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German Pages [423] Year 2016
Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien
Band 18
Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte
Carolin Führer (Hg.)
Die andere deutsche Erinnerung Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens
Mit 49 Abbildungen
V& R unipress
®
MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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FSC® C083411
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-8471-0502-2 ISBN 978-3-8470-0502-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0502-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Nadia Budde Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Meinem Vater Henry Günther
Inhalt
Carolin Führer Und keiner ist (mehr) dabei gewesen. Die andere deutsche Erinnerung – Tendenzen literarischer und kultureller Bildung . . . . . . . . . . . . . .
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I Kulturen der Erinnerung Kaspar H. Spinner DDR-Erinnerung und Identität
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Ute Dettmar Kindsein – Erinnern – Erzählen. (Selbst-)Beschreibungen von Kindheiten in ›Wendezeiten‹ in erinnerungskultureller und generationeller Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Juliane Köster Erinnerung und Spiel. Erinnerung an die DDR als Spiel . . . . . . . . . .
59
Juliane Brauer (K) Eine Frage der Gefühle? Die Erinnerungen an die DDR aus emotionshistorischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Camilla Badstübner-Kizik Erinnerung – Musik – DDR. Ein Land und eine Zeit musikalisch erinnern und vermitteln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
II Räume der Erinnerung Barbara Schubert-Felmy Erinnerungsräume und Erkenntnisgewinn. Biografisch geprägte Erzählungen in Jakob Heins Mein erstes T-Shirt . . . . . . . . . . . . . . 119
8
Inhalt
Monika Barwin´ska Deutsch-polnische postsozialistische Erinnerungen. Aufstieg und Niedergang in postsozialistischen Raumentwürfen in den Romanen Sandberg und Der Turm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Rainette Lange Deutsch-tschechische postsozialistische Erinnerungen. Die ›sozialistische Stadt‹ nach 1989/90 und das Erbe des Kommunismus in Texten von Julia Schoch und Petra Hu˚lov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
III Akteure der Erinnerung Jeanette Hoffmann / Diane Lang Erinnern im Unterricht. Gemeinsame Rezeption grafisch erzählender Geschichte(n) als Teil einer anderen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . 181 Sabine Mähne Erinnern in literaturinstitutionellen Kontexten. DDR-Erinnerungen im Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur LesArt . . . . . . . . . 207 Carola S. Rudnick Erinnern in Gedenkstätten. Die Erinnerung an die Geschichte der SBZ und der DDR in nationalen Gedenkstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Nadia Budde / Carolin Führer Erinnern in Autorenperspektive. Implizites Erinnern an die DDR in Such dir was aus, aber beeil dich! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Clemens Bechtel / Carolin Führer Erinnern auf der Bühne. Perspektiven eines Regisseurs auf das Erinnern von DDR-Zeitzeugen im dokumentarischen Theater . . . . . . . . . . . . 247
IV Didaktische Impulse Alexandra Ritter / Mario Zehe Über Grenzen schreiten. Bilderbücher über die DDR und didaktische Impulse zu Thomas Rosenlöchers Das langgestreckte Wunder . . . . . . 263 Kirsten Kumschlies Die Mauer ist gefallen und Fritzi war dabei! Szenisches Interpretieren zu Kindereportage und Kindersachbuch über die DDR . . . . . . . . . . . . 281
Inhalt
9
Maria Becker Habe ich dir eigentlich schon erzählt…. Ein Jugendbuch über die Flucht aus der DDR durch den Ostblock von Sibylle Berg . . . . . . . . . . . . . 295 Carolin Führer Emotionen in DDR-Geschichtscomics und Graphic Novels. Didaktische Überlegungen zur Analyse von Zeichensprache und Gefühlen in Comics über die DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Susanne B. Bach Schule in der DDR. Didaktische Impulse zur DDR- Erinnerungskultur in der Gegenwartsprosa nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Nadine J. Schmidt »Lyrik der DDR« nach dem Fall der Mauer? Die Entdeckung des verschwundenen Landes als Erinnerungslandschaft in der DDR-Lyrik der 1990er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Susanne Drogi »Wir haben die Mauer weggebeamt!« Kindliche Deutungen des Mauerfalls zwischen Realismus und Absurdität im Film Sputnik . . . . . 369 Bettina Henzler / Sabine Moller Der Spielfilm Barbara als ästhetische Position zur DDR-Vergangenheit. Exemplarische Analysen und didaktische Impulse . . . . . . . . . . . . . 387 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
Carolin Führer
Und keiner ist (mehr) dabei gewesen.1 Die andere deutsche Erinnerung – Tendenzen literarischer und kultureller Bildung
Im Jahre des »Beitritts« der DDR zur BRD2 hatte Christa Wolf mit ihrer Erzählung »Was bleibt?« einen Literaturstreit hervorgerufen, in dem grundlegend verhandelt wurde, wer bestimmt und bestimmen darf, was in der DDR gewesen ist und was davon in der Zukunft erinnert werden wird.3 Heute, ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung, ist mit Blick auf die Erinnerungskultur des geteilten Deutschlands eine Schieflage zu konstatieren: Auf der einen Seite ist das Erinnern an diesen Teil der deutschen Vergangenheit nur noch für einen immer kleiner werdenden Bevölkerungsteil mit eigenen biografischen Erlebnissen verbunden, dementsprechend spielen in Bildungszusammenhängen Literatur und Medien aus der DDR nur noch eine sehr marginale Rolle.4 Auf der anderen Seite gewinnt das fiktionale Erinnern an die DDR im aktuellen Literaturbetrieb und den Medien jedoch zunehmend an Bedeutung. So erhielt der Dresdener Chronist der späten DDR, Uwe Tellkamp, den Bachmann-Preis ebenso wie den Deutschen Buchpreis. Dem folgten Auszeichnungen für den ostdeutschen Familienroman In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge, mit Kruso von Lutz Seiler erhielt erneut ein Roman über 1 Die Überschrift ist in Anlehnung an den Titel der Biografie des Leipziger Pfarrers der Friedlichen Revolution gewählt worden (vgl. Christian Führer : Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Der Pfarrer der Nikolaikirche erzählt sein Leben. Berlin 2008) und soll darauf anspielen, dass den Zielgruppen kulturellen und historischen Lernens, auf die dieser Band abzielt, »Die andere deutsche Erinnerung« tatsächlich nur noch in narrativer Form zugänglich ist. 2 So lautet der offizielle Terminus für die Wiedervereinigung im deutschen Einigungsvertrag vom 31. 8. 1990. 3 Vgl. Wolf 2007. Weiterführend dazu: Bluhm, Lothar : ›Standortbestimmungen. Anmerkungen zu den Literaturstreits der 1990er Jahre in Deutschland. Eine kulturwissenschaftliche Skizze‹, in: Kammler, Clemens/Pflugmacher, Torsten (Hgg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 61–73, Skare, Roswitha: Christa Wolfs »Was bleibt«. Kontext – Paratext – Text. Münster 2008. 4 Kammler 2014 weist das u. a. an den Abiturthemen im Fach Deutsch der letzten Jahre nach (vgl. Kammler 2014, S. 14–23).
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die (untergehende) DDR den Deutschen Buchpreis. Auch in literarischen Texten für Kinder und Jugendliche wird das Thema »DDR« mit zahlreichen Preisen bedacht: Kinder- und Jugendliteraturpreise und -nominierungen gingen an die autobiografischen DDR-Erinnerungen von Nadia Budde und Simon Schwartz, Mawil erhielt für Kinderland, eine Freundschaftsgeschichte in der untergehenden DDR, ebenso den Comicpreis wie zuvor bereits Naddia Budde. Der Oscar für das Leben der Anderen (Henkel von Donnersmark 2006) hat dem Thema »DDRErinnerung« sogar internationale Aufmerksamkeit verschafft, in der europäischen Filmkritik erhalten Filme zu Wende und Realsozialismus wie Goodbye, Lenin! (Becker 2003), Barbara (Petzold 2012) oder Als wir träumten (Dresen 2015)5 seit Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Die Liste ließe sich fortsetzen, auffällig ist, dass diese Texte und Medien die DDR stärker fiktional als faktual erinnern und eine völlig neue, eigene literarische und visuelle DDR-Welt erschaffen.6 So gibt es besonders in der jungen Generation von Autoren und Regisseuren zunehmend historische Narrationen, die (geradezu angestrengt) vom historischen Geschehen weg und hin zu sehr intimen Zeichnungen von Figuren blicken: Lutz Seiler, Mawil und Clemens Meyer erzählen vor allem Freundschaftsgeschichten, Dichotomien von Anpassung und Widerstand in der DDR haben in diesen Erinnerungsszenarien kaum noch eine Funktion.7 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es im Zuge dieser Entwicklung zu einer Neubewertung vom Leben in der Diktatur gekommen ist, ob das Kapitel der »Aufklärung« über die DDR-Verhältnisse bereits abgeschlossen ist oder ob die faktuale DDR-Geschichte als ostdeutsche Regionalgeschichte betrachtet wird, die in einer Betonung der deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten – auch in der Vergangenheit – marginalisiert werden könnte. In schulischen Bildungskontexten können zum Thema literarische (und kulturelle) DDR-Erinnerung zwei weitere interessante Entwicklungen festgestellt werden: 5 Als wir träumten (Dresen, 2015) ist aktueller Wettbewerbsfilm auf der Berlinale 2015 und basiert auf dem vielbeachteten Debütroman Als wir träumten von Clemens Meyer (2006). 6 Erinnerung ist hier kaum noch auf ein realhistorisches Erinnern bezogen. Andreas Dresen, ostdeutsch sozialisierter Filmregisseur, konstatiert so beispielsweise für den breit rezipierten Film »Das Leben der Anderen« »[…] mit der DDR [hat das] so viel zu tun wie Hollywood mit Hoyerswerda.« (Dresen, Andreas: ›Der falsche Kino-Osten. Das Filmerbe der DDR wird vergessen oder verspottet und ihre Geschichte häufig vereinfacht. Brauchen wir neue Bilder? ‹, in: DIE ZEIT 2009/17, verfügbar unter http://www.zeit.de/2009/17/Dresen/seite-3 [letzter Zugriff: 29. 01. 2015]. 7 Roland Jahn, Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen, hat in seinem persönlichen Buch zur Erinnerung an die DDR betont, dass die übliche voreilige Einteilung in Widerstand und Anpassung dem Leben in DDR nicht gerecht werde, da es »keine allgemein gültige Norm über das richtige Verhalten in einer Diktatur« gebe. (Jahn, Roland: Wir Angepassten. Überleben in der DDR. München 2014.)
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Wenn die DDR überhaupt zum Thema gemacht wird, wird sich vor allem auf Literatur und Medien aus der Zeit der DDR konzentriert,8 weniger auf die aktuellen preisgekrönten Formen der DDR-Erinnerung und damit auf den dort angebotenen interpretativen (ästhetischen) Spielraum, den die fiktionalen Narrationen zur jüngsten Vergangenheit gegenüber den faktualen bietet. Aus diesem Grund und aufgrund des wachsenden Abstandes zu diesem Teil der jüngsten Vergangenheit wendet sich dieser Band explizit den narrativen Inszenierungen von DDR- Erinnerung nach 1990 zu. Darüber hinaus bleiben die angedeuteten neuen Formen des Erinnerns gegenüber den Paradigmen der Aufklärung oder Aufarbeitung der »historischen Wahrheit« in Bildungskontexten im Hintergrund.9 Diese Einseitigkeit ist aus verschiedenen Gründen zu hinterfragen: Zum einen scheint dieser Erinnerungsweg gleichgesetzt zu sein mit einem psychologisch inspirierten Denkmodell, das Erinnern als Weg zur Heilung verklärt (Freud); zum anderen entspricht es nicht den Aufgaben literarischen und kulturellen Lernens, historisches Wissen zu fundieren. Folgt man fachdidaktischen Ansätzen zur literarischen Bildung aus den letzten Jahren, geht es in der Auseinandersetzung mit (DDR-)Vergangenheit vielmehr um eine »philosophierend-fragende Denkbemühung«,10 um Generationenverständigung,11 um Empathieschulung12 sowie um die Verbindung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis.13 Viele dieser genannten Ziele beziehen sich auf literarisches Lernen zum Thema Nationalsozialismus, der in (bildungs-) institutioneller Ebene die Erinnerungskultur weiterhin dominiert. Angesichts seiner weltweiten Folgen und seiner besonderen Bedeutung für die ethische Bildung (Holocaust) bleibt jedoch unklar, welche (andere?) Funktion DDR-Erinnerung in Bildungskontexten für heutige (Nachwende-) Generationen überhaupt einnehmen kann. Schließlich gehört zum erfolgreichen Prozess des nation building auch die Durchsetzung
8 Das lassen die Aussagen der Lehrerinnen und Lehrer in der empirischen Studie von Führer, 2013 (ausführlicher dazu Kapitel 5) ebenso vermuten wie die didaktische Fachliteratur, so lautet beispielsweise der Untertitel zum Heft 4/2014 von Der Deutschunterricht zum Thema Was bleibt? »Erinnerungen an die DDR-Literatur«. Dementsprechend fokussiert die Mehrzahl der Beiträge Literatur aus oder Autoren aus der DDR und deren Wirkung(-sgeschichte). Einzige Ausnahme bildet ein Beitrag von Walter Erhart zu Das Leben der Anderen, der die Nutzung des Films als historisches Dokument im Geschichts- und Deutschunterricht problematisiert. Zwischen DDR-Erinnerungsliteratur (und -medien) und dem Erinnern an DDR-Literatur wird im Heft demnach keine explizite Trennung vorgenommen. 9 Vgl. dazu die empirische Lehrerstudie von Führer, 2013 sowie die Schülerstudien von Schroeder, 2012 und Schroeder-Deutz/Schroeder 2008. 10 Köster 2001, S. 207. 11 Vgl. Birkmeyer 2011. 12 Spinner 2006. 13 Hoffmann 2011.
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einer »hegemonialen gesamtdeutschen Sicht«14 – mit der Wiederherstellung der Nation durch die Wiedervereinigung steht daher die Frage im Raum, ob im historischen Gedächtnis für den SED-Staat überhaupt ein so vielschichtiger und reflektierter Umgang initiiert werden muss, wie das für den Nationalsozialismus angestrebt und (zumindest in nationalen Bildungskontexten) bisher auch erreicht wurde. Der Band spürt diesen Fragen anhand der aktuellen Gedächtnisperspektiven und narrativen Modelle zur DDR in literarischen und kulturellen Bildungskontexten nach und setzt dabei die im Folgenden explizierten Schwerpunkte.
I
Kulturen der Erinnerung
Welche Momente und Narrative zur Vergangenheit als erinnerungswürdig gelten, unterliegt einem ständigen Aushandlungsprozess. Im Schwerpunkt »Kulturen der Erinnerung« sollen daher aus der Sicht unterschiedlicher Forschungsdisziplinen und -ansätze Formen und Funktionen eines Erinnerns an die DDR in kulturellen Bildungskontexten vorgestellt werden. In allen (nationalen und internationalen) Erinnerungskulturen bedeutet Erinnern auch Identitätsbildung. Kaspar H. SPINNER betont, dass in modernen Gesellschaften statt von einer kollektiven Identitätsbildung von heterogenen und in sich differenzierten Gedächtniskonstruktionen auszugehen sei. Der literarische Rezeptionsprozess halte hier zu (Selbst-) Reflexion dieser Identitäten an und biete in fragmentarisierten Lebenswelten durch narrative Vorgaben sogar Orientierungsmöglichkeiten. Der Schule kommt dabei bezogen auf die DDRErinnerung als Vermittlerin von kulturellem Gedächtnis eine verstärkte Bedeutung und Verantwortung zu. Denn es geht um die Frage, welches Wissen und welche Vorstellungen von der DDR Schülerinnen und Schülern vermittelt werden sollen. Das ist eine normative Frage, die sich z. B. auf die Textauswahl im Literaturunterricht und auch auf das methodische Vorgehen bezieht. In Anlehnung an das erzähltheroretische Modell von Präfiguration, Konfiguration und Refiguration15 zeigt Spinner, welche Aspekte bei der Textauswahl zur DDRErinnerungsliteratur leitend sein können und schlägt vor, Utopie und Utopieverlust als Aspekt einer literarischen Erinnerungskultur in den Vordergrund zu rücken. Juliane KÖSTER fragt, welche Funktion die Auseinandersetzung mit der DDR für heutige (im wiedervereinigten Deutschland geborene) Schülerinnen und Schüler im Literaturunterricht noch einnehmen kann. Daher stellt sie zunächst 14 Kreckel 2004, S. 21. 15 Nünnig 2007, S. 55.
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unterschiedliche (Nachwende-)Perspektiven auf das Zusammenwachsen von »Ost« und »West« einander gegenüber und fordert davon ausgehend, diese Unterschiede nicht zu ignorieren oder zu marginalisieren, sondern sie jenseits der gängigen Klischees wahrzunehmen. Um den Erfahrungshorizont der Beteiligten zu erweitern und Interesse aneinander und an der unterschiedlichen Geschichte der beiden deutschen Staaten zu wecken, verweist Köster auf das Potential von Spielprozessen im Rahmen einer solchen DDR-Erinnerungsarbeit. Erinnerungskulturelles Lernen kann so Begegnungsräume schaffen, in denen alltägliche Lebenswirklichkeit und historisch gesichertes Wissen (aus dem historischen Lernen) aufeinandertreffen. Durch die Verknüpfung lebensgeschichtlicher Perspektiven mit Diktaturgeschichte lässt sich oftmals ein Erkenntnisprozess in Gang setzen, der Geschichtsbewusstsein fördert.16 (Auto-) Biografisches Erinnern, vor allem auch zu Kindheit und Jugend, spielt dabei in der gegenwärtigen Erinnerungsliteratur eine besondere Rolle.17 Der Beitrag von Ute DETTMAR geht aus diesen Gründen dem besonderen Verhältnis von Erinnerung und Kindsein nach. Dazu präsentiert sie aktuelle erinnerungskulturelle und generationelle Selbstbeschreibungen von Kindheit zur politischen »Wende« und stellt diese dem Erinnern an Kindsein in der konventionellen Kinder- und Jugendliteratur gegenüber. Sie stellt fest, dass in All Age- Texten (Kindheits-) Narrationen vor allem durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet sind, sich »authentisch« zu erinnern, während in der Kinderliteratur über eine kindliche Erzählperspektive zunächst erst einmal Wissen zur Vergangenheit zugänglich gemacht wird. Die Möglichkeiten kinderund besonders jugendliterarischen Erzählens weiten sich dabei jedoch zunehmend aus, so werde beispielsweise in Texten wie Tonspur von Hintze/Kronen die erinnerte Kindheit und Jugend bei aller Nähe zum Erleben nun auch durch Erzählinstanzen vermittelt. Hierin sieht Dettmar, wie auch in den Kindheitserinnerungen der All Age- Literatur, Potentiale des kindlichen Erinnerns, indem individuelle Erinnerung in das »Generationengedächtnis« eingebunden wird und in der Kommunikation dieser Erfahrungen als Beitrag zum kommunikativen Gedächtnis angelegt ist. Die Historikerin Juliane BRAUER beleuchtet aus Sicht der Forschungsdisziplin zur »Geschichte der Gefühle« am Max-Plank-Institut für Bildungsforschung die Bedeutung von Emotionen für die Erinnerung, die besonders symptomatisch für den politischen, kulturellen und individuellen Umgang mit der Geschichte der DDR in Deutschland sind. Brauer betont, dass sich Emotionen 16 Martin Sabrow im Vortrag »Warum DDR-Geschichte im Unterricht?« zur Konferenz Meine, Deine, Unsere Geschichte? Friedliche Revolution und Deutsche Einheit in der schulischen und außerschulischen Bildung am 31. 10. 2008 in Berlin. 17 Gansel 2010, S. 30.
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verändern und als Gestaltungsfaktoren in den Fluß der (historischen) Ereignisse eingreifen. Die Gesellschaft lege fest, was ein akzeptabler emotionaler Ausdruck sei, welche Emotionen gezeigt werden dürfen und welche sanktioniert werden. Genau diese Frage stehe im Brennpunkt der Erinnerungen an die DDR, denn die Frage nach dem »richtigen« oder »falschen« Gefühl sei bis heute moralisch aufgeladen (parallel zur Diskussion nach dem richtigen Leben und dem falschen Leben). Der Beitrag fokussiert daher den Deutungskonflikt um die »richtigen« DDR-Gefühle. Dabei geht es zum einen um den Zusammenhang von Erinnerung, Emotion und Gedächtnis, zum anderen um die Frage, warum der Konflikt um Gefühle kein lösbarer und die Wiedererlebbarkeit des Mauerfalls in der derzeitigen Gedenkkultur eine Illusion ist. Camilla BADSTÜBNER-KIZIK lenkt die Aufmerksamkeit auf ein im Rahmen erinnerungskulturellen Lernens bisher ebenfalls wenig beachtetes Thema: die Musik. Im ersten Teil des Beitrages wird das komplexe und vielschichtige Verhältnis zwischen ›Musik‹ und ›DDR‹ aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Formulierung ›Musik in der DDR‹ am besten geeignet ist, um die spezifische Konditionierung musikbezogener Verhaltensweisen innerhalb des räumlich und zeitlich begrenzten Rahmens ›DDR‹ ansatzweise zu erfassen. Anschließend wird vor dem Hintergrund altersund situationsgebundener Rezeptions-, Erlebnis- und Wirkungsweisen diskutiert, wie musikbezogene Erinnerungen entstehen und ggf. prägend werden. Ihre Spezifik besteht nicht zuletzt in starker Individualisierung, Emotionsgeladenheit und situativer Bindung, dies bedingt eine enorme Ausdifferenzierung musikbezogener Erinnerungen. Aus didaktischer Perspektive muss es einerseits darum gehen, Zugang zu dem zeitlich und territorial abgeschlossenen ›musikalischen Aktions- und Erlebnisraum DDR‹ zu ermöglichen; andererseits ist das Erinnerungspotenzial von Musik zu reflektieren, also die Frage, was warum erinnert wird. In diesem Kontext werden mögliche Auswahlkriterien für didaktisch potente musikalische Erinnerungsorte diskutiert und abschließend auf das breite methodische Instrumentarium verwiesen, das über Empathiebildung, Kontextualisierung und die Arbeit in plurimedialen Medienverbünden erschlossen werden kann.
II
Räume der Erinnerung
Die Erinnerung, die beständig »[…] der Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung […]«18 ausgesetzt ist, ist ein mit Orten (und Räumen) eng verbundener Prozess. In Erinnerungsräumen werden Vergangenheit und Ge18 Assmann 2010, S. 29.
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genwart miteinander verbunden, nach der Definition von Aleida Assmann sind Erinnerungsorte »zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten kollektiven Gedächtnisses; sie halten materielle Relikte, jedoch keine Erzählungen und Bedeutungen fest […].«19 Die Relation zwischen Erinnerung und Raum ist dabei dynamisch, Literatur kann dies einfangen, indem sie zum Relikt des Raumes »Erzählungen und Bedeutungen« entfaltet. Im Folgenden vertiefen drei Beiträge aus unterschiedlichen (literarischen) Raumszenarien das Thema »Raum« in der Erinnerungskultur, um Bedeutungen ebenso wie Verformungen und Entstellungen postsozialistischer Erinnerungsräume in Ostdeutschland, Polen und Tschechien zu beschreiben. Der erste Beitrag von Barbara SCHUBERT-FELMY strebt eine Sensibilisierung für Fragen nach kognitiver Relevanz und Strukturierung räumlicher Information mit Hilfe der kulturanalytischen Kategorie des Chronotopos20 an. Anhand von Analysen zu Jakob Heins Mein erstes T-Shirt zeigt SchubertFelmy, dass der Autor dem »Chronotopos«, dem »Zeit-Ort« des dargestellten Lebens der DDR, nicht verhaftet ist, aber die Auswirkungen auf sich und seine Rezipienten als erinnerungswürdig erachtet. Die DDR sei hier ein denkwürdiger Erinnerungsort, in dem man sich geistig-seelisch in Bewegung setzen müsse. Monika BARWINSKA nimmt den Raum aus Sicht polnischer Gegenwartsprosa in den Blick, denn auch hier kehrt das Motiv Sozialismus immer wieder. Zu den Werken, in denen postsozialistische Erinnerungsräume zu Wort kommen, gehört das 2009 erschienene Buch Sandberg von Joanna Bator, der Preisträgerin des Nike-Literaturpreises. Bei Sandberg handelt es sich um eine geheimnisvolle Familiengeschichte, in der Frauen aus drei Generationen versuchen – so gut es geht – ihr Leben in der Volksrepublik Polen zu führen. Der Beitrag stellt der erinnerungskulturellen literarischen Außenperspektive aus dem Nachbarland den Turm von Uwe Tellkamp gegenüber. Der Roman, in dessen Vordergrund ebenfalls eine Familiengeschichte im realexistierenden Sozialismus steht, wird vergleichend auf städtische Raumkonstruktionen hin untersucht. Rainette LANGE vom Zentrum für Zeithistorische Forschung behandelt das Thema aus komparatistischer Perspektive und vergleicht die Darstellung der Wende- und Nach-Wendezeit in sozialistischen (ostdeutschen und tschechischen) Planstädten anhand der Romane Mit der Geschwindigkeit des Sommers von Julia Schoch und Strzˇci obcˇansk¦ho dobra – Die Hüter des Gemeinwohls 19 Assmann 1996, S. 16. 20 Der Begriff des »Chronotopos’« geht auf Michail Bachtin zurück und charakterisiert den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung (vgl. Bachtin, Michael: Chronotopos. Frankfurt am Main 2008.).
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von Petra Hu˚lov. Beide Texte rücken die Sicht von Frauen auf die Gesellschaftstransformation ins Zentrum und problematisieren Formen des Umgangs mit dem »Erbe des Kommunismus.«
III
Akteure der Erinnerung
In den unter diesem Schwerpunkt versammelten Beiträgen wird aus unterschiedlichen institutionellen und künstlerischen Perspektiven die Frage gestellt, welche Entwicklungen postsozialistischer Erinnerungskultur es in literarischen und kulturellen (Bildungs-) Kontexten gegenwärtig tatsächlich gibt. Aktuelle Einblicke in Schule, Literaturhaus, Gedenkstätten sowie Autoren- und Theaterarbeit zeigen exemplarisch Chancen und Grenzen der eingangs beschriebenen narrativen DDR-Erinnerungskultur auf und deuten an, welche (narrativen) Strukturen zum Realsozialismus in der literarischen und kulturellen Bildungslandschaft zukunftsfähig sein könnten. Dabei können die Beiträge auch deutlich machen, dass Wissen oder der Mangel an Faktenwissen zur DDR eine ungeordnete Kategorie in diesem Lernprozess ist und vielleicht auch sein sollte. Denn historische Bildung unterläge damit dem (im 21. Jahrhundert) doch recht kurzgreifenden Gedanken einer »Aufarbeitung«, also einer Abschüttelung der Vergangenheit durch Wissen über die Vergangenheit, die Vergangenheitsvergegenwärtigung als Weg zur Gesundung inszeniert. Mit Blick auf die Institution Schule zeigen Jeanette HOFFMANN und Diane LANG anhand von Analysen aus einer qualitativ-empirischen Rezeptionsstudie zum Deutschunterricht einer siebten Klasse, welche Herausforderungen die Erinnerung an die DDR-Vergangenheit an die Rezeption der autobiografischen Graphic Novel drüben! von Simon Schwartz durch Heranwachsende stellt. Hierbei wird das Zusammenspiel von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis ebenso reflektiert wie das Verhältnis von Text und Bild. Zudem verweisen die Beiträgerinnen auf das Lernpotential gemeinsamer Vorlesesituationen.21 Carola S. RUDNICK verdeutlicht aus der Sicht der Gedenkstättenpädagogik, vor welchen Herausforderungen das Erinnern in Gedenkstätten, die sich mit den ostdeutschen Vergangenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg befassen, nach 1990 stand. So kann eine museale und pädagogische Professionalisierung der DDR-Gedenkstätten zwar bereits im Zuge ihres Aufbaus vorausgesetzt werden, dennoch, so argumentiert Rudnick, war die Erinnerungskultur in (ostdeutschen) Gedenkstätten lange Zeit von der Narration der Opfer der 21 Zum didaktischen Potential von Graphic Novels als Erinnerungsliteratur findet sich in diesem Band im Kapitel Didaktische Impulse ein Beitrag von der Herausgeberin.
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kommunistischen SED-Diktatur geprägt, zugunsten derer die dazu konträr verlaufenden Positionen geglättet wurden. Sabine MÄHNE, Leiterin des europaweit einzigen Literaturhauses für Kinder und Jugendliche in Berlin, fragt nach Bedeutung (und Belanglosigkeit) des Erinnerns an DDR-Bilder-, Kinder- und Jugendbücher für die Programmatik von LesArt sowie der Rolle des aktuellen Buchmarktes, dem alten Buchbestand und individuellen Lektüreerfahrungen in diesem Prozess. Anhand von Beispielen aus der 25-jährigen postsozialistischen Veranstaltungspraxis werden dabei literarische Motive, Themen und ästhetische Mittel ostund westdeutscher Kinder- und Jugendbücher miteinander verglichen. Dieser Perspektive der Koordination und Kooperation kinder- und jugendliterarischer Aktivitäten wird in einem Interview mit der Autorin und Illustratorin Nadia BUDDE eine Innenperspektive zum bildliterarischen Erinnern gegenübergestellt. In der Reflexion Ihres mehrfach preisgekrönten Werkes Such dir was aus, aber beeil dich!, in dem sie ihre Kindheitserfahrungen in der DDR der 60er und 70er Jahre in sehr persönlicher und sinnlicher Art und Weise verarbeitet hat, kann ersichtlich werden, was ein implizites Erinnern gegenüber einer aufarbeitenden Erinnerung leisten kann. Ebenfalls eine künstlerische Innenperspektive bietet der letzte Beitrag in diesem Schwerpunkt zum ästhetisch-theatralen Erinnern von DDR-Zeitzeugen im sogenannten dokumentarischen Theater. Dazu wurde ein Interview mit Clemens BECHTEL, Regisseur und Autor von Staats-Sicherheiten, Meine Akte und ich und Im Namen des Volkes geführt. Bechtel hebt darin hervor, dass der Live-Charakter im Theater eine emotionale und unmittelbare Beteiligung der Zuschauer am (Erinnerungs-) Geschehen auf der Bühne ermögliche und zudem als Spielraum den mitwirkenden Zeitzeugen einen neuen, anderen Umgang mit den eigenen Erfahrungen biete.22
IV
Didaktische Impulse zur Erinnerung (-skultur)
Den Abschluss des Bandes bilden Beiträge, die durch konkrete didaktische Impulse zu DDR-Erinnerungskulturen Anregungen für einen medial vielfältigen geisteswissenschaftlichen Unterricht in unterschiedliche Altersgruppen geben wollen. 22 Zum einen werden die Erinnerungen nun mit anderen Mitgliedern des Ensembles geteilt, die wiederum ihre Geschichte mit einbringen; zum anderen werden die eigenen Erfahrungen Gegenstand eines »Spiels«, sie rücken dadurch in eine Distanz, man kann sie unter neuen und anderen Gesichtspunkten betrachten, sie relativieren, sie einordnen, sie neu begreifen. So wird das Theater – aus der Sicht des Regisseurs – für Mitwirkende und für Zuschauer zu einem Ort, der auf spezifische Weise eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung mit Erinnerung einnehmen kann.
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Bewusst werden hierbei Ideen von der Primar- bis zur Sekundarstufe II vorgestellt, da Geschichtsbewusstsein und Geschichtsverständnis bereits im Grundschulalter zu entwickeln sind23 und derzeitige curriculare Praktiken einer späten (oder nicht vorhandenen) Auseinandersetzung mit der DDR im Unterricht (zumeist am Ende der Sekundarstufe I) hinterfragt werden sollen. Trotz des Anspruches der im schulischen Kontext stattfindenden Kompetenzorientierung, auf andere Bereiche transferierbar zu sein, ist es im Hinblick auf Historie zwischen den unterschiedlichen Fachdidaktiken unter der Betonung der Domänenspezifik bisher zu keinerlei Austausch gekommen. Dies wird offensichtlich, wenn man beispielsweise die Entwicklungen in der Geschichtsdidaktik und der Deutschdidaktik vergleichend gegenüberstellt. Die Geschichtsdidaktik hat im Rahmen der Kompetenzorientierung narrative Kompetenz, also die Fähigkeit, Geschichte denken und erzählen zu können, als grundlegende Kompetenz historischen Denkens benannt.24 Die Nähe zu den Kompetenzmodellierungen im Deutschunterricht wird im fachdidaktischen Diskurs erst langsam mit Beginn der Diskussionen um das Verhältnis von Wissen und Kompetenz erkannt, in dessen Ergebnis konkrete Narrationen von (Kultur-) Historie für die Wissenssicherung wiederentdeckt werden.25 Aus diesem Grund sei an dieser Stelle auf einige grundlegende theoretische Verbindungen des geschichtsdidaktischen Geschichtsbewusstseins-Modells (nach Pandel 2005) zu deutschdidaktischen Modellierungen literarischen Lernens (nach Eggert 2006 und Spinner 2006) hingewiesen:26
23 Ausführlicher dazu: Beilner, Helmut: › Zum Zeitbewusstsein bei Grundschulabgängern. Fähigkeiten und Strategien zur zeitlichen Ordnung geschichtlicher Sachverhalte‹, in: Schreiber, Waltraud (Hg.): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht an Europas Schulen. Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt. Tagungsband, Neuried 2000, S. 153–194. sowie Bergmann, Klaus und Rohrbach, Rita (Hg.): Kinder entdecken Geschichte. Theorie und Praxis historischen Lernens in der Grundschule und im frühen Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2001. 24 Martens 2010, S. 63. 25 Ausführlicher dazu Führer, 2013, S. 98f. sowie Fingerhut, Karlheinz: ›Literaturgeschichte im Unterricht als Kulturgeschichte‹, in: Kämper-van den Boogaart, Michael/ Spinner, Kaspar H.(Hg.): Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Bd. 11.3: Lese- und Literaturunterricht. Erfolgskontrollen und Leistungsmessung. Exemplarische Unterrichtsmodelle. Baltmannsweiler 2010, S. 255–293. 26 Dabei handelt es sich keineswegs um eine vollständige Übertragung, da die Autoren selbst (v. a. Spinner (2006) nur einzelne Aspekte und nicht das gesamte Spektrum des im Unterricht zu Lernenden aufzeigen wollen.
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Und keiner ist (mehr) dabei gewesen
Pandel (2005) Gattungskompetenz
Eggert (2006) Gattungswissen
Spinner (2006) Prototypische Vorstellungen von Gattungen gewinnen
Interpretations- Kontextualisierung, Fähigkeit, verschiedene Textstellen zueinander kompetenz kulturelles Wissen in Beziehung zu setzen; verschiedene Ausdrucksweisen verstehen; Berücksichtigung von Erzählweisen und Perspektivierungen durch den Erzähler etc. Narrative Beim Lesen und Hören Vorstellungen entwiKompetenz ckeln Geschichtskulturelle Kompetenz
Rezeptionsgenuss Literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln zwischen Reflexion und Involviertheit
Der Vergleich, der hier nur angedeutet werden kann, zeigt eine Kommunikationsbasis hinsichtlich der Erlangung historischer Kompetenz in kulturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Kontexten auf, auch wenn die Modellierung von Kompetenzen im Bereich literarischen Lernens nur wenig vorangeschritten ist und mithin kritisch zu hinterfragen ist. Historisches Lernen (hier speziell zur DDR) einem derzeit kritisch-rekonstruierenden Geschichtsunterricht zu überlassen, ist daher nicht nur angesichts der Forderungen eines fächerverbindenden Unterrichts eine problematische Auslagerung seitens der sprachlichen Fächer. Die in diesem Schwerpunkt folgenden Beiträge versuchen daher, der beschriebenen Domänenspezifik bewusst entgegenzutreten und der starken formalen Standardisierung der Didaktik auch (wieder) eine inhaltliche Orientierung an die Seite zu stellen. Als Teil der Geschichtskultur und als Medium der Entwicklung einer narrativen historischen Kompetenz sind Bilderbücher bisher kaum berücksichtigt worden. Als visuelle Geschichtserzählungen können sie jedoch zum Aufbau und zur Förderung vielfältiger historischer Kompetenzen beitragen: Empathie-, Imaginations-, Abstraktions- und Kritikfähigkeit sowie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel.27 Alexandra RITTER und Mario ZEHE bieten daher in ihrem Beitrag Vorschläge und Anregungen zum Umgang mit Bilderbüchern zur (nicht aus der) DDR-Geschichte an. Dazu stellen sie aktuelle Bilderbücher über die DDR vor, die geschichtsdidaktisch systematisiert und anhand des LeporelloBuchs Das langgestreckte Wunder von Thomas Rosenlöcher und Jacky Gleich (2006) für die Primar- und Sekundarstufe didaktisch erschlossen werden. Ebenfalls mit Kinderliteratur, jedoch mit Blick auf das (oft vernachlässigte Genre) Sachbuch, beschäftigt sich der Beitrag von Kirsten KUMSCHLIES. Kumschlies geht auf die Bedeutung und Auswahl von Kindersachbüchern für 27 Vgl. Pape 2007, S. 351.
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kulturelles und historisches Lernen ein, um ausgehend davon einen Vorschlag zur szenischen Interpretation der Kinderreportage Fritzi war dabei. Eine Wendewundergeschichte unter Einbezug des Kindersachbuchs Die Mauer ist gefallen zu entwickeln. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt damit in der von Köster im Kapitel Kulturen der Erinnerung eingeforderten Verbindung von Erinnerung und Spiel für Schülerinnen und Schüler im Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe. Maria BECKER präsentiert mit Habe ich dir eigentlich schon erzählt… Ein Märchen für alle. ein didaktisch bisher noch wenig erschlossenes Jugendbuches zur DDR. Im Fokus des Beitrags stehen die inhaltliche und formale Gestaltung dieses Romans und deren Potential für den Literaturunterricht der Sekundarstufe I. Becker verweist hier besonders auf die im Hinblick auf jugendliterarische Inszenierungen von DDR-Geschichte unkonventionellen Narrationsstrukturen: die märchenhafte Verdichtung der Handlung oder die Einbindung von Symbolen und Elementen des Roadmovies als Mittel der Beschreibung von Wirklichkeits- und Republikflucht, von Selbstbestimmung und Abgrenzung. Im Zentrum des Beitrags der Herausgeberin steht die Frage, wie GeschichtsComics und Graphic Novels genutzt werden können, um Schülerinnen und Schülern nicht nur faktuales Wissen über die DDR zu vermitteln. Dazu gehe ich unter Bezugnahme auf den Beitrag von Brauer in diesem Band auf Gefühlsausdrücke in der Zeichensprache ausgewählter Comics zur DDR ein. Denn der Gedanke, dass ein Zeichen ein Gefühl oder eine Empfindung hervorrufen kann, ist besonders für die Comic-Kunst von grundlegender Bedeutung. Anhand der Comics drüben! und Kinderland wird analysiert, wie die unsichtbare Welt der Gefühle in der Symbolsprache des jeweiligen Comics verankert ist. Die große Bedeutung der Gegenwartsliteratur für die literarische Sozialisation (von Schülerinnen und Schülern) gilt mittlerweile – nach jahrzehntelanger Diskussion28 – als »unbestreitbares Faktum.« Susanne B. BACH legt daher den Fokus ihres Beitrages auf Texte zur DDR in der Gegenwartsprosa nach 1989. Die Auswahl der Texte konzentriert sich dabei auf unterschiedliche künstlerische Verarbeitungen des Themas »Schule in der DDR«; einerseits, um an die Erfahrungen der Lernenden im eigenen Alltag anschließen zu können, andererseits um Denkanstöße zur Auseinandersetzung mit jüngster Gegenwart und aktueller (eigener) Lebenswelt zu ermöglichen.29 Nadine J. SCHMIDT verweist darauf, dass der Begriff »Lyrik der DDR« aus literaturwissenschaftlicher Perspektive eine formelhafte Konstruktion sei und bereits vor der politisch-gesellschaftlichen Umbruchsituation 1989/1990 problematisch geworden war. So existiere in den 1990er Jahren die DDR-Lyrik in 28 Vgl. Kammler 2002, S. 166–171. 29 Vgl. hierzu Kortes Überlegungen zur literarischen Kanonbildung (Korte 2002).
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einem »virtuellen, posthistorischen Raum weiter und bildet ein klar konturierbares Segment«30 innerhalb der lyrischen Produktion der ehemaligen DDR. Schmidt entwickelt davon ausgehend eine Unterrichtsreihe für den Deutschunterricht der Oberstufe, in der die von Köster im ersten Schwerpunkt des Bandes geforderte Perspektivenübernahme und das Reflektieren retrospektiv bearbeiteter literarischer Erinnerungsräume im Mittelpunkt steht. Didaktischmethodisch orientiert sich Schmidt an analytischen Verfahren; die Schülerinnen und Schüler sollen lyrische Texte hierbei insbesondere als ein Medium individueller und kollektiver Erinnerungsarbeit kennenlernen. Filme wie Sonnenallee (Haußmann 1999), Good bye, Lenin! (Becker 2003), NVA (Haußmann 2005), Boxhagener Platz (Geschonnek 2010) oder Bornholmer Straße (Schwochow 2014) sind populäre Beispiele für einen Teil des medialen Erinnerungsdiskurses zur DDR und zur Wende, die sich durch einen dezidiert komödiantischen Umgang mit der jüngsten Zeitgeschichte auszeichnen. Susanne DROGI fragt in ihrem didaktischen Entwurf nach der Funktion des Humors für das (kindliche und jugendliche) Verständnis und Interesse an der DDRGeschichte. Dazu lotet sie ausführlich das didaktische Potential von Sputnik (Dietrich 2013), dem ersten Kinofilm zur Wende für Kinder, aus. Die Zeithistorikerin Sabine MOLLER und die Filmwissenschaftlerin Bettina HENZLER heben hervor, dass Filme Vorstellungen von Herrschaft und Alltag in der DDR bebildern und ganze Drehbücher und Pointen für die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte oder für einen Bericht über einen fremden, »lange« untergegangenen Staat liefern können. Der Beitrag setzt an dieser Stelle an, indem er am Beispiel von Christian Petzolds Barbara sowohl dem Film als auch dem Geschichtsbewusstsein der Zuschauer größeren Stellenwert beimisst. Im ersten Teil des Beitrags werden daher die ästhetische und dramaturgische Gestaltung des Films analysiert und nach der Position zur Geschichte befragt, die dadurch formuliert und vermittelt wird. Vom Film ausgehend werden Anschlussmöglichkeiten zu historischen und kulturgeschichtlichen Kontexten aufgezeigt. Der zweite Teil fokussiert auf die Rezeptions- und Produktionskontexte und zeigt Wege und Möglichkeiten auf, wie sich der Film sowohl zum Geschichtsbewusstsein der Zuschauer öffnen als auch im weiteren Kontext der öffentlichen Erinnerung an die DDR verorten lässt. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen herzlich, die sich mit Ihren Beiträgen auf diese »andere deutsche Erinnerung« eingelassen haben und so dazu beitragen, die Diskussion zum (bildungsinstitutionellen Umgang mit dem) Postsozialismus in Gang zu halten. Der Band fragt durch Sie nach Tendenzen einer anderen deutschen Erinne30 Korte 2004, S. 66.
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rung auf inhaltlicher, struktureller und didaktischer Ebene. Inhaltliche Alterität bedeutet hier, sich jenseits historischer Großdeutungen31 zu bewegen: global in Hinblick auf die Meistererzählung des Nationalsozialismus und national hinsichtlich einer deutsch-deutschen Teilungsgeschichte, in der die ostdeutsche Perspektive marginalisiert oder als Diktaturgeschichte stereotypisiert wird. Strukturell anders ist dieses Erinnern in dem Sinne, als dass sich im Erinnern an die DDR auf die Jahre nach 1990 beschränkt wird und es damit explizit um einen fiktionalisierten Sozialismus geht. Und schließlich ist der hier geführte Diskurs auch in seiner Rezipientenausrichtung andersartig: er öffnet Leserinnen und Lesern hoffentlich den Blick für (scheinbare) Peripherien kulturellen und literarischen Lernens: Musik, Gedenkstättenpädagogik, Emotionsgeschichte und andere postsozialistische Literaturen. Carolin Führer, Dresden und Wuppertal 2015
Ausgewählte Primärliteratur und Filme Bator, Joanna: Sandberg. Berlin 2012. Becker, Wolfgang: Good Bye, Lenin! 121 min. Deutschland 2003. Berg, Sibylle: Hab ich dir eigentlich schon erzählt…Ein Märchen für alle. Köln 2006. Budde, Naddia: Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in 10 Kapiteln. Frankfurt am Main 2009. Buddenberg, Susanne/Henseler, Thomas: Grenzfall. Berlin 2011. Dietrich, Markus: Sputnik, 83 min. Deutschland 2013. Dresen, Andreas: Als wir träumten, 117 min. Deutschland 2015. Fritzsche, Susanne: Die Mauer ist gefallen. Eine kleine Geschichte der DDR. München 2014. Henkel von Donnersmark, Florian: Das Leben der Anderen, 137 min. Deutschland 2006. Hintze, Olaf/ Susanne Krones: Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ. München 2014. Mawil: Kinderland. Berlin 2014. Meyer, Clemens: Als wir träumten. Frankfurt am Main 2006. Petzold, Christian: Barbara, 105 min. Deutschland 2012. Rosenlöcher, Thomas/Gleich, Jacky : Das langgestreckte Wunder. Rostock 2006. Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek bei Hamburg 2011. Richter, Peter : 89/90. München 2015. Seiler, Lutz: Kruso. Berlin 2014. Schoch, Julia: Mit der Geschwindigkeit des Sommers. München 2009. 31 Historische Großdeutungen nennt man in der Geschichtswissenschaft Meistererzählungen, die für eine bestimmte Zeit oder eine bestimmte historische Erzählperspektive leitend werden (vgl. Jarausch/Sabrow 2002).
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Schott, Hanna: Fritzi war dabei. Eine Wendewundergeschichte. Mit Bildern von Gerda Raidt. Leipzig 2009. Schwartz, Simon: drüben! München 2009. Tellkamp, Uwe: Der Turm. Frankfurt am Main 2008. Wolf, Christa: Was bleibt. Frankfurt am Main 2007.
Ausgewählte Sekundärliteratur Assmann, Aleida: ›Erinnerungsorte und Gedächtnislandschaften‹, in: Loewy, Hanno / Moltmann, Bernhard (Hg.): Erlebnis – Gedächtnis – Sinn: authentische und konstruierte Erinnerung, Frankfurt am Main, New York 1996, S. 13–30. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2010. Birkmeyer, Jens: ›Fakten und Fiktionen. Was vermag Literatur über den Holocaust im Unterricht?‹, in: Duitsland Instituut bij de Universiteit van Amsterdam (Hg.): Forschungsberichte (6) 2010 aus dem Duitsland Instituut Amsterdam. Amsterdam 2011, S. 108–125. Eggert, Hartmut: ›Literarische Texte und ihre Anforderungen an die Lesekompetenz.‹ , in: Hurrelmann, Bettina/Groeben, Norbert (Hgg.): Lesekompetenz. Bedingungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim, München 2006, S. 186–194. Führer, Carolin: Transformationen des Deutschunterrichtes. Interviewstudien zu Selbstkonzepten, Kultur- und Geschichtsbewusstsein in Ostdeutschland. Wiesbaden 2013. Gansel, Carsten/ Zimniak, Pawel (Hgg.): Das Prinzip der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010. Garbe, Christine/ Philipp, Maik/ Ohlsen, Nele: Lesesozialisation. Ein Arbeitsbuch für Lehramtsstudierende. Paderborn 2009. Hoffmann, Jeanette: Literarische Gespräche im interkulturellen Kontext. Eine qualitativempirische Studie zur Rezeption eines zeitgeschichtlichen Jugendromans von Schülerinnen und Schülern in Deutschland und in Polen. Münster u. a. 2011. Jarausch, Konrad H./ Sabrow. Martin (Hg.)Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002. Kammler, Clemens: ›Gegenwartsliteratur im Unterricht‹, in: Bogdal, Klaus-Michael / Korte, Herrmann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002, S. 166–176. Kammler, Clemens: ›Was bleiben sollte. DDR-Prosa im Deutschunterricht des 21. Jahrhunderts‹, in: Der Deutschunterricht 2014/04, S. 14–23. Korte, Herrmann: ›Historische Kanonforschung und Verfahren der Textauswahl‹, in: Bogdal, Klaus-Michael / Korte, Herrmann (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München 2002, S. 61–77. Korte, Hermann: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990er Jahre. Mit einer Auswahlbibliographie. Münster 2004. Köster, Juliane: Archive der Zukunft. Der Beitrag des Literaturunterrichts zur Auseinandersetzung mit Auschwitz. Augsburg 2001. Kreckel, Reinhard: ›Acht Thesen zum Stand historischer Reflexivität in Deutschland‹, in: Hüttmann, Jens/Mählert, Ulrich/Pasternack, Peer (Hg.): DDR-Geschichte vermitteln.
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Ansätze und Erfahrungen in Unterricht, Hochschullehre und politischer Bildung. Berlin 2004, S. 19–22. Martens, Matthias: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010. Nünning, Ansgar : ›Erinnerung – Erzählen – Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erzählforschung‹, in: Geppert, Hans Vilmar / Zapf, Hubert (Hrsg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band III. Tübingen 2007, S. 33–59. Pandel, Hans-Jürgen (Hg.): Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts. 2005. Pape, Monika: Entwicklung von Geschichtsbewusstsein im Hinblick auf die unterrichtspraktische Gestaltung historischer Themen im Sachunterricht. Hannover 2008. verfügbar unter http://www.fachportal-paedagogik.de/fis_bildung/suche/fis_set.html?FId=847940 [letzter Zugriff: 19. 12. 2014]. Sabrow, Martin: ›Die DDR zwischen Geschichte und Gedächtnis‹, in: Ernst, Christian (Hg.): Geschichte im Dialog. Schwalbach/Ts. 2014, S. 23–38. Schroeder, Klaus u. a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt/Main u. a. 2012. Schroeder-Deutz, Monika/Schroeder, Klaus: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Stamsried 2008. Spinner, Kaspar H.: ›Literarisches Lernen (Basisartikel)‹, in: Praxis Deutsch 2006/ 200.S. 6–17.
I Kulturen der Erinnerung
Kaspar H. Spinner
DDR-Erinnerung und Identität
Identitätsbildung ist ohne Erinnerung nicht denkbar. Im Erinnern schafft sich das Subjekt eine Gewissheit von Kontinuität für seine personale Identität; Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppen unterstützen ihre kollektive Identität durch Erinnerungskultur.1 Mit den folgenden Ausführungen sollen diese Zusammenhänge genauer erläutert und auf die Frage der DDR-Erinnerung im Literaturunterricht bezogen werden.
I
Erinnern – Erzählen – Identität
Der Zusammenhang von Erzählen und Identitätsbildung wird mit Nachdruck in der Narrationsforschung betont, die in den letzten Jahren fachübergreifend einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren hat. Sehr entschieden hat Ansgar Nünning den Identitätsaspekt herausgestellt: »Kurzum, der kulturgeschichtlichen Erzählforschung geht es um Erzählungen als Medium der Darstellung und Reflexion, der Modellierung und Konstruktion von Erinnerung und Identität.«2 Durch das Erzählen können »kontingente Wirklichkeitserfahrungen in sinnhafte Erinnerungen und stabile Identitätsvorstellungen transformiert werden«3, die auf der »Herstellung von biographischer Kontinuität und lebensweltlicher Kohärenz«4 beruhen. Das gilt sowohl für die Einordnung laufender Erlebnisse in den persönlichen Lebenszusammenhang als auch für die Erinnerung an weiter zurückliegende Erfahrungen. Auch kommunikativ vermittelte Wissensbestände wie Erzählungen anderer oder medial präsentierte Informationen zu früheren Verhältnissen können in die eigene Lebenserzählung aufgenommen werden. Die sinnstiftende Wirkung der Narration schließt ein, dass Erinnerung nicht nur als 1 2 3 4
Vgl. Erll 2003 und 2011. Nünning 2007, S. 56. Ebd., S. 54. Neumann 2005, S. 153.
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kognitives Wissen gefasst wird, sondern auch als »emotionales Bild«5 und so durch Imagination und Gefühlsbezug verankert wird. »Wissen« wird, wie Welzer sagt, zu »Gewissheit« (ebd.). Auch kollektive Identitätsbildung von sozialen Gruppen und von Völkern stützt sich wesentlich auf Erinnerungen, die erzählend ausgetauscht, niedergeschrieben, als Filme umgesetzt und als Denkmäler tradiert werden. Dabei ist kollektive Identität »sowohl ein Phänomen des kulturexpliziten als auch des kulturimpliziten Kollektivgedächtnisses«,6 sie kann also in einer bewussten Identifikation mit Erinnerungskultur bestehen, aber auch unbewusst Vorstellungsstrukturen beeinflussen.
II
Identitäten
In der wissenschaftlichen Diskussion um den Identitätsbegriff ist allerdings die Vorstellung einer »stabilen« Identität, wie sie von Nünning (vgl. das Zitat oben) angesprochen wird, umstritten. Beeinflusst von postmodernen und dekonstruktivistischen Positionen wird heute von Patchwork-Identität und Teilidentitäten, die für gegenwärtige Identitätserfahrungen kennzeichnend seien, gesprochen. In diesem Sinne hat die Zeitschrift »ide. informationen zur deutschdidaktik« 2013 ein Heft mit dem Titel »Identitäten« herausgebracht,7 wobei sich der Plural vor allem auf die personale Identitätserfahrung bezieht und nicht nur auf die Vielzahl nebeneinander existierender kollektiver Identitäten, wie im älteren Band von Assmann/Friese mit dem gleichen Titel.8 Aber auch kollektive Identität wird in neuen Publikationen zum Teil so verstanden, dass die Differenz, die durch die Abgrenzung gegenüber Fremdem erfahren wird, in das Innere der Identität verlagert wird. »An die Stelle der kollektiven Identität und des kollektiven Gedächtnisses rücken mithin heterogene und in sich differenzierte Gedächtniskonstruktionen, die einander überlagern und wechselseitig perspektivieren«.9 So können z. B. zugewanderte Herkunftsidentität und neues gesellschaftliches Umfeld nicht als Abgrenzung in die eine oder andere Richtung erfahren, sondern als dynamische Wechselbeziehung zwischen zwei Identitätsperspektiven, die sich u. U. mit weiteren kollektiven Identitätsaspekten wie Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder einer Glaubensgemeinschaft verbinden können. Plurale Identitäten ergeben sich in den modernen gesellschaftlichen Verhältnissen vor allem durch Globalisierung, Migration, Mediensozialisation und 5 6 7 8 9
Welzer 2011, S. 172. Erll 2011, S. 124. Moser-Pacher / Nagy 2013. Assmann/Friese 1998. Neumann 2003, S. 64.
DDR-Erinnerung und Identität
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Lockerung religiöser und anderer weltanschaulicher Bindungen. Auch Brüche in der Erinnerungskultur, die durch abrupte politische Umwälzungen wie den Untergang der DDR entstehen, können eine auf Kohärenz bauende Identitätsbildung destabilisieren. Zur Erhellung entsprechender Konstellationen ist die vielfach aufgegriffene Unterscheidung von Jan Assmann hilfreich, der das kollektive Gedächtnis in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis aufteilt (Assmann 1988, Erll 2003). Das kommunikative Gedächtnis ist alltagsorientiert; es ergibt sich durch den Austausch innerhalb von Gruppen über Erinnerungen, über die einzelne Gruppenmitglieder verfügen. Das kulturelle Gedächtnis dagegen stützt sich nicht mehr auf direkte Erinnerungen von Gruppenmitgliedern, sondern auf tradierte Gedächtnisinhalte, die in Objektivationen wie Texten, Denkmälern, Bildern überliefert werden. In den neuen deutschen Bundesländern nimmt die Bedeutung des kommunikativen Gedächtnisses an die DDR zunehmend ab, weil ein immer größerer Teil der Bevölkerung nicht mehr über entsprechende persönliche Erinnerungen verfügt. Umso mehr stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem kulturellen Gedächtnis an die DDR zukommt, und das heißt auch und besonders, welche Aufgabe sich der Schule in diesem Zusammenhang stellt und welche Bedeutung die Erinnerungskultur für die Identitätsbildung der nachkommenden Generation(en) haben kann. Die Feststellung des Historikers Martin Sabrow, 2008 in einem Vortrag über die DDR-Geschichte geäußert, dass es noch keine Übereinkunft gebe, wie die DDR in unserem Gedächtnis verankert werden soll, dürfte auch heute noch gelten; Sabrow unterscheidet drei Formen von Gedächtnis, die miteinander konkurrieren, das »Diktaturgedächtnis«, das »Arrangementgedächtnis« (vom richtigen Leben im falschen) und das am Projekt Sozialismus festhaltende »Fortschrittsgedächtnis« (Sabrow 2008, S. 9f.).
III
Literatur und Identität
Erzählende Literatur zeigt den Leserinnen und Lesern anhand von Figuren, ihrem Handeln, ihrem Innenleben und ihren sozialen Beziehungen vielfältige Formen von Identitätsentwicklungen. Allein die große Anzahl von Novellen, Romanen und Dramen, die den Namen der Hauptfigur als Titel haben, zeigt schon, welche Bedeutung den Figuren in der Literatur zukommt. Der literarische Rezeptionsprozess ist von Identifikation und Alteritätserfahrungen gekennzeichnet und hält zur Selbstreflexion an. ›Ja, genauso ist es mir auch ergangen‹, ›Nein, das würde ich nie machen‹, ›Ein solches Leben würde ich mir auch wünschen‹ – Gedanken dieser Art gehen vielen Leserinnen und Lesern durch den Kopf. Dabei werden auch eigene Erinnerungen wach, manchmal kommt sogar Verdrängtes ins Bewusstsein und es werden sprachliche und narrative
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Kaspar H. Spinner
Strukturmuster übernommen, um eigenen Erinnerungen eine Form zu geben und sie in einen Sinnzusammenhang einzuordnen (vgl. Welzer/Moller/ Tschuggnall (2002)). In denjenigen narratologischen Identitätstheorien, die die tradierte Vorstellung von stabiler Identität in Anbetracht der Komplexität und Fragmentarisierung heutiger lebensweltlicher Erfahrungen in Frage stellen, wird diese strukturelle Vorgabe von narrativen Mustern für besonders wichtig erachtet (vgl. Nünning 2013), denn Erzählungen können auch Widersprüche, Unbestimmtheiten, Verlust von Gewissheiten in einen narrativen Zusammenhang bringen – das findet man spätestens seit Kafka in der Literatur. So können literarische Erzählungen, auch wenn sie eine nicht gelingende Identitätsfindung zeigen, zur Identitätsauseinandersetzung der Leserinnen und Leser beitragen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass Literatur nicht nur äußeres Geschehen, sondern auch subjektive Innenwelten zur Darstellung bringt und dafür über besondere sprachliche Mittel wie erlebte Rede, innerer Monolog und Bewusstseinstrom verfügt. Durch die Verstrickung literarischer Figuren in moralische Konflikte, die ein häufiges Motiv in der Literatur ist, können Erzählungen auch den Erwerb moralischer Identität unterstützen. Für die Analyse, wie Literatur Erinnerung und Identitätsvorstellungen thematisiert, wird in der Narrationsforschung mit einem dreidimensionalen Modell von Präfiguration, Konfiguration und Refiguration gearbeitet, das auf Ricœur zurückgeht (vgl. Nünning 2007, S. 55): – Literatur greift Erinnerungen und Gedächtnisinhalte auf, die in der Regel im kulturellen Gedächtnis schon präfiguriert sind. Es kann also untersucht werden, welche Aspekte der bestehenden außerliterarischen Erinnerungskultur von einer Erzählung aufgegriffen werden. – Literatur stellt Erinnerungen und Identität in einer jeweils eigenen Konfiguration dar. Bezogen darauf geht es um die Frage, wie ein literarischer Text Gedächtnisinhalte aufgreift. Transformiert er sie, ironisiert er, spitzt er zu, unterstützt er Stereotypen, thematisiert er verdrängte Erinnerungen? – Gefragt werden kann drittens, ob ein literarischer Text das Potenzial hat, auf die außerliterarische Erinnerungskultur zurückzuwirken, sie zu refigurieren. Erfolgreiche Erzählungen wie Das Leben der Anderen oder Am kürzeren Ende der Sonnenallee schaffen als Film und als Text zweifellos nachhaltig wirksame Erinnerungsbilder. Eine ähnliche Modellierung mit drei Zeitdimensionen findet man bei Polkinghorne, wenn er aus psychologischer Sicht davon spricht, dass Identität »eine geschichtenförmige Konstruktion [sei] und als Selbst-Erzählung […] disparate Erinnerungen vergangener Geschehnisse, aktuelle Überzeugungen und Erfahrungen sowie zukünftige, imaginierte und antizipierte Handlungen miteinander verknüpfe[n]« (Polkinghorne 1998, S. 33). Wenn man das Modell mit den drei
DDR-Erinnerung und Identität
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Zeitebenen in der literaturtheoretischen Variante von Nünning und der psychologischen von Polkinghorne didaktisch wendet, dann heißt das, dass in der Beschäftigung mit Erinnerungstexten alle drei Zeitebenen zu berücksichtigen sind. Das kann sich in drei Fragen konkretisieren, die sowohl für die Textauswahl als auch für die Bearbeitung im Unterricht leitend sein können (hier formuliert im Hinblick auf DDR-Erinnerung): – Welches Erinnerungswissen von der DDR-Vergangenheit greift der Text auf ? Kommen gesellschaftlich-politische Verhältnisse, geschichtliche Entwicklungen, der Alltag der Menschen, ihre Erlebnisse zur Sprache? – In welchen narrativen Zusammenhang bringt der Text das Erinnerungswissen und wie verhält sich die so entstehende Textwelt zur heute vorherrschenden Erinnerungskultur bezogen auf die DDR? Bestätigt er gegenwärtig vorherrschende Vorstellungen von der DDR, bringt er neue Perspektiven, irritiert er durch offen bleibende Fragen oder vertritt er eine eindeutige politische Lehre aus der Vergangenheit? Legt er Parallelen nahe, z. B. zum Dritten Reich? – Was kann die Beschäftigung mit der im Text gestalteten Vergangenheit für die Identitätsbildung heutiger Jugendlicher bedeuten, für ihr moralisches Bewusstsein, ihr politisches Selbstverständnis, ihrer Einstellung zur älteren Generation?
IV
DDR-Erinnerung und Identität
Bei der Erinnerung an die DDR besteht ein Spannungsverhältnis zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis. Das gilt, wie die große Studie von Schroeder u. a. mit dem Erhebungszeitraum 2010/2011 gezeigt hat, auch für die Jugendlichen.10 In der Familientradition gibt es eine verbreitete Tendenz, positive Erinnerungen zu pflegen, etwa in Bezug darauf, dass zu DDR-Zeiten das Gemeinschaftsgefühl ausgeprägter gewesen sei. Dieses kommunikative Gedächtnis oder Arrangementgedächtnis nach Sabrow (s.o) kontrastiert mit dem kulturellen Gedächtnis, das im öffentlichen Diskurs, z. B. in den Medien, dominiert und das von einem negativ konnotierten Bild der DDR als Unrechtsstaat geprägt ist. Dass die rot-rot-grüne Koalition in Thüringen 2014 in der Präambel ihres Koalitionsvertrags die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet hat, ist der auffälligste Beleg für den Einfluss dieser Auffassung. Viele Schülerinnen und Schüler sehen sich so herausgefordert, in ihrem sozialen Identitätsprozess mit Divergenzen zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis umgehen zu müssen. Diese Situation wird sich allerdings in den kommenden Jahren zu10 Vgl. Schroeder u. a. 2012.
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sehends abmildern, weil immer weniger Jugendliche Eltern haben, die die DDR noch als Erwachsene erlebt haben. Allerdings können auch Großeltern für das Familiengedächtnis einflussreich sein. Im Hinblick auf den Literaturunterricht ist bedenkenswert, dass 45,9 % der Schülerinnen und Schüler, die im Osten wohnen und DDR-Eltern haben, der Auffassung zustimmen, dass der Sozialismus in der DDR eine gute Idee war, die aber schlecht umgesetzt wurde.11 Das ist in dieser (durch den Fragebogen vorgegebenen) Formulierung zweifellos eine stark vereinfachende Sichtweise; im Kern entspricht sie aber durchaus der Schlussfolgerung, die Jarausch in einem Beitrag über »Die Zukunft der ostdeutschen Vergangenheit« zieht, nämlich »dass die eigentliche Bedeutung der DDR-Geschichte im paradigmatischen Scheitern einer progressiven Utopie liegt.«12
V
DDR-Erinnerung im Literaturunterricht
Die Tatsache, dass in den kommenden Jahren die DDR für immer mehr Schülerinnen und Schüler nicht mehr Inhalt des kommunikativen, sondern nur noch des kulturellen Gedächtnisses ist, hat Auswirkungen auf die Rolle, die die DDR-Erinnerung für ihre Identitätsbildung spielt. Dabei kommt der Schule als wichtiger Vermittlerin von kulturellem Gedächtnis eine verstärkte Bedeutung und Verantwortung im Hinblick auf die DDR- Erinnerung zu. Es geht um die Frage, welches Wissen und welche Vorstellungen von der DDR den Schülerinnen und Schülern vermittelt werden sollen. Das ist eine normative Frage, die sich z. B. auf die Textauswahl im Literaturunterricht und auch auf das methodische Vorgehen bezieht. Einen klaren Konsens gibt es zu dieser Frage in der Literaturdidaktik noch nicht;13 Ausführungen dazu können nur ein Beitrag zu einer laufenden Diskussion sein. Aus diesem Grund wechsle ich im Folgenden bei meiner Argumentation in die Ich-Form und verdeutliche damit, dass ich einen Diskussionsvorschlag mache. Ich knüpfe an das Zitat von Jarausch an (s. o. und Führer 2012, S. 331). Man mag darüber streiten, ob Jarauschs These geschichtswissenschaftlich überzeugend ist (Jarausch ist Historiker); für die Literaturdidaktik scheint sie mir aber auf jeden Fall eine sinnvolle Perspektive zu bieten. Utopien und das Scheitern von utopischen Wünschen ist ein Grundthema von Literatur – von Geschichten über vergebliche und sich erfüllende Sehnsucht nach einem anderen Leben bis zur Entfaltung von utopischen und dystopischen Welten. Hoffnung und Enttäuschung, Wunsch nach Freiheit und Leiden unter Zwängen, Anspruch auf Gerechtigkeit und 11 Erhebung 2010/2011, vgl. Schroeder u. a. 2012, S. 393, 580. 12 Jarausch 2004, S. 99. 13 Vgl. Kammler 2014.
DDR-Erinnerung und Identität
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erfahrene Ungerechtigkeit werden in literarischen Texten immer wieder entfaltet. Auch die Literatur der DDR ist in großen Teilen davon bestimmt, und in der Wendeliteratur sind Hoffnung und Enttäuschung noch einmal und in neuer Form zum Thema geworden. Dabei geht es in literarischen Texten nicht nur um die gesellschaftlich-politische Dimension, sondern auch um die Art und Weise, wie einzelne Menschen die Spannungsverhältnisse erfahren. Dadurch ergibt sich in der Literaturrezeption ein Bezug zur personalen Identitätsbildung jenseits der erinnerungsbasierten kollektiven Identität: Hoffnung und Enttäuschung, Wunschwelt und Einsicht in reale Zwänge sind Grunderfahrungen jedes Menschen. Da Literatur im historisch Einmaligen jeweils auch allgemeine anthropologische Erfahrungen gestaltet und in dieser Hinsicht symbolische und parabolische Bedeutungserweiterungen schafft, kann die Beschäftigung mit DDR-Erinnerungsliteratur so die Vermittlung von historischem Wissen mit persönlichem Angesprochensein verbinden, auch wenn Leserinnen und Leser die DDR selbst nicht mehr erlebt haben. Ob die DDR-Erinnerungskultur, wie sie durch die, auch in der Schule, besonders verbreiteten Bücher und Filme heute geprägt wird, der Perspektive, die mir wichtig erscheint, entspricht, halte ich allerdings für fraglich. Beispielhaft erscheinen mir die beiden Erfolgsfilme Sonnenallee und Das Leben der Anderen mit den entsprechenden Buchpublikationen. Dass ihre filmische und literarische Qualität (die ich nicht abstreiten will) diese Filme und Erzählungen zu einem beliebten Schulstoff gemacht haben, ist gut nachvollziehbar. Es besteht allerdings, wie ich meine, die Gefahr, dass sie ein von Stereotypen geprägtes kulturelles Gedächtnis unterstützen, und zwar in durchaus gegensätzlicher Weise: ironisierte Nostalgie und sarkastische Politsatire in der Sonnenallee und dichotome Gegenüberstellung von Regimetreuen und den Anderen (mit dem Helden, der die Seiten wechselt) im Leben der Anderen. Beide Filme/Texte können zu einer, je unterschiedlichen, erinnerungsbezogenen Identitätsbildung beitragen, die Sonnenallee als Entlastung durch Humor und Satire, Das Leben der Anderen durch eine Oppositionsstruktur, die eine Identifikation mit den ›Guten‹ unterstützt.14 Für beide Fälle gilt die Feststellung von Gansel, dass »das Kollektivgedächtnis dazu [tendiere], Konflikte und Widersprüche zu harmonisieren, abzuschwächen und gegebenenfalls auszuschließen«15 nach dem Prinzip »Erinnert wird […], was unter gegenwärtigen Bedürfnissen der Identitätsstiftung dient.«16 Utopie und Utopieverlust, wie sie z. B. in Texten von Christa Wolf, Volker Braun, Wolf Biermann, Peter Hacks und vielen anderen gestaltet werden, stehen in der Sonnenallee und im Leben der Anderen nicht im Vordergrund, auch wenn es möglich ist, mit entsprechendem Unterrichtsarrangement dies auch zum Thema zu machen. Al14 Vgl. Lenssen 2010 und die, allerdings etwas anders akzentuierte, Kritik von Erhart 2014. 15 Gansel 2010, S. 21. 16 Ebd., S. 22.
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ternative Textvorschläge finden sich in den unterrichtspraktischen Vorschlägen im letzten Teil des vorliegenden Bandes. Als jüngeres Beispiel eines Filmes, der das Leben in der DDR als ein Leben zwischen Anpassung und Rebellion und Erfahrungen von Repression und Räumen der Freiheit anhand unterschiedlich sich verhaltender Figuren auf differenzierte Weise gestaltet, kann der Spielfilm Barbara von Christian Petzold 2012 gelten, der im didaktischen Beitrag von Bettina Henzler und Sabine Moller vorgestellt wird. Der intertextuelle Bezug auf Huckleberry Finn mit seinen beiden jugendlichen Helden, der sich im Film findet, ist für einen Unterricht, der die erinnerungskulturelle Beschäftigung mit dem personalen Identitätsprozess der Schülerinnen und Schüler verbindet, besonders interessant. Einen direkten Bezug zur eigenen Lebenswelt können Schülerinnen und Schüler bei den Texten zum Thema »Schule in der DDR« sehen, die Susanne B. Bach in ihrem Beitrag vorstellt; zugleich ergibt sich eine Alteritätserfahrung durch das dargestellte ideologisch geprägte Schulwesen. Im autobiographischen Comic drüben! von Simon Schwartz, auf den Hoffmann/Lang und Führer in ihren Beiträgen eingehen, werden anhand der unterschiedlichen biografischen Kontexte der Eltern des Protagonisten sowohl die Träume, die Menschen mit dem Entstehen der DDR verbunden hatten, als auch die kritische Sicht auf das System und die Erfahrungen mit Unterdrückung vermittelt. Wenn, wie ich es vorschlage, Utopie und Utopieverlust als Aspekt einer literarischen Erinnerungskultur bezogen auf die DDR in den Vordergrund gerückt werden, dann kann man auch den drei Dimensionen der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration gerecht werden: Es wird ein Hauptthema der DDR-Literatur, das von gesellschaftlicher Bedeutung war (und ist), aufgegriffen; dieses Thema ist in der literarischen Gestaltung konfiguriert als Spannungsverhältnis und kann in seiner Auswirkung auf heutige Leserinnen und Leser soziale und freiheitliche Verantwortung unterstützen. Damit wäre – eher als in der verbreiteten Rede von der Erinnerung an »die zwei Diktaturen« – die DDR-bezogene Erinnerungskultur anschließbar an Prozesse des personalen Identitätsprozesses von Jugendlichen, die sich in der Pubertät und der Adoleszenz an Widersprüchen zwischen Zukunftserwartungen und Einschränkungen abarbeiten. Zugleich kann deutlich werden, dass für den Literaturunterricht bezogen auf die DDR-Erinnerung eine etwas andere Schwerpunktsetzung als für den Geschichts- und Politikunterricht sinnvoll ist.
VI
Schluss
In seinem viel zitierten Beitrag über »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität« schreibt Jan Assmann: »Die einen [Gesellschaften] erinnern sich an die Vergangenheit aus Angst, von ihrem Vorbild abzuweichen, die anderen aus
DDR-Erinnerung und Identität
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Angst, sie wiederholen zu müssen.«17 Es wäre zu hoffen, dass die DDR-Erinnerung nicht in solcher Alternative befangen bleibt, denn Angst ist eine schlechte Voraussetzung für Identitätsbildung. Eine literaturgestützte Erinnerung, die die Hoffnungen und die Enttäuschungen, die Utopie und das Versagen, erlebtes Glück und erlittenes Unrecht, wie dies in den literarischen Texten festgehalten ist, vergegenwärtigt, kann ein Beitrag sein zu einer kollektiven Identität, die vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung einen verantwortungsbewussten Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse als Teil eines positiven personalen Selbstverständnisses verbucht.
Literatur Assmann, Jan: ›Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität‹, in: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hgg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19. Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hgg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Frankfurt/Main 1998. Erhart, Walter: ›Das Leben der einen, das Leben der anderen. Eine fragwürdige Kanonisierung der DDR-Geschichte‹, in: Der Deutschunterricht 2014/4, S. 69–77. Erll, Astrid: ›Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen‹, in: Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hgg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart 2003, S. 156–185. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart 2. Aufl. 2011. Führer, Carolin: Transformationen historischer Narrative. Eine qualitative Interviewstudie zu historischem Lernen im Deutschunterricht seit dem Ende der DDR. Diss. Dresden 2012. Gansel, Carsten: ›Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989‹, in: Gansel, Carsten / Zimniak, Pawel (Hgg.): Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010, S. 19–35. Jarausch, Konrad H.: ›Die Zukunft der ostdeutschen Vergangenheit – Was wird aus der DDR-Geschichte?‹, in: Hüttmann u. a. (Hgg.): DDR-Geschichte vermitteln. Ansätze und Erfahrungen in Unterricht, Hochschullehre und politischer Bildung. Berlin 2004, S. 81–100. Kammler, Clemens: ›Was bleiben sollte. DDR-Prosa im Deutschunterricht des 21. Jahrhunderts‹, in: Der Deutschunterricht 2014/4, S. 14–23. Lenssen, Claudia: ›Die Stasi im Kino der Gefühle. Das Leben der Anderen (2005/2006): Filmische Erinnerungsstrategien im Kontext der Medienkultur‹, in: Gansel, Carsten / Zimniak, Pawel (Hgg.): Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010, S. 281–288. Moser-Pacher, Andrea / Nagy, Hajnalka (Hgg.): Identitäten. ide 2013/3. Neumann, Birgit: ›Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten‹. In: Erll, Astrid / Gymnich, Marion / Nünning, Ansgar (Hgg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier 2003, S. 49–77. 17 Assmann 1988, S. 16.
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Kaspar H. Spinner
Neumann, Birgit: ›Literatur, Erinnerung, Identität‹, in: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hgg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, S. 149–178. Nünning, Ansgar : ›Erinnerung – Erzählen – Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erzählforschung‹, in: Geppert, Hans Vilmar / Zapf, Hubert (Hrsg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band III. Tübingen 2007, S. 33–59. Nünning, Vera: ›Erzählen und Identität: Die Bedeutung des Erzählens im Schnittfeld zwischen kulturwissenschaftlicher Narratologie und Psychologie‹, in: Strohmaier, Alexandra (Hrsg): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld 2013, S. 145–169. Polkinghorne, Donald E.: ›Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein‹, in: Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt/Main 1998, S. 12–45. Sabrow, Martin: Warum DDR-Geschichte im Unterricht? 2008. Verfügbar unter http:// www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/Documents/Sabrow/08 %20Warum%20DDR-Ge schichte%20im%20Unterricht.doc [letzter Zugriff: 09. 05. 2015]. Schroeder, Klaus u. a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen. Frankfurt/Main u. a. 2012. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 3. Aufl. 2011. Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M. 9. Aufl. 2002.
Ute Dettmar
Kindsein – Erinnern – Erzählen. (Selbst-)Beschreibungen von Kindheiten in ›Wendezeiten‹ in erinnerungskultureller und generationeller Perspektive
I.1
Sich selbst erinnern – Erinnern ans Kindsein, Erzählen vom Kindsein
»Erinnerungen aus der Kindheit kann man doch nur haben, wenn man selbst kein Kind ist« – so kommentiert die 13-jährige Ich-Erzählerin Nini im Roman »Tigermilch«1 das Auftauchen einer ersten bewussten »richtige(n) Kindheitserinnerung« (ebd.). Angesprochen ist damit der zunächst paradox anmutende Zusammenhang von Kindsein und Erinnern. Sich selbst im umfassenderen Sinn daran zu erinnern, wie es ist, ein Kind zu sein, gehört zu den Fähigkeiten, die Kindern nicht zugesprochen – oder auch, wenn man in solcher Selbstvergessenheit ein Privileg sieht, nicht zugemutet – werden. Kindheit gilt als das Lebensalter, in dem man ganz bei sich ist, in dem alles gegenwärtig und vieles möglich ist. Pläne und Perspektiven richten sich in die offene Zukunft, im Rückblick über Erinnerungen zu verfügen und sie als Teil der eigenen Biographie zu begreifen, wird selbst zum Zeichen der Differenz: ein Indiz dafür, dass die Kindheit bereits an ihr Ende gekommen ist. So wenig Erinnerungen eine Rolle für Kinder selbst zu spielen scheinen, so wichtig ist das Erinnern an das Kindsein in psychologischer, (auto-)biographischer, generationeller und kultureller Perspektive, seitdem die Kindheit als ein eigenes und prägendes Lebensalter im 18. Jahrhundert verstärkt in den Blick geraten ist. Sich in Gesprächen, Tagebüchern, Auto-Biographien und Romanen erzählend und schreibend auch der Kindheit als einem wichtigen Kapitel der eigenen Lebensgeschichte zu widmen und diese so rückblickend, von ihren Anfängen und Anlagen her zu deuten, gehört zu den »bürgerliche(n) Technologien des Selbst.«2 Vorstellungen von Souveränität und Selbsterkenntnis, die mit der Identitätskonstruktion des sich selbst erforschenden und begreifenden autonomen Subjekts verbunden waren, sind mit der grundsätzlichen Infrage1 De Velasco 2013, S. 10. 2 Reckwitz 2006, S. 155.
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stellung dieses Subjektbegriffs inzwischen abhanden gekommen. Dass die (individuelle und kollektive) Erinnerung von der Gegenwart ausgeht, entsprechend auswählt und, in Wechselwirkung zu den sich verändernden gesellschaftlich virulenten Narrativen, mit Sinn versieht, ist ein Topos der interdisziplinären Gedächtnisforschung.3 Die autobiographische Forschung hat zudem die produktive Rolle von Sprache, Schrift und Erzählung für diese Form der Identitätskonstruktion hervorgehoben und diese so diskursiv verankert.4 Formen und Medien der Selbstreflexion und Selbstdarstellung bleiben bedeutsam. Nicht nur, um sich selbst zu vergegenwärtigen und sich dabei im Spannungsfeld von (lückenhaftem) Erinnern und (deutendem) Erzählen rückblickend selbst zu erfinden, sondern auch als Kommunikationsmedien über Vergangenheiten. Erinnerungen an und Erzählungen von Kindheiten schreiben sich in spezifischen Formen ein in das »kollektiven Gedächtnis«5, mit dem sich Gesellschaften ihrer Geschichte(n) versichern. Die Aktualität von Erinnerungsliteratur macht nicht zuletzt der »memory boom«6 deutlich, den Gansel nach 1989 vermerkt hat. Zu diesem Boom trägt nicht nur die Literatur bei, die Nationalsozialismus und Holocaust thematisiert, sondern auch Texte, die, insbesondere zu den Jahres- und Gedenktagen von 20 bzw. 25 Jahren Friedlicher Revolution und Mauerfall, von Kindheit und Jugend in der DDR erzählen. Zu Wort melden sich insbesondere Autorinnen und Autoren, die der Generation der so genannten »Wendekinder« bzw. der »Dritte(n) Generation Ost«7 zugehören, also der Jahrgänge der 1970er und frühen 1980er Jahre, die das Ende der DDR am Ende – und angesichts der nachhaltigen Umbrüche – häufig auch als Ende der Kindheit erlebt haben. Die zum »Generationengedächtnis«8 der überindividuellen Erlebens- und Deutungshorizonte gehörenden Erfahrungen von zugleich biographischen und zeithistorischen Umbrüchen macht die Texte, die auf diese so geprägten Kindheiten zurückschauen, als Erinnerungsmedien in ihren jeweiligen Reflexionshorizonten interessant. Wie hier Vergangenheit wahrgenommen, was in diesen Texten erzählt wird, soll zunächst im Zusammenhang von individueller und kollektiver Identitätskonstruktion sowie in den intra- und intergenerationellen Verständigungsfunktionen diskutiert werden. Rückblicke 3 Vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von Jan Assmann 1992. 4 Zur Autobiographieforschung s. Wagner-Egelhaaf 2000. 5 Zugrunde liegt ein weiter Gedächtnisbegriff, den Erll im Anschluss an die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, die insbesondere Jan Assmann und Aleida Assmann mit ihren grundlegenden Arbeiten begründet haben, folgendermaßen definiert: »Das ›kollektive Gedächtnis‹ ist ein Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt.« (Erll 2005, S. 5f.) 6 Gansel 2009, S. 18. 7 Hacker / Maiwald / Staemmler 32013. 8 Assmann 2001, S. 37.
Kindsein – Erinnern – Erzählen
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von Autorinnen und Autoren dieser Generation finden sich vor allem in essayistischen Formen; darüber hinaus hat sich der Comic als ein wichtiges Medium etabliert, um (eigene) Kindheitserlebnisse zu gestalten. Diese Kindheitsepisoden und -zeichnungen sollen entlang ausgewählter Beispiele als spezifische Beiträge zur literarisch-medialen Erinnerungsreflexion in den Blick genommen und in ihren bimedialen, Text und Bild in Bezug setzenden, Darstellungsmöglichkeiten von Geschichte und Erinnerung diskutiert werden. Die Kinder- und Jugendliteratur trägt mit ihren Geschichtsbildern und »Vergangenheitsversionen«9 auf ihre ganz eigene Art und Weise zur kollektiven Sinnverständigung über die jüngere deutsch-deutsche Vergangenheit bei. Texte aus diesem Feld berühren sich mit den zeithistorischen Horizonten der Kindheitserinnerungen der ›dritten Generation Ost‹, unterscheiden sich allerdings in Rahmenbedingungen, Formen und Intentionen. Die Kinder- und Jugendliteratur stellt in erinnerungskulturellen Zusammenhang ein spezifisches »Zirkulationsmedium«10 dar. Sie vermittelt als ein Medium der intergenerationellen Kommunikation nachfolgenden Generationen, die selbst keine eigenen Erinnerungen an die zeithistorischen Ereignisse haben, Geschichte(n). Wie hier die jüngere deutsche Vergangenheit verhandelt wird und welche Entwicklungen sich abzeichnen, soll an ausgewählten Beispielen diskutiert werden.
I.2
Erinnerungen an Kindsein am Ende der DDR im »Generationengedächtnis«
Die oben angesprochen Texte der jüngeren »dritten« ostdeutschen Generation erzählen in essayistisch skizzenhafter, teils anekdotenhafter Form von Kindheiten in der ausgehenden DDR. Sie verarbeiten dabei eigene Erfahrungen als gemeinsame Generationenerfahrungen. Ewers bezeichnet diese Texte entsprechend als »kollektiv-biographische Narrative,11 denen es nicht so sehr um die »eigene Biographie in ihrer Besonderheit« gehe, sondern um die »Veranschaulichung eines Generationenprofils« (ebd.). Erzählt wird in einigen Fällen entsprechend im Kollektivsubjekt des »wir«, das sich als »Communal Voice«12 dieser Erfahrungsgemeinschaft zur Wort meldet. Jana Hensels wirkungsmächtiger und kontrovers diskutierter Text Zonenkinder (2002) hat für die Darstellung der ostdeutschen Kindheit den Auftakt gemacht; der Text erschien wiederum als (jüngeres) Gegenstück zur Selbstbeschreibung der Generation Golf 9 10 11 12
Erll 2005, S. 158. Erll 2005, S. 158ff. Ewers 2010, S. 144. Gansel 2009, S. 27.
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(2000), die Florian Illies zuvor sehr erfolgreich vorgenommen hatte.13 Angesichts des rasanten Verschwindens der DDR, des Sprachverlusts und der ›Übermalung‹ der Orte, an die sich Kindheitserinnerungen und Heimatgefühle knüpfen, versucht Hensel sich an die Kindheit in der DDR zu erinnern und diese rekonstruierend zurückzugewinnen. Einerseits stellt diese Spurensuche eine Form der individuellen Selbstversicherung dar, andererseits versucht sie, in Konkurrenz zu und in Absetzung von den dominanten Diskursen, ein positives kollektives Identitätsangebot für eine ostdeutsche Generation zu machen, deren Kindheitserinnerungen bis dahin kaum zu Wort gekommen waren. So zeigt sich, und dies auch angesichts der von anderen Generationenangehörigen kommunizierten Erfahrungen des diskursiven Ausgeschlossenseins und Fremdbestimmtseins,14 dass die grundsätzliche Frage danach, welche Erinnerungen von wem bewahrt und wie erzählt werden können, eine Frage ist, die über individuelle Erinnerungs- und Selektionsprozesse hinaus geht. Sie verweist auf soziale und mediale Auswahlverfahren, die das kollektive Gedächtnis ausmachen und mitbestimmen, welche Erinnerungen im »Funktionsgedächtnis«15 mit Sinn und Bedeutung versehen und so lebendig gehalten werden.
I.3
Gegenständliches Erinnern – Kindheit archivieren
Moritz Baßler hat auf die Archivierungsfunktionen der so genannten Popliteratur aufmerksam gemacht und die »Generationenessays« von Illies und Hensel in diesen funktionalen Zusammenhang gestellt.16 Diese Texte erfassen entlang von typischen, wieder erkennbaren Gegenständen, die zur Kindheit gehören, die 13 So positioniert Jana Hensel ihren Text nachträglich explizit. S. hierzu Kraushaar 2004, S. 94. 14 Diese Kritik wird (nicht nur) von den jüngeren ostdeutschen Autoren und Autorinnen immer wieder geäußert. Der Autor Christian Bangel etwa beschreibt diese Erfahrung rückblickend in die 90er Jahre folgendermaßen: »Damals hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass allein der Westen vorgab, was in Deutschland diskutiert wurde: In Büchern, Zeitungen, Fernsehsendungen war von Ostdeutschen die Rede. […]. Aber kaum ein Westdeutscher kam auf die Idee sich selbst als Westdeutscher zu bezeichnen. Der Westen war ganz selbstverständlich die Sonne, um die alles andere in Deutschland kreiste« (2014, S. 15). Auch die Initiative »Dritte Generation Ost« begründet ihr Projekt mit der »Wut« darüber, dass »so viele Worte, die über Ostdeutschland, die Ossis und die Wessis, die DDR und die Wiedervereinigung gesagt werden, junge Menschen wie uns selten erreichen. (Hacker / Maiwald / Staemmler 32013, S. 9). 15 Assmann 1999. 16 Die archivierenden Funktionen verbinden, so argumentiert Baßler, die Generationenessays mit der Popliteratur : »Auch Illies will ja nicht seine eigene, individuelle Geschichte erzählen, sondern die Enzyklopädie einer Kultur erfassen; und Jana Hensel, wie gesagt, schließt sich hier an.« (Baßler 2004, S. 117).
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»Enzyklopädie einer Kultur«17, eine Phänomenologie von Kindheitsikonen, Alltags- und Konsumwelten, die wieder erkennbare Erinnerungen auslösen und abrufbar machen. Ging es Hensel zunächst darum, die verschwindende Kindheitserinnerung festzuhalten, sie ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben und den westdeutschen Generationenmanifesten entgegenzusetzen, so gibt es inzwischen auch Texte, die eine Doppelbelichtung von Kindheiten in Ost und West vornehmen und beide Perspektiven in Kommunikation miteinander treten lassen.18 Der 2014 erschienene Band Drüben und Drüben schließt an die inzwischen zahlreich erschienenen essayistisch-archivierenden Kindheitsdeskriptionen an.19 Die beiden Schriftsteller Jochen Schmidt (Jg. 1970) und David Wagner (Jg. 1971) erzählen in dem für dieses Genre charakteristischen, zwischen Selbstironie und Affirmation changierenden, Erzählgestus, ihre ost- bzw. westdeutsche Kindheit. Das Buch ist im zweifachen Wortsinn ein ›Wendebuch‹: es lässt sich von zwei Seiten her aufschlagen und folgt dann zunächst einer der beiden Perspektiven, »links oder rechts der innerdeutschen Grenze« (Klappentext), die am 9. November 1989 in der Mitte des Buches sinnigerweise zusammenkommen. Entlang von Stichworten wie »Kinderzimmer«, »Wohnzimmer«, »Spielplätze«, »Ferien«, die assoziativ mit Erinnerungen versehen werden, entstehen Einblicke in die vergangene Kindheitskultur und -landschaften der 80er Jahre, in Familienalltag, Wohnwelten, in Konsumpraxen, Unterhaltungs- und Sprechweisen, die in der Rückschau anschaulich wieder aufleben. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind in diesen Doppelporträts in präzise beobachteten und (ironisch) vermerktem Details, auch an (fehlenden) Markenzeichen abzulesen: Lustige Taschenbücher, Lego, Playmobil hier, Alfons Zitterbacke, Märchenaufnahmen, Metallbaukasten dort – eine »[zweigeteilte] Welt in ›von hier‹ und ›von drüben‹«20, mit Schnittmengen und Hierarchien: Die Ordnung der Dinge manifestiert sich in der Wertschätzung der raren Westprodukte, die in der ostdeutschen Kindheitswelt ihren Platz als Statussymbole hatten. Diese Bedeutung von Gegenständen für das kindliche Erinnern nutzt auch Mawil in seinem Comic Kinderland (2014) in der Einstiegssequenz. Seine gezeichnete, autobiographische Erinnerung an die Kindheit in der DDR beginnt nicht zufällig mit einem Blick in das Kinderzimmer: wir sehen das Ost-Sandmännchen in Großaufnahme, an seiner Seite, noch zur Hälfte im Bild, Schnatterinchen, auf dem Schreibtisch liegt eine Ausgabe der 17 Baßler 2009, 117. 18 Ost-Westdeutsche Perspektiven verbindet z. B. die Comicserie Da war mal was … (Flix 2009). 19 Das Spektrum der Texte reicht dabei von kritisch-reflektierender Auseinandersetzung mit Kindheit und Jugend (zum Beispiel Bisky (2004), Ide (2007)), teils auch mit grotesk- und tragikomischen Zügen: Hein (2001), Rusch (2003) bis hin zu den jahrgangsbezogenen Anekdotensammlungen wie die Geschenkbuch-Reihen Unsere Kindheit in der DDR (2009ff) oder Wir vom Jahrgang … Aufgewachsen in der DDR (2008ff..). 20 Wagner/Schmidt 2014, S.82.
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Zeitschrift Mosaik, im Regal Schlümpfe, Tippkick- und Indianerfiguren, an der Tür ein Filmplakat der Olsenbande sowie ein Alf-Aufkleber. Die Kindheitsausstattung ist die Requisitenkammer der Erinnerung, die gesammelten Dinge, mit denen die Kindheitswelt eingerichtet und angereichert wird, fungieren als »mediale cues«,21 mit denen sich Erinnerungen, Emotionen, Bedeutungen, Stimmungen verbinden und abrufen lassen, und die mitunter auch ein – aus dem Abstand des Erzählen – vermerktes Staunen auslösen, darüber, was einst so wichtig war. Die literarische Wiederentdeckung hat so Gedächtnis und Identität stützende Funktionen, auch für eine generationenspezifische Erinnerungsgemeinschaft, die sich so ihr Bild von Kindheit zusammensetzen kann. Die Einblicke in Kindheitsepisoden und Alltagswelten sind jedoch darüber hinaus Verweissysteme, die auf die familiäre Herkunft, die gesellschaftlichen sowie politischen Bedingungen des Aufwachsens referieren. Gezeigt wird, ohne dies allerdings aus dem späteren Mehrwissen heraus auszudeuten, wie es war, zu einer Zeit in einer bestimmten Welt, hier dem bürgerlichen Milieu (im »nivellierten Mittelklasseparadies«22 bei Bonn bzw. im Plattenbau in Berlin-Buch), Kind zu sein. Die Archive sind so auch sozial- und mentalitätsgeschichtlich aussagekräftig, zum Beispiel in Jochen Schmidts lakonischen Beschreibungen des Schulalltags im Osten, oder wenn in den Erinnerungen Vorahnungen aufkommen, die über heile Kindheitswelten hinausführen: »Manchmal bekam ich beim Einschlafen plötzlich ein Würgen in der Kehle, weil ich an die unangenehme Realität denken musste, die Pflichten, die das Erwachsenwerden auf mich zurollte, wie ein Gletscher Geröll: Mit 18 musste man Arbeiten gehen. […] Und nach der Schule die Armee.«23 So finden sich in der Sammlung weiterhin Passagen, die über ein Beschreiben hinaus gehen und in kurzen reflektierenden Einschüben Erlebnisse kommentieren und die Kindund Jugendperspektive verlassen. Dazu gehören Abschnitte, in denen die früheren an- und hingenommenen Weltbilder von Ost und West aufgebrochen und in ihrer prägenden Wirkung reflektiert werden. Wagner denkt beispielsweise darüber nach, welche (Feind-)Bilder und Ansichten von der DDR, »dem Reich des Bösen, […] dem »Schattenreich der Halbtoten«24 er im Kopf hatte, wie fern und gleichgültig ihm diese scheinbar ganz andere Welt, das »Paralleluniversum«25 lag – von der Jochen Schmidt nur ein paar Seiten später – oder, je nach Einstieg in die Lektüre – früher erzählt. Die deutsch-deutsche Rückschau füllt nun die Lücken der mentalen Landkarte zur anderen deutschen Kindheit mit Details. 21 22 23 24 25
Erll 2005, S.138. Wagner / Schmidt 2014, S. 47. Ebda, S. 18. Ebda, S. 137. Ebda, S. 135.
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I.4
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Generationengedächtnis – Generationenkommunikation
Eine Annäherung der ost- und west-deutschen Perspektiven findet in diesem Erinnerungstext zudem durch den Aufbau als ›Wendebuch‹ sowie in der sprachlichen Form statt; es wird in ähnlicher Tonlage von Kindheitsidyllen ohne größere Brüche und Dramen erzählt.26 »Umbrüche und Verletzungen«, so kommentiert Robert Ide die von ihm schon früher vermerkte Tendenz zur ostwestdeutschen »Generationengleichung« mit austauschbaren Accessoires, »kommen […] kaum vor.«27 In solchen beruhigenden Kindheitserinnerungen kann der Versuch stecken, sich rückblickend auf dem Fundament eines imaginären Kindheitsglücks zu stabilisieren, zumal in Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit. Mit Blick auf die angesprochenen Erinnerungen der »Wendekinder« mag dies auch damit zu tun haben, dass es sich um eine Generation und um beschriebene Milieus handelt, die von den Beschränkungen und Repressionen, die das (weitere) Leben in der DDR mit sich hätte bringen können, noch nicht entscheidend betroffen waren.28 »Die DDR war gestorben, bevor sie uns in ein Leben voller Verbote stecken konnte«, so formuliert der etwas jüngere Autor Christian Bangel.29 Doch er erinnert sich anschließend an die Zeit des Umbruchs, die nicht nur von neuen Freiheiten, sondern auch von tiefgreifender Verunsicherung und Existenzängsten geprägt war. So sind die veröffentlichten autobiographiebasierten Erinnerungen an das Kindsein dieser jüngeren, (p)ostwestdeutschen Generation inzwischen vielstimmiger geworden; in Abgrenzung zu den phänomenologisch-deskriptiven Bestandsaufnahmen vergleichsweise unbeschwerter Kindheiten in der DDR sind weitere Texte und andere »Vergangenheitsversionen«30 entstanden, die auch den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen Konturen geben: Claudia Rusch, die im oppositionsnahen Milieu aufgewachsen ist, erzählt von ihrer ironisch so genannten Freie(n) deutsche(n) Jugend in ausgewählten tragik- und grotesk-komischen Szenen, die das Politische im Privaten erfahrbar machen.31 Neben den archivierenden 26 Ewers spricht von einem »›weichen‹ Generationenkonzept« (2010, S. 152), das diesen Texten eingeschrieben ist: »Eine belastete oder gar traumatische Kindheit ist mit einem solchen Konzept unvereinbar. Gefordert ist vielmehr eine sorgenfreie, umsorgte, wohlbehütete und geborgene Kindheit mit idyllischen Zügen.« (Ebd.) 27 Ide 2007, S. 70. 28 Vgl. Gansel 2014, S. 63. 29 Bangel 2014, S. 15. 30 Erll 2005, S.158. 31 Dass prägende Erfahrungen des Wandels, den Blick wach halten können für Gravuren des Vergangen im Gegenwärtigen, für Momentaufnahmen, die Charakteristisches, auch Symptomatisches, zeigt sich in den folgenden literarischen Expeditionen und Gegenwartsreportagen, die Claudia Rusch in ihrer essayistischen Sammlung Aufbau Ost (2009) macht. Hier hat sie sich auf die Reise begeben in die 15 ehemaligen DDR-Bezirke und die Spuren des Vergangenen verfolgt.
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Texten hat sich die »Dritte Generation Ost«32 inzwischen verstärkt mit Diskussionsbeiträgen zu Wort gemeldet, die vom Aufwachsen erzählen, nicht um die Vergangenheit zu fassen und festzuhalten, sondern um von den Erinnerungen ausgehend über bis heute wirkenden Prägungen in Kindheit und Jugend nachzudenken und die Bedeutungen solcher Erfahrungen auch im Generationenzusammenhang zu reflektieren. Bereits Jana Hensel spricht von ihrer Generation als einer, die sich angesichts der rasanten Veränderungen und erlebten Identitätsbrüche »im Verschwinden« selbst erfinden musste: »Das einzige Kontinuum unseres Lebens aber mussten wir selbst erschaffen: Das ist unsere Generation33 Zum »Generationengedächtnis«34 des überindividuellen Erfahrungs- und Deutungshorizontes gehören so nicht nur die neuen sich eröffnenden Perspektiven im vereinten Deutschland, sondern prägende Erfahrungen von Neu- und Selbstorientierung, von Verlust und Verunsicherung. In soziologischer Perspektive ist die Generation der »Wendekinder« als »Generation der Unberatenen«35 bezeichnet worden; geprägt insbesondere auch von einer Situation, in der Autoritäten, vor allem die Eltern, die sich unter den neuen Bedingungen selbst erst zurechtfinden müssen, als Orientierung und Halt wegfielen. Clemens Meyer erzählt in seinem Roman Als wir träumten (2006), der den Alltag einer sich durchs Leben schlagenden Jugendclique im Leipzig der Nachwendezeit szenisch verdichtet, von solchen Brüchen. Auch in den hier diskutierten Essays kommen diese Erfahrungen zur Sprache. Robert Ides Text Geteilte Träume. Meine Eltern, die Wende und ich (2007) spielt auf die sich so konstituierende Generationendifferenz bereits im Titel an und reflektiert die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte und Lebensperspektiven auch im Text selbst. Zu den von dieser Generation wiederholt formulierten Erfahrungen gehört, dass die Eltern selbst über ihre Vergangenheit und auch über die Schwierigkeiten des Neuanfangens schweigen, das »Familiengedächtnis«36 also bezeichnende Lücken aufweist. So haben die Texte, die in ihrem Reflexionshorizont verschiedene Generationen mit ihren Erfahrungen einbeziehen, besondere Bedeutung für das »kommunikative Gedächtnis«, also für das (Mit-)Teilen persönlicher Erinnerungen.37 32 33 34 35 36 37
Hacker / Maiwald / Staemmler 32013. Hensel 2004, S. 160f. Assmann 2001, S. 37. Lindner 2006. Zum Famliengedächtnis Welzer 2001 und Keppler 2001. In anderer Form, mittels einer phantastischen Zeitreise, wird diese Generationendifferenz in Ina Rakis Roman In einem Land vor meiner Zeit (2012) überbrückt. Die Protagonistin Alina wacht am Vorabend ihres Geburtstags in Gestalt ihrer jugendlichen Mutter in der DDR im Jahre 1984 auf und erlebt so im Body-Switch die damaligen Verhältnisse exemplarisch noch einmal mit. Das phantastische Motiv der Zeitreise verweist implizit auf eine Problematik, die
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Die angesprochene »Dritte Generation Ost« ist mit entsprechenden Intentionen als ein Netzwerk gegründet worden, das sich nicht nur auf die Spurensuche der eigenen Generation begibt. Erklärtes Ziel ist es, in Publikationen und Projekten die Möglichkeit eines Erfahrungsaustauschs zu schaffen, der jenseits von nostalgischer Verklärung und politischer Funktionalisierung Reflexionen ermöglicht, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins Gespräch bringen können. Prägende Erfahrungen sollen ins kollektive Gedächtnis eingebracht werden, um im Austausch weiter wirken zu können.38 In diesem Kontext betont die Generation der »Wendekinder« ihre »Vermittlerrolle«, auch hin zu den nachfolgenden Generationen, die selbst keine Erinnerungen an die DDR haben. Das Beharren auf dem Erzählen der eigenen Geschichte, das Offen- und Lebendighalten dieser Erinnerungen an das Kindsein in einem verschwundenen Land und dem weiteren Aufwachsen in einer anderen Gesellschaft, wird hier als vielstimmiger Erfahrungs- und Deutungshorizont konturiert, der insbesondere in Zeiten der gesellschaftlichen Transformationsprozesse Relevanz beansprucht.
II.1
Kindheit ins Bild setzen – autobiographiebasiertes Erzählen und Erinnern im Comic
Dass der Comic – häufig unter dem Label Graphic Novel – mit seinen spezifischen bimedialen Möglichkeiten einen wichtigen Beitrag im skizzierten Kontext der erzählten autobiographischen bzw. autobiographiebasierten Kindheitserinnerungen an das Aufwachsen in der DDR liefern, ist bereits am Beispiel von Mawils (d.i. Markus Witzel) Kinderland (2014) angeklungen. Auch hier sind es vor allem die jüngeren Comicautorinnen und -autoren, die Alltags- und Kindheitsgeschichten inszenieren und so die Erinnerung an das Kindsein in der DDR in seinen unterschiedlichen Facetten und Farben lebendig halten.39 Die Comics gehen dabei über die angesprochenen Formen, Kindheitserinnerungen als generationelle Erfahrungen zu beschreiben und zu kommunizieren, hinaus. Mit den medienspezifischen Möglichkeiten dieser hybriden Form des Erzählens in Bild und Text kommen andere Erzählweisen, Perspektiven und Reflexionsformen ins Spiel.40 Mawils Comic Kinderland führt zurück in die DDR im Sommer sich in der Realität stellt: Die Schwierigkeiten der Generationen, die in sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen aufgewachsen sind, sich über Erinnerungen und Erfahrungen zu verständigen. 38 Vgl. hierzu http://netzwerk.dritte-generation-ost.de/. 39 Dies ist im Kontext des zunehmenden Interesses am autobiographischen Erzählen zu sehen, das sich im Comic in den letzten Jahren ausgehend von den USA und Frankreich auch in Deutschland abzeichnet. 40 S. hierzu Dollhäubl 2009.
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vor dem Mauerfall; seine Geschichte erzählt er konsequent aus kindlicher Perspektive. Detailrealistisch, »in orwo-farbe«41, ist hier der Kinderalltag nachgezeichnet. Die Alltagsrealität der DDR scheint in diesen Bilder auch in den bekannten Attributen der Kindheits- und Konsumwelt auf, sie wird jedoch künstlerisch überformt. Die dargestellten Familien- und Schulszenen folgen der Dramaturgie des Kinderlebens mit seinen Höhen und Tiefen. Im Mittelpunkt steht jedoch die Entwicklung der anfangs sehr musterknabenhaften Figur Mirco, die hier verfolgt und in Schlüsselmomenten verdichtet wird. Zentrum, Leitmotiv und Leitmetapher dieser Kindheitsgeschichte ist das Tischtennisspiel, dem Mirco leidenschaftlich nachgeht. Das Spiel bringt Spannung und Dynamik in die Geschichte, mobilisiert die Figuren, an ihm entlang werden Freundschaften geschlossen und Konflikte ausgetragen, es wird, zwischen Triumph und Niederlage, zum symbolischen Spielfeld und zur künstlerischen Projektionsfläche. Das große Tischtennisturnier, dessen Organisation Mirco übernimmt, soll der Höhepunkt des Kinderlebens werden – das mit dem Mauerfall zu Mircos großer Enttäuschung ins Wasser fällt. Mit dem Ende der DDR endet zugleich das Kinderland: Das Schlussbild des Comics setzt dies ganz unsentimental in Szene: »Ihr seid doch keine Kinder mehr«, weist der Vater Mirco und seinen Freund zurecht – und gibt damit zugleich die Richtung vor. Mit der hier inszenierten Durchkreuzung von Kindheits- und Zeitgeschichte wird Mawil nicht nur der Erfahrung gerecht, dass Kinder politische Ereignisse anders wahrnehmen – »alles war politisch, aber was weiß ein Kind davon« heißt es im Untertitel der Kindheitsgeschichten Drüben und Drüben.42 Mawil setzt die kindliche Perspektive mit ihren spezifischen Beschränkungen43 darüber hinaus bewusst als bildkünstlerisches Stilmittel ein: Der auf das Naherleben und die Gegenwart fokussierte kindliche Blick auf die erzählte Welt wird erweitert durch Referenzen und Realitätseffekte, die den fiktionalen Bild- und Geschichtsraum kontrastieren und erweitern. So agieren die cartoonesk stilisierten Figuren in einem fast fotographisch gezeichneten Berliner Stadtbild. Zeitgeschichte wird hier in diesem Bildraum anspielungsreich ins Spiel gesetzt. Fotorealistisch wirkende Bildzitate wie das Honecker-Porträt im Klassenzimmer, die Flagge beim Pioniernachmittag, antiwestliche Propaganda im Unterricht, der Spiegel der unter dem Neuen Deutschland sogar im Zimmer der linientreuen Pionierleiterin hervorlugt, Gorbatschows Bild auf der Zeitung eines Passanten verweisen auf politische Hintergründe und sind Zeichen der an ihr Ende kommenden DDR, die dem heutigen Betrachter mehr sagen als dem erlebenden Kind, aus dessen Perspektive Mawil erzählt. Zudem lassen sich die skurrilen Figuren, die 41 So Mawils ironischer Werbetext zum Comic: http://www.mawil.net/. 42 Wagner / Schmidt 2014. 43 Zum kindlichen Blick als literarische Erzählstrategie s. Barth 2009.
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dieses Kinderland bevölkern, selbst deuten, als ganz unterschiedlich gezeichnete Repräsentanten der »Miniaturgesellschaft DDR«, die hier zwischen Eigensinn, Subkultur und Anpassung in ihrer Vielfalt porträtiert wird. Dass die strebsame Mitschülerin und Gruppenratsvorsitzende, die mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt geht, Angela Werkel heißt, ist in diesem Sinne ein Scherz am Rande. Mawil integriert Anspielungen und politische Dimensionen, die auf das Mehrwissen der Leser zielen, ohne dass die kindliche Perspektive verlassen wird. Nadja Buddes gezeichnete Kindheitserinnerungen Such dir was aus, aber beeil dich (2009) hingegen verlegen solche Erfahrungen in den erinnerten Wahrnehmungshorizont des Kindes. Sie erzählt und zeichnet in ihren autobiographischen Erinnerungen einerseits eine zeitlos wirkende Kindheit in Momentaufnahmen nach, die Einblicke in die damalige Kindheitswelt geben, dabei aber andererseits lückenhaft, episodisch bleiben und sich nicht zu einer fortlaufenden Kindheitsgeschichte fügen. In ihren karikaturistischen Szenarien und Erinnerungsbildern spielt sie mit den Verfremdungseffekten, die die (Re-) Konstruktion der kindlichen Perspektive und ihre Wahrnehmungslogik mit sich bringt. Es ist eine Hommage an die Kindheit mit ihren skurrilen, imaginären, unheimlichen Seiten, die zwischen komischem Missverstehen, magischer Verwandlung und überbordende Fantasie ins Bild gesetzt ist. Hinein in dieses erinnerte Kinderland spielen allerdings auch solche Erlebnisse, die – in komischer Brechung – auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im Alltag der DDR hinweisen und das Kindsein im Osten in Erinnerung rufen: Beim Bad im »dreckigbraunen Ostseewasser«, das sichtbare Spuren, einen »fürchterlichen Hautausschlag« hinterlässt oder beim Ausflug nach Bitterfeld, wo »schwarzer Regen aus einem ewig gelben Himmel« fällt und der Name »Silbersee« ungute Assoziationen weckt.44
II.2
(Erzähl-)Formen kindlichen Erinnerns
Gansel hat in seinen Arbeiten zur »Rhetorik der Erinnerung« (2009) aus narratologischer Perspektive unterschiedliche Formen systematisiert, in denen literarische Erinnerungen zwischen den Positionen von Erinnerndem und Erinnertem inszeniert werden können.45 Der Comic mit seinen medialen Möglichkeiten des Erzählens in Text und Bild hat in diesem Zusammenhang spezifisches erzählerisches Potential.46 »Die dualen Ebenen von Bild und Text eröffnen das Spielfeld für differenzierte Erzählkonstruktionen, denn innerhalb 44 Budde 2009, o.S. 45 Gansel 2009. 46 Zum Erzählen im Comic grundsätzlich Dittmar (2011) und Schüwer (2008).
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eines Panels können über den kommentierenden Blocktext, die Dialoge der Sprechblasen und das gezeichnete Bild verschiedene Zeitebenen parallel dargestellt werden.«47 So manifestiert sich in Nadja Buddes Graphic Novel die Distanz zur Kindheit in den kurzen einführenden Textblöcken, während auf der Bildebene assoziativ Kindheitsszenen dargestellt werden. Erinnerungsprozesse werden hier auch auf der Bildebene reflektiert: wenn zu sehen ist, wie ein bestimmter Geruch plötzlich die Tür zur Kindheit aufstößt und ein Querschnitt des erwachsenen Gehirns zeigt, wie »Erinnerungen der Kindernase« im autobiographischen Gedächtnis gespeichert sind.48 So zeigt sich, dass und wie Gerüche, Bilder, Orte und Worte als Erinnerungsauslöser und -spuren in die Kindheit zurückführen, ohne doch mit ihr identisch zu sein. Auch Flix zeithistorische Comic-Serie Da war mal was (2009), eine Folge von gezeichneten Erinnerungen an DDR, Mauerfall und Friedliche Revolution, die auf Erzählungen verschiedener Zeitzeugen (auch sie mehrheitlich der Generation der »Wendekinder« zugehörig) beruht, setzt den Prozess des Erinnerns selbst ins Bild. Ausgangspunkt ist die zum Auftakt der Sammlung gestellte Frage »Woran erinnerst du dich?« Auf diese Eingangsfrage werden in der Folge ganz unterschiedliche Antworten gefunden, die sich zu einem Panoptikum von Erinnerungsbildern zusammensetzen. Die Erzählfiguren sind dabei eingangs jeweils als Erinnernde ins Bild gesetzt, sie reflektieren und kommentieren von der Gegenwartsebene aus die auftauchenden Erinnerungsbilder, in denen sie dann als vergegenwärtigte Figuren agieren. Die Comicstrips folgen so der Struktur des »Gedächtnisromans«, die Gansel (2009) folgendermaßen beschrieben hat: »Dabei werden in zumeist chronologisch strukturierten Rückblenden die vergangenen Erfahrungen präsentiert und an den aktuellen Prozess des Erinnerns gekoppelt.«49 Die vielfarbigen, vielschichtigen ästhetischen Formen, die Flix einsetzt, sind darüber hinaus lesbar als eine Selbstreflexion der Kunst der Erinnerung, sie thematisieren das Fragmentarische, Überformte und Unzugängliche. Etwa, wenn der Akt des Erinnerns als Memoryspiel dargestellt wird, bei dem bestimmte Karten aufgedeckt und andere verdeckt bleiben. Oder, wenn die Überlagerung von Erinnerungs- und Medienbildern anschaulich gemacht wird und Fragen danach aufgeworfen werden, wie welche Erinnerungen – bewusst oder unbewusst – intergenerationell weitergeben werden.
47 Stemmann 2014, S. 21. 48 Budde 2009, o.S. 49 Gansel 2009, S. 28.
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III.
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Kinderliteratur und Erinnerungskultur
Die zuletzt angesprochenen Fragen führen zu den Geschichten, die nicht nur von Kindheiten handeln, sondern diese auch Kindern erzählen, also ins Feld der spezifischen Kinderliteratur. Die bisher diskutierten Texte und Comics zählen als so genannte All Age-Texte zur (intendierten) Jugendlektüre, sie sind so wahrgenommen und teils auch ausgezeichnet worden.50 Texte, die speziell für Kinder und Jugendliche geschrieben und publiziert werden, werden allerdings in spezifischen Rahmen- und Kommunikationsbedingungen und teils auch mit anderen Intentionen geschrieben. Sie erzählen den nachfolgenden Generationen, die keine eigenen Erinnerungen an diese jüngere Vergangenheit haben, von zeithistorischen Ereignissen und gestalten und vermitteln mit den Geschichten bestimmte Geschichtsbilder. Das Spektrum an Formen und Medien ist inzwischen breit gefächert: Vom Pixibuch bis zum Sachbuch, vom Bilderbuch über den Kinder- bis zum Jugendroman beteiligt sich die Kinder- und Jugendliteratur in erkennbaren Wellen – zunächst relativ kurz nach der ›Wende‹, dann mit deutlichem Abstand zum 20. und 25. Jahrestag des Mauerfalls – an der deutsch-deutschen Erinnerungsproduktion. Die spezifisch kinderliterarischen Texte, um die es hier zunächst gehen soll, sind im weiteren Sinn zur so genannten zeitgeschichtlichen Literatur zu zählen.51 Die Texte spielen durchgängig in der jeweiligen Vergangenheit und erzählen, häufig aus der Perspektive und im Erfahrungshorizont kindlicher Protagonisten, von den vergangenen Ereignissen. Das Erzählen aus kindlicher Perspektive ist ein kinderliterarisch etabliertes Stilmittel, um Einblicke in die Wahrnehmung, die Subjektivität der Protagonisten zu ermöglichen. Diese narrative Strategie wird aber auch eingesetzt, um mittels der kindlichen Identifikations- und Reflektorfiguren historische Ereignisse miterlebbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Es geht damit nicht so sehr um das Spannungsverhältnis von subjektivem Erleben und zeithistorischer Bedeutung, sondern um das Zugänglichmachen von Wissen zur Vergangenheit, wobei Deutungen immer mitgeliefert werden. Im hier diskutierten Kontext konzentrieren sich die Darstellungen entsprechend häufig auf zentrale Ereignisse im zeitlichen Umfeld der Friedlichen Revolution, dem Mauerfall und/oder der unmittelbaren Nachwendezeit. Die Kinderfiguren werden an 50 Nadja Buddes Comic wurde für 2010 mit dem Jugendliteraturpreis Sparte Jugendbuch ausgezeichnet, Simon Schwartz’ gezeichnete Familienbiographie drüben! war im selben Jahr in der Sparte Sachbuch nominiert. 51 Der Terminus »zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur« hat sich in der Kinder- und Jugendliteratur als Oberbegriff für die Texte eingebürgert, die von Ereignissen aus der jüngeren Vergangenheit erzählen, vor allem, aber nicht nur, Nationalsozialismus und Holocaust thematisieren. Aus narratologischer Perspektiv setzt sich Gansel (2009, S. 19) kritisch mit diese Terminus und seiner Definitionsgrundlage auseinander.
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einschlägige Schauplätze zurückversetzt, an denen sich Geschichte zugetragen hat. Die Kindererzählung Fritzi war dabei (Schott 2009) erzählt beispielsweise von den Montagsdemonstrationen in Leipzig, die die kindliche Protagonistin an der Seite ihrer Eltern erlebt.52 Als Ich-Erzählerin berichtet die Kinderfigur von den Ereignissen; aus dieser Perspektive vermittelt sich in Schul- und Familienszenen die Aufbruchstimmung ebenso wie die Hoffnungen, Gefahren und Ängste, die mit den Demonstrationen verbunden haben. Der kindlich-staunende Blick verweist verfremdend auf das Erstaunliche der »Wendewundergeschichte« (Untertitel), als die die Geschichte der Friedlichen Revolution auch medial inszeniert worden ist. Dass die Protagonistin nicht alles versteht, was sich vor ihren Augen abspielt, gibt zudem Gelegenheit, stellvertretend Fragen zu beantworten und Hintergründe zu vermitteln, die über den Wissenshorizont der Figur – und der Leser – hinausgehen. So werden historisches Wissen und Geschichtsdeutungen vermittelt und kritische Perspektiven auf die DDR, ihre Institutionen und Repräsentanten geworfen. Die begrenzte kindliche Sichtweise zu erweitern und mit anderen Figuren weitere Perspektiven und Deutungen einzubringen, ist ein erzählerisches Mittel, das kinderliterarisch häufig eingesetzt wird. So sind es im ebenfalls homodiegetisch erzählten Kinderroman Zweimal Marie53 die Lehrerfiguren, die in verschiedenen Musterdialogen die Ereignisse kurz vor dem Mauerfall kommentieren und Bewertungen vornehmen, die häufig den Diskursen der ›offiziellen‹ Geschichtsschreibung folgen. Die Darstellung der Kinderfiguren ist so nicht auf die individuelle Erfahrung hin angelegt; aus ihrer Perspektive wird stellvertretend und repräsentativ Geschichte vermittelt. Die Autorin Hanna Schott weist im Paratext explizit auf die Recherchen und Interviews mit Kindern hin, die bei den Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig dabei waren, und deren Erlebnisse nun in der fiktiven Augenzeugin Fritzi verdichtet werden.54 Im Nachwort wird entsprechend auf den »wahren«, d. h. zeithistorischen Kern der Geschichte hingewiesen. Der Text selbst setzt im Sinne von Authentifizierungsstrategien bewusst Realismuseffekte ein: so wird auf Transparente und Plakate verwiesen, die auf den Demonstrationen zu sehen waren; Illustrationen zeigen, wie die Familie vor dem Fernseher die aktuellen Nachrichten verfolgt. Es geht in diesen Zitaten nicht um die Reflexion der Erinnerung zur DDR und ihrer Darstellung in den Medien. Das unterscheidet den Kinderroman perspektivisch von den vorgestellten Texten aus der »Dritten Generation Ost«. Jana Hensel artikuliert sich beispielsweise folgen52 Ein didaktischer Impuls zu Fritzi war dabei für die ausgehende Primar- bzw. beginnende Sekundarstufe findet sich in diesem Band im Beitrag von Kirsten Kumschlies. 53 Petrick 2009. 54 In anderen Texten werden in eben dieser Intention, die Nähe zum Geschehen zu inszenieren, Tagebuchfiktionen inszeniert, zum Beispiel in Barbara Bollwahns Der Klassenfeind + ich (2007).
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dermaßen zu ihrer Teilnahme an den Leipziger Montagsdemonstrationen: »Ich weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später, in den Tagesthemen sah.«55 Die kinderliterarische Erzählung arbeitet hingegen Realitätsbezüge, wie die Fernsehbilder ein, um einen Eindruck vom damaligen Geschehen zu vermitteln. In der zeitgeschichtlichen Kinderliteratur findet jene Kommunikation zwischen den Ebenen von Gegenwart und Vergangenheit, wie sie für den »Gedächtnisroman« bzw. den »Erinnerungsroman«56 charakteristisch ist, nicht statt. Dass letztgenannte Erzählverfahren kinderliterarisch kaum aufgegriffen werden, hat, so Gansel mit der größeren literarische Komplexität von Texten zu tun, die das Erinnern im »reflexiven Modus«57 mit sich bringt: »Eine solche Struktur braucht einen Leser, der eine distanzierte Betrachtung des Dargestellten vornimmt. Er steht vor der Notwendigkeit, aus der Vielzahl der mit- und gegeneinander wirkenden Stimmen selbstständig eine Textkohärenz herzustellen. Dass dies Kindern und Jugendlichen schwer fällt, ist wiederholt betont worden.«58 Welche Geschichtsbilder mit und in den Texten geprägt werden, wie die Vergangenheit zwischen Fakten und Fiktionen thematisiert und welche normativen Vorstellungen sich hier einschreiben, ist in der Auseinandersetzung mit Kinderund Jugendliteratur, die als Medium der intergenerationellen Kommunikation implizit oder explizit auch darüber mitentscheidet, was und wie erinnert werden soll und somit entsprechend Funktionen für das kulturelle Gedächtnis übernimmt, zu diskutieren.59 Der Blick insbesondere auf die neuere Jugendliteratur zeigt, dass sich die Möglichkeiten des Erzählens inzwischen weiter ausdifferenziert haben. Das zeigt sich in der größeren thematischen Bandbreite, etwa in den Texten von Grit Poppe, die von einem lange vergessenen Kapitel der DDR-Geschichte, den Jugendwerkhöfen erzählt60, oder auch in Nachwendeerzählungen, die sich nicht auf die Rekonstruktion zeithistorischer Ereignisse konzentrieren. Petra Kaschs Roman Bye, bye Berlin (2009) setzt sich in psychologisch differenzierter Weise mit den unterschiedlichen generationellen Erfahrungen des Umbruchs auseinander und greift damit ein Thema der oben beschriebenen autobiographischen Verarbeitung auf. Auch die Formen des Erzählens sind vielfältiger geworden, von komische Erzählweisen, die in vollem Unernst mit den historischen Ereignissen spielen, bis hin zu generationenübergreifenden Familienromanen, die 55 56 57 58 59
Hensel 2004, 12. Gansel 2009. Ebda, S. 38. Ebda. Vgl. hierzu die Beiträge in Dettmar / Oetken (2010). In didaktischer Perspektive setzen sich die Beiträge in Josting / Kammler / Schubert-Felmy (2008) mit kinder- und jugendliterarischen Texten zur Wende auseinander. 60 Grit Poppe: Weggesperrt (2009) und Abgehauen (2012).
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als »Gedächtnisromane« von der Gegenwartsebene aus die Geschichte über mehrere Generationen zurückverfolgen.61 Insofern partizipieren die Texte zumindest teilweise an einem Prozess, der sich im Feld des zeithistorischen Erzählens über Nationalsozialismus und Holocaust abzeichnet; auch hier haben sich die ästhetischen Spielräume in den letzten Jahren deutlich erweitert.62 Der 2014 erschienene autobiographische Text Tonspur (Hintze/ Krones 2014) ist ein Beispiel dafür, dass erzählerisch komplexere Formen des Erinnerns auch jugendliterarisch aufgenommen werden (können). Der Text erzählt nicht nur auf verschiedenen zeitlichen Ebenen, er reflektiert den Prozess und die Bedeutung des Erinnerns für die (Re-)Konstruktion von Geschichte mit und lässt sich so als »Erinnerungsroman«63 bezeichnen. Dass hier Vergangenheit und Gegenwart in Kommunikation gebracht werden, zeigt sich bereits in der Koproduktion des Textes: Olaf Hintze, der 1964 in Erfurt geboren wurde, erinnert und erzählt seine Kindheit und Jugend in der DDR, und er tut dies im Gespräch mit der Autorin Susanne Krones (1979 in Amberg geboren), die diese Lebensgeschichte auf- und nachzeichnet. So finden hier ein Generationengespräch und ein Austausch zwischen Ost und West statt. Diese dialogische Form schreibt sich dem Text selbst in mehrfacher Weise ein: Die Gegenwartsebene, von der aus kommentiert, bewertet, eingeordnet wird, auf die aber auch immer wieder vorausgedeutet wird, verbindet sich mit verschiedenen Vergangenheitsebenen: Ausgehend von der Vergegenwärtigung der Fluchterlebnisse im August 1989, die für Olaf Hintze den biographischen Wendepunkt bilden, führen zahlreiche Rückblenden in die Kindheit und Jugend und erzählen vom Aufwachsen in der DDR. Die Lebens-Geschichte wird nicht chronologisch, sondern als vielschichtige und vielstimmige Montage erzählt, bei der sich mit den Zeit- auch die Erzählebenen und -instanzen vervielfältigen: Notizen, Briefe, Kalendereinträge dokumentieren das zeitgenössische Erleben des autobiographischen Erzählers Hintze. Er ist zudem als Gesprächspartner im Text präsent, deutet, bewertet und bezieht so erinnernd Position zu dem, was er erlebt hat. Erst im Rückblick und im Erfahrungshorizont der Gegenwart, so zeigt sich, erlangen vergangene Begegnungen und Erfahrungen Bedeutung, werden Schlüsselerlebnisse und Lebensthemen kenntlich – Freiheit und Bildung konturieren sich in diesem biographischen Bildungsroman als ein solches durchgängiges Thema der Lebensgeschichte. Diese Leitthemen werden zum erzählerischen Gestaltungsprinzip, wenn Literatur- und Musikzitate als Leitmotive der »Tonspur« eingesetzt werden, um die Erinnerung zu strukturieren.64 Der Text ist nicht als Gesprächs61 Vgl. hierzu ausführlich Dettmar (2009). 62 Vgl. zu dieser Entwicklung der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur Steinlein (2011) sowie den Überblick von Glasenapp (32008). 63 Gansel 2014, S. 69f. 64 Im Nachwort verweisen die Autoren entsprechend nicht, wie es in kinder- und jugendliterarischen Texten verbreitet ist, auf die Authentizität der Geschichte. Sie reflektieren vielmehr
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protokoll angelegt, sondern wird in der dritten Person erzählt, mit ergänzenden und erklärenden Passagen erweitert und narrativ geformt. So ist die erinnerte Kindheit und Jugend bei aller Nähe zum Erleben durch Erzählinstanzen vermittelt: Befragung und Selbstbefragung, Gesprächszitate, Gedankenberichte, erlebte Rede, persönliche Erfahrungen und zeithistorische Kontexte, auftauchende Erinnerungsbilder und dazu gewonnene Einsichten, Vergangenheits- und Gegenwartsebenen begegnen und erhellen sich in dieser nicht-linearen mehrstimmigen Erzählung. Erinnerung ist in diesem Text in verschiedener Hinsicht selbst ein Thema: Bereits im Modus des Erzählens wird auf das unzuverlässige Erinnern verwiesen. Die Rekonstruktion der Fluchterlebnisse, die inzwischen 25 Jahre zurückliegen, und die damaligen Empfindungen stehen im Konjunktiv und verweisen so auf die Unmöglichkeit, sich ›authentisch‹ zu erinnern: »So könnte es gewesen sein«65 – mit dieser Mutmaßung beginnt der Text. Teil der vielstimmigen Montage sind zudem Erinnerungsstücke, Fotos, Kassetten, Dokumente, Kalender, Exzerpte, die als Erinnerungsauslöser und Erinnerungsmedien im Entstehungsprozess gedient haben. Im Text fungieren sie als biographische Spuren, bringen Stimmungen und Erinnerungen zurück, belegen, was berichtet wird, eröffnen Assoziationsräume. Speicher- und Aufzeichnungsmedien werden so selbst zu Gedächtnismetaphern: Erinnerung als »Endloskassette«,66 die immer wieder abläuft, abspielbar ist und neu überschrieben wird. So bringt der Text vieles von dem zusammen, was im hier skizzierten Kontext von Erinnern und Erzählen an verschiedenen Literaturen und Medien angeklungen ist: Er ist autobiographische Selbst(er)findung, mit ihren Filter-, Formungs- und Sinndeutungsprozessen, die mit reflektiert werden, er verdichtet Erinnerungsstücke im intertextuellen Bezug zur biographischen Narration, ist erzählt als persönliche Geschichte und (kritische) Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, bindet individuelle Erinnerung in das »Generationengedächtnis« ein, und ist in der Kommunikation dieser Erfahrungen als Beitrag zum kommunikativen Gedächtnis angelegt.
die Prozesse des Erinnerns und Vergessens (Hintze) bzw. des Erzählens (Krones) und verweisen damit auf die Konstruktion des Erinnerungstextes. 65 Hintze/ Krones 2014, S. 8. 66 Ebda, S. 312.
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