschaft, so ist nicht die Tatsache widersprechender Entscheidungen an sich und eine dadurch verursachte Beeinträchtigung staatlicher Autorität das zu vermeidende Übel, sondern die Gefährdung des genannten Zweckes der Zivilrechtspflege: die Regelung und Schlichtung privater Interessenkonflikte10• Es geht um das Interesse der Parteien an der Aufrechterhaltung der einmal gefällten Entscheidung und um die Effektivität des gewährten Rechtsschutzes. Widersprechende Entscheidungen verschiedener Gerichte beschwören die Gefahr eines Geltungskonfliktes herauf, heben sich in ihren Wirkungen unter Umständen gegenseitig auf, führen jedenfalls nicht zur Schlichtung des Interessenkonfliktes und Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Schließlich dient die Rechtskraft dem eingangs formulierten Ziel des Zivilprozesses insoweit, als sie die Kosten der Rechtsverfolgung begrenzt, und zwar sowohl für die Parteien - denen im Falle des Sieges nicht alle Kosten vom Gegner ersetzt werden - als auch für die Rechtsgemeinschaft. 7 Etwa Adam NJW 1959, 1304; Pehle, Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages, 1968, Bd. li, S. R 12, im Streit um die Veröffentlichung der "dissenting opinion". 8 Vgl. Friesenhahn, Referat, 47. Deutscher Juristentag, 1968, Bd. II, S. R 51 ff., zur "dissenting opinion". 9 Ablehnend auch Dorndorf, a.a.O., S. 51 f. 10 Neuner AcP 134 (1931), S. 120.
5 Mittenzwei
66 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft Ist ein Rechtsstreit in letzter Instanz entschieden und damit die Rechtsbeziehung der Parteien autoritativ geregelt, so erscheint, vom Prozeßziel her gesehen, ein erneuter Prozeß über dieselbe Angelegenheit nicht nur unökonomisch, weil dieser - ohne die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung der Entscheidung wesentlich zu erhöhen erneut Kosten verursacht, sondern auch deshalb, weil jede neue Inanspruchnahme staatlicher Justizorgane Zeit und Arbeitskraft verbraucht, die zur Entscheidung anderer unerledigter Rechtsstreitigkeiten benötigt werden. Die Rechtskraft hindert die Parteien zwar nicht, die Gerichte wegen einer bereits abgeurteilten Sache nochmals anzurufen, sie ermöglicht aber eine schnelle Entscheidung. Das Gericht vergleicht lediglich das Begehren des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens mit dem jetzigen des Klägers und weist die Klage im Falle der Identität ab, ohne den Sachverhalt nochmals zu erforschen und rechtlich zu würdigen. Indem die Rechtskraft den Einwand der Unrichtigkeit gegenüber gerichtlichen Entscheidungen abschneidet, verhindert sie nicht nur eine vom Prozeßziel her gesehen unnötige, doppelte gerichtliche Untersuchung derselben Sache, sondern fördert überdies das Ziel aller staatlichen Zivilrechtspflege - die Wiederherstellung des Rechtsfriedens positiv: Sie entlastet die Gerichte und ermöglicht ihnen eine schnellere Erledigung anderer anhängiger Rechtsstreitigkeiten. Während die Prozeßvoraussetzung "Rechtskraft" ihre Funktion erst erfüllen kann, wenn der Prozeß abgeschlossen ist, hat die Prozeßvoraussetzung Rechtshängigkeit die Aufgabe, parallel laufende Prozesse über dieselbe Sache zu verhindern. Es ist seit langem anerkannt, daß beide Prozeßvoraussetzungen einem gemeinsamen Zweck dienen: die gleiche Sache nicht zum Gegenstand wiederholter richterlicher Beurteilung werden zu lassen11, dadurch Urteilskollisionen zu vermeiden und Arbeitskraft, Zeit und Kosten zu sparen. Sieht man Rechtskraft und Rechtshängigkeit vom Prozeßziel her, so wird der zwischen beiden Prozeßinstituten bestehende Zusammenhang greifbar: Soll die Rechtskraft ihre prozessuale Aufgabe ganz erfüllen, so bedarf sie im Hinblick auf schwebende Verfahren notwendig einer Ergänzung. Einander widersprechende Staatsakte in gleicher Sache werden nur dann sicher vermieden, wenn bereits das Nebeneinanderherlaufen von Prozessen mit gleichem Streitgegenstand untersagt wird. Damit tritt die Rechtshängigkeit neben die Rechtskraft in den Dienst der Abwehr drohender Urteilskollisionen. 11 Rimmelspacher, a.a.O., S. 69, mit weiteren Nachweisen; RGZ 160, 338 (344 f.).
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So gesehen entpuppt sich die an den Beginn der Rechtshängigkeit geknüpfte prozessuale Sperrwirkung als eine in den Prozeß selbst vorverlagerte Sicherung der mit dem Urteil zu erwartenden direkten Rechtskraftwirkung' 2 • Allerdings ist der Einwand der Rechtshängigkeit nicht im gleichen Umfang begründet wie der Einwand der Rechtskraft. Während die Rechtshängigkeit Identität der Streitgegenstände voraussetzt, wirkt die Rechtskraft auch bei verschiedenen Streitgegenständen, sei es, daß die festgestellte Rechtsfolge in ihrer materiell-rechtlichen Einordnung Vorfrage für eine in einem zweiten Prozeß begehrte Rechtsfolge ist, sei es, daß die Annahme einer anderen Rechtsfolge sich mit der zuerst festgestellten nicht vereinbaren läßt. Die Rechtshängigkeit korrespondiert lediglich mit der direkten Rechtskraftwirkung. Ist dagegen ein Prozeß anderweitig anhängig, von dem eine präjudizielle Rechtskraftwirkung zu erwarten ist, so greift nicht § 263 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO ein, sondern § 148 ZPO! Es stellt sich somit die Frage, ob der Aussetzung gegenüber der präjudiziellen Rechtskraft die gleiche Aufgabe zugesprochen werden muß, wie wir sie eben der Rechtshängigkeit hinsichtlich der direkten Rechtskraftwirkung zuerkannt haben. Der systematische Zusammenhang mit der präjudiziellen Rechtskraft scheint unleugbar; darüber kann auch die Stellung des§ 148 ZPO nicht hinwegtäuschen; sie beruht auf der Ansicht des Gesetzgebers, daß es sich bei der Aussetzung wie bei der Verbindung und Trennung von Prozessen um eine prozeßleitende Maßnahme handele, während die Rechtshängigkeit unter dem Einfluß der von Bülow entwickelten Theorie der Prozeßeinreden vom Gesetzgeber als solche angesehen und demzufolge in den Zusammenhang mit anderen Prozeßeinreden eingeordnet wurde. Aber wie die Rechtshängigkeit eine formelle und eine materielle Funktion hat, nämlich erstens die Konkurrenz zwischen mehreren Prozessen mit gleichen Streitgegenständen regelt und zweitens der Inhaltssicherung einer zu erwartenden Entscheidung dient, so läßt sich auch bei der Aussetzung diese äußere und innere Seite unterscheiden. Zwar kann man bei der gleichzeitigen Geltendmachung verschiedener Streitgegenstände vor verschiedenen Gerichten nicht gerade von einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des staatlichen Rechtsschutzes sprechen wie bei der Rechtshängigkeit, die pro12 Bötticher, Kritische Beiträge zur Rechtskraft, S. 237; Rosenberg, Lehrbuch, § 98 I; Blomeyer, Lehrbuch, § 49 I; Bettermann, Rechtsschutzform, S. 34; Rimmelspacher, a.a.O., S. 69, mit weiteren Nachweisen. Ferner Planck, Lehrbuch I, S. 271; RGZ 160, 191 (192); 160, 338 (344); Hans. OLG DR 1940, 1379, 1380. Auch der Gesetzgeber ging von einem Zusammenhang zwischen Rechtskraft und Rechtshängigkeit aus, vgl. Hahn-Stegemann, Ges. Materialien, 1. Abt., S. 259. a. A. Kraemer ZZP 64 (1951), 90; Hellwig, Anspruch und Klagrecht, S. 178 f. (hinsichtlich der subjektiven Grenzen der Rechtshängigkeit); ebenso Lehrbuch I, S. 180; Bd. III, S. 223; System I, S. 363.
s•
68 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
zeßökonomischen Ziele sind jedoch die gleichen13• Die materielle Funktion der Aussetzung liegt wie bei der Rechtshängigkeit darin, widersprechende Entscheidungen zu verhindern und damit die zu erwartende Entscheidung bezüglich der von ihr entfalteten präjudiziellen Rechtskraft zu sichern. Die Aussetzung ist mithin eine notwendige Ergänzung der Rechtshängigkeit; beide stehen in einem teleologischen Zusammenhang mit der Rechtskraft; während diese die Entfaltung der direkten Rechtskraftwirkung sichert, schützt jene die präjudizielle. Demgegenüber vertritt Bettermann14 die Auffassung, der Zweck der Aussetzung sei nicht der gleiche wie derjenige, welcher dem Verbot der Wiederholung eines bereits anhängigen Rechtsstreits zugrunde liegt. Gemeinsam sei Aussetzung, Rechtshängigkeit und Rechtskraft nur der prozeßökonomische Gesichtspunkt: Es solle vermieden werden, daß dieselbe Streitfrage mehrfach die Gerichte beschäftige, seien es nun die gleichen oder verschiedene, sei es als Hauptsache oder als Vorfrage. Darüber hinaus verfolgten die Vorschriften über die Rechtskraft und Rechtshängigkeit noch ein weiteres Ziel, nämlich die Vermeidung widersprechender Entscheidungen. Das Problem der Urteilskollision, der Kollision von rechtsschöpfenden Staatsakten, könne nur dort auftauchen, wo in beiden Verfahren die gleiche Streitfrage als Hauptsache zu entscheiden sei. Dies ist richtig, aber ergänzungsbedürftig. Wir kennen nicht nur eine direkte Rechtskraftwirkung, die eine nochmalige Entscheidung derselben Sache und damit eine Urteilskollision verhindert, sondern weiterhin eine präjudizielle, welche den Inhalt eines Urteils auch insofern sichert, als andere Gerichte von der einmal festgestellten Rechtsfolge auch dann nicht abweichen dürfen, wenn sie über ein anderes Begehren zu entscheiden haben. Auch die präjudizielle Rechtskraftwirkung dient der "Vermeidung der Rechtsverwirrung". Warum die Aussetzung für die präjudizielle Rechtskraft nicht die gleiche Bedeutung haben soll wie die Rechtshängigkeit für die direkt wirkende Rechtskraft, läßt Rettermann offen. Jedenfalls kann die inhaltliche Substanz des § 148 ZPO nicht mit dem Argument abgetan werden, die Aussetzung sei in das Ermessen des Richters gestellt und überdies auch dann möglich, wenn die Entscheidung der anderweitig anhängigen Vorfrage keine Bindung für den aussetzenden Richter auslöst15• Denn erstens ist das Ermessen des Richters pflichtgemäß auszuüben 16 und die Kriterien zur Beurteilung der Pflichtgemäßheit können nur aus dem Zweck des § 148 ZPO abgeleitet werden, und zweitens war auch die Rechtshängigkeit vom Gesetz13
Vgl. zum Zweck der Aussetzung Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufi., § 148 ZPO
Anm.I2. 14
15
ts
Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, S. 34. Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 34 Anm. 69. z. B. schon RGZ 37, 373 (375).
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geber als Einrede formuliert (§ 263 II 1 ZPO) und in der Literatur und Rechtsprechung lange Zeit als solche behandelt worden17• Da sich die präjudizielle Rechtskraft an materiell-rechtlichen Konstruktionszusammenhängen orientiert und die Voraussetzungen der Aussetzung deshalb anders als die Rechtshängigkeit nicht an den prozessualen Streitgegenstand, sondern an den Inhalt der zu erwartenden Entscheidung anknüpfen müssen, ist wegen der damit verbundenen Unsicherheit der Beurteilung die Einräumung eines Ermessens auch nach der hier vertretenen Auffassung durchaus sinnvoll. Ferner können bei der Aussetzung - anders als bei der Rechtshängigkeit - das Interesse des Klägers an einer schnellen Rechtsschutzgewährung und das öffentliche Interesse an der Vermeidung widerstreitender Entscheidungen und Geringhaltung der sozialen Kosten miteinander kollidieren und den Richter zu einer sorgfältigen Interessenahwägung zwingen. Ob endlich der Richter auch dann aussetzen darf, wenn keine Hechtskraftwirkung zu erwarten ist, was in der Tat von der h . M. behauptet und was noch zu prüfen sein wird, hängt von der Funktion ab, die man der Aussetzung zuerkennt, und nicht umgekehrt. Vorläufig mag der Hinweis genügen, daß eine Einbeziehung der Aussetzung in einen systematischen Zusammenhang zur Rechtskraft und Rechtshängigkeit nicht ausschließen würde, aus prozeßökonomischen Gründen die Vorschrift des § 148 ZPO unter Zuweisung weiterer Aufgaben erweiternd auszulegen oder analog anzuwenden. Schließlich hat man ja auch bei der Rechtshängigkeit nicht gezögert, das Verbot aus Gründen der Prozeßökonomie und des Schutzes des Beklagten vor unnützen Belastungen über den Bereich der Rechtskraftwirkung hinaus auszudehnen18• Würde man das Institut der Aussetzung neben dem der Rechtshängigkeit zur Sicherung der Rechtskraft zu Hilfe nehmen, könnte überdies eine überspannte Auslegung der Rechtshängigkeit19 vermieden werden. Ob der Grundsatz, widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, also wirklich im Verbot mehrfacher Prozesse nicht voll durchgeführt wird20 , scheint zumindest fraglich. 17 Vgl. Hellwig, Lehrbuch I, S. 179, mit weiteren Nachweisen. Diese Rechtsprechung wurde erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 17. 5. 1939 (RGZ 160, 338 ff. [344 f.]) aufgegeben. Heute ist die Entscheidung eindeutig zugunsten einer Prüfung von Amts wegen gefallen: Blomeyer, Lehrbuch, § 49 IV; Rosenberg, Lehrbuch,§ 98 III 1; Baumbach-Lauterbach, 30. Auft., § 263 ZPO Anm. 4 A; Thomas-Putzo, 4. Auft., § 263 ZPO, Anm. 3; BGH NJW 1952, 1375 (1376); LM Nr. 2 zu § 21 VAG (unter III). 18 Vgl. Blomeyer, Lehrbuch, § 49 III 2; auch Hans. OLG DR 1940, 1379, 1380. Aber bestritten: vgl. Stein-Jonas, 18. Auft., § 263 ZPO Anm. III 3 b mit weiteren Nachweisen; Kraemer ZZP 64 (1951), 90 (91). 19 Wie sie von Bettermann, a.a.O., vertreten wird; dazu Kraemer ZZP 64,
90 f. 20
So Blomeyer, Lehrbuch, § 49 III 1.
70 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
2. Rechtshängigkeit und Rechtskraft haben sich auch historisch gemeinsam entwickelt, und zwar aus dem allgemeinen Gedanken, daß die richterliche Gewalt sich mit derselben Sache nur einmal befaßt. Im römischen Recht galt der Satz "bis de eadem re ne sit actio" in der Zeit des ordo iudiciorum privatorum in seiner strengsten Auslegung. Mit der Erteilung der formula, welche im sog. Formularprozeß das Verfahren in iure abschloß, sahen die Römer das Klagerecht21 wegen der Unmöglichkeit einer erneuten Anbringung als konsumiert an und in die neue Form eines vor dem iudex zu verfolgenden Klagerechts (res in iudicium deducta) aufgenommen. Einem erneuten Rechtsstreit über dieselbe Sache stand der genannte Satz - sofern es sich um eine formula in ius concepta handelte- ipso iure entgegen, im übrigen gewährte der Magistrat eine "exceptio rei in iudicium deductae" 22 • War auch das Verfahren in iudicio mit der sententia iudicis beendet worden, so betrachtete man durch letztere nunmehr das im Zeitpunkt des prätorisehen Richterspruchs (litis contestatio) entstandene Rechtsverhältnis als konsumiert und - wenigstens bei der Kondemnation durch ein neues Klagerecht (res iudicata) ersetzt. Die Wirksamkeit des Satzes blieb die gleiche; entweder wirkte er ipso iure oder durch Gewährung einer "exceptio rei iudicatae". Jede neue Klage, gleichgültig ob verbessert oder nicht, war unmöglich23• Als man später die eigentümliche Scheidung von ius und iudicium aufgab und der doppelte Richterspruch wegfiel, wurde das System in der prozessualen Konsumtion von Klagerechten in seinen Grundlagen erschüttert24. Der Grundsatz "bis de eadem re ne sit actio" war seiner inneren Bedeutung nach nur noch auf das Endurteil anwendbar und die "exceptio rei in iudicium deductae" wegen des Wegfalls der litis contestatio ohne Inhalt; sie wurde gleichwohl- wenn auch durch allerlei Mittel in ihrer Anwendung gemildert - noch lange Zeit mitgeschleppt und erst von Justinian planmäßig aus den Quellen beseitige5 • Die durch ihre Aufgabe entstandene Lücke in der Verteidigung des Beklagten gegen eine schikanöse nochmalige Anbringung einer noch nicht beendigten Streitsache schloß man in enger Anlehnung an das alte Recht, indem man zwar den aus der Konsumtion folgenden Grundsatz aufgab, dieselbe Klage könne auch dann nicht ein zweites Mal erhoben werden, wenn ein Urteil nicht ergangen ist, wohl aber an der These festhielt, Nicht das eingeklagte materielle Recht: Hellwig, System, § 128 I. Zu dieser Entwicklung vgl. Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, s. 3ft. 2a Planck, a.a.O., S. 6, 7. 24 Vgl. Hellwig, System, § 128 I. 2 s Kaser, Römisches Zivilprozeßrecht, § 94 II; Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 11 f. 21
22
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die gleichzeitige Anbringung mehrerer Rechtsstreitigkeiten über dieselbe Streitsache sei unstatthaft (exceptio litis pendentis) 28 • Die späteren Kaiser griffen diesen Gedanken auf und befestigten ihn durch Strafandrohungen und Kautionszwang27 • Es scheint also, als sei damit ein Ausfluß der alten prozessualen Konsumtion durch litis contestatio geblieben, in Wirklichkeit hatte sich aber ein neuer selbständiger, aus Prozeßmaximen entwickelter Rechtssatz gebildet, der im Justinianischen Recht "ganz außer Zusammenhang mit dem materiellen Rechte" stand28 • Der so in zwei Rechtssätze aufgelöste Hauptgrundsatz "de eadem re ne bis agitur" hat sich in dieser Gestaltung bis in die Zeit der Schaffung der Zivilprozeßordnung erhalten29 • Erstens konnte jede definitiv entschiedene Streitsache nicht erneut Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein, zweitens war es untersagt, jede einmal zur Verhandlung gebrachte Streitsache vor Beendigung dieser Instanz, sei es durch Entbindung des Beklagten, sei es durch ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft der Parteien, anderweitig anhängig zu machen. Wenn auch der zweite Rechtssatz den Juristen des Mittelalters weniger klar zu Bewußtsein gekommen und deshalb schwieriger zu verfolgen ist, so war seine Geltung doch ebenso unbestritten wie seine offensichtliche prozessuale Natur unbekannt30• Wie geschildert, teilte er schon im jüngeren römischen Prozeß nicht mehr die materielle Natur des ersten Grundsatzes, der wegen des definitiven Urteilsspruches (res iudicata) die Bedeutung einer Novation des materiellen Rechtsverhältnisses behielt. Es handelte sich bei beiden Rechtssätzen um den Parteien eingeräumte Rechte, welche - wie alle Einreden - zu einem bestimmten Termin geltend gemacht werden mußten oder verloren gingen. Die in die Zivilprozeßordnung aufgenommene "Einrede der Rechtshängigkeit" läßt sich also auf den gleichen Grundsatz zurückführen wie der Einwand der Rechtskraft: die richterliche Gewalt befaßt sich nur einmal mit derselben Sache31 • Kommt es zu keinem definitiven Urteil, 2e 27 28
Vgl. Hellwig, System, § 128 I. Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 16. Planck, a.a.O., S. 17; auch Goldschmidt, Prozeß als Rechtslage, S. 31, be-
tont den prozessualen Charakter der exceptio rei in iudicium deductae. Anders Bülow, Prozeßeinreden, S. 227, der behauptet, die Einrede sei "unstreitig sachlicher Natur", was aber nur für die von ihm ebenfalls genannte exceptio rei iudicatae oder nur für die Zeit des Formularprozesses richtig sein kann. 29 Vgl. Planck, a.a.O., S. 264 ff. 30 Vgl. Planck, a.a.O., S. 282 ff. (286/287); KleinfeUer ZZP 55 (1930), 194 f. 31 Vgl. die Zusammenfassung von Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 545 f.
72 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
so reicht die Rechtshängigkeit allerdings nicht so weit wie die Rechtskraft: eine nochmalige Geltendmachung verhindert sie nicht. Damit zeigt sich, daß es sinnvoll ist, sie als Vorstufe der späteren Rechtskraftwirkung zu betrachten, denn nur auf diese Weise dient sie dem genannten Grundsatz, aus dem sie sich entwickelt hat. Dieexceptio rei iudicatae hatte zunächst- wie der Name schon sagt - ausschließlich negative Bedeutung, d. h. sie bedeutete nur, daß eine bestimmte Streitsache entschieden und damit abgetan sei. Es handelte sich dabei noch nicht um eine Eigenschaft oder Wirkung des Urteils. Erst später entwickelte sich eine Auffassung der res iudicata, die wir heute mit "positiver Rechtskraftwirkung" bezeichnen würden32• Sie drängte die "negative Wirkung" nach und nach immer mehr in den Hintergrund33• Aus den Ausführungen über den mit der Rechtskraft verfolgten Zweck (S. 63 ff.) läßt sich unschwer entnehmen, daß man sich die Wirkung der Rechtskraft durchaus verschieden vorstellen kann: Einmal kann man ihre Aufgabe am einfachsten und sichersten verwirklicht sehen, wenn man jede nochmalige Entscheidung über dieselbe Sache von vornherein verhindert; zum anderen würde aber auch die Gewährleistung genügen, daß jede spätere Entscheidung über die gleiche Sache von der ersten inhaltlich nicht abweicht. Bötticher34 hatte in den dreißiger Jahren, dem allgemeinen Zug der Zeit zur Verselbständigung der Prozeßrechtswissenschaft folgend, den Nachweis versucht, daß die zuerst genannte Vorstellung zur Erklärung der materiellen Rechtskraft vollkommen ausreiche und schon deshalb vorzuziehen sei, weil sie die Weiterentwicklung der Rechtskraft zu einer reinen Prozeßvoraussetzung ermögliche. Er warf Stein und Hellwig vor, sie seien bei der Entwicklung von einer materiell-rechtlichen zu einer prozessualen Rechtskrafttheorie auf halbem Wege stehen geblieben: Wenn man- wie sie- die Funktion der Rechtskraft in der Beeinflussung des Inhalts späterer Entscheidungen sehe, dann habe die materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie die stärkere Werbekraft für sich35• Der Hinweis auf die Klagenkonsumtion des römischen Rechts - "auf die längst vergessene, negative Funktion der Rechtskraft" - werde als genügend erachtet, um jeden Gedanken an den Grundsatz "ne bis in idem" zu diskreditieren. Seit dem Sieg der Vgl. Planck, a.a.O., S. 539 ff. Zur Entwicklung vgl. auch Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen, S. 63 f. 34 Kritische Beiträge zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, S. 130 ff. 35 Vgl. auch Bötticher, Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben, S. 511 ff. 32
33
(527).
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Lehre von der "positiven Funktion" der res iudicata sei das Prinzip des "ne bis in idem" in der Literatur abgetan- ja man könne sagenperhorresziert worden. Trotz des mit Vehemenz vorgetragenen Angriffs hat Bötticher sich in Lehre und Rechtsprechung nicht vollständig durchsetzen können36 • Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß mit der rein negativen Funktion der Rechtskraft allein die Wirkung rechtskräftig festgestellter, präjudizieller Rechtsverhältnisse in einem zweiten Prozeß mit anderem Streitgegenstand nicht zu erklären ist; mit der Zurückweisung des Begehrens auf nochmalige Entscheidung (etwa nach § 280 ZPO) ist es nicht getan, vielmehr muß der zweite Richter den materiell-rechtlichen Inhalt des ersten Urteils seiner Entscheidung zugrunde legen37 • Das, was Bötticher als "Weiterwirken" der ersten Entscheidung, als "getane Arbeit" bezeichnet38, ist genau dasselbe, was seine Gegner "positive" Wirkung der Rechtskraft nennen, die Bötticher selbstverständlich nicht leugnet; es ist die Ausrichtung der präjudiziellen Rechtskraft an materiell-rechtlichen Konstruktionszusammenhängen und die Bindung des zweiten Richters an festgestellte, materielle Rechtsfolgen39• Es drängt sich die Frage auf, ob die Aussetzung, deren Aufgabe ebenfalls darin besteht, Zeit, Mühen und Kosten durch die Verhinderung mehrmaliger richterlicher Entscheidungen über dieselbe Sache zu sparen, in einem ähnlichen historischen Zusammenhang mit der präjudiziellen Wirkung der Rechtskraft gestanden hat. Zu dieser Annahme könnte die Lehre über die sogenannten "Präjudizialsachen" vorderhand verleiten, doch muß die Frage verneint werden. Unter einem "praeiudicium" verstanden die römischen Juristen zur Zeit des ordo iudiciorum privaterum eine Entscheidung, der sich ein in einem 36 Der Bundesgerichtshof hat sich den Formulierungen der "ne bis in idem"-Lehre angeschlossen; BGHZ 34, 337 (339); 35, 338 (340); 36, 365 (367). Allerdings handelte es sich immer um Fälle direkter Rechtskraftwirkung. 37 Neuner AcP 134 (1931), 119 (121/122); Rimme~spacher, a.a.O., S. 131, mit weiteren Nachweisen. 38 Bötticher, Hundert Jahre Dtsch. Rechtsleben, S. 528, 530. 39 Die Tatsache, daß im Urteil eine konkrete materielle Rechtsfolge verbindlich festgestellt wird, wird neuerdings zum Anlaß genommen, die bereits totgesagte materiell-rechtliche Rechtskrafttheorie wieder zu beleben; vgl. Martens ZZP 79, 404 (419, 433); Stein-Jonas-Schumann-Leipo~d, 19. Aufl., § 322 ZPO Anm. III 5. Zwar behauptet Schumann an anderer Stelle (Festschrift für Bötticher, 1969, S. 310 Anm. 105) einen Unterschied zwischen Geltung und Konkretisierung einer Rechtsfolge durch eine rechtskräftige Entscheidung und Richtigkeit des Urteils; da aber nur "geltendes Recht" rechtlich relevant ist, will die Absetzung von der materiell-rechtlichen Rechtskrafttheorie nicht recht einleuchten. Wenn der Einwand der Unrichtigkeit des Urteils autoritativ verhindert wird (Schumann, a.a.O., S. 311), dann erscheint die Deklarierung des Urteils als "unrichtig" metajuristisch.
74 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft späteren Prozeß urteilender Richter gewöhnlich anschloß, doch nicht notwendig anschließen mußte, durch die er sich gebunden fühlte, obschon er nicht eigentlich gebunden war. Der von einem praeiudicium ausgehende Einfluß beruhte also - anders als die eben geschilderte Wirkung der res iudicata, die deshalb niemals als "praeiudicium" bezeichnet wurde - ausschließlich auf der Autorität und dem Ansehen des früher urteilenden Richters oder Gerichts und der Überzeugung von der Notwendigkeit einer übereinstimmenden, gleichmäßigen Rechtsprechung40 • Es handelte sich weniger um einen juristischen als um einen moralischen Einfluß, gespeist durch die jedem Richter anhaftende Scheu, sich mit einem anderen Urteil in Widerspruch zu setzen41 • Das praeiudicium war daher im römischen Prozeß ursprünglich nichts weiter als ein Beweismittel (probatio), während die res iudicata für die neue Entscheidung nichts bewies, sondern sie unmöglich machte. Das Wort "praeiudicare" bedeutete demzufolge ursprünglich nur "eine Ent&cheidung abgeben, welche als Beweismittel in einem späteren Prozeß benutzt werden kann". Der Einfluß des praeiudiciums, so berechtigt er an sich war, konnte sich unter Umständen ungünstig auswirken. Der Richter in einem wichtigeren Prozeß hätte sich in manchen Fällen vielleicht wider seinen Willen gezwungen sehen können, die Entscheidung eines anderen unbedeutenden, zumindest weniger wichtigen Prozesses zu beachten, um die Gleichförmigkeit der Urteilssprüche zu wahren, obwohl aufgrund der jetzigen zweiten und gründlicheren Untersuchung möglicherweise klar zutage getreten war, daß die erste, mehr beiläufig erfolgte Prüfung unrichtig war. So entwickelte sich unter dem Schild der Rücksichtnahme auf eine gleichmäßige und gute Rechtspflege im römischen Recht zunächst eine Regel, von der sich der Magistrat bei mehreren gleichzeitig anhängigen Rechtsstreitigkeiten im allgemeinen leiten ließ: "per minorem causam maiori cognitioni praeiudicium fieri non oportet" 42 • Mit anderen Worten: man wollte verhüten, daß eine Streitsache in einem unwichtigeren Prozeß entschieden wurde, wenn sie in einem wichtigeren Prozeß gleichfalls zu untersuchen war. Schon daraus folgt, daß diese Regel von Magistratsbeamten von Amts wegen beachtet wurde und nicht wie die exceptio rei in iudicium deductae erst einmal vom Beklagten einredeweise geltend gemacht werden mußte, wie man zunächst vielleicht anVgl. Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 180 ff.; oben§ 3 Ziffer 3. WetzeH, System, § 64, S. 863. 42 Vgl. Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S.179; Bülow, Prozeßeinreden, S. 114 ff. 40
41
§ 6 Rechtskraft und Aussetzung
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nehmen könnte43 • Diese Regel bewegte sich von Anfang an auf rein prozessualem Gleise". Es erschien grundsätzlich wünschenswert, denjenigen Richter die Streitfrage zuerst untersuchen und entscheiden zu lassen, von welchem die gründlichste und gewissenhafteste Beurteilung zu erwarten war. Die Verzögerung des Verfahrens durch die Aussetzung der minor causa erschien dadurch aufgewogen, daß sich der Richter dieses Prozesses alsdann unbesorgt der Entscheidung des wichtigeren Prozesses anvertrauen durfte. Als maior causa war eine Sache anzusehen, wenn sie, wie etwa die hereditatis petitio, vor ein angeseheneres Gericht gehörte, also vor das Centumviralgericht oder vor das kaiserliche Gericht (gegenüber dem Gericht des Senats). Maior cognitio waren auch die Sachen von öffentlichem Interesse, also die Kriminalsachen (publica causa) vor den Zivilsachen, die Ansprüche des Fiskus im Gegensatz zu den Ansprüchen von Privatpersonen, sodann Streitigkeiten über den status, schließlich überhaupt Streitigkeiten von höherem Wert, etwa das Grundeigentum selbst vor Rechten, die sich aus dem Grundeigentum ergeben45• Darüber hinaus entstand im Laufe der Zeit das Bedürfnis für eine Art Präjudizialklage, in der ein Rechtsverhältnis oder eine Tatsache, welche die gemeinsame Grundlage für mehrere Klagerechte bildete, vorab entschieden werden konnte 48 • Durch ihren Gebrauch kam man allmählich dahin, der Entscheidung einer solchen Klage, sofern sie ein Rechtsverhältnis betraf, ebenfalls Rechtskraft beizulegen; der Ausspruch, der nur als praeiudicium galt, wurde in eine res iudicata verwandelt mit der Wirkung, ius zu schaffen. Wenigstens geschah dies in jenen Fällen, in denen die Präjudizialklage bald ausschließliche Klageterm war: für Prozesse über den status. Die Präjudizialklage verlor später jeden Zusammenhang mit der übrigen Bedeutung des praeiudiciums und förderte die Entwicklung der Regel: "res inter alios iudicatas aliis non praeiudicare" oder "nullum aliis praeiudicium facere", die ihrerseits später wieder zum Ausgangspunkt einer "präjudiziellen" Rechtskraftwirkung wurde47 • In der Zeit der klassischen Juristen hatte das Wort praeiudicium und praeiudicare bereits eine etwas veränderte Bedeutung. Da der Einfluß früherer Entscheidungen immer mehr zunahm und den Ausgang späte43 Allerdings gab es Fälle, in denen die Regel auf noch nicht anhängige, wichtigere Prozesse Anwendung fand; hier erteilte der Prätor eine exceptio; Wetzen, System, § 64, S. 870 f. 44 Bü~ow, Prozeßeinreden, S. 119 ff. 45 Vgl. P~anck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 196 ff. 4& Vgl. Planck, a.a.O., S.l87 ff. 11 Vgl. Planck, a.a.O., S. 193.
76 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
rer Prozesse immer sicherer bestimmte, hob sich aus dem ursprünglichen Begriff praeiudicium = frühere Entscheidung, die befolgt werden kann, immer schärfer der Gedanke des Gebundenseins, der Hemmung heraus. Schließlich heißt praeiudicium nicht mehr die Entscheidung, welche bindet, sondern das Gebundensein selbst, der Nachteil, welcher darin besteht, durch frühere Entscheidungen oder Handlungen gebunden zu sein48 • Die Regelper minorem causam . . . blieb durch diese Veränderung allerdings unberührt und behielt ziemlich den gleichen Sinn. Denn die klassischen Juristen behielten sehr wohl im Auge, welche Hemmung ursprünglich gemeint war, nämlich die Neigung der Richter, sich der früheren Entscheidung anzuschließen. Praeiudicium bedeutete also bei den Römern niemals ein bedingendes Rechtsverhältnis, das, wenn es entschieden ist, wegen seiner Vorgreiflichkeit auf einen späteren Rechtsstreit einen Einfluß ausübt. Dies muß man sich vor Augen halten, wenn man die weitere Entwicklung der Regel über die Aussetzung verfolgt. Vor allem erklärt sich nun der von unserem heutigen Standpunkt kaum mehr verständliche Sinn des Satzes "per minorem causam maiori cognitioni praeiudicium fieri non oportet": Aussetzungsgrund war die Vorgreiflichkeit des "auszusetzenden Prozesses", während heute Aussetzungsgrund die Vorgreiflichkeit des anderen Verfahrens (der causa maior) ist. Die Verhältnisse haben sich insofern genau umgekehrt. Der auszusetzende Prozeß greift heute dem anderen Verfahren nicht mehr vor, weil nur über den Streitgegenstand bindend entschieden wird, nicht aber über Vorfragen, von denen eine den Gegenstand des anderen Verfahrens bildet. Der Richter des anderen Prozesses wird durch eine etwaige Entscheidung des ausgesetzten Rechtsstreits nicht "präjudiziert", d. h. an die Beurteilung der Vorfragen gebunden, sondern kann durch eine vorausgehende Entscheidung allenfalls selbst präjudizieren. Daß die klassischen römischen Juristen mit der Sistierung der minor causa allerdings das gleiche Ziel erreichten, das wir heute m it der Aussetzung verfolgen, nämlich die vorherige rechtskräftige Entscheidung des vorgreifliehen Rechtsverhältnisses vor dem von ihm abhängigen, war unbeabsichtigte Folge, nicht wie heute Zweck der Aussetzung. Was sie erreichen wollten, war die vorherige Entscheidung der wegen des Ansehens der Richter oder wegen des Wertes wichtigeren Sache vor der weniger wichtigen; deshalb war es auch unerheblich, ob an den beiden Rechtsstreitigkeiten dieselben Parteien beteiligt waren oder nicht49• In der späteren Kaiserzeit (vor Justinian) trat zu dem ersten, eben genannten Grundsatz ein zweiter hinzu, demgemäß die bedingende Sache der bedingten voraufzugehen habe, während die Spuren des 48 49
Vgl. Planck, a.a.O., S. 191 ff. Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, S. 202, S. 206.
§ 6 Rechtskraft und Aussetzung
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ersten Grundsatzes im Laufe der Zeit immer schwächer wurden. Das lag wohl in erster Linie daran, daß nunmehr der Beamte in den meisten Fällen selbst untersuchte und entschied, und sich dabei wohl kaum verpflichtet gefühlt haben dürfte, die Entscheidung eines gleichstehenden Beamten in einer wichtigeren Sache abzuwarten; eher mochte er ein solches Ansinnen als Verletzung seiner magistratischenWürde empfunden haben50• Außerdem trat wegen der zunehmenden Länge der Prozesse der Gesichtspunkt der Verzögerung stärker hervor. Der zweite sich herausbildende Grundsatz hing freilich mit dem ersten zusammen, denn die wichtigere Frage war häufig auch die bedingende. Mochte man auf die bloße Wichtigkeit kein Gewicht mehr legen, so empfand man doch das- früher nicht vorhandene- Bedürfnis, den bedingenden Streit zuerst entscheiden zu lassen. Der wichtigere Streit war jetzt einfach der bedingende, der minder wichtige der bedingte. Die Juristen Justinians haben die angebahnte Entwicklung später gebilligt und sind in ihrem Sinne fortgefahren 51 • Sie haben im Kodex den Grundsatz an die Spitze gestellt, daß die bedingende Rechtsstreitigkeit vor der bedingten entschieden werden solle. Fassen wir die römischen Regeln der Prozeßleitung noch einmal zusammen: Der Magistrat hatte nach seinem Ermessen zu bestimmen, ob mit dem einen Prozeß auf die Beendigung eines anderen gewartet werden soll. Dabei ließ er sich von folgenden Regeln leiten: a) Im Zivilverfahren der älteren Zeit galt der Grundsatz, daß der wichtigere Rechtsstreit vor dem unwichtigeren zu entscheiden sei. Der weniger wichtige Prozeß sollte für den wichtigeren k eine Vorentscheidung treffen. b) Im späteren Zivilverfahren und im Recht Justinians wurde dieser Grundsatz durch die Regel verdrängt, der bedingende Rechtsstreit solle vor dem bedingten entschieden werden; nur wo es ohne Beeinträchtigung des Klägers möglich war, auch der wichtigere vor dem minder wichtigen. Der Grund ist jetzt die Hoffnung, man werde sich auch in diesem Fall der Entscheidung freiwillig anschließen. In Deutschland blieb man bis zur Zeit der Schaffung der Zivilprozeßordnung diesen Gedanken im großen und ganzen treu, wenn auch nicht immer mit vollem Bewußtsein. Insbesondere vermischte man die Grundso Planck, st
a.a.O.,
S. 247 ff.
Planck, a.a.O., S. 251.
78 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft sätze mit den Regeln über die Reihenfolge der Untersuchung verschiedener Fragen in ein und demselben Prozeß. Die Verwechslung führte zu der Kontroverse, ob der Richter "de incidentibus quaestionibus" nur eine Untersuchung anstellen oder auch ausdrücklich ein Urteil sprechen müsse, woran sich die Frage anknüpfte, inwieweit man sich auf die Rechtskraft einer solchen Inzidententscheidung berufen könne52 • Planck selbst hielt ein Urteil über eine quaestio incidens selbst nur für möglich, wenn diese den Gegenstand eines eigenen Rechtsstreits bildete, nicht aber, wenn sie nur als Voraussetzung der Entscheidung eines anderen Rechtsverhältnisses in Frage kam53• Auf dem Sprachgebrauch des klassischen römischen Rechts, wonach praeiudicium soviel wie Nachteil bedeutete, der darin bestand, daß man an eine frühere Entscheidung gebunden war, baute das kanonische Recht weiter. Praeiudicium bedeutete schließlich überhaupt jeden Schaden, den man durch ein früheres Ereignis für die später anzustrengende Verfolgung eines Rechts erleidet54 • Der juristische Gebrauch des Wortes praeiudicium entwickelte sich aus der Regel "res inter alios iudicatas nullum aliis praeiudicium faciunt", die man selbst in der römischen Weise verstand, die aber bereits von den italienischen Prozessualisten auch umgekehrt wurde (praeiudicium facit oder fit); dadurch paßte allerdings die Definition als Schaden nicht mehr recht. Um die negative wie positive Seite der Regel zu erfassen, definierte man praeiudicium nunmehr mit "Vorentscheidung" und die negative Seite der Regel hieß: rechtskräftige Entscheidungen zwischen dritten Personen sind keine Vorentscheidung für andere55• Positiv bedeutete praeiudicium facit eine rechtskräftige, bindende Vorentscheidung. Man hatte von dem faktischen Einfluß gewisser Vorentscheidungen auf die römischen Privatrichter keine Vorstellung mehr, sondern konnte sich den Einfluß nur noch als Rechtskraft denken. Diese Erklärung von praeiudicium ist bis in das 19. Jahrhundert von Einfluß geblieben, so daß man unter Präjudizialsachen solche verstand, welche vor allen anderen entschieden werden müssen. Endlich pflegte man denjenigen Sachen den Vorzug der Behandlung als Präjudizialsachen einzuräumen, von welchen die Entscheidung der Hauptsache abhing. Mit dieser Neubestimmung war wenig geholfen, da Abhängen nicht nur ein juristisches, sondern auch ein faktisches Abhängigkeitsverhältnis kennzeichnen konnte und man eine bestimmte Reihenfolge innerhalb eines Prozesses im Auge hatte56• 52
sa 54 55 56
Planck, a.a.O., S. 471 ff., 477. Anders heute § 280 ZPO. Planck, a.a.O., S. 478. Planck, a.a.O., S. 480. Planck, a.a.O., S. 481 ff., S. 486 ff.
§
6 Rechtskraft und Aussetzung
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Planck bekämpfte die Auffassung, praeiudicium habe die technische Bedeutung einer Entscheidung, welche durch ihre Rechtskraft auf künftige Streitigkeiten einwirkt, ebenso den seiner Ansicht nach unnützen und inhaltsleeren Begriff der Präjudizialsachen sowie die Aufstellung fester Regeln über die Reihenfolge; er glaubte vielmehr, daß im wesentlichen die römischen Regeln über die Reihenfolge die gleichen geblieben seien. Vor allen Dingen hob er hervor, daß die Bestimmung der Reihenfolge Sache der richterlichen Prozeßleitung sei; der Richter solle entscheiden, ob es dem Zweck einer schnellen, sicheren und wohlfeilen Justiz entspreche, diesen Prozeß jetzt oder erst später - nach Beendigung eines zweiten Verfahrens - zu verhandeln. Die Beurteilung dieser Frage hänge von den Umständen des Einzelfalles ab, so daß es dem an allgemeine Regeln gebundenen Ermessen des Richters überlassen bleiben müsse, hier eine Antwort zu finden. Die Bemühungen, auf theoretischem Wege durch Aufsuchen von Eigenschaften und Merkmalen an den einzelnen Rechtsstreitigkeiten eine Grundlage für unumstößliche Prinzipien zu finden, führe am Ende zu einer inhaltsleeren Nomenklatur, welche man durch Beispiele aufzufüllen versuche57• So sehr die Kritik an den zeitgenössischen Autoren berechtigt gewesen sein mag, kann man sich andererseits bei den Äußerungen Plancks des Eindruckes nicht erwehren, daß er der jüngeren Entwicklung der Rechtskraft, insbesondere deren präjudizieller Wirkung, nicht ganz gerecht wurde. Um so mehr, als der römisch-rechtlichen Auffassung der Sistierung die Annahme einer "Präjudizien"-Wirkung der Entscheidungen zugrunde lag, die von der heutigen Urteilswirkung der Rechtskraft genau unterschieden werden muß. Es scheint, als sei ihm durch die Bekämpfung der Wortbedeutung von "praeiudicium" als einer Vorentscheidung mit Rechtskraftwirkung die Herstellung einer Beziehung zwischen der Aussetzung und den Einrichtungen der res iudicata bzw. der res in iudicium deducta unmöglich geworden. 3. Die von Planck aufgrund seiner Untersuchungen entwickelten Gedanken über eine sinnvolle Prozeßleitung haben offensichtlich die Vorstellungen des Gesetzgebers der Zivilprozeßordnung bei der Schaffung der Vorschriften §§ 148 ff. ZPO beeinflußt; jedenfalls entsprechen sie weitgehend dem von Planck mit Nachdruck vertretenen Standpunkt.
Soweit Planck den Zweck der Aussetzung von der Aufgabe der Zivilrechtspflege, nämlich schnell, effektiv und wohlfeil Rechtsschutz zu gewähren, her bestimmt und deshalb fordert, die Entscheidung, wann ein Verfahren sistiert werden soll, dem Ermessen des Richters zu überlassen, beurteilt er die Prozeßsituation vollkommen richtig. Im Kampf 57
Planck, a.a.O., S. 499.
80 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft um die Klarstellung des Präjudizienbegriffes entgeht ihm jedoch, daß im modernen Prozeßrecht zu der direkten Rechtskraftwirkung, die der römischen exceptio rei iudicatae entsproß, eine präjudizielle Wirkung der Rechtskraft hinzugetreten ist, die das ältere römische Prozeßrecht nicht kannte und die sich aus der Präjudizialklage und der Regel nullum aliis praeiudicium facere entwickelte. Während im Hinblick auf die direkte Rechtskraft teleologisch konsequent die römische exceptio litis pendentis zur Einrede der Rechtshängigkeit weiter entwickelt wird, bleibt die präjudizielle Rechtskraft in der Situation parallel laufender Verfahren mit sachlich sich überschneidenden Streitsachen ohne die vom Zweck der Rechtskraft geforderte Ergänzung. Wenn Planck die fraglos mit dem praeiudicium des römischen Rechts historisch zusammengehörende Aussetzung ausschließlich am ursprünglichen Inhalt dieses Begriffs orientiert, so negiert er die durch die Weiterentwicklung der Rechtskraft entstandene, vom römischen Prozeß verschiedene Rechtslage; ohne zwingenden Grund bleibt das um eines effektiven Rechtsschutzes willen entwickelte prozessuale System ineinandergreifender Institute lückenhaft58 • Überdies ist eine Ausrichtung der Aussetzung an den römischen Präjudiz-Regeln, die dem deutschen Prozeßrecht unbekannt sind59, auch sachlich bedenklich. Sie könnte die irrige Vorstellung hervorrufen, das Interesse der Rechtspflege an einer einheitlichen Beurteilung der Rechtslage wöge das Interesse des Klägers an einer schleunigen Durchführung des Prozesses jederzeit auf. Das ist in diesem weiten Umfange keineswegs der Fall. Nur wo eine verbindliche Entscheidung über eine Vorfrage zu erwarten ist und eine mögliche Urteilskollision die Schlichtung des privaten Interessenkonflikts und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens unter den Parteien gefährdet, wiegt das öffentliche Interesse an der Einheitlichkeit der Entscheidungen schwerer als das Beschleunigungsinteresse des Klägers. Nur hier rechtfertigt sich im Hinblick auf das Ziel der Zivilrechtspflege überhaupt eine Verzögerung der Rechtsschutzgewährung. Ein bloßes irgendwie geartetes Präjudiz und die Aussicht, sich eine schwierige, tatsächliche oder rechtliche Untersuchung zu ersparen, reichen dagegen nicht, um den Anspruch auf schnellen, effektiven Rechtsschutz hintanzusetzen. Die Betrachtung der Aussetzung allein aus dem Blickwinkel ökonomischer Prozeßleitung setzt die Vorschrift des § 148 ZPO in ein schiefes Licht und ist geeignet, zu einer viel zu weiten Auslegung zu führen. 58
59
Lehrbuch, § 49 III 1. Zu den Begriffen Präjudizialität und Präjudiz vgl. oben § 3 Ziffer 3.
Blomeyer,
§ 6 Rechtskraft und Aussetzung
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Demgegenüber ist eine vornehmlich an der präjudiziellen Rechtskraft orientierte Interpretation der Aussetzung systematisch folgerichtig, teleologisch notwendig und nicht zuletzt interessengerecht. Sie verliert das Ziel des Prozesses nicht aus den Augen und mutet dem Kläger eine Verzögerung des begehrten Rechtsschutzes nur dort zu, wo die erstrebte, endgültige Erledigung des privaten Interessenkonflikts wegen einer möglichen Kollision von Urteilen verschiedener Gerichte ohnehin nicht sicher erwartet werden kann. Der teleologische Zusammenhang zwischen Rechtskraft, Rechtshängigkeit und Aussetzung ist so evident, daß es geradezu verblüfft, in der prozessualen Literatur darüber nirgends Ausführungen zu finden. Fassen wir noch einmal zusammen: Die Rechtshängigkeit, obwohl vom Gesetzgeber als Einrede verfaßt, ist heute unstreitig von Amts wegen zu beachten und zu prüfen; sie führt, falls Identität der Streitgegenstände festgestellt wird, unmittelbar zur Abweisung der Klage. Die Aussetzung eines Verfahrens erfolgt seit jeher von Amts wegen; daß dem Richter bei der Feststellung einer Vorgreiflichkeit ein Ermessen eingeräumt wird, ob er aussetzen will oder nicht, rechtfertigt sich aus zwei Gründen: Einmal muß er abschätzen, ob und wann in dem vorgreifliehen Verfahren eine Entscheidung über die ihn berührende Vorfrage zu erwarten ist; eine generelle Aussage läßt sich darüber nicht machen. Zum anderen muß er erwägen, ob die eintretende Verzögerung des Verfahrens im Hinblick auf das Prozeßziel gegenüber dem Anspruch der Parteien auf schleunige Verhandlung ihrer Angelegenheit zu rechtfertigen ist; auch diese Abwägung läßt sich nicht generell vornehmen.
Die Rechtshängigkeit korrespondiert mit der direkten, die Aussetzung mit der präjudiziellen Rechtskraft. Die Grenzen von Rechtshängigkeit und direkter Rechtskraft werden mit Hilfe des vom Zweck der Institute her zu entwickelnden, prozessualen Streitgegenstandes, die Voraussetzungen von Aussetzung und Präjudizialität durch materiell-rechtliche Konstruktionszusammenhänge zwischen verschiedenen Rechtsfolgen bestimmt. Wie nahe sich Rechtshängigkeit und Aussetzung berühren, zeigt beispielsweise die frühere Praxis60 , bei Verzicht des Beklagten auf die sogenannte "Einrede" der Rechtshängigkeit - damals noch als beachtlich angesehen- den Prozeß dann eben von Amts wegen nach § 148 ZPO auszusetzen, obwohl die Voraussetzungen der Vorgreiflichkeit gar nicht erfüllt sind. Planck selbst61 hat diese Auslegung unter Hinweis auf die 60 Vgl. Seuffert-Walsmann, § 148 ZPO Anm. 1 b; Förster-Kann, § 148 ZPO Anm. 2 b; Vierhaus ZZP 5, 74 f.; Hellwig, Lehrbuch I, S. 180, u. a. 61 Lehrbuch I, §54, S. 275.
6 Mittenzwei
82 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft Motive der Aussetzungsbefugnis ausdrücklich befürwortet. Richtig war daran jedenfalls, daß Rechtshängigkeit und Aussetzung sich gegenseitig ergänzende, der Wiederherstellung des Rechtsfriedens dienende Institute sind. 4. Für den Tatbestand der Aussetzung nach § 148 ZPO läßt sich aus der bisherigen Untersuchung Folgendes ableiten: § 148 ZPO fordert als Voraussetzung der Aussetzung eine sich aus materiell-rechtlichen Konstruktionszusammenhängen ergebende, rechtslogische Abhängigkeit der Entscheidung von Vorfragen, an der sich die präjudizielle Rechtskraft ebenfalls orientiert. Zwar müssen logische Abhängigkeit der Entscheidung und Bindung des Richters an Vorfragen, die in einem anderen Verfahren bereits rechtskräftig beantwortet wurden, auseinander gehalten werden. Für die Frage der Aussetzung ist zunächst nur entscheidend, daß die Vorfrage in einem anderen Prozeß voraussichtlich verbindlich entschieden, nicht auch, daß der Richter durch diese Entscheidung gebunden wird; der Zweck der Aussetzung ist vom Prozeßziel, nicht von der Rechtskraft her zu bestimmen. Da sich die präjudizielle Rechtskraft aber ebenfalls an dem beschriebenen materiellrechtlichen Konstruktionszusammenhang orientiert und teleologisch vom Prozeßziel her bestimmt wird, verlaufen rechtslogische Abhängigkeit und Bindungswirkung - von noch zu erörternden Zwischenbereichen abgesehen - weitgehend parallel. Zudem fordert der Zweck des Prozesses, Aussetzung wie Rechtshängigkeit auf die Rechtskraft zu beziehen und eine etwa zu erwartende Bindungswirkung bei der Abwägung der Interessen vorrangig zu berücksichtigen.
Eine Aussetzung ist also möglich, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer konkreten Rechtsfolge abhängt, über die voraussichtlich in einem anderen Verfahren eine verbindliche Feststellung getroffen wird; ihre Zweckmäßigkeit folgt in erster Linie aus einer erwarteten Bindungswirkung. Wie bei der Rechtshängigkeit ist von Amts wegen zu prüfen, ob die Entscheidung des anderen anhängigen Verfahrens den Richter im Hinblick auf eine Vorfrage binden wird, und gegebenenfalls auszusetzen, es sei denn, daß widersprechende Entscheidungen aus anderen Gründen nicht zu befürchten sind. Rechtshängigkeit und Aussetzung ergänzen sich; überall, wo Rechtskraft zu erwarten ist, Rechtshängigkeit aber mangels Identität der Streitgegenstände nicht angenommen werden kann, ist Aussetzung möglich. Kann die Entscheidung des vorgreifliehen Prozesses eine präjudizielle Rechtskraftwirkung nicht ausüben, so wird das Gericht im Hinblick auf das Prozeßziel das öffentliche Interesse, widersprechende Entscheidungen über sachlich zusammenhängende Fragen zu vermeiden, sowie das
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Interesse an einer ökonomischen Rechtspflege mit dem Interesse des Klägers an einer raschen Durchführung des Verfahrens abwägen müssen62 • Dem Interesse der Rechtspflege an Arbeitsersparnis dient die Aussetzung nur sekundär, so daß es grundsätzlich hinter dem Beschleunigungsinteresse der Parteien, das nicht nur Privatinteresse ist, zurücktreten muß. Eine "Präjudizienwirkung" kennt unsere Rechtsordnung im Gegensatz zum römischen Recht nicht und die - lediglich mögliche - Verbesserung des Urteils wird grundsätzlich den durch die Aussetzung eintretenden Zeitverlust nicht aufwiegen können; die Parteien haben einen Anspruch darauf, daß ein von ihnen angestrengter Prozeß ohne Verzögerung seinem Ziel- dem rechtskräftigen Urteil- zugeführt wird63 • Will man den Tatbestand des§ 148 ZPO den bisher gewonnenen Einsichten anpassen, so müßte man ihn wie folgt neu formulieren: "Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen einer Rechtsfolge abhängt, über die voraussichtlich in einem anderen anhängigen Verfahren rechtskräftig entschieden wird, anordnen, daß die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei." Damit wird zugleich die vom Boden einer prozessualen Streitgegenstandstheorie unbrauchbare Korrelation zwischen Rechtsverhältnis und Gegenstand eines anderen anhängigen Verfahrens systematisch folgerichtig und zweckmäßig durch die Beziehung zur erwarteten Entscheidung ersetzt. § 7 Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung 1. Rechtshängigkeit und Aussetzung sind niemals nebeneinander möglich, sie schließen sich qua definitione gegenseitig aus1 ; während Rechtshängigkeit wie direkte Rechtskraftwirkung Identität des Streitgegenstandes voraussetzen, ist Aussetzung wie Präjudizialität nur im Rahmen rechtslogischer Konstruktionszusammenhänge möglich. Der Grund für die unterschiedliche Anknüpfung liegt in der Janusköpfigkeit des gerichtlichen Urteils als eines autoritativen Akts der Zu- bzw. Aberkennung eines Begehrens und als des konkretisierenden Vollzugs abstrakten, materiellen Rechts (Feststellung bzw. Gestaltung konkreter, historischer Rechtsbeziehungen zwischen Personen). 62 Zur prinzipiellen Übertragbarkeit der Gedanken der Interessenjurisprudenz in das Prozeßrecht vgl. Stein-Jonas-Pohte, 19. Aufl., Einleitung M II. 63 Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., § 148 ZPO Anm. I 3 c. 1 Schon RGZ 3, 401 (403); 26, 367 ff. (369/70); OLG Köln NJW 1958, 106 f.; Bette'rmann, Rechtshängigkeit, S. 10.
84 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft Hat der Kläger sein Begehren vor einem Gericht zur Entscheidung gestellt und macht er es vor einem anderen Gericht ein zweites Mal anhängig, so verweigert dieses staatliche Organ ohne Rücksicht darauf, ob im ersten Prozeß über das Begehren bereits entschieden wurde oder nicht, eine sachliche Beurteilung und weist die Klage als unzulässig ab. Wie die Rechtskraft dient die Rechtshängigkeit damit öffentlichen und privaten Interessen; sie verhindert widersprechende Entscheidungen verschiedener Gerichte, spart Zeit, Kosten und Arbeitskraft und schützt den Beklagten vor der Mühsal doppelter Prozeßführung. Liegt Identität der Streitgegenstände nicht vor, begehren die Parteien im ersten und zweiten Prozeß nicht das Gleiche, so ist die Voraussetzung anderweitiger Anhängigkeit nicht erfüllt, wohl aber kann das Urteil des ersten Richters Rechtskraft für das Urteil des zweiten Richters entfalten. Da Rechtshängigkeit und Aussetzung alternativ die zu erwartende Rechtskraft eines Urteils schützen, erscheint es folgerichtig, hier den zweiten Prozeß zu sistieren, und zwar selbst dann, wenn man von Präjudizialität im eigentlichen Sinne nicht sprechen kann. Erhebt etwa A gegen B eine Eigentumsfeststellungsklage und antwortet B mit der gleichen Klage vor einem anderen Gericht, so sind die Streitgegenstände in beiden Prozessen verschieden und die "Einrede" der Rechtshängigkeit greift nicht durch. Wohl aber würde eine rechtskräftige Feststellung des Eigentums zugunsten von A im ersten Prozeß den Richter des zweiten Prozesses binden: auch für ihn stünde rechtskräftig fest, daß im Verhältnis A zu B der Eigentümer A heißt2 • Die Gefahr kollidierender Entscheidungen läßt sich nicht auf dem Wege einer an der Rechtskraft orientierten Ausdehnung der Rechtshängigkeit bannen3, weil eine solche Lösung den B ungerechtfertigt benachteiligen würde. Seine Klage würde wegen Rechtshängigkeit abgewiesen, obwohl ein Sieg im ersten Prozeß nur die Feststellung nach sich zöge, daß A kein Eigentum an der Sache habe, nicht aber zugleich, daß B Eigentümer sei; B müßte also seine Feststellungsklage erneut anhängig machen. Interessengerecht ist in diesem Falle allein eine Aussetzung des zweiten (späteren) Prozesses4 • Wir werden im nächsten Abschnitt auf das Problem des "kontradiktorischen Gegenteils", das sich nicht in einer Verneinung des (positiven) Begehrens erschöpft, sondern rechtslogischen Zusammenhängen des materiellen Rechts folgt, noch einmal zurückkommen. Lehrbuch I, S. 180. So aber Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 23, 28. 4 Infrage käme natürlich auch eine Prozeßverbindung, sofern die Voraussetzungen des § 147 ZPO erfüllt sind. Dagegen ist der B nicht von vornherein auf den Weg der Widerklage verwiesen; anders im Scheidungsprozeß, § 616 ZPO; dazu unten § 8 Ziff. 1. 2
3
Hellwig,
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2. Prozeßdynamik und Zweck der Rechtshängigkeit, nämlich Konzentration des gesamten Rechtsstreits der Parteien in einem Prozeß, gebieten es, ihre objektiven Grenzen allein nach dem durch Antrag und Sachverhalt gekennzeichneten, klägerischenBegehren zu bestimmen und eine weitere Individualisierung auf einzelne materielle Ansprüche hin - im Unterschied zur Rechtskraft5 - überhaupt abzulehnen. Macht der Kläger Schadensersatz geltend und trägt er zur Begründung einen Sachverhalt vor, der einen Anspruch aus § 823 BGB rechtfertigen könnte, so ist ein Bestreiten des Beklagten unerheblich, wenn er gleichzeitig das Ereignis so schildert, daß sich zwar nicht dieser Anspruch, wohl aber ein Anspruch aus § 904 I 2 BGB ergibt; sofern letzterer zum gleichen Ziel führt, wird er vom klägerischenBegehren umfaßt und der Beklagte ohne Beweiserhebung sofort verurteilt6 • Nicht anders liegt es, wenn der Kläger zur Begründung seines Begehrens einen Sachverhalt vorträgt, aus dem sich nicht nur - wie der Kläger meint - Ansprüche aus abgetretenem Recht, sondern auch aus eigenem Recht ergeben7 • Sein Begehren umfaßt beide Klagegründe und das Gericht kann aus den vorgetragenen Tatsachen rechtliche Schlußfolgerungen ziehen, die keine Partei bislang gesehen hat8 • Ob der Kläger sich auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt ausdrücklich berufen oder ob er die zugrunde liegenden Tatsachen für nebensächlich und eigentlich nur der Vollständigkeit halber vorgetragen hat, ist gleichgültig9 • Daraus folgt umgekehrt, daß der Kläger kraft seiner Dispositionsbefugnis zwar berechtigt sein mag, Recht und Pflicht des Gerichts zur selbständigen Prüfung des Prozeßstoffes auf bestimmte Ansprüche aus abgetretenem Recht zu beschränken (ne eat iudex ultra petita partium, § 308 ZP0) 9a, daß er aber die sich aus dem gleichen Lebenssachverhalt ergebenden, a.uf das gleiche Ziel gerichteten, eigenen Ansprüche nicht zusätzlich bei einem anderen Gericht anhängig machen kann. Auf die öffentlich-rechtliche Aufgabenstellung der Rechtshängigkeit hat er keinen Einfluß10• 5 Siehe oben § 5 Ziff. 1. ' Lent-Jauernig, Lehrbuch, 14. Aufl., § 25 VI 4.
7 Ebenso BGHZ 9, 22 (26 f.) für Herausgabeklage aus § 985 BGB und Räumungsklage nach Mieterschutzgesetz. 8 Anders RGZ 151, 93 (97/98). 9 Bernhardt, Festschr. für Rosenberg, S. 18/19. 9 a Ebenso im Eheprozeß: der Kläger beschränkt die Klage auf Scheidungsgründe, obwohl der Fortbestand der Ehe schlechthin rechtshängig ist; vgl. Arens ZZP 76, 423 (435 ff.); Gilles ZZP 80, 391 (410 f.). 10 Übersieht das Gericht die Ansprüche des Klägers aus eigenem Recht, so muß dieser Berufung einlegen, weil er sie andernfalls mit Rechtskraft des Urteils verliert. Nur wenn der Kläger die den Ansprüchen aus eigenem Recht zugrunde liegenden Tatsachen vom übrigen Sachverhalt abtrennen kann, was er kraft seiner Dispositionsbefugnis über den Prozeßstoff tun darf, bleiben diese Ansprüche von der Rechtskraft verschont, weil sie ein eigenes rechtliches Verfügungsobjekt bilden.
86 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Ist das Begehren des Klägers unter verschiedenen materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, das angerufene Gericht aber nur für einen oder den anderen infrage kommenden Gesichtspunkt sachlich zuständig, so hat dies für den Umfang der Rechtshängigkeit ebenfalls keine Folgen. Nehmen wir das bekannte Beispiel, daß ein bei einem Straßenbahnunfall verletzter Fahrgast seinen auf Vertrag, Haftpflicht und unerlaubte Handlung gegründeten Schadensersatzanspruch11 , oder der Eigentümer seinen Ersatzanspruch aus Eigentum und unerlaubter Handlung im Gerichtsstand der unerlaubten Handlung einklagt (§ 32 ZP0) 12• Oder setzen wir den Fall, daß der Klageanspruch aus Vertrag, hilfsweise - sofem der Vertrag nach Ansicht des Gerichts nicht zustande gekommen seiaus ungerechtfertigter Bereicherung im Gerichtsstand des Erfüllungsortes erhoben wird13• Kann das Gericht im ersten Beispiel weder die materiell-rechtlichen Gesichtspunkte des Vertrages, der Haftpflicht noch des Eigentums berücksichtigen, so fehlt ihm im zweiten Beispiel die Kompetenz für den Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung14• Wird die Klage abgewiesen, so begrenzt die Sachkompetenz des Gerichts den Umfang der direkten Rechtskraftwirkung15• Ein später angerufenes Gericht begnügt sich nicht mit der Prüfung, ob das nämliche Begehren aus dem nämlichen Sachverhalt hergeleitet wird, sondem berücksichtigt zusätzlich die vom Gesetzgeber auf einzelne materiell-rechtliche Ansprüche beschränkte Zuständigkeit des ersten Richters. Das Reichsgericht16 und ihm folgend Rosenberg11 zogen aus der geringeren Rechtskraftwirkung die Konsequenz, daß bei gleichzeitiger Geltendmachung desselben Begehrens bei verschiedenen Gerichten unter jeweiligem Vortrag derjenigen rechtlichen Gesichtspunkte, für die das angerufene Gericht zuständig sei, trotz Identität des Begehrens der Einwand der Rechtshängigkeit nicht durchgreife. Sie empfahlen stattdessen, den später anhängig geworden Prozeß bis zur rechtskräftigen Entscheidung des ersten Verfahrens nach § 148 ZPO - bei "nicht zu wörtlicher Auslegung" -von Amts wegen auszusetzen. Werde der zuerst erhobene Anspruch zugesprochen, so sei die zweite Klage gegenstandslos und gegebenenfalls abzuweisen; werde dagegen der erste Anspruch aberkannt, so müsse das zweite Gericht über das Begehren unter den restlichen materiell-rechtlichen Gesichtspunkten entscheiden. u z. B. RGZ 66, 12 (15). 12 OLG Freiburg JZ 1953, 473 (474). ts z. B. RG SeuffA 70 (1915), Nr. 227. u Vgl. femer RGZ 27,385 ff.; 73, 163 ff.; BAG NJW 1959, 260 f. (zum Rechtsweg). 1s Vgl. oben S. 53. ts RGZ 27, 385 (389/390). 17 Lehrbuch, § 33 II 2.
§ 7 Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung
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Es verdient zunächst festgehalten zu werden, daß die Aussetzung hier ganz im Sinne des einleitend beschriebenen Verhältnisses zur Rechtshängigkeit gehandhabt wird; denn daß der Tatbestand des § 148 ZPO nicht paßt, weil bei Rechtsfolgen, die aus verschiedenen materiell-rechtlichen Tatbeständen hergeleitet werden können, die geforderte Vorgreiflichkeit des einen Anspruchs für den anderen fehlt, ist evident. Gleichwohl kann im Ergebnis nicht zugestimmt werden. Das Begehren des Klägers, gegründet auf einen bestimmten Lebenssachverhalt, umfaßt alle in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkte. Daß der Kläger den Sachverhalt auf einzelne rechtliche Gesichtspunkte "zurechtstutzt", dürfte in den genannten Fällen kaum denkbar sein18• Macht er deshalb, nachdem er im Gerichtsstand der unerlaubten Handlung Klage erhoben hat, eine weitere Klage aus anderen Rechtsgründen bei einem zweiten, allzuständigen Gericht anhängig, so umfaßt dieses Begehren wiederum den Rechtsgrund "unerlaubte Handiung". Man müßte also zumindest eine "Teilrechtshängigkeit" annehmen, weil das Teilbegehren im Gesamtbegehren enthalten ist, nicht anders als der Teilanspruch im Gesamtanspruch19 ; die Möglichkeit einer Teilabweisung bestünde allerdings nicht. Die Dispositionsbefugnis des Klägers über den Streitgegenstand vermag nur den Umfang der richterlichen Prüfungs- und Entscheidungstätigkeit zu begrenzen, für die Rechtshängigkeit ist sie wegen deren öffentlich-rechtlicher Funktionen belanglos20. Die prozessuale Aufgabe der Rechtshängigkeit besteht in der Verhinderung doppelter Prozesse über den gleichen Streitgegenstand, einmal, um widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, zum anderen, um der Rechtspflege doppelte Arbeit und dem Beklagten zusätzliche Mühe zu ersparen. Sind widersprüchliche Entscheidungen im engeren Sinne, d. h. Urteilskollisionen, auch weniger zu befürchten, weil unabhängig vom Erfolg der ersten Klage die zweite begründet oder unbegründet sein kann21 , so ist es doch möglich, daß beide Gerichte der ts Jauernig, Verhandlungsmaxime, S. 17. Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 15. 20 Ebenso Rosenberg, Lehrbuch, § 88 II 3 b; Habscheid, Streitgegenstand, S. 55; grundsätzlich anderer Ansicht Bettermann MDR 1954, 196 (198 unter 19
III.).
21 Das gilt nicht für alternativ sich gegenüberstehende Anspruchsgrundlagen wie Vertrag und ungerechtfertigte Bereicherung: Geben beide Gerichte aus der jeweils anderen Anspruchsgrundlage statt, so scheinen sich die Urteile vorderhand nur in den Gründen, nicht aber in den Wirkungen zu widersprechen. Da aber das erste Gericht nur für Vertragsansprüche zuständig war, es also wesentlich darauf ankam, ob ein Vertragsanspruch bestand, erwächst die Qualifizierung nach den oben genannten Grundsätzen (S. 60 f.) in Rechtskraft. Beide Urteile entfalten daher unter Umständen unterschiedliche präzudizielle Wirkung. Weist der erste Richter dagegen den
88 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft Klage stattgeben und der Kläger auf diese Weise in den Besitz zweier Titel für ein und dasselbe Begehren gelangt, was den Beklagten gefährdet und zu Komplikationen führen kann. Darüber hinaus müssen zwei Organe der Rechtspflege den gleichen Sachverhalt erforschen und der doppelt in Anspruch genommene Beklagte unter Umständen zweimal die Kosten tragen. Der Gesetzgeber hat neuerdings in den §§ 66 II FGO, 90 II VwGO ausdrücklich anerkanne' a, daß der Rechtsweg zu den verschiedenen Gerichten - und natürlich erst recht die sachliche Zuständigkeit- den Einwand der Rechtshängigkeit nicht ausschließen22 • Dem Argument, die Aussetzung diene den gleichen Zwecken und verhindere ebenso gut die genannten Nachteile, ist entgegenzuhalten, daß Rechtshängigkeit und Aussetzung formal durch die Identität der Begehren abgegrenzt werden und der Aussetzung eine Auffangfunktion nur bei Verschiedenheit der Begehren zukommt. Abgesehen davon ist nicht zu erkennen, welche Zweckmäßigkeitserwägung es rechtfertigen könnte, dem Kläger zu gestatten, dieselbe Streitsache doppelt anhängig zu machen. Nimmt er den Vorteil einer der besonderen Gerichtsstände wahr, so kann er ohne Nachteil für seine anderen Ansprüche bis zur Entscheidung warten23 ; die Verjährung ist durch die Anhängigkeit des Begehrens bei einem - wenn auch sachlich nur zum Teil kompetenten - Gericht unterbrochen (§ 209 BGB)24• Schwieriger ist die Prozeßlage zu beurteilen, wenn es dem Kläger gelingt, den Sachverhalt so zu beschneiden, daß der Richter das Begehren nur unter dem einen oder dem anderen rechtlichen Gesichtspunkt prüfen kann. Hier wird man unterscheiden müssen, ob der nicht vorgetragene Tatsachenkomplex einen rechtlich selbständigen Verpflichtungsgrund enthält oder nur eine andere rechtliche Einordnung des Begehrens ermöglichen würde. Obwohl es sich beispielsweise bei der Hauptsache einer (bis ins Nachverfahren gediehenen) Wechselklage und einer nebenAnspruch wegen (angeblicher) Nichtigkeit des Vertrages ab, und spricht der zweite Richter den Anspruch aus Vertrag zu, so ist eine Urteilskollision kaum denkbar, weil die festgestellte Nichtigkeit des Vertrages selbst nicht in Rechtskraft erwächst und auch der (angebliche) Vertragsanspruch regelmäßig ohne weiteres durch den Bereicherungsanspruch substituiert werden kann. 21 a Vgl. dazu Görg-MüUer, § 66 FGO Rdnr. 334; Birkholz-Ziemer, § 66 FGO Rdnr. 6 (unrichtig aber die Behauptung, die Rechtshängigkeit habe die gleichen Grenzen wie die formelle[!] Rechtskraft, Rdnr. 12). 22 Da der Rechtsweg nach den behaupteten materiellen Rechtsfolgen bestimmt wird, folgt daraus umgekehrt, daß nach Ansicht des Gesetzgebers der Verwaltungsgerichtsordnung und der Finanzgerichtsordnung materielle Anspruchsgrundlagen das Begehren im Hinblick auf die Rechtshängigkeit nicht zu individualisieren vermögen. 23 Im Ergebnis ebenso Habscheid, Streitgegenstand, S. 278, nach dessen Ansicht aber das Rechtsschutzinteresse an einer zweiten Klage fehlt. 24 Vgl. Redeker-v. Oertzen, 3. Aufl., § 90 VwGO Rdnr. 8.
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her laufenden, allgemeinen Zahlungsklage um ein - wirtschaftlich betrachtet- einheitliches Begehren handelt (der Kläger kann nur die eine oder die andere eingeklagte Summe beanspruchen) wird man der Ansicht, Rechtshängigkeit liege nicht vor25 , ausnahmsweise zustimmen können, weil das Begehren erstens durch Teilung des Sachverhalts in zwei selbständige Begehren aufgespalten werden kann26 und weil zweitens die Teile als Verfügungsobjekte auch materiell-rechtlich eigene Wege gehen. Die mit dem Recht und der Pflicht des Gerichts zur abschließenden rechtlichen Beurteilung des Prozeßstoffs kollidierende Dispositionsbefugnis des Klägers wiegt hier die durch Rechtskraft und Rechtshängigkeit geschützten öffentlichen Interessen auf, weil es nicht allein um die möglichst in einem Prozeß zu erledigende, rechtliche Beurteilung eines Begehrens unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten und die damit korrespondierende Pflicht des Klägers zur vollständigen Darstellung des Sachverhalts geht, sondern auch um die Verfügungsfreiheit des Klägers über selbständige Vermögensobjekte 27 • Andererseits darf man dann der zweiten Klage nicht generell das Rechtsschutzinteresse absprechen28 ; der Kausalforderung kann unter Umständen Verjährung drohen, ohne daß der Kläger immer die Möglichkeit hat, sie nachträglich in den ersten Prozeß mit einzubeziehen. Vielmehr wird man bis zur Klärung der Frage, ob eine Kausalforderung besteht, den Wechselprozeß aussetzen dürfen, weil für den Fall des Nichtbesteheus der Kausalforderung der Beklagte über §§ 812, 821 BGB29 auch die Bezahlung der Wechselforderung verweigern kann30• Der Rechtshängigkeitseinwand würde dagegen wiederum durchgreifen, wenn ein Kläger die Herausgabe von Wohn- oder Geschäftsräumen zunächst unter Leugnung eines gültigen Mietvertrages auf25 Rosenberg, Lehrbuch, § 98 li 3; Henckel, Parteilehre, S. 289; Schneider MDR 1968, 291. 26 Damit wird doppelte Behandlung des gleichen Sachverhalts vor verschiedenen Gerichten weitgehend vermieden. 27 a. A. Schwab, Streitgegenstand, S. 126/127, der für Wechsel- und Kausalforderung einen einheitlichen Streitgegenstand annimmt, was aber nur richtig ist, wenn beide Forderungen in einem Prozeß kumulativ geltend gemacht werden. 2 ~ So aber Habscheid, Streitgegenstand, S. 277. 29 Soergel-Mü.hl, 10. Aufl., § 812 BGB Rdnr. 6; Baumbach-Hefermehl, 7. Aufl., Art. 17 WG Rdnr. 45; Teplitzky NJW 1962, 724 mit weiteren Nachweisen. 30 Ob umgekehrt auch der Prozeß über die Kausalforderung ausgesetzt werden darf, wie Henckel, Parteilehre, S. 289, meint, ist zweifelhaft; die Wechselforderung ist für die Kausalforderung nicht vorgreiflieh und Urteilskollisionen sind nur insoweit denkbar, als die Wechselforderung zu- und die Kausalforderung abgesprochen wird; hier müßte der Beklagte aber mit einem Bereicherungsanspruch entgegentreten können. Das Für und Wider einer solchen, nur auf den Zweck gestützten Aussetzung wird jedenfalls sorgfältig abzuwägen sein.
90 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
grund seines Eigentums nach § 985 BGB begehrte, dann aber in einem zweiten Prozeß unter Behauptung von Belästigungen und Eigenbedarf (§§ 2, 4 Mieterschutzgesetz) auf Aufhebung des Mietverhältnisses und Räumung nach dem Mieterschutzgesetz antragen würde31 • Der Kläger würde in beiden Prozessen das gleiche Klageziel verfolgen, nämlich die Herausgabe der Räume, und sein Begehren lediglich auf verschiedene Rechtsgrundlagen stützen, die materiell-rechtlich keine selbständige Bedeutung haben, sondern bloße, alternativ bestehende, rechtliche Gesichtspunkte sind32• Daß im zweiten Verfahren zusätzlich die Aufhebung des Mietverhältnisses beantragt wird, ist unerheblich, weil die Aufhebung nur eine unumgängliche Voraussetzung der Räumung ist, auf die es dem Kläger allein ankommt33• Es ist zwar denkbar, daß der Kläger nach einer erfolglosen Klage aus § 985 BGB ungehindert durch die Rechtskraft eine zweite Klage auf Räumung nach den Vorschriften des Mieterschutzgesetzes anstrengt, einmal, weil für die Aufhebungs- und Räumungsklage das Amtsgericht ausschließlich zuständig ist (§ 7 Mieterschutzgesetz) und damit die Kompetenz des ersten Gerichts beschränkt gewesen sein kann, zum anderen, weil er insofern neu entstandene Tatsachen vorträgt und das zweite Gericht auf dem Urteil des ersten aufbaut. Gleichwohl kann er die Prozesse nebeneinander nicht führen, weil beide Gerichte (im Rahmen ihrer Sachkompetenz) das Begehren unter allen in Betracht kommenden, rechtlichen Gesichtspunkten prüfen müssen, und folglich sich zumindest das zweite ebenfalls mit der Wirksamkeit des Mietvertrages befassen muß. Die naheliegende Lösung, den zweiten Prozeß bis zur Erledigung des ersten auszusetzen34, ist deshalb aus prinzipiellen Erwägungen abzulehnen: der gesamte Streit der Parteien ist in einem Prozeß vor ein und demselben Gericht auszutragen. Zu weit würde es allerdings wiederum gehen, wenn man unter dem Konzentrationsgedanken auch bei nebeneinander betriebenen Teilklagen Rechtshängigkeit annähme35• Gestattet man dem Kläger, ihm zustehende Ansprüche quantitativ aufzuspalten und in Teilen geltend zu machen, weil man sein Interesse an einer solchen Verfahrensweise bereitwillig anerkennt, so mutet man auf der anderen Seite dem Beklagten von vornherein eine doppelte Prozeßbelastung zu. Der Kläger ist selbst bei Abweisung seiner Teilklage nicht gehindert, den Rest auf der gleichen Rechtsgrundlage erneut geltend zu machen. Das Mieterschutzgesetz gilt zur Zeit nur noch in West-Berlin. BGHZ 8, 47 (50); 9, 22 (26 f.); Rosenberg JZ 1953, 116. 33 a. A. Lauterbach NJW 1953, 170; Bettermann MDR 1954, 196, die für den zweiten Prozeß wegen der notwendigen Gestaltung ein anderes Begehren des Klägers behaupten. 34 So für seine Auffassung folgerichtig - Lauterbach NJW 1953, 170. 35 Blomeyer, Lehrbuch, § 49 III 2. 31
32
§ 7 Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung
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Nun kann man zwar von dem, was man dem Kläger nacheinander zu tun gestattet, nicht auf das schließen, was er nebeneinander tun darf: die Grenzen der Rechtshängigkeit entsprechen nicht den Grenzen der Rechtskraft. Beide dienen gemeinsam dem Ziel, den gesamten Streitstoff der Parteien in einem Prozeß zu erledigen. Aber während die Hechtskraftwirkung nicht weiter reichen kann als die Kompetenz des Gerichts zur rechtlichen Beurteilung des Prozeßstoffs, kümmert sich die Rechtshängigkeit um solche Grenzen nicht. Grundsätzlich ist der Kläger gezwungen, die ganze Streitsache zur Entscheidung zu stellen, es sei denn, es handelt sich um selbständige Rechtsbeziehungen der Parteien, die sich auch auf der Tatsachenebene vom übrigen Prozeßstoff abtrennen lassen. Teilklagen unterscheiden sich von den bisher erörterten Fällen dadurch, daß sie wirtschaftlich unterscheidbare Begehren enthalten, die allerdings aus einem einzigen Klagegrund entstammen. Eigentlich führt der Begriff "Teilklage" in die Irre, denn er suggeriert - jedenfalls bei einer prozessualen Auffassung des Streitgegenstandsbegriffs - die Vorstellung von einem "Gesamtbegehren", von dem ein Teil eingeklagt sei. In Wirklichkeit gibt es jedoch ein solches "Gesamtbegehren" gar nicht, vielmehr wird in jedem gerichtlichen Verfahren das Begehren des Klägers ad hoc durch Antrag und vorgetragenen Sachverhalt individualisiert. Trägt der Kläger in einem zweiten Prozeß einen neuen Sachverhalt vor und stellt er Anträge, die auf ein anderes wirtschaftliches Ziel gerichtet sind, so handelt es sich um ein neues selbständiges Begehren, selbst wenn das Gericht teilweise die gleichen rechtlichen Überlegungen anstellen muß wie der erste Richter. Lediglich materiell-rechtlich betrachtet, handelt es sich um zwei Teile des gleichen Anspruchs. Baut man auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen weiter, so kommt also nicht eine Abweisung der "Restklage" wegen Rechtshängigkeit, sondern allenfalls eine Aussetzung in Betracht. Da aber weder die im ersten Prozeß zu erwartende Entscheidung für die Entscheidung des zweiten Rechtsstreits vorgreiflieh ist, noch mit präjudizieller Hechtskraftwirkung zu rechnen ist, scheidet auch eine Aussetzung des zweiten Verfahrens aus38• Man wird den Kläger jedoch auf den einfacheren Weg der Klageerweiterung gemäß § 268 Ziffer 2 ZPO verweisen können. 3. Die subjektiven Grenzen der Rechtshängigkeit werden durch die Parteien des Prozesses bestimmt. Entscheidend ist nicht der materielle, sondern der formelle Parteibegriff, d.h. wer welches Begehren gegen wen geltend macht37• 38 OLG Köln NJW 1958, 106 (107). Anders natürlich, wenn der Kläger eine Zwischenfeststellungsklage oder der Beklagte eine (negative) Feststellungswiderklage erhoben hat. 37 Hellwig, Anspruch und Klagrecht, S. 178; Lent, Gesetzeskonkurrenz, Bd. II, S. 136 ff.; a. A. Henckel, Parteilehre, S. 140.
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Auch auf der subjektiven Seite decken sich die Grenzen der Rechtshängigkeit nicht mit den Grenzen der Rechtskraft38. Die Rechtskraft greift aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung in einer Reihe von Fällen über die Parteien des Prozesses hinaus und erfaßt andere am Verfahren nicht beteiligte Personen. Hier korrespondiert vor Abschluß des Verfahrens auf der prozessualen Ebene mit der Rechtskraft die Einrichtung der notwendigen Streitgenossenschaft (§ 62 ZPO). "Rechtskrafterstreckung bei einem Nacheinander der Prozesse führt zur notwendigen Streitgenossenschaft bei einem Nebeneinander der Prozesse39." Von der subjektiven Seite des Streitgegenstandes aus gesehen, schirmen demnach die zu erwartende Rechtskraftwirkung Rechtshängigkeit, notwendige Streitgenossenschaft und Aussetzung ab. Nur wenn -weder Rechtshängigkeit noch eine notwendige Streitgenossenschaft vorliegt, kommt als letzte Möglichkeit der Koordinierung von Parallelprozessen die Aussetzung in Betracht. Da die Erstreckung der Rechtskraft auf dritte Personen wie die präjudizielle Rechtskraft den Zusammenhängen des materiellen Rechts folgt, wecken vor allem die strittigen Grenzfälle der notwendigen Streitgenossenschaft Interesse. § 62 ZPO regelt zwei verschiedene Arten der Streitgenossenschaft: Bei der einen, die in der Lehre vielfach als die "notwendige Streitgenossenschaft im engeren Sinne" bezeichnet wird, gebietet das materielle Recht, daß mehrere Personen gemeinsam einen Anspruch geltend machen oder daß ein Recht nur gegenüber mehreren Personen gemeinsam ausgeübt werden darf. In diesen Fällen scheitert eine Klage eines einzelnen Berechtigten oder gegen einzelne Verpflichtete an der fehlenden, sachlichen Legitimation der Parteien; alle sachlich Berechtigten müssen notwendig zusammen klagen oder verklagt werden. Beispiele sind die Aktivprozesse von Gesamthandsgemeinschaften, ferner etwa die in den§§ 1066 II, 1258 II, 1450 BGB geregelten Fälle. Bei der zweiten Art der notwendigen Streitgenossenschaft kann die Hauptsache zwar von den einzelnen Streitgenossen oder gegen einzelne Streitgenossen eingeklagt werden, sobald aber mehrere Streitgenossen nebeneinander prozessieren, erfordert die vom Gesetz in diesen Fällen besonders angeordnete Rechtskrafterstreckung von dem einen Streitgenossen auf den anderen wegen der möglichen Urteilskollisionen eine 38 Hellwig, Lehrbuch I, S. 180 f.; a. A. Lent-Jauernig, Lehrbuch, 14. Aufl.., § 40 II 2; Stein-Jonas-Schumann-Leipold, 19. Aufl., § 263 ZPO Anm. III 3. 39 Rosenberg, Lehrbuch, § 95 li 1 a; Blomeyer, Lehrbuch, § 109 III 2 a; Bernhardt, Lehrbuch, § 56 li 1 a ; BGHZ 30, 195 (199).
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einheitliche Entscheidung. Nebeneinander geführte Prozesse werden mit dem Einwand der besonderen Streitgenossenschaft unterbunden40. Nun kennt das Bürgerliche Gesetzbuch eine Reihe von Fällen, in denen verschiedene Personen berechtigt sind, die gleiche Sache geltend zu machen, ohne daß gleichzeitig vom Gesetz - als eigentlich notwendige Ergänzung - eine Erstreckung der Rechtskraft angeordnet wird, um eine wiederholte Inanspruchnahme des Verpflichteten zu verhindern (z. B. §§ 432, 1011, 1422, 2039 BGB)• 1 • Die Annahme einer Streitgenossenschaft scheidet hier aus: weder mangelt es den Klägern an der Prozeßführungsbefugnis, noch muß die Entscheidung aus prozessualen, d. h. aus Rechtskraftgründen einheitlich ergehen. Verschiedentlich wurde versucht, eine notwendige Streitgenossenschaft mit dem Argument zu begründen, der Streitgegenstand sei bei den Klagen verschiedener Bruchteilseigentümer oder Miterben der gleiche und erfordere aus diesem Grunde eine einheitliche Entscheidung42. Aber selbst vom Standpunkt jener, die das vom Kläger behauptete materielle Recht als Streitgegenstand betrachten, muß man die Stichhaltigkeit der Argumentation bezweifeln, nicht nur, weil den einzelnen Berechtigten vom Gesetz selbständige Sonderrechte eingeräumt sind43, sondern auch, weil die Identität des behaupteten materiellen Rechts durchaus nicht immer eine notwendige Streitgenossenschaft begründet. Verklagt etwa ein Erbprätendent zwei Personen auf Feststellung seines Erbrechts, so liegt unstreitig - trotz Identität des objektiven (materiell-rechtlichen) Streitgegenstandes - eine notwendige Streitgenossenschaft nicht vor44 • Nur wenn man genau zwischen den Sonderrechten der Gesamtbänder und dem Gesamtbandsanspruch selbst unterscheidet, den alle nur zusammen geltend machen können, läßt sich für den Fall, daß alle zusammen klagen, eine notwendige Streitgenossenschaft im engeren Sinne befürworten; man kann annehmen, daß die 40 Anders Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 11, der Rechtshängigkeit annimmt, obwohl § 263 II Ziff. 1 ZPO die Rechtshängigkeit eindeutig auf die Parteien beschränkt; anders auch Hellwig, System, § 128 IV 3 b, der § 263 II Ziff. 1 ZPO analog anwenden will. ~ 1 Der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches hat die sich daraus ergebende Härte für den Verpflichteten gesehen, aber geglaubt, nur bei einer Revision der Prozeßordnung könne das Problem noch einmal erwogen werden, Motive zum BGB, Bd. III, S. 446. Die gemeinrechtliche Prozeßrechtsdoktrin nahm eine Rechtskrafterstreckung an; Savigny, System, Bd. 6, S. 479 ff. 42 z. B. RGZ 60, 269 (270); 119, 163 (169); zustimmend: Rosenberg, Lehrbuch, § 95 II 1 c; Blomeyer, Lehrbuch, § 109 III 2 b; AcP 159, 385 ff.; a. A. LentJauernig, Lehrbuch, § 82 III. 43 Der Gesetzgeber sah die in den §§ 432, 1011, 2039 BGB gewährten Klagerechte als "Individualrechte" an; Motive, Bd. II, S.172; Protokolle, Bd. V,
s. 862, 44
863.
Lent JhJb 90, 27 (45).
94 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Gesamtbänder dann nicht ihre Individualrechte, sondern ihren gemeinsamen Anspruch einklagen, für den sie nur zusammen prozeßführungsbefugt sind45 • Die Konkurrenz von Prozessen verschiedener Mieteigentümer oder Miterben, die getrennt voneinander die gleiche Leistung geltend machen, kann also weder mit Hilfe des Einwandes der Streitgenossenschaft noch der Rechtshängigkeit verhindert werden; denn auch prozessual betrachtet, machen sie verschiedene Begehren geltend, die lediglich materiellrechtlich eng zusammenhängen. Läßt man andererseits die Prozesse nebeneinander zu, so kommt es wegen der fehlenden Rechtskrafterstreckung zwar zu keinen Urteilskollisionen, wohl aber wirken widersprechende Entscheidungen hier besonders störend. Es leuchtet keinem rechtlich denkenden Menschen ein, daß etwa einer der Miterben für alle beanspruchen kann, was einem anderen Miterben soeben versagt wurde. Das öffentliche Interesse an der Vermeidung solcher Auswüchse und dem Rechtsfrieden abträglicher Ergebnisse wiegt das Interesse der einzelnen Gesamtbänder an einer raschen, selbständigen Durchsetzung ihrer Individualrechte bei weitem auf, zumal jeder von ihnen Leistung an alle begehrt und eine erfolgreiche Klage zugunsten aller wirkt48 • Obendrein würde der Beklagte nicht nur doppelt in Anspruch genommen - das mutet ihm das Gesetz (ungerechterweise) zu - , sondern auch noch der Gefahr ausgesetzt, zweimal unter Kostenbelastung verurteilt zu werden. Es ist deshalb hier angebracht, das Verfahren nach § 148 ZPO auszusetzen und das Urteil des zuerst befaßten Gerichts abzuwarten, um die Einheitlichkeit der Beurteilung zu wahren. Hat die Klage des Mitberechtigten Erfolg, so wird die zweite Klage, falls sie nicht zurückgenommen wird, kostenpflichtig abgewiesen. Obsiegt dagegen der Beklagte, so muß zwar über die zweite Klage weiter verhandelt werden, immerhin besteht die Möglichkeit, die Ergebnisse des ersten Prozesses zu berücksichtigen. Nicht anders ist in allen jenen Fällen zu verfahren, in denen wegen eingleisiger Bindungswirkung oder Unsicherheit über den Eintritt der Rechtskrafterstreckung die Annahme einer notwendigen Streitgenossenschaft ausscheidet, weil die Entscheidung gegenüber allen Streitgenossen nicht notwendig einheitlich ergehen muß. 45 So Henckel, Parteilehre, S. 213; ebenso Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., § 62 ZPO Anm. II 1 c. Allerdings verhindert diese notwendige Streitgenossenschaft im engeren Sinne keine Verfahrenskonkurrenz. 46 Henckel, Parteilehre, S. 214, bejaht eine einseitige Rechtskrafterstreckung analog § 326 ZPO; ebenso Baur, FamRZ 1962, 510; Grunsky ZZP 76 (1963), 49 (53). Soweit Renekel daraus allerdings eine besondere Streitgenossenschaft ableitet, ist das unrichtig, weil eine einheitliche Feststellung nicht notwendig getroffen werden muß.
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Begehrt der frühere Eigentümer E eines Grundstücks, den A zur Bewilligung der Grundbuchberichtigung (§ 894 BGB) zu verurteilen, weil er ihm das Grundstück angeblich rechtsunwirksam veräußert habe, und strengt er später einen zweiten Prozeß gegen B an, der das Grundstück von A zwar vor Eintritt der Rechtshängigkeit des ersten Prozesses gekauft, aber das Eigentum gemäß §§ 873, 925 BGB erst nach Rechtshängigkeit erworben hat, so steht der selbständigen zweiten Klage der Einwand der notwendigen Streitgenossenschaft nicht entgegen, sofern B sich auf seine Gutgläubigkeit beruft (§ 325 II ZPO). Denn ist er wirklich gutgläubig, so muß die Klage des E selbst dann abgewiesen werden, wenn er im ersten Prozeß Erfolg hat. Die Entscheidung braucht nicht notwendig einheitlich zu sein47 • Wohl aber würde ein Mißerfolg des E im ersten Prozeß auch zugunsten des B wirken (§ 325 I ZPO), so daß es notwendig ist, den zweiten Prozeß bis zur Erledigung des ersten nach § 148 ZPO wegen der möglicherweise eintretenden Rechtskrafterstrekkung auszusetzen. Nach einer verbreiteten Meinung soll die Klage gegen eine offene Handelsgesellschaft und ihre Gesellschafter eine notwendige Streitgenossenschaft herbeiführen, wenn die Gesellschafter keine persönlichen Einwendungen erheben; die Entscheidung sei dann einheitlich zu treffen. Beruhe die Verteidigung der Gesellschafter dagegen auf persönlichen Gründen, so entfalle mit der Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung die besondere Streitgenossenschaft48 • Diese differenzierende Auffassung trägt eine große Unsicherheit in den Prozeß. Man stelle sich vor: Im Termin zur mündlichen Verhandlung erscheint einer der vertretungsberechtigten Gesellschafter nicht. Der Kläger beantragt daraufhin gegen die offene Handelsgesellschaft Versäumnisurteil, wird aber wegen der bestehenden notwendigen Streitgenossenschaft abgewiesen. Im Laufe der Verhandlung erhebt der erschienene Gesellschafter plötzlich persönliche Einwendungen; nunmehr verändert sich die prozeßrechtliche Stellung der offenen Handelsgesellschaft, das eben abgelehnte Versäumnisurteil wird möglich. Kaum hat aber der Kläger erneut Antrag auf Versäumnisurteil gestellt, verzichtet der beklagte Gesellschafter wieder auf seine persönlichen Einwendungen usw. Das Beispiel zeigt, wie wenig sinnvoll eine Lösung ist, die den Parteien die Möglichkeit eröffnet, durch nachträgliche Behauptung persönlicher Einwendungen oder durch gelegentliches Fallenlassen derRosenberg, Lehrbuch, § 95 II 1 a. RGZ 123, 151 (154); 136, 266 (268); Rosenberg, Lehrbuch, § 42 II 3; Baumbach-Lauterbach, 30. Aufl., § 62 ZPO Anm. 2 A; Schönke-Kuchinke, Lehrbuch, § 24 IV 1. 47
48
96 li. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft selben eine notwendige Streitgenossenschaft in eine einfache zu verwandeln und umgekehrt. Ob eine notwendige Streitgenossenschaft vorliegt, kann nicht von der jeweiligen Gestaltung des Prozesses durch die Parteien abhängen, sondern nur von einem generellen Kriterium: der Notwendigkeit einer einheitlichen Entscheidung49 • Werden Gesellschaft und Gesellschafter getrennt verklagt, so ist bei inhaltlich widersprechenden Urteilen eine Urteilskollision nicht zu befürchten. Es ist zwar materiell-rechtlich unvereinbar, wenn der Gesellschafter auf der einen Seite zur Zahlung verurteilt wird, während man auf der anderen Seite feststellt, daß die Gesellschaft nichts schulde, doch wird damit prozeßrechtlich eine einheitliche Entscheidung noch nicht erzwungen. Die Entscheidung über die Gesamtbandsschuld im Prozeß gegen die offene Handelsgesellschaft klärt lediglich eine Vorfrage für die persönliche Haftung der Gesellschafter; wird die Klage gegen die Gesellschaft abgewiesen, so braucht auch der Gesellschafter nicht zu zahlen50• Der Prozeß gegen die Gesellschafter kann deshalb bis zur Entscheidung des Prozesses gegen die offene Handelsgesellschaft ausgesetzt werden. Gleiches gilt für eingleisige Bindungswirkungen wie im Verhältnis des Hauptschuldners zum Bürgen, wo einhellig eine besondere Streitgenossenschaft abgelehnt wird. Nach § 768 I BGB kann der Bürge alle dem Hauptschuldner zustehenden Einreden geltend machen ; dazu gehört auch der Einwand der Rechtskraft, wenn die Klage des Gläubigers gegen den Hauptschuldner rechtskräftig abgewiesen worden ist. Aber die Rechtskraft wirkt nicht gegen den Bürgen; wird der Hauptschuldner verurteilt, so kann der Bürge die Schuld nach wie vor bestreiten, er verliert die im vorgreifliehen Prozeß dem Hauptschuldner aberkannten Einreden selbst nicht, wie die Vorschrift des § 768 li BGB beweist51 • Geht man davon aus, daß wenigstens die Abweisung der Klage gegen den Hauptschuldner Rechtskraft für den Bürgen wirkt52 und eine Vor49 Seu:ffert-Walsmann, 12. Aufi., 1932, § 62 ZPO Anm. 2 b; Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufi., § 62 ZPO Anm. 11 2; Pohle JZ 1961, 175; Henckel, Parteilehre, S. 202/ 203; Bernhardt, Lehrbuch, § 20 I 2. Anders auch Schwab, Festschrift für Lent (1957), 271 (293), der aber eine Rechtskrafterstreckung auf die Gesellschafter uberhaupt ablehnt und aus diesem Grunde die notwendige Streitgenossenschaft verneint. 50 Rosenberg, Lehrbuch, § 151 li 3d. Einer zweiten Klage steht wegen der verschiedenen Streitgegenstände die Rechtskraft nicht entgegen; vgl. Schwab, Festschrift für Lent, S. 293. 51 RGZ 66, 332 (334) ; Rosenberg, Lehrbuch, § 151 II 3d; weitergehend: Mart cns ZZP 79 (1966), 428/429. 52 a. A. Kut tner , Nebenwirkungen, S. 98 ff.; Niki sch, Lehrbuch, § 108 VI, die beide eine wesensverschiedene Reflexwirkung annehmen; dazu unten § 9 Ziff. 2.
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frage für die Haftung des Bürgen rechtskräftig geklärt wird, so kann der Prozeß gegen ihn nach§ 148 ZPO ausgesetzt werden. Umstritten ist ferner die Frage, ab bei der Klage eines Konkursgläubigers auf Feststellung seiner Forderung gegen mehrere Widersprechende (§ 146 KO) eine notwendige Streitgenossenschaft anzunehmen ist. Überwiegend wird die Frage bejaht, einerseits wegen der in § 147 KO angeordneten Rechtskrafterstreckung53, andererseits wegen der "vollständigen Identität" des Streitgegenstandes54. Es gab aber früher auch Stimmen, die eine notwendige Streitgenossenschaft ablehnten55. Nach § 147 KO entfaltet ein Urteil, das eine Konkursforderung feststellt oder einen Widerspruch gegen die Eintragung der Forderung in die Konkurstabelle für begründet erklärt, Rechtskraft gegenüber allen Konkursgläubigern. Man ist sich heute allgemein darüber einig, daß die Vorschrift vom Gesetzgeber zu weit gefaßt wurde und ihr Wortlaut - von § 144 KO her - einschränkend interpretiert werden muß. Hat ein Konkursgläubiger im Feststellungsprozeß um die angemeldete Konkursforderung gegen einen Widersprechenden obsiegt, so wirkt die Rechtskraft des Urteils nur gegenüber denjenigen Konkursgläubigern, die ihrerseits im Prüfungstermin der Eintragung der Forderung in die Konkurstabelle nicht widersprochen haben, nicht aber gegenüber anderen Widerspruchsgegnern; ihre Widersprüche muß der anmeldende Konkursgläubiger durch weitere Feststellungsklagen ebenfalls ausräumen. Unterliegt er dagegen auch nur in einem der Prozesse und wird ein Widerspruch für begründet erklärt, so wirkt das Urteil zugunsten aller anderen Konkursgläubiger, gleichgültig, ob sie im Prüfungstermin widersprochen haben oder nicht58• Dies folgt bereits daraus, daß nach § 144 KO Konkursforderungen nur dann als "festgestellt" gelten, wenn sie entweder nicht bestritten oder alle gegen sie erhobenen Widersprüche durch erfolgreiche Klagen des Anmeldenden beseitigt wurden. Der Konkursrichter trägt angemeldete Forderungen erst nach Überwindung jedes erhobenen Widerspruchs in die Tabelle ein. Die vom Gesetzgeber in § 147 KO für diesen Fall angeordnete Rechtskrafterstreckung ist demnach, bei Lichte besehen, überflüssig und wurde früher auch als zu weitgehend bekämpft: der Konkursgläubiger müsse die Möglichkeit haben, die übri53 RGZ 96, 254; Lent JhJb 90, 27 (43); Rosenberg, Lehrbuch, § 95 li 1 a; Jaeger-Lent, 8. Aufl.., § 146 KO Rdnr. 10; Henckel, Parteilehre, S. 204 f. 54 Seufjert-Walsmann, § 62 ZPO Anm. 2 b; Baumbach-Lauterbach, 30. Aufl.., § 62 ZPO Anm. 2 B. 55 Wachenfeld, Notwendige Streitgenossenschaft, 79 ff.; Hellwig, Lehrbuch, III, § 159, 4; Förster-Kann, § 62 ZPO Anm. 2 b ee. 56 Jaeger-Lent, § 146 KO Rdnr. 7/8; Mentzel-Kuhn, § 147 KO Anm. 1; BöhleStamschräder, § 147 KO Anm. 1; Schwab, Festschrift für Lent, S. 282. 7 Mittenzwei
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gen Feststellungsklagen auch nach der Niederlage in einem der Feststellungsprozesse weiter zu verfolgen, weil er daran aus anderen Gründen ein besonderes Interesse haben könne57. Dieser beachtenswerten Erwägung wird man gerecht, wenn man die in § 147 KO angeordnete Rechtskrafterstreckung auf das konkrete Konkursverfahren beschränkt58• Macht der Konkursgläubiger die Forderung nicht als Konkursforderung oder erst nach Abschluß des Konkursverfahrens geltend, so ist er durch die nach § 147 KO eingetretene Rechtskrafterstreckung an der Durchsetzung nicht ein für allemal gehindert59. Umgekehrt sind auch die Konkursgläubiger, die im Prüfungstermin nicht widersprochen haben, durch ein positives Feststellungsurteil aufgrund des § 147 KO nur für diesen Konkurs gebunden80 • Engt man den Anwendungsbereich des § 147 KO in diesem Sinne ein, so kann die Vorschrift natürlich nicht mehr als Grundlage für eine besondere Streitgenossenschaft der Widersprechenden dienen. Eine Urteilskollision, bei der sich die in einer Person eintretenden Hechtskraftwirkungen wechselseitig aufheben, ist nicht zu befürchten. Wird etwa der Klage des anmeldenden Konkursgläubigers gegen einen der Widersprechenden stattgegeben, gegen einen anderen dagegen nicht, so wirkt zwar auf die Person des ersten Beklagten eine doppelte, gegensätzliche Rechtskraft ein: Aufgrund des eigenen Prozesses stünde für ihn das Bestehen, aufgrund des fremden Prozesses das Nichtbestehen der Forderung fest. Der Widerspruch bleibt jedoch folgenlos, weil die Forderung gemäß § 144 KO jedenfalls mit Sicherheit nicht in die Konkurstabelle eingetragen wird und die in § 147 KO angeordnete Hechtskrafterstreckung nur die konkursmäßige Feststellung der Forderung betrifft81 • Eine einheitliche Entscheidung gegenüber allen Widersprechenden ist zwar prozessual nützlich, aber im Sinne des § 62 ZPO nicht notwendig. Wegen des ausschließlichen Gerichtsstandes des § 146 II KO wird es jedoch häufig möglich sein, die einzelnen Feststellungsprozesse gemäß § 147 ZPO zu verbinden; im übrigen würde die zu widersprechenden Urteilen führende, einseitige Rechtskrafterstreckung des § 147 KO auch eine Aussetzung gestatten, die den Kläger wegen des zu befürchtenden Zeitverlustes von sich aus zur Klage gegen alle Widersprechenden gemeinsam veranlassen dürfte82 • 57 Jaeger, 6. und 7. Aufl., 1936, § 146 KO, Anm. 9; Schlichting, a.a.O., S. 44. 58 So jetzt Jaeger-Lent, 8. Aufl., § 146 KO Rdnr. 9. 59 Anders offensichtlich Schwab, Festschrift für Lent, S. 283; Henckel, Parteilehre, S. 206/207. 6 ~ Klarstellend sei angemerkt, daß die Begrenzung nur für § 147 KO gilt, nicht jedoch für die "inter partes" wirkende Rechtskraft des Feststellungsurteils nach § 322 ZPO. 61 Anders Henckel, Parteilehre, S. 207. 62 Vgl. Jaeger-Lent, 8. Aufl., § 146 KO Rdnr. 7.
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Das Beispiel zeigt erneut, wie in Grenzfällen die Aussicht auf unliebsame Prozeßkonkurrenzen eine überspannte Auslegung der Vorschriften über die notwendige Streitgenossenschaft bzw. die Rechtshängigkeit scheinbar erzwingt; die Überdehnung dieser Vorschriften zu reduzieren, diesem Ziel dient nicht zuletzt der Nachweis des funktionalen Zusammenhanges zwischen Rechtskraft und Aussetzung. 4. Versucht man die Rechtshängigkeit von den Bezügen zum materiellen Recht wieder zu befreien und auf ihren ursprünglichen, historisch belegbaren, prozessualen Sinn zurückzuführen, so erreicht man das Ziel nur, wenn man ihren Anwendungsbereich ausschließlich an dem durch Antrag und Sachverhalt gekennzeichneten, rechtlich abstrakten Begehren des Klägers orientiert und die Grenzsteine entsprechend setzt. Dabei ist aber zu beachten, daß unterschiedliche Anträge des Klägers - oder umfassender: der Parteien - keineswegs immer zugleich verschiedene Begehren kennzeichnen, die den Einwand der Rechtshängigkeit abschneiden. Vielmehr muß die Frage, ob das gleiche Begehren oder verschiedene anhängig gemacht wurden, stets in der Perspektive des verfolgten Rechtsschutzzieles gesehen und entschieden werden. Erstrebt der Kläger im zweiten, parallel laufenden Prozeß das gleiche Rechtsschutzziel oder das logische Gegenteil, so 5teht der später erhobenen Klage die negative Prozeßvoraussetzung anderweiter Rechtshängigkeit entgegen63 • Sind die Rechtsschutzziele verschieden, so muß das prozessuale Anliegen, zwischen den verschiedenen Verfahren eine zweckmäßige, ökonomische Reihenfolge herzustellen, mit anderen prozessualen Mitteln durchgesetzt werden. Anders als der Verwaltungsprozeß (§ 43 II VwGO) kennt der Zivilprozeß eine Subsidiarität der Feststellungsklage gegenüber der Leistungsklage nicht. Dadurch daß § 256 ZPO ein besonderes Feststellungsinteresse fordert, wird aber auch hier zwischen Leistungs- und Feststellungsklage eine Rangordnung geschaffen. In der Regel schließt die Möglichkeit, eine Leistungsklage zu erheben, das Rechtsschutzinteresse an einer entsprechenden Feststellungsklage wegen der bloß ideellen Wirkung des Feststellungsurteils aus64• Ist die Durchführung eines Fest63 Identität des Rechtsschutzzieles setzt die gleichen Parteien voraus; dagegen können nach herrschender Meinung die Parteirollen (und damit die Anträge) vertauscht sein; Rosenberg, Lehrbuch,§ 98 II 2; Lent-Jauernig, Lehrbuch, § 40 II 1; Baumbach-Lauterbach, 30. Aufl., § 263 ZPO Anm. 3 A; Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 12; Habscheid, Streitgegenstand, S. 272; darin liegt eine Modifizierung des Grundsatzes, daß der Kläger den Streitgegenstand bestimmt; denn nach diesem Grundsatz müßten eigentlich bei verschiedenen Klägern verschiedene Begehren und folglich auch verschiedene Streitgegenstände angenommen werden. Die Modiflzierung wird allein von Zweckmäßigkeitserwägungen getragen. 64 Rosenberg, Lehrbuch, § 86 II 2 a; Blomeyer, Lehrbuch, § 37 III 3 a.
100 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Stellungsprozesses ausnahmsweise prozeßwirtschaftlich sinnvoll, so dürfte der Fall, daß der Kläger außerdem bei einem anderen Gericht eine Leistungsklage erhebt, praktisch kaum vorkommen. Sicherlich nicht richtig ist es aber, dann die Leistungsklage wegen Rechtshängigkeit zurückzuweisen6S, vielmehr muß geprüft werden, ob der Kläger die Feststellungsklage gemäß § 268 Nr. 2 ZPO erweitern kann. Ist das möglich, so fehlt der Erhebung einer selbständigen Leistungsklage das Rechtsschutzbedürfnis66 ; ist es nicht möglich oder zumutbar, so muß als nächstes das Rechtsschutzinteresse des Klägers an der Feststellungsklage überprüft werden, weil die Leistungsklage ebenfalls zur Feststellung des konkreten, materiellen Anspruchs führt, das mit der Feststellungsklage verfolgte Rechtsschutzziel also mitumfaßt67 • Hat der Kläger an der Durchführung des Feststellungsprozesses weiterhin ein Interesse- etwa weil er rechtskräftig festgestellt wissen will, daß der Beklagte für allen Schaden aus einem bestimmten Verkehrsunfall, auch soweit er noch nicht ersichtlich ist oder nicht beziffert werden kann, aufzukommen habe68 - so ist der Feststellungsprozeß als der umfassendere die "causa maior" 69 und der Leistungsprozeß bis zu dessen Entscheidung auszusetzen70 • Treffen positive und negative Feststellungsklagen aufeinander, so scheinen die Parteien mit ihren entgegengesetzten Begehren auf den ersten Blick den gleichen Zweck zu verfolgen- nämlich die endgültige, gerichtliche Klärung ihres Rechtsverhältnisses - und die negative Prozeßvoraussetzung anderweiter Rechtshängigkeit erfüllt zu sein71 • Jedoch wird man genauer differenzieren müssen: So Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 26. Blomeyer, Berliner Festschrift, S. 64/65; Lehrbuch, § 49 III 2; Habscheid, Streitgegenstand, S. 271. G7 Vgl. RGZ 71, 68 (72/73); BGH LM § 256 ZPO Nr. 5. 68 z. B. BGHZ 5, 314 ff. 89 Siehe oben S. 40. 70 Anders Habscheid, Streitgegenstand, S. 271 f.; er verneint das Rechtsschutzinteresse für die Leistungsklage grundsätzlich, obwohl es sich doch schon allein aus der Tatsache ergibt, daß der Kläger aus dem Feststellungsurteil nicht vollstrecken kann ; der Kläger muß lediglich wegen des öffentlichen Interesses an der Verhinderung widersprechender Entscheidungen und doppelter Arbeit warten. 71 So Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 27/28. § 263 II 1 ZPO greift allerdings nicht ein, wenn das kontradiktorische Begehren als Widerklage erhoben wird, weil nur die Behelligung eines zweiten Gerichtes mit der gleichen Streitsache verhindert werden soll (" ... anderweitig anhängig ... "); bei einer Widerklage sind weder widersprechende Entscheidungen zu befürchten noch wird doppelte Arbeit verursacht; sie tangiert den bloß räumlichen (nicht auch zeitlichen) Funktionsbereich der Vorschrift nicht. Ebenso HeUwig, Lehrbuch, III, S . 54; Anspruch und Klagrecht, S. 416; Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 91; Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl., § 33 ZPO Anm. I 1; a. A. Stei n - Juncker, Grundriß, § 47 II; Stein-Jonas-Schumann- Leipold, 19. Aufl., § 263 ZPO Anm. III 3 c; Hab scheid, Streitgegenstand, S. 272. 65
66
§ 7 Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung
101
Erhebt zunächst A eine positive Feststellungsklage gegen B, sodann B eine negative gegen A, so begehrt B im zweiten Prozeß nicht mehr als er im ersten Prozeß bereits mit dem bloßen Antrag, die Klage abzuweisen, erreichen kann. Wird die Klage des A abgewiesen, so stellt der Richter das Nichtbestehen der von A behaupteten Rechtsfolge fest; genau das aber ist das Ziel der von B zusätzlich erhobenen negativen Feststellungsklage. Reicht das mit der Feststellungsklage selbständig verfolgte Ziel aber über die bloße Verneinung des im ersten Prozeß zu beurteilenden Begehrens nicht hinaus, so hat es neben diesem keine selbständige Bedeutung. Die bloße Verkehrung der Parteirollen berührt die Identität der Rechtsschutzziele nicht72 • Der negativen Feststellungsklage steht der Einwand der Rechtshängigkeit entgegen. Das Gleiche gilt, wenn A zunächst eine Leistungsklage und B anschließend eine negative Feststellungsklage erhebt; auch hier verfolgt die Feststellungsklage kein über den Abweisungsantrag im ersten Prozeß hinausgehendes ZieF3 • Anders liegen jedoch die Fälle, in denen die negative Feststellungsklage als erste erhoben wird und die positive Feststellungs- oder die Leistungsklage nachfolgen; hier wird mit dem zweiten Prozeß vom Beklagten häufig ein über den Abweisungsantrag hinausgehendes Rechtsschutzziel verfolgt7' . So ist zum Beispiel in der Einreichung einer negativen Feststellungsklage keine Handlung erblickt worden, welche die Verjährung des streitigen Anspruchs unterbricht: auch die allein auf Abwehr dieses Begehrens gerichtete Tätigkeit des Beklagten enthalte nicht die für die Unterbrechung der Verjährung erforderliche positive Bestätigung des Rechts, die erst mit Rechtskraft des abweisenden Urteils eintrete75 • Hier kann der Beklagte des ersten Prozesses im Hinblick auf eine gemäß § 852 BGB drohende Verjährung zur Erhebung einer selbständigen, positiven Feststellungsklage vor einem anderen Gericht gezwungen sein, wenn eine Entscheidung des ersten Gerichts in absehbarer Zeit nicht zu erwarten isF6 • Allerdings wird das zweite Gericht wegen der Möglichkeit einer Urteilskollision den Ausgang des ersten Prozesses abwarten und sein Verfahren nach § 148 ZPO aussetzen. Vgl. oben Fußnote 63. Ferner Stein-Juncker, Grundriß, § 47 li. Stein-Jonas-Schumann-Leipold, 19. Aufl., § 263 ZPO Anm. III 3 c. 74 Wenn nicht, dann gilt das soeben Gesagte; z. B. RG JW 1914, 772 (773); KG OLGE 37, 123; auch RG JW 1936, 2400 (2403), wo aber mangels Rechtsschutzinteresses abgewiesen wurde. 75 RG JW 1905, 373; RGZ 60, 387; 90, 290; 153, 375 (382) ; OLG Dresden DR 72
73
1941, 393. 76
Ein Beispiel: KG NJW 1961, 33.
102 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Klagt der Schuldner auf Feststellung, daß er nicht mehr als 5000,DM schulde, und erhebt danach der Gläubiger eine Klage mit dem Antrag festzustellen, ihm würden 10 000,- DM geschuldet, so geht das zweite bezifferte Begehren über das in der Höhe unbestimmte, erste Rechtsschutzbegehren ebenfalls hinaus. Auch hier ist das zweite Verfahren wegen der zu erwartenden (präjudiziellen) Rechtskraft bis zur Entscheidung des ersten Prozesses auszusetzen77 • Folgt auf die negative Feststellungsklage eine Leistungsklage nach, so liegt der Unterschied der verfolgten Rechtsschutzziele auf der Hand78 • Durch das weitergehende Ziel der Leistungsklage sieht man sich in Rechtsprechung und Literatur vielfach sogar veranlaßt, nunmehr die Feststellungsklage zu verdrängen, obwohl diese vor der Leistungsklage erhoben wurde79 • Man begründet es damit, daß dem Feststellungsbeklagten nicht angesonnen werden könne, das Ende des Feststellungsprozesses abzuwarten, um seinen Anspruch zu verfolgen. Denn erstens werde durch die negative Feststellungsklage die Verjährung seines Anspruchs nicht unterbrochen, sodann schaffe das die Feststellungsklage abweisende Urteil zwar Rechtskraft für den Grund des Anspruchs, nicht aber die Voraussetzung für eine Vollstreckung80• Wegen der zu erwartenden Rechtskraftwirkung beider Urteile und der Gefahr einer Rechtsverwirrung durch Urteilskollision, die den Zwecken des Prozesses und dem vernünftigen Interesse der Parteien widersprächen, müsse der negativen Feststellungsklage, die nur den Interessen des Feststellungsklägers diene, der weitere Rechtsschutz versagt werden81 • Die gegen eine Blockierung der Leistungsklage durch den Einwand der Rechtshängigkeit angeführten Gründe überzeugen, nur benachteiligt die von der Rechtsprechung unter weitgehender Zustimmung des Schrifttums bevorzugte Lösung den Feststellungskläger mehr, als es notwendig und angemessen erscheint82• Die öffentlichen Interessen an einer Koordinierung der parallel laufenden Verfahren werden bereits durch eine Aussetzung der (später erhobenen) Leistungsklage befriedigt, 77 Anders OLG Dresden DR 1939, 2176, nach dessen Ansicht das Rechtsschutzinteresse für die negative Feststellungsklage "nachträglich" entfiel, vgl. dazu weiter im Text. 78 RGZ 50, 419; 54, 49 (50); 158, 145 (150). 79 RGZ 71, 68 (73 f.); 151, 65 (66 f.); JW 1936, 3185 ff.; BGH NJW 1954, 1323; NJW 1961, 362; LM § 256 ZPO Nr. 41 (Gestaltungsklage); Rosenberg, Lehrbuch, § 86 II 4; Habscheid, Streitgegenstand, S. 273 ; Stein-Jonas-SchumannLeipold, § 263 ZPO Anm. III 3 c; einschränkend: BGH NJW 1968, 50; OLG Harnburg MDR 1968, 332; ablehnend: Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 30 ff.; Neumann-Duesberg NJW 1955, 1214 ff. 8o RGZ 71, 68 (73). s t RG, a.a.O., S. 74. 82 Vgl. Neumann-Duesberg NJW 1955, 1214 (1216), der allerdings mit dem Ausschluß der Leistungsklage in das andere Extrem fällt.
§ 7 Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung
103
die für den Kläger deshalb keine wirkliche Benachteiligung bedeutet, weil er ja jederzeit die Möglichkeit hat, eine Leistungswiderklage zu erheben; in ein und demselben Verfahren kann das Gericht gleichzeitig auf Klage und Widerklage entscheiden83 • Ist eine Widerklage nicht mehr möglich, etwa weil die Feststellungsklage bereits in der Berufungs- oder Revisionsinstanz schwebt, so läßt sich das Interesse des Feststellungsklägers an einer Entscheidung des Rechtsmittelgerichts ohnehin nicht mehr verneinen, weil für die Feststellungsklage dann eine endgültige Klärung früher zu erwarten ist84 • Im übrigen hat das Reichsgericht in einigen Fällen dem Feststellungsbeklagten unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie das Hechtsschutzbedürfnis an der Erhebung einer selbständigen Leistungsklage abgesprochen85 und damit gezeigt, daß der Grundsatz der Prozeßökonomie nicht unbedingt den Vorrang des Leistungsprozesses gebietet. Ein solcher Vorrang läßt sich dem Gesetz auch anderweit nicht entnehmen; alle drei Klagearten stehen gleichberechtigt nebeneinander88 • Stoßen zwei kontradiktorische Klagen aufeinander, dann entscheidet die Frage des Vorrangs nicht die Klageform, sondern der Klagetermin; es gilt der Grundsatz der Prävention87 • Die von Bettermann88 gegen eine Anwendung des § 148 ZPO ins Feld geführten Bedenken berücksichtigen nicht, daß die Aussetzung im Hinblick auf eine zu erwartende Rechtskraftwirkung neben der Rechtshängigkeit eine Auffangfunktion erfüllt, demnach die Anwendung der Vorschrift über die Fälle materiell-rechtlicher Vorgreiflichkeit hinaus überall dort erforderlich ist, wo mangels Identität der (prozessualen) Streitgegenstände die negative Prozeßvoraussetzung der anderweitigen Rechtshängigkeit eine erwartete Rechtskraftwirkung nicht wirksam abschirmt811• Nur wenn der Streitgegenstand wirklich das vom Kläger als bestehend oder nichtbestehend behauptete materielle Recht wäre, hätte Bettermann recht: dann müßte § 148 ZPO hinter dem (dann erfüllten) § 263 II ZPO zurücktreten. 83 Vgl. Blomeyer, Lehrbuch, § 49 III 2; nur kann man den Feststellungsbeklagten zur Widerklage nicht zwingen, RGZ 40, 364. 8' BGH NJW 1968, 50; OLG Harnburg MDR 1968, 332. 85 Vgl. RG JW 1936, 3185; 1932, 3615; 1936, 2094. 86 Anders im Verwaltungsprozeß: § 43 II VwGO. 87 Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 40. 88 Rechtshängigkeit, S. 33 ff. 89 Die Aussetzung dient den gleichen Zwecken wie die Rechtshängigkeit, auch sie verhindert widersprechende Entscheidungen und Rechtsverwirrung. Vgl. oben S. 67 f.; wie hier auch RG JW 1898, 387 Nr. 8; KG OLGE 19, 89 (5. ZS). Unrichtig KG OLGE 19, 89 (17. ZS).
104 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
5. Macht der Beklagte in einem Prozeß ein Recht im Wege der Einrede geltend, so wird es - darüber ist man sich allgemein einig selbst dann nicht rechtshängig, wenn das Gericht im Urteilsausspruch das Recht ausdrücklich berücksichtigt90 • Eine Ausnahme von diesem Grundsatz soll aber nach einer im Schrifttum stark vertretenen Meinung dann gelten, wenn der Beklagte mit einer Gegenforderung aufrechnet91 • Abweichend von der Regel, daß nur in Klageform erhobene Ansprüche in Rechtskraft erwachsen, nicht jedoch deren Tatbestandsvoraussetzungen, seien sie nun positiver oder negativer Art (wie die rechtsvernichtenden oder rechtshindernden Einreden), wird die Entscheidung über das Nichtbestehen - und nach heute ganz herrschender Meinung auch über das "Nicht-Mehr-Bestehen" - der Aufrechnungsforderung gemäß § 322 II ZPO rechtskräftig. Unter Berufung auf Bötticher92 und eine jüngere Entscheidung des Reichsgerichts93 behauptet Bettermann94 auch hier wieder den gleichen Umfang von Rechtshängigkeit und Rechtskraft: da die Entscheidung über die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung in Rechtskraft erwachse, müsse sie durch die Erhebung der Aufrechnungseinrede auch rechtshängig werden. Sieht man einmal von der Tatsache ab, daß die Rechtskraft auch eine präjudizielle Wirkung entfaltet, und schon deshalb der Rechtshängigkeit nicht voll entspricht - Bettermann nimmt sie selbst als ein "Spezifikum der Rechtskraft" aus - haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, daß die These von der Kongruenz zwischen (direkter) Hechtskraftwirkung und Rechtshängigkeit nicht richtig ist: weder die objektiven noch die subjektiven Grenzen der - zweifellos korrespondierenden - Institute stimmen überein. Die zutage getretene Differenz ist nicht weiter verwunderlich, wurde doch hier die von der Rechtshängigkeit zu erfüllende, rein negative Funktion nicht von der Rechtskraft her festgelegt, sondern vom Ziel des Prozesses schlechthin, unter Berücksichtigung des Zusammenspiels aller vom Gesetz bereitgestellten Institute. Die so bestimmte Aufgabe der Rechtshängigkeit ließ es zum Beispiel (im Gegensatz zu der von Bettermann vertretenen Auffassung) sachgemäß erscheinen, die von den Parteien verfolgten Rechtsschutzziele bei der Grenzziehung zu beachten95 • 90 Vgl. Stein- Jonas-Schumann-Leipold, § 263 ZPO Anm. li 1; Thomas-Putzo, 4. Aufl., § 263 ZPO Anm. 1; RGZ 100, 197 (198); RG JW 1929, 591 und ständig. 91 Bettermann, Rechtshängigkeit, S. 84 ff.; Rosenberg, Lehrbuch, § 104 li 1 (vgl. aber § 97 li 1 b); Blomeyer, Lehrbuch, § 60 I 1 a; Larenz, Schuldrecht I, 9. Aufl., § 27 III S. 331. Früher: Kahler ZZP 20, 26 und ZZP 23, 490. 92 Kritische Beiträge zur Rechtskraft, S. 237. 93 RGZ 160, 191 (192). 94 a.a.O., S. 86 f. 95 Vgl. oben § 7 Ziff. 4; ferner Förster-Kann, 3. Aufl., § 148 ZPO Anm. 2 b.
§ 7 Abgrenzung von Rechtshängigkeit und Aussetzung
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Rettermanns These 96 läßt sich überhaupt nur richtig würdigen, wenn man seine - nicht ausdrücklich ausgesprochene - prozessuale Grundposition bedenkt: für ihn ist der materiell-rechtliche Anspruch (nicht das klägerische Begehren) Streitgegenstand des Prozesses97 • Gerade der materiell-rechtliche Begriff des Streitgegenstandes hat sich jedoch bei der (direkten) Rechtskraft wie bei der Rechtshängigkeit als Abgrenzungskriterium nicht bewährt. Es läßt sich heute nicht mehr leugnen, daß die objektiven Grenzen der Rechtshängigkeit mit den Grenzen der einzelnen Gerichtszweige oder der sachlichen Zuständigkeit der Gerichte nicht übereinstimmen98 , und das, obwohl materiell-rechtliche Anspruchsgrundlagen den Rechtsweg markieren und den Umfang der Rechtskraft festlegen. Ferner kann man schwerlich bestreiten, daß der Inhaber einer streitigen Forderung die Möglichkeit haben muß, sie durch Klageerhebung rechtshängig zu machen, wenn ihr Verjährung droht, ganz unabhängig davon, ob diese Forderung schon den Gegenstand einer negativen Feststellungsklage des Schuldners bildet oder nicht. Kann demnach der Umfang der Rechtshängigkeit allenfalls durch einen prozessual bestimmten Streitgegenstand abgegrenzt werden, so entsteht gegen die Hauptbegründung der Anhänger der Rechtshängigkeitsthese, wegen der zu erwartenden Rechtskraft müsse mit Hilfe des § 263 ZPO die Gefahr widersprechender Entscheidungen gebannt werden, ein weiteres Argument: Auch nach ihrer Auffassung liegt Rechtshängigkeit nur vor, wenn der Streitgegenstand in beiden Prozessen identisch ist; bestimmt man jedoch den Begriff des Streitgegenstandes prozessual, d. h. unter Einbeziehung der von den Parteien verfolgten Rechtsschutzziele, so sind die Gegen::;tände im Aufrechnungs- und im Leistungsprozeß verschieden; Urteilskollisionen können nur mit anderen prozessualen Mitteln, etwa durch Aussetzung des einen oder des anderen Prozesses, vermieden werden, nicht aber mit dem Einwand der Rechtshängigkeit. Die Überlegung sei näher erläutert: Nach § 263 I ZPO wird die Rechtshängigkeit einer Streitsache durch Erhebung der Klage begründet. Die in Absatz 2 geregelte "Einrede" der Rechtshängigkeit setzt eine nach Absatz 1 begründete Rechtshängigkeit voraus, kann also nur entstehen, wenn ein Anspruch klagemäßig erhoben wurde. Der Aufrechnungseinwand müßte deshalb, soll er
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hält. 97
98
Die Btomeyer, Lehrbuch, § 60 I 1 a, S . 284 Anm. 1, für unwiderleglich(!) Vgl. MDR 1954, 196 (199). Arg. §§ 90 VwGO, 66 FGO; vgl. oben S. 88 Fußn. 22.
106 II. Beziehungen der Aussetzung zu Rechtshängigkeit und Rechtskraft
Rechtshängigkeit erzeugen, in eine Art "Widerklage" umgedeutet werden. Dergleichen ist in der Tat schon früh versucht worden99• Unterstellt man einmal eine derartige "Widerklage" und versucht man, ihren Streitgegenstand zu bestimmen, so ist zunächst zu beachten, daß die Aufrechnung eine privatrechtliche Gestaltung darstellt, die der Beklagte durch Erklärung selbst vollzieht und sodann im Prozeß lediglich (als vollzogen) vorbringt; sein etwaiges Begehren ist demnach nicht auf eine richterliche Gestaltung der materiellen Rechtslage gerichtet. Vielmehr muß man sich die Aufrechnung als eine wechselseitige Tilgung zweier sich gegenüberstehender Forderungen vorstellen, die einerseits eine dem Gläubiger vom Schuldner aufgezwungene Befriedigung nicht gewünschter Art bedeutet, zum anderen aber einen Akt der sonst nicht gestatteten - außergerichtlichen Selbsthilfe, durch die sich der Schuldner seinerseits für eine Forderung befriedigt. Durch Vortrag der Aufrechnung im Prozeß begehrt der Schuldner folglich höchstens die richterliche Bestätigung, daß ihm eine Forderung zustand und daß er im vorliegenden Fall zurecht eigenmächtig "vollstreckt" habe. Die angenommene Widerklage ist also auch keine Leistungs-, sondern eine einfache Feststellungsklage. Klagt nun der Schuldner seine aufgerechnete Forderung außerdem in einem neuen Prozeß ein, so kann er diesen Schritt nur verständlich machen, wenn er sich im zweiten Verfahren darauf beruft, daß die im ersten Prozeß anhängige Hauptforderung des Gläubigers nicht besteht und er sich demgemäß infolge fehlgeschlagener Aufrechnung noch gar nicht befriedigt hat100• Die Leistungsklage verfolgt dann offensichtlich ein anderes Rechtsschutzziel als die (bedingte) "Widerklage"; sie hat