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German Pages 260 Year 2012
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 172
Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Staat Von Johann Ludwig Duvigneau
Duncker & Humblot · Berlin
JOHANN LUDWIG DUVIGNEAU
Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Staat
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 172
Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Staat
Von Johann Ludwig Duvigneau
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Der Wettbewerb zwischen den Staaten um mobile Produktionsfaktoren bringt – bei allen Effizienzgewinnen, die ihm inne wohnen – für den modernen Verfassungsstaat eine Herausforderung mit sich. Denn dem Verfassungsstaat liegt bis heute der liberale Gedanke der allgemeinen Freiheit zu Grunde. Dem Wettbewerb zwischen den Staaten wohnt demgegenüber eine Tendenz der spezifischen Rücksichtnahme auf diejenigen inne, die über mobile Produktionsfaktoren verfügen: Der wettbewerbende Staat herrscht über sie nicht mehr im historisch eigentlichen Sinne, sondern macht sich ihnen gegenüber attraktiv. Dies ist angesichts der Situation des offenen Staates nachvollziehbar. Die damit verbundene Aufweichung von Herrschaft aus Gründen der wettbewerblichen Rücksichtnahme läuft der Allgemeinheit der Freiheit – und des Rechts – aber entgegen. Schon aus kategorialen Gründen ist der wettbewerbende Verfassungsstaat daher gut beraten, die kontrafaktische Kraft seiner Verfassung einem allzu stark wettbewerblich motivierten Verhalten entgegenzuhalten. Das vorliegende Buch hat sich dieses Themas angenommen. Es setzt sich unter anderem mit der zwar prominenten, gleichwohl recht allgemeinen These auseinander, dass der Wettbewerb zwischen den Staaten für den Verfassungsstaat ein buntes Kaleidoskop unterschiedlicher Probleme in den Bereichen der Demokratie, des Freiheitsschutzes sowie der Rechts- und Sozialstaatlichkeit bereit halte. Diese These liegt zwar nahe, ist aber wenig gehaltvoll. In einer genaueren Betrachtung stellt sich heraus: (1) Der Wettbewerb fordert den Verfassungsstaat zwar in all diesen Bereichen heraus, jedoch immer nur im Hinblick auf einen sehr spezifischen Gesichtspunkt, nämlich die Allgemeinheit des Rechts. Und (2): Das BVerfG hat alle Möglichkeiten, das Verfassungsrecht im Hinblick auf diese spezifische Herausforderung dem Wettbewerb zwischen den Staaten zu entziehen. Einer besonderen Ordnung des Wettbewerbs zwischen den Staaten, wie sie mittlerweile über das unionale Beihilferecht und das WTO-Antisubventionsrecht hinaus vielfach gefordert wird, bedarf es – jedenfalls zum Schutz vor verfassungsrechtlicher Erosion – aus deutscher Sicht daher nicht. Mit dieser Kernaussage ist die nachfolgende Arbeit während einer dreijährigen Elternzeit entstanden, die ich mit meiner Familie bis zum Sommer 2010 in Belgrad verbringen durfte. Gewidmet ist sie meiner Frau Heike und unseren Kindern Clara und Kai – wir hatten eine wunderbare gemeinsame Zeit in Belgrad. Berlin, im Januar 2012
Johann Ludwig Duvigneau
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Literaturüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Grundlinien der staatsrechtlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Die Staatsrechtslehrertagung in Graz 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten in der Staatsrechtslehre: Entseiung des Wettbewerbs durch Formalisierung und Normativierung . . . . . . . . . 43 II. Die Bedeutung des staatlichen Interesses am wertschöpfungsträchtigen mobilen Produktionsfaktor: Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Ausgangspunkt: Der Begriff des Wettbewerbs im allgemeinen Sprachgebrauch – Anklänge einer interessensbasierten Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Rückgriff auf Erkenntnisse der Evolutionsökonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Der ökonomische Begriff des Systemwettbewerbs als Begriff des Tatsächlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Begrenzte Anschlussfähigkeit der ökonomischen Begriffsbildung an die verfassungsrechtliche Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Faktive Aufladung des Begriffs des Wettbewerbs: Das staatliche Interesse am mobilen und wertschöpfungsträchtigen Faktor als eigenständiger Pfeiler der Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Der Träger des Interesses: Der Staat, nicht die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Der Gegenstand des staatlichen Interesses: Der mobile Produktionsfaktor, nicht der Faktorverfügende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 aa) Der produktionsfunktionale Begriff des Produktionsfaktors . . . . . . . . . . . 86 bb) Die grenzüberschreitende Mobilität von Produktionsfaktoren in ihrer wettbewerblichen Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
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Inhaltsverzeichnis c) Der Grund des staatlichen Interesses: Teilhabe an der Wertschöpfung . . . . . . 93 III. Vervollständigung des Begriffs: Diversität in Bezug auf den Faktor durch einseitiges staatliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 IV. Definition des Begriffs: Wettbewerb zwischen den Staaten als tatsächliches interessegetriebenes Phänomen einzelstaatlichen Herrschens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Herrschaft in der offenen Staatlichkeit: Verfügendenmobilität als Konditionalisierer staatlicher Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Das überkommene Konzept staatlicher Herrschaft: Situative Vielheit von Befehlen und Gehorchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Immobilität als ungedachte Voraussetzung des überkommenen Herrschaftskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Konzeptionelle Weiterentwicklung im Angesicht faktoroffener Staatlichkeit: Der Selbstunterwerfungswille des Faktorverfügenden als echte Herrschaftsbedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Der offene Staat als wettbewerbender Staat: Rücksichtnahme im Paradigma relativer Herrschaftsattraktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Der Wettbewerb zwischen offenen Staaten und der wettbewerbende Staat: Der spezifische Begriff des „wettbewerbenden Staates im Wettbewerb“ . . . . . . . 118 2. Der wettbewerbende Staat im Paradigma relativer Herrschaftsattraktivität: Rücksichtnahme und das Ziel der Inklusion von Faktoren unter die staatliche Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 III. Der Verfassungsstaat als wettbewerbender Staat: Verfassungsrecht zwischen Begrenzungswirkung und Herausgefordertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Vorüberlegungen zum Begriff des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Leitfrage: Der Bindungsanspruch des Verfassungsrechts als Kristallisationspunkt im Verhältnis von verfassungsrechtlicher Normativität und staatlicher Herrschaft im Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat . . . . . . . . . . 146 I. Präferenzialität in der staatlichen Rücksichtnahme als wettbewerbliches Spezifikum: Die Herausforderung der Allgemeinheit des Rechts durch wettbewerblich motiviertes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Kosten und Nutzen staatlicher Freiheits- und Stabilitätsgewähr für den Staat: Präferenzialität als einfachster wettbewerbsstrategischer Weg der Rücksichtnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Inhaltsverzeichnis
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2. Die wettbewerbliche Herausforderung der Präferenzialität als Spezifität des Wettbewerbs: Verkürzung der rechtlichen Freiheit gerade durch Verkürzung ihrer allgemeinen Gewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Die Grenzen der spezifisch wettbewerblichen Herausforderung: Rechtsbeachtungsmotivation als Herausforderungsgrenze – das Beispiel der umgekehrten Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Antworten des BVerfG: Zwischen Ab- und Aufbau allgemeiner verfassungsrechtlicher Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Ansätze des Abbaus allgemeinen Rechts gegenüber wettbewerblich motiviertem Handeln: Die Zweitregisterentscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . 169 2. Ansätze des Aufbaus allgemeinen Rechts gegenüber wettbewerblich motiviertem Handeln: Die Vollzugsdefizitrechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . 177 a) Die Rechtsprechung des BVerfG zum sogenannten strukturellen Vollzugsdefizit: Die Zinsentscheidung und das Tippke-Urteil des BVerfG . . . 178 b) Die Bedeutung der Rechtsprechung zu strukturellen Vollzugsdefiziten im Wettbewerb zwischen den Staaten: Stärkung der Allgemeinheit des Rechts gegenüber wettbewerblich motivierter Rücksichtnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen: Ein ordnungspolitisches Leitbild für den Schutz der allgemeinen Freiheit im Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Funktionale Überlegungen zur Allgemeinheit des Rechts als einem Instrument des Freiheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 a) Der Schutz der Freiheit des Einzelnen als Fundmentalzweck des Verfassungsstaates: Begrenzung von Macht des einen über den anderen . . . . 193 b) Die Umsetzung des verfassungsstaatlichen Fundamentalzwecks des Freiheitsschutzes: Die Allgemeinheit des Rechts als Instrument . . . . . . . . . . . 201 2. Die Allgemeinheit des Rechts als ordnungspolitisches Leitbild: Alexis de Tocqueville und die liberale Antwort auf den Wettbewerb zwischen den Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Die innere Struktur der Allgemeinheit des Rechts im Verfassungsstaat: Verbot der Instrumentalisierung des Staates als rechtlicher Antiprotektionismus nach Innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Die Wurzeln des antiprotektionistischen Instrumentalisierungsverbotes in der politischen Theorie: Alexis de Tocqueville und die égalité des conditions normatives . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 IV. Konsequenzen für die Verschränkung von wettbewerbender Ordnung und Wettbewerbsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 E. Zusammenfassung und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
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Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
A. Einleitung I. Fragestellung Der Verfassungsstaat hat sich in den vergangenen Jahrzehnten für den Grenzübertritt von Produktionsfaktoren weit geöffnet. Getragen von der Erkenntnis des großen Wertschöpfungspotenzials offener Volkswirtschaften haben die Staaten, wo sie den Weg der Öffnung nicht schon unilateral beschreiten konnten, dabei auf das Instrument der rechtlichen Verpflichtung zurückgegriffen. Vor allem das Europarecht ist in seiner Entwicklung ganz wesentlich auch ein Ausdruck der – recht kontinuierlichen – Verdichtung von rechtlichen Verpflichtungen zur Offenheit. Die Grundfreiheiten sind in diesem Prozess über die Jahrzehnte zu Grundrechten auf wirtschaftliche Mobilität geworden.1 Ergänzt wird der mit den Grundfreiheiten erstrittene normative Freiheitsgewinn durch ein hohes Maß offenheitsgenerierender Verpflichtungsverdichtungen gegenüber Drittstaaten. Das WTO-Recht etwa ist in seiner historischen Entwicklung ganz wesentlich ein solcher Verdichtungsprozess.2 Er geht freilich nicht so weit wie das EU-Recht, ist zudem von sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten geprägt, wie etwa bereits die sektoriale Diversität rechtlicher Öffnungsverpflichtungen unter dem GATS deutlich zeigt. Auch die treibende Dynamik und die Durchsetzungsmechanismen sind völlig andere als in der EU, und so 1
Nettesheim, Martin, Die europarechtlichen Grundrechte auf wirtschaftliche Mobilität (Art. 48, 52 EGV), NVwZ 1996, S. 342. Es gibt insoweit freilich Abstufungen. Gegenüber Drittstaaten besteht ein deutlich geringerer Rechtsbestand der wirtschaftlichen Mobilität. Die Kapitalverkehrsfreiheit enthält allerdings auch insoweit echte Berechtigungen, die aktuell angefochten werden, vgl. Hindelang, Steffen, Direktinvestitionen und die Europäische Kapitalverkehrsfreiheit im Drittstaatenverhältnis, JZ 2009, S. 829. Zur Grundfreiheitsdogmatik im Übrigen statt vieler etwa Classen, Claus Dieter, Die Grundfreiheiten im Spannungsfeld von europäischer Marktfreiheit und mitgliedstaatlichen Gestaltungskompetenzen, EuR 2004, S. 416. Kritisch zur Diskussion um die Verschmelzung mit Grundrechten Nettesheim, Martin, Grundfreiheiten und Grundrechte in der Europäischen Union – Auf dem Weg zur Verschmelzung?, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Schriftenreihe Nr. 153, 2006. 2 Duvigneau, Johann Ludwig, Die Konstitutionalisierung des WTO-Rechts, 56 Aussenwirtschaft 2001, S. 295. Solche Verdichtungsprozesse sind übrigens in den verschiedensten Politikbereichen festzustellen. Einen Überblick und eine allgemeine Konzeptualisierung findet sich etwa bei Hirschl, Ran, The Judicialization of Politics, in: Whittington, Keith E. u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, Oxford: OUP, 2008, S. 119. Zur Verrechtlichung in der internationalen Sphäre allgemein Klabbers, Jan/Peters, Anne/Ulfstein, Geir (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, Oxford: OUP, 2009. Eine interessante Zusammenstellung findet sich auch etwa in dem kleinen Sammelband von Zangl, Bernhard/Zürn, Michael (Hrsg.), Verrechtlichung – Baustein für Global Governance?, Bonn: Dietz, 2004.
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A. Einleitung
verbietet es sich, EU und WTO über einen Leisten zu schlagen. Aber dennoch: Die WTO-rechtlichen Verpflichtungen wirken, soweit sie denn reichen, zunächst in eine ähnliche Richtung wie jene des unionalen Öffnungsrechts der Grundfreiheiten.3 Der mit diesem Öffnungsprozess verbundene Freiheitsgewinn führt zu einer höheren grenzüberschreitenden Mobilität von Produktionsfaktoren und – in diesem Zusammenhang – auch in einen Wettbewerb zwischen den Staaten um diese Produktionsfaktoren.4 Denn die Staaten haben ein ausgeprägtes Interesse daran, mobile Produktionsfaktoren am eigenen Standort anzusiedeln oder anderweitig für ihren jeweiligen Standort fruchtbar zu machen. Wollen sie ihr Interesse befriedigen, müssen sie sich für diese Produktionsfaktoren also attraktiv machen. Denn andernfalls wandern diese mobilen Faktoren ab oder, wenn sie sich an anderen Standorten, sprich in anderen Staaten befinden, wandern sie schon gar nicht zu. Der faktoroffene Verfassungsstaat entwickelt typischerweise daher ein ausgeprägtes Interesse an der Attraktion mobiler Produktionsfaktoren. Schon als Steuerstaat etwa geht der Verfassungsstaat in seinem lebhaften Interesse an Einnahmen der Besteuerung mobiler Faktoren nach. Aber auch sonst handelt er mit einem intensiven Blick auf die Wertschöpfung durch mobile Faktoren. Er tut dies – jedenfalls auch – mit wettbewerblicher Motivation. Ein Blick allein in die jüngere deutsche Gesetzgebung zeigt, wie ausgeprägt sein wettbewerblich motiviertes Handeln mittlerweile tatsächlich ist. Wir sehen es im Gesellschaftsrecht5, im Steuerrecht6, im Beamten-
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Grundzüge in politischer Perspektive etwa bei Jackson, John, Global Economics and International Economic Law, 1 JIEL 1998, S. 1; Sauvé, Pierre/Porter, Roger B. (Hrsg.), Efficiency, Equity and Legitimacy: The Multilateral Trading System at the Millenium, Washington DC: Brookings Institution Press, 1999; Howse, Robert, From Politics to Technocracy – and Back Again: The Fate of the Multilateral Trading Regime, 96 AJIL 2002, S. 94. Zu den jüngeren Reformversuchen etwa Petersmann, Ernst-Ulrich/Harrison, James, Reforming the World Trading System: Legitimacy, Efficiency and Democratic Governance, Oxford: OUP, 2005. 4 Dieser Wettbewerb zwischen den Staaten ist seiner Anlage nach enger als jener Wettkampf, der seit Jahrhunderten, ja vielleicht seit Jahrtausenden zwischen Bevölkerungsgruppen geführt wird. Wettkampf umfasst – ganz im Wortsinn – existenzielles Kämpfen, Wettbewerb demgegenüber nur – vergleichsweise harmloses – Werben um etwas. Die Unterschiede liegen auf der Hand: Während Wettkampf fortwährend zum Krieg mit dem Ziel der Auslöschung des jeweils Anderen geführt hat, kann Wettbewerb im hier verstandenen Sinn allenfalls Volkswirtschaften wachsen oder schrumpfen lassen. Führt man um des Wettbewerbs Willen Krieg, so wird man zum Kämpfer; der Wettbewerb wird so zum Wettkampf. Einen eindrücklichen ideengeschichtlichen Überblick zum deutschen Wettkämpfen über die Jahrhunderte gibt – ganz kontrapunktisch zum hier diskutierten Wettbewerb – Hirschi, Caspar, Wettkampf der Nationen, Göttingen: Wallstein, 2005. 5 Stichwort: Limited versus GmbH; vgl. dazu Luft, Angela, Die Limited im Wettbewerb zur GmbH, Bremen: Salzwasser-Verlag, 2006; Röpke, Katarina, Gläubigerschutzregime im europäischen Wettbewerb der Gesellschaftsrechte, Berlin: De Gruyter Rechtswissenschaften, 2007; Markert, Johannes/Degenhardt, Klaus, Limited, GmbH oder Unternehmensgesellschaft?, Europ. Hochschulverlag, 2009; Lüdemann, Volker, GmbH versus Limited – Zur Reform des deutschen GmbH-Rechts, HFR 2008, Beitrag 2 Seite 1, zu finden unter http://www. humboldt-forum-recht.de/english/2 – 2008/index.html.
I. Fragestellung
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recht7, im Umweltrecht8, im Wettbewerbs- und Kartellrecht9, im Internetrecht10, im Arbeitsrecht11 wie auch in vielen anderen Bereichen12 mehr. Einschlägige Arbeiten 6 Stichwort: Unternehmenssteuerreform 2008; dazu näher etwa Barth, Alexander, Unternehmenssteuerreform 2008, Baden-Baden: Nomos, 2007. Für eine breiter angelegte Diskussion zum Steuerrecht im Wettbewerb vgl. etwa den Sammelband von Becker, Ulrich/Schön, Wolfgang (Hrsg.), Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; ferner Gerken, Lüder u. a. (Hrsg.), Internationaler Steuerwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, übrigens mit einem interessanten alternativen Vorschlag zur jeweils voneinander unabhängigen Besteuerung von Bürgereinkommen und Faktorertrag, vgl. näher ebenda, S. 247 ff. Mit Blick auf den Steuerwettbewerb in der EU Pinto, Carlo, Tax Competition and EU Law, Den Haag: Kluwer Law International, 2003; Glasmeyer, Matthias, Steuerwettbewerb in der Europäischen Union, Eine wirtschaftsethische Perspektive, Bern: Haupt Verlag, 2006. Allgemein ferner Haarmann, Ulrich, Wohlfahrtsstaaten im Steuerwettbewerb, Saarbrücken: VDM, 2007. Janeba, Eckhard, International Tax Competition, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991. Zu den steuerstaatlichen Grundlagen vor allem Genschel, Philipp/Uhl, Susanne, Der Steuerstaat und die Globalisierung, in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, S. 92. 7 Stichwort: Professorenbesoldungsreformgesetz (BGBl. 2002 I Nr. 11) und die von ihm bewirkten Änderungen in § 33 Abs. 2 BBesG. 8 Stichwort: Regulierung chemischer Substanzen nach der REACH-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 1907/2006, ABl. I 2006 L 396/1 vom 30. 12. 2006), vgl. dazu etwa Blainey, Mark u. a., REACH, 4 JEEPL 2007, S. 424. 9 Dazu etwa Hönn, Günther, Europäisches Wettbewerbs- und Kartellrecht und die Freiheit des nationalen Gesetzgebers im Systemwettbewerb, in: Bröhmer u. a. (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, FS Georg Ress, Köln: Heymann, 2005, S. 505. 10 Dazu etwa Grewlich, Klaus, Governance im Cyberspace – Regulierung globaler Netze im Systemwettbewerb?, 46 RIW 2000, S. 337. 11 Dazu etwa Seidel, Martin, Löhne und Steuern im Systemwettbewerb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Klein, Eckart u. a. (Hrsg.), Rechtsstaatliche Ordnung Europas, FS Albert Bleckmann, Köln: Heymann, 2007, S. 365. Kritisch Krebber, Sebastian, Aufgabe, Möglichkeiten und Grenzen des Arbeitsvölkerrechts im liberalisierten Welthandel, JZ 2008, S. 53. 12 Der Wettbewerb macht übrigens nicht beim Gesetzgeber halt. Er greift tief in die Strukturen wirtschaftlicher Standortethik ein, wie etwa die Beiträge zur so genannten Corporate Governance, also der (Selbst-)Kontrolle und Organisation von Unternehmen, zeigen, vgl. dazu etwa Witt, Peter, Corporate Governance – Systeme im Wettbewerb, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 2003; Panqueva-Bernal, Blanca-Monica, International Competition between Corporate Governance Systems: Outcomes in the USA, Germany and Colombia, Göttingen: Cuvillier, 2006. Strategiebildung findet übrigens auch über Außenhandelsabkommen statt, wie etwa über die Gestaltung bilateraler Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) oder Investitionsschutzverträge (BITs). Zur Kompetenzentwicklung unter dem Europarecht insoweit etwa Burgstaller, Markus, European Law and Investment Treaties, 26 Journal of International Arbitration, 2009, S. 181. Daneben geht es aber nicht nur um den Faktor Kapital, sondern auch um den Faktor Arbeit, wie etwa gut ausgebildete Fachkräfte. Vgl. dazu den interessanten Überblick in The Economist, 7. bis 13. Oktober 2006, Special Report: The Search for Talent. Kritisch zur Wirklichkeit von Forschern im innerunionalen Systemwettbewerb etwa Morano-Foadi, Sonia, Scientific Mobility, Career Progression, and Excellence in the European Research Area, 43 International Migration, Special Issue 1/2005, S. 133. Für einen strategischen Werbeauftritt Deutschlands vgl. etwa die Informationen von Germany Trade and Invest unter www.gtai.de.
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A. Einleitung
wie etwa die Habilitationsschrift von Eva Maria Kieninger geben einen eindringlichen Überblick über den Wettbewerb ganzer Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt.13 Angesichts dieser Situation, in der das Recht ganz offenbar immer stärker auch zu einem wettbewerblichen Instrument des Staates im Wettbewerb wird14, stellt sich die Frage nach der zukünftigen Rolle nicht nur des einfachen Rechts, sondern insbesondere auch des Verfassungsrechts. Denn auch das Verfassungsrecht ist nicht davor gefeit, in diesen Wettbewerb zwischen den Staaten gewissermaßen hinein gezogen zu werden, sowohl mit seinen wettbewerblichen Stärken (wie etwa dem verfassungsrechtlichen Freiheitsschutz und der mit ihm verbundenen rechtsstaatlichen Stabilität), als auch mit seinen wettbewerblichen Schwächen (etwa der rechtlichen Gleichheit oder der Allgemeinheit des Rechts, die manchem wettbewerblichen Bedürfnis nach Flexibilität entgegensteht). Gerade im Hinblick auf die wettbewerblichen Schwächen des Verfassungsrechts, also im Hinblick auf jene Teile des Verfassungsrechts, die den Staat in seinem wettbewerblichen Fortkommen stören, stellt sich aber die Frage nach den Geltungsgehalten und der Geltungskraft des Verfassungsrechts. Denn wie reagiert das Verfassungsrecht auf den Wettbewerb? Darf es sich im Wettbewerb instrumentalisieren lassen?
13 Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002; grundlegend zum Spannungsfeld bereits früher Streit, Manfred E., Systemwettbewerb im europäischen Integrationsprozess, in: Immenga, Ulrich (Hrsg.), FS Ernst-Joachim Mestmäcker, Baden-Baden: Nomos, 1996, S. 521; ferner Koenig, Christian u. a., Europäischer Systemwettbewerb durch Wahl der Rechtsregeln in einem Binnenmarkt für mitgliedstaatliche Regulierungen?, 10 EWS 1999, S. 401; Müller, Klaus, Systemwettbewerb, Harmonisierung und Wettbewerbsverzerrung, Baden-Baden: Nomos, 2000. Gerven, Walter van, Harmonization of Private Law: Do we need it?, 41 CMLRev. 2004, S. 505; Reich, Norbert, Competition Between Legal Orders: A New Paradigm of EC Law?, 29 CMLRev. 1992, S. 861. 14 Der Gedanke der wettbewerblichen Instrumentalisierung durchdringt freilich nicht alle Sphären von Staatlichkeit. Insbesondere ist nicht jedes staatliche Handeln wettbewerblich motiviert. Vielmehr gibt es auch solches staatliches Handeln, das zwar wettbewerbsstärkende oder jedenfalls -erhaltende Wirkungen hat, gleichwohl aber nicht wettbewerblich, sondern anderweitig motiviert ist, etwa durch Abwehr systemfremder Elemente. Instruktiv zu solchen Fällen der „gespaltenen Normanwendung“ etwa Koch, Jens, Die Einheit der nationalen Rechtsordnung und die europäische Privatrechtsangleichung, JZ 2006, S. 277, 283. Abzugrenzen ist dieses Phänomen schließlich von dem weiteren Phänomen der Schaffung von Recht außerhalb der dafür vorgesehenen Wege. Auch dies kann zwar wettbewerbliche Wirkungen entfalten, ist aber typischerweise nicht wettbewerblich motiviert, sondern eher Ergebnis zu großer Komplexität. Meder nennt dieses Phänomen „Dekodifikation“ und beschreibt damit eine eigentümliche Mélange aus privater Rechtsgestaltung, Rechtsfortbildung und anderen, wenn auch eher rechtsgestaltenden Phänomenen, vgl. Meder, Stephan, Die Krise des Nationalstaates und ihre Folgen für das Kodifikationsprinzip, JZ 2006, S. 477, ähnlich Augsberg, Steffen, Rechtssetzung zwischen Staat und Gesellschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 2003.
II. Literaturüberblick
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Das herkömmliche Kägi’sche Verständnis von der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Staates15 scheint auf diese Frage zunächst eine klare Antwort parat zu haben: Natürlich muss sich das staatliche Handeln an der Verfassung messen lassen, nicht umgekehrt. Das macht doch gerade den Kern des Verfassungsrechts aus, dass es eben eine Grundordnung ist, die auch im Hinblick auf den Wettbewerb zwischen den Staaten und das staatliche Handeln in ihm Geltung beansprucht. Doch angesichts der Stärke und der Wirkungszusammenhänge staatlicher Interessen im Wettbewerb melden sich Zweifel über die Haltbarkeit dieses Anspruchs an: Wie stark ist denn die Verfassung, um ihre Kontrafaktizität zu bewahren, geschweige denn durchsetzen zu können? Der Geltungsanspruch des Verfassungsrechts mag, wie überhaupt der des Rechts, absolut sein. Doch wie steht es um den Geltungsgehalt? Ändert er sich im Angesicht des Wettbewerbs? Darf er sich ändern? Soll er sich ändern?
II. Literaturüberblick Für den Bereich des einfachen Rechts hat das Phänomen des Wettbewerbs mittlerweile in seiner ganzen Breite Eingang in die juristische Wissenschaft gefunden. Gerade in jüngerer Zeit wimmelt es geradezu von Beiträgen über die wettbewerblichen Wirkungen der Gesetzgebung oder – umgekehrt – der „Gesetzgebung im Wettbewerb“. Im Anschluss an das mittlerweile berühmte Diktum des Generalanwaltes La Pergola in der Rechtssache Centros16 macht, ausgehend naturgemäß vom Gesellschaftsrecht, das Stichwort vom „Wettbewerb der Gesetzgeber“ die Runde.17 Man untersucht ganze Rechtsbereiche auf ihre wettbewerblichen Implikationen hin, sieht etwa den Sozial- und Steuerstaat im Wettbewerb18, das 15
Kägi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Wädenswil: Villiger, 1945. 16 Schlussanträge GA La Pergola vom 16. Juli 1998, RS C-212/97 Centros/Erhvervs, Slg. 1999-I, 1459, Tz. 20. 17 Sandrock, Otto/Wetzler, Christoph F. (Hrsg.), Deutsches Gesellschaftsrecht im Wettbewerb der Rechtsordnungen, Heidelberg, Recht und Wirtschaft, 2004; Kern, Konrad, Überseering – Rechtsangleichung und gegenseitige Anerkennung; Eine Untersuchung zum Wettbewerb der Gesetzgeber im Europäischen Gesellschaftsrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 2004; Spindler, Gerald, Inspire Art – Der europäische Wettbewerb um das Gesellschaftsrecht ist endgültig eröffnet, 49 RIW (2003), S. 949. Für weitere Nachweise vgl. etwa Habersack, Mathias, Europäisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl., München: Beck, 2006, S. 7 ff., insbesondere S. 32 ff. 18 Becker, Ulrich/Schön, Wolfgang (Hrsg.), Steuer und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005. In ordnungsökonomischer Perspektive beschränkt man den Begriff Steuerwettbewerb typischerweise auf den Wettbewerb mit den Mitteln des Steuerrechts. Mit eigenwilligen Vorschlägen etwa Gerken, Lüder/Märkt, Jörg/ Schick, Gerhard, Internationaler Steuerwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000. Auch finden sich interessante Studien zu dogmatischen Einzelfragen etwa des Außensteuerrechts, wie etwa Lütke, Stefan, Die CFC-Legislation (Hinzurechnungsbesteuerung) im Spannungsfeld zwischen europäischer Kapitalverkehrsfreiheit und weltweiter Kapitalliberalisierung (WTO), Berlin: Duncker & Humblot, 2006.
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A. Einleitung
Umweltrecht19, das Vergaberecht20, das Gentechnikrecht21, ja gar ganze Privatrechtsordnungen untersucht man unter dem Gesichtspunkt ihres Wettbewerbs zueinander.22 Meessen etwa spricht vom Wirtschaftsrecht im Wettbewerb der Systeme und stellt dabei – freilich weder verfassungstheoretisch noch verfassungsrechtlich weiter unterlegte – Forderungen auf, wie etwa jene zu einer stärker wettbewerbssensitiven Rolle der Gerichte im Wettbewerb.23 Manche machen die Paradigmen von Wettbewerb und Kooperation gar zum rechtsbereichs-vergleichenden methodischen Schlüssel und betrachten ganze Regelungsbereiche nebeneinander.24 Weitgehend ungeklärt scheint demgegenüber die Rolle des Verfassungsrechts im Wettbewerb – und damit auch seine spezifische Bedeutung für den Verfassungsstaat im Wettbewerb – zu sein. Die staatstheoretische und verfassungsrechtliche Diskussion über die Frage nach dem Verfassungsrecht im Wettbewerb steht – auch in Deutschland – in der Tat offenbar erst noch am Beginn. Gleichwohl rückt das Thema auch in der Staatsrechtslehre in den Blickpunkt des Interesses, wie sich eindrücklich auf der Staatsrechtslehrertagung 2009 in Graz gezeigt hat. Die Staatsrechtslehrertagung bildet gewissermaßen einen ersten Meilenstein, der die zukünftige Diskussion prägen dürfte. Die Ergebnisse der Tagung sollen im Folgenden daher kurz zusammengefasst werden (A.I.2.), nicht ohne freilich zuvor die Grundlinien der 19 Beispielhaft Renner, Andreas, Verpackungspolitik zwischen Harmonisierung und Systemwettbewerb – Das Duale System im Wettbewerb nationaler Verpackungspolitiken unter den Rahmenbedingungen der EU-Verpackungsrichtlinie vom 20. Dezember 1994, 8 ZAU, S. 180. 20 Bungenberg, Marc, Vergaberecht im Wettbewerb der Systeme, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007. 21 Dederer, Hans-Georg, Gentechnikrecht im Wettbewerb der Systeme, Berlin: Springer, 1998. 22 Vgl. statt vieler etwa die umfassende Arbeit von Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002. Ferner nur etwa Ott, Claus/Schäfer, Hans-Bernd, Vereinheitlichung und Diversität des Zivilrechts in transnationalen Wirtschaftsräumen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002. 23 Meessen, Karl M., Wirtschaftsrecht im Wettbewerb der Systeme, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 37; ferner Meessen, Karl M., Economic Law in Globalizing Markets, Den Haag: Kluwer Law International, 2004; aus früherer Zeit bereits etwa Meessen, Karl M., Souveränität im Wettbewerb der Systeme, in: Goetz, Volkmar, Liber amicorum Günther Jaenicke, S 667. 24 Nach den Erfahrungen aus den achtziger und neunziger Jahren sind auch in der USamerikanischen und europarechtlichen Föderalismusliteratur in diesen Gebieten Differenzierungs- und Reifungsprozesse hin zu einer bereichsspezifischen Analytik zu beobachten. Esty und Geradin etwa gehen im Kern davon aus, dass die Frage von Wettbewerb und Integration heute nur bereichsspezifisch betrachtet werden könne (sie nennen dies „third generation scholarship“ und knüpfen damit an die Ideengeschichte zwischen Apologie und Gegnerschaft zum Wettbewerb an). Infolge dessen lassen sie in ihrem einschlägigen Band, differenziert nach den Erfahrungen in den USA, in der EU und global, unter dem Leitstern der so genannten „CoOpetition“ beispielhaft eine ganze Reihe von Einzelbereichen untersuchen, vom Steuer- und Gesellschaftsrecht über die Finanzmärkte und das Arbeitsrecht bis hin zum Umweltrecht; Esty, Daniel C./Geradin, Damien, Introduction, in: dies., Regulatory Competition and Economic Integration, Comparative Perspectives, Oxford: Oxford University Press, 2001, S. xxiv.
II. Literaturüberblick
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Diskussion darzustellen, die der Staatsrechtslehrertagung vorausgegangen ist (A.I.1.). 1. Grundlinien der staatsrechtlichen Diskussion Der Beginn der staatsrechtlichen Aufarbeitung des Phänomens des Wettbewerbs zwischen den Staaten wird in Deutschland wohl bis auf weiteres mit dem Namen Paul Kirchhofs verbunden bleiben. Die Kernthese seiner verschiedentlichen Warnrufe lautet, dass der Staat den Wettbewerb gewährleiste, nicht aber in ihn eintreten dürfe. Nach Kirchhof müsse der Verfassungsstaat Gleichheit vor dem Gesetz garantieren. Wettbewerb setze demgegenüber Angebot und Nachfrage voraus, ein Verhandeln im gegenseitigen Geben und Nehmen. Zwischen Individuen sei der Wettbewerb – vom Staat garantiert – wohlfahrtsfördernd, bei der Setzung von Recht führe er demgegenüber zu „Privileg, Ungleichheit, Korrumpierung“.25 Diese von Kirchhof vielzählig geäußerte26, jedoch kaum weiter vertiefte These hat zunächst nur einen geringen Widerhall in der deutschen Verfassungslehre gefunden.27 Unter den Kritikern sticht bisher vor allem der Sozialwissenschaftler Viktor Vanberg hervor.28 Seine zunächst methodische Kritik entlarvt einen umfangreichen Teil der Begründung Kirchhofs als – in der Sache – irrelevant, namentlich jenen Teil, mit dem sich Kirchhof „nur“ gegen jene Trittbrettfahrerei richtet, die eine staatliche Ordnung nutzt, ohne angemessen zu ihr beizutragen. Vanberg verdeutlicht, dass ein solcher Missbrauch von Diversität vor allem auf Ordnungsmängel zurückzuführen sei, die im innerstaatlichen Wettbewerb um Leistungsangebote, nicht im Wettbewerb zwischen diesen Leistungsangeboten wurzelten29, so dass die Staaten derartigen Missbrauch durch die richtigen Regeln insbesondere der Steuergesetzgebung ohne
25 Pointiert in Kirchhof, Paul, Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie – Solidarität, 56 ORDO 2005, S. 39. 26 Ähnlich in Kirchhof, Paul, Recht gibt es nicht zum Niedrigpreis; Zur Kritik einer Zauberformel der Reformdebatte: Der Staat gewährleistet den Wettbewerb und kann doch nicht in ihn eintreten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Dezember 2004, S. 38. Ferner ders., Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Kultur des Maßes, in: Bauer, Hartmut u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS Reiner Schmidt, München: Beck, 2006, S. 263; auch ders., Die Zukunft der Demokratie im Verfassungsstaat, JZ 2004, S. 981, bei 986; ders., Das Gesetz der Hydra: Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!, München: Droemer, 2006, S. 134 ff. 27 Sie wird vielmehr in der Öffentlichkeit diskutiert. Auffällig ist dabei, dass sich im Kampf gegen den Wettbewerb als allgemeinem Organisationsprinzip konservative Staatsrechtler mit traditionell sozialkritischen Politikern durchaus treffen; vgl. statt vieler nur etwa Eppler, Erhard, Der Gott des Wettbewerbs, Beitrag vom 12. Dezember 2007, in: http://www.taz.de/nc/1/ archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2007%2F12%2F12%2Fa0120&src=GI& cHash=68b4d71d16 (Seitenaufruf vom 9. September 2008). 28 Vanberg, Viktor, Auch Staaten tut der Wettbewerb gut: Eine Replik auf Paul Kirchhof, 56 ORDO (2005), S. 47; ähnlich etwa bereits in: ders., Kommentar, 17 JNPÖ 1998, S. 155, 163. 29 Hierzu und zum Folgenden ebenda, S. 49 ff.
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A. Einleitung
viel Aufwand und in der Regel sogar einseitig, ggf. aber auch durch Kündigung und Neuverhandlung von Doppelbesteuerungsabkommen, ändern könnten30. Die Kritik Vanbergs an den Kirchhof’schen Thesen vermag allerdings nur auf den ersten Blick einzuleuchten. Vanberg ist zwar zuzugestehen, dass diese Probleme in der Tat „lediglich“ innerstaatlicher Art sind. Nicht kann man Vanberg allerdings darin folgen, dass diese Probleme nicht im Wettbewerb zwischen den Staaten wurzelten. Vielmehr haben die von Vanberg als „lediglich innerstaatlich“ identifizierten Ordnungsmittel mit dem Wettbewerb doch offenbar mehr zu tun, als Vanberg glauben machen will. Denn auch der Anreiz, ein solches Trittbrettfahren Einzelner staatlicherseits zuzulassen, ist ein Anreiz im Wettbewerb. Besonders stark ist dieser Anreiz dann, wenn die in Rede stehenden Faktoren gerade erst durch ein solches Trittbrettfahren angelockt werden können. Es ist ein Zeichen besonderer Intensität des Wettbewerbs, wenn in diesem Zusammenhang nicht mehr das Ob, sondern nur noch das Wie einer Zulässigkeit des Trittbrettfahrens diskutiert wird. Es mag ja sein, dass das Trittbrettfahren „lediglich“ einer richtigen staatlichen Antwort bedarf, wie Vanberg behauptet. Aber in der Fähigkeit des Verfassungsstaates zu einer in diesem Sinne richtigen Antwort liegt – dies ist eine Hypothese – erst das eigentliche und daher auch hier aufgeworfene Problem des Verfassungsstaates. Es stellt sich nämlich die Frage, ob eine Verfassung überhaupt in der Lage ist, tatsächlich jene normative Kraft zu entfalten, die der Verfassungsstaat dafür braucht, den genannten Fehlentwicklungen im Wettbewerb wirksam entgegen treten zu können. Reicht die normative Kraft der Verfassung31 nicht aus, so entstehen im Wettbewerb eben gerade jene Probleme, von denen Vanberg sagt, sie seien „lediglich“ innerstaatlicher Natur. Wie viel Kraft haben denn das Rechtsstaatsprinzip und die Allgemeinheit des Rechts, wenn sie auf Dauer durch die – wettbewerblich motivierte (!) – Versuchung zur Ungleichbehandlung aus Gründen der Mobilität herausgefordert werden? Hierin liegen die Zukunftsfragen, nicht in einer begrifflich zwar tragfähigen, das Problem aber weitgehend vermeidenden Unterscheidung zwischen innerstaatlichem Wettbewerb um Leistungsangebote und zwischenstaatlichem Wettbewerb zwischen diesen Leistungsangeboten. Die Grenzen der Vanberg’schen Argumentation zeigen sich, wenn man danach fragt, wie denn offene Verfassungsstaaten mit ihrem im Wettbewerb verankerten Interesse an einem Trittbrettfahren mobiler Produktionsfaktoren tatsächlich umgehen. Könnten oder wollten sie ein solches Trittbrettfahren mit der Argumentation Vanbergs auf jeden Fall vermeiden, gäbe es die – von Kirchhof und Vanberg übrigens gleichermaßen bedauerten – Fälle des Trittbrettfahrens im offenen Verfassungsstaat nicht. Die zweite Ebene der Kritik Vanbergs an Kirchhof setzt an der Bewertung des Phänomens des Wettbewerbs zwischen den Staaten an. Normativ liegen Vanberg und 30
Vorschläge in eine solche Richtung finden sich etwa bei Gerken, Lüder/Merkt, Jörg/ Schick Gerhard, Internationaler Steuerwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 247 ff. 31 Zum Gesichtspunkt der normativen Kraft der Verfassung grundlegend immer noch Hesse, Konrad, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1959.
II. Literaturüberblick
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Kirchhof hier weit auseinander32. Ihre Positionen gehen auf das Mit- und Gegeneinander von Faktum und Norm zurück. Verteidigt Kirchhof die normative Ordnung vor den Anfechtungen des Faktischen, rechtfertigt Vanberg das Faktische des Wettbewerbs als effizienzsteigernde Verbesserungsmöglichkeit für die verfassungsstaatliche Ordnung.33 Dass es Kirchhof bei dieser Auseinandersetzung um viel geht, spürt der Leser bereits an den Geschützen, die Kirchhof, nicht zuletzt wohl auch aus einer tief wurzelnden sozialpolitischen Motivation, auffährt: Seine Duplik auf die Kritik Vanbergs gipfelt in der Feststellung: „Eine Verallgemeinerung des Denkens im Wettbewerb zu einem Organisationsprinzip menschlicher Freiheit wäre nicht menschlich, wäre unmenschlich.“34 Die vehemente Kirchhofsche Verteidigung der Verfassungsordnung zeigt das Drohpotenzial, das Kirchhof dem Wettbewerb offenbar zumisst: Wer die normative Kraft der Verfassung für nicht gefährdet hält, muss sie nicht in dieser Weise verteidigen. Weitere Überlegungen zum Thema gehen auf Udo Di Fabio zurück. In einer ganzen Reihe von Beiträgen hat er sich mit Fragen des offenen Verfassungsstaates und damit auch des Verfassungsstaates im Wettbewerb befasst. Den vorläufigen Höhepunkt hat diese Beschäftigung mit dem Band „Das Recht offener Staaten“ erreicht.35 Darin greift er das Neben- und Gegeneinander von Universalismus und Partikularismus als Grunddeterminanten der Offenheit immer wieder auf. In diesem Zusammenhang schimmert auch der Wettbewerb zwischen den Staaten als ein wichtiger Faktor des Änderungsdrucks auf das Verfassungsrecht – mal schwächer, mal stärker – hindurch. Allerdings fehlt es an einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Wettbewerbsphänomen selber. Zudem bleibt die von Di Fabio in Rückgriff auf Luhmann entwickelte „transmoderne Theorie des offenen Staates“36 eigentümlich im Abstrakten. Dies vermag angesichts der starken Anleihen an die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung kaum zu erstaunen. Wer schon der Luhmann’schen Aufhebung der Anthropozentrität von Staat und Gesellschaft nicht folgt, also den Bruch mit der zweitausendjährigen Philosophie der Einheit zwischen In32 Obgleich auch Kirchhof ein Einfallstor für den Wettbewerb öffnet, wenn er zugesteht, dass auch der Staat Anpassungsprozesse durchmachen muss: „Natürlich muss auch der Staat um die Gunst seiner Bürger werben, sich im Vergleich mit anderen Staaten gegen Selbstgerechtigkeit, Trägheit, Machtmissbrauch abschirmen.“, vgl. Kirchhof, Paul, Das Gesetz der Hydra: Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!, München: Droemer, 2006, S. 135. Von hier zu dem Wettbewerb, wie ihn Vanberg skizziert, ist es vielleicht doch nur ein kleineres Stück, als man zunächst annehmen möchte. 33 Ähnlich Nettesheim, Martin, Die Fairness und der Wettbewerb, Leserbrief in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 12. 2004, S. 8. 34 Kirchhof, Paul, Der Staat tut dem Wettbewerb gut: Eine gedankliche Begegnung mit Viktor Vanberg, 56 ORDO 2005, S. 55 (58). 35 Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998. Vgl., sozusagen als staatsrechtlich-dogmatisches Komplementär hierzu ders., Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001. 36 Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 122 ff., 132 ff.
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dividuen und Gesellschaft37 nicht nachvollziehen kann (und infolgedessen auch der Luhmann’schen „operativen Geschlossenheit des Rechts“38 und der mit ihr einhergehenden Rede von der Autonomie oder „Autopoiesis“ des Rechts39 nicht viel abzugewinnen vermag), weiß naturgemäß auch mit den so genannten „transmodernen“ Folgeüberlegungen Di Fabios zunächst wenig anzufangen. Der konkrete Mehrwert derartiger Überlegungen für konkrete Antworten muss trotz der um sich greifenden, mittlerweile aber vielleicht sogar schon wieder unmodischen Rede von der „Postmoderne“ gering bleiben. In seinem jüngeren Buch zur Kultur der Freiheit bettet Di Fabio seine Überlegungen mittlerweile in ein allgemeineres freiheitsbezogenes Verständnis von Kultur ein. Kern der Überlegungen ist dabei, dass absteigt, wer seine kulturellen Wurzeln insbesondere der Freiheit nicht pflegt.40 In Ansätzen trägt diese Überlegung bereits eine wichtige Begründung für einen besonderen Schutz und eine besondere Pflege universaler Verfassungsgehalte wie der Allgemeinheit des Rechts im Wettbewerb in sich. In der notwendigen Trennschärfe zwischen universalen und partikularen Gehalten, also in den theoretischen und dogmatischen Abgrenzungen, hat Di Fabio diesen Gedanken allerdings noch nicht ausgearbeitet. Dies gilt insbesondere für die Konsequenzen, die zu ziehen sind, etwa im Rahmen einer Handlungsanleitung für das spezifische Verhalten verfassungsstaatlicher Verantwortungsträger im Wettbewerb. Kennzeichnend für den aktuellen Forschungsstand ist im Übrigen die jüngere Habilitationsschrift von Veith Mehde.41 Mehde widmet sich in seinem Beitrag neben der Ordnung (bzw. den Ordnungen) des Wettbewerbs (Kap. 2 bis 5) auch der verfassungsstaatlichen Ordnung im Wettbewerb (Kap. 6) und endet sogar mit einem – freilich noch etwas visionären – Postulat der „Kohärenz der Ordnungen“ (Kap. 7). Die Wechselbeziehungen zwischen den Ordnungskreisen im spezifischen Spannungsfeld zwischen wettbewerblicher Faktizität und verfassungsrechtlicher Geltung bezieht Mehde dabei aber kaum mit ein, obgleich er bereits eingangs, sogar im ersten Satz seiner Arbeit, prominent feststellt, dass die Wettbewerbssituation, in der sich die Staaten ganz offenbar befinden, ein „tatsächliches Phänomen“ sei42, und dies auch
37 Dazu etwa bereits Luhmann, Niklas, Interpenetration – Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: 6 Zeitschrift für Soziologie (1977), S. 62, 65. Erläuternd auch Di Fabio, Udo, Offener Diskurs und geschlossene Systeme, Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in argumentations- und systemtheoretischer Perspektive, Berlin: Duncker & Humblot, 1991, S. 113 ff. 38 Etwa bei Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S. 38. 39 Grundlegend noch immer Teubner, Günther, Recht als autopoietisches System, Frankfurt: Suhrkamp, 1989. 40 Di Fabio, Udo, Die Kultur der Freiheit, München: Beck, 2005. 41 Mehde, Veith, Wettbewerb zwischen Staaten; Die rechtliche Bewältigung zwischenstaatlicher Konkurrenzsituationen im Mehrebenensystem, Baden-Baden: Nomos, 2005. 42 Ibid., S. 25.
II. Literaturüberblick
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durchgängig durch die gesamte Arbeit hindurch wiederholt43. Angesichts der Bedeutung, die Mehde der Faktizität des Wettbewerbs damit zumisst, möchte man vermuten, dass Mehde sein Thema auch tatsächlich in dem dadurch aufgerissenen Spannungsfeld zwischen der Faktizität des Wettbewerbs und der Geltung des Verfassungsrechts aufbereitet. Am Maßstab dieser Erwartung bleibt die Arbeit aber hinter ihren Möglichkeiten zurück. Nicht ein einziges Wort verliert Mehde zu den verfassungsrechtlichen Problemen, die mit der von ihm selber doch aufgeworfenen Wettbewerbssituation einhergehen, etwa im Hinblick auf die normative Kraft der Verfassung, die Freiheitsgewährleistungen, den Gleichheitssatz im Wettbewerb usw. Im Ergebnis bleiben daher die im Schlusskapitel von Mehde herausdestillierten „Marksteine einer kohärenten Wettbewerbsordnung“ (7. Kapitel)44 – gemessen an den tatsächlichen Herausforderungen – eigentümlich spannungslos. Schon die rechtlichen Grundlagen der von ihm postulierten „Kohärenz der Ordnungen“45 bleiben undeutlich. Mehde versteht hierunter eine „[…] Widerspruchsfreiheit und die Übereinstimmung zwischen den abstrakten Zielvorgaben und der konkreten rechtlichen Ausgestaltung“46. Offen bleibt dabei bereits, ob es sich lediglich um ein rechtliches Postulat handelt oder ob in den Ausführungen auch die Behauptung ihres tatsächlichen Bestehens liegt. Normative Ansätze mögen ja vorhanden sein, etwa in Art. 6 EUV. Ein allgemeines Prinzip der Kohärenz der Ordnungen oder auch nur eine Ansammlung von, wie Mehde es nennt, Marksteinen ist im Normativen aber außerordentlich zweifelhaft, wie bereits ein Blick in das europäische Beihilfekontrollrecht zeigt. Man denke ferner nur etwa an den Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des Unionsrechts, zu dessen Sicherung sich weite Teile der EuGHRechtsprechung entwickelt haben. Ob im Unionsrecht Ansätze einer Wettbewerbsordnung in der von Mehde angenommenen Weise tatsächlich zu finden sind, erscheint bereits angesichts der offenbar bestehenden Gefährdungslage für die einheitliche Wirksamkeit des unionalen Rechts durchaus zweifelhaft. Sogar das Ziel, das eine solche Sollensordnung haben sollte oder jedenfalls könnte, bleibt offen. Einen weiteren Beitrag zum Thema hat Bernd Grzeszick in der jüngsten Auflage des Handbuchs des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland verfasst.47 Ausgehend von einem formalen Begriff der Hoheit (Hoheit als „Bedingung für die Verwirklichung eines offenen Gemeinwohls“ (Rdn. 8)) identifiziert Grzeszick ein so 43
So etwa im Grundlagenkapitel, ibid., S. 29 ff., aber auch im Kapitel 6, wo es ihm um die Wirkungen auf die nationale Ordnung geht, vgl. etwa den Satz: „Im übrigen spricht eine substantiierte Vermutung dafür, dass es vor allem der faktische Wettbewerbsdruck ist, der Auswirkungen auf die Rechtsordnung hat.“ (S. 507). Dass ihm dieser Umstand der Tatsächlichkeit des Phänomens besonders wichtig ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er ihm in seiner Zusammenfassung sogar eine eigene These widmet, vgl. These 2, ibid., S. 618. 44 Ibid., S. 577. 45 Ibid., S. 611. 46 Ibid., S. 577. 47 Grzeszick, Bernd, Hoheitskonzept – Wettbewerbskonzept, in: HdBStR, Bd. IV, Heidelberg: C.F. Müller, 2006, § 78. Vgl. ferner ders., Lässt sich eine Verfassung kalkulieren?, in 58 JZ 2003, S. 647.
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genanntes Hoheits- und ein so genanntes Wettbewerbsprinzip. Das Wettbewerbsprinzip bewertet er als Herausforderung für den Staat (Rdn. 14). Das Leitmotiv der ökonomischen Betrachtung des Staates (den Staat als „Verwirklicher von Gruppensonderinteresen“ voraussetzend) sieht er in der „Steigerung der Rationalität staatlichen Handelns“ (Rdn. 16). In der Konsequenz dieser Überlegungen sieht Grzeszick eine „prinzipielle Spannung“, einen „normativen Gegensatz zwischen Hoheits- und Wettbewerbsprinzip“, der sich insbesondere in der Methode äußern soll, mittels derer das Gemeinwohl im Staat definiert wird (Gemeinwohl als Ergebnis des Wettbewerbs versus Gemeinwohl als Ergebnis politisch-kollektiver Entscheidung (Rdn. 17)). Dieser Gegensatz führe in ein dialektisches Verhältnis (Rdn. 18 ff.), das im Verfassungsstaat durch den Vorrang des Hoheitsprinzips (Rdn. 28/29) aufgelöst werde. Der Vorrang des Hoheitsprinzips finde seine Bestätigung im Rahmen der europäischen Integration (Rdn. 41). Diese Sicht auf die staatliche Hoheit im Wettbewerb vermag einen Teil der Problemlage, insbesondere die Kontrafaktizität des Verfassungsrechts, zu erschließen. Mit Blick auf das Verfassungsrecht im Wettbewerb zwischen den Staaten kann schon die Gegenüberstellung des Wettbewerbs – interessanterweise übrigens als einem „Konzept“ oder gar „Prinzip“ – gerade mit der Hoheit konzeptionell aber kaum weiterführend sein. Wirft man die Frage in dieser Art auf, so beschränkt man sich von vorneherein auf die Sphäre des Staatlichen und dringt insbesondere zum Normativen der Verfassung gar nicht erst vor. Die Herausforderungen des Wettbewerbs zielen weniger auf die Staatlichkeit als solche, auch nicht auf die Hoheit (denn auch der Staat im Wettbewerb ist ein Staat und eine Hoheit im Wettbewerb ist eine Hoheit, die durch den Wettbewerb keine besondere Spezifität erhalten). Infolge dessen greifen auch die weiteren Erörterungen Grzeszicks im hier aufgeworfenen Zusammenhang nicht sehr weit. Die Definition des Gemeinwohls als einem „offenen (kontingenten) Gemeinwohl“ etwa scheint die Behauptung des „Vorranges des Hoheitsprinzips“ zwar zunächst zu tragen, weil sie sowohl eine auf den Wettbewerb ausgerichtete Hoheitsausübung als auch eine dem Wettbewerb gegenüber blinde Hoheit möglich macht (eben eine kontingente Hoheit). Daraus folgt aber noch keine „wettbewerbsfreie Hoheit“. Denn die (normativ behaupteter Maßen vorgehende) hoheitliche Entscheidung über das Gemeinwohl trifft man – selbst bei noch so großer Ignoranz gegenüber der Wettbewerbssituation – nicht im wettbewerbsfreien Raum, sondern im Rahmen einer faktischen Wettbewerbssituation. Die eigentliche Spannung liegt daher nicht erst, wie Grzeszick meint, bei der Frage, ob das Gemeinwohl Ergebnis des Wettbewerbs ist oder erst in dessen Rahmen definiert werden muss, sondern, sozusagen dem vorgelagert, im Verhältnis zwischen wettbewerblichem Handeln und tatsächlicher Verfasstheit, in der Frage nämlich, inwieweit wettbewerblich motiviertes Handeln des Staates von der Verfassung erlaubt wird oder erlaubt werden soll. Insbesondere kann der Wettbewerb – durch die mit ihm einhergehende relative Stärkung mobiler Faktoren – zu einer Unterwanderung des Gewaltmonopols, jedenfalls aber zu einer wettbewerbsspezifischen Durchdringung der Hoheitsausübung
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führen. Denn – um es in der verbreiteten Hirschmanschen Diktion48 zu sagen – die Kraft von „voice“ steigert sich, je realer die „exit-option“ ist, und mit ihr ändert sich – so jedenfalls die Hypothese – über kurz oder lang gegebenenfalls auch die Ausübung hoheitlichen Entscheidens über das Gemeinwohl.49 Die Grzeszick’sche Auflösung der Spannung im lediglich Normativen kann daher nicht gelingen. Mit der Behauptung des Vorrangs des Hoheitsprinzips im Normativen entzieht Grzeszick die Hoheit in der Sache nämlich genau demjenigen Verhältnis zum Faktischen, von dem Grzeszick selber sagt, es sei „dialektisch“. Insbesondere wird die damit verbundene Aufhebung der Verbindungen zwischen Faktizität und Geltung dem Problem nicht gerecht. Das Faktische mag sich im Wege der Formulierung eines Hoheitsanspruches ausblenden lassen. Aus dem hoheitlichen Prozess der Gemeinwohldefinition „hinwegdefinierbar“ wird es hierdurch aber nicht. Gegen die These Grzeszicks vom Vorrang des Hoheitsprinzips über das Wettbewerbsprinzip lässt sich daher eine Gegenthese formulieren: Die faktischen Wirkungen des Wettbewerbs unterlaufen den im Normativen begründeten Vorrang des Hoheitsprinzips in dem Maße, in dem die Mobilität von Produktionsvoraussetzungen steigt: Wenn ein Staat mobile Produktionsfaktoren nur deshalb entlastet, weil diese andernfalls abwandern, verliert der behauptete normative Vorrang der Hoheit vor dem Wettbewerb seine Wirkungsmacht, letztlich also seine normative Kraft. Es ist dieser Gesichtspunkt, der zu diskutieren ist, nicht die Diskussion des Vorranges eines (schon seiner behaupteten Normativität wegen eher fragwürdigen) Hoheitsprinzips vor dem Wettbewerbsprinzip. Einen ganz unmittelbaren Beitrag zum Thema „Verfassungsrecht im Wettbewerb“ hat zudem Thomas Würtenberger unter dem gleichnamigen Titel vorgelegt.50 Überblicksartig präsentiert er zunächst das Problem, gibt – der Form eines Festschriftbeitrages gemäß – dem staats- und verfassungstheoretischen Umfeld, sozusagen dem Paradigmatischen, aber nur in Ansätzen Raum. Seine Überlegungen sind 48 Hirschman, Albert O., Exit, voice, and loyalty; responses to decline in firms, organizations, and states, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1970. 49 Man kann die Kritik in zweiter Linie auch mit einem Hinweis auf den Unterschied zwischen Sein und Sollen, insbesondere prinzipiellem Sollen begründen: Denn zwar verkennt Grzeszick nicht, dass Hoheit und Wettbewerb zunächst Phänomene der Wirklichkeit sind und erst in zweiter Linie mit der nötigen normativen Abstützung zu Prinzipien werden können. Er zieht hieraus aber nicht die methodischen Konsequenzen. Insbesondere als Wirklichkeitsphänomene können Hoheit und Wettbewerb nicht in einer Weise gegeneinander laufen, wie es die entsprechenden Prinzipien nach Grzeszick tun sollen. Das Interessante am Verhältnis zwischen Hoheit und Wettbewerb ist ja gerade, dass das eine Phänomen die Wesenszüge des anderen Phänomens durchdringt und dadurch auch verändert. Prinzipien stehen demgegenüber zunächst frei und kollidieren miteinander, ohne, dass die Kollision ihre Gehalte ändern würde. Näher zu Prinzipien in ihrem Verhältnis zur Politikgestaltung eindringlich etwa Dworkin, Ronald, Principle, Policy, Procedure, in: ders., A Matter of Principle, Oxford: Clarendon, 1986, S. 72 ff. 50 Würtenberger, Thomas, Verfassungsrecht im Wettbewerb, in: Bauer, Hartmut u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS Reiner Schmidt, München: Beck, 2006, S. 645.
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praktisch orientiert, verweisen auf die Wettbewerbssensitivität etwa der Staatsorganisation51, aber auch, unter der Überschrift „Verschiebungen im Gefüge des Grundgesetzes“, auf speziellere Fragen etwa der Parität unter Art. 9 Abs. 3 GG oder des Wahlrechts im Wettbewerb (Stichwort Zukunftsorientierung von Familien).52 Ein wichtiges Stichwort spricht er, in Anknüpfung an Reiner Schmidt53, mit dem Hinweis auf die „Flexibilisierung rechtsstaatlicher Grundsätze“ an.54 Manche werden in einer solchen Flexibilisierung eine Büchse der Pandorra sehen, andere wiederum eine Möglichkeit zur Effizienzstärkung. In welchen Bereichen, nach welchen Grundsätzen und mit welchen Grenzen eine Flexibilisierung wünschenswert ist, ist grundsätzlicher zu überlegen. Hier treten Paradigmen gegeneinander an, die es lohnt, näher aufzuarbeiten. Sie betreffen das Ganze der Staatsverfassung, nicht nur die von Würtenberger angesprochenen Einzelfragen. 2. Die Staatsrechtslehrertagung in Graz 2009 Einen vorläufigen Höhepunkt hat die Diskussion mit der Aufnahme in die Staatsrechtslehrertagung in Graz 2009 unter dem Generalthema „Gemeinwohl durch Wettbewerb?“ erfahren. Man hat das Thema des Wettbewerbs zwischen den Staaten dort mit Berichten von Anne Peters55 und Thomas Giegerich56 als ersten Beratungsgegenstand zur Diskussion gestellt, wenn auch unter dem etwas irreführenden Titel „Wettbewerb von Rechtsordnungen“57. Bereits die unterschiedliche Ausrich-
51
Ibid., S. 654. Ibid., S. 656. 53 Schmidt, Reiner, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 65, 100. 54 Würtenberger, Thomas, Verfassungsrecht im Wettbewerb, in: Bauer, Hartmut u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS Reiner Schmidt, München: Beck, 2006, S. 645, 657. 55 Peters, Anne, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 7. 56 Giegerich, Thomas, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 57. Zusammenfassung zu Vorträgen und Diskussion bei Michael, Lothar, Wettbewerb von Rechtsordnungen, DVBl. 2009, S. 1062. 57 Irreführend ist dieser Titel deshalb, weil normative Ordnungen nicht in einen Wettbewerb treten können. Lediglich etwas positiv Seiendes, wie etwa ein Staat oder – wie manche Ökonomen sagen: Ein System – kann Wettbewerber sein, denn es braucht für die Existenz von Wettbewerb mindestens (positiv seiende) Interessensträger. Normative Ordnungen sind im weiteren Sinne zwar auch „seiend“ (im Sinne der Existenz von Normativität). Sie sind in ihrem Tatsächlichsein aber allenfalls Ergebnisse, nämlich Ergebnisse von Handlungen. Insofern können Rechtsordnungen zwar im Wettbewerb stehen. Dieser Wettbewerb, in dem sie stehen, ist aber ein Wettbewerb zwischen (positiv seienden) Staaten oder eben Systemen, nicht der Ordnungen selbst. Ein klarerer Titel wäre daher etwa „Rechtsordnungen im Wettbewerb zwischen den Staaten“. 52
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tung der beiden hier näher interessierenden Referate58 – Anne Peters mit insgesamt wohl eher wohlwollender Skepsis, Thomas Giegerich mit wohl größerer Sympathie gegenüber dem Mehrwert des wettbewerblichen Paradigmas – eröffnet eine große Spannbreite, die die Vielschichtigkeit des Themas unmittelbar offen legt. Die Beiträge zeigen aber auch, dass man – jedenfalls teilweise – offenbar doch sehr unterschiedliche Dinge meint, wenn man vom Wettbewerb der Ordnungen spricht: Während Anne Peters einen engen Begriff des Wettbewerbs wählt, der – ähnlich wie hier – vor allem den Wettbewerb zwischen Staaten um mobile Produktionsfaktoren meint, nimmt Thomas Giegerich einen eher breiten Wettbewerbsbegriff in Bezug, der auch ideenwettbewerbliche Elemente mit einbezieht und auf diese Weise viel Raum für Fragen etwa der Rechtsevaluation oder auch des Rechtsexports und -imports zulässt. Die nachfolgende Diskussion übrigens nimmt die Spannbreite in sich auf. So geht es über weite Teile der Diskussion nicht um Fragen echten Wettbewerbs von Staaten um Faktoren, sondern um Fragen zu den Beteiligten am Rechtsentwicklungsprozess, also etwa um Fragen der Rechtsgestaltung im Wege der Vertragsgestaltung durch große Kanzleien (Stichwort der „contract-governance“ etwa bei Schuppert59) oder auch um die Erfahrungen einzelner Beteiligter etwa in der entwicklungspolitisch motivierten Verfassungsrechtsberatung (Stichworte zur Rezep-
58 Die Staatsrechtslehrertagung hat neben den hier interessierenden Beiträgen auch weitere Bezüge des Wettbewerbs zum öffentlichen Recht hergestellt. Allerdings handelt es sich dabei überwiegend um Bezüge des Individualwettbewerbs. Insbesondere der zweite Beratungsgegenstand („Demokratie als Wettbewerbsordnung“) hängt mit dem hier beleuchteten Wettbewerb zwischen den Staaten eng zusammen, in dem er die Verknüpfungen zu dem in Bezug genommenen politischen Wettbewerb herstellt. Damit entspricht die Tagung (wohl eher ungewollt) sogar der alten public choice-Forderung, den Wettbewerb zwischen den Staaten mit dem Individualwettbewerb unter Politikern (dem politischen Wettbewerb) zu verknüpfen. Zusammenfassend zu den verschiedenen Themenbereichen jeweils Müller-Franken, Sebastian, Demokratie als Wettbewerbsordnung, DVBl. 2009, S. 1072; Koenig, Christian, Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe, DVBl. 2009, S. 1082; Coelln, Christian von, Universitäten im Wettbewerb, DVBl. 2009, S. 1090. In diesem thematischen Umfeld hat man unter anderem übrigens auch den Wettbewerb zwischen Universitäten diskutiert, ein Thema mit durchaus engen Bezügen zum vorliegend bearbeiteten Thema: Hebt man den staatlichen Charakter vieler Universitäten hervor, kann man den Wettbewerb zwischen Universitäten auch als Element eines Wettbewerbs zwischen Staaten verstehen. Er wird unter diesem Gesichtspunkt typischerweise aber (zu Recht) nicht verstanden. Vielmehr trennt man – unter Anerkennung ihrer Wechselbezüglichkeiten – diese beiden Ausprägungen des Wettbewerbs. Es geht bei der heute überwiegend angestrebten Autonomie von Universitäten in der Tat nämlich gerade nicht um die staatsbezogenen Elemente eines Wettbewerbs zwischen Staaten, sondern eher um den institutionellen Wettbewerb im wissenschaftlichen Bereich – und hier sind neben den außeruniversitären Forschungseinrichtungen typischerweise eben die Universitäten im Blickfeld, und zwar unabhängig ihrer (privaten oder staatlichen) Trägerschaft. Dennoch nimmt man die damit verbundenen Herausforderungen naturgemäß als echte Gefährdung wahr, vgl. nur etwa die Gegenrede zum Exzellenzwettbewerb von Häberle, Peter, Die deutsche Universität darf nicht sterben, JZ 2007, S. 183. 59 VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 113.
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tion grundgesetzlicher Ausformungen in Entwicklungsländern etwa bei Hans-Peter Schneider60 und J. Frowein61). Mit einer großen Breite in der Diskussion assoziiert man an sich etwas Positives – sie belegt typischerweise eine Offenheit für die Bezüge des Themas in andere Themenfelder hinein. Und in der Tat muss man der deutschen Staatsrechtslehre einen Ansatz in der großen Breite auch zubilligen. Er zeugt von Lebendigkeit und Vielfalt. Allerdings fragt sich, ob die große begriffliche Breite nicht doch vor allem auch eine tiefe Unsicherheit im methodischen Umgang mit dem Phänomen Wettbewerb zu Tage legt. Bereits ein erstes Nebeneinanderlegen der beiden Referate zeigt gewisse Beliebigkeiten zwischen jeweils gewähltem Ziel und Schwerpunktsetzung einerseits und der gewählten Semantik andererseits: Anne Peters etwa spricht nicht von einem Phänomen des Wettbewerbs, sondern durchgängig von einem Paradigma.62 In der weiteren Lektüre zeigt sich dann aber, dass es ihr in der Sache in erster Linie gerade nicht um die analytische Kraft des Paradigmas geht, sondern – der juristischen Tradition gemäß – um die verfassungsrechtliche Bewertung des Umgangs mit dem Phänomen. Bei Thomas Giegerich ist es genau umgekehrt: Semantisch bewegt er sich zwar entlang der Phänomenalität des Wettbewerbs (spricht etwa vom „empirischen Befund“ und von der „Interessenlage“63), geht dann aber nicht den Weg der Feststellung und juristischen Bewertung tatsächlicher Umstände, sondern fragt sogleich nach dem Nutzen des wettbewerblichen Paradigmas. Gerade die Tatsächlichkeit des Wettbewerbs ist aber – als Anknüpfungspunkt für das Recht – etwas ungeheuer Wichtiges. Sie ist gewissermaßen der Ausgangspunkt. Denn nur, wenn man den Wettbewerb als tatsächliche Herausforderung des Rechts betrachtet, wird er überhaupt juristisch handhabbar. In der im Weiteren dann folgenden Diskussion wurde dies unter den Staatsrechtslehrern verschiedentlich hervorgehoben und zugleich kritisiert, dass man diesem Umstand nicht immer deutlich genug Anerkennung zolle.64 Man kann die Frage – auch analytisch – in der Tat nicht darauf begrenzen, ob das Wettbewerbsparadigma nun nutzenbringend ist oder nicht. Man 60
Ibid., S. 110. Ibid., S. 112. 62 Peters, Anne, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 7, etwa 13 ff. Noch explizierter in der Diskussion: „Der Wettbewerb ist kein factum brutum, sondern nur eine von möglichen Beschreibungen der Phänomene“ (ibid., S. 132). 63 Giegerich, Thomas, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 57, 66 ff. 64 Die Diskussionsbeiträge von Meessen (S. 106), Scherzberg (S. 119), Lorz (S. 122) und Zacher (S. 127) zeigen (wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Motivation), dass die Anerkennung der Tatsächlichkeit des Wettbewerbs der methodische Ausgangspunkt sein muss. Meessen stellt dies verschiedentlich dar, so etwa wieder jüngst in Meessen, Karl M., Prinzip Wettbewerb, JZ 2009, S. 697, 706: „Systemwettbewerb, obwohl nicht gewährleistet und sogar einem voranschreitenden Erosionsprozess durch kartellierende Harmonisierung ausgesetzt, stellt eine aus der weltweiten Öffnung der Handelsgrenzen zwingend hervorgegangene Realität dar (Hervorhebung JLD)“. 61
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muss sich vielmehr eingestehen, dass es einen – näher zu klärenden – Wettbewerb offenbar tatsächlich gibt, und sich dann notgedrungen die Frage stellen, was er für den Verfassungsstaat bedeutet und wie wir mit ihm am besten umgehen. Auch im Weiteren zeigen sich dann – vor allem bei Anne Peters – interessante Reibungspunkte im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse. Anne Peters antwortet – nach einigen überaus nützlichen analytischen Vorarbeiten65 – auf ihre analytischen und normativen Leitfragen66 nämlich mit einer Bewertungsmatrix, die sie aus einer Zusammenstellung unterschiedlicher verfassungsstaatlicher Positionen etwa der Freiheit, der Gleichheit, der Demokratie, der Sozialstaatlichkeit und dem Gemeinwohl erhält.67 Dieses Vorgehen unterstellt, dass der Wettbewerb zwischen den Staaten den modernen Verfassungsstaat in diesen – kategorial übrigens sehr unterschiedlichen – verfassungsrechtlichen Positionen in jeweils unterschiedlicher Weise betrifft. Und in der Tat führt Frau Peters in Bezug auf die verschiedenen verfassungsstaatlichen Positionen auch tatsächlich jeweils unterschiedliche Gesichtspunkte an: So beleuchtet sie den Freiheitsschutz im Wettbewerb zwischen den Staaten etwa unter dem Gesichtspunkt, ob der Wettbewerb die (eben normativen) Instrumente des Verfassungsrechts zum Freiheitsschutz ersetzen oder wenigstens
65 Diese analytischen Vorarbeiten umfassen die Situation des Staates als Anbieter einer Rechtsordnung und die Situation des Einzelnen als Nachfrager einer solchen Ordnung. Besonders verdienstvoll ist dabei der Hinweis auf die Notwendigkeit eines Wettbewerbskreislaufs, der nur dann gegeben ist, wenn nicht nur auf Nachfrager-, sondern auch auf Anbieterseite ein Veränderungs- oder wenigstens Anpassungsverhalten zu beobachten ist (S. 21 ff.). Auch die Skepsis gegenüber einer Omnipresenz von Wettbewerb (S. 25) vermag angesichts der nur partiellen Offenheit von Staaten sehr zu überzeugen. Daneben aber wirft Frau Peters – aus der Perspektive der Wettbewerbsanalyse – durchaus auch einige Fragen auf. So übersetzt Frau Peters den wettbewerbsanalytischen Begriff der „voice“ mit dem Begriff der Abstimmung und setzt ihn offenbar mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der „Stimme“ im Rahmen einer demokratischen Wahl gleich (S. 17). Dieses Verständnis von voice ist in wettbewerbsanalytischer Begrifflichkeit freilich viel zu eng. Der Hirschman’sche Begriff der voice ist vielmehr ein Begriff der Stimmerhebung in gleich welcher Weise. Kern des Hirschman’schen Verständnisses von voice ist also der Widerspruch (entsprechend wird es typischerweise auch in das Deutsche übersetzt). Es geht hier mehr um Interessensdurchsetzung der Bleibenden (also derjenigen, die eine exit-Option haben, sie aber nicht ausüben, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, loyal zum Anbieter bleiben) als um das Abgeben einer Stimme im demokratischen Prozess der Wahl. Das Abgeben einer Stimme im Rahmen einer demokratischen Wahl gehört zur voice des Einzelnen im Wettbewerb zwischen den Staaten zwar dazu, ist sicherlich aber nicht mit ihr gleichzusetzen. In der Folge geht dann auch die Identifizierung verschiedener Modalitäten nachfragerischen Handelns neben den grundlegenden Modalitäten von „voice“ und „exit“ fehl. Frau Peters verweist hier etwa auf die Wahl von Rechts- oder Produktstandards, vgl. S. 19 ff.), obgleich diese – in wettbewerbsanalytischer Betrachtung – eigentlich Fälle von voice (eben Widerspruch) sind. 66 Die Fragen stellt sie nach dem Mehrwert und der normativen Richtigkeit des Wettbewerbsparadigmas, vgl. Peters, Anne, Wettbewerb der Rechtsordnungen, VVDStRL 2010, S. 7, 12 a.E., 13. Damit stellt sie in der Tat – jedenfalls auch – die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen wettbewerblichen Handelns. 67 Ibid., S. 26 ff.
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ergänzen könne.68 Die wettbewerblich bedingten Herausforderungen der Gleichheit diskutiert sie demgegenüber eher in dogmatischer Weise und erkennt das Prinzip der offenen Staatlichkeit als Grund (und Grenze?) rechtlicher Ungleichbehandlungen.69 Das Demokratieprinzip wiederum stellt sie in den politischen Zusammenhang und fragt nach der Möglichkeit der Heilung von Defiziten, die im demokratischen Prozess entstehen, durch wettbewerbliche Mechanismen.70 Beim Sozialstaat fragt sie nach der Existenz eines „race to the bottom“71, beim Gemeinwohl nach der (Un-) Möglichkeit einer Wohlfahrtsfunktion zwischen individuellem und gemeinschaftlichem Nutzen72 und so weiter. So ergibt sich ein recht buntes Bild, das kaleidoskopartig die wesentlichen Brüche, aber auch die wesentlichen Synnergiepotenziale des Verfassungsstaates im Wettbewerb darzustellen scheint. Man kann insoweit auch von einer Bewertungsmatrix sprechen.
III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit Der vorliegende Beitrag stellt sich diesem methodischen Vorgehen von Anne Peters und anderen entgegen. Er behauptet, dass sich der Wettbewerb zwischen den Staaten im Wege einer solchen Bewertungsmatrix verfassungsrechtlich nicht sinnvoll erfassen lässt. Der Wettbewerb betrifft den Verfassungsstaat gerade nicht in kaleidoskopartig bunter – also in je nach verfassungsrechtlichem Gehalt kategorial jeweils unterschiedlicher – Weise, sondern in seinen unterschiedlichen Bereichen immer gerade nur im Hinblick auf ein- und dieselbe normative Eigenschaft, nämlich seine Allgemeinheit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass der Wettbewerb den Verfassungsstaat zwar in der Tat in verschiedenen Bereichen herausfordert (Demokratie, Freiheitsschutz, Rechts- und Sozialstaatlichkeit usw. – Frau Peters listet die Bereiche ja im Einzelnen auf), dass diese Herausforderung ihrerseits aber gerade nicht jeweils bereichsspezifisch ist, sondern immer nur von ein und derselben Natur, nämlich von der Natur eines Anreizes des Staates zur Besserbehandlung der Verfügenden mobiler Faktoren. Im Kern reduziert sich die Herausforderung – bei aller Pluralität der Wirkungen auf die verschiedenen Rechtsbereiche der Demokratie und des Freiheitsschutzes, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit – dadurch auf eine Herausforderung der Allgemeinheit des Rechts. Die Eigenschaft der Allgemeinheit sichert die rechtliche Freiheit des Einzelnen im Staat – letzten Endes geht es hier daher vor allem auch um die individuellen Rechtspositionen des Einzelnen. 68 69 70 71 72
Ibid., S. 26. Ibid., S. 27 f. Ibid., S. 28 ff. Ibid., S. 30 ff. Ibid., S. 35 f.
III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit
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Die Monofunktionalität wettbewerblicher Wirkungen auf den Verfassungsstaat und sein Recht zeigt sich ohne viel Umschweife im Lichte der bekannten Hirschman’schen Analyse wettbewerblicher Prozesse.73 Der hier interessierende Kern des von Hirschman näher untersuchten Verhältnisses von Abwanderung, Interessensdurchsetzung und Loyalität in wettbewerblichen Prozessen (exit, voice und loyalty) liegt nämlich darin, dass bereits das bloße Bestehen einer exit-Option die Durchsetzungschancen von voice erhöht.74 Mit anderen Worten: Nicht erst die tatsächliche Wanderung eines Faktors, sondern schon die bloße Möglichkeit einer solchen Wanderung verstärkt die Interessensdurchsetzungskraft der Faktorverfügenden im Staat, wenn sie nur hinreichend organisierbar ist.75 Für das (kontra-faktische) Verfassungsrecht bringt dieser Umstand eine geradezu klassische Herausforderung mit sich – nur die Form und die Ausprägung sind neu.76 Für das Verfassungsrecht geht man nämlich – zu Recht – von der Grundannahme aus, dass es für alle Herrschaftsunterworfenen in allgemeiner Weise gilt. Die These, dass bereits allein die Option eines exits die Durchsetzungskraft des Einzelnen stärkt und auch stärken soll, läuft dieser verfassungsrechtlichen Eigenschaft der Allgemeinheit des Rechts im Grundsatz entgegen. Sie besagt nämlich im Kern, dass derjenige, der die exit-Option hat, im Staat durchsetzungsstärker ist – und sein soll – als derjenige, der sie nicht hat. Damit aber stellt sie sich diametral zu dem verfassungsrechtlichen 73 Hirschman, Albert O., Exit, Voice and Loyalty, Responses to Decline in Firms, Organizations and States, London: Oxford, 1970. 74 Ibid., S. 82, 83 75 Ist diese Erkenntnis für allgemeine Wettbewerbsprozesse, wie sie zwischen Individuen unzählig stattfinden, bereits von großer Tragweite, weil sie die Bedeutung – und das Maß – der Souveränität des Kunden für den Anbieter deutlich macht, so hat sie für den wettbewerbenden Verfassungsstaat angesichts dessen einhegender Normativität geradezu eine explosive Sprengkraft: Die einfache These, dass durch die exit-Option die eigene voice erhöht wird, sagt nämlich nicht nur über das Verhältnis zwischen Nachfrager und Anbieter viel aus (im Fall des Wettbewerbs zwischen den Staaten also zwischen dem Einzelnen und dem Staat als Ordnungsanbieter), sondern vor allem über das Verhältnis zwischen den verschiedenen Nachfragern (im Fall des Wettbewerbs zwischen den Staaten also zwischen den verschiedenen Einzelnen in ihrem jeweiligen Unterworfensein). 76 Engel bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Perfekter Produktwettbewerb kommt zwar selten vor, ist aber normativ normalerweise nicht anstößig. Perfekter Systemwettbewerb ist dagegen das Ende des Rechts“, Engel, Christoph, Buchanzeige, 131 AöR 2006, S. 322, 324. Der Grund für diese hohe Bedeutung liegt darin, dass gerade die Kunden-Kunden-Relation, die bei den hier aufgeworfenen Fragen in den Vordergrund tritt, für den Verfassungsstaat – in Form der rechtlichen Gleichheit, ja des Rechts überhaupt – gerade eine der wichtigsten Grundlagen überhaupt ist. Damit steht die Anwendung der Hirschmanschen Begrifflichkeit auf den Wettbewerb zwischen den Staaten übrigens in einer eigentümlichen Spannung zur Zielsetzung der Hirmanschen Analyse selber. Für Hirschman war die Dimension zwischen Nachfragern (also zwischen den Kunden) bei seinen – individualwettbewerblichen – Überlegungen in der Tat nämlich nur von verhältnismäßig geringer Relevanz (sie sagen auch bei ihm nur etwas aus etwa über das relative Gewicht eines Kunden und seiner exit-Option im Verhältnis zu anderen Kunden und haben etwa Konsequenzen für die Organisation von Kunden – Stichwort: Verbraucherinteressen). Für den Verfassungsstaat aber ist diese Dimension in der Tat von geradezu existenzieller Bedeutung.
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Versprechen der Allgemeinheit des Rechts. Hier erst zeigt sich die eigentliche Herausforderungsstruktur des Wettbewerbs: Der Wettbewerb zwischen den Staaten bringt den Staat nämlich in Versuchung, die Verfügenden mobiler Faktoren besser zu behandeln als jene, die über solche Faktoren nicht verfügen. Man kann dies auch dynamisch ausdrücken: Je mobiler die Faktoren sind, über die jemand verfügt, und je größer das Interesse des Staates an diesen Faktoren ist, desto größer ist die staatliche Versuchung zur Besserbehandlung. Der Wettbewerb steht – als Anreizrahmen für staatliches Handeln – somit quer zu dem verfassungsrechtlichen Versprechen der Allgemeinheit des Rechts. Dies, die Einwirkung auf die staatliche Herrschaft über den Einzelnen, nicht die angestrebte Effizienzsteigerung77, ist die spezifische Nebenwirkung des Wettbewerbs zwischen den Staaten auf das Verfassungsrecht78, und sie betrifft das Verfassungsrecht in allen seinen Bereichen (Demokratie, Freiheitsschutz, Rechts- und Sozialstaatlichkeit) in immer gleicher Weise, nämlich mit Blick auf die Allgemeinheit des Rechts. Die Konsequenzen dessen sind ganz unmittelbar und liegen geradezu auf der Hand: Der Wettbewerb berührt die verschiedenen Rechtspositionen und Grundsätze des Verfassungsstaates ganz offenbar nicht in ihrem jeweiligen spezifischen Kern (wie Anne Peters und andere behaupten), sondern immer nur in einer gemeinsamen Eigenschaft, nämlich in der Eigenschaft, eben auch (neben weiterem) eine Position allgemeiner Geltung zu sein. Weil dies für den Untersuchungsgegenstand so eminent wichtig ist, soll es kurz beispielhaft mit Blick auf wesentliche Bereiche und Garantien des Verfassungsstaates im Einzelnen dargelegt werden: *
Das Demokratieprinzip etwa berührt der Wettbewerb im Hinblick auf durchaus sehr verschiedene Gesichtspunkte, etwa im Hinblick auf den Kampf der Meinungen oder auch die Legitimation und Effizienz, die es für das Gemeinwesen mit sich bringt. Die Faktizität des Wettbewerbs steht in diesen Bereichen der Normativität des Demokratieprinzips aber nicht entgegen, sondern verstärkt sie eher (in dem sie etwa den Meinungskampf intensiviert und Legitimation und Effizienz dadurch stärkt). Die Faktizität des Wettbewerbs wirkt – insoweit – also nicht kontra-, sondern pronormativ, etwa in Richtung einer gegenseitigen Unterstützung von Wettbewerb und Demokratieprinzip. Anders liegt es demgegenüber im Hin-
77 In der Tat steht das Recht zwar unter einem ständigen Verbesserungsdruck. Dieser Verbesserungsdruck ist jedoch nicht originär wettbewerblicher Art. Er ist vielmehr anderweitig vermittelt, etwa durch die ständige demokratische Rückbindung des Rechts an die Unterworfenen. Das Recht steht durch die Unterworfenenen gewissermaßen unter ständiger Beobachtung. In seiner Evolution handelt es sich um einen ständigen Prozess von Trial und Error. Der Wettbewerb mag zur Effizienzsteigerung das Seinige beitragen. Er reiht sich dabei aber ein in eine Reihe weiterer Mechanismen, die durchaus eigenständige Kraft entwickeln, und vielleicht eine stärkere Kraft als der Wettbewerb. Auch in geschlossenen Staaten gibt es rechtliche Effizienzsteigerungen, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Effizienzsteigerung kein Spezifikum des Wettbewerbs ist. 78 Manche Ökonomen sehen diesen Umstand übrigens deutlicher als so mancher Jurist, vgl. überaus interessant dazu etwa Gerken, Lüder u. a. (Hrsg.), Internationaler Steuerwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 274.
III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit
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blick auf die (eben auch im Demokratieprinzip mit angelegte) Allgemeinheit des Rechts. Hier wirkt die Faktizität des Wettbewerbs vor allem kontranormativ. Das Demokratieprinzip etwa wäre vom Wettbewerb ernsthaft berührt, wenn der Staat zum Beispiel ein Mehrklassenwahlrecht einführen würde, das Faktoren in Mobilitätsklassen einteilen (etwa Kapital und Arbeit) und dann je nach Mobilitätsklasse unterschiedliche Gewichtungen beim faktorverfügungsberechtigten Wähler vornehmen würde (etwa im Sinne einer Mehrzahl von Stimmen für reiche Wahlberechtigte). Der Umstand, dass wir von solchen Anforderungen – glücklicherweise – weit entfernt sind, bestätigt, dass die Demokratie in ihrer heutigen Ausprägung in der Tat ein eher potenzielles denn aktuelles Problem mit dem Wettbewerb zwischen den Staaten hat, jedenfalls nicht mit demjenigen Wettbewerb um Produktionsfaktoren, wie er vorliegend zum Gegenstand gemacht ist. *
*
Auch die Rechtsstaatlichkeit berührt der Wettbewerb in vielerlei Hinsicht: Er stärkt etwa die Effizienz rechtsstaatlicher Strukturen, wenn ein Staat erkennt, dass Faktorverfügende Rechtssicherheit als ein hohes Gut bewerten. Er verstärkt in diesem Fall im Zweifel auch den Willen zur Schaffung effizienter Überprüfungsmechanismen etwa im Rahmen einer starken Judikative. Zur Herausforderung wird der Wettbewerb hier aber erst dann, wenn diese Verstärkungen eben in Abhängigkeit der Durchsetzungskraft im Wettbewerb gewährt werden, wenn also Verfügende mobiler Faktoren mehr Rechtsstaatlichkeit genießen können als die anderen. Dasselbe gilt für den Freiheitsschutz: Auch er wird durch Wettbewerb im Zweifel gestärkt. Ein Staat, der sich um den Eigentumsschutz nicht kümmert, wird im Wettbewerb im Zweifel dazu getrieben, irgendwann dann eben doch die nötigen Garantien einzurichten oder jedenfalls – auch ohne Garantie – die jeweiligen Interessen und Positionen zu schützen. Gleiches gilt etwa für die politische Freiheit: Wettbewerb und Grundrechtschutz streiten hier maßgeblich in dieselbe Richtung. Ein verfassungsrechtliches Problem entsteht aber eben dann, wenn dieser durch Offenheit und Wettbewerb erreichte Freiheitsgewinn nicht allgemeiner Art ist, wenn also nur manche hiervon profitieren (nämlich diejenigen, an denen der Staat ein Interesse hat und die ihre Faktoren abziehen können), die anderen jedoch nicht. Hier würde, um mit Kirchhof zu sprechen, in der Tat die Freiheit zum Privileg. Sie würde damit dem grundlegenden Gedanken der Verfassung widersprechen: Denn verfassungsstaatliche Freiheit ist notwendig allgemeine Freiheit.
Diese kurze Übersicht, die man sicher durch viele weitere Details ergänzen kann, zeigt: Der Wettbewerb fordert den Verfassungsstaat zwar in all diesen Bereichen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsschutz usw. heraus, jedoch nur unter einem sehr spezifischen Aspekt, nämlich demjenigen der Allgemeinheit des Rechts. Man kommt der wettbewerblichen Herausforderung des Verfassungsstaates – in allen diesen Feldern – daher nur dadurch näher, dass man jeweils immer gerade die Dimension der allgemeinen Geltung betrachtet. Es geht dabei letzten Endes darum,
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A. Einleitung
zu prüfen, ob sich der Verfassungsstaat – in einem oder mehreren dieser Felder – gerade unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Geltung des Rechts im Wettbewerb wandelt oder nicht (Stichwort: Wettbewerbender Privilegienstaat?).79 Der inneren Systematik des Verfassungsstaates folgend soll die vorliegende Untersuchung den Verfassungsstaat daher durch das Prisma der Allgemeinheit des Rechts betrachten. Sie ist gewissermaßen der normative Wasserstandsanzeiger des Verfassungsstaates im Wettbewerb.80 Der methodische Ausgangspunkt des Beitrages ist dabei, dass der Geltungsanspruch des Verfassungsrechts wie selbstverständlich den Anspruch in sich trägt, dass sich das wettbewerblich motivierte Handeln des Staates – wie jedes andere staatliche Handeln auch – am Verfassungsrecht messen lassen muss, nicht umgekehrt. Denn der Geltungsanspruch des Verfassungsrechts ist absolut. In seiner ganzen Anlage kann das Verfassungsrecht daher nicht ein wettbewerbliches Instrument des Staates sein, sondern eben „nur“ eine normative Ordnung mit der Funktion der Einhegung staatlicher Interessen und staatlichen Han-
79 Der Beitrag hält es insoweit mit den zwei Diskussionsbeiträgen von Lorz und Zacher auf der Staatsrechtslehrertagung 2009 in Graz: – Lorz hob vor allem den Herausforderungscharakter hervor, den der Wettbewerb für den Verfassungsstaat bereit hält: „Vor allen Dingen aber sollten wir den Wettbewerb als ein legitimationsunabhängiges faktisches Phänomen begreifen, das, wie gesagt, Herausforderungen an unsere bestehenden Legitimationswege und Legitimationsketten stellt.“, in: VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 122. – Zacher demgegenüber hob – anknüpfend an Theodor W. Adorno – hervor, dass diese Herausforderung gerade die Allgemeinheit des Rechts betrifft: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Was meine ich damit? Dass das schlimmste Problem, vor dem wir bei dem Wettbewerb von Rechtsordnungen stehen, das ist, dass viel zu viele Staaten, in denen dieser Wettbewerb stattfindet, keine Staaten sind, sondern Räuberbanden. Ich meine das nicht lustig, sondern ich glaube: Das ist das tiefste Dilemma, vor dem wir bei allem Wettbewerb stehen, wenn Teilrechtsordnungen zu Markte gehen. Gerade dort, wo der Staat keine Widerstandskraft hat und keine Widerstandskraft haben will gegen Ungerechtigkeit, Unfreiheit und dergleichen, gerade dort kommt der Wettbewerb zwischen Rechtsordnungen […] besonders zum Blühen: und gerade dort kann er besonders schädlich sein. Wie wir das bändigen, weiß ich nicht. Ich kann nur mit dem Finger auf die Wunde deuten. […] Wir müssen, wenn wir das Soziale als Wettbewerbsordnung und Wettbewerbselement denken, wissen: Wenn die Gleichheit durch Allgemeinheit fehlt, dann wird es keine soziale Gerechtigkeit geben. Sie können in ein Land soziale Leistungen hineinschütten, so viel Sie wollen: solange es keine Gleichheit durch Allgemeinheit gibt, keine Gleichheit des Rechts und dergleichen, wird auch die Gleichheit durch den Ausgleich von Ungleichheiten nur Ungleichheit ergeben. […] Gleichheit durch Allgemeinheit […] müsste also eine wesentliche Voraussetzung sein, wenn man überhaupt den Wettbewerb von Recht in einem Land zulässt. Wie die internationale Gemeinschaft das bewirken könnte, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ohne dies aller Wettbewerb zur Gefahr wird.“, in: VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 127 f. 80 Er lässt sich damit in eine Reihe von Herausforderungen stellen, denen das Grundgesetz über die Jahre gegenüberstand und teilweise steht, die es aber – jedenfalls ganz überwiegend – recht passabel gemeistert hat, vgl. jüngst etwa Oppermann, Thomas, Deutschland in guter Verfassung? – 60 Jahre Grundgesetz, JZ 2009, S. 481.
III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit
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delns.81 Im Kern geht es damit um die Reibung zwischen der verfassungsrechtlichen, den Staat liberal einhegenden rechtlichen Allgemeinheit und der exit-Options-bedingten Durchsetzungskraft der Verfügenden mobiler Faktoren. Man kann es auch im Begriff der Kontranormativität des Wettbewerbs ausdrücken: Die Frage, die sich hier stellt, ist eine Frage nach der relativen normativen Kraft von exit-Option einerseits und der Allgemeinheit des Rechts andererseits. Hier also setzt der vorliegende Beitrag an. Sein Ziel ist es, die Reaktion des Verfassungsrechts auf die Herausforderungen, die ihm der Wettbewerb – und insbesondere das staatliche Handeln im Wettbewerb – bereithält, näher zu beschreiben. Ziel ist es also ausdrücklich nicht, sich – etwa in Anknüpfung an Jhering – an einem „Kampf um’s Recht“82 gegen allgegenwärtige Ökonomisierungsprozesse zu beteiligen, sondern lediglich näher zu betrachten, wie es denn um das Verfassungsrecht im Wettbewerb zwischen den Staaten steht. Es kann nämlich durchaus sein (und steht vielleicht sogar zu vermuten), dass sich das Verfassungsrecht im Wettbewerb vielleicht doch gar nicht so stark verändert und sich insbesondere in seinem Garantiegehalt zu Gunsten Einzelner vielleicht doch gar nicht so stark abbaut, wie manche der oben genannten Diskussionsbeiträge vermuten lassen. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass der Wettbewerb zwischen den Staaten entgegen ersten Vermutungen gar kein Sonderfall im Verhältnis zwischen Normativität und Tatsächlichkeit ist.83 Der Grund hierfür wäre dann vermutlich aber doch darin zu suchen, dass die Allgemeinheit des Rechts hierzulande offenbar doch stärker wirkt als der Anreiz zur präferenziellen Rücksichtnahme. 81 Die Geltungskraft des Verfassungsrechts speist sich dabei übrigens gerade aus seiner Kontrafaktizität. Nicht schafft das Verfassungsrecht, wie immer wieder behauptet wird, politisch handelnde Organe (es kann als lediglich normatives Phänomen solches tatsächliches Sein gar nicht schaffen), sondern lediglich verbietet es rechtliche Wirkungen von politischem Handeln, das die von ihm gestellten Voraussetzungen nicht erfüllt. Das Verfassungsrecht kann staatliche Strukturen auf diese Weise zwar organisieren, jedoch eben nicht durch die Schaffung bestimmter Wirklichkeiten, sondern lediglich durch Identifizierung und Verbot anderer. Das Protesthafte, ja Revolutionäre des Verfassungsrechts liegt angesichts dieses Umstandes nicht in irgendeiner Kraft zur Formung der Wirklichkeit, sondern in jener zum Verbot dessen, was den vom Recht gesetzten Vorgaben nicht entspricht. Für die Betrachtung des Verfassungsstaates im Wettbewerb hat dieser Umstand wichtige Folgen: Denn das Verfassungsrecht am Maßstab des Wettbewerbs und der staatlichen Interessen in diesem Wettbewerb messen zu wollen, kommt danach dem Versuch gleich, dem Verfassungsrecht seine normative Einhegungskraft zu rauben. Nicht zuletzt hiergegen wendet sich der vorliegende Beitrag. Er motiviert sich aus dem Versuch mancher Interessensträger, den Abbau verfassungsrechtlicher Normativität im Angesicht der wettbewerblichen Herausforderung voranzutreiben. 82 Jhering, Rudolf von, Der Kampf um’s Recht, Frankfurt a.M.: Propyläen, Neudruck der 18. Aufl. von 1913, 1992. 83 Vielleicht reagiert ja das Verfassungsrecht auch gegenüber dem Wettbewerb und insbesondere gegenüber dem wettbewerblichen Handeln des Staates im Grundsatz nicht anders, als es sonst im Verhältnis von Normativität und Faktizität reagiert, nämlich durch die ihm eigene spezifische Kontrafaktizität. Wenn dem so wäre, dann hätte dies doch erhebliche Auswirkungen für die These, dass der Wettbewerb den Verfassungsstaat in seinen gleichheitsrechtlichen Garantiegehalten bedrohe. Die These hätte dann nämlich deutlich weniger Sprengkraft.
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A. Einleitung
Um eine Überprüfung des Verfassungsrechts in der wettbewerblichen Herausforderung vornehmen zu können, bedarf es vorab freilich einiger Klarstellungen. Zunächst ist erstens festzuhalten, dass es hier tatsächlich zunächst nur um das Verfassungsrecht des wettbewerbenden Staates geht. Denn es ist in erster Linie das Verfassungsrecht eines jeden einzelnen wettbewerbenden Staates, nicht das wettbewerbsordnende und damit auch dem Wettbewerb übergeordnete zwischen- oder suprastaatliche Recht, das in der Bedrohung der Instrumentalisierung steht. Es muss hier also eine klare Unterscheidung getroffen werden zwischen wettbewerbender Ordnung und Wettbewerbsordnung.84 Fragen nach einer Wettbewerbsordnung stellen sich nicht, wenn schon die wettbewerbenden Ordnungen selbst hinreichend zufriedenstellende Antworten geben. Mit anderen Worten: Wenn schon die wettbewerbenden Ordnungen angemessen auf das wettbewerbliche Phänomen reagieren können, braucht es keine weiteren Überlegungen mehr zur Wettbewerbsordnung, jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt der Bedrohung oder Erosion der wettbewerbenden Ordnungen. Sodann ist zweitens festzuhalten, dass es sich beim Wettbewerb zwischen den Staaten im durchaus doppelten Sinne um einen Globalwettbewerb handelt.85 Ein Verfügender mobiler Produktionsfaktoren schaut nicht allein auf das Verfassungs84
Mit Wettbewerbsordnung sind hier übrigens nicht die Offenheitsgarantien etwa der Grundfreiheiten oder der WTO-rechtlichen Nichtdiskriminierung gemeint (solche öffnenden Regelungen ermöglichen Wettbewerb zwischen den Staaten, ordnen ihn aber nicht), sondern jene Teilrechtsordnungen, die in der Tat ein Verhalten in der Offenheit konfrontieren und damit ordnende Wirkungen entfalten können, wie etwa das unionale Beihilferecht oder das WTOAntisubventionsrecht. Diese – wettbewerbstheoretisch durchaus wichtige – Unterscheidung zwischen bloßen wettbewerbsermöglichenden Offenheitsregeln und echten wettbewerbsordnenden Begrenzungsregeln wird nicht überall sauber getroffen. So hält Werner Mussler etwa öffnende Regeln mit ihrer wettbewerbermöglichenden Wirkung bereits für wettbewerbsordnende Regelungen, vgl. Mussler, Werner, Systemwettbewerb als Integrationsstrategie der Europäischen Union, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 71, 73. Ein solches weites Verständnis von Wettbewerbsordnung ist nicht nur unter praktischen, sondern vor allem auch unter theoretischen Gesichtspunkten schwierig. Denn die Klassifizierung von Regeln als wettbewerbsordnend setzt notwendig voraus, dass es einen Wettbewerb überhaupt gibt. Gerade hier aber zeigt sich der große Unterschied zwischen öffnenden und ordnenden Regeln: Öffnende Regeln ermöglichen (wettbewerbsgenerierende) Faktormobilität, (wettbewerbs-)ordnende Regeln begrenzen sie. Anne Peters etwa weist auf die („lediglich“) wettbewerbskonstitutive Wirkung öffnender Regeln als Teil einer Metaordnung ausdrücklich hin, vgl. Peters, Anne, Wettbewerb der Rechtsordnungen, VVDStRL 2010, S. 7, 39. 85 Neben den folgenden – sachlichen – Ausführungen zur Globalität des Wettbewerbs handelt es sich auch räumlich um einen Globalwettbewerb, also einen globalen Wettbewerb. Dies bedeutet, dass man ihn nicht auf ein europäisches und schon gar nicht unionales Phänomen reduzieren kann. (In der EU findet der Wettbewerb zwar insoweit in einer Sondersituation statt, als die wettbewerbenden Staaten ihrerseits einem Hoheitsträger unterliegen und insofern keine Autonomie zur Schließung mehr haben. Insofern ist die Wettbewerbssituation hier institutionalisiert und dadurch in gewisser Weise verschärft. Spätestens seit der Einführung des Austrittsrechts durch den Lissabonvertrag (Art. 50 EUV) ist diese Situation – bei allen Streitpunkten im einzelnen – allerdings deutlich entschärft.)
III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit
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recht eines Staates. Er schaut vielmehr auf die wettbewerbliche Gesamtsituation eines Staates, in die sich das Verfassungsrecht als ein – wenn auch wesentlicher – Teil mit einstellt. Dieser Anteil des Verfassungsrechts an der wettbewerblichen Situation des Staates ist zwar durchaus bedeutend, weil das Verfassungsrecht den Staat ja in ganz besonderer Weise formt. Es steht jedoch neben völlig anderen Aspekten nicht nur des Rechts (etwa des einfachen Rechts), sondern auch etwa der Verkehrs- oder Forschungsinfrastruktur, der Absatznähe produzierter Waren usw. Für den Ökonomen ist hier – insbesondere im FuE-Zusammenhang – vor allem die regionale Verteilung so genannter Leadmärkte relevant.86 Die Staaten wettbewerben also nicht nur im Hinblick auf bestimmte rechtliche Institute miteinander, vielleicht nicht einmal im Wesentlichen mit Blick auf diese rechtlichen Institute, sondern in Gesamtrechnung ihrer Staatlichkeit. Es handelt sich also keineswegs um einen Wettbewerb der Rechtsordnungen (zumal schon eine Ordnung gar kein Wettbewerber sein kann), schon gar nicht um einen solchen von Teilrechtsordnungen87, sondern um einen solchen zwischen Staaten, in dem die rechtlichen Ordnungen eben ihren Anteil haben, nicht aber das Ganze ausmachen.88 Schon aus diesem Grund der sachlichen Globalität des Wettbewerbs treten die wettbewerblichen Herausforderungen für das Verfassungsrecht in erster Linie nicht zwischen den wettbewerbenden Staaten zu Tage, sondern in diesen Staaten, und zwar in jedem dieser Staaten jeweils für sich. Der vorliegende Beitrag stellt sich zu Anne Peters und Thomas Giegerich und anderen daher übrigens auch im Hinblick auf die Frage nach der Notwendigkeit einer Wettbewerbsordnung in Widerspruch. Anne Peters etwa schreibt, das Ziel sei die „Schaffung einer Wettbewerbsordnung im Sinne Walter Euckens“.89 Thomas Giegerich ist noch deutlicher. Er schreibt sogar: „Dass der Wettbewerb der Rechtsordnungen im Interesse positiver Gemeinwohlergebnisse reguliert werden muss, steht außer Streit.“90 Der Leser, von dieser Klarheit zunächst beeindruckt, muss angesichts der vorgetragenen Zusammenhänge dann aber doch zweifeln. Nicht nur fragt sich, ob eine solche übergreifende Wettbewerbsordnung überhaupt möglich ist, sondern auch, ob sie überhaupt wünschenswert oder gar nötig ist, und wenn ja, dann 86
Instruktiv dazu etwa die Erörterungen des seinerzeitigen deutschen Forschungsstaatssekretärs Meyer-Kramer, Frieder, Lead-Märkte und Innovationsstandorte, in: Warnecke, HansJürgen/Bullinger, Hans-Jörg (Hrsg.), Kunststück Innovation, Praxisbeispiele aus der Fraunhofer-Gesellschaft, Berlin: Springer, 2003, S. 23. 87 In diese Richtung aber mit seiner – sachlich kaum haltbaren – Differenzierung in Makround Mikrowettbewerb offenbar Giegerich, Thomas, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 57, 70 ff. Giegerich insoweit etwas missverständlich, als er am Ende dann eben doch – zu Recht – von einem „Motivbündel“ spricht, in dem das Recht nur einen (vielleicht nur kleinen Anteil) hat (S. 72). 88 Interessant wäre einmal eine Quantifizierung vorzunehmen, wie stark der rechtliche Einschlag in diesem Wettbewerb überhaupt wiegt. Vielleicht sind ja ganz andere Gesichtspunkte viel wichtiger, als der Jurist so denkt, etwa Innovationsfähigkeit, Marktorientierung usw. 89 Peters, Anne, Wettbewerb der Rechtsordnungen, VVDStRL 2010, S. 7, 38. 90 Giegerich, Thomas, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 57, 66 ff.
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A. Einleitung
mit welchen Gehalten.91 Auch bei der näheren Zusammenstellung erster Vorschläge fehlt es eher an Klarheit: Im Rahmen eines ersten Gedankenspiels erörtert Peters etwa neben (eigentlich lediglich wettbewerbskonstituierenden) Elementen der Offenheit92 auch (wirklich ordnende) Elemente etwa der Beschränkung von Wahlmöglichkeiten93 oder der Identifizierung von Unlauterkeit im staatlichen Handeln94 und denkt über Anforderungen an eine solche Ordnung nach.95 Diesen Überlegungen stellt der vorliegende Beitrag die These entgegen, dass ordnende Elemente am besten dezentral in den Verfassungen selber angelegt sind und dass der Verfassungsstaat auch tatsächlich die Kraft zur Durchsetzung dieser ordnenden Elemente hat, soweit nur die richtigen Bedingungen hierfür vorliegen. Die – insoweit durchaus ordnungspolitisch, wenn man so will: verfassungsordnungspolitisch geprägte – Zielsetzung des Beitrags ruft naturgemäß nach einer Analyse verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, um feststellen zu können, wie das Verfassungsrecht auf das staatlich motivierte wettbewerbliche Handeln im Einzelnen reagiert. Der Beitrag wendet sich im weiteren Verlauf daher dem BVerfG zu. Eine Vorab-Klärung der Intensität des Wettbewerbs zwischen den Staaten oder auch nur der Wettbewerbsteilnahme Deutschlands setzt dies nicht voraus. Sie lässt sich ohnehin nicht abstrakt bestimmen. Die zu untersuchenden Reaktionen sind eher Ausdruck einer bestimmten wettbewerblichen Ausgesetztheit und der Reaktionen hierauf. Erst im Wege der Analyse bildet sich daher ein Bild darüber heraus, wie das deutsche Verfassungsrecht mit seinem allgemeinen Geltungsanspruch auf den Wettbewerb eigentlich reagiert. Um diese Frage beantworten zu können, soll der Beitrag im Einzelnen entlang der folgenden Linien voranschreiten: – In einem vorangestellten (begrifflichen) Teil soll der Beitrag zunächst einen arbeitsfähigen Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten bilden. Zu diesem Zweck soll er – sozusagen in einer Phänomenologie des Wettbewerbs – die tatsächlichen und normativen Zusammenhänge zwischen verfasster Offenheit und staatlichem Attraktionsinteresse aufklären. Dieses Bedürfnis führt notwendig zu einer interessenstheoretischen Begriffsbildung. Wettbewerb zwischen den Staaten 91 Sogar Autoritäten des europäischen Verfassungsrechts vertreten hier offenbar eine völlig andere Position als Peters, Giegerich und Mehde. Pernice etwa fragt, was denn überhaupt dagegen spreche, in diesem Bereich des Wettbewerbs gar (so wörtlich) „marktbeherrschende Stellungen“ zu begründen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 108, darin wörtlich weiter: „Das Einzige, was mir dazu einfällt und was dann in einer Metarechtsordnung vielleicht zu regeln sein könnte, wäre der Wettbewerb, der sich auf den Einfluss auf andere Rechtsordnungen bezieht […]“. 92 Peters, Anne, Wettbewerb der Rechtsordnungen, VVDStRL 2010, S. 7, S. 39 ff. Man könnte diese Elemente als unechte Ordungselemente bezeichnen, da sie den Wettbewerb nicht wirklich ordnen, sondern eben nur ermöglichen. 93 Ibid., S. 41 ff. 94 Ibid., S. 43 ff. 95 Ibid., S. 48 ff.
III. Eigener Beitrag – Ziel, Schwerpunkt und Gang der Arbeit
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ist ohne das zugrunde liegende staatliche Interesse am Faktor nämlich nicht denkbar, das staatliche Interesse selbst ist aber nicht weg-denkbar. Insoweit ist zwischen offenen Verfassungsstaaten auch die Situation des Wettbewerbs nicht weg-denkbar. Eine interessenstheoretische Aufarbeitung des Begriffs ermöglicht es daher, Argumente, wie sie in der Staatsrechtslehre zum Thema des Wettbewerbs immer wieder auftauchen, auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen (etwa zur Frage, inwieweit ein offener besteuernder Staat vom Wettbewerb überhaupt freistehen kann). Der Stand der Staatslehre erfordert insoweit begriffliche Weiterentwicklungen, die den Wettbewerb als ein interessensbasiertes und damit nicht zuletzt als ein tatsächliches Phänomen erfassen. – Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Überlegungen soll der dann folgende zweite (herrschafts- und wettbewerbssoziologische) Teil dann den Blick auf den Staat, insbesondere naturgemäß den Verfassungsstaat, als Wettbewerber lenken, also auf seine Wettbewerbsteilnahme. Denn verfassungsrechtlich relevant ist typischerweise nicht etwa ein bloßes Handlungsergebnis, sondern eine zu ihm führende staatliche Handlung. Es ist also zwischen dem (lediglich) faktoroffenen Staat und dem – in der staatlichen Offenheit – wettbewerbenden Staat zu unterscheiden. Nach einer kurzen Einführung in den Begriff des Verfassungsstaates sollen daher die Grundzüge des wettbewerbenden Verfassungsstaates aufgezeigt werden. In einem ersten Schritt soll dazu zunächst die Offenheit des Staates betrachtet werden. Im Kern ist hier zu untersuchen, welche herrschaftstheoretische Bedeutung die Offenheit für die Natur des Herrschens hat. Ausgehend von einem Konzept bedingten Herrschens (Selbstunterwerfungswille des mobilen Faktorverfügenden als Bedingung für staatliches Herrschen) soll der staatstheoretische Kern des Wettbewerbens des Staates herausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang rückt dann erneut das Interesse des Staates zur Rücksichtnahme gegenüber mobilen Faktorverfügenden in den Blickpunkt. Es zeigt sich, dass der wettbewerbende Staat – im Maße seines wettbewerblichen Handelns – in der Tat ein rücksichtnehmender Staat ist. Erst die – wettbewerblich gewollte – Rücksichtnahme im staatlichen Handeln (nicht schon der Wettbewerb an sich) ist Anknüpfungspunkt für die verfassungsrechtliche Bewertung. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die Frage, ob das Verfassungsrecht die Kraft hat, die wettbewerblich motivierte Rücksichtnahme einzuhegen oder ob die Rücksichtnahmeinteressen nicht ihrerseits das Verfassungsrecht herausfordern. – Auf dieser Grundlage soll sich der Beitrag in seinem dritten (verfassungsrechtlichen) Teil dann dem eigentlichen Thema der Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Staat zuwenden. Die spezifische Herausforderung, die der Wettbewerb zwischen den Staaten für das Verfassungsrecht bereit hält, liegt, wie bereits angedeutet, nämlich nicht in einer Freiheitsverkürzung (Freiheit und Mobilität wirken an sich eher in dieselbe Richtung, nur auf unterschiedlichen Wegen, eben einem normativen und einem faktischen), sondern in einer Verkürzung der Allgemeinheit des Rechts. Im Kern stellt sich die Frage nach der normativen Kraft der exit-Option (als Verbesserung von voice) relativ zur nor-
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A. Einleitung
mativen Kraft der Allgemeinheit des Rechts. Die Untersuchung schwenkt dann zu den Spezifika des deutschen Verfassungsrechts und zeigt im weiteren Verlauf, dass das BVerfG im Grundsatz ein hohes Maß rechtlicher Allgemeinheit gewährleistet und diese Gewährleistung (wohl nicht zuletzt gerade angesichts der wettbewerblichen Herausforderung) im Laufe der Zeit sogar verstärkt hat (Stichwort: Strukturelles Vollzugsdefizit). Allerdings gibt es sektorspezifische Ausnahmen (Zweitregisterentscheidung). Im Lichte dieser Analyse zeigt sich: Es bedarf offenbar eines verfassungsfunktionalen Leitbildes, um die Rechtsprechung des BVerfG auf einen tragfähigen Grund zu stellen. Der Beitrag entwickelt daher ein solches Leitbild. In ihrer Bedeutung für den Freiheitsschutz wird die Allgemeinheit des Rechts darin zum Instrumentalisierungsverbot, nämlich zu einem antiprotektionistischen Verbot der Instrumentalisierung des Staates durch den Einzelnen zu Lasten anderer Einzelner. Baut man sie in diesem Lichte im Sinne einer (Tocquevilles’schen) Bedingungsgleichheit (égalité des conditions) aus, gerät sie zu einem wichtigen verfassungsrechtlichen Pfeiler einer im Wesentlichen dezentralen Ordnung des Wettbewerbs zwischen den Staaten. Im Lichte des so entstehenden Leitbildes einer allgemeinen Verfassungsordnung im Wettbewerb zeigt sich, dass der Verfassungsstaat für den Wettbewerb durchaus gerüstet ist, jedenfalls dann, wenn – wie offenbar in Deutschland – wesentliche Geltungsbedingungen dafür erfüllt sind. Es bedarf – jedenfalls aus deutscher verfassungsstaatlicher Sicht – daher keiner zusätzlichen wettbewerbsordnenden Elemente des Unionsrechts (Beihilferecht) und des WTO-Rechts (Antisubventionsrecht). Beide Rechtsbereiche haben zwar Wirkungen auf innerstaatliche Gleichheitspositionen und die Allgemeinheit des Rechts. Diese Wirkungen sind aber lediglich annexhaft und allenfalls ergänzender Natur. Verfehlt wäre es daher annehmen zu wollen, dass diese Ordnungselemente deshalb im Wettbewerb notwendig seien, weil andernfalls die mitgliedstaatlichen Ordnungen erodierten. – Der Beitrag schließt mit einer kurzen Zusammenfassung in Thesen.
B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten Jede Untersuchung über den Verfassungsstaat im Wettbewerb setzt einen klaren Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten voraus. Denn Begriffe benennen nicht nur das mit ihnen bezeichnete Phänomen, sondern tragen auch das gedankliche Substrat in sich, um das Phänomen angemessen analysieren und bewerten zu können. Die Notwendigkeit eines Begriffs für die Analyse und Bewertung des Phänomens des Wettbewerbs folgt gar nicht einmal diesem Umstand, dass Begriffe – über die Beschreibung des mit ihnen bezeichneten Phänomens hinaus – eben auch zur Analyse entscheidend beitragen, sondern vielmehr daraus, dass sie, eben weil der Mensch in Sprache denkt, überhaupt nur die einzige Möglichkeit begründen, sich einem Phänomen gedanklich zu nähern und zu durchdringen: Ein Begriff stellt nicht nur ein (eben sprachliches) Instrumentarium unter vielen anderen Instrumentarien bereit. Er ist vielmehr, jedenfalls in vielen Fällen, gar die einzige gedankliche Grundlage zur Analyse und Bewertung des Phänomens überhaupt.1 Die Analyse und Bewertung eines Phänomens kann daher immer nur so weit reichen, wie der zu Grunde liegende Begriff sie trägt. Insbesondere kann die Analyse und Bewertung nicht besser sein als der ihr zu Grunde gelegte Begriff. Fehlt ein klarer Begriff, muss die Analyse und Bewertung, wie überhaupt die normative Diskussion, fast unausweichlich schwach bleiben. Ohne klaren Begriff ist es schon schwierig, das Phänomen, das der Begriff benennen soll, analytisch und normativ überhaupt richtig zu erfassen. Noch viel schwieriger, ja vielleicht unmöglich, ist es, ein normatives Leitbild für den Umgang mit dem Phänomen zu entwerfen. Zwar reicht ein klarer Begriff selber für eine angemessene Durchdringung naturgemäß nicht hin – wie alle (lediglich) ersten Schritte naturgemäß noch nicht das Gehen ausmachen. Er ist aber eine wichtige Voraussetzung überhaupt erst einmal für den Einstieg in die Analyse und Bewertung des Phänomens. Seine Qualität ist daher eine wichtige Voraussetzung für eine aussagekräftige Analyse. Umso erstaunlicher ist es, dass der Staatsrechtslehre heute, dies zeigt bereits eine erste Durchsicht der nennenswerten Beiträge zu diesem Thema, ein analyse- und bewertungsstarker Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten offenbar fehlt. Man schreibt zwar über den Wettbewerb, etwa über den Wettbewerb zwischen den Staaten2, über das Verfassungsrecht im Wettbewerb3, über den offenen Verfas1
In der Sprachwissenschaft spricht man insoweit von Prägnanzstufen, näher etwa Metzger, Rudolf, Die Lehre vom Begriff: Das begriffliche Bild des Menschen, Heidelberg: Winter, 1977. 2 Mehde, Veith, Wettbewerb zwischen Staaten; Die rechtliche Bewältigung zwischenstaatlicher Konkurrenzsituationen im Mehrebenensystem, Baden-Baden: Nomos, 2005.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
sungsstaat4, über das Verhältnis von Wettbewerb und Kooperation5, ja sogar über Teilprobleme wie den Wettbewerb in der Verwaltung6, verfügt dabei aber ganz offenbar nicht über einen analysekräftigen Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten, der ein normatives Leitbild zu tragen im Stande wäre. Selbst Arbeiten, die sich ausdrücklich um eine präzisere Begriffsbildung bemühen, wie etwa die Arbeit Kieningers (die einen Begriff des „institutionellen Wettbewerbskreislaufs“ bildet) gelangen nicht zu einem materiell arbeitsfähigen Wettbewerbsbegriff. Stattdessen begnügt man sich damit, staatliche – wie etwa Kieninger es nennt – „Reaktionen“ auf die Mobilität von Faktoren vorauszusetzen.7 Was diese „Reaktionen“ aber im Einzelnen ausmacht, welche Motivation ihnen zu Grunde liegt und welche normative Dimension ihnen im Einzelnen innewohnt, bleibt im Unklaren. Nicht anders liegt es etwa bei Mehde, der nicht einmal versucht, einen arbeitsfähigen Begriff des Wettbewerbs zu finden, sondern sich damit begnügt, kategorial unterschiedliche begriffliche Facetten historischer oder anderweitiger Provinienz zusammenzustellen und damit sozusagen eine Begriffswolke zu kreieren.8 Wieder andere Beiträge verwenden den Begriff des Wettbewerbs entweder gar nicht, jedenfalls nicht an zentraler Stelle9, oder nur kursorisch, gewissermaßen offen und undefiniert10. Auf dieser Grundlage wird man ein solides normatives Leitbild für den Verfassungsstaat im Wettbewerb geschweige denn eine tragfähige Dogmatik wettbewerblich motivierter Verfassungsverstöße kaum entwickeln können. Die Begriffslosigkeit der deutschen Staatslehre führt nicht nur in die normative Beliebigkeit, sondern, gewissermaßen dem vorausliegend, auch in Schwierigkeiten 3 Würtenberger, Thomas, Verfassungsrecht im Wettbewerb, in: Bauer, Hartmut u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS Reiner Schmidt, München: Beck, 2006, S. 645. 4 Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998; ders., Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001. Hobe, Stephan, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin: Duncker & Humblot, 1998. 5 Esty, Daniel C./Geradin, Damien, Introduction, in: dies., Regulatory Competition and Economic Integration, Comparative Perspectives, Oxford: Oxford University Press, 2001, S. xxiv. 6 Musil, Andreas, Wettbewerb in der staatlichen Verwaltung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005. 7 Im einzelnen Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 8 ff. Diese begrifflichen Unklarheiten sind den Autoren nicht vorzuwerfen, wenn sie sich, wie etwa Kieninger, schon gar nicht das Ziel eines normativen Leitbildes setzen. Autoren, die sich das Ziel verfassungsrechtlicher Lösungen setzen, müssen hier demgegenüber genauer vorgehen. 8 Mehde, Veith, Wettbewerb zwischen Staaten; Die rechtliche Bewältigung zwischenstaatlicher Konkurrenzsituationen im Mehrebenensystem, Baden-Baden: Nomos, 2005, S. 28 ff. 9 Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998. 10 Nähere Einzelheiten zur Begriffsverwendung unten bei B.I.
B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
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überhaupt der Beschreibbarkeit. So verwundert es nicht, dass man angesichts dieser Sachlage sogar schon über das Vorliegen einer Wettbewerbssituation streitet. Eindrücklich zeigt sich dies etwa in den begrifflichen Abwehrschlachten, die man unter Juristen immer wieder führt. Beispielhaft mögen die jüngeren Ausführungen Seilers sein, der – ganz in dem Fahrwasser Paul Kirchhofs11 – meint, dass der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten „irreführend“ und im Übrigen „sprachlich unglücklich gewählt“ sei, weil er der staatlichen Ordnung als Friedensordnung widerspreche, in der der Einzelne „nicht die Freiheit des Nachfragers genießt, sondern freiheitsberechtigt in die steuerstaatliche Solidargemeinschaft eingebunden ist“12. Nähere Begründungen folgen diesen weit tragenden Behauptungen freilich nicht. Dies ist bedauerlich, denn die Welt von heute ist ganz offenbar – jedenfalls zum Teil – doch anders, als Seiler es hier beschreibt. Heute suchen sich Unternehmen ihren Standort nach Kosten-Nutzen-Rechnungen, nach Lead-Märkten und zukünftigen Anteilen in ihnen, nicht mehr nur (oder gar ausschließlich) nach Staatszugehörigkeit und schon gar nicht nach solidarischer Eingebundenheit. Im Gegenteil, man versucht der Eingebundenheit gerade zu entfliehen. Es mag zwar sein, dass es nirgendwo auf der Welt keine herrschaftliche Eingebundenheit mehr gibt, wie sogar schon Jellinek feststellte.13 Das heißt aber nicht, dass auch die Eingebundenheit in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit selber (in ihrem Maß, ihrer Qualität, ihrer Enge) nicht zum Gegenstand unternehmerischer Standortentscheidungen werden könnte. Manche Faktoren fließen mal hier hin, mal dort hin, je nachdem, wo sie gerade am ertragreichsten und kostengünstigsten angelegt werden können. In der staatlichen Reaktion hierauf entsteht dann eben gegebenenfalls auch ein Wettbewerb. Diese Situation ist in dieser Intensität neu. Sie ist – gerade in ihrer Eigenschaft als Herausforderung für den Verfassungsstaat – angemessen zu würdigen, statt schon begrifflich hinwegzureden. Angesichts dieser Sachlage muss sich die Staatsrechtslehre – und mit ihr der vorliegende Beitrag – einen Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten erarbeiten, der es ihr ermöglicht, sachangemessene Beiträge zu liefern, insbesondere ein normatives Leitbild für den Verfassungsstaates im Umgang mit der Herausforderung des Wettbewerbs zu entwickeln. Der vorliegende erste Teil dient der Erarbeitung eines solchen Begriffs. Er geht von dem Befund aus, dass die Begriffslosigkeit der deutschen Staatsrechtslehre vor allem einer weitgehend formalisierenden Betrachtungsweise geschuldet ist, verbunden mit dem Umstand, dass man die Tatsächlichkeit des Phänomens nicht anzuerkennen bereit ist. Man will die Existenz von Wettbewerb schon begrifflich nicht anerkennen. So kommt es, dass man den Wettbewerb in seiner Tatsächlichkeit einfach „hinwegdefiniert“. Dies wird der Sache freilich nicht gerecht. Denn Wettbewerb, auch der Wettbewerb zwischen den Staaten, 11 Etwa in Kirchhof, Paul, Das Gesetz der Hydra: Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!, München: Droemer, 2006, S. 134. 12 Seiler, Christian, Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen, Gutachten F/G zum 66. DJT, München: Beck, 2006, S. F 15. 13 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Neudruck der Ausgabe von 1914, Berlin: Springer, 1922, S. 429.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
ist seinem ganzen Wesen nach nicht eine Sache von formalen Klassifikationen oder normativen Reduzierungen, sondern eine Sache von Interessen. Ohne Berücksichtigung der zu Grunde liegenden (vor allem auch staatlichen) tatsächlichen Interessen wird man daher weder das Phänomen des Wettbewerbs richtig verstehen, noch Konsequenzen für den Umgang mit der Wettbewerbssituation selber ziehen können. Genau diese Interessen werden in der deutschen Staatsrechtslehre bis heute aber nicht angemessen berücksichtigt. Nirgendwo finden sich materiale Überlegungen etwa darüber, was es für einen Staat überhaupt heißt, „Wettbewerber“ zu sein. So kann es kaum verwundern, dass es auf den ersten Blick offenbar beliebig bleibt, ob und mit welchen Gründen man ein wettbewerbssensitives Handeln des Staates nun ablehnt14 oder begrüßt15. Dieses Hängenbleiben in der politischen Beliebigkeit ist ein Manko, denn das wettbewerbliche Handeln des Staates ist – gerade in seiner Interessensgetriebenheit – dasjenige Moment, das den Wettbewerbsdruck überhaupt erst vermittelt. Der Bildung eines aus dieser Situation herausführenden und insoweit (auch analytisch) weiter führenden Begriffs dienen die Ausführungen dieses Teils. Ziel muss es sein, zu einem Begriff des Wettbewerbs zu gelangen, der die erforderlichen verfassungstheoretischen und -rechtlichen Untersuchungen auch tatsächlich zu tragen im Stande ist. Der Begriff des Wettbewerbs muss also auf die angestrebte Analyse und Argumentation hin gebildet sein. Es muss sich sozusagen um einen für die verfassungsrechtliche Problematik geeigneten analyse- und bewertungsspezifischen Begriff handeln. Die Begriffsbildung hat also instrumentell, nicht lediglich beschreibend zu geschehen: Sie muss gerade die im Weiteren beabsichtigte theoretische Erfassung des Verfassungsstaates im Wettbewerb tatsächlich tragen können. Im Einzelnen hat dieser Teil also zu klären, woraus der Wettbewerb zwischen den Staaten im Einzelnen besteht, wie sich aus dem Phänomen des Wettbewerbs ein Begriff des Wettbewerbs bilden lässt, der zur Grundlage verfassungstheoretischer Überlegungen herangezogen werden kann, und aus welchen Begriffselementen sich dieser Begriff im Einzelnen zusammenzusetzen hat. Es geht in diesem Zusammenhang letztlich also auch darum, den bislang lediglich formalen Begriff des Wettbewerbs, wie ihn die Staatsrechtslehre verwendet, materiell, namentlich über die Interessen des offenen Staates am Faktor, aufzuladen. Im Lichte dieser Überlegungen soll der nun folgende Teil einen arbeitsfähigen Begriff des Wettbewerbs bilden. Zu diesem Zweck soll er zunächst den Stand der Staatsrechtsliteratur auf ihrem Weg der Bildung eines Wettbewerbsbegriffs nachverfolgen. Denn bereits eine kurze Durchsicht zeigt, dass die Staatsrechtslehre das Spannungsfeld, in das der Verfassungsstaat mit seiner Öffnung für Faktoren ganz offenbar tritt, nicht sehr genau aufnimmt (B.I.). Es ist für die Staats- und Verfas14 Kirchhof, Paul, Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie – Solidarität, 56 ORDO 2005, S. 39; ders., Der Staat tut dem Wettbewerb gut: Eine gedankliche Begegnung mit Viktor Vanberg, 56 ORDO 2005, S. 55. 15 Vanberg, Viktor, Auch Staaten tut der Wettbewerb gut: Eine Replik auf Paul Kirchhof, 56 ORDO (2005), S. 47.
I. Entseiung des Wettbewerbs durch Formalisierung und Normativierung
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sungsrechtswissenschaft daher ein neuer Begriff des Wettbewerbs zu bilden. Mit einigen Vorüberlegungen lassen sich die zentralen Merkmale eines sich für den vorliegenden Zweck eignenden materialisierten Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten ableiten. Im Mittelpunkt dieses Begriffs soll das den Wettbewerb treibende Interesse des Staates am Faktor stehen (B.II.). Daneben ist aber auch die spezifische Unterschiedlichkeit zu beachten, ohne die es einen Wettbewerb naturgemäß nicht geben kann (Diversität im staatlichen Handeln). Nach einigen begrifflich motivierten Ergänzungen hierzu (B.III.) soll der vorliegende Teil mit einer kurzen Begriffsdefinition enden (B.IV.).
I. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten in der Staatsrechtslehre: Entseiung des Wettbewerbs durch Formalisierung und Normativierung Es ist eine der schwer nachvollziehbaren Eigenwilligkeiten der deutschen Staatsrechtslehre, dass sie den Gegenstand ihres Rechtsgebietes, den Staat, unter dem Grundgesetz über Jahrzehnte so sehr vernachlässigt hat, dass er fast wie verschwunden erscheint. Man muss dies gar nicht einmal auf das berühmte Diktum Schmitts zurückführen, nach dem vom Staat bis auf Weiteres keine Rede mehr zu sein brauche.16 Es reicht vielmehr schon aus, sich die später unter dem Grundgesetz vorangetriebene Verrechtsstaatlichung der Staatsrechtslehre vor Augen zu halten. Zu Recht sah etwa Forsthoff Ende der sechziger Jahre die Disziplin der Staatsrechtslehre zu einer bloßen Rechtsstaatslehre verkommen.17 Denn in der Tat hat im Lichte dieser Tendenz der Staat jedenfalls in Teilen der bundesdeutschen Staatsrechtslehre nicht einmal mehr eine Nebenrolle gespielt. Stattdessen hat man die Staatsrechtslehre als gelebten Verfassungspatriotismus praktiziert, indem man nicht nur das Grundgesetz in den Vordergrund gerückt hat, sondern auch den Staat eben in den Hintergrund.18 16 Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin: Duncker & Humblot, 3. Aufl. der Ausgabe von 1963, S. 10. 17 Forsthoff, Ernst, Der Staat der Industriegesellschaft, München: Beck, 1971, S. 46. 18 Diese Tendenz findet einen wichtigen Niederschlag in Werken wie etwa dem Handbuch des Verfassungsrechts, das in Anknüpfung an Smend das funktionale Gewicht der Verfassung gegenüber dem Staat zum Programm erhebt und gerade in der Konstituierung staatlicher Gewalt eine wesentliche Aufgabe – und Fähigkeit – der Verfassung erblickt, das Element des Gewaltigen der modernen Staatlichkeit dabei aber vollkommen aus den Augen verliert. Etwa Hesse, Konrad, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Benda, Ernst u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter, 1994, S. 3 (13). In der Wahrnehmung scheint sich der Staat in diesem Zusammenhang nur vermeintlich ganz im Sinne der ursprünglichen altliberalen rechtsstaatlichen Idee im Recht aufzulösen. Die Idee der Herrschaft der Gesetze ist nämlich anders gelagert als der Funktionalismus von Smend (dazu etwa Hennis, Wilhelm, Integration durch Verfassung?, JZ 1999, S. 485). Sie vergisst nicht den Staat in seinem freiheitsgefährdenden Potenzial, sondern ist sich seiner gerade besonders bewusst, baut gerade in dem Bewusstsein des Gewaltigen von Staatlichkeit den Rechtsstaat als Gegenidee auf, wenn auch mit – je nach zu Grunde liegender Rechtskultur – unterschiedlichen Stufen des Erfolges,
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
Christoph Möllers hat erst kürzlich wieder die Staatsvergessenheit der deutschen Staatsrechtslehre beschrieben und dabei nicht zuletzt in der ihm eigenen – auch wissenschaftspsychologisch erhellenden – Art und Weise auch die Staatssehnsucht der Staatslehre herausgearbeitet.19 Mittlerweile befindet man sich zwar in einer Gegenbewegung.20 So warnen konservative Verfassungsjuristen wie etwa Di Fabio davor, die Staatsrechtslehre dürfe den Staat nicht aus der Hand geben.21 Und im Handbuch des Staatsrechts etwa tönt es klangvoll: „Auch der Verfassungsstaat ist Staat.“22 Selbst jenseits solcher – nicht zuletzt staatspolitisch motivierten – Versuche einer Rückbesinnung auf den Staat ist sogar auch aus anderer Richtung vom Staat zu hören, etwa bei Schuppert, der das Anliegen einer so genannten „Neuen Staatswissenschaft“ hat, deren methodisches Ziel vor allem in der Überschreitung der Disziplingrenzen liegen soll, genauer: einer disziplinübergreifenden „institutionalisierten Metakommunikation“.23 Allerdings fragt es sich, welchen wissenschaftlichen Mehrwert derartige Bemühungen um eine methodisch neue Einbindung des Staates haben.24 Den Zentralitätsverlust (Hofmann), den der Staatsbegriff angesichts des zweihundert Jahre währenden vgl. etwa Grimm, Dieter, Stufen der Rechtsstaatlichkeit, JZ 2009, S. 596. Zum Ganzen der vorzügliche Überblick bei Hayek, Friedrich A. von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 195 ff. 19 Möllers, Christoph, Der vermisste Leviathan, Staatstheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008. 20 Überblick zum Stand der Diskussion etwa in den Berichten zur Staatsrechtslehrertagung 2003 in Hamburg von Juliane Kokott und Thomas Vesting zum Beratungsgegenstand „Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, in: VVDStRL, Band 63, Berlin: De Gruyter, 2004, S. 7 und 41. 21 Di Fabio, Udo, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Paderborn: Schöningh, 2003, S. 77. 22 Isensee, Josef, Staat und Verfassung, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 15, Rdn. 1. Der unvoreingenommene Betrachter fühlt sich an dieser Stelle – übrigens dem Eingangssatz zu dem mit dem Wort „Verfassungsstaat“ überschriebenen Band 2 des Handbuchs des Staatsrechts – etwas beklommen. Denn es fragt sich durchaus, welchen staatstheoretischen Mehrwert solche fast trotzig anmutenden Feststellungen haben, außer eben der Erinnerung an ein Sein, das von der Kollegenschaft in ihrer Orientierung auf das Normative vergessen zu sein scheint. Staatswissenschaftlich jedenfalls spricht man der im Handbuch aufscheinenden Staatsromantik einen echten wissenschaftlichen Mehrwert mittlerweile ab. Sehr ausdrücklich insoweit etwa Möllers, Christoph, Der vermisste Leviathan, Staatstheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008, S. 63, 66. 23 Etwa Schuppert, Gunnar Folke, Staatswissenschaft, Baden-Baden: Nomos, 2003, S. 45 ff. (47). Ein Vergleich zur anglo-amerikanischen Situation findet sich übrigens etwa in dem Sammelband von Weiss, Linda, States in the Global Economy, Bringing Domestic Institutions Back In, Cambridge: CUP, 2006. 24 Besonders kritisch etwa Möllers, Christoph, Der vermisste Leviathan; Staatstheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt: Suhrkamp, 2008, S. 63 ff. Auch ob die zum Teil angestrebte Interdisziplinierung wirklich Früchte trägt, bleibt zweifelhaft. Denn für wissenschaftliche Erkenntnisse reicht die Beschäftigung mit so genannten Nachbarwissenschaften allein noch nicht aus. Insbesondere eine bloße Zusammenstellung methodisch unterschiedlicher Erkenntnis bringt in theoretischer Hinsicht nicht viel Neues.
I. Entseiung des Wettbewerbs durch Formalisierung und Normativierung
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Aufstiegs des Begriffs der Verfassung hat hinnehmen müssen25, scheinen sie jedenfalls nicht voll kompensieren zu können.26 Wie sonst ist es zu erklären, dass die deutsche Staats- und Verfassungsrechtslehre die Spannung, die zwischen dem tatsächlichen Phänomen des wettbewerblich motivierten Handelns (und damit des Wettbewerbens) und dem normativen Phänomen des Verfassungsrechts liegt, nicht aufnimmt, sondern stattdessen versucht, den Begriff des Wettbewerbs zu formalisieren und zu normativieren, den Wettbewerb damit – als tatsächliches Phänomen – also zum Verschwinden zu bringen, und dies, obwohl man ohne einen arbeitsfähigen Begriff dem verfassungsrechtlichen Problem sicher nicht näher kommt? Über einen arbeitsfähigen Begriff des Wettbewerbs verfügt die Staats- und Verfassungsrechtslehre in der Tat bis heute jedenfalls nicht. Zwar sind anspruchsvolle Vorarbeiten zu verzeichnen. Zum Kern der Faktizität des Wettbewerbs dringen allerdings auch sie nicht vor. Zu denken ist etwa an das anspruchsvolle Werk von EvaMaria Kieninger, die dem Begriff des Wettbewerbs über ein Stufenmodell näher zu kommen bestrebt ist und dabei die bloße Dezentralität der Rechtssetzung, den Ideenwettbewerb (geprägt durch Informationsaustausch), die Rechtswahlfreiheit beziehungsweise Abwanderung und schließlich, gewissermaßen als vierte Stufe, das Hinzutreten staatlicher Reaktionen jeweils unterscheidet. Kieninger ist insoweit Recht zu geben: Wettbewerben ist eine Sache staatlichen Handelns, und insbesondere des Re-Agierens. Was die Existenz des Wettbewerbs als Prozess und vor allem als Prozessergebnis angeht, ist damit aber noch nicht viel gesagt. Echten Wettbewerb soll danach erst die letzte Stufe begründen, mithin jene, die ein staatliches Handeln mit einbezieht.27 Naturgemäß stellen diese Stufen kategorial Unterschiedliches in einem Stufenmodell zusammen, dessen konkreter Ertrag letztlich aber schon wegen dieser Unterschiedlichkeit zweifelhaft bleiben muss. Zwar mag ein solches Stufenmodell zur Eingrenzung des Gegenstandes zunächst dienen. Einen eigentlichen Begriff des Wettbewerbs bietet dieses Modell aber nicht. Vielmehr kann es lediglich der Abschichtung von Voraussetzungen dienen, die einen – je unterschiedlichen – Anteil an der Bildung des Begriffs haben. So scheint ein Mindestmaß an Dezentralisierung in der Tat eine notwendige Voraussetzung von Wettbewerb zu sein, weil ohne sie Diversität, ihrerseits eine notwendige Voraussetzung, kaum sinnvoll vorstellbar ist. Auch die Möglichkeit der Abwanderung scheint naturgemäß eine notwendige Voraussetzung zu sein. Wie diese zur Möglichkeit der Zuwanderung stehen muss, mithin wie sich das Zusammenspiel zwischen Zu- und Abwanderung gestalten 25
Hofmann, Hasso, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, 54 JZ 1999, S. 1065. 26 Immerhin erreichen die Rehabilitationsversuche doch wenigstens die Inblickbehaltung des Umstandes, dass der Staat, wenn auch abstrakt, als etwas Tatsächliches dem Recht gegenübersteht. Schon diese Inblickbehaltung ist bedeutsam. Denn der Staat ist nicht nur der Bezugspunkt des Rechts, sondern auch eine kategoriale Größe verfassungsrechtlicher Argumentation. Näher dazu vor allem Möllers, Christoph, Staat als Argument, München: Beck, 2000. 27 Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 8 ff.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
muss, bleibt aber offen. Und insbesondere bleibt offen, was denn eigentlich die Triebfeder – und was der Kern – wettbewerblichen Handelns ist. Insbesondere steht die Natur des von Kieninger ja in Bezug genommenen Reagierens in Frage: Warum etwa gibt es solche Reaktionen, inwieweit sind sie attraktionistisch, welche Interessen stehen dahinter, wie stehen sie zu anderen Interessen, wessen Interessen sind dies überhaupt, wie werden sie zu staatlichen Interessen, wie sind die Durchsetzungsmöglichkeiten, wo liegen die Ähnlichkeiten zu protektionistischen Interessen, wo liegen die Unterschiede? Dies sind die Gesichtspunkte, die es für verfassungsrechtliche Überlegungen zu klären gilt, nicht eine Abgrenzung von Stufen, die zum Teil ihrerseits eigenständige Voraussetzungen des Begriffs selber sind, teils aber auch Überlegungen betreffen, die in ganz andere Felder als den Wettbewerb fallen. Gerade hierzu fehlt es bei Kieninger aber an Überlegungen. Zweifelhaft erscheint im Übrigen, dass Kieninger die Rechtswahlfreiheit und die Abwanderung ohne größeren Federlesens kategorial auf eine Stufe stellt. Beides ist, gerade unter Wettbewerbsgesichtspunkten, durchaus unterschiedlich zu betrachten. Schon funktional bestehen erhebliche Unterschiede danach, ob sich ein Faktor dem (etwa steuerlichen) Zugriff entzieht oder ob in privatrechtlichen Vereinbarungen lediglich ein anderes Recht als geltend festgelegt wird. Während ersteres eine echte Voraussetzung des Wettbewerbs bildet, hat Rechtswahlfreiheit demgegenüber mit dem Wettbewerb, um den es hier geht, nämlich den Wettbewerb um Produktionsfaktoren, d. h. um die Produktivmachung von Faktoren gerade auf dem eigenen Territorium, nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zu tun. Zu denken ist nämlich nur an jene Fälle, in denen der mit der Rechtswahl festgelegte Zugriff des Staates für das Unternehmen tatsächlich Standortrelevanz hat. Der mit der Rechtswahl gesteuerte Zugriff (etwa von Gerichten) dürfte für die meisten Fragen des Wettbewerbs demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle spielen. Denn Zugriffsfragen, die durch die Rechtswahl gerade nicht geregelt werden können, wie etwa der steuerrechtliche Zugriff, scheinen eine viel größere Bedeutung für die Standortwahl des Faktors zu entfalten als ausgerechnet gerade die Rechtswahl zwischen Vertragspartnern. Es ist zwar richtig, dass das Steuerrecht an Positionen anknüpft, die in anderen Feldern der Rechtsordnung entstehen, wie etwa im Zivilrecht. Man denke nur etwa an den Eigentumserwerb, der sich nach dem Zivilrecht richtet, und – je nach der zivilrechtlichen Regelung – dann eine Anknüpfung für das Steuerrecht bildet. In diesem Sinne einer Anknüpfung an – etwa zivilrechtliche – Vorfragen kann die Parteiautonomie naturgemäß Relevanz etwa für den Steuerwettbewerb erlangen. Die Zusammenhänge sind hier aber mittelbar. Wettbewerbsrelevanter scheint der Umstand zu sein, dass die kollisionsrechtliche Parteiautonomie, anders als die Privatautonomie, auch von den zwingenden Vorschriften des Rechts befreit.28 Dies nun kann für den Wettbewerb unmittelbare Konsequenzen haben – man denke nur etwa an zwingende Vorschriften der Sittenwidrigkeit, die sich 28 Zur begrifflichen Unterscheidung Parteiautonomie und Privatautonomie und zu ihren rechtlichen Folgen statt vieler etwa Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 293.
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bei unterschiedlichem Lohnniveau ihrerseits deutlich unterschiedlich gestalten können. Auch hier setzt der Wettbewerb aber nicht, wie man zunächst vielleicht annehmen möchte, in dieser Möglichkeit der Rechtswahl ein, sondern vielmehr gerade in ihren Grenzen, wie etwa in der Berücksichtigung der Ungleichheit der Verhandlungsstärke der Vertragspartner29. Gerade erst diese Grenzen, letztlich also die Frage, wie welcher Staat diese Grenzen im Einzelnen setzt, sind Bestandteil des Produktivfaktorwettbewerbs. Rechtswahlfreiheit als solche kann allenfalls insoweit als wettbewerbliches Verhalten gedeutet werden, als der Staat sie eben zulässt, etwa mit der Begründung, dass es besser sei, ein Unternehmen bleibe am Standort und richte sich nach fremdem Recht, als dass es – um des fremden Rechts willen – an den Standort wandere, an dem dieses Recht gilt. Bemerkenswert ist ferner das Bemühen um Annäherungen an den Begriff, wie es sich etwa bei Veith Mehde darstellt.30 Mehde stellt einführend eine ganze Reihe von Aspekten und Diskussionsansätzen zusammen, deren Zusammenschau für den Leser von Interesse sind. So stellt er etwa „Facetten des Wettbewerbstopos“ fest, untersucht verschiedene historische „Diskussionsansätze“, etwa das Tiebout-Modell oder die Überlegungen von Hirschman, betrachtet „argumentative Anknüpfungspunkte“ wie etwa die „Globalisierung“ oder „Europäisierung“, differenziert nach „Arten von Wettbewerb im öffentlichen Sektor“, stellt funktionale Überlegungen zur Bewertung an und so weiter. Diese Annäherungen an den Begriff führen alle sehr schön in die Problematik ein und beleuchten sie aus unterschiedlicher Perspektive, dem Phänomen selbst wird man mit ihnen aber noch nicht näher kommen. Denn die Frage danach, was der Wettbewerb im Kern eigentlich ist, insbesondere auch, was ihn antreibt, findet in solchen Annäherungen noch keine Antwort. Damit kann man aber auch auf die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Situation des Wettbewerbs keine begründete Antwort finden. Auch kann man damit kaum die Bedeutung einer Wettbewerbsordnung, wie sie Mehde nach der Ausrichtung seines Beitrags offenbar vor allem interessiert, methodisch fundiert erfassen. Zwar mag man ökonomische Überlegungen, etwa zu den Folgen des Wettbewerbs oder zur sinnreichen Ausrichtung im Wettbewerb, mit heranziehen können. Die vollständige Erfassung des Phänomens setzt aber voraus, dass man sich zunächst überhaupt erst einmal über das Wesen und die Funktionsweise des Wettbewerbs im Klaren ist. Was Mehde offenbar fehlt, ist ein staatstheoretisch tragfähiger Begriff des Wettbewerbs. Auch nach der Lektüre seiner Zusammenstellung fehlt dem Leser ein Begriff dessen, was der Wettbewerb im Einzelnen eigentlich ist, was seine Intensität ausmacht und worin seine normativen Grundlagen im Einzelnen liegen. Noch bemerkenswerter ist die Begriffsdefinition bei Bernd Grzeszick, der im Handbuch des Staatsrechts das Hoheitskonzept einem Wettbewerbskonzept gegen29
Näher etwa Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 297. 30 So etwa Mehde, Veit, Wettbewerb zwischen Staaten, Baden-Baden: Nomos, 2005, S. 28 ff.
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über stellt.31 Ebenso wie die Hoheit versteht Grzeszick auch den Wettbewerb interessanterweise als „Prinzip“, also von vorneherein als ein Phänomen des Normativen. Im Einzelnen erfasst er den „Wettbewerb im allgemeinen Sinne“ dabei als ein „soziales Handlungs- und Organisationsprinzip“, das dann entstehe, wenn „mehrere Akteure an einer bestimmten Aufgabe, in der Regel die Herstellung von Gütern, mitwirken möchten und die Art bzw. der Umfang der Mitwirkung des einzelnen Akteurs durch seinen Erfolg in Bezug auf die Aufgabenerfüllung gegenüber den anderen Akteuren bestimmt wird“.32 Hier verschränken sich verschiedene Elemente zu einem Begriffsknäuel, das in dieser Form für die Staatsrechtslehre nur schwierig nutzbar erscheint: Zunächst ist schleierhaft, wie denn eigentlich aus dem Möchten der Akteure, nach Grzeszick also dem „Mitwirkenmöchten an einer bestimmten Aufgabe“ ein (normatives) Prinzip entstehen soll. Es ist zwar richtig, dass Normativität typischerweise willensgetragen ist. So etwa ist verfassungsrechtliche Normativität willensgetragen, etwa durch den Willen des Verfassungsgebers oder -änderers (woraus immer dieser Wille im Einzelnen bestehen mag und auf wessen natürlichen Willen dieser im Einzelnen zurückführbar sein mag). Auch die Normativität des Gesetzes etwa ist willensgetragen, nämlich durch den Willen des Gesetzgebers, oder jene des Gesellschaftsvertrages durch den Willen der Gesellschafter, jene jedes anderen Vertrages durch den Willen der Vertragsparteien usw. Ob allerdings aus dem – behaupteten – Mitwirkungswillen der Wettbewerbsteilnehmer in vergleichbarer Weise tatsächlich ein „Handlungs- und Organisationsprinzip“ entstehen kann, erscheint demgegenüber außerordentlich zweifelhaft. Im Gegenteil: Die Vermutung spricht eher dafür, dass Wettbewerbsteilnehmer lieber gerade keine Mitwettbewerber hätten, sondern als einzige ihre Ziele verfolgten. Die Erreichung der eigenen Ziele wäre ohne Mitwettbewerber für sie dann nämlich einfacher. Sie möchten daher typischerweise gerade nicht an einer bestimmten Aufgabe – Grzeszick meint wohl deren Erledigung – mitwirken, sondern würden sie typischerweise lieber ohne Wettbewerber, also gerade alleine erledigen. Die Behauptung, ein Wettbewerbsteilnehmer habe einen (auch noch normativitätstragenden) Willen zum Wettbewerb als solchem, erscheint kaum begründungsfähig. Wäre diese Unterstellung richtig, gäbe es wohl kaum das Ziel unter Wettbewerbsteilnehmern, den Wettbewerb auszuschließen, etwa im Wege der Kartellierung. Einen solchen Willen zum Wettbewerb wird man in dem Grzeszick’schen „an-einerAufgabe-mitwirken-Möchten“ des Wettbewerbers letztlich aber wohl sehen müssen. Denn nach Grzeszick ist dieses „Mitwirken-Möchten“ ja gerade konstitutiv für die Entstehung von Wettbewerb. In der Grzeszick’schen Begriffsbildung bedarf es also ganz offenbar zunächst der Differenzierung: Am Wettbewerb – in der Grzeszick’schen Terminologie an der Erledigung einer bestimmten Aufgabe – hat ein Wettbewerber typischerweise nur insoweit ein Interesse, als er selber – etwa durch andere Wettbewerber – nicht von 31 32
Grzeszick, Bernd, Hoheitskonzept – Wettbewerbskonzept, HdBStR Bd. IV, § 78, S. 367. Ibid., S. 372, Rdn. 9.
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ihm ausgeschlossen wird. Gegen den Ausschluss anderer Wettbewerbsteilnehmer wird er demgegenüber typischerweise nicht viel einzuwenden haben, reduziert dieser (Fremd-)Ausschluss doch zunächst den Wettbewerbsdruck. Erst unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit und etwa zukünftiger Gleichbehandlungsaussichten wird er an der Existenz von Wettbewerb als solchem ein Interesse haben. Sein Interesse richtet sich dann allerdings weniger auf den Wettbewerb in seinem faktischen Sein, sondern vielmehr auf seine Offenhaltung. Es ist mithin weniger der Wettbewerb als solcher, an dem der Teilnehmer ein Interesse hat, sondern vielmehr gerade die Offenhaltung des Wettbewerbs, insbesondere auch die zukünftige Offenhaltung des Wettbewerbs, damit auch er – jetzt oder später – seine Interessen verfolgen kann, ohne hieran von einem Dritten gehindert zu werden. Um die Freiheit der anderen zur Wettbewerbsteilnahme geht es ihm also allenfalls mittelbar, nämlich – unter dem Gesichtspunkt der Allgemeinheit des Rechts – um der Erreichung seiner eigenen Interessen willen. Das über die Funktion der Allgemeinheit des Rechts getragene Ordnungsprinzip der Offenhaltung des Wettbewerbs ist daher – schon phänomenologisch – vom Wettbewerb selber streng zu unterscheiden. Der Wettbewerb gehört zur Sphäre des Seins, das Prinzip seiner Offenhaltung, mithin der gleichen Freiheit der Wettbewerbsteilnehmer, demgegenüber zur Sphäre des Normativen. Letzteres ist nur über den Weg einer Ordnung des Wettbewerbs zu erreichen.33 Diese grundlegenden Unterschiede zwischen Wettbewerb und Wettbewerbsordnung, zwischen Faktum und Normativität verschwimmen in der Grzezsick’schen Begriffsbildung. Der Grund hierfür liegt darin, dass bereits der Gegenstand, auf den sich der Wille der Wettbewerbsteilnehmer beziehen soll, also das „an-einer-Aufgabe-Mitwirken“, das der Wettbewerbsteilnehmer nach Grzeszick begriffskonstituierend „möchte“, nicht sehr weit trägt: Ein Milchproduzent etwa wird kaum Milch produzieren, weil er „an dieser Aufgabe“ mitwirken möchte, sondern weil er Geld verdienen will. Schon die Wahrnehmung als „Aufgabe“ erscheint hier nicht weiterführend. Denn eine Aufgabe ist – in ihrem Aufgabe-Sein – eben gerade „aufgegeben“. Ob und wem aber die Produktion etwa von Milch, Möbeln oder Versicherungen, in diesem Sinne „auf-gegeben“ ist, erschließt sich nicht recht von selbst. Vielmehr erscheint diese „Mitwirkung“ vollkommen freiwillig, mithin gerade nicht als Mitwirkung an einer Aufgabe, sondern als freiwillige Leistung um anderer Dinge willen. Hier aber wird das eigentliche Problem derartiger Argumentationen sichtbar: Dem Teilnehmer geht es typischerweise gar nicht um die Erledigung der Aufgabe selbst, sondern er erledigt sie um eines anderen Interesses willen, etwa um des In33 In dieser Hinsicht hat die Wettbewerbsgleichheit Ähnlichkeiten mit allen anderen Formen der Gleichheit, etwa der demokratischen Gleichheit. Hier wie dort ist die Gleichheit Versprechen (man hat nicht weniger Freiheit als die anderen) als auch Zumutung (man hat nicht mehr Freiheit als die anderen). Möllers etwa weist diesen Umstand bei der demokratischen Gleichheit beispielhaft auf. Besonders prägnant im Sinne egalitärer Demokratietheorie etwa: „Wir sind uns selbst näher als den anderen, aber die Demokratie reduziert uns – nicht überall, aber doch für den wichtigen Bereich der Politik – zu Gleichen, gleich mit Dummen und gleich mit Armen.“, vgl. Möllers, Christoph, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Berlin: Wagenbach, 2008, S. 117.
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teresses an einer Bezahlung oder anderweitigen Gegenleistung willen. Dies erschließt sich sofort, wenn man diese „andere Sache“, im Fall des Milchproduzenten also die Gegenleistung, wegdenkt: Welcher Milchbauer würde seine Milch noch herstellen, wenn er kein Geld für sie bekäme? Diese einfache Überlegung zeigt: Der Wettbewerber macht sich nicht zum Wettbewerber, weil er, wie Grzeszick es ausdrückt, „an einer Aufgabe mitwirken möchte“, sondern weil er ein Interesse hat (nämlich ein Interesse an der Gegenleistung), und um dieses Interesses willen an der, um in der Diktion zu bleiben, „Aufgabe mitwirkt“. Die grundlegende Bedeutung der Interessen der Wettbewerber für die Existenz und die Intensität des Wettbewerbs kehrt man auf dem Weg, den Grzeszick hier beschreitet, unter den Tisch, und mit ihm die Eigenschaft des Wettbewerbs, ein Seinsphänomen zu sein. Die Interessen der Wettbewerber kann man nicht mit Begriffen des Sollens einfangen; sie gehören in die Sphäre des Seins. Sie haben aber Rückwirkungen auf das Sollen – und in gerade dieser Beziehung fordern sie die Sollensordnung des Rechts wie auch des Verfassungsrechts heraus. Die mit Grzeszicks Verständnis von Wettbewerb einhergehende Vernormativierung des Phänomens des Wettbewerbs, sozusagen seine Entseiung, hat unmittelbare Konsequenzen auf den Fortgang seines Beitrages. Seinen Erörterungen über den Wettbewerb zwischen den Staaten, den er so nicht benennt, sondern lediglich über das „Verhältnis von Hoheit und Wettbewerb in bezug auf den Staat“ zu erfassen sucht, führt er konsequent mit allein normativen Überlegungen fort. So spricht er etwa von sich unterscheidenden „Prinzipien“ [Hoheit und Wettbewerb, Der Verfasser], die in einen „normativen Gegensatz“ zueinanderträten, soweit „Vorrang beansprucht werde“.34 Und so geht es weiter: So spricht Grzeszick im Anschluss zwar von einem dialektischen Verhältnis gegenseitiger Verwiesenheit. Man soll nun aber nicht annehmen, dass er hier eine Dialektik zwischen Faktizität und Normativität in Bezug nimmt, etwa zwischen Sein (von Staat und Wettbewerb) und Sollen (der staatlichen Ordnung). Vielmehr geht es ihm, wie die dann folgenden Erörterungen zeigen, lediglich um die gegenseitige Verwiesenheit von staatlicher Autonomie und bürgerlicher Freiheit.35 Dies mag aus seiner Perspektive, in der er Wettbewerb grundsätzlich schon gar nicht als Faktum versteht, konsequent sein. Dieser Weg hält ihn gewissermaßen konsequent im Normativen. Im Ergebnis führt er gerade dadurch aber nicht zu mehr als gerade der bloßen Bestätigung seines Ausgangspunktes, nach der der Wettbewerb eben lediglich den „in grundrechtliche Freiheit gestellten Bürgern zugeordnet“ sei.36 Seine Konsequenz ist nämlich, dass Wettbewerb eine ihn garantierende Hoheit voraussetze37, womit der Dualismus zwischen der (wettbewerbsgarantierenden) Autonomie des Staates und der (wettbewerbsgenerierenden) Freiheit des Bürgers gewahrt bleibt. Konsequent fortsetzend führt ihn dies zu Le34 Grzeszick, Bernd, Hoheitskonzept – Wettbewerbskonzept, HdBStR Bd. IV (2006), § 78, S. 377, Rdn. 17. 35 Ibid., S. 378, Rdn. 18. 36 Ibid., S. 368, Rdn. 1. 37 Ibid., S. 380, Rdn. 21.
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gitimationsfragen, und hierbei insbesondere zu der Folgerung: „Wettbewerb ist als Ordnungsprinzip nicht umfassend legitimiert“.38 Diese Folgerung wird wohl kaum – vielleicht nicht einmal von Vertretern der Ordnungsökonomie etwa der Freiburger Schule – Widerspruch finden; eine Antwort auf den Umgang mit dem staatlichen Interesse am Faktor in der staatlichen Offenheit, und mithin auf das – faktische – Wettbewerbsphänomen bietet sie aber freilich nicht. Naturgemäß ist der Wettbewerb nicht in allen Bereichen legitim. Man denke nur etwa an die Ehe oder die Kindererziehung oder Freundschaften. Dies ist aber kein Grund, gewissermaßen umgekehrt schon seine faktische Existenz begrifflich hinwegzudefinieren. Auch die Konsequenz eines „Primat[es] von Hoheit gegenüber Wettbewerb“ vermag auf dieser Grundlage nicht zu tragen. Es mag ja richtig sein, dass, wie Grzeszick sagt, sich die Mitglieder der sozialen Ordnung in modernen Gesellschaften darüber verständigen können und müssen, nach welchen Ordnungsprinzipien sie ihr Zusammenleben regeln möchten.39 Nur was hindert sie daran, dies in Faktoroffenheit und Interesse am Faktor zu tun; was also hindert sie daran, dies gerade im Wettbewerb zu tun? Ganz auf der Linie Grzeszicks liegt Paul Kirchhof, freilich ohne das Wettbewerbsphänomen begrifflich näher zu fassen. Für ihn meint Wettbewerb allgemein „Angebot und Nachfrage, Verhandeln über Preisnachlass und Leistungszuschlag, Verständigung im Einvernehmen der Freien ohne Vorbestimmung durch ein allgemeines und gleiches Gesetz“.40 Hier sind freilich bereits normative Elemente unmittelbar mit eingeflochten. Kirchhof richtet seine Wahrnehmung von Wettbewerb gewissermaßen von vorneherein auf seine verfassungsrechtliche Argumentation hin aus. Nach dieser Auffassung ist es „verfassungsrechtlich schlechthin ausgeschlossen, dass der Staat Staatsangehörigen und Unternehmen aus fremden Staaten in der Absicht begegnet, sie durch Vorteilsangebote zum Wechsel in den eigenen Staat zu locken. Bestechungsangebote bleiben verwerflich, mag der Beamte staatliches Geld einem inländischen oder einem ausländischen Investor anbieten. Das Steuerprivileg bleibt gleichheitswidrig, mag es den inländischen oder den ausländischen Unternehmen zugesprochen werden“41 und so weiter. Diese Konsequenz mag verfassungsrechtlich ja richtig sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man den Wettbewerb – als tatsächliches Phänomen – schon begrifflich gleich mit hinwegdefinieren muss. Dies tut Kirchhof in der Sache aber. Denn für ihn ist der Wettbewerb zwischen den Staaten in der tatsächlichen Wirklichkeit gar nicht existent. Vielmehr schließt er aus dem verfassungsrechtlichen Sollen (dem er offenbar ein Nichtexistierensollen des Wettbewerbs entnimmt) zurück auf das tatsächliche Sein. So stellt er fest, dass „dementsprechend […] der Staat nicht den Prinzipen wettbewerblicher Freiheit, sondern rechtsstaatlicher Bindung folge“.42 Dass die Gesetzgebung dabei aber immer 38 39 40 41 42
Ibid., S. 380, Rdn. 22. Ibid., S. 385, Rdn. 28. Etwa in Kirchhof, Paul, Das Gesetz der Hydra, München: Droemer, 2006, S. 138. Ibid., S. 137. Kirchhof, Paul, Das Gesetz der Hydra, München: Droemer, 2006, S. 138.
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wieder die Standortsituation selber in ihre Überlegungen mit aufnimmt, jüngst etwa wieder bei der Unternehmenssteuerreform 200843, lässt Kirchhof dabei geflissentlich beiseite. Kirchhof bleibt insoweit unklar: Einerseits negiert er staatliche Interessen an mobilen Produktionsfaktoren mit der Begründung, es dürfe sie im demokratischen Verfassungsstaat nicht geben, andererseits aber erkennt er einen „Anpassungsdruck“ an, dem die Staaten unterlägen.44 Hier nun lässt Kirchhof den Leser alleine: Es könnte nämlich durchaus sein, dass dieser Anpassungsdruck, dessen Existenz Kirchhof anerkennt, einem Wettbewerbsdruck, wie ihn die Annahme eines Wettbewerbs zwischen den Staaten mit sich bringt, so unähnlich, wie Kirchhof es vermitteln will, vielleicht gar nicht ist. Denn auch eine Anpassung im Kirchhof’schen Sinne findet typischerweise im Feld von Interessen statt, ist typischerweise ihrerseits interessegeleitet. Ob Anpassungsprozesse, wie Kirchhof sie für den Staat nicht ausschließt, wirklich keine wettbewerblichen (sondern anderweitige) Anpassungsprozesse sind, bleibt fraglich. Auch das Verhältnis, das das Kirchhof’sche Denken zwischen dem wettbewerbenden Staat und der Wissenschaft zu erkennen meint, muss mit Fragezeichen versehen werden: Der Staat wird nicht deshalb zum Wettbewerber, weil, wie Kirchhof offenbar meint, manche erwägen, „die Verbesserung des staatlichen Rechts in der Dynamik eines Wettbewerbs um das beste Recht anzuspornen“45. Es mag zwar sein, dass manche, zum Beispiel in wirtschafts- oder rechtswissenschaftlichen Fakultäten, den Staat gerne im Wettbewerb sähen. Dies ist aber nicht der Grund für die Wettbewerbssituation. Grund hierfür ist vielmehr, dass der Staat sich in seiner Offenheit und Interessegeleitetheit selber in den Wettbewerb stellt, weil er Interessen an der Attraktion mobiler Faktoren hat. Dies ist der Grund und der Motor des Wettbewerbs, nicht die These, der Staat solle zum Wettbewerber werden. Sie liegt einem staatlichen Wettbewerbshandeln allenfalls voraus und versucht es zu rechtfertigen, ist aber noch keine Wirkungsbedingung des Wettbewerbs. Die hier zum Ausdruck kommende Entfaktisierungstendenz der Staatsrechtslehre hat auch in der Europarechtsliteratur ihren Niederschlag gefunden, wenn auch weniger in Richtung einer Normativierung denn eher in Richtung einer Konzeptionalisierung, also einer Zurückdrängung aus dem Phänomenalen heraus in das Konzeptionelle. Ein eindrückliches Beispiel hierfür findet sich (einschließlich einer Zusammenfassung über den Stand der Diskussion) etwa bei Körber, der in seiner Habilitationsschrift zu den Grundfreiheiten dem Wettbewerb vor allem unter dem Gesichtspunkt der, so wörtlich, „Tragfähigkeit dieses Ansatzes“ nachspürt, so als sei
43 Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 (UStRG 2008) heißt es wörtlich: „Hauptziel der Unternehmenssteuerreform ist […] neben der Erhöhung der Standortattraktivität die längerfristige Sicherung des deutschen Steuersubstrats“, vgl. BT-Drucksache 16/5377 vom 18. Mai 2007. 44 Ibid., S. 135. 45 Ibid., S. 134.
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der Wettbewerb in der Tat vor allem ein Konzept, nicht ein tatsächliches Phänomen.46 Den mit dem Wettbewerb entstehenden Anpassungsdruck beschreibt Körber dabei – gegenüber Fragen der Rechtswahl – interessanterweise als Ausnahme, nicht unähnlich der Wahrnehmung bei Kieninger. Anpassungsdruck entstehe danach allenfalls dann, wenn die „Rechtswahl mit einer Standortwahl verbunden“ sei.47 Es ist zwar richtig, dass der wettbewerbliche Anpassungsdruck nur dann entsteht, wenn eine Standortwahl in Rede steht. Im Fragenkreis, den der Wettbewerb zwischen den Staaten gerade für den wettbewerbenden Staat aufwirft, ist gerade diese Situation der bevorstehenden Standortwahl aber der Kern der wettbewerblichen Herausforderung. Es mag ja sein, dass der tatsächliche Wettbewerbsdruck in der Wirklichkeit tatsächlich geringer ist, als man zunächst annehmen möchte. Der Grund hierfür wird allerdings kaum darin zu finden sein, dass es sich beim Wettbewerb zwischen den Staaten in der akademischen Betrachtung eher um ein Konzept als um ein Phänomen handelt, sondern allenfalls darin, dass die tatsächliche Faktormobilität gegebenenfalls doch geringer ist, als man zunächst annehmen möchte. Der Frage nach der tatsächlichen Faktormobilität geht Körber – ganz in der Tradition der eher normativ als rechtssoziologisch geprägten Europarechtswissenschaft – dann aber gar nicht nach, so dass er gar keine Aussagen darüber treffen kann, wie stark oder gering der Anpassungsdruck im Einzelnen nun ist. Auch an dieser Stelle ist daher deutlich zu erwidern: Beim Wettbewerb geht es nicht in erster Linie um Rechtswahlfreiheit, sondern um staatliche Interessen. Ein Staat mag geringe oder gar keine Interessen daran haben, dass zwei Unternehmen auf der anderen Seite der Erde zwischen sich die Anwendung seines Privatrechts vereinbaren. Auf den Plan ruft es einen jeden Staat aber, wenn er sich, etwa über Steuereinnahmen, an dem wirtschaftlichen Erfolg dieser beiden Unternehmen beteiligen kann. Hier, und erst hier, kommt die Standortfrage ins Spiel, und auch hier fängt der tatsächliche Wettbewerb zwischen den Staaten überhaupt erst an.48 46 Körber, Torsten, Grundfreiheiten und Privatrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 29, Zitat bei S. 30. Noch pointierter bei Anne Peters in der Aussprache auf der Staatsrechtslehrertagung 2009 in Graz, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 132: „Der Wettbewerb ist kein factum brutum, sondern nur eine von möglichen Beschreibungen der Phänomene“. 47 Ibid., S. 31. 48 Diese Interessensfaktizität des Wettbewerbs hat übrigens auch auf der Staatsrechtslehrertagung 2009 in Graz bezeichnenderweise keine große Rolle gespielt. Anne Peters etwa unterscheidet zwar grundsätzlich zwischen einem zweipoligen und einem dreipoligen Begriff des Wettbewerbs und ordnet letzterem, der vor allem durch die Reaktion des Anbieters geprägt sei und insoweit einen „echten“ Wettbewerbskreislauf darstelle, den Wettbewerb zwischen den Staaten zu, vgl. Peters, Anne, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 7, 13 ff. Die Interessenspräponderanz kommt bei ihr aber dennoch nicht vor, wie auch ihr Statement zeigt, dass der Wettbewerb kein factum brutum sei (vgl. oben Fußnote 46). Und auch bei Thomas Giegerich spielen die Interessen nur eine jedenfalls nicht ganz ausgesprochene Rolle. Sie schwingen sozusagen nur zwischen den Zeilen seiner Wettbewerbsdefinition mit, nach der es Anbietern oder Nachfragern „um ein wie auch immer geartetes knappes Gut“ gehe, vgl. Giegerich, Thomas, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 57, 60 (bei Fn. 10). Auffällig ist, dass man in
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Begrifflich einleuchtend erscheinen demgegenüber die Erörterungen von Meinrad Dreher, der, freilich ohne den Begriff des Wettbewerbs näher zu definieren, den Schwerpunkt seines Begriffsverständnisses nicht nur auf den Aspekt der Faktormobilität legt, sondern auch auf das staatliche Interesse.49 Das tatsächliche Vorliegen dieser Voraussetzungen sieht er zwar außerordentlich skeptisch. Insoweit fragt er sich (vielleicht nicht ganz zu Unrecht), ob es einen starken Wettbewerb als Faktum überhaupt gibt. Dies ändert aber an der Methodik der Begriffsbildung nichts. Begrifflich rückt er – auch in seiner Skepsis – doch die Faktizität des Wettbewerbs, also seine Eigenschaft als ein Seinsphänomen, in den Mittelpunkt der Überlegungen. Damit nimmt er an den Versuchen der Normativierung des Begriffs mit dem Ziel seiner Verabschiedung nicht teil. In seiner Skepsis insbesondere zur Mobilität von Arbeitnehmern mag man ihm gegebenenfalls zustimmen, muss dabei aber einrechnen, dass mittlerweile wieder ein Jahrzehnt vergangen ist. Und auch zur Jahrtausendwende war die Mobilität von Kapital und damit unter anderem eben auch Unternehmen schon höher als jene des Faktors Arbeit50, so dass seine Würdigung insoweit etwas unvollständig wirkt. Methodisch ähnlich liegen die Ausführungen bei Karl Meessen. Auch er spricht vom Systemwettbewerb zunächst zwar lediglich als von einem „Paradigma“ und benennt dabei insbesondere nicht die Wirkungsbedingungen, die der Wettbewerb im Einzelnen offenbar hat.51 Seine Eigenschaft als ein Seinsphänomen leuchtet bei Meessen aber immer wieder durch, so etwa, wenn er den Wettbewerb zwischen den Staaten seinem Wesen nach in engen Zusammenhang mit dem (grenzüberschreitenden) Individualwettbewerb stellt und ersteren somit gewissermaßen zu einer Funktion des letzteren macht.52 Ganz deutlich tritt die Interessengetriebenheit des Wettbewerbs zwischen den Staaten etwa in der Bemerkung hervor, dass Wettbewerb um Arbeitsplätze in den demokratisch organisierten Industriestaaten zum „Hauptkriterium politischer Legitimation“ geworden sei, so dass nur Regierungen, die glaubhaft Arbeitsplätze anbieten, ihre Wiederwahl sichern könnten.53 Man kann diese Aussage mit guten Gründen bestreiten. Schon empirisch stellt sich etwa die Frage, warum Regierungen selbst dann gewählt werden, wenn sie Politiken versprechen, die erwartungsgemäß gerade nicht zu mehr Arbeitsplätzen führen. Die dahinterstehende Beobachtung, nach der das Interesse an Arbeitsplätzen typider Diskussionsrunde die Faktizität des Wettbewerbs und der ihn antreibenden staatlichen Interessen – jedenfalls teilweise – offenbar viel klarer gesehen hat, vgl. etwa die Statements von Meessen (S. 106), Scherzberg (S. 119), Lorz (S. 122) und Zacher (S. 127). 49 Dreher, Meinrad, Wettbewerb oder Vereinheitlichung der Rechtsordnungen in Europa?, 54 JZ 1999, S. 105, 109. 50 Einige stilisierte Fakten dazu gibt etwa Straubhaar, Thomas, Migration im 21. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 15 ff. 51 Meessen, Karl M., Wirtschaftsrecht im Wettbewerb der Systeme, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 7. 52 Ibid., S. 29. 53 Ibid., S. 9 und 10.
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scherweise ausschlaggebend sein soll, wirft auch selbst normative Zweifel auf. In Zeiten etwa des Krieges oder umwälzender Umweltkatastrophen kann sich das Interesse durchaus auch anders darstellen. Dennoch: Dass der Wettbewerb offenbar ein interessegetriebenes Phänomen ist, wird hier – stärker als bei allen anderen Beiträgen – deutlich.54 Wie sich dieses Interesse allerdings näher ausgestaltet, worauf es im Wettbewerb letztlich gerichtet ist und, vor allem, wie man verfassungsrechtlich mit ihm umzugehen hat, bleibt auch bei Meessen offen. Besonders deutlich wird die Faktizität des Wettbewerbs zwischen den Staaten bezeichnenderweise in Einzelbeiträgen, die – jedenfalls nicht primär – das Verfassungsrecht zum Gegenstand haben. Hierzu gehört etwa der Beitrag von Johanna Hey, in dem sie den so genannten „Steuerwettbewerb“ zu Recht als Steuersubstratwettbewerb kennzeichnet.55 Sie macht hier deutlich: Es ist nicht der Wille zu einem wie auch immer gelagerten Wettbewerben, der den Staat in den Wettbewerb treibt, sondern das Interesse am Faktor. Der durch ihn entstehende Wettbewerb mag nun (wie wohl meist) mit Mitteln des Steuerrechts oder anderweitig geführt werden: Prägendes Element des Begriffs „Steuerwettbewerb“ bleibt dennoch das staatliche Ziel, den Faktor anzuziehen und hierdurch das Steuersubstrat zu erhöhen, nicht der Umstand, dass das Steuerrecht auch ein wichtiges Instrument im Wettbewerb bleibt. Andere Ansichten, die eine instrumentelle Begrifflichkeit bevorzugen,56 sind nicht nur verengend (in dem sie andere Mittel im Wettbewerb ausblenden), sondern auch verkürzend, in dem sie nämlich die Zieldimension im Wettbewerb, und damit dessen eigentlichen Antrieb, also das staatliche Interesse am Faktor, außer Acht lassen. Mit einem lediglich instrumentellen Begriff wird man daher gerade dem Wesen des Wettbewerbs nicht gerecht. Richtig ist allerdings, dass in der Wirklichkeit typischerweise beide Formen des Wettbewerbsbegriffs Nahrung erhalten, nämlich wenn, wie es wohl typischerweise der Fall sein dürfte, das Steuersubstrat vor allem gerade mit den Mitteln des Steuerrechts vergrößert werden soll. Dies zwingt jedoch nicht zu einem instrumentellen Begriff. Im Gegenteil: Um der – gerade auch normativen – Differenzierungen willen sollte man besser einen interessegespeisten Begriff des Wettbewerbs wählen, denn nur er ermöglicht, die zu Grunde liegenden Mechanismen auch normativ angemessen einzufangen. Dass die Wahrnehmung des Wettbewerbs als tatsächliche Wirklichkeit in diese Richtung zielt, zeigt sich auch bei Hey, nach deren Analyse das Prinzip der synthetischen Einkommenssteuer (das, obwohl es nicht immer voll verwirklicht worden ist, normativ bisher kaum angezweifelt
54 Vgl. dazu auch den Aufsatz von Meessen, Karl M., Prinzip Wettbewerb, JZ 2009, S. 697. Bestätigend in der Aussprache bei der Staatsrechtslehrertagung 2009 in Graz, vgl. das Statement in: VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 106. 55 Hey, Johanna, Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen, JZ 2006, S. 851, 852. 56 Anders etwa Gerken, Lüder u. a., Internationaler Steuerwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 5 mwN.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
wurde), jetzt vor der Herausforderung des Wettbewerbs steht57: Es wird, vor allem im Zusammenspiel mit den bestehenden staatlichen Interessen, europarechtlich herausgefordert, und die Frage ist, wie der Staat in Zukunft mit seinem Steuerinteresse mobile Faktoren belasten kann. Auf gerade diese Frage stößt man allerdings nur, wenn man, wie offenbar Hey, die staatlichen Interessen in den Mittelpunkt des Wettbewerbsbegriffs stellt.
II. Die Bedeutung des staatlichen Interesses am wertschöpfungsträchtigen mobilen Produktionsfaktor: Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs Der Überblick zeigt: Die deutsche Staats- und Verfassungsrechtslehre strebt in der Beschäftigung mit dem Thema des Wettbewerbs zwischen den Staaten zwar einem ersten Höhepunkt zu, scheint in der Aufarbeitung der wettbewerblichen Situation, in die der Verfassungsstaat offenbar geraten ist und gegebenenfalls immer stärker gerät, aber wohl doch erst am Anfang zu stehen. Die Diskussion zum ersten Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung in Graz 2009 bestätigt eine gewisse begriffliche Uneinheitlichkeit in diesem Bereich.58 Während sich in der neueren ökonomischen Literatur die Beiträge zur Ordnung im Wettbewerb – wenn auch nicht immer mit der nötigen Tiefenschärfe gerade zum Verfassungsstaat im Wettbewerb – mittlerweile häufen59, fehlt der Staats- und Verfassungsrechtslehre offenbar der ei57 Hey, Johanna, Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen, JZ 2006, S. 851, 852. 58 Vgl. dazu ergänzend auch schon die Angaben oben bei A.II.2. 59 Überblick hierzu etwa in den Beiträgen bei Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000 und bei Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor: Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck. Beispielhaft auch bereits Vanberg, Viktor, Wettbewerb in Markt und Politik – Anregungen für die Verfassung Europas, Sankt Augustin: COMDOK-Verlagsabteilung, 1994. Für föderale Gebilde grundlegend Apolte, Thomas, Die ökonomische Konstitution eines föderalen Systems; Dezentrale Wirtschaftspolitik zwischen Kooperation und institutionellem Wettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999. Mit engerem Bezug zur Wirtschaftspolitik jüngst etwa Schäfer, Wolf, Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Berlin: Duncker & Humblot, 2006. Dezidiert kritisch gegenüber dem Systemwettbewerb demgegenüber Sinn, Hans-Werner: Das Selektionsprinzip und der Systemwettbewerb, in: Obernhauser, Alois (Hrsg.), Fiskalföderalismus in Europa, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 253, Berlin: Duncker & Humblot, S. 9; ferner Scharpf, Fritz W., Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik, in: Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor (Hrsg.), Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 41. Kantzenbach, Erhard, Globalisierung der Wirtschaft und nationale Politik, in: Hopt, Klaus J./Kantzenbach, Erhard/Straubhaar, Thomas (Hrsg.), Herausforderungen der Globalisierung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 19; ders., Globalisierung und Systemwettbewerb, in: Schäfer, Wolf, Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 309, Berlin:
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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gene Standpunkt.60 Man darf vielleicht nicht gerade erwarten, dass die Staatsrechtslehre insoweit mit nur einer Stimme spricht. Gerade bei umstrittenen Fragen ist das Diskursive die große Stärke nicht nur der Demokratie, sondern auch der Wissenschaft. Insofern ist es ein gutes Zeichen, dass offenbar eine große Diskussion hierzu beginnt. Bedenklich stimmt jedoch der Umstand, dass man zum Teil über sehr unterschiedliche Dinge nachdenkt und daher schon die zu Grunde liegenden Fragen sehr unterschiedlich formuliert: Während manche über den Wettbewerb, wie hier, phänomenologisch sprechen (Wettbewerb als Phänomen staatlichen Interesses an Produktionsfaktoren und damit als tatsächliche Herausforderung für das Recht), haben andere offenbar eher einen losen Ideenwettbewerb zwischen Rechtsordnungen vor Augen (im Sinne einer Frage nach den best practices des Rechts).61 Die Staatsrechtslehre verfügt mit Ausnahme weniger Ansätze also offenbar über keinen eigenständigen Begriff des Wettbewerbs, der Erörterungen über den richtigen verfassungsrechtlichen Umgang mit der Wettbewerbssituation zu tragen im Stande wäre. Vielmehr bemüht sich die Staatsrechtslehre überwiegend, das Problem dadurch zu lösen, dass sie das Phänomen schon begrifflich hinwegdefiniert, indem sie den Wettbewerb zu einem normativen oder bloß konzeptionellen Phänomen erhebt und gerade hierdurch seiner Tatsächlichkeit beraubt. Man nimmt dem Staat nominal damit seine Eigenschaft als Wettbewerber, in dem man den Wettbewerb als faktisches Phänomen hinwegredet, gleichzeitig die Wirkungsbedingungen des Wettbewerbs, nämlich staatliche Offenheit und staatliches Interesse, aber weiter fortbestehen lässt. Damit bindet man dem Staat, der im Wettbewerb steht, die Hände und schlägt ihm die Instrumente aus der Hand, sich wettbewerbssensitiv zu verhalten. Auch der geöffnete Staat verliert aber nicht seine Interessen am Faktor. Im Gegenteil, Duncker & Humblot, 2006. Vermittelnd Friedhoff, Paul K., Wettbewerb der Ordnungen und der Unternehmen, in: Gerken, Lüder/Lambsdorff, Otto Graf (Hrsg.), Ordnungspolitik in der Weltwirtschaft, Baden-Baden: Nomos, 2001, S. 75. Zum größeren Zusammenhang auch der Sammelband von Homann, Karl u. a. (Hrsg.), Wirtschaftsethik der Globalisierung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005. 60 Damit fügt sich die Staatsrechtslehre übrigens in einen allgemeinen Trend der Rechtswissenschaft, der überaus bedenklich stimmen muss: In der Tat hat nämlich die Rechtswissenschaft – in all ihrer Detailverliebtheit – nicht nur die Gestaltungsmacht aus der Hand gegeben, sondern offenbar auch den ihr ursprünglich innewohnenden (Mit-)Gestaltungswillen weitgehend verloren. Stürner etwa stellt eindringlich fest: „Die moderne Rechtswissenschaft, wie sie vor allem in Deutschland gegenwärtig betrieben wird, verleitet sehr leicht zu dogmatischer und systematischer Selbstgenügsamkeit und wird damit mehr oder weniger unreflektiert zum willigen Vollstrecker mächtiger Zeitströmungen, die sie ihrerseits selbst kaum beeinflusst“, so Stürner, Rolf, Markt und Wettbewerb über alles?, München: Beck, 2007, S. V. Dass Rechtswissenschaftler auch einmal innehalten, um tatsächliche Entwicklungen in kritischer Absicht zu hinterfragen oder sich jedenfalls eine eigene Meinung zu bilden, kommt mittlerweile demgegenüber durchaus selten vor. 61 Ein derartiger bloßer Ideenwettbewerb bleibt vom Interesse am Faktor völlig losgelöst: Beim Ideenwettbewerb geht es in der Tat nicht um die Anziehung von Produktionsfaktoren zur Beheimatung von Produktionsprozessen, sondern eher um schlichten Rechtsvergleich, der mit dem eigentlichen Kern des Phänomens Wettbewerb zwischen den Staaten, nämlich dem staatlichen Interesse am Faktor, eigentlich nicht viel zu tun hat.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
sie bestehen weiter fort, freilich ohne, dass dem Staat – auch staatstheoretisch – die Mittel gegeben sind, dieses Interesse wirklich zu verfolgen. So gerät die staatstheoretische Reaktion zur Trotzreaktion, die Staatslehre zum Negierer eines Faktums, das der Staat, soweit es besteht, selber mit geschaffen hat, nämlich durch seine Öffnung nach außen. Den Staat macht man so zum „eisernen Gustav“, der die Entwicklungen bei den Mitwettbewerbern verpasst, lieber an alten Zöpfen festhält, und dadurch sich selber in eine Situation bringt, die ihn als Wettbewerbsverlierer enden lässt.62 Die geschilderten Überlegungen aus der Staatslehre sind umso erstaunlicher, als man das offenbar verfolgte Ziel, nämlich die staatliche Ordnung vom Wettbewerb freizuhalten, auch anders erreichen kann, und zwar besser als auf diesem begrifflichen Weg. Man kann nämlich den Wert des Rechts gerade auch in Anerkennung der Wettbewerbssituation hervorheben. Mitnichten hat das Recht grundsätzlich hinter den ökonomischen Interessen zurückzustehen. Vielmehr hat es einen Eigenwert, den man in einer langen Reihe von Beiträgen immer wieder neu nachgewiesen hat.63 Die Kraft des Rechts folgt dabei aber nicht irgendwelchen Winkelzüglereien, sondern gerade seiner Überzeugungskraft und Vernünftigkeit. Es ist dieser „Kampf um’s Recht“64, der das Recht stärkt, nicht der Versuch, der eigentlichen Auseinandersetzung durch scholastische Begriffsbildungen auszuweichen. Gerade in diesem Lichte kann sich die Staatsrechtslehre nicht darauf ausruhen, dass es auch in den ersten zweihundert Jahren des modernen Staates keine tragfähigen Konzepte für den Umgang mit dem Wettbewerb gab. Denn schon das Phänomen ist – jedenfalls in der heute zu beobachtenden Intensität – ein recht neues. Der moderne Staat hat die ersten zweihundert Jahre seiner Entwicklung genommen, ohne dass man den Wettbewerb zwischen den Staaten berücksichtigen musste. Zwar gab es schon immer die im Staat angelegte Spannung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, wie etwa der Weg von der Reichsfluchtsteuer zum Außensteuergesetz zeigt.65 Das Ausmaß und die Eigenart der Mobilität von Faktoren haben sich, wohl aus Gründen der Bildung wie aus Gründen der Technologie, aber offenbar doch erheblich verändert. So gehen hochqualifizierte Forscher und gut ausgebildete Ar-
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Näher Fallada, Hans, Der eiserne Gustav, Berlin: Aufbauverlag, Nachauflage 2008. Vgl. beispielhaft dazu mit vielen weiteren Nachweisen Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip: Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, Tübingen: Mohr Siebeck, 3. Aufl. 2005. In der angelsächsischen Literatur hat vor allem ein kritischer Beitrag von Dworkin erhebliche Beachtung gefunden, nämlich Dworkin, Ronald, Why Efficiency?, in: ders., A Matter of Principle, Oxford: OUP, 2001, S. 267. 64 Jhering, Rudolf von, Der Kampf um’s Recht, 8. Erg. Aufl., Frankfurt a.M.: Klostermann, 2003. 65 Nachgezeichnet von Schön, Wolfgang, Steuerstaat und Freizügigkeit, in: Becker, Ulrich/ Schön, Wolfgang (Hrsg.), Steuer- und Sozialstaat im europäischen Systemwettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 41, 42. 63
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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beitnehmer heute regelmäßig völlig andere Wege als noch vor etwa hundert Jahren.66 Die Staaten richten hieran mittlerweile sogar ihre Politiken aus, obgleich der Weg hierzu langsam und voller Umwege ist.67 Aber auch – und vor allem – in der Finanzwelt, kennt die Mobilität heute bisher ungekannte Ausmaße.68 Die Staatslehre kommt, dies zeigt der obige Überblick, dieser Herausforderung nicht recht hinterher. Es bedarf daher eines eigenen Begriffs für die Zwecke dieser Untersuchung. Ausgangspunkt bei der Entwicklung eines solchen Begriffs muss die Überlegung sein, dass es offenbar ein Phänomen gibt, das unabhängig von seiner begrifflichen Erfassung besteht, ganz offenbar wettbewerbliche Züge aufweist und in der Staatsund Verfassungsrechtslehre noch nicht begrifflich erfasst ist. Die Begriffsbildung hat dieses Phänomen also zu erfassen. Sie hat sich dabei an der Wirklichkeit dieses Phänomens zu orientieren: Der Begriff muss dem Faktum folgen, nicht umgekehrt. Es geht mithin hier also gerade nicht darum, den Staat in eine Wettbewerbssituation hineinzureden, sondern darum, ein offenbar bestehendes – zunächst nur erfühltes, begrifflich aber offenbar noch nicht leicht fassbares – Phänomen für die Rechts- und insbesondere Verfassungsrechtswissenschaft begrifflich erfassbar zu machen. Bereits in dieser methodischen Grundorientierung liegt eine gestalterische Zurückhaltung. Mit dem Begriff sollen keine Realitäten neu geschaffen werden. Vielmehr sollen lediglich bestehende Phänomene analytisch und begrifflich aufbereitet und dadurch für die Betrachtung und Weiterentwicklung der Verfassung und des Verfassungsstaates nutzbar gemacht werden. Im Lichte dieser Überlegungen soll der nun folgende Teil also Elemente eines Begriffs des Wettbewerbs erarbeiten, der die normative Diskussion über den richtigen Umgang mit dem wettbewerblichen Phänomen, in das der Verfassungsstaat mit seiner Öffnung also offenbar geraten ist, zu tragen im Stande ist. Die Begriffsbildung erfordert nicht nur Überlegungen über die staatlichen Interessen am Faktor, sondern auch zu den spezifischen Verhältnissen zwischen staatlicher Faktoroffenheit einerseits und dem staatlichen Interesse am Faktor andererseits. Naturgemäß stehen beide 66 Vgl. näher hierzu etwa die Beiträge in dem Forschungsschwerpunkt des United Nations University (UNU) World Institute for Development Economics Research, dort etwa Costa, Anthony P.D., The International Mobility of Technical Talent, Research Paper No. 2006/143; Thorn, Christian/Holm-Nielsen, Lauritz B., International Mobility of Researchers and Scientists, Research Paper No. 2006/83; Überblick auch etwa bei Straubhaar, Thomas, International mobile Arbeitskräfte, in: Theurl, Theresia/Smekal, Christian (Hrsg.), Globalisierung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, S. 93. Diese Art der Forschermobilität unterscheidet sich freilich vollkommen von anderen Formen der Faktormobilität, etwa der Mobilität von Unternehmen, wenngleich die staatlichen Reaktionsmuster durchaus vergelichbarer Natur sind, vgl. etwa Lafontaine, Christoph, Company Mobility and Employee Rights, 61 ZÖR 2006, S. 263. 67 Näher etwa Kuznetzov, Yevgeny/Sabel, Charles, Global Mobility of Talent from a Perspective of New Industrial Policy; Open Migration Chains and Diaspora Networks, United Nations University (UNU) World Institute for Development Economics Research, Research Paper No. 2006/144. 68 Theurl, Theresia, International mobiles Kapital, in: dies./Smekal, Christian (Hrsg.), Globalisierung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, S. 59.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
in enger Beziehung zueinander. Allerdings erscheint Zurückhaltung angebracht, gerade auch die staatliche Öffnung für mobile Faktoren aus einem staatlichen Interesse an diesen mobilen Produktionsfaktoren heraus erklären zu wollen. Der historische Zusammenhang legt eher die These nahe, dass sich Staaten – jedenfalls nach dem kontinentaleuropäischen Muster – nicht etwa um der Anziehung von Faktoren willen öffnen, sondern dass sie sich – im Gegenseitigkeitsverhältnis – um anderer Interessen willen öffnen, etwa um des Interesses an der Teilnahme an fremden Märkten willen69 oder gar um ganz anderer politischer Interessen willen, wie etwa der Beginn der europäischen Einigung zeigt.70 Schaut man auf die – europäische und globale – Geschichte der Handelsliberalisierung, erscheint die eigene staatliche Öffnung typischerweise allenfalls als Preis für die Öffnung des oder der anderen Staaten. Nicht ohne Grund behandelt man in der WTO etwa die eigene Öffnung ironischerweise noch immer als vertragliches Zugeständnis statt als Chance zur Ansiedlung von Faktoren. Bezieht man in das Bild mit ein, dass die Handelsliberalisierung Waren und Dienstleistungen typischerweise in ihrer Eigenschaft als Produktionsergebnisse, nicht in ihrer Eigenschaft als Produktionsfaktoren, behandelt, zeigt sich deutlich, dass die staatliche Offenheit für Faktoren zwar aus einer liberalen Position begründbar ist, nicht aber unbedingt einem staatlichen Interesse entspringt. Erstaunen kann dies kaum weiter, gerade weil der Staat eben keine durch und durch liberale Veranstaltung ist. Die neuere politische Ökonomie hat hinreichend nachgewiesen, dass – selbst für Produktionsergebnisse wie Waren und Dienstleistungen – die Öffnung typischerweise gegen starke Interessen im Staat durchgesetzt werden muss.71 Es ist daher zu differenzieren zwischen dem (durchsetzbaren und zum Teil durchgesetzten) staatlichen Interesse an einer Öffnung des Staates für Faktoren und einem staatlichen Interesse am (mobilen) Faktor in der staatlichen Offenheit. Ist nämlich ein Staat für den Grenzübertritt von Faktoren offen, so entsteht – gerade in dieser Offenheit – ein materielles staatliches Interesse an der Anziehung dieser Faktoren, dessen Ausgeprägtheit in einer zunächst recht einfachen Funktion von erwartetem Wertschöpfungspotenzial und Mobilitätskosten wurzelt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die staatliche Öffnung ihrerseits nun auf das Interesse an der Produktivmachung eines Faktors gerade am eigenen Standort zurück geht. Denn die Öffnung selber ist zwar eine Voraussetzung für die Entstehung von Wettbewerb. Sie ist für sich genommen aber kein Wettbewerbstreiber, selbst dann nicht, wenn sie aus 69 Einen hervorragenden Überblick hierzu geben Trebilcock, Michael J./Howse, Robert, The Regulation of International Trade, 3. Aufl., London: Routledge, 2005, S. 1 ff. 70 Dazu anschaulich etwa Knipping, Franz, Rom, 25. März 1957 – Die Einigung Europas, München: DTV, 2004. Zur weiteren Entwicklung mit durchaus freundlich-kritischer Betrachtung etwa Oppermann, Thomas, Von der Gründungsgemeinschaft zur Mega-Union: Eine europäische Erfolgsgeschichte?, 122 DVBl 2007, S. 329. 71 Eine äußerst lesenwerte Analyse dazu und insbesondere zu den anglo-amerikanischen Interessen findet sich etwa bei Irvin, Douglas A./Mavroidis, Petros C./Sykes, Alan O., The Genesis of GATT, Cambridge: CUP, 2008.
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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einem Interesse am Faktor heraus stattfindet. Wettbewerbstreibend ist das Interesse am Faktor vielmehr erst in der Offenheit, gleichviel in welchem Umfeld diese nun entstanden ist und aufrechterhalten wird. Das staatliche Interesse an der Offenheit für Faktoren mag zwar, jedenfalls auch, vom Interesse am mobilen Faktor getrieben sein. Oftmals wird die staatliche Öffnung, wie das soeben genannte Beispiel der Handelsliberalisierung zeigt, aber aus ganz anderen staatlichen Interessen geboren, ist für sich genommen vielleicht nicht einmal besonders ausgeprägt, gerade weil Liberalität kein Eigenmerkmal staatlicher Herrschaft ist. Es drängt sich auf, diesen Unterschieden zwischen den staatlichen Interessen an einer Öffnung (oder Nichtöffnung) und den staatlichen Interessen – in der Offenheit – am (mobilen) Faktor begrifflich Rechnung zu tragen und dementsprechend das Interesse am Faktor allein als ein staatliches Interesse in der Offenheit, statt auch als Interesse an der Offenheit, aufzuarbeiten. Im Folgenden soll daher nicht das staatliche Interesse am Faktor schlechthin, also unabhängig seiner grenzüberschreitenden Mobilisierbarkeit, in das Zentrum der begrifflichen Überlegungen gestellt werden, sondern – der historischen Entwicklung folgend – vielmehr nur das Interesse gerade am bereits mobilen Faktor.72 Zu einer in diesem Sinne interessensbasierten Begriffsbildung erscheint es hilfreich, zunächst dem allgemeinen Sprachgebrauch etwas nachzuspüren. Denn wenn der Begriff des Wettbewerbs schon im allgemeinen Sprachgebrauch vor allem interessensbasiert gebildet und benutzt wird, spricht einiges dafür, dass man auch den Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten als faktischen interessensbasierten Begriff für die Staatsrechtslehre fruchtbar machen kann (B.II.1.). Auch die Ökonomie findet für den Begriff des Systemwettbewerbs naturgemäß eine interessensbasierte Anknüpfung, wertet diese allerdings in sehr anderer Weise begrifflich aus, als die Staats- und Verfassungsrechtslehre (B.II.2.). Auf der Grundlage dieser Feststellungen liegt es nahe, selber den Einzelheiten des staatlichen Interesses am mobilen Faktor nachzugehen. Im Einzelnen wird jedenfalls zu klären sein, dass der Staat, nicht die Gesellschaft, Träger des Interesses ist, dass sein Gegenstand der wertschöpfungsträchtige mobile Produktionsfaktor ist, und dass der Grund für das staatliche Interesse am Faktor das (unmittelbare oder auch mittelbare) Einnahmeinteresse des Staates ist (B.II.3.).
1. Ausgangspunkt: Der Begriff des Wettbewerbs im allgemeinen Sprachgebrauch – Anklänge einer interessensbasierten Begriffsbildung Im allgemeinen Sprachgebrauch benutzt man den Begriff des Wettbewerbs stärker interessensbasiert, als es der Überblick über die staatsrechtliche Literatur 72 Mit diesem Vorgehen soll ausdrücklich nicht zugleich behauptet werden, dass das Interesse am Faktor nicht öffnend wirken kann. Lediglich sollen solche öffnenden Wirkungen hier nicht mit aufgearbeitet werden. Denn sie spielen für die Begriffsbildung keine Rolle.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
über den Wettbewerb zwischen den Staaten zunächst vermuten lässt. Bereits ein Vergleich gängiger Universal- und Wirtschaftslexika zeigt, dass man Wettbewerb offenbar durchaus als ein interessensgetriebenes Phänomen wahrnimmt, wenn dies auch nicht immer ausdrücklich zum Ausdruck kommt. So versteht etwa der Grand Larousse unter Wettbewerb eine „Action de chercher à obtenir en même temps que d’autres le même titre, la même charge ou dignité, la même fonction, etc. (Hervorhebung vom Verfasser)“.73 Hier wird unmittelbar deutlich, dass es eine außerhalb des Wettbewerbers stehende Sache ist, etwa eine von Dritten bereit gestellte (Gegen-) Leistung, um deren Erreichung willen der Teilnehmer in den Wettbewerb mit anderen Teilnehmern tritt (also nicht die eigene Leistung). Ähnlich weist auch die Beschreibung des Begriffs in der neuen Encyklopædia Britannica deutlich das NichtEigene des Gegenstandes als begriffskonstituierend aus, wenn sie den Wettbewerb umschreibt als „utilization of the same resources by organisms of the same or different species living together in a community, when the resources are not sufficient to fill the needs of all the organisms“.74 Diesen Hinweis auf „resources“ wird man, gerade weil diese Definition ausdrücklich der Ökologie folgt, kaum im Sinne eigener Ressourcen verstehen können, wie etwa der eigenen Kraft, der eigenen Schnelligkeit, der eigenen Durchsetzungsfähigkeit. Vielmehr muss dies ganz offenbar, auch in der Ökologie, eine Sache oder Leistung eben gerade außerhalb der Sphäre des Wettbewerbers sein. In Meyers großem Universallexikon heißt es unter dem Stichwort „Wettbewerb“ ungefähr vergleichbar: „die Rivalität zwischen den Wirtschaftssubjekten auf dem jeweiligen Markt, insbesondere zwischen Unternehmen auf dem Käufermarkt um Marktanteile“ (Hervorhebung durch den Verfasser).75 Die Marktanteile, um die es dem Unternehmen geht, mit allen Konsequenzen etwa auch zukünftiger Marktmacht und damit verbundenen Möglichkeiten der Beschränkung des Wettbewerbs, bezeichnen dabei (zukünftige) Abnahmekraft Fremder, mithin: zukünftige Gegenleistungen. Die eigene Ertragskraft ist mithin bestimmt durch die (Gegen-)Leistung Dritter. Diese sind es, auf die das Unternehmen sein Interesse richtet und um derentwillen ein Wettbewerb – und in ihm eine eigene Leistung – überhaupt erst entsteht. Das Interesse an der eigenen Leistung ist – in seiner konstitutiven Bedeutung für den Begriff des Wettbewerbs – demgegenüber nur instrumentell. Auffällig ist, dass auch gängige Wirtschaftslexika die Definition des Wettbewerbs offenbar sehr deutlich auf die Trennung von Fremdem und Eigenem hin bilden, also auf den Dualismus aus Interesse des Wettbewerbers und dem aus ihm fließenden Ziel im Hinblick auf eine fremde Sache einerseits und eigener Leistung im Sinne eines Instruments andererseits. So ist etwa nach Gablers Wirtschaftslexikon unter Wett73 Grand Larousse en 5 volumes, Tome2; Maury: Malesherbes, 1995, Stichwort: „compétition“. 74 The New Encyclpædia Britannica, Band 3, 15. Aufl. 2003, S. 503, Stichwort „competition“. 75 Meyers Grosses Universallexikon, Band 15: Ve – Zz, Meyers Lexikon Verlag: Mannheim u. a., 1986.
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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bewerb „das Streben von zwei oder mehr Personen bzw. Gruppen nach einem Ziel zu verstehen, wobei der höhere Zielerreichungsgrad des einen i. d. R. einen geringeren Zielerreichungsgrad des(r) anderen bedingt (z. B. sportlicher, kultureller oder wirtschaftlicher Wettkampf)“.76 Man findet dies in den verschiedensten Wirtschaftslexika so oder ähnlich, z. B. im neuen Palgrave-Wirtschaftslexikon, das wie folgt Auskunft gibt: „Competition is a rivalry between individuals (or groups or nations), and it arises whenever two or more parties strive for something that all cannot obtain.“77 Oder, bodenständiger und enger auf das eigentliche Wirtschaften am Markt bezogen, etwa das Oxford Wirtschaftslexikon, das unter Wettbewerb eine „situation when anybody who wants to buy or sell has a choice of possible suppliers or customers“ versteht.78 Oder im Lexikon der ökonomischen Bildung, nach dem Wettbewerb, etwas verbrämter, „eine Rivalitätsbeziehung zwischen Wirtschaftseinheiten beim Bemühen um vorteilhafte Ergebnisse am Markt“ bezeichne.79 Darüber hinaus arbeitet man in Wirtschaftslexika aber auch bereits unter Verzicht auf AnalytischBegriffliches und definiert von vorneherein funktional, etwa mit Hinweis auf die österreichische Schule Hayeks (Stichwort: Wettbewerb als Entdeckungsverfahren)80, oder normativ, etwa bereits in der Abgrenzung zwischen perfektem und imperfektem Wettbewerb81. Nur die Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden ist hier begrifflich nicht ganz eindeutig. Für sie ist Wettbewerb „allg. ein Prozess, bei dem mehrere Personen oder Organisationen (z. B. Unternehmen, Verbände, Staaten) bestrebt sind, die relativ beste Leistung im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel zu erreichen.“82 Der begriffskonstituierende Charakter gerade der Fremdheit der Sache oder Leistung, auf die sich das Streben des Teilnehmers richtet, hat eine besondere Bewandtnis, die es sich lohnt, herauszustellen. Denn es konstituiert – auch beim Wettbewerb zwischen den Staaten – den Begriff des Wettbewerbs. Nicht das Tun des Wettbewerbers baut sich hier nämlich zum Maßstab seines wettbewerblichen Erfolges aus, sondern sein Interesse an der Sache, über die er ohne – relativ beste – eigene Leistung nicht verfügen kann. Sein Tun wird demgegenüber zum bloßen Gegenstand der wettbewerblichen Beurteilung. Mit anderen Worten: Der Wettbe76 Gablers Wirtschaftslexikon, Band S – Z, 16. Aufl., Wiesbaden: Gabler, 2004, S. 3325, Stichwort „Wettbewerb“. 77 The New Palgrave – A Dictionary of Economics, Band 1 (A – D), London: Macmillan, 1987, Stichwort „competition“. 78 Black, John (Hrsg.), A Dictionary of Economics, Oxford: Oxford University Press, 1997, Stichwort „competition“. 79 May, Herrman u. a., Lexikon der ökonomischen Bildung, 4. Aufl., München: Oldenbourg, 2001, Stichwort „Wettbewerb“. 80 So etwa Dichtl, Erwin/Issing, Otmar (Hrsg.), Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Band 2 (L – Z), 2. Aufl., München: Beck, 1993, Stichwort „Wettbewerb“. 81 So etwa Magill, Frank N. u. a., International Enceclopedia of Economics, Band 1, London: Fitzroy, 1997, S. 241, Stichwort „competition: perfect versus imperfect“. 82 Brockhaus, Enzyklopädie in 30 Bänden, Band 29 (VERTI – WETY), 21. Aufl., F.A. Brockhaus: Leipzig u. a., 2006, S. 808, Stichwort „Wettbewerb“.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
werber wird nicht an seinem Tun gemessen, sondern (in seinem Tun) an seinem Interesse. Der wettbewerbliche Erfolg ist mithin vom Tun abhängig, der Maßstab, nach dem dieser Erfolg sich misst, demgegenüber aber vom Interesse. Ein Apfelbauer etwa, der Äpfel zum Verkauf züchtet, steht mit anderen Apfelbauern kraft seines Interesses am Ertrag aus den Äpfeln im Wettbewerb mit anderen Apfelbauern. Der Hobbygärtner tut vielleicht genau das Gleiche wie der Apfelbauer: Er hegt und pflegt seinen Apfelbaum, spritzt die Äpfel, pflückt und lagert sie: Als Wettbewerber wird man ihn aber kaum sehen können, wenn er durchgängig seine Äpfel selber essen oder an die Nachbarn verschenken möchte. Das Beispiel zeigt: Es ist das Interesse an dem außerhalb der Wettbewerber selber liegenden Etwas (der Sache, oder der Leistung Dritter), das zum Wettbewerb und zur Teilnahme an ihm, also zur Wettbewerbereigenschaft führt, nicht das Tun des Wettbewerbers.83 Dieses Etwas (die Sache oder die Leistung Dritter), auf das sich das Interesse des Wettbewerbers richtet, muss übrigens nicht konkret sein. Es reicht vielmehr, dass es – aktuell oder gegebenenfalls erst später – konkretisierbar ist. Auch hierin zeigt sich die zeitliche Dimension des Wettbewerbs. Sogar oft ist bei Leistungserbringung das Etwas (die Sache oder die Gegenleistung) noch gar nicht genauer bestimmt, sondern eben nur bestimmbar, und zwar später bestimmbar. Wenn ein Unternehmen, etwa im Wege von Investitionen in Forschung und Entwicklung, um zukünftige Marktanteile, mithin zukünftige Erträge, also Gegenleistungen, kämpft, weiß es gegebenenfalls noch gar nicht, wer diese Gegenleistungen im Einzelnen bezahlen, wer also Kunde sein wird. Es weiß auch nicht unbedingt, wie hoch die Erträge sein werden, weiß also noch nicht um die Höhe der Gegenleistungen, ja vielleicht nicht einmal um ihre Natur. Es wird darüber hinaus nicht einmal seine eigene Leistung kennen, da diese ja noch nicht sichtbar ist – noch handelt es sich um bloße Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Vorfeld des Marktes. So kommt es, dass es nicht einmal weiß, ob überhaupt irgendeine Gegenleistung erbracht werden wird – und trotzdem ist das Unternehmen angesichts seiner (nicht konkretisierten, aber unter bestimmten Voraussetzungen konkretisierbaren Interessen) Wettbewerber. Mit dem sich so deutlich manifestierenden begrifflichen Schwerpunkt auf dem Interesse des Wettbewerbers, nicht seinem Handeln, konstituiert sich nicht nur der Begriff des Wettbewerbs, sondern bestimmt sich, jedenfalls zum Teil, auch die Intensität des Wettbewerbs. Je stärker nämlich das Interesse ist, desto intensiver wird der Wettbewerb. Das Interesse ist sozusagen der Motor des Wettbewerbs. Damit erhält der Begriff zugleich nicht nur etwas Dynamisches – eben Prozesshaftes – sondern auch, und vielleicht sogar vor allem, etwas Seiendes, etwas, was die Existenz des Wettbewerbs außerhalb des Willens der Wettbewerbsteilnehmers stellt, sozusagen von ihm unabhängig macht: Denn ein Interesse will man nicht, man hat es. Die 83
Auch die Wettbewerbstheorie sieht dies übrigens nicht anders, vgl. statt vieler etwa Cox, Helmut/Hübner, Harald, Wettbewerb. Eine Einführung in die Wettbewerbstheorie und Wettbewerbspolitik, in: Cox, Helmut/Jens, Uwe/Markert, Kurt (Hrsg.), Handbuch des Wettbewerbs, München: Vahlen, 1981, S. 1, 4; ähnlich Neumann, Manfred, Wettbewerbspolitik, Wiesbaden: Gabler, 2000, S. 4 ff.
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Existenz von Wettbewerb erhält hierdurch etwas Deterministisches. Es mag zwar sein, dass aus dem Interesse ein Wille folgen kann; umgekehrt kann aber nicht immer ein Interesse aus dem Willen folgen. Es mag Ausnahmen geben: Ein Ruderer mag – aus anderen Gründen – ein Interesse am Gewinn der Regatta haben wollen, ein Pianist ein Interesse am Gewinn bei dem Beethovenfest haben wollen. Dieser Wille am Interesse setzt aber die Disponibilität des Interesses voraus. Ist es nicht disponibel, folgt der Wille aus dem Interesse, nicht umgekehrt. So wird ein Löwe das Interesse an einem Stück Fleisch nicht deshalb haben, weil er dieses Interesse haben will, sondern deshalb, weil er es eben hat, namentlich weil er Hunger hat. Schon sprachlich zeigen sich die Unterschiede: Man ist eben hungrig, nicht will man hungrig sein. Ist das Interesse nicht disponibel, also willensgestützt, hat also schon dieser Fokus auf das Interesse allein eine Dimension in der Wettbewerbsintensität. Das Interesse liegt also nicht nur der begrifflichen Konstruktion zu Grunde, sondern substanzialisiert bereits auch den Begriff selbst. Dies hat unmittelbare Konsequenzen etwa auf den wirtschaftlichen Wettbewerb zwischen Unternehmen. Denn man kann durchaus zweifeln, ob das Interesse des Unternehmens an Einnahmen vom Unternehmen tatsächlich in diesem Sinne einer Disponibilität gewollt ist oder ob das Unternehmen diese Einnahmeinteressen nicht vielmehr einfach hat. Man stelle sich nur vor, ein Unternehmen würde auf seine Einnahmen verzichten wollen. Über kurz oder lang würde dies das Ende des Unternehmens bedeuten. Insoweit stellt sich doch die Frage, ob das Unternehmen am Markt nicht doch – ganz wertfrei – eher mit dem hungrigen Löwen vergleichbar ist, der das Stück Fleisch braucht, weil er eben hungrig ist, als mit dem Hobby-Ruderer oder Pianisten, der den Gewinn im Wettbewerb nicht notwendig braucht, aber will. Nicht anders ist die Analogie zum Wettbewerb zwischen den Staaten. Es fragt sich nämlich durchaus, ob das Einnahmeinteresse überhaupt disponibel ist, mithin, ob der Staat sein Interesse an Einnahmen überhaupt „hinwegwollen“ kann, oder ob er es nicht vielmehr einfach hat. Ist letzteres der Fall, ist also das Einnahmeinteresse von Staaten determiniert, kann der Staat nur über das Stellen anderer Stellschrauben aus dem Wettbewerb austreten (also den Wettbewerb beenden oder ihn jedenfalls abschwächen), nämlich entweder derjenigen der Reduzierung der Offenheit oder einer Angleichung im Handeln mit wettbewerbenden Staaten, also der Nivellierung von Diversität. 2. Rückgriff auf Erkenntnisse der Evolutionsökonomie? Der Begriff des Wettbewerbs setzt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch also voraus, dass zwei oder mehr Subjekte ein Interesse an einem außer ihrer selbst liegenden – gegebenenfalls erst später konkretisierbaren – Etwas haben, das sie durch ein Handeln befriedigen wollen, obwohl gegebenenfalls nicht alle beteiligten Subjekte ihr Interesse gleichermaßen befriedigen können. Konstitutiv setzt die Definition mithin einen (Wettbewerbs-)Gegenstand voraus (das konkretisierbare Objekt, auf das sich das Interesse richtet) und mindestens zwei handelnde (Wettbewerbs-) Teilnehmer (die Subjekte, die ein Interesse an dem konkretisierbaren Objekt haben).
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
Diese Begriffselemente des allgemeinen Begriffs des Wettbewerbs müssen sich im Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten wieder finden, andernfalls handelt es sich, wenn der Begriff tatsächlich allgemein ist, beim Wettbewerb zwischen den Staaten eben gerade nicht um einen Wettbewerb. Es spricht daher viel dafür, den Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten an diesen Kriterien entlang zu entwickeln, vornehmlich also unter den Gesichtspunkten des Gegenstandes, also des Wettbewerbsobjektes, und des Teilnehmers, also des Wettbewerbssubjekts. Beschreitet man diesen Weg, so stößt man auf den Gegenstand des Wettbewerbs, namentlich den mobilen Produktionsfaktor, an dem die Staaten offenbar ein Interesse haben müssen, und eben den Staat – als Wettbewerbssubjekt. Allerdings sind damit erst die formalen Kriterien genannt. Ein aussagekräftiger Begriff des Wettbewerbs muss, um – ausgehend von der Intensität des Wettbewerbs – überhaupt normative Aussagen machen zu können, zudem materiale Elemente in sich aufnehmen. Hierzu gehören vor allem die Begriffselemente der Mobilität des Produktionsfaktors und das damit verknüpfte normative Element der Offenheit, darüber hinaus aber vor allem eben auch das staatliche Interesse an dem Produktionsfaktor. Hiermit muss sich die Begriffsbildung notwendig auseinandersetzen, will sie zu einem arbeitsfähigen Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten gelangen. Die jeweils zu Grunde liegenden Phänomene verlangen zu ihrem Verständnis jeweils für sich, aber vor allem auch in ihrem Zusammenspiel zueinander, tiefgreifende Überlegungen über das tatsächliche Verhältnis von Produktivität und Offenheit im modernen Staat. Sie bedürfen sozusagen der staatstheoretischen Erkenntnis des offenen Staates. Diese Erkenntnis fehlt bis heute, obgleich der Wettbewerb zwischen den Staaten eigentlich in aller Munde ist. Die Unklarheit darüber, wie man den Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten in diesem begrifflichen Dreieck zwischen Faktor, Mobilität und staatlichem Interesse im Einzelnen bilden soll, bleibt groß. Dies mag daran liegen, dass in diesem Dreieck eine Vielzahl von Phänomenen begrifflich zusammengeführt ist, die – jeweils für sich genommen – bereits komplexe Überlegungen fordern. So beantwortet man bereits die Frage unterschiedlich, was heute denn eigentlich unter einem Produktionsfaktor überhaupt zu verstehen ist. Ist Wissen etwa ein Produktionsfaktor? Wie steht die Eigenschaft mancher Faktoren, auch Produktionsergebnis zu sein, zu der Faktoreigenschaft? Mögen bei diesen und weiteren Fragen die Klippen noch recht einfach zu umschiffen sein, wird es aber bereits bei dem Phänomen der Mobilität schwieriger: Hat der Begriff der Mobilität etwas Absolutes (mobil/nicht mobil) oder etwas Relatives (mehr oder weniger mobil)? Unter welchen Voraussetzungen sind Faktoren mobil, unter welchen Voraussetzungen nicht? Welche Rolle spielt hier die Offenheit des Staates? Noch anspruchsvoller werden die Überlegungen zum staatlichen Interesse an mobilen Produktionsfaktoren: Was ist überhaupt ein staatliches Interesse, woran hat der Staat sein Interesse im Einzelnen (am Produktionsertrag?), wodurch unterscheidet sich dieses Interesse an mobilen Produktionsfaktoren von anderen, etwa protektionistischen Interessen, und vor allem: Wonach richtet sich insoweit die Abwägung zwischen widerstreitenden Interessen? Um Überlegungen hierzu vorbereiten zu können,
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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lohnt sich ein Blick in die Evolutionsökonomie, in der das Phänomen des Wettbewerbs zwischen den Staaten bekanntlich intensiv diskutiert wird (B.II.2.a)). Zwar haben die Richtungen etwa der Instititutionenökonomik, aber auch der so genannten Schule der „neuen politischen Ökonomie“, naturgemäß eine geringe Anknüpfung an die Normativität der Verfassung. Sie leben typischerweise in der ihnen eigenen, vielleicht verengenden Normativität des so genannten „methodischen Individualismus“ und verlieren dadurch nur allzu leicht den Blick dafür, dass der Staat in erster Linie ein Phänomen von Herrschaft ist. Deshalb ist Vorsicht geboten. Ob sie wirklich für sich genommen verfassungsrechtliche Überlegungen über den Verfassungsstaat, wie es hier entwickelt werden soll, zu tragen imstande sind, kann bezweifelt werden. Dies heißt aber nicht, dass man sie für einen solchen Begriff überhaupt nicht fruchtbar machen kann. Vielmehr kann man manche Erkenntnisse der evolutiven Wissenschaft in die verfassungsrechtliche Dogmatik durchaus sinnvoll einflechten, vor allem im Hinblick auf die Voraussetzungen des Begriffs. Sie sollen daher kurz vorgestellt werden (B.II.2.b)). a) Der ökonomische Begriff des Systemwettbewerbs als Begriff des Tatsächlichen In der Ökonomie benutzt man den Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten bereits seit einigen Jahrzehnten, sei er nun gebildet als „Systemwettbewerb“, als „Wettbewerb zwischen Institutionen“, als „Wettbewerb zwischen den Staaten“ oder als „Wettbewerb zwischen den Ordnungen“.84 Dabei fällt zunächst ein stark normativer Einschlag auf. Hauptgegenstand der Diskussion ist nämlich vor allem die Frage, ob ein Systemwettbewerb schon angesichts seiner positiven Wirkungen grundsätzlich zu begrüßen ist85, oder ob man ihn ob seiner von manchen behaupteten Konsequenzen einer Nullregulierung oder gar eines „race to the bottom“ ablehnen sollte.86 In wissenschaftstheoretischer Hinsicht folgt die Diskussion dabei in weiten 84 Zusammenfassend dazu Pitsoulis, Athanassios, Entwicklungslinien ökonomischen Denkens über Systemwettbewerb, Marburg: Metropolis, 2004. 85 Beispielhaft bereits Vanberg, Viktor, Wettbewerb in Markt und Politik – Anregungen für die Verfassung Europas, Sankt Augustin: COMDOK-Verlagsabteilung, 1994. Für föderale Gebilde grundlegend Apolte, Thomas, Die ökonomische Konstitution eines föderalen Systems; Dezentrale Wirtschaftspolitik zwischen Kooperation und institutionellem Wettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999. 86 Dezidiert kritisch gegenüber dem Systemwettbewerb vor allem etwa Sinn, Hans-Werner: Das Selektionsprinzip und der Systemwettbewerb, in: Obernhauser, Alois (Hrsg.), Fiskalföderalismus in Europa, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 253, Berlin: Duncker & Humblot, S. 9; ferner Scharpf, Fritz W., Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik, in: Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor (Hrsg.), Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 41. Kantzenbach, Erhard, Globalisierung der Wirtschaft und nationale Politik, in: Hopt, Klaus J./Kantzenbach, Erhard/Straubhaar, Thomas (Hrsg.), Herausforderungen der Globalisierung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 19; ders., Globalisierung und Systemwettbewerb, in: Schäfer,
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
Teilen der Entwicklung des wirtschaftswissenschaftlichen Wettbewerbsbegriffs87: Kritiker wie Hans-Werner Sinn bewegen sich vor allem im Rahmen eines gleichgewichtstheoretischen Modells88, Befürworter demgegenüber meist in einer evolutorischen Perspektive89. Der Evolutionsökonomik liegt dabei die Hayeksche Vorstellung von der Spontaneität von Ordnungen zu Grunde, nach der die Ausgestaltung wettbewerblicher Ordnungen gerade nicht einer (eigenartigen) Vorstellung über das Wettbewerbsergebnis im Einzelnen folgen sollte, sondern einem klaren Bekenntnis zur Regelgleichheit als einem universalisierbaren Fundament jeder wettbewerblichen Ordnung.90 Wie diese Regeln für einen Systemwettbewerb im Systemwettbewerb selbst allerdings zu entwickeln sind, welchen Leitlinien sie folgen sollen und, vor allem, wie sie im Einzelnen umgesetzt werden können, bleibt auch in der Ökonomie bislang ungeklärt. Einen eindrücklichen Beleg hierfür liefert etwa Kerber, der angesichts der Notwendigkeit einer Wettbewerbsordnung ein föderales Gebilde anstrebt, der staatlichen Ordnung gleichzeitig aber eine privatrechtliche Natur aufdrängen will, mit der Folge, dass die „Beziehungen zwischen den Jurisdiktionen und ihren Bürgern […] ihren Charakter als Über-/Unterordnungsverhältnis“ verlieren.91 Wolf, Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 309, Berlin: Duncker & Humblot, S. 2006; ferner Kumpmann, Ingmar, Systemwettbewerb und Umverteilung, Frankfurt a.M.: Lang, 2005. 87 Den Weg vom einfachen gleichgewichtstheoretischen Modell hin zu einem evolutorischen Verständnis zeichnen etwa nach Streit, Manfred E./Kiwit, Daniel, Zur Theorie des Systemwettbewerbs, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 13. Ferner etwa Windisch, Modellierung von Systemwettbewerb: Grundlagen, Konzepte, Thesen, in: Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor, Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 121. 88 Grundlegend etwa in: Sinn, Hans-Werner, The Selection Principle and Market Failure in Systems Competition, 66 Journal of Public Economics 1997, S. 247. Mit Bezug auf Europa etwa in: ders., How Much Europe? Subsidiarity, Centralization and Fiscal Competition, 41 Scottish Journal of Political Economy 1994, S. 85. 89 Nachgezeichnet wird diese Strömung etwa von Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 49. 90 Vgl. etwa Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 49 ff., ferner ders., Evolution und spontane Ordnung, in: ders., Die Anmaßung von Wissen, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, S. 102. Zusammenfassung etwa bei Streit, Manfred E., Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung – Zum Gedenken an Friedrich August von Hayek, 43 ORDO 1992, S. 1; Radnitzky, Gerhard, An Economic Theory of the Rise of Civilization and Its Policy Implications: Hayek’s Account Generalized, 38 ORDO 1987, S. 47. Zum Verhältnis des evolutiven Denkens zur Idee vom Recht als einem autopoietischen System kritisch etwa Richter, Wolfgang, Wirtschaft und Recht: Eine Gegenüberstellung der Wettbewerbssystemtheorie und der Theorie des autopoietischen Systems; Hamburg, Universität, Diss., 1990. 91 Kerber, Wolfgang, Zum Problem einer Wettbewerbsordnung für den Systemwettbewerb, in: Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor, Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 199, 225.
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Angesichts solcher Herkulesaufgaben bleibt also für diese Richtung der Wissenschaft noch recht viel zu tun. Neben der weitgehend innenwärts wirkenden, eher die theoretischen Aspekte aufarbeitenden und damit weitgehend introvertierten, nichtsdestotrotz aber ausladenden Diskussion fällt die geringe Zahl empirischer Arbeiten auf. Geradezu sprichwörtlich stellt Straubhaar etwa fest, dass er mit empirischen Untersuchungen offenbar eine Bewegung „von der Theorie zur Empirie“ mache.92 Diese Wahrnehmung spiegelt den Weg der Forschung wider. Die gesamte Diskussion unter Ökonomen um den so genannten Systemwettbewerb beschreibt in der Tat fast ausnahmslos eine Parabel von der Theorie in die ökonomische Normativität und wieder zurück. Die wenigsten Ökonomen fragen demgegenüber, wie offen Volkswirtschaften wirklich sind, wie mobil Produktionsfaktoren zu einem gegebenen Zeitpunkt tatsächlich sind und inwieweit ein wettbewerbliches Verhalten überhaupt festzustellen ist93. An dieser Stelle geht es nicht darum, ob, gegebenenfalls in welchen Feldern und mit welcher Intensität ein solcher Systemwettbewerb tatsächlich nachzuweisen ist. Vielmehr geht es hier allein um die Feststellung, dass die meisten Ökonomen offenbar ihre theoretischen und normativen Überlegungen nicht in der Empirie beginnen, ja meist nicht einmal dort aufhören lassen, sondern allein aus der Überlegung heraus argumentieren, welche Entwicklung die Wirklichkeit der Produktionsfaktoren angesichts einer Öffnung der Staaten nehmen sollte (wenn sie positiv untersuchen: nehmen würde). Ob allerdings diese Offenheit ihrerseits auch wirklich besteht oder ob die tatsächliche Wirklichkeit dem mit der rechtlichen Verpflichtung angestrebten Ziel nicht vielleicht doch hinterherhinkt, bleibt demgegenüber oft unangesprochen. So kommt es, dass viele Ökonomen die theoretischen und normativen Gesichtspunkte des Wettbewerbs weitgehend ohne Rückgriff auf empirische Daten diskutieren. Nur wenige Ökonomen hinterfragen etwa die tatsächliche Wirkmacht von Öffnungsregeln.94 Vielmehr geht man von einer eher diffusen Wahrnehmung aus, etwa der Wahrnehmung einer – auch technologiegetriebenen – allgemeinen Erhöhung des Mobiltätsgrades von Produktionsfaktoren.95 92
Straubhaar, Thomas, Empirische Indikatoren für den Systemwettbewerb – Moderne und historische Befunde, 17 JNPÖ 1998, 243, 247. 93 Vergleiche aber Beiträge wie etwa jenen (durchaus skeptischen) von Pitlik, Hans, Folgt die Steuerpolitik in der EU der Logik des Steuerwettbewerbs?, in: Schäfer, Wolf, Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Berlin: Duncker & Humblot, 2006. Ferner Wegner, Gerhard, Systemwettbewerb als politisches Kommunikations- und Wahlhandlungsproblem, 17 JNPÖ 1998, 280, 304: „Empirische Evidenzen sprechen dafür, dass die nationalen Wirtschaftspolitiken von einem unternehmerischen Handeln noch weit entfernt sind“. 94 Vergleiche aber etwa Winkler, Tobias, Die gegenseitige Anerkennung – Achillesferse des Regulierungswettbewerbs, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 103, mit der unter Juristen verbreiteteren Feststellung, dass die gegenseitige Anerkennung ihren Weg in die Wirklichkeit nur schwierig findet. 95 Kritisch, manchmal auch etwa überzeichnend insoweit Straubhaar, Thomas, Empirische Indikatoren für den Systemwettbewerb – Moderne und historische Befunde, 17 JNPÖ 1998, 243.
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Umfangreiche Werke wie etwa dasjenige von Michael Porter96 mögen in Teilen eine Ausnahme bilden. Auch hier zeigt sich aber, dass auch dieses Werk eher beispielhaft, insbesondere sektorspezifisch vorgeht, so dass allgemeine Lehren nur mit Vorsicht zu ziehen sind, umso mehr, als sich Porter klassischer Analyse verpflichtet und evolutorische Überlegungen daher sehr kurz kommen.97 Trotz der ausgeprägt normativen und theoretischen98 Ausrichtung der Diskussionen ist der Begriff des Systemwettbewerbs, wie ihn die Ökonomen verwenden, aber ein Begriff des Tatsächlichen. Das, worüber die Ökonomen normativ diskutieren, ist begrifflich etwas Faktisches und wird typischerweise auch als solches wahrgenommen, mag es nun ausgeprägt sein oder nicht, vermutet sein oder tatsächlich existierend. Auch wenn nicht abschließend geklärt ist, welche Formen der Wettbewerb annimmt: Methodisch und damit auch begrifflich behandeln die meisten Ökonomen den Wettbewerb ganz klar als einen Teil des Seins. Nicht nur gehen Ökonomen heute davon aus, dass „sich der Systemwettbewerb mehr und mehr als Faktizität herausgebildet“ habe, sondern sogar auch davon, dass er „infolge vielfältiger Globalisierungsformen der Märkte einen offensichtlich irreversiblen Charakter angenommen“ habe.99 Hier kombiniert sich die Tatsächlichkeit des Phänomens, das man mit dem Begriff in Bezug nimmt, mit einem Sozialdeterminismus, der wohl letztlich in einer Skepsis über den Willen und die Fähigkeit des Menschen zu gemeinsamem Handeln wurzelt. Konsequenterweise fragt man nicht mehr nach dem tatsächlichen Ob des Wettbewerbs, sondern ausdrücklich nach den Anforderungen, die dieser Wettbewerb an seine Ordnung stellt. Die damit verbundenen Fragen nach der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs bilden gewissermaßen das wirtschaftswissenschaftliche Pendant zu juristischen Untersuchungen der Möglichkeiten und Ausprägungen von Wettbewerbsordnungen.100 Ob die Konsequenzen wirklich zukunftsweisend sind, mag angesichts eines ausgeprägten Vertrauens in die freiwillige Selbstregulierung101 allerdings zweifelhaft bleiben. Die Tatsächlichkeit, die die Ökonomen dem Begriff des Wettbewerbs zubilligen, hat Tradition. Man denke in diesem Zusammenhang nur etwa an das grundlegende 96 Vgl. etwa Porter, Michael E., The Competitive Advantage of Nations, 2. Aufl., London: MacMillan, 1998. 97 Ähnlich Garelli, Stéphane, Competitivenes of Nations: The Fundamentals, gefunden unter http://www02.imd.ch/wcy/fundamentals/. 98 Zu den theoretischen Grundlagen jüngst umfassend Murphy, Dale D., The Structure of Regulatory Competition; Corporations and Public Policies in a Global Economy, Oxford: Oxford University Press, 2004. 99 Wegner, Gerhard, Nationalstaatliche Institutionen im Wettbewerb – Wie funktionsfähig ist der Systemwettbewerb?, Berlin: De Gruyter, 2004, S. 5. Ähnlich ders., Systemwettbewerb als politisches Kommunikations- und Wahlhandlungsproblem, 17 JNPÖ 1998, S. 280, 281. 100 Mehde, Veit, Wettbewerb zwischen Staaten, Baden-Baden: Nomos, 2005. 101 Wegner etwa prognostiziert: „An die Stelle hoheitlicher Fremdregulierung tritt die freiwillig vereinbarte Selbstregulierung, während wettbewerbliche Kontrolle politische Aufsicht ersetzt“, vgl. Wegner, Gerhard, Nationalstaatliche Institutionen im Wettbewerb – Wie funktionsfähig ist der Systemwettbewerb?, Berlin: De Gruyter, 2004, S. 59.
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Werk zum institutionellen Wandel von Douglas North102 und die mittlerweile um seine Überlegungen herum entstandene neue Institutionenökonomik103. Auch die benachbarten Überlegungen legen mit ähnlichen Zielsetzungen einen Tatsächlichkeitsbegriff zu Grunde, wenn auch mit teils unterschiedlichen methodischen Ansätzen, wie etwa die so genannte Neue Politische Ökonomie104, die so genannte Public Choice-Schule105 oder auch die im Ansatz wohl etwas engere, insbesondere auf das Verhältnis von Ökonomie und Verfassungsrecht zielende so genannte „Constitutional Economics“-Denkrichtung.106 In all diesen Richtungen107 leuchtet die Tatsächlichkeit des Wettbewerbs durch, harrt aber freilich der empirischen Unterlegung. So kommt es, dass man das Interesse der Wettbewerber meist unterstellt, selten aber – etwa nach den Methoden der empirischen Sozialforschung – wirklich thematisiert.108
102 North, Douglas C., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge: Cambridge University Press, 1990. Eine völlig andere Perspektive, die auf die Bedeutung von Patronage durch Politiker und Beamte hinweist, findet sich etwa bei Acemoglu, Daron/Ticchi, Davide/Vindigni, Andrea, Emergence and Persistence of Innefficient States, gefunden am 4. Juni 2007 unter www.iue.it/MaxWeberProgramme/Conference_Constitu tions&Markets.shtml. 103 Einführend etwa Richter, Rudolf/Furubotn, Erik, Neue Institutionenökonomik, Eine Einführung und kritische Würdigung, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 2003. 104 Einführend etwa Bernholz, Peter/Breyer, Friedrich, Grundlagen der Politischen Ökonomie, Bd. 2: Ökonomische Theorie der Politik, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1994. 105 Einführend etwa Mueller, Dennis C., Public Choice III, 3. Aufl. Cambridge: CUP, 2003. 106 Kurze Zusammenfassung bei Buchanan, James M., Constitutional Economics, in: The New Palgrave, London: MacMillan, 1987, S. 585. Grundlegend Buchanan, James M./Tullock, Gordon, The Calculus of Consent, Legal Foundations of Constitutional Democracy, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1965; Buchanan, James M., The Limits of Liberty, Chicago: UC Press, 1974; Buchanan, James M., Liberty, Market and State. Brighton: Harvester, 1986. Ferner etwa Brennan, Geoffrey/Buchanan, James M., Die Begründung von Regeln, Konstitutionelle Politische Ökonomie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1993. Speziell zum Sozialstaat etwa Buchanan, James M., The Political Economy of the Welfare State, Stockholm: Almqvist and Wiksell International, 1988. Zum Verhältnis der eher konstruktivistischen Constitutional Economics Schule zu dem Hayekschen evolutiven Denken etwa Vanberg, Viktor, Liberaler Evolutionismus oder vertragstheoretischer Konstitutionalismus? Zum Problem institutioneller Reformen bei F.A. von Hayek und J.M. Buchanan, Tübingen: Mohr Siebeck, 1981; ferner Pies, Ingo, Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – Der Beitrag James Buchanans, in: ders./Leschke (Hrsg.), James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, S. 1. 107 Die verschiedenen Ansätze nebeneinanderstellend etwa Hauwe, Ludwig Van den, Public Choice, Constitutional Political Economy and Law and Economics, in: Encyclopedia of Law and Economics, unter: www.law-chicago.edu; Pies, Ingo, Public Choice versus Constitutional Economics: A Methodological Interpretation of the Buchanan Research Program, 7 Constitutional Political Economy 1996, S. 21. 108 Ansätze finden sich bereits bei Tiebout, Charles M., A Pure Theory of Local Expenditures, 64 Journal of Political Economy 1956, S. 416.
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b) Begrenzte Anschlussfähigkeit der ökonomischen Begriffsbildung an die verfassungsrechtliche Wissenschaft Angesichts der Tatsächlichkeit, die die Ökonomen dem von ihnen verwendeten Begriff des Wettbewerbs zumessen, drängt sich die Frage nach der Anschlussfähigkeit des Begriffs der Ökonomen an das Verfassungsrecht, gewissermaßen in die verfassungsrechtliche Diskussion hinein, geradezu auf. Ein Anschluss würde die Staatsrechtslehre – gerade aus Gründen der beschriebenen Normativierungstendenzen – durchaus bereichern; und bereits die Ökonomen selber beanspruchen ja auch schon den Weg in diese Richtung: Ein wichtiges Anliegen dieser verschiedenen ökonomischen Ansätze ist die Überschreitung der Disziplingrenzen und im weitesten Sinne die Wiedergewinnung der Einheit der Wissenschaften. Dass man sich unter Ökonomen diesem Ziel allgemein mit viel Engagement verschreibt, zeigt sich nicht nur in der großen Produktivität von eigens zu diesem Zweck eingerichteten Schriftenreihen109, sondern auch in den Bemühungen um die Analyse des Prozesses der Überschreitung gewachsener Disziplingrenzen, also sozusagen des „Grenzüberschreitungsprozesses“ selber.110 Dieser Wille zur Interdisziplinarität, der der Ökonomie durchaus kritisch vorgehalten wird, etwa als unerwünschte Expansion ökonomischen Denkens und einer damit einhergehenden „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“111, lässt trotz aller Kritik zunächst erfolgversprechende Ansätze für die hier aufgeworfenen Fragen erwarten. Denn in der Tat argumentiert man in allen diesen Strömungen in erster Linie normativ über das faktische Phänomen des Wettbewerbs, verknüpft also die Faktizität des Gegenstandes der Überlegung mit einer normativen Perspektive, und ist gerade dadurch in der Lage, die sich dahinter verbergenden Interessenskonstellationen wie auch die staatlichen Reaktionsmöglichkeiten in den Blick zu bekommen.
109 Vgl. etwa die schon seit Jahren erscheinende Schriftenreihe bei Mohr Siebeck zur so genannten Einheit der Gesellschaftswissenschaften mit so grundlegenden Beiträgen wie etwa demjenigen, mit dem Horst Eidenmüller seinerzeit die Autonomie des Rechts gegenüber Versuchen zur Etablierung eines volkswirtschaftlich begründeten Effizienzziels detailliert nachgewiesen hat, Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995; in eine ähnliche Richtung etwa schon Dworkin, Ronald, Why efficiency, in: ders., A Matter of Principle, Oxford: Clarendon, 1986, S. 267. Grundlegend ferner etwa Vanberg, Viktor, Markt und Organisation, Individualistische Sozialtheorie und das Problem korporativen Handelns, Tübingen: Mohr Siebeck, 1982. 110 Vgl. überblicksartig dazu etwa die Beiträge in dem Sammelband von Boettcher, Erik/ Herder-Dorneich, Philipp/Schenk, Karl-Ernst, Interdisziplinarität – Voraussetzungen und Notwendigkeiten, in: 7 Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 1988. 111 Beispielhaft etwa die Beiträge in Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Die Kritik an der Ökonomisierung des Sozialen ist auch in der Tagespresse angekommen, vgl. mit Hinweis auf den Eigenwert rechtlicher Dogmatik gegenüber einem „Diktat des Ökonomischen“ auch in der Wissenschaftsförderung zum Beispiel Hoeren, Thomas, Vom faulen Holze lebend, in: FAZ vom 30. Juli 2009, S. 6.
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Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass diese Art des normativen, naturgemäß dem so genannten methodologischen Individualismus112 folgenden Diskurses über das faktische Phänomen des Wettbewerbs – ähnlich wie auch sonst die Programme der so genannten normativen Ökonomie – seiner Natur nach etwas ganz anderes ist als die im vorliegenden Zusammenhang gesuchten Untersuchungen zur Aufbereitung von wettbewerblicher Faktizität und verfassungsrechtlicher Geltung.113 Denn es ist ein Unterschied, ob jemand seine normative Argumentation an bestimmten vorab gesetzten Zielen orientiert, in diesem Fall etwa dem normativökonomisch definierten Ziel der volkswirtschaftlichen Effizienz, oder ob er sie in dem Gegenstand verankert, nämlich einer normativen Ordnung, hier also einer (verfassungs)rechtlichen Ordnung. So nimmt die ökonomische Diskussion die ganze Komplexität, in der Staat und Verfassung stehen, offenbar nur beiläufig wahr. Die dadurch entstehende Komplexitätsreduzierung ist kein Zufall, sondern eben gerade erst Ausdruck des spezifisch begrenzten normativen Ansatzes, den man verfolgt. Stefan Oeter etwa spricht – wohl nicht ganz zu Unrecht – insoweit sogar von einer „etwas merkwürdigen Vogelschauperspektive, in der die meisten Fragen, die die Integrationsforschung und die Verfassungsdebatte quälen, nahezu völlig aus dem Blick geraten zugunsten einer etwas einseitigen Zurichtung der Funktionsgesetzlichkeiten des Verbundsystems auf einen Wettbewerb der staatlichen Gebietskörperschaften.“114 Darin, so Oeter weiter, stecke „eine interessante Perspektive, die für bestimmte Problemkreise neue Aufschlüsse bringt – mehr aber nicht.“115 In staatsrechtlicher Perspektive, die ja letztlich staatliches Herrschen im Blick hat, erscheint es ein bisschen einfach, den Staat und sein Recht zunächst auf die Rolle eines Wettbewerbers zu reduzieren, sodann auszuarbeiten, wie er sich – in einem unterstellten Gegenseitigkeitsverhältnis von Anbieter und Nachfrager – sinnvollerweise zu verhalten hat, um sich attraktiv zu machen, und abschließend festzustellen, in welchen Bereichen ihm dies gelungen – oder eben nicht gelungen – ist. Dem Phänomen von Staatlichkeit – einem Herrschaftsphänomen – wird ein solcher Ansatz gewissermaßen verengender Normativität nicht gerecht. Vielmehr bedarf es eines spezifischen normativen Geltungsdiskurses, manche würden sagen, eines juristischen Diskurses, der das Schicksal der normativen Ordnung im Wettbewerb selbst zum Gegenstand macht, und bereits hierdurch normativ wird. Das spezifisch Normative an diesem Diskurs ist nicht, dass er sich – wie in der normativen 112 Einführend zum methodischen Individualismus, insbesondere auch zum Gegensatz zum methodischen Kollektivismus, etwa Vanberg, Viktor, Die zwei Soziologien, Tübingen: Mohr Siebeck, 1975. 113 Man kann dem entgegenhalten, dass es sich eben (lediglich) um ein normatives Programm handele. Dieser Einwand mag in der Sache auch richtig sein, stärkt aber nicht die Aussagekraft dieses Ansatzes für die hier interessierenden Fragen. 114 Vgl. Oeter, Stefan, Föderalismus, in: Bogdandy, Armin von, Europäisches Verfassungsrecht; Theoretische und dogmatische Grundzüge, Berlin u. a.: Springer, 2003, S. 59 (61 f.). 115 Ibid.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
Ökonomie – bestimmten vorab festgelegten Zielen verpflichtet, sondern dass er in der Normativität der rechtlichen Ordnung selbst ansetzt, also in ihrem Ziel der Einhegung von Herrschaft. Darin unterscheidet sich der hier gesuchte Ansatz von den erwähnten Strömungen der neueren politischen Ökonomie. Letztere erschöpfen sich in ihrem Normativsein (bei allen weiteren Unterschieden zum hier gesuchten Ansatz) demgegenüber darin, dass sie ein festgelegtes Ziel verfolgen, namentlich das der volkswirtschaftlichen Effizienz, und den Gegenstand (die Ordnung) auf dieses Ziel hin untersuchen. Dies ist nicht verwerflich. Im Gegenteil, es erschließt eine ganze Reihe wertvoller normativer wie analytischer Erkenntnisse.116 Sie dürfen aber nicht vergessen lassen, dass die hier aufgeworfenen Fragen über diese insoweit verengende Normativität hinausgehen. Das Recht behauptet nicht ohne Grund seinen Selbststand gegenüber der Ökonomie. Besonders deutlich zeigt sich die große Ferne zum Staats- und Verfassungsrecht, aber auch zur klassischen Staatslehre, in der Aufgabenstellung, die viele Ökonomen ihrer weiteren Forschungsarbeit vorgeben, nämlich der Hinwendung zum so genannten politischen Wettbewerb im Staat. Sie ist aus der Bildung und Verwendung des Begriffs des Systemwettbewerbs abgeleitet, gewissermaßen seine notwendige Konsequenz. Exemplarisch führen etwa Streit und Kiwit diesen Weg von ihrem Begriff des Systemwettbewerbs zu den weiteren Forschungsaufgaben vor, indem sie den Systemwettbewerb zunächst als ein Zusammenwirken von Individualwettbewerb und politischem Wettbewerb erfassen117 und im Anschluss – auch angesichts der bereits erreichten theoretischen Durchdringung des individualwettbewerblichen Begriffs des Wettbewerbs – über Umwege zu der Schlussfolgerung gelangen, dass vor allem der politische Wettbewerb im Staat die Forschungsagenden der künftigen Jahre bestimmen sollte.118 Von tragender Bedeutung ist dabei das Argument, dass „politische Akteure sich dem Systemwettbewerb entweder durch Einschränkungen der Abwanderungsfreiheit oder durch eine Harmonisierungslösung auf überstaatlicher Ebene […] entziehen könnten“119. Die begriffliche Verknüpfung des Individualwettbewerbs mit dem so genannten politischen Wettbewerb durchzieht weite Teile der neueren ökonomischen Literatur zum Systemwettbewerb, insbesondere etwa den so genannten Public Choice-Ansatz.120 Ihre große Stärke liegt sicherlich 116 Ein typisches Beispiel hierfür findet sich in dem Gutachten der Monopolkommission aus dem Jahr 1998: Monopolkommission, Systemwettbewerb, Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 24b Abs. 5 Satz 4 GWB, Baden-Baden: Nomos, 1998. 117 Streit, Manfred E./Kiwit Daniel, Zur Theorie des Systemwettbewerbs, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000, S.13. 118 Ibid, S. 44. 119 Ibid. 120 Überblick etwa bei Windisch, Modellierung von Systemwettbewerb: Grundlagen, Konzepte, Thesen, in: Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor, Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 121. Zur Public Choice-Perspektive speziell etwa Weck-Hannemann, Hannelore, Globalisierung: Herausforderung oder Anwendungsfall der Neuen Politi-
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darin, dass sie den Systemwettbewerb schon begrifflich an den Individualwettbewerb knüpft. Denn ohne Einbeziehung des grenzüberschreitenden Individualwettbewerbs muss jeder Begriff des Systemwettbewerbs notwendig substanzlos, blass und ohne Realitätsbezug bleiben. Der Systemwettbewerb ist nur auf der Grundlage eines funktionierenden grenzüberschreitenden Individualwettbewerbs denkbar. Methodischen Bedenken begegnet aus der Sicht der Verfassungsrechtslehre aber die Verknüpfung zum politischen Wettbewerb. Hier wird der Politiker für den Staat genommen; das politische Handeln des Einzelnen als das politische Handeln des Staates. Damit aber wird man der institutionellen Dimension der modernen Staatlichkeit nicht gerecht. Methodischen Zweifeln begegnet es vor allem, wenn, wie es unter Ökonomen offenbar gängige Praxis ist, mit dieser Hinwendung zum politischen Wettbewerb im Staat eine Abwendung von der Institution des Staates verbunden ist, sozusagen von seiner institutionellen und damit auch begrifflichen Eigenwilligkeit. Es mag ja sein, dass die Wirkungsbedingungen des politischen Wettbewerbs im Staat ein wichtiges Thema für die Ökonomie bilden und auch für das Wesen und die Wirkung des Systemwettbewerbs von Bedeutung sind.121 Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass der Staat selber Institution ist. Er ist – jenseits der Unterscheidung zwischen Abstraktion und Fiktion122 – als Institution eine reale Erscheinung, die sich in ihrer Existenz gerade von dem Zusammenwirken einzelner Politiker abhebt. Insofern ist er nicht nur mehr, sondern vor allem auch Anderes als das mit- und gegeneinander gerichtete Wirken einzelner Politiker. Schon Jellinek hat mit seiner Staatslehre gegen solche Atomisierungsversuche, also Versuche der wissenschaftlichen Zäsilierung des Staates in die Handlungen und Willen Einzelner (in diesem Fall einzelner Politiker) geschrieben: Nach ihm ist der Staat eine Zweckeinheit, eine Einheit, die sich eben gerade nicht auf das Mit- und Gegeneinander Einzelner reduzieren lässt, sondern gerade in ihrem Telos ihre Wirklichkeit findet.123 Es ist gerade diese Verbandslehre, die dem (herrschaftlichen) Zweckverband seine nicht nur beschen Ökonomie, in: Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor, Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck, S. 84. Beispiele ferner etwa bei Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 49, 52. Historisch im Zusammenhang der Staatsbildung gerade in Referenz auf das individuelle Privileg nachzeichnend etwa Volckart, Oliver, Systemwettbewerb als historisches Phänomen: Das Beispiel Deutschlands vom 10. bis 18. Jahrhundert, in: Streit, Manfred E./ Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, BadenBaden: Nomos, 2000, S. 181. 121 In diese Richtung etwa auch Vanberg in ORDO (in der Diskussion mit Kirchhof, vgl. dazu schon oben A.II.1.). 122 Grundlegend zum Unterschied zwischen Abstraktion und Fiktion Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1919, Scientia Verlag Aalen, 1979, S. 17. 123 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Berlin: Springer, 3. Aufl. 1922, S. 178, 179 (vorbereitend vor allem S. 158 ff.).
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griffliche, sondern auch phänomenologische Einheit begründet und gerade hierdurch gegen derartige Atomisierungsprogramme wie etwa diese Hinwendung zum politischen Wettbewerb immun macht. Denn in der Tat sind die – wie sich im Folgenden zeigt: begriffskonstituierenden – staatlichen Interessen im Wettbewerb eben tatsächlich staatliche Interessen, nicht nur Interessen einzelner Politiker, die – je nach staatlicher Ordnung – mehr oder weniger intensiv im Wettbewerb zueinander stehen. Dies zeigt sich schon ganz praktisch, wenn man nur die Herausforderungen betrachtet, vor denen der Staat aktuell steht: Die Staatsverschuldung abzubauen etwa ist ein Interesse des Staates: Die Politiker mögen hier unterschiedliche Interessen haben; das Interesse selbst bleibt aber ein staatliches, so wie auch die Verschuldung selbst eine staatliche ist. Schon die moralische Verpflichtung hat zum Adressaten die Institution, nicht den Politiker. Dem entspricht es, dass das Interesse über den Wechsel handelnder Politiker hinweg typischerweise weiter fort besteht. Es mag sein, dass sich ein Politiker ein staatliches Interesse zu eigen macht. Daraus folgt naturgemäß aber nicht, dass sich das Interesse „entinstitutionalisiert“. Auch das Einnahmeinteresse ist naturgemäß ein staatliches, nicht (allein) ein solches von Politikern. Zur näheren Verdeutlichung des Institutionellen des Staates sei an dieser Stelle lediglich auf die Staatssoziologie Hellers verwiesen, der, für die damalige Zeit ausgesprochen differenziert nachweist, warum die staatliche Einheit – gerade auch als Zweckeinheit – von den beteiligten Personen unabhängig ist. Fehlender Einheitswille wird im Staat danach durch (organisierte und durchgesetzte) Einheitssicherung ersetzt.124 Es ist eine der großen Leistungen der Staatslehre der zwanziger Jahre, damit plausibel erklärt zu haben, warum der Staat über den Wechsel von Personen hinaus – als Staat – eigenständig fortexistiert. Gerade für das Phänomen des Massenstaates, in dem sich die Unterworfenen weder gegenseitig kennen noch kennen müssen, braucht es seither keiner Rückgriffe mehr auf die Fiktion etwa eines Vertrages. Jellinek hat bereits den fiktiven Charakter des Staates ausgeschlossen, es fehlte aber noch der Schlüssel, wie denn dieser Zweck über die Masse der Unterworfenen hinweg den Schlüssel zur Einheit des Staates haben konnte. Spätestens seit Heller gibt es nun diesen Schlüssel. Man sollte ihn nicht ungenutzt lassen und den Umweg von Atomisierungen gehen, wie es die These vom politischen Wettbewerb offenbar anstrebt. Vielmehr sollte man versuchen, die Rolle des Staates als (organisierter) Institution in diesem Wettbewerbsphänomen hervorzuheben. Hier scheint nicht die von manchen angestrebte „Privatrechtsgesellschaft“ zwischen Jurisdiktionen und Jurisdiktionswählern der richtige Weg zu sein, auch nicht die Wirkungsbedingungen, nach denen der politische Wettbewerb im Staat stattfindet, sondern das institutionalisierte Organisiertsein des Staates selber.125 124 Heller, Hermann, Staatslehre, bearb. von Gerhart Niemeyer, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, S. 94 ff., vor allem bei S. 108. 125 Zur Rolle der politischen Integration im Wettbewerb dabei etwa Brou, Daniel/Ruta Michele, Political (dis)integration, rent seeking and growth, gefunden am 4. Juni 2007 unter www.iue.it/MaxWeberProgramme/Conference_Constitutions&Markets.shtml.
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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Wenn die Ökonomen den Begriff des Systemwettbewerbs oder des institutionellen Wettbewerbs benutzen, sollten sie die mit dieser Begriffsverwendung in Bezug genommene Aussicht auf das Institutionalisierte daher durchaus ernst nehmen. Erst wenn sich der Blick von dem Handeln der Politiker im Staat, das sicherlich auch die ihm zukommende Rolle spielt, auf den Staat selber lenkt, also auf die Institution als Wettbewerber, wird die Ökonomie ihrerseits in der angestrebten Weise anschlussfähig. Hieran fehlt es bis heute. Für den staats- und verfassungsrechtlichen Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten kann sie – insbesondere was die Faktizität der je zu Grunde liegenden Interessen angeht – interessante Ansätze beisteuern.126 Sie kann diesen Begriff jedoch nicht selber vollständig liefern. Hierfür bedarf es vielmehr eigener Überlegung, in deren Mittelpunkt das staatliche Interesse und die staatliche Offenheit als Phänomene von Herrschaft stehen, die das Wirken Einzelner (Politiker und anderer) im Staat gerade überdauern. 3. Faktive Aufladung des Begriffs des Wettbewerbs: Das staatliche Interesse am mobilen und wertschöpfungsträchtigen Faktor als eigenständiger Pfeiler der Begriffsbildung So anregend die Erörterungen dieser neuen Ansätze der Ökonomie auch sein mögen, so sehr bleiben sie also hinter der hier aufgeworfenen Frage zurück: Der Frage nämlich, was eine Wettbewerbereigenschaft für den Staat, insbesondere den Verfassungsstaat und die normative Kraft und Fortexistenz seiner Verfassung127, im eigentlichen Sinne überhaupt bedeutet. Hier, im spannungsreichen Verhältnis von verfasster Hoheit und Markt, fängt die Grundlagenarbeit erst an. In der neueren normativen Ökonomie widmet man sich der Frage, wie man das Verfassungsrecht in der Wettbewerbssituation fortbilden sollte, aber nur in einer normativ verengten Perspektive. Die Grundfragen nach der Staatlichkeit im Wettbewerb mit allen ihren Folgefragen für die Freiheit und die Gleichheit im Verfassungsstaat bleiben auf diese Weise, obgleich man es auf den ersten Blick eigentlich anders erwartet, weitgehend außen vor. Dennoch kann man aus der ökonomischen Betrachtung des Phänomens einiges für den staats- und verfassungsrechtlichen Begriff, wie er hier zu bilden und zu verwenden ist, lernen. Dazu gehört vor allem sein Bezug auf den Faktor. In einer ersten Näherung geht es den Staaten offenbar in der Tat – jedenfalls auch – um die 126
Dies gilt insbesondere für die oben festgestellte Tatsächlichkeit des Begriffs, von der die Ökonomie trotz ihrer ausgeprägt normativen Tendenz ausgeht. 127 Man muss diese Frage nicht notwendig auf das nationale Verfassungsrecht begrenzen. Man kann sie etwa auch europarechtlich stellen. Und in der Tat spielt auch die normative Kraft des Europarechts hier durchaus seine Rolle (zum Begriff etwa Oppermann, Thomas, Zur normativen Kraft des Europarechts in einer sich erweiternden „Groß-EU“, JZ 2005, S. 1017). Mit einer Präjudizierung dessen, was die Europäische Union jenseits des Staates ist, muss diese Fragestellung aber freilich nicht einhergehen (zu dieser Frage zusammenfassend etwa Wahl, Rainer, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 2005, S. 916).
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
Herstellung eines engen Bezuges der Produktivmachung solcher Produktionsfaktoren gerade zu dem eigenen Staat, seinem Territorium, seiner Bevölkerung, seinen Einnahmen. Die Standortfestigkeit von Unternehmen ist hier ein wichtiges Stichwort; die Erhaltung der Systemkompetenz ein weiteres; die Schaffung von Arbeitsplätzen und Erträge aus Steuern schließen sich unmittelbar an. Man wird dem offenen Staat in seiner Interessengeleitetheit daher nicht gerecht, wenn man ihn, wie die Staats- und Verfassungsrechtslehre, unter weitgehender Ausblendung staatlicher Interessen als bloße Friedenseinheit betrachtet. Die Rechtslehre behauptet zwar nicht, dass es diese Interessen nicht gäbe. Sie schließt sie in ihre Wahrnehmung aber nicht mit ein. Diese Herangehensweise reicht für ein angemessenes Verständnis des Wettbewerbs nicht aus. Vielmehr muss auch die Rechtslehre die – durchaus eigenen – staatlichen Interessen mit berücksichtigen. Denn gerade in der Situation der Offenheit kommt es für ein Verständnis des Staates maßgeblich auf diese Interessen an, wenn man nicht nur das staatliche Handeln in der Offenheit selbst (etwa die Effizienz dieses Handelns), sondern auch seine normative Einhegung (insbesondere die Kraft und Gehalte des Verfassungsrechts) verstehen will. Dabei kann sich ein interessensbasiertes Verständnis moderner Staatlichkeit durchaus auf dem Boden der bisherigen Staatsrechtslehre bewegen. Wenn man mit Jellinek im Staat einen Zweckverband sieht, der eine Zweckeinheit bildet, dann ist man vom Interesse sogar eigentlich gar nicht mehr so weit weg. Denn Zwecke, auch die den Staat tragenden Zwecke, sind mit Interessen eng verknüpft, wie sich im Folgenden zeigen wird. Man mag daher fast so weit gehen, dass, wer die Interessen des Staates aus der Betrachtung ausblendet, zum Wesenskern des staatlichen Zwecks gegebenenfalls nicht vorzudringen in der Lage ist, damit aber auch den Wettbewerb zwischen Staaten nicht verstehen kann. Es bedarf aus diesem Grund weiterer Überlegungen über die diesem Phänomen zu Grunde liegenden Interessen. Es geht dabei – nicht zuletzt in Auseinandersetzung und Abwehr von Versuchen, das Phänomen hinweg zu definieren – auch um die Antwort auf die Frage, ob ein faktoroffener Staat überhaupt vom Wettbewerb frei stehen kann, wie es etwa Kirchhof fordert. Gerade der interessensbasierte Wettbewerbsbegriff legt offen, dass nicht nur das Phänomen des Wettbewerbs selbst, sondern sogar schon die Bewertung der wettbewerblichen Prozesse und Prozessergebnisse ihrerseits im Interesse des Wettbewerbers wurzeln. Denn schon den Erfolg – oder Misserfolg – eines Wettbewerbers misst man typischerweise an seinem Interesse als Wettbewerber. Insoweit ist das wettbewerbliche Interesse nicht nur wettbewerbsgenerierend; nur es allein ermöglicht auch die Bewertung des wettbewerblichen Prozessergebnisses. Das wettbewerbliche Interesse des Staates am Faktor soll daher nicht zuletzt auch wegen dieser normativen Dimension hier näher betrachtet werden. Die folgenden Ausführungen sollen daher das Interesse des Staates an mobilen Produktionsfaktoren im Einzelnen betrachten. Sie sollen dabei von der ursprünglichen Bedeutung der beiden Einzelteile des Wortes ausgehen. Inter-esse heißt wörtlich übersetzt „Zwischen-Sein“. Gängige Lexika beschreiben dieses „Zwischen-
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Sein“ als Nutzen, Vorteil oder Gewinn128, also gewissermaßen als ein „DazwischenSein“. Umgangssprachlich kann man dies als ein „Seine-Finger-DazwischenHaben“ umschreiben. Dieses Verständnis hat auch in der Rechtswissenschaft schon vor längerer Zeit seinen Niederschlag gefunden, wie nicht nur die Verwendung des Begriffs Interesse im bürgerlichen Recht zeigt129, sondern etwa auch die begrifflichen Überlegungen der Interessenjurisprudenz130 zeigen. Dabei geht es an dieser Stelle allerdings noch nicht um die positive Feststellung konkreter staatlicher Interessen im Einzelnen, also um das, was man in der so genannten Interessensjurisprudenz um den Tübinger Rechtslehrer Heck und andere – Interessenforschung genannt hat.131 Vielmehr geht es hier zunächst allein um die begriffliche Erfassung des wettbewerbstreibenden staatlichen Interesses, also zunächst die Trägerschaft des Interesses im Staat, nicht in der Gesellschaft (B.II.3.a)), und den Gegenstand des Interesses gehen, nämlich mobile Produktionsfaktoren (B.II.3.b)). Erst im Anschluss hieran können Überlegungen über den näheren Grund der staatlichen Interessen am Faktor zur Sprache kommen, insbesondere in dem Bezugsfeld von Wachstum und Steuereinnahmen, in dem Staat und mobiler Faktor stehen (B.II.3.c)). a) Der Träger des Interesses: Der Staat, nicht die Gesellschaft Träger des hier relevanten Interesses ist also der Staat, nicht seine Gesellschaft. In seiner Eigenschaft als Seinsphänomen ist der Staat naturgemäß zwar der Staat seiner Gesellschaft132, ist der Staat mit Heller doch gesellschaftlich bewirkt.133 Selbst jene, die den Staat auch heute noch darüber hinaus in einer eigenen Sittlichkeit verankern
128 Zum Beispiel Brockhaus, Enzyklopädie, 19. Aufl., 10. Band (HERR – IS), 1989, Stichwort Interesse. Ähnlich etwa The New Enyclopaedia Britannica, volume 6, 15th edition, 1988, Stichwort „interest“. 129 Vgl. dazu etwa Hanau, Peter/Wackerbarth, Ulrich, Positives und negatives Interesse, in: Leser, Hans G. u. a., Arbeitsrecht und Zivilrecht in Entwicklung, FS Kim, Berlin: Duncker & Humblot, 1995, S. 205. 130 Philipp Heck etwa verstand unter Interessen vor allem „Begehrungen und Begehrungstendenzen“ (materiell wie ideal), vgl. Heck, Philipp, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S. 11. Abgesehen vom Begriff des Interesses kann man der Interessensjurisprudenz freilich mit guten Gründen kritisch gegenüberstehen. Kritische Auseinandersetzung etwa bei Kallfaß, Wilfried, Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1972; ferner Petersen, Jens, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001. 131 Sie setzt nicht zuletzt die Betrachtung bestimmter Staaten und bestimmter Situationen voraus, vgl. etwa Heck, Philipp, Das Problem der Rechtsgewinnung, redigiert von Roland Dubischar, Bad Homburg v.d. Höhe: Gehlen, 1968, S. 36 f. 132 Etwa Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. XV. 133 Heller, Hermann, Staatslehre, bearb. von Gerhart Niemeyer, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, S. 141 ff.; zu den Wirkungsbedingungen selbst S. 82 ff.
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wollen, sprechen vom (gesellschaftlichen) „Um-willen“ des Staates.134 Insofern liegt auf den ersten Blick die These nahe, dass auch hier die Interessen der den Staat tragenden Gesellschaft im Vordergrund stehen, nicht diejenigen des Staates, als ginge es nicht um originäre Interessen des Staates, sondern um solche der Gesellschaft.135 Und in der aktuellen Diskussion ist ja auch häufig die Rede davon, dass vor allem „Standorte“, nicht Staaten, zueinander im Wettbewerb träten136. Wollte man dieser Auffassung folgen, so ständen in der Tat vor allem die – wenn auch staatstragenden – Gesellschaften zueinander im Wettbewerb, denn in der Tat gehört zu einem Standort, was auch immer man darunter im Einzelnen verstehen mag, sicherlich jedenfalls auch die Gesellschaft dieses Standortes. Die These, dass Gesellschaften miteinander im Wettbewerb stehen, ist allerdings entweder aussage- oder haltlos. Aussagelos ist diese These dann, wenn man ihr einen normativ weitestgehend entladenen Begriff der Gesellschaft zu Grunde legt, „Gesellschaft“ in diesem Zusammenhang also lediglich als Ansammlung oder auch als bloße „Gruppe“ versteht. Im Unterschied zum Staat wäre Gesellschaft danach lediglich die Gruppe der Herrschaftsunterworfenen137, vergleichbar etwa der Gruppe einer Hochzeitsgesellschaft oder einer Partygesellschaft, nicht weniger, aber auch nicht mehr, nur eben mit dem Unterschied, dass hier die gemeinsame Herrschaftsunterworfenheit das identifizierende Merkmal ist, nicht die Teilnahme an einer Hochzeit oder an einer Party. Der Wettbewerb zwischen Gesellschaften wäre damit ein Wettbewerb zwischen Gruppen von Herrschaftsunterworfenen. Es ist schwer vorzustellen, dass ein solches Verständnis dem Wettbewerb, um den es hier geht, näherzukommen in der Lage ist. Denn schon das Verständnis von Gesellschaft als bloßer Gruppe Einzelner lässt keinen Raum für Funktionen zu, die nicht schon im Hinblick auf die Einzelnen selbst bestehen. Die Interessen der Gruppe Gesellschaft sind daher nicht mehr als die Aggregation der Interessen der zu dieser Gruppe gehörenden Einzelnen. Selbst der Verweis des Begriffs Gesellschaft auf ein spezifisch „Soziales“ im Menschen, also auf die Fähigkeit – und Bedürftigkeit – zur menschlichen Bindung, setzt nicht in einem wie auch immer definierten eigen134 Repräsentatives Beispiel etwa bei Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin: Duncker & Humblot, 1978, S. 18 ff. 135 Diese These würde noch nicht die Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft in einem größere Ganzen bedeuten, wie sie in den sechziger Jahren insbesondere Horst Ehmke in verfassungstheoretischer Perspektive diskutiert hat, vgl. dazu Ehmke, Horst, „Staat“ und „Gesellschaft“ als verfassungstheoretisches Problem, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 241. 136 Etwa Ackermann, Michael (Hrsg.), Standortwettbewerb, wirtschaftspolitische Rationalität und internationale Ordnungspolitik, Baden-Baden: Nomos, 1999. 137 In diese Richtung insbesondere Isensee, Josef, Der Dualismus von Staat und Gesellschaft, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 317 (328 f.): „Die ,Gesellschaft‘ tritt ihm [dem Staat, JLD] nicht als ein geschlossener Verband oder als selbständiges Rechtssubjekt gegenüber, sondern als der Inbegriff aller Grundrechtsträger, die den Herrschaftsinstitutionen unterworfen sind“.
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ständigen „Zwischenmenschlichen“ an, sondern in den Einzelnen selbst, in ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten. Eine wirklich eigenständige Konnotation erfährt der Gesellschaftsbegriff in diesem entladenen Verständnis also nicht. Man kann den Begriff der Gesellschaft demgegenüber naturgemäß auch aufladen, entweder normativ, wie es etwa das Gesellschaftsrecht für Personen- oder Kapitalgesellschaften vorschreibt (normative Aufladung durch Zuerkennung von Rechtspersönlichkeit), oder faktisch, wie es etwa die verschiedenen Organismustheorien betreiben, die der Gesellschaft eine Art Eigenleben zuschreiben, das von jenem ihrer Mitglieder unabhängig ist.138 In dieser – normativen, faktischen oder gar normativ-faktischen – Aufladung erhält der Gesellschaftsbegriff zwar eine inhaltliche Eigenständigkeit, wird am Ende aber haltlos, da er auf Grundlagen beruht, die in der Welt der Einzelnen, wie sie eben ist, keine Entsprechung finden. Das Problem der Staatsrechtslehre ist in diesem Zusammenhang, dass sie sich in genau diese Halt- oder Aussagelosigkeit hineinbegibt, wenn sie keine genaue Vorstellung über ihr eigenes Verständnis vorweisen kann. Man benutzt zwar gerne den Gesellschaftsbegriff als Gegenbegriff zum Staatsbegriff, legt dabei das Maß der damit verbundenen Aufladung bei der Begriffsbildung typischerweise aber nicht offen. Geradezu paradigmatisch wirken in diesem Zusammenhang auch heute noch etwa die Ausführungen Böckenfördes, der Anfang der siebziger Jahre zwar völlig zu Recht feststellte, dass die begriffliche Trennung von Staat und Gesellschaft nach allgemeiner Meinung praktisch überholt sei, zur Begründung dieser These aber nicht etwa begriffliche Gründe anführte, sondern vielmehr – ganz in Fortführungen Stein’scher und Brunner’scher Begrifflichkeit und wohl auch in Anknüpfung an Horst Ehmke – die Frage darüber, wie „getrennt“ – oder überhaupt trennbar – denn beide Bereiche im demokratischen und sozialen Verfassungsstaat tatsächlich überhaupt noch seien.139 In der Sache ging es hier vor allem um Fragen des Umgangs mit gesellschaftlichen Machtballungen. Nicht ein Wort findet sich in seinen Ausführungen aber dazu, dass diese Trennung gegebenenfalls schon aus begrifflichen Gründen überholt sein könnte, überholt deshalb, weil man der „Gesellschaft“ – seinen Überlegungen gewissermaßen vorausliegend – im Unterschied zum Staat als organisierter Wirkkraft gar keine funktionale Eigenständigkeit zumessen kann. Böckenförde bringt damit die Schwierigkeit einer ganzen Generation von Staatsrechtlern – wohl ganz ungewollt – zu Tage. Denn in der Tat benutzt man den Gesellschaftsbegriff zwar in Abgrenzung zum Staat, freilich bis heute allerdings ohne den genauen Bedeutungsgehalt des Begriffs Gesellschaft offenzulegen. Sogar mittlerweile klassisch gewordene Vertreter der Staatsrechtslehre machen die ge138 Auch die Gesellschaftstheorie Luhmanns wird man – in ihrem Abschied vom anthropozentrischen Weltbild – durchaus hierzu zählen müssen, jedenfalls wenn man bereit ist, dem „System“ selbst überhaupt eine sinnbildende Funktion zuzuerkennen, grundlegend hierzu Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997. 139 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt: Suhrkamp, erweiterte Aufl., 2006, S. 209.
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troffenen Unterscheidungen zur Grundlage ihres Verfassungsverständnisses, ohne dass der Leser wüsste, worin denn dabei der begriffliche Eigenwert von „Gesellschaft“ liegen soll. Nach Forsthoff etwa „steht und fällt“ die freiheitsstiftende rechtsstaatliche Verfassung bekanntlich mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, freilich ohne dass der Leser erführe, was die Gesellschaft in ihrem Wesen denn im Einzelnen ausmache, und vor allem, worin sie sich von der Summe der Herrschaftsunterworfenen unterscheide.140 Auch in Nachschlagewerken wie etwa dem Handbuch des Staatsrechts spricht man ganz allgemein von einem Dualismus von Staat und Gesellschaft unter der Verfassung, dessen Existenz in der Diskussion – ganz im Sinne Böckenfördes – zwar unterschiedlich gewürdigt, kaum aber bezweifelt wird.141 Seine Anwendung findet dieser Dualismus sogar in der konkreten normativen Arbeit an der Verfassung, etwa bei der Konkretisierung etwa der rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien.142 Was aber die Grundlagen dieses Verständnisses sind, nach dem die Gesellschaft etwa „lebe und wirke“, bleibt unklar.143 In einer derartigen Konkretisierung weist man „der Gesellschaft“ – teils in ausdrücklicher Anknüpfung an den hegelschen Kollektivismus144 – ein Eigenleben zu, das sie in dieser unterstellten Form kaum haben kann.145 Ganz unvoreingenommen entsteht hier manchmal sogar der Eindruck, dass die Staatsrechtslehre bei der Nutzung des Begriffs der Gesellschaft, wie sie sie dem Staat gegenüberstellt, in Wirklichkeit die menschliche Wärme der Tönnies’schen Gemeinschaft zu Grunde legt, freilich ohne dies näher offenzulegen.146 Dabei wird man nicht einmal behaupten können, dass die Gesellschaft, wie etwa der Staat, (lediglich) eine Abstraktion sei. Sie ist, anders als eben gerade der Staat als einer verbandlich organisierten Zweckeinheit, vielmehr nur eine Fiktion, jedenfalls dann, wenn man mehr aus ihr macht als das unverbundene Nebeneinander ihrer Mitglieder. Jellinek hatte die klare und einfache Unterscheidung zwischen Abstraktion und Fiktion durchaus
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Forsthoff, Ernst, Der Staat der Industriegesellschaft, München: Beck, 1971, S. 21. Einführend etwa Rupp, Hans Heinrich, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 31, S. 879. 142 Näher etwa Zacher, Hans F., Das soziale Staatsziel, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 28, Rn. 25 ff.; überblicksartig etwa Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl., 1999, S. 93, Rn. 210. 143 Etwa Zacher, Hans F., Das soziale Staatsziel, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 28, Rn. 226. 144 Forsthoff, Ernst, Der Staat der Industriegesellschaft, München: Beck, 1971, S. 21. 145 Scheuner etwa macht den Dualismus von Staat und Gesellschaft als ein Thema des Umgangs des Staates mit den „sozialen Mächten“ auf, ohne freilich begriffliche Konsequenzen zu ziehen, vgl. Scheuner, Ulrich, Staat, in: ders., Gesammelte Schriften, Berlin: Duncker & Humblot, 1978, S. 19 (33). 146 Zu der seit Tönnies gängigen Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft näher Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie, Neudruck der 8. Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. 141
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allgemein (nicht nur in Bezug auf den Staat) getroffen147 – man sollte sie nicht grundlos über Bord werfen. Dies gilt umso mehr, wenn man die Aussagen, die man treffen will (etwa zu staatsfreien Räumen des Einzelnen oder überhaupt zur kontrafaktischen Rolle rechtlicher Freiheit und Gleichheit), auch ohne das Bemühen um einen mehr oder weniger hilflos aufgeladenen Gesellschaftsbegriff treffen kann. Typischerweise sind Aussagen, die man unter Verwendung des Gesellschaftsbegriffs trifft, ebenso gut oder gar besser ohne den Begriff der Gesellschaft zu machen. Es ist daher nicht nur sachlich richtiger, sondern argumentativ auch weiter führend, mit Jellinek die Gesellschaft als Fiktion zu identifizieren. Selbst Machtballungen können, durchaus besser, ohne Rückgriff auf einen wie auch immer gebildeten Gesellschaftsbegriff verstanden werden. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass auch die ökonomische Analyse des Zusammenspiels von Interessengruppen und Staat, in den Wirtschaftswissenschaften gemeinhin als public choice bekannt, grundsätzlich ohne Rückgriff auf einen eigenen Gesellschaftsbegriff auskommt.148 Und selbst weniger verfassungsökonomisch als verfassungsrechtlich ausgerichtete Beiträge nehmen sich typischerweise keinen Gesellschaftsbegriff zu Grunde, sondern den Einzelnen in seinem Verhältnis zum gemeinwohlverpflichteten Staat.149 Ein solides Verfassungsverständnis braucht den Staat und den – wenn auch sozialen – Einzelnen, in der Tat aber nicht die Gesellschaft.150 Nicht anders ist es, wenn es um den Verfassungsstaat im Wettbewerb geht. Damit rückt der Staat als Interessensträger in den Mittelpunkt der Überlegungen. Was aber ist der Staat? Der Methodensynkretismus, den die Staatslehre in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu Tage gebracht hat, ergreift naturgemäß auch
147 Etwa Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Reche, Aalen: Scientia Verlag, 2. Neudruck der 2. Auflage Tübingen, 1919, 1979, S. 17. 148 Dies mag auch daran liegen, dass der methodische Individualismus, der dieser so genannten Schule, zu Grunde liegt, schon von sich aus den Blick auf das Verhältnis zwischen einzelnem und Staat lenkt, nicht aber auf die Gesellschaft. Grundlegend dazu etwa Buchanan, James M./Tullok, Gordon, The Calculus of Consent, Ann Arbor: University of Michigan Press, 1962. Überblick zur Public Choice Theory mwN etwa Mueller, Dennis C., Public Choice in Perspective, in: ders. (Hrsg.), Perspectives on Public Choice, A Handbook, Cambridge: CUP, 1997, S. 1. 149 Arnim, Hans Herbert von, Gemeinwohl und Gruppeninteressen; Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, Frankfurt a.M.: Metzner, 1977. 150 Schon Laband folgerte aus dem Fehlen der Rechtssubjektivität der Gesellschaft, dass sie kein Rechtsbegriff, mithin auch überhaupt „kein Begriff des Staatsrechts“ sei, vgl. Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 2. Aufl., Freiburg: Mohr, S. 98, Anm. 1. Dieses Verständnis zieht sich bis heute fort. So hat Klaus Stern den Begriff der Gesellschaft in das Stichwortverzeichnis des Ersten Bandes seines Deutschen Staatsrechts zu den Grundbegriffen und Grundlagen des Staatsrechts den Begriff der Gesellschaft – als selbständigen Begriff – nicht einmal mehr in das Sachverzeichnis aufgenommen, vgl. Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München: Beck, 1984.
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den Staatsbegriff selbst151 und zeigt damit das Relative genetischer Begriffsbildungen.152 Jenseits der Jellinek’schen Unterscheidung zwischen Abstraktion und Fiktion153 lässt sich aber auf etwas Reales, also als etwas Seiendes zurückgreifen, das dem Normativen des Rechts und der Verfassung nicht etwa begrifflich vorgelagert ist (und in dieser Zugehörigkeit zum Sein auch gar nicht vorgelagert sein kann!), sondern, kategorisch woanders liegend als die Verfassung, als Bezugspunkt und auch Garant des Normativen fungiert. Damit ist der Staat durch das Recht zwar eingebunden und begrenzt154, nicht aber ihm vor- oder nachgelagert. Selbst Verfechter einer am Staat (nicht an der Verfassung) orientierten Staats- und Verfassungslehre gehen heute nicht von einem Primat des Staates vor der Verfassung aus, sondern allenfalls von einer gegenseitigen Verwiesenheit.155 Gerade in dieser Verwiesenheit ist der Staat aber nichts desto weniger real. Die Jellinek’sche Unterscheidung zwischen Fiktion und Abstraktion ist – mit Bezug auf den Staat – heute ja auch durchaus erklärbar. Spätestens seit Hellers sozialtheoretisch ausdifferenzierter Staatslehre wissen wir um die Zusammenhänge der kulturellen Bedingungen staatlicher Organisation. Dass das Staatliche ein Kontinuum über Zeit und Raum bildet, obwohl die beteiligten Menschen kommen und gehen, sich nicht kennen und vielleicht auch wegen unterschiedlicher Lebenszeiten gar nicht kennen können, ist uns heute danach kein Rätsel mehr.156 Man kann heute mit gutem Recht daher vom Staat als einem – in hohem Maße aggregierten – Abstraktum reden, ohne im Hinblick auf sein Wirklichsein missverstanden werden zu müssen. Dass eigentlich nur Menschen Träger, nicht Abstrakta wie der Staat, Träger originärer Interessen sein können, ist kein wirklicher Einwand gegen die Interessensträgerschaft des Staates.157 Denn es handelt sich bei den staatlichen Interessen um organisierte menschliche Interessen. So wie die staatliche Herrschaft organisierte Durch- und Umsetzung der Willen der (herrschenden) Einzelnen ist, sind auch die 151 Näher hierzu etwa Badura, Peter, Die Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1998, S. 98 ff. 152 Zur Erfolglosigkeit bisheriger Begriffsbildungen und die Strategie eines Verzichts auf einen Begriff etwa in der angelsächsischer Tradition näher Möllers, Christoph, Staat (juristisch), in: Heun, Werner u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart: Kohlhammer, 2006, S. 2272. 153 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, vierter Neudruck der dritten Aufl., Berlin: Springer, 1922, S. 170. 154 Statt vieler nur etwa Kirchhof, Paul, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee, Josef, Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin: Duncker & Humblot, 1993, S. 63, 84. 155 Vgl. etwa Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: HdBStR Bd 2, 3. Aufl., § 15, Rn. 2 ff. 156 Näher zu den kulturellen Bedingungen gesellschaftlicher Wirklichkeit Heller, Hermann, Staatslehre, bearb. von Gerhart Niemeyer, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, S. 94 ff. 157 So aber offenbar etwa Martens, Wolfgang, Öffentlich als Rechtsbegriff, Bad Homburg: Gehlen, 1969, S. 173 ff., S. 182 ff. In ähnlicher Richtung mit Blick auf das Unternehmen als Organisation, nicht den Staat, Jürgenmeyer, Michael, Das Unternehmensinteresse, Heidelberg: Verl.Ges. Recht und Wirtschaft, 1984.
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staatlichen Interessen die Interessen der (herrschenden) einzeln, wenn sie auch nicht notwendig (oder bestenfalls) Eigeninteressen sind, sondern im Sinne des Staates bestehen, stellvertretend getragen vom einzelnen Herrschenden (der diese für den Staat hat).158 Dass das staatliche Interesse – ähnlich dem Interesse eines Unternehmens mit vielen Eigentümern, etwa einer Aktiengesellschaft – in seinen Inhalten vielleicht einzigartig ist, also von keinem Menschen genau so gewollt ist, ist lediglich durch den Kompromiss bedingt: Wenn mehrere gemeinsam herrschen und jeder für die Organisation der Herrschaft andere Interessen hat, ohne sich vollständig durchsetzen zu können, dann entsteht in diesem Kompromiss eben ein einzigartiges Interesse. Selbstständig im Sinne von „unabgeleitet“ ist dieses Interesse dennoch nicht. Dass dieser Umstand nicht durch Überlegungen zum Rechtsbegriff des öffentlichen Interesses bestätigt werden können, liegt nicht darin, dass diese Überlegungen dieser Erkenntnis widersprechen, sondern daran, dass sie zur Tatsächlichkeit und Abgeleitetheit staatlicher Interessen aussagelos bleiben. Sie tragen diese Erkenntnis einfach nur nicht. Der Rechtsbegriff des öffentlichen Interesses wartet in der Tat mit einem ganz anderen Hintergrund auf. Uerpmann etwa hat nachgewiesen, dass diesem Rechtsbegriff vor allem eine kompetenzielle und abwägungstechnische Funktion innewohnt, um deren Leistungsfähigkeit willen er in das geltende Recht Eingang gefunden hat.159 Insofern kann man aus dem bisherigen rechtswissenschaftlichen Forschungsstand zur Anerkennung öffentlicher Interessen nur begrenzt Kenntnisse für die Existenz staatlicher Interessen im hier interessierenden Zusammenhang gewinnen.160 b) Der Gegenstand des staatlichen Interesses: Der mobile Produktionsfaktor, nicht der Faktorverfügende Die begriffliche Aufklärung der zu Grunde liegenden staatlichen Interessen setzt naturgemäß weiter Überlegungen über ihren Gegenstand voraus, namentlich mobile Produktionsfaktoren mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Vorliegend bedarf es daher zunächst einiger begrifflicher Vorüberlegungen zur grenzüberschreitenden Mobilität und zum (vermuteten) Wertschöpfungspotenzial von Produktionsfaktoren. Die Ausnutzung dieses Potenzials gerade mit Bezug zum eigenen Standort bildet gewissermaßen die Zielgerade wettbewerblichen Strebens offener Staaten. Das 158 Eine wichtige Rolle spielt dabei naturgemäß die Gubernative, also jene Gruppe von Personen zwischen Regierung und Verwaltung, die über die strategische Politikentwicklung im Staat entscheidend mitbestimmen, näher dazu und zur verfassungsrechtlichen Einhegung vor allem Bogdandy, Armin von, Gubernative Rechtssetzung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000. 159 Dazu etwa Uerpmann, Robert, Das öffentliche Interesse, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, jeweils S. 141 ff. und 268 ff. 160 Auch Häberle geht es in seiner umfangreichen Habilitationsschrift weniger um die Feststellung der Grundlagen der tatsächlichen Existenz eines Interesses als um seine normativen Grundlagen, also um die Anerkennung in Gesetzgebung und Rechtsprechung, vgl. Häberle, Peter, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl., Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 2006.
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staatliche Interesse am Faktor ist dabei das Ergebnis einer Funktion aus Mobilität und Wertschöpfungspotenzial des Faktors. Schätzt man staatlicherseits das Wertschöpfungspotenzial eines Faktors als gering ein, kann die Mobilität des Faktors noch so hoch sein – sie wird kaum zu einem überragenden staatlichen Interesse an diesem Faktor führen. Ist demgegenüber die Mobilität des Faktors gering, wird ein noch so hohes Wertschöpfungspotenzial keine unmittelbaren Konsequenzen im staatlichen Handeln nach sich ziehen können – es sei denn, der Staat ist bereit, gerade aus Gründen des Wettbewerbs um der woanders belegenen Faktoren willen einem anderen Staat, etwa mit kriegerischen Auseinandersetzungen, zu drohen. Die Mobilität von Faktoren wirft – gerade in einer faktorübergreifenden Typisierung – erhebliche erkenntnistheoretische und wissenschaftsstrategische Fragen auf. Was etwa ist grenzüberschreitende Mobilität von Faktoren überhaupt und wie grenzt sie sich zur grenzüberschreitenden Mobilisierbarkeit ab? Muss sich ein Faktor heute bewegen, um mobil zu sein? Und umgekehrt: Welcher Faktor ist heute nicht mehr mobilisierbar? Hier spielen insbesondere auch Fragen der so genannten Ökonomisierung der Gesellschaft hinein: Wie weit sind gerade die ökonomischen Gesichtspunkte bei der Definition von Faktormobilität zu berücksichtigen? In der Veräußerung immobiler Faktoren wie etwa Grund und Boden liegt auch ein Stück ökonomischer Mobilisierbarkeit; ist selbst Grund und Boden daher – in kapitalbezogenen Faktoreigenschaft – mobilisierbar? Diese und weitere Vorfragen sollen im Folgenden geklärt werden, im Wesentlichen in der bereits angedeuteten Reihenfolge. Der folgende Abschnitt wird also mit dem Begriff des Produktionsfaktors beginnen, und zwar in einer funktionalen Betrachtung, das heißt mit besonderem Blick auf seine ökonomische Bedeutung als Wertschöpfungsinstrument und damit auch als Gegenstand staatlicher Allokationsinteressen (B.II.3.a)aa)). Im Anschluss hieran soll sich der Abschnitt sodann dem Begriff der Mobilität von Faktoren widmen (B.II.3.a) bb)). aa) Der produktionsfunktionale Begriff des Produktionsfaktors Die vorliegende Arbeit soll den Begriff des Produktionsfaktors im Folgenden – ihrem Ziel der Bildung eines interessensbasierten Begriffs des Wettbewerbs zwischen den Staaten folgend – entlang dem Umstand bilden und benutzen, dass Staaten einer Sache, einer Person oder einem Umstand ein bestimmtes Wertschöpfungspotenzial zusprechen, das an einem oder in Bezug auf einen bestimmbaren Ort nach der staatlichen Vorstellung zur Entfaltung kommen kann. Funktional bestimmt sich der Faktor danach also vor allem durch die Zuweisung einer Fähigkeit, im Rahmen eines Produktionsprozesses – also produktionsfunktional – Wohlstand zu generieren. Damit knüpft das hiesige Begriffsverständnis an die ökonomische Begriffsbildung und -benutzung an. Bereits eine kurze Durchsicht wirtschaftswissenschaftlicher Lexika161 etwa zeigt, dass die allgemein gängigen Faktordefinitionen typischerweise 161 Beispielhaft nur etwa das Stichwort Produktionsfaktor in Woll, Artur, Wirtschaftslexikon, 10. Aufl., München: Oldenbourg, 2008; oder auch in Dichtl, Erwin/Issing, Otmar, Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, Bd. 3, 2. Aufl., München: Beck, 1994.
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gerade in ihrer Anknüpfung an den Produktionsprozess bestimmt und benutzt werden. Ob danach funktional lediglich nach Arbeit und Kapital zu unterschieden ist, welche Rolle der Boden dabei auch heute noch spielt und welche Rolle etwa dem menschlichen Wissen heute zukommt162, kann nach dieser Definition zunächst dahinstehen.163 Denn es kommt an dieser Stelle gar nicht so sehr darauf an, ob etwas im Einzelnen nun ein Faktor ist, sondern darauf, was die Staaten – bezogen auf einen bestimmten oder bestimmbaren Produktionsprozess – für Faktoren halten. Mit einer solchen – zwar mittelbaren, gleichwohl aber produktionsfunktionalen – Betrachtungsweise ist die Definition übrigens auch an die immer stärker vergleichende Betrachtung anschlussfähig: Vergleichende Studien etwa zur Wettbewerbsfähigkeit von Gesellschaften – Städten, Staaten, Integrationsgemeinschaften – schieben typischerweise gerade den produktionsfunktionalen Aspekt der Wohlstandsmehrung in den Vordergrund, selbst dann, wenn sie den Begriff des Faktors als solchen gar nicht direkt nennen.164 Die begriffliche Abgrenzung zwischen Produktionsfaktoren und Produktionsergebnissen, also Gütern wie vor allem Waren und Dienstleistungen, erfolgt also, wie in der Ökonomie, auch hier produktionsfunktional, d. h. über den Begriff der Produktion selber. Erst mit Blick auf eine bestimmte oder jedenfalls bestimmbare Produktion klärt sich auf, ob etwas – im Hinblick auf gerade diesen Produktionsprozess – Produktionsfaktor oder Produktionsergebnis ist. Die funktionale Zuweisung erfolgt dabei naturgemäß nach Produktionsstufen. Weist man einer Sache die Eigenschaft eines Produktionsergebnisses zu, so wird dieselbe Sache bereits auf der nächsten Produktionsstufe zum Produktionsfaktor. Selbst Konsumgüter wie etwa der tägliche Liter Milch aus dem Supermarkt dienen, wenn auch nur mittelbar über die bloße Funktionsfähigkeit des Faktors Humankapital, weiterer Produktionstätigkeit. Produktionsergebnisse können also zugleich Produktionsfaktoren sein, und sie sind es typischerweise auch. Umgekehrt können Produktionsfaktoren zugleich Produktionsergebnisse sein, und sind es mit Ausnahme von Naturstoffen auch. Die Faktoreigenschaft bleibt damit – auch im Zusammenhang mit dem Wettbewerb zwischen den Staaten – eine produktionsfunktionale Eigenschaft: Von einem Faktor zu spre-
162 Zur begrifflichen Aufarbeitung grundlegend etwa Armstrong, David M., Belief, Truth and Knowledge, Cambridge: CUP, 1973. Neuere philosophische Aufarbeitung demgegenüber etwa bei Kornblith, Hilary, Knowledge and its Place in Nature, Oxford: OUP, 2002. 163 Auch die Unterscheidungen innerhalb dieser Gruppen nach ihrer jeweiligen Substituierbarkeit, nicht nur zwischen Sach- und Humankapital, sondern auch darüber hinaus zwischen den verschiedenen Ausprägungen von jeweils Sach- und Humankapital, müssen für den Zweck dieser Arbeit nicht im einzelnen aufgenommen werden. Informationen zur Faktorpreisanalyse finden sich in allen gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern, vgl. etwa Woll, Artur, Volkswirtschaftslehre, 15. Aufl., München: Oldenbourg, 2007, S. 255 ff. 164 Ein Beispiel hierfür findet sich etwa im so genannten Global Urban Competitiveness Project mit jährlichen Berichten, vgl. http://www.gucp.org/en/ (Seitenaufruf vom 9. September 2008).
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chen macht – auch im vorliegenden Zusammenhang – nur in einem engen Bezug auf einen bestimmten oder jedenfalls bestimmbaren Produktionsprozess Sinn.165 Maßgeblich für den Begriff des Faktors ist danach also das – produktionsbezogene – Wertschöpfungspotenzial, das die Sache, die Person oder der Umstand nach der staatlichen Vorstellung haben können soll. Dabei geht es allerdings nicht um eine abstrakte, von einem bestimmten Staat und seinem Territorium sozusagen losgelöste Vorstellung über dieses Potenzial, sondern um die Vorstellung, dass sich dieses Wertschöpfungspotenzial gerade in einem bestimmten Staat entfalten können soll, nämlich in dem eigenen. Durch diese Inbezugsetzung auf einen bestimmten Staat – sein Territorium, seine Bevölkerung, seine Einnahmen – grenzt sich die hiesige Begriffsbestimmung von der verbreiteten ökonomischen Begriffsverwendung in einer wichtigen Hinsicht ab. Die Benutzung des Begriffs in der Ökonomie geht in einem entscheidenden Punkt nämlich über die Bedürfnisse der vorliegenden Arbeit, und damit auch über ihre Anschlussfähigkeit, hinaus: Grenzen hat der Rückgriff auf die Ökonomie vor allem insoweit, als sie gerade auch die staatliche Ordnung selbst zum Faktor erhebt166. Eine weite, ja fast uferlose Begriffsbildung, wie sie neben der staatlichen Ordnung auch Familienstrukturen, kulturelles Erbe und – etwa in Rückgriff auf Max Weber167 und Werner Sombart168 – auch die religiösen Gewohnheiten und Anordnungen mit einbezieht, kann für die vorliegende Arbeit keine Relevanz beanspruchen. Denn die Aufgaben der Begriffsbestimmung betreffen vorliegend gerade nicht die Produktivität von Standorten schlechthin und insbesondere auch nicht den Anteil, den einzelne Produktivkräfte – etwa Humankapital – durch ihre Eigenschaften, Fähigkeiten oder auch nur Gewohnheiten haben, sondern allein das offenbar bestehende Interesse von Staaten an Produktionsfaktoren. Das staatliche Interesse am Faktor mag zwar seinerseits von der Produktivität des Faktors – und damit insbesondere auch von den Eigenschaften des Faktors die diese Produktivität bestimmen – abhängig sein. Gerade in dieser Abhängigkeit ist das staatliche Interesse hier aber nicht zu untersuchen. Denn nicht das Maß und die Intensität des Interesses werden im Folgenden im Vordergrund stehen, sondern der Umstand, dass es überhaupt solche staatlichen Interessen am Faktor gibt. Quantifizierungen 165
Ökonomische Lehrbücher und Lexika sprechen von Faktoren daher typischerweise im Zusammenhang mit der Produktionsfunktion, so beispielhaft etwa nur Cezanne, Wolfgang, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 6. Auflage, München: Oldenbourg, 2005, S. 113 ff.; Barrow, Robert J., Macroeconomics, Cambridge MA: MIT Press, 1997, S. 59 ff.; McGrew-Hill, Tata, Macroeconomics, S. 1.12. Unter Rückgriff nicht auf die Produktionsfunktion sondern allgemein auf den Produktionsprozess etwa May, Hermann, Lexikon der ökonomischen Bildung, 6. Aufl., München: Oldenbourg, 2006, Stichwort Produktionsfaktor. 166 Beispielhaft nur Siebert, Horst, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, 2003, S. 377 f. 167 Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hrsg. und eingel. von Dirk Kaesler, München: Beck, 2004. 168 Etwa Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus: Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin: Duncker & Humblot, 1928, S. 36 ff.
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und damit auch Qualifizierungen zur Produktivität des Faktors selber müssen, soweit sie nicht bereits weiter unten folgen, daher späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Wenn damit der Begriff des Produktionsfaktors zwar unter Rückgriff, nicht aber zugleich auch unter quantitativer oder gar qualitativer Analyse seines Wertschöpfungspotenzials selbst gebildet werden soll, so bedeutet dies, dass es an dieser Stelle zunächst keiner theoretischen Grundlegung der produktiven Kräfte für die Benutzung des Begriffs Produktionsfaktor bedarf. Von Interesse ist hier, anders als in der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse, nämlich in der Tat nicht die Produktivität eines Faktors als solche169, sondern lediglich der Umstand, dass Staaten – aus welchen ökonomischen Erwägungen auch immer – bestimmten Faktoren ganz offenbar ein Mindestmaß an Produktivität zuweisen und gerade aus dieser Zuweisung heraus ein Interesse an der Produktivmachung dieser Faktoren mit Wirkung gerade für ihren Standort entwickeln. Wichtig für die vorliegende Arbeit ist also nicht das vermutete tatsächliche Wertschöpfungspotenzial von Faktoren, wie es – etwa für die staatliche Innovationspolitik – immer wieder zum Gegenstand der Überlegungen gemacht wird, sondern allein die staatliche Vermutung selbst, also der Umstand, dass die Staaten Interesse an Faktoren entwickeln und dass sich diese Interessen typischerweise gerade entlang – richtiger oder falscher – staatlicher Vorstellungen von dem unterstellten Wertschöpfungspotenzial dieser Faktoren bewegen. Der – hier relevante – Umstand der staatlichen Produktivitätszuweisung ist ohne Rückgriff auf theoretische Überlegungen zu produktiven Kräften beobachtbar und feststellbar.170 Es kommt, jedenfalls an dieser – vor allem den Begriff konkretisierenden – Stelle, daher in der Tat nicht darauf an, ob die Überlegungen der Staaten im Hinblick auf bestimmte Faktoren nun richtig oder falsch sind. Im Laufe der Wirtschafts- und Sozialgeschichte haben sie sich ohnehin vielfach verändert und werden es wohl auch
169 Sie lässt sich positiv ohnehin kaum feststellen. So wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, etwa die Produktivität eines Schumpeterschen innovativen Unternehmers festzustellen: Wer würde es sich schon zutrauen, seine Produktivität im Lichte der Schumpeterschen entwicklungstheoretischen Überlegungen abstrakt – oder auch nur konkret in einer bestimmten Situation – wirklich quantifizieren zu wollen? Der Grund für die Schwierigkeiten liegt hier gerade darin, dass es sich um eine bloße Typisierung handelt. Sie wurde zu theoretischen Zwecken entwickelt und lässt sich auch nur für theoretische Zwecke fruchtbar machen, vgl. näher etwa Schumpeter, Joseph, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 7. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1987, S. 1 ff. Ähnlich liegt es beim Produktionsfaktor Wissen: Wie produktiv ist Wissen schon im Einzelnen? 170 Vgl. nur etwa den Duktus des mittlerweile jährlich erscheinenden Berichts zur technologischen Leistungsfähigkeit, der auch in Zukunft, wenn auch unter anderem Namen, weiter geführt wird, zu finden unter http://www.technologische-leistungsfaehigkeit.de/de/1869.php (Seitenaufruf vom 9. September 2008). Solche Untersuchungen finden sich mittlerweile in vielen Staaten. Besonderes Interesse galt unter Wettbewerbsgesichtspunkten in jünger Zeit immer wieder etwa den Politiken Irlands, wie sie insbesondere durch seinen „National Competitiveness Council“ voran getrieben wurden. Die Berichte hierzu sind etwa unter http://www. forfas.ie/ncc/reports.html zu finden (Seitenaufruf vom 9. September 2008).
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in Zukunft tun, wie bereits ein Blick in die Theoriegeschichte der Volkswirtschaft nahe legt.171 bb) Die grenzüberschreitende Mobilität von Produktionsfaktoren in ihrer wettbewerblichen Funktionalität Zu den begrifflichen Voraussetzungen des Wettbewerbs zwischen den Staaten muss ferner die Mobilität von Produktionsfaktoren zählen. Mobilität ist auch heute noch ein schillernder Begriff. So weit verbreitet man ihn heute benutzt, so ungeklärt erscheinen seine konkreten Voraussetzungen. Bereits ein Blick in die gängigen volkswirtschaftlichen Lehrbücher zeigt, dass man Faktormobilität – insbesondere im Rahmen normativer Ökonomie – heute zwar gerne als Phänomen unterstellt und auch begrifflich nutzt, selten in gerade dieser begrifflichen Benutzung aber definiert.172 Ökonometrische Quantifizierungsversuche finden sich nicht. Vielmehr betrachtet man Faktormobilität – ähnlich wie Faktoren selber – typischerweise funktional, etwa mit Blick auf die Wirkungen von Wanderungsbewegungen.173 Dementsprechend kann sich der fachfremde, aber interessierte Laie auch in ökonomischen Lexika eher über die positiven wie normativen Folgen von – unterstellter – Faktormobilität informieren als sich an einer klaren oder auch nur gängigen begrifflichen Mobilitätsdefinition orientieren.174 Gegen die Selbstbegrenzung ökonomischer Überlegungen auf das Funktionale wäre aus begrifflichen Gründen an sich nichts einzuwenden, wenn sich für das hier gesetzte Ziel der Bildung eines tragfähigen Analysebegriffs des Wettbewerbs zwischen den Staaten bereits aus anderen Überlegungen heraus ein klarer Mobilitätsbegriff fände. Allerdings drängen sich auch insoweit keine aussagekräftigen Mobilitätsvorstellungen auf. Vielmehr ist man auf das landläufige Verständnis zurückgeworfen, nach dem sich mit Mobilität typischerweise ein Mindestmaß von Barrierefreiheit verbindet. Der Brockhaus etwa sieht im Kern des Begriffs der Mobilität die Ortsungebundenheit.175 Mobilität ist danach ein bloßes Nicht-an-denOrt-Gebunden-Sein, also die Möglichkeit, den Ort zu wechseln. Mobil ist danach nicht nur der- (oder das-)jenige, der sich bewegt, sondern auch derjenige, der sich 171 Man denke in diesem Zusammenhang nur etwa an die Ausführungen Lists und sein Bemühen, in Abgrenzung zu Adam Smith eine Theorie der produktiven Kräfte zu entwickeln, vgl. List, Friedrich, Das nationale System der politischen Ökonomie, Fischer, 1922, S. 231. Kritisch hierzu etwa Kruse, Alfred, Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien, 5. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1991, S. 158. 172 Beispielhaft für Wirkungsdiskussionen ohne begriffliche Überlegungen etwa Cezanne, Wolfgang, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 6. Auflage, München: Oldenbourg, 2005. 173 In dieser Weise eher beschreibend etwa Rübel, Gerhard, Grundlagen der realen Außenwirtschaft, München: Oldenbourg, 2004, S. 100. 174 Vgl. etwa Snowdon, Brian/Vane, Howard R., An Enyclopedia of Macroeconomics, Cheltenham: Edward Elgar, 2005. 175 Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl., Bd. 14 (Mag bis Mod), 1991, Stichwort Mobilität.
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zwar nicht bewegt, sich aber bewegen kann. Dieses Verständnis, das vor allem das Potenzial zur Bewegung in den Blick nimmt, lässt sich durch die Herkunft des Wortes bestätigen. Bereits der lateinische Ursprung des Wortes legt nahe, dass es bei der Mobilität (von etwas) nicht so sehr um den tatsächlichen Vorgang der Bewegung geht (Bewegung bedeutet motus, in verschiedenen Schattierungen auch commotio, concitatio, agitatio oder auch perturbatio), sondern lediglich um die Möglichkeit zur Bewegung, also die Beweglichkeit (mobilitas).176 Bereits die Römer unterschieden also zwischen dem Vorgang der eigentlichen Bewegung und der bloßen Eigenschaft der Beweglichkeit. Dieser Dualismus zieht sich bis heute auch in bereichsspezifischer Betrachtung durchaus fort, etwa wenn es um die Mobilität von Personen im Alltag177, in den sozialen Beziehungen178 oder im Verkehr179 geht. Für den hier einschlägigen Begriff der Faktormobilität lässt sich aus einem derartigen Begriff der Mobilität im Sinne einer Beweglichkeit freilich nur begrenzt Gewinn schlagen. Denn die hier anstehenden normativen Fragen betreffen ja gerade diese Beweglichkeit der Faktoren selbst. Unter Zugrundelegung eines solchen Begriffs muss die Diskussion über die Anforderungen, die die normative Ordnung stellt, letztlich auf sich selbst zurückverweisen. Wie beweglich im Sinne einer solchen Mobilitätsdefinition der Ortsungebundenheit muss denn ein Faktor sein, damit er im Sinne einer Definition des Wettbewerbs zwischen den Staaten als mobil gelten kann.180 Hier bleiben viele Fragen offen, die gerade für das hier verfolgte Ziel einer begrifflichen Klärung von erheblicher Bedeutung sind. Sie weisen über das Begriffliche hinaus, in dem sie vor allem Fragen methodischer Art betreffen. So fragt es sich beispielsweise, ob der Begriff der Faktormobilität nun relativ oder absolut zu bilden ist. Ist er relativ zu bilden, so bleibt er in Abhängigkeit von Kosten und Nutzen der Bewegung, mithin auch in Abhängigkeit der substanziellen – und unterschiedlichen – Ausgestaltung von Regulation. In einer relativen Begriffsbildung stellt sich aber zunächst die Frage, ab welchem Kosten-/Nutzen-Verhältnis ein Faktor als mobil zu gelten hat. Ferner stellt sich die Frage, warum gerade ab einem solchen – näher bestimmbaren – Kosten-/Nutzen-Verhältnis (und nicht gerade ab einem völlig anderen Kosten-/Nutzen-Verhältnis) Mobilität angenommen werden soll. Ist der 176 Dementsprechend ist auch heute noch eine Mobilie – im Unterschied zu einer Immobilie – eine bewegliche, nicht eine sich bewegende Sache, vgl. etwa Weber, Klaus (Hrsg.), Creifelds Rechtswörterbuch, 19. Aufl., München: Beck, 2007, Stichwort „Mobilien“. 177 Tully, Claus J./Baier, Dirk: Mobiler Alltag: Mobilität zwischen Option und Zwang: Vom Zusammenspiel biographischer Motive und sozialer Vorgaben, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. 178 Etwa Berger, Peter A.: Soziale Moblität, in: Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 2001. 179 Nuhn, Helmut/Hesse Markus, Verkehrsgeographie. Paderborn: Schöningh, 2006. 180 Mobilität meint in gerade diesem Zusammenhang naturgemäß zunächst „grenzüberschreitende Mobilität“. Gemeint ist damit, auch dies erscheint unmittelbar einleuchtend, die staatsgrenzen-überschreitende Mobilität von Produktionsfaktoren, denn hier geht es ja gerade um den Wettbewerb von Staaten um solche Produktionsfaktoren.
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Mobilitätsbegriff demgegenüber absolut zu bilden, so stellt sich die Frage nach den Kriterien, die in diese absolute Begriffsbildung einfließen sollten. Denkbar wäre etwa das Kriterium der diskriminierungsfreien Umgebung. Faktoren wären danach dann mobil, wenn sie nicht diskriminiert würden. Aber was wären die Gründe, gerade dieses Kriterium der Diskriminierungsfreiheit begriffsdefinierend zu verwenden? Man könnte stattdessen ja auch ein anderes Kriterium verwenden, etwa das der Belastungsfreiheit. Mobil wären danach nur unbelastete Faktoren. Allerdings stellen sich auch in diesem Fall sogleich Folgefragen: Wie sieht es in diesen Fällen dann etwa mit der Absolutheit des Kriteriums aus? Sind nicht Kriterien der Diskriminierung oder auch Belastung durch Herrschaft bereits ihrerseits schon relative Kriterien, also Kriterien, die die Abwägung von Kosten und Nutzen bereits in sich tragen? Wenn man am Ende so aber doch zu einer relativen Begrifflichkeit gelangt: Wie kann man dann überhaupt von „mobilen“ oder „immobilen“ Faktoren sprechen? Sollte man nicht lieber von „mehr oder weniger mobilen Faktoren“ sprechen? Und welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dann der Substituierbarkeit innerhalb von Faktorgruppen zu? Angesichts dieser Umstände und Fragen ist es für die hiesigen Zwecke gehaltvoller, nicht nur den Faktor, sondern auch sein Mobilität funktional zu verstehen. Es geht danach gar nicht so sehr darum, einen – gewissermaßen allgemein subsumtionsfähigen – Begriff der Faktormobilität zu finden, sondern darum, ihn in seiner spezifischen Bedeutung für den Begriff des Wettbewerbs zu verstehen. Der Begriff der Faktormobilität ist nämlich, gemeinsam mit dem Begriff des staatlichen Interesses am Faktor, ein Teil einer wettbewerblichen Funktion. Die Intensität des Wettbewerbs zwischen den Staaten ist danach im Wesentlichen vom Maß sowohl der Faktormobilität als auch des staatlichen Interesses an dem jeweils mehr oder weniger mobilen Faktoren abhängig. Je mobiler ein Faktor ist und je höher die staatlichen Interessen an ihm sind, desto ausgeprägter ist der Wettbewerb. Gerade in einer solchen funktionalen Betrachtungsweise zeigt sich auch der enge Zusammenhang zur so genannten offenen Staatlichkeit. Denn Faktormobilität gründet – gerade im Sinne von Faktorbeweglichkeit – naturgemäß nicht nur in den – insbesondere technischen – Bewegungseigenschaften des Faktors selber, sondern auch in seinen Beziehungen zur Umwelt, insbesondere zu den ihm von außen, vor allem staatlicherseits, auferlegten Bewegungshindernissen. Gerade die staatlichen Hindernisse zur Überschreitung staatlicher Grenzen sind für die Mobilität von Faktoren und damit auch für den Wettbewerb zwischen den Staaten von überragender Bedeutung. Ihre Existenz hält einen Staat – relativ – geschlossen oder offen. Maßgeblich sind dabei aber nicht notwendig die normativen Grundlagen der staatlichen Offenheit oder Geschlossenheit, wie sie sich etwa aus Verfassungsbestimmungen über die Freizügigkeit oder sonstigen Antiprotektionismus ergeben, sondern allein die tatsächliche Offenheit für den Grenzübertritt von Produktionsfaktoren. Diese tatsächliche Offenheit des Staates für Faktoren kann – und wird – ihrerseits von den normativen Gehalten insbesondere des Rechts abhängig sein. Insoweit kommt Diskriminierungs- wie auch Beschränkungsverboten in der staatlichen oder
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überstaatlichen Ordnung üblicherweise erhebliche Bedeutung zu. Die hohe Bedeutung normativer Gehalte für die tatsächliche Mobilität von Produktionsfaktoren bleibt aber trotz einer ausgeprägten Rechtskultur auch im Verfassungsstaat immer noch mittelbarer Art. Denn die tatsächliche Offenheit des Staates für die Mobilität der Faktoren ist letztlich maßgeblich, nicht die normative. Sie kann man auch aus anderen als normativen Zusammenhängen erreichen, etwa aus einer allgemein liberalen Politik. Offenheitsgarantierende Verfassungsbestimmungen – seien sie nun staatlicher, suprastaatlicher oder zwischenstaatlicher Provenienz – bedarf es demgegenüber „lediglich“ zur Durchsetzung von Offenheit, also im Angesicht einer offenheitsfeindlichen Politik von Staaten. „Normative Offenheit“ ist mithin – jedenfalls in weiten Teilen – ein Durchsetzungsinstrument, nicht weniger, aber auch nicht mehr.181 c) Der Grund des staatlichen Interesses: Teilhabe an der Wertschöpfung Das Interesse des offenen Verfassungsstaates am mobilen Produktionsfaktor besteht nicht aus sich heraus, gewissermaßen abstrakt und vorgegeben. Es wurzelt vielmehr gerade in der Bedeutung, die die Produktion von Gütern für den Staat gerade am eigenen Standort hat. Der Staat hat nämlich nicht um des Produktionsfaktors willen selbst ein Interesse an dem Faktor, sondern erst aus dem Umstand, dass dieser mit einem Bezug zum Staat produktiv gemacht wird. Es ist der Produktion inhärente Wertschöpfung, oder konkreter die staatliche Teilhabe an ihr, um derentwillen sich der Staat für den Produktionsfaktor interessiert. Denn nur dann, wenn der Staat selber etwas von der Wertschöpfung hat, ist er, ganz im Sinne des „InterEsses“, „da-zwischen“, hat also – ganz im Sinne des „Habens eines Inter-esses“ – tatsächlich gewissermaßen „seine Finger dazwischen“. Das staatliche Interesse am Faktor steht und fällt also mit der staatlichen Teilhabe an der Produktivmachung dieses Faktors. Seine Teilhabe an der Wertschöpfung ist der eigentliche Grund für sein Interesse an mobilen Produktionsfaktoren. So tritt neben die Funktionalität von Wertschöpfung und Mobilität von Faktoren für das staatliche Interesse die weitere Funktion der Teilhabe: Je höher die Teilhabe des Staates an den Erträgen aus der Produktivmachung des Faktors ist, desto potenziell höher ist sein Interesse an dem
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Die antiprotektionistische Diskussion hierzu soll an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Es gibt hierzu hinreichend viel Literatur. Nur folgender Hinweis: Wie die offenheitsgarantierenden Gehalte des Rechts entstanden sind, insbesondere, ob sie auf mehrseitigem (Beisp.: EU, WTO) oder einseitigem Wege entstanden sind, spielt für die Existenz der wettbewerblichen Situation keine Rolle. Maßgeblich ist lediglich, dass eine tatsächliche Offenheit vorhanden ist. Es kommt insbesondere auch nicht darauf an, wie stark der Mitgliedstaat an der Öffnung letztlich beteiligt war. In der Durchsicht einschlägiger Literatur fällt allerdings auf, dass der Durchsetzungscharakter des Normativen desto stärker in den Vordergrund tritt, je effizienztheoretischer der beobachtende Beitrag gerade ist. Als Beispiel möge hier nur der Ansatz herhalten von Maduro, Miguel P., We, the Court, 2. Aufl., Oxford: Hart, 2002.
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Produktionsfaktor. Je geringer seine Teilhabe ist, desto geringer ist sein Interesse an dem Produktionsfaktor.182 Diese These von der Funktionalität der staatlichen Teilhabe an der Wertschöpfung (oder auch nur der Teilhabeerwartung) für das staatliche Interesse an mobilen Produktionsfaktoren bedarf freilich der näheren Begründung. Denn sie ist gerade im Hinblick auf die Eigentlichkeit des Interesses durchaus nicht selbstverständlich. Widerspruch ist vor allem aus der Staats- und Verfassungstheorie zu erwarten, insbesondere aus jenen Bereichen, die die Grundlage für die heutige Dogmatik der Staatsaufgabenlehre bilden. Ähnlich wie der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten hat nämlich auch der Begriff des Interesses von Staaten bisher keinen Platz in der Staatsaufgabenlehre gefunden. Im Zentrum der Aufgabenlehre steht vielmehr der Gedanke der Gemeinwohlverpflichtung des Verfassungsstaates. Aus ihm versucht man, Aufgaben des Staates methodisch ordentlich abzuleiten.183 Mittlerweile bemüht man sich sogar recht ausgeprägt um eine staatstheoretische Renaissance des Begriffs.184 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus aussagekräftig, dass die Herausgeber des Handbuchs des Staatsrechts den Band IV ihres Handbuchs, den sie den „Aufgaben des Staates“ widmen, mit ihren Überlegungen zum Gemeinwohl beginnen lassen.185 Die Ableitung und Konkretisierung staatlicher Aufgaben aus dem Begriff des Gemeinwohls lässt für die Vorstellung staatlicher Interessen in der Tat nicht viel Raum. Insbesondere der begriffliche Gehalt des Gemeinwohls abstrahiert vom Begriff des Interesses, ist in gewisser Weise sein Kontrapunkt. Diese Kontrapunktik spiegelt sich in der Begrifflichkeit der Staatsaufgabenlehre auch durchaus wider. So unterscheidet man in der Staatsaufgabenlehre etwa zwischen Staatszielen, Verfassungsaufträgen, Gewährpflichten, Kompetenzen, Befugnissen und Staats-
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Dies ist nicht zuletzt auch Grund dafür, warum gerade so genannte marginale Produktionsfaktoren eine entscheidende Rolle im Wettbewerb spielen, also jene, die im Wertschöpfungsprozess – jedenfalls nach Ansicht der Staaten – eine wesentliche Rolle spielen. Näher zum Ganzen Straubhaar, Thomas, Empirische Indikatoren für den Systemwettbewerb – Moderne und historische Befunde, 17 JNPÖ 1998, 243, 252. Es müssen danach im Übrigen auch nicht notwendig viele Faktoren sein, vielmehr reicht – je nach Lage der Dinge – gegebenenfalls auch ein geringer Prozentsatz aus, um Diskussion und staatliches Handeln anzuregen (nicht Quantität, sondern Qualität zählt hier nach Straubhaar, vgl. ibid, S. 264). 183 In aller Deutlichkeit etwa Krüger, Herbert, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, 1966, S. 763 ff. Eher entlang einzelner Staatsaufgaben summarisch demgegenüber etwa Herzog, Roman, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1971. 184 Dazu etwa Isensee, Josef, Salus publica – suprema lex? Das Problem des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, Paderborn: Schöningh, 2006. Ferner Anderheiden, Michael, Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006; Kirchhof, Paul, Gemeinwohl durch Wettbewerb, Heidelberg: Müller, 2005. Begrifflich anders, sachlich aber durchaus in der Nähe liegend, bereits früher Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin: Duncker & Humblot, 1978. 185 Näher Isensee, Josef, Gemeinwohl im Verfassungsstaat, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 4, 3. Aufl., 2006, § 71.
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funktionen.186 Von staatlichen Interessen ist in diesem Zusammenhang demgegenüber allenfalls als Gefahr die Rede, in jenem Zusammenhang nämlich, in dem sich der Staat seiner dienenden Funktion enthebt und so sich selbst zur Staatsaufgabe werden lässt.187 Es ist, jedenfalls auf den ersten Blick, daher ganz und gar nicht ausgemacht, dass der Staat hier überhaupt ein wirklich eigenes Interesse am Faktor haben kann. Im Lichte der methodischen Bemühungen der Staatsrechtslehre und der ihnen folgenden Begrifflichkeit scheint sich jedes staatliche Interesse begrifflich in der Sphäre des Neutralen vielmehr geradezu aufzulösen. Indes lässt sich die Eigentlichkeit von Interessen des Staates an der Teilhabe an Produktionsvorgängen durchaus in die Begrifflichkeit der Staatsrechtslehre einpassen, auch wenn sie bislang nicht eingepasst zu sein scheinen. Wenn es nämlich tatsächlich so ist, dass der Verfassungsstaat auf seine Aufgaben und Ziele verfassungsrechtlich festgelegt ist, dann steht er unter einer verfassungsrechtlichen Erfüllungsverpflichtung, die ihn selber zum Interessensträger macht. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob der Staat sich diese Ziele am Ende selber gesetzt hat, oder ob sie ihm, etwa in der Verfassung, gesetzt wurden.188 Maßgeblich ist vielmehr allein die Verbindlichkeit des Ziels oder der Aufgabe für den Staat, also sein Auf-das-Staatsziel (die-Staatsaufgabe)-Verpflichtet-Sein. Es ist nämlich gerade diese – verfassungsrechtlich sanktionierte – Verpflichtung des Staates auf das Staatsziel, also auf sein Ziel, die ihn in die Zielverfolgungspflicht drängen und damit ganz notwendig zum Interessensträger werden lassen. Er hat gerade kraft dieser rechtlichen Verpflichtung das Interesse, der Verpflichtung auch nachzukommen, auf das Ziel also hinzuarbeiten. Bereits in seinem Verpflichtetsein wird er zum Träger eigener, wenn auch organisierter staatlicher Interessen.189 Am Beispiel des staatlichen Steuereinnahmeinteresses lässt sich die Eigentlichkeit staatlicher Interessen geradezu paradigmatisch verdeutlichen: Der Staat ist auf
186 Einführend etwa Isensee, Josef, Staatsaufgaben, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 4, 3. Aufl., 2006, § 73. 187 Ibid., Rn. 32. In anderem Zusammenhang thematisiert man diese Gefahr in der Rede vom Staat als Garant – und eben auch Gegner – des Rechts, vgl. etwa Kirchhof, Paul, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit: Von Privileg und Überfluss zu einer Kultur des Maßes, Paderborn: Schöningh, 2004. 188 Insoweit scheinen die Ausführungen Isensees etwas widersprüchlich, wenn er dem Staat im Hinblick auf die Setzung von Staatszielen einerseits durchaus Subjektqualität zumisst, andererseits aber feststellt, dass Staatsziele typischerweise verfassungsrechtlich gesetzt sein können (Isensee, Josef, Staatsaufgaben, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 4, 3. Aufl., 2006, § 73, Rn. 7 und 8 respektive). Gerade das Verfassungsrecht ist nicht nur staatliches Recht, so dass hier die Kategorien etwas zu verschwimmen drohen. 189 Auf die verschiedenen Verwendungen der staatsrechtlichen Begriffe etwa von Staatsaufgabe und Staatsziel soll an dieser Stelle nicht ankommen. Verwiesen sei lediglich darauf, dass hier, offenbar durchaus methodisch verwurzelte, Unterschiede bestehen, vgl. nur etwa die Ausführungen von Herzog, Roman, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), HdBStR, Bd. 4, 3. Aufl., 2006, § 72.
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
eine Vielzahl von Staatszielen190 und Staatsaufgaben festgelegt (Sicherheit191, Rechtsstaatlichkeit192, das soziale Staatsziel193, Ziele des Umweltschutzes194 usw.) und muss in seinem – auf diese Ziele hin ausgerichteten – Optimierungsverhalten daher notwendig Ausgaben tätigen, die ihn ihrerseits zu Einnahmen zwingen.195 Der so entstehende staatliche Finanzbedarf taucht – als eigenes staatliches Interesse – selbst in grundlegenden Beiträgen zum Steuerrecht allerdings gar nicht weiter auf. Zwar wird das Bestehen eigener Interessen in diesem Zusammenhang nicht bestritten, behauptet wird es aber auch nicht. Vielmehr belässt man es – gerade in der steuerrechtlichen Literatur – typischerweise bei wenigen Worten zum Finanzbedarf des Staates, an prominenter Stelle etwa unterlegt mit einem Hinweis auf den berühmten Ausspruch Bodins, nach dem die Finanzen „les nerfs de la Republique“196 seien.197 In steuerrechtlichen Lehrbüchern widmet man sich – ganz dem Schwerpunkt auf das Normative entsprechend – diesem Thema ebenfalls nicht weiter.198 Und auch in der Aufsatzliteratur beschäftigt man sich eher mit anderen Dingen.199 Dabei ist das staatliche Interesse als Faktum doch gerade erst der Bezugspunkt des Normativen. Die Kontrafaktizität des Rechts setzt doch gerade erst an diesem Faktum des 190 Sowohl in staats- wie auch in verfassungs- und insbesondere normtheoretischer Perspektive in diesem Zusammenhang Sommermann, Karl-Peter, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997. 191 Einführend in die öffentliche Sicherheit gerade als Staatsaufgabe etwa Möstl, Markus, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 3 ff. 192 Das staatliche Aufgegebensein der Rechtsstaatlichkeit tritt bei vielen Autoren, wohl auch angesichts offensichtlicher Konkretisierungsnot, in den Hintergrund, lässt sich aber wohl kaum leugnen, vgl. etwa Schmidt-Aßmann, Eberhard, Der Rechtsstaat, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 22, oder auch Sobota, Katharina, Das Prinzip Rechtsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995. 193 Näher Zacher, Hans F., Das soziale Staatsziel, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 28, 194 Vertiefend etwa Calliess, Christian, Rechtsstaat und Umweltstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001. 195 Zur Zielgerichtetheit staatlicher Handlungsmittel näher etwa auch Kirchhof, Paul, Mittel staatlichen Handelns, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 4, 3. Aufl., 2007, § 99, Rn. 21 ff. Zu der befürchteten Verdrängung des Rechts durch das Geld in diesem Zusammenhang ders., ebenda, Rn. 6. 196 Bodin, Jean, Les Six Livres de la Republique, 1608, S. 855. 197 Etwa Vogel, Klaus, Der Finanz- und Steuerstaat, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 30, Rn. 22 ff. 198 Vgl. nur Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1, Köln: Schmidt, 2. Aufl. 2000, S. 1 ff., der sogleich in eine Begrifflichkeit von Besteuerungsrecht und Steuerpflicht als Grundpflicht übergeht 199 Selbst Überlegungen zum Steuerstaat nehmen das Interesse nicht zentral in sich auf. Isensee etwa belässt es bei bloßen Hinweisen etwa darauf, dass Gewinnerzielung „kein legitimer Staatszweck“ sei, wohl meinend, dass sie kein legitimes Staatsziel sei, vgl. in: Steuerstaat als Staatsform, in: Stödter, Rolf/Thieme, Werner, Hamburg, Deutschland, Europa, FS für Hans Peter Ipsen, Tübingen: Mohr Siebeck, 1977.
II. Refaktisierung und -substanzialisierung des Begriffs des Wettbewerbs
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Staatlichen an. Es wird in weiten Teilen zur raison d’être des Rechts. Kaum in einem Bereich lässt sich dies deutlicher machen als im Steuerrecht: Wäre der staatliche Wille zur Einnahme tatsächlich nur eine (interessensneutrale) Frage der Kompetenz, gäbe es – gerade im Steuerrecht – nicht das Bedürfnis nach der gerechtigkeitsverwirklichenden Begrenzung des besteuernden Leviathans. Gerade im Lichte der überwiegend kontrafaktischen Funktionen des Rechts lässt sich die Mediatisierung staatlicher Interessen in der Staatsrechtslehre nicht immer ganz leicht nachvollziehen. Man könnte zwar meinen, dass das staatliche Interesse, um im Thema zu bleiben etwa das Einnahmeinteresse, vielleicht deshalb nicht näher thematisiert ist, weil es so selbstverständlich erscheint. Und in der Tat folgt ja auch das Grundgesetz diesem Muster. Es spricht – auch in seinen die Ertragshoheit bestimmenden Vorschriften der Art. 106, 107 GG – nicht vom staatlichen Einnahmeinteresse, sondern setzt es offenbar stillschweigend voraus.200 In dem diesem Ansatz zu Grunde liegenden Verständnis von der Selbstverständlichkeit des Finanzbedarfs liegt aber eine Gefahr, nämlich genau jene, die sich in dem Umgang der Staatslehre mit dem Phänomen des Wettbewerbs und dem staatlichen Interesse an Faktoren auch bereits verwirklicht, nämlich die Gefahr der Unterschätzung des staatlichen Interesses und der ihr folgenden begrifflichen Versuche des Wegdefinierens. Weder das Phänomen des Wettbewerbs faktoroffener Staaten noch das ihn auslösende staatliche Teilhabeinteresse an der Wertschöpfung lässt sich durch einen Verweis darauf hinwegreden, dass der Staat eine Friedensordnung sei, bar jeder eigenen Interessen, wie es die Verfassungsrechtslehre gerne darstellt.201 Das staatliche Einnahmeinteresse kann übrigens unmittelbar oder mittelbar – im Zusammenhang mit anderen Interessen – bestehen. Dabei ist die Relation zwischen staatlichen Mitteln und staatlichen Interessen nicht ausschließlich. Denn auch staatliche Ziele selber, also nicht erst die Mittel zu ihrer Erreichung, können eigene staatliche Interessen begründen. Am Beispiel des staatlichen Interesses an hochqualifizierten Forschern lässt sich dies unmittelbar deutlich machen. Ein solches Interesse besteht ganz offenbar auch unabhängig vom Mittelbedarf. So spricht man staatlicherseits etwa vom „Innovationsstandort“, den es zu stärken gelte, nicht zuletzt auch deshalb, um ausländische Forscherinnen und Forscher anzuziehen.202 Ein solches staatliches Interesse an ausländischer Expertise, wie es sich übrigens auch in mancher gesetzlicher Vorschrift widerspiegelt203, lässt sich naturgemäß nicht ausschließlich über den Mittelbedarf erklären. Es ist vielmehr das Interesse am 200
Ibid., S. 3. Nähere Angaben dazu schon oben B.I. 202 Einen umfassenden Überblick zur Position und Rolle des deutschen Staates hierzu bietet etwa die Internationalisierungsstrategie der Bundesregierung vom Frühjahr 2008, vgl. hierzu Bundesministerium für Bildung und Forschung, Deutschlands Rolle in der globalen Wissensgesellschaft stärken, Strategie der Bundesregierung zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung, zu finden unter http://www.bmbf.de/pub/Internationalisierungsstrate gie.pdf (Seitenaufruf vom 17. Oktober 2008). 203 Vgl. etwa § 33 Abs. 2 S. 1 BbesG. 201
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
Wachstum, das das staatliche Interesse am Forscher begründet. Forschungspolitik ist Wachstumspolitik.204 Ein Verständnis, nach dem ein Staat nur späterer Einnahmemöglichkeiten wegen versucht, sein System für ausländische Forscher attraktiv zu machen, wäre daher in der Tat verkürzend. Die zukünftigen Steuereinnahmen mögen unter dem Gesichtspunkt der Innovation zwar eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus misst der Staat Innovationssystemen aber auch unabhängig von zukünftigen Steuereinnahmen einen eigenen Wert zu. Der seit dem Europäischen Rat von Lissabon im März 2000 angestrebte Europäische Forschungsraum (EFR) ist beredtes Zeugnis dieses Eigenwerts.205 Dies heißt freilich nicht, dass (wenn auch nur zukünftige) Einnahmeinteressen in der Regel nicht mit im Spiel wären. Ohnehin sind Einnahmeinteressen meist stärker als andere – zweckgetragene – Interessen. Denn sie sind – vom Ziel der Einnahme finanzieller Mittel einmal abgesehen – zielunabhängig: Einnahmen dienen zwar bestimmten Zielen, sind aber – als Steuereinnahmen – nicht zielspezifisch. Hinter dem staatlichen Interesse an Einnahmen stehen vielmehr alle Ziele, die einen eigenständigen Finanzierungsbedarf auslösen. Seine Kraft erhält der Mittelbedarf gerade aus seiner so entstehenden Substanzunabhängigkeit.206 Gerade in dieser Unabhängigkeit von substanziellen Zielen sind mittelbezogene Interessen daher – eben mangels fehlender Zielspezifikation – stärker als zielbezogene Interessen. Letztere haben nämlich nur sich selbst als Durchsetzungstreiber.
III. Vervollständigung des Begriffs: Diversität in Bezug auf den Faktor durch einseitiges staatliches Handeln Neben dem staatlichen Interesse am Faktor setzt der Begriff des Wettbewerbs ein weiteres Element voraus, nämlich die Diversität staatlichen Handelns. Sie soll hier als bloße Abwesenheit von Angleichung verstanden werden. Sie bedarf in diesem 204 Besonders eindringlich insoweit etwa die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der FDP-Fraktion und anderer zu den „Konsequenzen der Auswanderung Hochqualifizierter aus Deutschland, BT-Drucksache 16/5417 vom 23. 5. 2007. 205 Zu den neueren Entwicklungen vgl. etwa das Grünbuch der Europäischen Kommission vom 4. April 2007: Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven, KOM(2007) 161 endgültig, gefunden unter http://ec.europa.eu/research/era/pdf/era_gp_final_de.pdf (Seitenaufruf vom 17. Oktober 2008). 206 Hierin liegt der Ansatz einer einfachen Interessensstrukturanalyse. Interessenstrukturanalysen eignen sich dazu, das Gewicht eines Interesses gegenüber anderen Interessen gerade in Abhängigkeit seiner Eigenschaften zu bestimmen, wie etwa seiner Allgemeinheit, seiner Tiefe, aber auch seiner Wirkungen. Interessensstrukturtheoretische Überlegungen können daher überall dort sinnvoll zur Anwendung gebracht werden, wo gleich- und gegenläufige Interessen ein und desselben Interessenträgers in Rede stehen. Die Überlegungen sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden. Ein Beispiel für interessensstrukturtheoretischen Überlegungen findet sich aber, wenn auch in etwas anderem Zusammenhang, etwa bei Duvigneau, Johann Ludwig, Handelsliberalisierung und Marktintegration unter dem WTO/GATT-Recht, Berlin: Duncker & Humblot, 2005, S. 326 ff.
III. Diversität in Bezug auf den Faktor durch einseitiges staatliches Handeln
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Sinne keiner besonderen Schaffung, sondern ist gewissermaßen präexistent, entsteht typischerweise nämlich evolutiv, indem die Staaten gegenüber Faktoren handeln, ohne dass sie sich dabei koordinieren. Sie kann freilich auch geplant entstehen, nämlich wenn sich Staaten, die sich in ihrem Handeln bereits koordiniert haben, dazu entschließen, die aus der Koordination entstandene substanzielle Angleichung wieder aufzubrechen. In einem solchen Zusammenhang ist die Planung allerdings nur deshalb erforderlich, weil die Staaten schon in einen Prozess der Angleichung eingetreten waren. Das (daher meist also einseitige) staatliche Handeln muss herrschaftliches Handeln sein, und zwar ein herrschaftliches Handeln mit Bezug auf den Faktor, an dem der Staat ein Interesse hat. Es muss also ein Handeln sein, das zu einer bestimmten Behandlung des Faktorverfügenden führt, denn seine Behandlung durch den Staat bestimmt die regulative Situation des Faktors. Ein solches (über den Verfügenden herrschendes) Handeln kann sowohl in einem positiven wie auch in einem negativen Tun liegen. Negatives Tun meint in diesem Zusammenhang nicht ein Unterlasssen kraft rechtlicher Pflicht zum positiven Tun, wie es der Rechtswissenschaft bekannt ist (Handeln wider einer Tunspflicht durch Nichttun). Denn die tatsächliche Situation des Faktors ist nicht durch (normative!) Pflichtbestände geprägt. Negatives Tun meint hier eher ein Nichttun im Lichte der Möglichkeiten, die es zum Tun gibt: Gemessen an diesen Möglichkeiten, nicht an dem Bestehen einer Tunspflicht, wird ein Nichttun zum Handeln. Wenn also etwa ein Staat einen Faktorverfügenden mit Bezug auf einen Faktor steuerlich nicht belastet, so liegt in dieser Nichtbelastung auch ein Handeln. Sichtbar als solches Handeln wird ein solches Nichttun aber erst im Angesicht dessen, was – etwa an Belastungen – möglich wäre. In diesem Sinne einer faktischen Relation zu einer Möglichkeit zum positiven Tun (nicht einer normativen Relation zu einer Pflicht) kann man hier sogar von Unterlassen sprechen. In diesem Sinne unterlässt der Staat nämlich ein Handeln, das er an den Tag legen könnte. Der so entstehende Unterlassensbegriff hat mit dem Unterlassensbegriff, wie wir ihn aus dem Strafrecht kennen, freilich wenig zu tun. Die Diversität, die durch das so beschriebene und in der Regel einseitige Handeln entsteht, kann als eine Art „Naturzustand“ des Nebeneinanders der Staaten beschrieben werden. Denn die Staaten kooperieren nicht immerzu und überall. Im Gegenteil, Kooperation ist, selbst in der großen Breite und Vielfalt des heutigen staatlichen Kooperierens oder gar Koordinierens, immer noch eher die Ausnahme. Die Nichtkooperation bleibt die Regel. Im Rahmen der Europäischen Union mag man langsam in die Nähe der Grenzen dieses Regel-Ausnahme-Verhältnisses geraten. Insoweit mag die Union mittlerweile auch insoweit ein Spezialfall geworden sein.207 Doch selbst in der Union ist die Kooperation immer noch typischerweise 207
Ein Anzeichen für einen Paradigmenwechsel findet sich in dem zu beobachtenden bereichsspezifischen Übergang von einer Mindestharmonisierung zu einer Vollharmonisierung, vgl. dazu Tonner, Klaus/Tamm, Marina, Der Vorschlag einer Richtlinie über Rechte der Verbraucher und seine Auswirkungen auf das nationale Verbraucherrecht, JZ 2009, S. 277. Speziell zum Verbraucherkreditrecht insoweit etwa Gsell, Beate/Schellhase, Hans Martin,
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B. Der Begriff des Wettbewerbs zwischen den Staaten
pflichtengeleitet, nämlich durch das Bestehen von Kooperationspflichten. Auch die Union folgt also dem Muster der zunächst verabredeten und erst im Anschluss befolgten Kooperationspflicht. Keineswegs kooperieren die Staaten also kraft eines allgemeinen Kooperationsparadigmas – wo sie es nicht wollen oder müssen, handeln sie zunächst einseitig, und erst, wo tatsächliche oder normative Grenzen dieser Einseitigkeit zu überschreiten sind, enden die Staaten in der Kooperation. So kommt es, dass regulative Diversität am Anfang vielgestaltigen staatlichen Seins steht, und erst die Kooperation ändert hieran etwas, nicht umgekehrt.208 Bevor damit nun zu einer Definition des Begriffs des Wettbewerbs zwischen den Staaten übergeleitet werden kann, bedarf es noch einer begriffsfunktionalen Ergänzung, die mit der Diversität im staatlichen Handeln zu tun hat und auf eine Unterscheidung zwischen einem bloßen Ergebniswettbewerb (Wettbewerb als das Ergebnis staatlichen Handelns) und einem echten Handlungswettbewerb (Wettbewerb als ein Prozess wettbewerblich motivierten staatlichen Handelns) zurückgeht. Kern dieser Unterscheidung ist, dass bereits die Interessen unterschiedlich regulierter Verfassungsstaaten an der Attraktion mobiler Faktoren – im Maße der jeweiligen staatlichen Offenheit für Produktionsfaktoren – in einen Wettbewerb zwischen diesen Staaten führt. Eines spezifisch wettbewerblich motivierten Handelns bedarf es zur Existenz eines Wettbewerbsergebnisses daher nicht. Dies ist bedeutsam hervorzuheben. Denn es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Umstand, dass ein (eben faktoroffener) Staat im Wettbewerb steht, und dem Umstand, dass ein faktoroffener Staat an diesem Wettbewerb auch (selber wettbewerbend) teilnimmt. Die Unterscheidung zwischen dem „lediglich“ offenen Staat und dem wettbewerbenden Staat ist vor allem eine Unterscheidung nach der Zielsetzung, deren Einzelheiten (Inklusion als Herrschaftsziel im Paradigma relativer Herrschaftsattraktivität) unten näher zu klären sind.209 Ganz ungeachtet der konkreten Voraussetzungen für die Identifizierung eines offenen Staates als spezifisch „wettbewerbenden Staat im Wettbewerb“ legt dieser Umstand offen, dass der Begriff des Wettbewerbs eben nicht nur ein Prozessbegriff im Sinne Hayek’scher Evolutionsbegrifflichkeit ist210, Vollharmonisiertes Verbraucherkreditrecht – Ein Vorbild für die weitere europäische Angleichung des Verbrauchervertragsrechts?, JZ 2009, S. 20. 208 Dem von Wolfgang Friedmann beschriebenen Übergang vom Koexistenz- zum Kooperationsrecht steht also kein vergleichbarer Übergang im Faktischen gegenüber; der Übergang bleibt also kontrafaktisch. Überblick dazu etwa bei Dupuy, Pierre-Marie, International Law: Torn between Coexistence, Cooperation and Globalization. General Conclusions, 9 EJIL 1998, S. 278. 209 Näher unten C.II. 210 Dieser Evolutionsgedanke ist sehr in Mode geraten. Er bringt in der Wettbewerbstheorie bekanntlich ja auch tatsächlich ein hohes Maß an Dynamisierung mit sich, da er vor allem die erkenntnis- und innovationspolitische Bedeutung der Wettbewerbspolitik hervorhebt, näher dazu statt vieler etwa Schmidtchen, Dieter, Wettbewerbsschutz durch regelgeleitete Wettbewerbspolitik – Anmerkungen zum institutionenökonomisch-evolutionären Wettbewerbsleitbild, 57 ORDO 2006, S. 165. Bei aller Evolutionsorientierung gerät aber manchmal in Vergessenheit, dass Wettbewerb eben nicht nur die Prozessseite umfasst, sondern eben auch das Ergebnis.
IV. Tatsächliches interessegetriebenes Phänomen einzelstaatlichen Herrschens
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sondern ganz wesentlich auch ein Begriff Ergebnisbegriff, also ein Begriff der – übrigens zunächst völlig wertfreien – Bestandsaufnahme des Ergebnisses.211 Der Umstand, dass Wettbewerb eben nicht nur ein Prozess, sondern immer noch eben auch ganz wesentlich ein Ergebnis ist, wirkt auf das Sein des offenen Staates im Wettbewerb, also auf sein Im-Wettbewerb-Stehen des Staates, zurück. Die Wirkungen sind sogar ganz immens und sollten von der Staatsrechtslehre daher nicht vernachlässigt werden. Sie liegen nicht zuletzt darin, dass es zwischen offenen Verfassungsstaaten ein wettbewerbsfreies Handeln, also ein Handeln außerhalb des Wettbewerbs als einem Wettbewerbsergebnis, nicht gibt. Der offene Verfassungsstaat mag seine Zielsetzungen noch so wettbewerbsblind setzen: Die Wirkungen seines Handelns (und damit seines Seins) werden im Maße seiner Offenheit – jedenfalls auch – wettbewerbliche Wirkungen sein. Angesichts ihrer Interessen am mobilen Faktor führt die Staaten also bereits die eigene Offenheit in den Wettbewerb hinein, selbst wenn keiner der offenen Staaten sich als Wettbewerber identifiziert und entsprechend wettbewerbsmotiviert handelt.212
IV. Definition des Begriffs: Wettbewerb zwischen den Staaten als tatsächliches interessegetriebenes Phänomen einzelstaatlichen Herrschens Im Lichte dieser Überlegungen kann der vorliegende erste Teil nun mit einer Definition abschließen: Wettbewerb zwischen den Staaten ist danach ein tatsächliches Phänomen, das dadurch entsteht, dass zwei oder mehr Staaten ihr Interesse an der staatlichen Teilhabe an einem Produktionsprozess, an dem ein oder mehrere wertschöpfungsträchtige Produktionsfaktoren beteiligt sind, im Wege staatlichen Herrschens über den Faktorverfügenden befriedigen wollen.
211 In der Ökonomie spielt angesichts der großen Analysestärke (aber auch angesichts der normativen Implikationen) evolutiver Überlegungen dieses Konzept des Wettbewerbs als Ergebnis keine große Rolle mehr. Für die Rechtswissenschaften, die mit der Rolle von Recht als einem Wettbewerbsergebnis konfrontiert werden, ohne zur Bearbeitung bereits das methodische Rüstzeug entwickelt zu haben, ist die ergebnisorientierte Betrachtung demgegenüber von großer Tragweite. Sie führt inmitten des substanziellen rechtlichen Rechtfertigungsdiskurses von Herrschaft und damit auch in die Antworten der Rechtswissenschaft auf die wettbewerbliche Bewertung staatlichen Handelns hinein. Juristen betrachten den Wettbewerb – zu Recht – vor allem ergebnisorientiert, vgl. jüngst in beispielhafter Vorbildlichkeit ausdrücklich Eidenmüller, Horst, Recht als Produkt, JZ 2009, S. 641, 648 ff. 212 Anders ausdrücklich Kirchhof, Paul, Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie – Solidarität, 56 ORDO 2005, S. 39, der davon ausgeht, dass der Staat von Erwerbsmotiven überhaupt freigestellt werden kann.
C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber In den derart definierten Wettbewerb mit anderen Staaten um mobile Produktionsfaktoren gerät nun also – im Maße seiner Offenheit für diese Faktoren – der faktoroffene Staat, soweit er ein Interesse an der Attraktion mobiler Produktionsfaktoren hat. Es bedarf daher einer Betrachtung dieses staatlichen Interesses am Faktor, allerdings nicht allein in, wie etwa in der Institutionenökonomik allgemein üblich, Begriffen der Kosten und des Nutzens, also in Begriffen wie Wertschöpfungspotenzial oder Produktivität, sondern, weil eben der Staat der Wettbewerber ist, in der Begrifflichkeit des Staates, also in Begriffen der Herrschaft. Gefordert ist eine Betrachtung des Selbststands gegenüber dem Ökonomischen.1 Denn staatliche Herrschaft ist gegenüber dem Ökonomischen – kategorisch – in der Tat selbständig. Sie steht in einem völlig anderen Bezugssystem als ökonomische Begriffe wie etwa diejenigen des Faktors und seiner Produktivität. Sie ist Personalherrschaft, nicht Sachherrschaft. Staatliche Herrschaft bedeutet – auch im Verfassungsstaat – Zwang und Unterwerfung; und diese ist nur gegenüber dem (widerspruchs- und damit auch überhaupt gehorsamsfähigen) Menschen möglich, nicht gegenüber (gehorsamsunfähigen) Faktoren oder sonst irgendeiner Sache.2 Der Staat herrscht daher nicht über den Faktor, kann gar nicht über ihn herrschen, sondern nur über jenen, der über ihn verfügt.3 Der Staat wird, soweit er nicht gerade selbst unternehmerisch handelt und 1 Das Thema beschäftigt die Juristen gegenüber der ökonomischen Analyse des Rechts immer wieder, vgl. jüngst etwa die kritische Auseinandersetzung bei Mestmäcker, Ernst-Joachim, A Legal Theory without Law, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007. 2 Selbst die Regulation von Sachen ist typischerweise Ausfluss der Herrschaft über Menschen. Dies gilt sogar dann, wenn der Mensch, der zu der regulierten Sache in einem Bezug steht, einer fremden Herrschaft untersteht. Wenn etwa ein Unternehmen im eigenen Herrschaftsbereich zu Hundert Prozent im Eigentum eines Drittstaatsangehörigen steht, der auch seinen Wohnsitz im Drittland hat, so herrscht der Staat, der dieses Unternehmen reguliert, auch – nämlich insoweit es dieses spezielle Unternehmen angeht – über den Drittstaatsangehörigen. Dies begründet keine Exterritorialität, sondern lediglich partielle Herrschaft über jemanden, der im Übrigen dem eigenen Herrschaftsbereich entzogen ist. Echte staatliche Herrschaft über eine Sache (also über keinen Menschen vermittelte Herrschaft) besteht mit Ausnahme einer Staatswirtschaft nur in den ganz seltenen Ausnahmefällen, in denen niemand in einem Bezug zu dieser Sache steht, etwa bei herrenlosen Sachen. 3 Dieser Umstand kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, denn mit der verkürzenden Rede von der Rücksichtnahme gegenüber mobilen Produktionsfaktoren werden oft verkürzende Konzepte verbunden. Die schafft Verwirrung: Weil das Gesellschaftsrecht den Faktor (oder besser die Faktorkombination) Unternehmen fingiert, unterstellt man in Rechtswissenschaft allgemein, der Staat herrsche über Unternehmen. Dabei verkennt man freilich, dass der Staat nicht über das private Unternehmen herrscht, sondern nur über die Gesellschafter – alles andere ist rechtliche Fiktion. Dieses rechtliche Fiktionieren führt naturgemäß weit über das die Gesellschaften fingierende Recht hinaus. Selbst im Grundrechtsteil des Grundgesetzes
C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
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sich zum Eigentümer macht, daher auch sein Interesse am Faktor nicht direkt verfolgen können, sondern immer nur indirekt. Bei allem staatlichen Interesse am Faktor (es treibt den Wettbewerb zwischen den Staaten immerhin an, ist also sein Motor) wird der Staat – jedenfalls außerhalb der Staatswirtschaft – daher den unmittelbaren Durchgriff zum Faktor typischerweise nicht finden, sondern nur den mittelbaren, nämlich denjenigen über den Menschen, der über ihn verfügt. Wer wissen will, in welcher Weise der Staat sein Interesse am Faktor verfolgt und welche verfassungsrechtlichen Probleme dabei entstehen, darf den Gegenstand der Betrachtung daher nicht allein in der staatlichen Behandlung des Faktors suchen, sondern muss auf die staatliche Behandlung des Faktorverfügenden blicken: Er muss also auf die Herrschaft selbst blicken, mithin auf das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Faktorverfügenden, nicht auf das (nur mittelbare) Verhältnis zwischen dem Staat und dem Faktor. Nur auf diesem Wege ist das Verhältnis zwischen dem staatlichen Interesse (am Faktor) und der staatlichen Herrschaft (über den Faktorverfügenden) zu klären. Im Lichte dieser Überlegungen soll der nun folgende Teil dieses Beitrages den Verfassungsstaat als Wettbewerber gerade unter dem spezifischen Gesichtspunkt des staatlichen Herrschens betrachten. Der staatstheoretische Dreh- und Angelpunkt muss dabei der Prozess des Unterwerfens sein. Denn Herrschaft bedeutet – auch im liberalen Verfassungsstaat – im Kern Unterwerfung. Im offenen System lässt sich der mobile Unterworfene aber nicht mehr in gleicher Weise unterwerfen wie der immobile Unterworfene. Er bleibt trotz seiner Mobilität zwar Unterworfener. Die Unterwerfung trägt aber nicht mehr die klassischen Züge einer (eben staatlichen) Fremdunterwerfung, wie sie die Staatslehre Jellinekscher Prägung noch vorsah, sondern ganz wesentlich diejenigen einer individuellen Selbstunterwerfung. Der mobile Unterworfene unterstellt sich einer Herrschaft eher als dass diese ihn unterwirft. Konzeptionell lässt sich dieser Umstand im Begriff der „bedingten Herrschaft“ einfangen, bedingt durch die Selbstunterwerfung. Offene Herrschaft ist – insoweit – also bedingte Herrschaft (C.I.). Der Übergang beim mobilen Unterworfenen von der Fremdunterwerfung zur Selbstunterwerfung (insoweit also die Subjektwerdung des Unterwerfungsobjekts) hat naturgemäß nicht nur Wirkungen auf den Prozess der Unterwerfung selbst, sondern auch auf die von dem Unterworfenen zu ertragene substanzielle Herrschaft. Denn der offene Staat steht ja gerade unter dem Damoklesschwert der Abwanderung des mobilen Faktorverfügenden und seines Faktors, so dass er sich – schon faktisch – nicht mehr jede Form substanziellen findet sich die Regel, dass die Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auch auf juristische Personen anwendbar seien (Art. 19 GG). Aber auch das Steuerrecht etwa ist voll von verkürzenden Konzepten der Faktorbelastung, wie zum Beispiel das Konzept der Körperschaftssteuer zeigt. Hier wird eine Faktorzusammenstellung (das Unternehmen) zum Steuerschuldner gemacht, ein Umstand, der sich mit hoheitlichem Handeln (Herrschaft ist Herrschaft über Menschen) nur über den Weg der gesetzlichen Fiktion vereinbaren lässt. Fiktion, auch gesetzliche Fiktion, heißt aber Nichtrealität. Die Körperschaftssteuer ist daher nichts anderes als eine Belastung des Unternehmenseigentümers – sie hat in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung bloße Inkassofunktion.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
Herrschens über den Verfügenden erlauben wird. Der Staat wird so zum Wettbewerber: Substanzielle Herrschaft gewinnt ein Element der Attraktivität, gerät gewissermaßen in ein Attraktivitätsparadigma hinein, namentlich in ein Paradigma relativer Attraktivität (relativ gegenüber jener der Herrschaft der Wettbewerber). Der Kern dieses Paradigmas zwingt den Staat zur Rücksichtnahme, will er den mobilen Unterworfenen beherrschen. Der Staat hat sich in seinem Willen also auf den Willen der Faktorverfügenden zuzubewegen, andernfalls – dies ist die ratio des Wettbewerbs und des ihr folgenden Verhaltens der mobilen Verfügenden – orientieren sie sich anderweitig (C.II.). Das so entstehende staatliche Rücksichtnahmeinteresse konfrontiert die Verfasstheit des Verfassungsstaates. Herausgefordert durch das staatliche Herrschen im Attraktivitätsparadigma gerät die Verfassung gewissermaßen selbst auf den Prüfstand. Denn sie bereitet dem Verfassungsstaat nicht nur wettbewerbliche Stärken (Stichworte: Stabilität, Freiheitsgenuss, Vorhersehbarkeit), sondern auch wettbewerbliche Schwächen. Gerade die wettbewerblichen Schwächen, die ein starkes Verfasstsein des Staates mit sich bringt (Stichworte: Unflexibilität, Belastungsgleichheit, sozialer Ausgleich usw.), müssen sich vor der wettbewerblichen Herausforderung rechtfertigen (C.III.).
I. Herrschaft in der offenen Staatlichkeit: Verfügendenmobilität als Konditionalisierer staatlicher Herrschaft Der moderne Staat ist ein Phänomen der Herrschaft, namentlich eine Kombination vielfältigen situativen, gleichwohl organisierten Befehlens und Gehorchens. Die Situativität staatlichen Herrschens hat, wohl auch im Angesicht der allgegenwärtigen Verzerrungen des Jellinekschen Verbands- und Einheitsdenken, bisher zwar kaum in die Staatswissenschaften vordringen können. Sie taucht aber immerhin vereinzelt auf, wenn es dabei auch nicht notwendig als spezifisch situativ beim Namen genannt wird. So schreibt etwa Helmut Quaritsch, ganz in dem Bemühen, den modernen Staat der Verfassungsrechtswissenschaft als Faktum zu öffnen: Dem Herrschaftsbegriff „ist lediglich die Existenz von Befehlsinstanzen mit Gehorsamschancen von hoher Wahrscheinlichkeit eigen, Beziehungen, die (rechts-)regelhaft gestaltet sind, ohne dass ein ,einheitliches‘ Rechtsnormensystem modernen Zuschnitts vorhanden sein müsste.“4 Hier zeigt sich: Der Kern der Erkenntnis liegt im Mehrzahligen. Staatliche Herrschaft ist eine Vielheit situationsbezogener Akte von Befehlen und Gehorchen, die zwar vielleicht im weitesten Sinne regelhaft gestaltet sein mögen, nichtsdestoweniger aber doch in höchstem Maße konkret, und zwar eben: situativ konkret sind.5 4
Quaritsch, Helmut, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1970, S. 35 (Hervorhebungen JLD). 5 Das Mystische, ja heilige Element, dessen sich der Staat dabei bedient, hat man dabei mit dem Begriff der Souveränität eingefangen, vgl. kritisch und äußerst aufschlussreich
I. Herrschaft in der offenen Staatlichkeit
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Der Umstand, dass staatliches Herrschen eine Vielheit situativen Befehlens und Gehorchens ist, schließt ein, dass der Einzelne sich – jedenfalls im Grundsatz – seinen Unterwerfer, also den unterwerfenden Staat, nicht aussuchen kann. Schon der Begriff des Gehorsams zeigt in diese Richtung: Nicht der freie Wille des aufgeklärten Menschen steht hier im Vordergrund, sondern die Erfüllung einer Pflicht, die gerade unabhängig des eigenen Willens besteht. Nicht umsonst hieß der Herrschaftsunterworfene früher Unterthan. Der Unterthan war der – im Verhältnis zur Herrschaft – Unten-Stehende. Dies ist im verfassungsrechtlich modern eingehegten Staat grundsätzlich nicht anders als in jedem anderen Staat.6 Denn auch der Verfassungsstaat ist Staat und unterfällt als solcher der staatlichen Phänomenalität. Zwar mag die Freiheitsberechtigung des Einzelnen im Verfassungsstaat die konkrete Ausübung von Herrschaft verändern, nicht jedoch die Natur von Herrschaft an sich. Dies ist gerade einer der wesentlichen Züge von rechtlicher Verfasstheit: Dass sie nämlich im Normativen verhaftet bleibt und insoweit nicht auf das Wesen des Tatsächlichen einwirken kann. Die Offenheit des Staates für Faktoren und ihre Verfügenden fordert das überkommene Konzept von Herrschaft nun allerdings heraus. Denn auch in der Offenheit ist Herrschaft der Ausdruck einer Unterwerfungsbeziehung. Der Prozess der Unterwerfung ist aber ein anderer als in der Situation der Immobilität des Beherrschten. Die (staatliche Fremd-)Unterwerfung wird in der Offenheit nämlich zur (eigenen Selbst-)Unterwerfung. Offene Staatlichkeit ist daher etwas kategorial anderes als geschlossen Staatlichkeit (wie immer und mit welcher Kraft sie im Einzelnen verfasst ist). Auch in der Offenheit gibt es zwar Befehl und Gehorsam. Beide Elemente sind sogar auch hier die tragende Säule des Herrschaftsbegriffs. Aber sie erhalten doch einen anderen Gehalt: Der Befehl erhält etwas Ausweichliches, wenn man sich den Befehlsgeber aussuchen kann. Und auch Gehorsam steht viel stärker auf einem Gehorsamwillen des Gehorchenden, wenn man sich den Gehorsamseinfordernden aussuchen kann. Offene Herrschaft ist daher vom ursprünglichen Konzept staatlichen Befehlens und untertänlichen Gehorchens konzeptionell recht weit entfernt. Das überkommene Konzept bedarf – selbst wenn es seinerseits wahrscheinlich selten oder nie vollständig durchgeführt zu finden war – also offenbar einer Anpassung. Wo liegen die Unterschiede zwischen dem Phänomen offenen Herrschens und dem überkommenen zur Funktion dieses Begriffs Haltern, Ulrich, Was bedeutet Souveränität?, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006. 6 Diese Auffassung von der staatlichen Phänomenalität des Verfassungsstaates als Herrschaftssystem spiegelt sich übrigens im Begriff der sozialen Wirksamkeit des Rechts wider, dessen Kernelement neben der Dominanz gegenüber anderen Normensystemen der Zwang ist, vgl. Alexy, Robert, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl., Freiburg: Alber, 2005, S. 203: „Das Merkmal des Zwangs enthält dieser Begriff deshalb, weil die soziale Wirksamkeit einer Norm darin besteht, dass sie entweder befolgt oder ihre Nichtbefolgung sanktioniert wird, und weil die Sanktionierung der Nichtbefolgung von Rechtsnormen die Ausübung von physischem Zwang einschließt, der in entwickelten Rechtssystemen staatlich organisierter Zwang ist.“ (Hervorhebungen JLD)
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Konzept von Befehl und Gehorsam, wie es der Jellinekschen Staatslehre noch zu Grunde lag? Wo liegen die Gemeinamkeiten? Dieser Frage soll sich der folgende Abschnitt widmen. Ausgehend vom Herrschaftsbegriff, wie ihn Jellinek seiner Staatslehre noch zu Grunde gelegt hat (C.I.1.), sollen im Folgenden daher – unter Benennung auch der typischerweise nicht explizit gemachten Voraussetzungen (C.I.2.) – die Eigenheiten des staatlichen Herrschens in der Offenheit näher betrachtet und auf ihre Einarbeitung in der Lehre vom offenen Staat hin überprüft werden (C.I.3.). 1. Das überkommene Konzept staatlicher Herrschaft: Situative Vielheit von Befehlen und Gehorchen Anders als das hier vertretene Verständnis vom Staat als einer situativen Vielheit von Befehlen und Gehorchen kann die seit längerem allgegenwärtige Rede vom Staat als einer Abstraktion7 im Lichte der soziologischen Erkenntnismethoden bei der Erfassung staatlicher Herrschaft nicht sehr weit tragen – der Staat ist nicht abstrakt, sondern in höchstem Maße konkret, so konkret wie das Umdrehen des Zellenschlüssels durch den Gefängniswärter konkret ist oder die Erstellung eines Steuerbescheides durch den Finanzbeamten. Das darin zum Ausdruck kommende situative Befehlen und Gehorchen ist, in seiner Kombination, Staat, übrigens genauso so wenig einheitlich wie abstrakt.8 Man kommt dem Staat daher nicht durch Abstraktion näher, und schon gar nicht durch die Fiktion einer Einheit im Herrschen9 – einer Einheit, die übrigens von Jellinek in seiner Verteidigung gegenüber modernen Herrschaftsatomisierern nie als Herrschaftseinheit, sondern als bloße teleologische Einheit im Zweck, also als Zweckeinheit, gemeint gewesen war.10 Man kommt ihm vielmehr nur eben gerade durch die vielfältige Situativität des Herrschens näher: Staatliche Herrschaft ist danach zunächst und vor allem menschliches Herrschen über Menschen. Im Staat herrscht also gewissermaßen, wenn auch nur situativ und sehr begrenzt, der eine Mensch eben über den anderen. Schon in der Bodin’schen Lehre war in Abkehr von der Vorstellung theistischer Herrschaft vollständig angelegt, dass nicht ein Abstraktum über den Untertan herrscht, sondern ein Mensch.11 Die Staatsrechtslehre hat dies zunächst auch sogar 7
Überblick dazu etwa bei Badura, Peter, Die Methoden der neueren Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl., Goldbach: Keip, 1998, S. 98, 110 ff. 8 Selbst die soziologische Staatslehre Hellers kann interessanterweise nicht vom Begriff der Einheit lassen, vgl. Heller, Herrmann, Staatslehre, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, etwa S. 269 ff. 9 Kritisch zu den verschiedenen Vorstellungen von aufgegebener und vorausgesetzter Herrschaftseinheit als Voraussetzung des Verfassungsrechts etwa Möllers, Christoph, Staat als Argument, München: Beck, 2000, S. 228 ff. 10 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Neudruck der Ausgabe von 1914, Berlin: Springer, 1922, S. 178 ff., 179. 11 Bodin, Jean, Les six livres de la république, 1576, dt. von Bernd Wimmer u. a., München: Beck, 1981.
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fortgeschrieben, wenn auch mit zusehender Aufweichung beim Herrschaftssubjekt. Bei von Mohl etwa taucht das staatliche Herrschen in unmittelbarem Zusammenhang zum Untertan auf, interessanterweise aber mit Blick auf den Herrschenden schon durchaus etwas distanziert von dem Obersten (etwa: „das Vorhandensein einer befehlenden, ordnenden und durchführenden Macht“).12 Gerber spricht vom staatlichen Herrschen als Willensmacht, die – übrigens ganz im Sinne einer mittlerweile zum Glück eher befremdend wirkenden „Gemeinwillenbildung“ – einer sittlichen „Gesamtkraft des selbstbewussten Volkes“ entspringe.13 Erst die positivistische Wendung führt in die eigentliche Staatsvernachlässigung: Schon bei Laband etwa taucht der Staat als Herrschaftsphänomen praktisch nicht mehr auf14, und auch Georg Meyer etwa spricht in seinem großen Lehrbuch nicht mehr über die Natur des Herrschens, sondern nur noch über die Einbindung der Gewalt, die er – ganz der Zeit gemäß – die „höchste“ nennt.15 Diese Staatsvernachlässigung wiederum löst sich schließlich in der positivistischen Enttatsächlichung des Staates auf, deren Folgen allgemein bekannt sind: Man machte den Staat in aller Akribie zum Gegenstand, jedoch ohne jeden Bezug zum Ertragen staatlicher Herrschaft durch den Untertan. Kelsen etwa spricht zwar über das untertänliche Gehorchen, etwa im Rahmen der Motivation zum Befehlen, jedoch nur mittelbar; er spricht nicht über die Sache selbst, außer in höchst abstrakten Wendungen, die dem Situativen des Staatlichen gerade seinen Kern nehmen.16 Der Grund ist deutlich: Kelsen suchte (allein) nach dem Inhalt staatlichen Herrschens, nicht nach dem wenig erklärungsfähigen, in Kelsen’scher Diktion aussagelosen Faktum des Ertragens der Befehle anderer durch den Untertan.17 Es ist eigentlich eine wissenschaftstheoretische Ironie, dass das staatliche Herrschen und mit ihm der Untertan erst über die – bekanntermaßen dezisionistisch überladene – Lehre Carl Schmitts wieder Eingang in die Staatsrechtslehre gefunden hat.18 12 Mohl, Robert von, Encyklopädie der Staatswissenschaften, Zweite Ausgabe der zweiten umgearbeiteten Auflage, Freiburg und Tübingen: Mohr, 1872, S. 115 ff., 122 ff. 13 Gerber, Carl Friedrich von, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, Neudruck der 3. Auflage Leipzig 1880, Aalen: Scientia Verlag, 1969, S. 19, 20. 14 Vgl. Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Aufl., Erster Band; Freiburg: Mohr, 1888. 15 Meyer, Georg, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 6. posthume Aufl., Leipzig: Duncker & Humblot, 1905, S. 19 ff. 16 Etwa Kelsen, Hans, Allgemeine Staatslehre, Berlin: Springer, 1925, S. 10, ähnlich S. 43: „Ja, von einem gewissen Standpunkt aus muss man die ganze staatliche Zwangsordnung, gleichgültig welchen Umfang ihre Kompetenz annimmt, als Machtorganisation qualifizieren“ (Hervorhebung JLD). 17 Ibid, S. 43: „Der Gegensatz von […] Macht und Recht, der in der Gegenüberstellung von Rechts- und Macht-Zweck und demgemäß von Rechts- und Machtstaat zum Ausdruck kommt, ist gänzlich ungeeignet, eine Einteilung der möglichen Inhalte staatlicher Ordnung und sohin eine materielle Typisierung der Staaten selbst zu liefern.“ 18 Schmitt, Carl, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 2. Aufl., Berlin, Duncker & Humblot, 2004.
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Den Umstand, dass staatliche Herrschaft als soziales Phänomen zu ihrer Wirksamkeit nicht nur ein Gehorchen des Befehlsempfängers, sondern auch eine hinreichende Entschiedenheit des Befehlsgebers – eben eines Menschen – voraussetzt, hat man erst mit dem Einzug der wertenden Soziologie in die Staatslehre (wieder) aufgegriffen.19 Gleiches gilt übrigens auch für die Wahrnehmung des Unterworfenen als Untertan: Sein Charakterzug ist das Objekthafte, das Gezwungene, das Nichtemanzipierte. Als Untertan hat der Herrschaftsunterworfene nichts zu sagen, er hat nur zu ertragen. Dieser Vorstellung vom Untertan als einem Herrschaftsobjekt stellt die normative Einhegung der Verfassung zwar den freiheitsbedachten und freiheitsfähigen Bürger entgegen. Die Jellinek’sche so genannte Statustheorie20 ist ein beredtes Zeugnis dieses Versuches, der – selbst noch ganz im Paradigma des Herrschens wurzelnd – erst im Verfassungsstaat der Nachkriegszeit in vielfacherweise seine Vollendung findet. Am Objekthaften des Untertanendaseins ändert die rechtlich vermittelte Subjektwerdung jedoch nichts. Die durch das Verfassungsrecht geschaffenen und geschützten Möglichkeiten zur politischen Gestaltung geben dem Untertanen zwar Raum zur Emanzipation. Soweit er Herrschaftsunterworfener bleibt, bleibt ihm aber dieses Objekthafte, Gezwungene, Nichtemanzipierte. Er kann sich hieraus selbst durch eigene Mitwirkung an der politischen Gestaltung nicht befreien. Möglichkeiten zur Mitgestaltung etwa über politische Ämter oder auch nur den Wahlakt entheben den Untertan daher dieses Objekthaften nicht. Denn der Einzelne ist der politischen (Mit-)Gestaltung grundsätzlich zwar fähig und vielleicht sogar auch bedürftig.21 Aus dem Umstand, dass man diese positive Freiheit zur (Mit-) Gestaltung hat, folgt aber naturgemäß nicht das Ende des Unterworfenseins. Im Gegenteil, die Unterwerfung – und damit das Ertragenmüssen von Herrschaft – besteht weiter fort. Gerade solche Garantien wie etwa die der demokratischen Gleichheit machen herrschaftliche Unterwerfung und damit auch unser uns alle verbindene Schicksal eines Herrschaftsobjekts überhaupt erst sichtbar.22 Dieses Schicksal des Unterworfenen zeigt sich im Verfassungsstaat vor allem in der Unterworfenheit auch solcher Herrschender, die mit einem hohen Maß von Herrschaftsmacht ausgestattet sind. Sogar eine Kanzlerin etwa darf an der Ampel nicht über rot fahren, muss die Regel also ertragen, es sei denn, sie hat Erfolg mit einer Änderung (deren Ergebnis sie aber ebenso ertragen müsste wie die geänderte Regel).
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Einführend dazu Heller, Herrmann, Die Souveränität; Ein Beitrag zur Theorie des Staatsund Völkerrecht, Berlin: De Gruyter, 1927, S. 40 ff. 20 Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Neudruck der 2. Auflage, Tübingen 1919, Darmstadt: Scientia Verlag Aalen, 1979, S. 94 ff. 21 Dieser Gesichtspunkt der Bedürftigkeit leuchtet trotz aller modernen Liberalität Isajah Berlin auf, vgl. etwa Berlin, Isajah, Two Concepts of Liberty, in: ders., Four Essays on Liberty, London u. a.: Oxford University Press, 1969, S. 118 ff. 22 Pointiert etwa Möllers, Christoph, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Berlin: Wagenbach, 2008, S. 21, bei These 21.
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2. Immobilität als ungedachte Voraussetzung des überkommenen Herrschaftskonzepts Das Begreifen der staatlichen Herrschaft als einen Zustand des (Fremd-)Unterworfenseins, nämlich des Unterworfenseins des Einzelnen durch eine dritte und also fremde Macht, setzt ein hohes Maß an Immobilität des Untertanen voraus. Dass die Untertanen zu früheren Zeiten gegebenenfalls auch einmal die Grenzen überschritten, war naturgemäß zwar nicht ausgeschlossen, gab aber lediglich zu Randbemerkungen Anlass. Man erinnere sich nur etwa an die Ausführungen des altliberalen Tübinger Lehrers Robert von Mohl, der in dem den Staat konstituierenden „Unterthanenverhältnis ein bleibendes und ausschließendes“ sah (Hervorhebung von Mohl): „Jenes, weil man dem Staate im Zweifel für ein ganzes Leben angehört; dieses, weil man naturgemäß nur Angehöriger Eines Volkes und Eines einheitlichen Organismus ist.“23 R. von Mohl kannte zwar Ausnahmen, wie etwa den Aufenthalt in einem fremden Staat oder die vorübergehende Indienststellung.24 Mit dem Phänomen des Wettbewerbs, wie es sich heute darstellt, haben diese Mobilitätsansätze aber freilich nichts zu tun. Nie wäre von Mohl wohl darauf gekommen, dass es Einzelne geben würde, die – sogar mit einiger Aussicht auf Erfolg – versuchen könnten, unterschiedliche staatliche Herrschaftsgewalten etwa gegeneinander auszuspielen. Er ist damit bis heute übrigens in der Gesellschaft der Staatsrechtslehre, wie etwa die jüngeren Ausführungen Seilers auf dem Juristentag in Bonn eindrücklich bestätigen, nach denen der Einzelne keinen Status des Nachfragers nach staatlichen Ordnungen habe, sondern in diese freiheitsberechtigt eingebunden sei.25 Auch in der Folgezeit findet sich in der Staatslehre zunächst kein Wort etwa zum Begriff der Mobilität, schon gar nicht zum Wettbewerb. In der Jellinekschen Staatslehre etwa taucht der Untertan bekanntlich zwar nicht nur als Pflichtsubjekt, sondern zentral eben auch als Rechtssubjekt auf.26 Dabei knüpfen seine Vorstellungen vom subjektiven öffentlichen Recht bekanntlich auch ganz maßgeblich an den Gedanken der Willensmacht. Für Jellinek ist das Etwas-Wollen gerade der Anknüpfungspunkt für die Verleihung subjektiver öffentlicher Rechte überhaupt. Es ist dieses Anerkenntnis des Etwas-Wollen-Dürfen-Sollens, um dessen Willen die Rechtsordnung den Schutz der Interessen der Einzelnen gewährleistet.27 Dieses Zugeständnis von Willensmacht materialisiert sich bei Jellinek aber nirgendwo im Zusammenhang der grenzüberschreitenden Mobilisierung von Produktionsfaktoren. 23 Mohl, Robert von, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., 2. Ausg., Freiburg: Mohr, 1872, S. 123. 24 Ibid, S. 124. 25 Seiler, Christian, Besteuerung von Einkommen – Aufgaben, Wirkungen und europäische Herausforderungen, Gutachten F/G zum 66. DJT, München: Beck, 2006, S. F 15. 26 Zur historischen und systematischen Abgrenzung näher etwa Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Neudruck der Ausgabe von 1914, Berlin: Springer, 1922, S. 425. 27 Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Neudruck der 2. Auflage, Tübingen 1919, Darmstadt: Scientia Verlag Aalen, 1979, S. 42, 44.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
Nirgendwo taucht bei Jellinek etwa die Frage auf, wie weit denn die Herrschaftsgewalt im Zweckverband Mobilität zulassen solle, etwa zu einem Zweck der „Entherrschaftlichung“. Man kann dieser Frage zwar im Lichte der Jellinekschen Überlegungen zur Staatsgewalt weiter nachgehen, wird dann aber schnell feststellen müssen, dass Jellinek diese Frage nach den richtigen Voraussetzungen einer „Entherrschaftlichung“ letztlich nicht entscheidet, ja sich nicht einmal stellt. Dies mag den einfachen Grund haben, dass es für Jellinek eine mobilitätsgetragene „Entherrschaftlichung“ in der Sache gar nicht gibt, sondern nur eine bedingte, bedingt nämlich durch die Verknüpfung mit einer „Einherrschaftlichung“, einem Übergang zu einer anderen Staatsgewalt, also einem Herrschaftswechsel. Für Jellinek ist in diesem Zusammenhang nämlich nicht bedeutsam, dass die Staaten dieser Welt unterschiedliche Vorschriften erlassen und damit unterschiedlich herrschen (Diversität von Herrschaft), sondern, dass es staatsfreien Lebensraum nicht (mehr) gibt. Relevant sind für ihn mithin nicht die Unterschiede im Herrschen, sondern die Existenz von Herrschaft auf einem Territorium überhaupt, mithin das Fehlen der Nichtexistenz von Herrschaft über menschliches Leben. Auf Grund dieser Annahme wird der Austritt aus dem Staate ein bedingter Austritt, bedingt „nämlich um sich einem anderen [„Staate“] zu unterwerfen“.28 Die Herrschaft führt dabei dazu, dass es nicht der Einzelne ist, der die Bedingungen für den mit der Unterwerfung einhergehenden Austritt bestimmt, sondern eben der herrschende Staat selbst. Der Staat setzt die Pflichten fest und erst wenn sie erfüllt sind, lässt er den Untertan gehen. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zu der von Jellinek abgegrenzten einfachen (nicht herrschenden) Verbandsgewalt, etwa der Kirche, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sie die Befolgung von Vorschriften nicht erzwingen kann, so dass sie darauf angewiesen ist, dass der Einzelne freiwillig ihre Befehle akzeptiert. Nach Jellinek kann sich solchem „nicht mit Herrschermacht ausgerüsteten Verbande jedes Mitglied jederzeit entziehen“.29 Hier kann also eine echte, oder in Jellineks Worten: unbedingte Entherrschaftlichung stattfinden, nämlich deshalb, weil der Austritt aus dem Verband nicht an den Eintritt in einen anderen Verband geknüpft ist. Der Umstand, dass Jellinek hier nicht auf das Wie der Herrschaft schaut, also die Unterschiede zwischen den Herrschaften, wie sie ein Faktorverfügender in den Blick nimmt, hier gerade nicht betrachtet, sondern (lediglich) das Ob von Herrschaft in den Mittelpunkt rückt, sagt viel über den Charakter, den Jellinek dieser Herrschaft beimisst. In dieser Wahrnehmung wird nämlich die Ausgestaltung der Herrschaft im Einzelnen, also insbesondere die Zulassung von Freiheit (nach Jellinek: von subjektiven öffentlichen Rechten), ihrerseits nicht eine Frage der Freiheit, sondern bleibt
28
Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Neudruck der Ausgabe von 1914, Berlin: Springer, 1922, S. 429. 29 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Neudruck der Ausgabe von 1914, Berlin: Springer, 1922, S. 427 ff.
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eine Frage der Herrschaft.30 Hier bestätigt sich, dass Jellinek seine staatstheoretischen Überlegungen zum Austritt des Einzelnen aus dem Zweckverband noch nicht in Begriffen des ausgereiften Verfassungsstaates mit eigenständig geltendem, im Geltungsgrund also emanzipierten Verfassungsrechts entwickelt hat, sondern aus der Betrachtung des Einzelnen letztlich – auch in seinen Berechtigungen – als Herrschaftsobjekt. Die prägende gedankliche Strömung, die hier sichtbar wird und im damaligen Kaiserreich ja auch sehr vollständig durchgeführt war, durchzieht die Staatslehre im Weiteren dann übrigens wie ein roter Faden. Eine besondere Ausgestaltung hat sie später bei Carl Schmitt gefunden, der dem Untertanenverhältnis eine staatsphilosophisch moderne Radizierung schenkt und dabei beachtlicherweise das Individuum in dem Verhältnis zwischen Macht und Recht sogar ganz und gar ausscheidet.31 Hier ist nur noch Staat. In dem von Schmitt so nicht nur beschriebenen sondern ganz und gar etablierten Untertanenverhältnis liegt einer der wesentlichen Gründe für die – relative – Aussagelosigkeit des so genannten methodologischen Individualismus. Er findet nämlich zu dieser verbreiteten Wahrnehmung des Staates – und damit auch der so-seienden tatsächlichen Existenz von Staatlichkeit – keinen Zugang, sondern lehnt sie vielmehr aus kategorischen Gründen einfach ab. Aus der Welt schafft er sie damit freilich nicht. Es ist nicht Sache dieses Beitrages, die in dieser Strömung zum Ausdruck kommende Auffassung, nach der erst der Staat kommt, und erst dann der Einzelne, näher zu untersuchen.32 An dieser Stelle reicht es zunächst vielmehr aus, festzuhalten, dass der Wettbewerb in den ersten zweihundert Jahren des modernen Staates angesichts der geringen Mobilität der Herrschaftsunterworfenen kaum eine Rolle gespielt hat. Auch die Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik gingen um andere, wichtigere Fragen, und selbst die verschiedenen Versuche in der Bundesrepublik Deutschland, die Staatslehre neu zu schreiben, hatten andere Probleme zu lösen, als ausgerechnet diejenigen der staatlichen Offenheit. Weder bei Herbert
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Bereits Jellinek hat, was den Freiheitsschutz durch Recht angeht, einen klaren Primat der Herrschaft vor der Freiheit gesetzt, wenn er schreibt: „Jedes subjektive Recht setzt voraus das Dasein einer Rechtsordnung, durch die es geschaffen sowie anerkannt und in größerem oder geringerem Maße geschützt wird“, vgl. Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Aalen, Scientia, 2. Neudruck der 2. Aufl. Tübingen 1919, 1979, S. 8. Der von Jellinek behauptete Primat der Herrschaft lässt sich, jedenfalls von einer positivistischen Perspektive aus, auch kaum relativieren, auch wenn i.Ü. die auf ihn gegründete Theorie des subjektiven Rechts mittlerweile in vielerlei (vor allem rechtskultureller und -systemischer) Hinsicht fragwürdig und im Rahmen der europäischen Integration vielleicht sogar überholt sein mag, vgl. i. e. etwa Nettesheim, Martin, Subjektive Rechte im Unionsrecht, 132 AöR 2007, S. 333. 31 Schmitt, Carl, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 86. 32 Der wohl jüngste, mittlerweile aber bereits klassisch gewordene umfassende Gegenentwurf hierzu findet sich bei Hayek, Friedrich A. von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
Krüger33 noch bei Roman Herzog34 oder Felix Ermacora35 finden sich nennenswerte Überlegungen zu diesem Thema. Man kann daher festhalten: Die substanzielle Herrschaftsausübung konnte problemlos im Verständnis von Zwang und Gerhorsam begriffen bleiben. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein hat die Staatslehre die Herrschaftsunterwerfung als Wirkungsbedingung substanziellen Herrschens zwar vorausgesetzt, an ihrem Bestehen als Fremdunterwerfung aber keinen weiteren Anstoß genommen. Die (staatliche) Fremdunterwerfung konnte vielmehr wie selbstverständlich unterstellt werden. Denn mangels Mobilität hat der Staat den Einzelnen gemeinhin tatsächlich unterworfen, also gegen seinen Willen zum Gehorsam zwingen können. Die Herrschaftsausübung war in der theoretischen Wahrnehmung daher zwar immer bedingt, die zu Grunde liegende Bedingung des Unterworfenseins war aber eben typischerweise im Wege der Fremdunterwerfung erfüllt. Der Staat hat die ihm gesetzte Bedingung regelmäßig selbst erfüllt. Es handelte sich damit sozusagen um eine unechte Bedingung. 3. Konzeptionelle Weiterentwicklung im Angesicht faktoroffener Staatlichkeit: Der Selbstunterwerfungswille des Faktorverfügenden als echte Herrschaftsbedingung An der unechten Bedingtheit staatlicher Herrschaft scheint die Mobilität der unterworfenen Faktorverfügenden nun aber etwas zu ändern. In der Tat unterwirft sich der wirklich mobile Faktorverfügende selbst der staatlichen Herrschaft, nicht wird er unterworfen. Die Mobilität emanzipiert ihn, den Herrschaftsunterworfenen, insoweit von einem bloßen Unterwerfungsobjekt zu einem echten Unterwerfungssubjekt. Zwar kann sich der Unterworfene nicht aussuchen, ob er überhaupt staatlich unterworfen wird, da es wirklich staatsfreie Räume heute tatsächlich eben kaum mehr gibt (und selbst so genannte failed states typischerweise nicht in diesem Sinne herrschaftsfrei sind36). Er kann sich aber – im Rahmen der Offenheit, also nicht zuletzt auch der jeweils geltenden Zuzugs- und ggf. Einbürgerungsbestimmungen – aussuchen, von welchem Staat er unterworfen wird. Diese Möglichkeit der Selbstunterwerfung im Hinblick auf die Wahl des „von wem“ ist bereits ein ganz erheblicher Autonomiegewinn der Einzelnen. Denn für den Staat, den der Einzelne verlässt, ist es letztlich unerheblich, ob der Einzelne deshalb den Staat verlässt, weil er (heute unmöglicherweise) ein herrschaftsfreies Gebiet findet, oder nur deshalb, weil er (heute gut möglich) eben „nur“ ein für ihn attraktiveres Herrschaftsgebiet findet. Bereits die Möglichkeit zur Abwanderung in einen – aus welchen Gründen auch 33 34 35
1979.
Krüger, Herbert, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart: Kohlhammer, 1966. Herzog, Roman, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1971. Ermacora, Felix, Grundriß einer Allgemeinen Staatslehre, Berlin: Duncker & Humblot,
36 Vgl. jüngst dazu etwa Geiß, Robin, Armed Violence in Fragile States, 91, ICRC 2009, S. 873. Zum völkerrechtlichen Konzept der failed states statt vieler etwa Geiß, Robin, Failed States, Berlin: Duncker & Humblot, 2005.
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immer – attraktiveren Staat nimmt dem Staat also ganz wesentliche Teile der Unterwerfungssubjektivität und schiebt sie – gewissermaßen im Rahmen einer Mutation – in den Bereich des Herrschaftsobjektes, also den Einzelnen, der – jedenfalls insoweit – dadurch zum Herrschaftssubjekt wird.37 Es ist eine der Kernthesen dieses Beitrages, dass die Folge der Mobilität des Unterworfenen für das Phänomen der Herrschaft in einer Konditionierung dieser Herrschaft durch den (Selbst-)Unterwerfungswillen des Unterworfenen liegt.38 Sie macht also die unechte Bedingtheit von substanzieller Herrschaftsgestaltung durch die Unterwerfung (Bedingtheit durch eine Bedingung, die der unterwerfende Staat selber erfüllen kann) zu einer echten Bedingtheit, indem sie nämlich die Herrschaftsunterwerfung ihrerseits von einer Fremd- zu einer Selbstunterwerfung umformt und hierdurch dem herrschaftsunterwerfenden Staat die Selbsterfüllung der Bedingung versagt: Der Staat kann nicht mehr selbst entscheiden, ob er jemanden unterwirft, wenn die in Frage stehende Person, also das Herrschaftsobjekt, mobil ist. Man kann also sagen, dass die Mobilität des Unterworfenen die Bedingtheit substanzieller Herrschaftsgestaltung verechtert. Im Lichte dieser Beobachtungen leuchten die Konsequenzen wachsender Offenheit für die staatliche Herrschaft und den Begriff, den wir uns von ihr machen, bereits im Einzelnen deutlich auf: In der (staatlich gewollten(!)) Offenheit geht der Staat durch die Mobilität des Unterworfenen jenem Teil der Herrschaft, die er in der 37 Diese partielle, auf das Aussuchen von Herrschaft gerichtete Subjektwerdung des einzelnen ist freilich etwas völlig anderes als die ethische Subjektwerdung des einzelnen hin zu einem Weltbürger. Eine Weltbürgerethik im weiteren Sinne nimmt eher Bezüge von intellektueller Freiheit und Verantwortung im Angesicht der Globalisierung in Bezug, weniger das Suchen nach der eben gerade attraktivsten Herrschaft, vgl. etwa Höffe, Otfried, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger: Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München: Beck, 2004, S. 151 ff. Die vorliegend in Bezug genommene – utilitaristisch durchaus ziemlich banalisierte – Subjektwerdung betrifft eher strategische Überlegungen des Einzelnen, deren spieltheoretische Analyse angesichts der modernen akteurs-zentrierten Ansätze im Sinne Scharpfs übrigens durchaus vielversprechende Rückschlüsse auf die richtige staatliche Antwortstrategie zulässt (vgl. methodisch dazu etwa Scharpf, Fritz W., Games Real Actors Play, Westview Press, 1997). Daneben finden sich in der analytischen Literatur allerdings durchaus konzeptionelle Mischformen, die sowohl die individuelle Ausnutzung von wettbewerblichen Unterschieden in der staatlichen Regulierung einerseits als auch echte Globalisierungsverantwortung andererseits in den Blick nehmen, vgl. etwa Norris, Pippa, Global Governance and Cosmopolitan Citizens, in: Nye, Joseph S./Donahue, John D., Governance in a Globalizing World, Washingten DC: Brookings Institution Press, 2000, S. 155. In eine ähnliche Richtung geht übrigens die ethische Aufladung des Völkerrechts in der Globlaisierung, vgl. etwa Paulus, Andreas, L., Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, München: Beck, 2001. 38 Dieser Gedanke der mobilitätsbedingten Konditionalisierung von Herrschaft findet sich in der deutschen Politikwissenschaft bezeichnenderweise übrigens sehr viel deutlicher als in den engen Grenzen der Rechtswissenschaft, vgl. beispielhaft nur etwa Leibfried, Stephan/Zürn, Michael, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, in: dies. (Hrsg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006. S. 19, 54: „[…] staatliche Souveränität von einer dauerhaften Eigenschaft zu einer bedingten Gewährung mutiert […]“ (Hervorhebung: JLD).
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Unterwerfung selbst ausübt, verlustig. Der mobile Unterworfene wird nicht mehr wirklich fremdunterworfen, er unterwirft sich – im Hinblick auf die Auswahl der Herrschaft – vielmehr selbst. Vergleichbar entstrickt er sich, wenn er eine Ordnung verlässt, vielleicht nicht gerade von heute auf morgen (es bleiben fortwirkende Pflichten etwa nach dem Außensteuergesetz im Fall von Wohnsitzwechsel und Einkünfteverlagerungen39), jedoch durchaus mit bleibender Wirkung. Mit der (staatlichen) Fremdunterwerfung als einem selbstverständlichen Teil staatlicher Herrschaft ist es in der Offenheit also offenbar zu Ende, jedenfalls was die mobilen Unterworfenen in der Auswahl des Unterwerfers anbelangt. Die darüber hinausgehende substanzielle Herrschaft, also der auf Grund der Unterwerfung bestehende Teil staatlicher Herrschaft, besteht demgegenüber fort, und zwar – ähnlich wie im geschlossenen Gemeinwesen – so lange, wie die Unterwerfung selbst fortbesteht.40 Aus der formalen Wirkungsbedingung einer staatlichen (Fremd-)unterwerfung wird mit dem Übergang zur Selbstunterwerfung also eine echte Wirkungsbedingung; aus der bloß formalen Bedingtheit staatlicher Herrschaftsgestaltung durch die staatliche Fremdunterwerfung wird eine echte Bedingtheit staatlicher Herrschaftsgestaltung, nämlich die Bedingtheit durch die Selbstunterwerfung des mobilen Verfügenden unter die staatliche Herrschaft.41 Nichts anderes meint man in der Literatur, wenn man – wie etwa Habermas – von der „Entmächtigung“ des Nationalstaates spricht.42 Freilich dreht Habermas hier das 39 Näher etwa Dreßler, Günter, Gewinn- und Vermögensverlagerungen in Niedrigsteuerländer und ihre steuerliche Überprüfung, 4. Aufl., München: Luchterhand, 2007. 40 Dieser Umstand der – sachlich auf die Auswahl des herrschenden Staates begrenzten – Konditionalisierung von Herrschaft erklärt übrigens auch den Umstand, dass trotz des Wettbewerbs die Steuereinnahmen und das Gewaltmonopol – jedenfalls relativ – erfolgreich verteidigt werden können. Leibfried/Zürn sprechen in diesem Zusammenhang interessanterweise von „Paradoxien und Inkongruenzen im Staatsgefüge“, vgl. ibid. S. 54. Unter dem Gesichtspunkt der hier hervorgehobenen teilweisen Selbstunterwerfung erscheint das Fortbestehen staatlicher Herrschaft nicht nur als wenig erstaunlich, sondern sogar als geradezu naturgegeben. Wenn die Selbstunterwerfung tatsächlich nur das wo (und damit teilweise auch das wie), nicht das was der staatlichen Herrschaft betrifft, muss es geradezu folgerichtig erscheinen, dass das Gewaltmonopol weitgehend beim Staat bleibt. Darüber hinaus ist Leibfried/Zürn aber auch in der Sache zu widersprechen, denn die Union zeigt, dass das Gewaltmonopol durch Integrationsprozesse eben doch stärker beeinträchtigt sein kann, als von Leibfried und Zürn hier unterstellt. Insofern besteht auch Widerspruch zu den – die Union weitgehenden ausblendenden – Überlegungen bei Jachtenfuchs, Markus, Das Gewaltmonopol: Denationalisierung oder Fortbestand?, in: Leibfried, Stephan/Zürn, Michael (Hrsg.), Transformationen des Staates?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006. S. 69. 41 Übrigens ist dies ein weiterer Gesichtspunkt in der bekannten Heldschen Analyse zwischen „thick and thin globalism“, der eher bei der Vertiefung (den „thick-elementen“) der Globalisierung zu verorten wäre, vgl. dazu Held, David u. a., Global Transformation: Politics, Economics and Culture, Stanford: SUP, 1999, S. 21 ff. Zur Rezeption der Unterscheidung vgl. etwa Keohane, Robert O./Nye, Joseph S., Introduction, in: Governance in a Globalizing World, Washingten DC: Brookings Institution Press, 2000, S. 1, 7 ff. 42 So wörtlich Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation; Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998, S. 91, 107.
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Rad begrifflich vielleicht etwas weit43, ist doch dieser Entmächtigungsprozess, von dem er da spricht, eher ein bloßer Konditionalisierungsprozess.44 Denn zum einen will der Staat ja die Offenheit, deshalb schafft er – ein- oder mehrseitig – Freiheitsräume, die sie ermöglichen. Zum anderen aber setzt die Durchsetzung eines solchen Willens zum Herrschaftsabbau ihrerseits Herrschaft notwendig voraus, ist also sozusagen Herrschaftsabbau in Herrschaft. Auch die hier dargestellte Bedingtheit der Herrschaft durch den Selbstunterwerfungswillen des Sich-Unterwerfenden ist danach also eine Bedingtheit, die in der Tat in Herrschaft geschaffen worden ist.45 Bereits an dieser Stelle leuchtet übrigens auf, dass offenbar auch ein – theoretischer wie auch praktischer – Unterschied zwischen der Mobilität von Faktoren (an denen der Staat eben „lediglich“ ein Interesse hat) und der Mobilität der Faktorverfügenden (über die ein Staat gegebenenfalls herrscht) besteht. Die Unterschiede lassen sich an einem finanzkräftigen Staatsbürger leicht verdeutlichen: Verschiebt ein solcher Bürger einen Teil seines Sachkapitals aus Gründen, die im Wettbewerb zwischen den Staaten wurzeln, in einen anderen Staat, ohne selber mobil zu sein, so untersteht er weiter der staatlichen Herrschaft: Rücksichtnahme bedeutet in dieser Situation lediglich (rücknehmbare) Herrschaftsrücknahme. Kann der Staatsbürger seinem Staat demgegenüber wirksam damit drohen, dass er nicht nur sein Kapital verschiebt, sondern auch selber den Staat verlässt, weil er selber (nicht nur sein Faktor) mobil ist (doppelte Mobilität), und nimmt der Staat dieser Drohung wegen auf ihn Rücksicht, so spricht einiges dafür, dass es sich bei der staatlichen Herrschaft nur noch um eine bedingte Herrschaftsausübung handelt, bedingt nämlich durch den 43 Noch weitergehend im Sinne einer „Denationalisierung“ (wenngleich auch mit kritischer Quantifizierung) Zürn, Michael, Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999, 68. 44 Die der These von der „Entmächtigung“ folgende Literatur hat sich in der Folgezeit bekanntlich bemüht, eine postnationale Demokratietheorie zu entwickeln. Eine gute Einführung in dieses Projekt, dessen Notwendigkeit man von der hier vertretenen Position übrigens mit guten Gründen bezweifeln kann, liefert etwa Abromeit, Heidrun, Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen: Leske und Budrich, 2002. Näher zum ganzen etwa Nettesheim, Martin, Europäische Integration und Europäisierung der Demokratietheorie, in: Dörr, Oliver u. a., Ein Rechtslehrer in Berlin, Symposium für Albrecht Randelzhofer, Berlin: Springer, 2004, S. 55. So wichtig diese Bemühungen für die Theorieentwicklung sind, so sehr lassen sie doch zuweilen offenbar in den Hintergrund treten, dass hier in der Tat keine echte (Fremd-)Entmächtigung stattfindet, sondern eben nur eine (durchaus selbst bestimmte) Konditionierung von Herrschaft. 45 Insofern hat es schon einen doppelten Bezug, wenn man soziologisch auch heutzutage noch immer die Dominanz des Staates zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht, vgl. etwa Suleiman, Ezra, Dismantling Democratic States, Princeton, NJ: Princeton UP, 2003, S. 22 ff. Vgl. dazu auch die Literatur zum Wandel des Gegenstands der Staatsrechtslehre etwa bei Kokott, Juliane/Vesting, Thomas, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, 63 VVDStRL 2004, S. 7 ff., 41 ff. Einen vorzüglichen – durchaus auch wissenschaftspolitischen und insoweit nicht unkritischen – Überblick aus der Vogelperspektive bietet jüngst Möllers, Christoph, Der vermisste Leviathan, Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
Willen des Herrschaftsunterworfenen zur Selbstunterwerfung. Das einfache Beispiel zeigt – bei allen Schwierigkeiten seiner Generalisierbarkeit – bereits eine grundlegende Richtung, in die die Staatstheorie im Lichte des Wettbewerbs gehen sollte, wenn sie zum Phänomen des Wettbewerbs zwischen den Staaten valide Aussagen machen können will: Sie muss, um der Verfolgung des staatlichen Interesses am Faktor näherzukommen, ihr Augenmerk ganz offenbar auch auf die Mobilität des Faktorverfügenden, nicht des Faktors, richten.46
II. Der offene Staat als wettbewerbender Staat: Rücksichtnahme im Paradigma relativer Herrschaftsattraktivität Es spricht viel dafür, dass – im Maße des staatlichen Interesses am Faktor – dieser Übergang von der staatlichen Fremdunterwerfung zur individuellen Selbstunterwerfung mit Blick auf das Herrschaftsphänomen selbst in ein Paradigma der Rücksichtnahme gegenüber den Verfügenden mobiler Faktoren führt. Denn wenn Herrschaft tatsächlich in der beschriebenen Weise bedingt ist (nämlich im Hinblick auf den Selbstunterwerfungswillen des mobilen Verfügenden), dann wird der Staat, um seine Interessen verfolgen zu können, versuchen, dass sich die Bedingung für sein eigenes Herrschen auch tatsächlich erfüllt. Er wird – aus seinem Interesse am Faktor heraus – also versuchen, dass sich der Verfügende im Hinblick auf seine Faktoren der eigenen staatlichen Herrschaft gegenüber unterwirft. Weil diese Bedingung naturgemäß aber nicht vom Staat selbst erfüllt werden kann, sondern eben nur von dessen Gegenüber, also von demjenigen, den er (mit Blick auf dessen Faktoren) zu unterwerfen ein Interesse hat, wird der Staat hier gerade nicht mit herrschaftlichen Mitteln arbeiten können, sondern nur über den Weg des Anreizes. Angesichts des so entstehenden Anreizmechanismus ist der Staat, will er sein Interesse befriedigen, also zur Rücksichtnahme gegenüber dem Verfügenden verdammt. Er wird niemanden 46
Eine ähnliche Bedingtheit der Herrschaft durch den Willen des Faktorverfügenden besteht dann, wenn der Verfügende zwar nicht mobil, aber – immobil – einer anderen staatlichen Herrschaft, also der Herrschaft eines Drittstaates, unterstellt ist, sich dabei aber bereichsspezifisch, etwa im Wege einer Unternehmensniederlassung, der staatlichen Herrschaft aussetzt. In diesem wichtigen Fall ist die partielle Herrschaft – ebenso wie eine Vollherrschaft – über einen mobilen Verfügenden durch den (dann eben nur partiellen) Unterwerfungswillen des (dann eben nur partiell) Beherrschten bedingt. Ein Beispiel hierfür ist der immobile Unternehmer eines Drittstaates, der ein Unternehmen im Staat führt und sich dadurch bedingter Herrschaft unterwirft, etwa im Rahmen der Regulation des Unternehmens wie auch im Rahmen beschränkter Steuerpflicht (vgl. dazu auch zwei Fußnoten weiter oben). Dieser Fall ist herrschaftstheoretisch mit dem Fall doppelter Mobilität nahezu identisch. Er trägt zum Fall doppelter Mobilität (also demjenigen der Mobilität des Faktors und der Verfügenden) keine wesentlichen Unterschiede in sich, mit der Ausnahme freilich, dass die Herrschaft hier eben eine partielle ist, keine Vollherrschaft, und in ihrer Partialität jemanden trifft, der sich an sich außerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs aufhält. Diese Ausnahme ist aber keine herrschaftstheoretische, sondern lediglich eine nach der Breite der Herrschaftsunterworfenheit. Dieser Fall soll im Folgenden daher gleichgestellt werden. Auch von ihm ist daher die Rede, wenn auch Gründen der Vereinfachung von „doppelter Mobilität“ gesprochen wird.
II. Der offene Staat als wettbewerbender Staat
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durch Befehl und Gehorsam zur Selbstunterwerfung bringen, sondern lediglich über die Verbesserung seiner eigenen (relativen) Attraktivität. Es ist dieser spezifische Umstand (also der Umstand, dass der Staat sich in dieser Situation notwendig über Anreize verhalten muss, wenn er sein Interesse am mobilen Faktor befriedigen will), der es erlaubt, hier von einem Paradigma der Attraktivität zu sprechen. Das Paradigma der Attraktivität ist ein Paradigma der relativen Attraktivität (relativ ist die staatliche Attraktivität gegenüber der Attraktivität anderer Staaten). Kern dieses Paradigmas ist die Rücksichtnahme gegenüber den Verfügenden jener Faktoren, an deren Anziehung der Staat ein Interesse hat. Es lohnt sich, an dieser Stelle einen näheren Blick auf die herrschaftliche Bedeutung der Rücksichtnahme zu werfen. Denn angesichts des Ziels der Inklusion des Faktorverfügenden unter die eigene Herrschaft wird der Staat überhaupt erst zum Marktteilnehmer, und erst hierdurch eben auch zum Wettbewerber.47 Diese Zielbezogenheit staatlichen Wettbewerbens legt es nahe, zwischen einem wettbewerbenden (Rücksicht nehmenden) Staat einerseits und einem (durchaus faktoroffenen) Staat im Wettbewerb, der gerade nicht Rücksicht nimmt und damit auch gerade nicht wettbewerbend motiviert handelt, zu unterscheiden. Mit – und im Maße – seiner Offenheit stellt sich der Staat zwar in den Wettbewerb. Rücksichtnehmend (und damit wettbewerbend) ist der offene Staat allein kraft seiner Offenheit aber noch nicht. Vielmehr muss er noch zusätzlich zu seiner Faktoroffenheit etwas tun, um Wettbewerber zu sein. Die Unterscheidung zwischen dem „Staat im Wettbewerb“ und dem „wettbewerbenden Staat“ könnte an sich dahinstehen, wenn nicht das Verfassungsrecht an das Handeln des Staates anknüpfte. In der Tat ist verfassungsrechtlich relevant nämlich nicht ein Wettbewerbsergebnis, sondern ein Handeln im Wettbewerb, namentlich ein wettbewerblich motiviertes Handeln im Wettbewerb.48 Es macht daher Sinn, in doppelter Qualifizierung von einem „wettbewerbenden Staat im Wettbewerb“ zu sprechen. Ein wettbewerbender Staat handelt danach wettbewerblich motiviert, einem lediglich im Wettbewerb stehenden Staat fehlt im Handeln demgegenüber eine wettbewerbliche Motivation (C.II.1.). Bestimmend ist hier also gerade das (eben wettbewerblich) motivierte Wollen eines Staates. Erst durch den Rücksichtnahmewillen wird ein staatliches Handeln zu einem rücksichtnehmenden Handeln. Für weitergehende verfassungsrechtliche Überlegungen bedarf es daher 47
Was dies für die materielle staatliche Herrschaft im Einzelnen heißt lässt sich – politikbereichsweise – mittlerweile vielfältig studieren, vgl. dazu überblicksartig etwa die vergleichenden Sammelbände von Kahler, Miles/Lake, David A. (Hrsg.), Governance in a Global Economy, Princeton, NJ: Princeton, 2003; Weiss, Linda (Hrsg.), States in the Global Economy: Bringing Domestic Institutions Back In, Cambridge: CUP, 2003; Obinger, Herbert u. a. (Hrsg.), Federalism and the Welfare State, New World and European Experiences, Cambridge: CUP, 2005. 48 Das bloße Im-Wettbewerb-Stehen eines Staates folgt danach schon aus dem Umstand der Offenheit. Im Hintergrund steht hier, dass der Wettbewerb eben bloßer Ergebniswettbewerb ist. Ein Wettbewerben eines Staates (wettbewerblich motiviertes Handeln) folgt demgegenüber eher einer bestimmten (eben wettbewerblichen) Motivation im Handeln.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
eines genauen Blicks insbesondere auf den Willen des Staates (also das, was manche die subjektive Seite staatlichen Handelns nennen) und seine Bedeutung im Paradigma der relativen Attraktivität staatlichen Herrschens. Dementsprechend soll im Folgenden zunächst die Bedeutung des staatlichen Wollens für das Wettbewerben näher betrachtet werden (C.II.2.). 1. Der Wettbewerb zwischen offenen Staaten und der wettbewerbende Staat: Der spezifische Begriff des „wettbewerbenden Staates im Wettbewerb“ Nach der überkommenen Lehre vom Staat ist der Staat Herrscher, nicht Marktteilnehmer.49 Ein Marktteilnehmer aber herrscht nicht, sondern verhandelt. Und ein Herrscher verhandelt nicht, sondern herrscht. Mit der Behauptung eines Wettbewerbs zwischen den Staaten ist daher ein paradigmatischer Gegensatz etabliert, der sich in den überkommenen Begriffen der Staatslehre offenbar nicht leicht auflösen lässt. Man kann – jedenfalls in kategorischer Begrifflichkeit – nicht gleichzeitig situativ herrschen und verhandeln, sondern nur entweder herrschen oder verhandeln. Man kann – auch als Staat – zwar herrschaftliche Elemente mit Verhandlungselementen kombinieren, sie mischen und zu einer Art Gesamthandlung ausbauen. Die Staatspraxis wie überhaupt die allgemeine Handlungspraxis ist voll von solchen Beispielen.50 Und solche Mischungen haben sich im menschlichen Handeln ja sogar jenseits der Welt des Staates auch immer wieder sprichwörtlich niedergeschlagen, wie Redensarten beweisen, nach denen sich im menschlichen Verhalten beides kombiniert („Zuckerbrot und Peitsche“, „carrots and sticks“). Durch diese Kombinierbarkeit von Herrschafts- und Verhandelnselementen ändert sich aber nicht die paradigmatische Zuordnung dieser jeweiligen Elemente. Karotten sind eben keine Stöcke. Sie sind ein Anreiz, auf den der jeweilige Gegenüber nach eigenem Willen reagieren kann. Stöcke und Peitschen schließen die Geleitetheit des Handelns nach dem eigenen Willen demgegenüber weitgehend aus. Nicht anders ist es bei staatlicher Herrschaft und staatlichem Verhandeln: Staatliche Herrschaft ist ein Akt der Unterwerfung; er fordert Gehorsam und setzt diesen nötigenfalls durch. Staatliches Verhandeln ist demgegenüber vom Anreiz geprägt. 49 Vgl. die Angaben oben C.I.1. Dieser fortdauernde Aspekt von Staatlichkeit findet in der Literatur über den Wandel von Staatlichkeit leider nicht immer den ihm angemessenen Platz. Stattdessen spricht man zunehmend von allgemeinen Bildern und Metaphern wie etwa „Zerfaserung“ oder dem „Goldenen Zeitalter“, und diskutiert in diesem Zusammenhang sogar, ob man diese Metaphern nun zuerst in Bremen oder Berlin verwendet hat, vgl. die insoweit etwas fruchtlose Auseinandersetzung bei Schuppert, Gunnar Folke, Was ist und wie misst man Wandel von Staatlichkeit?, Der Staat 2009, S. 325; Genschel, Philipp/Leibfried, Stephan, Schupperts Staat, Wie beobachtet man den Wandel einer Formidee?, Der Staat 2009, S. 359. 50 Beisp.: Öffentlichrechtlicher Vertrag; Überblick dazu etwa bei Erichsen, Hans-Uwe, Begriff und Arten des verwaltungsrechtlichen Vertrages, in: Badura u. a. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin: De Gruyter, 2002, S. 402 ff.; vertiefend zum Problem des Herrschens durch Vertrag Eberhard, Harald, Der verwaltungsrechtliche Vertrag, Wien: Springer, 2005, S. 111.
II. Der offene Staat als wettbewerbender Staat
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Angesichts dieser paradigmatischen Unterschiede zwischen Herrschaft und Markt bedarf es der begrifflichen Unterscheidung zwischen einem „lediglich“ (faktor-)offenen Staat, der im Wettbewerb steht und daher eben auch Teil eines irgendwie sich ergebenden Wettbewerbsergebnisses ist, und einem „wettbewerbenden Staat im Wettbewerb“. Der „wettbewerbende Staat im Wettbewerb“ zeichnet sich vor allem durch seine wettbewerbliche Motivation und das von ihr getragene staatliche Handeln aus. Seine Spezifität liegt nicht so sehr im Ausgenmerk auf das substanzielle Wettbewerben (jeder Staat im Wettbewerb wird auf die eine oder andere Weise wettbewerblich motiviert handeln), sondern in der paradigmatischen Unterscheidung: Der wettbewerbende Staat zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er etwas tut, das über sein bloßes (relatives) Offensein für Faktoren substanziell hinausgeht. Er richtet sich nämlich auf den Wettbewerb ein – und in dem Maße dieser Einrichtung ist er stärker oder schwächer wettbewerbend. Ähnlich wie die Offenheit eines Staates ist also auch das „Wettbewerben“ eines Staates keine absolute Kategorie im Sinne eines Entweder-Oder, sondern eine relative im Sinne eines Mehr-oder-Weniger. Dieses Relative der Kategorie des Wettbewerbens bestätigt sich in der Betrachtung: Es gibt wahrscheinlich kaum einen Staat, der nicht in der einen oder anderen Weise wettbewerblich motiviert handelt – nur handelt jeder Staat auf anderen Gebieten und mit anderen Strategien wettbewerblich, so dass ein eindeutiger Vergleich – trotz vielfacher analytischer Beiträge und sogar Rankings51 – allenfalls mit Blick auf bestimmte Faktorgruppen möglich zu sein scheint. Trotz ihres relativen Charakters eines Mehr-oder-Weniger staatlichen Wettbewerbens im Wettbewerb hat die Unterscheidung zwischen dem wettbewerbenden und dem (eben bloß faktoroffenen) nicht-wettbewerbenden Staat eine kategorische Bedeutung, die gerade für den Verfassungsstaat von besonderer Bedeutung ist.52 Denn der Staat ist typischerweise nicht nur Handlungsträger, sondern er ist – in seiner Abstraktheit – als Handelnder überhaupt nur in seinem Handeln positiv seiend, das heißt, er wird (ganz in Hellerschen Sinne) gerade nur im Wege und durch sein Handeln, nämlich im Wege der Organisation von Herrschaft, wirklich.53 Der Wettbewerb kann, für sich genommen (als ein zeitgebundenes Handlungsergebnis), das Verfassungsrecht daher noch nicht herausfordern. Er kann es auch nicht verletzen. Er steht – als ein einfacher Handlungsergebniswettbewerb – vielmehr nur unverbunden neben dem Verfassungsrecht, wird also von ihm gar nicht eingefangen. Zwar erfasst das Verfassungsrecht ein staatliches Handeln im Wettbewerb. Dieses Erfassen 51
Diese Rankings werden mit wachsendem Interesse – nicht zuletzt auch als Indikator für den Wettbewerb – von der Staatsrechtslehre aufgenommen. Anne Peters etwa beginnt ihren Bericht zum Wettbewerb von Rechtsordnungen gar mit einem Hinweis auf solche Rankings etwa der Weltbank oder des WEF, Global Competitiveness Report 2009 – 2010 (zu finden unter http://www.weforum.org/documents, GCR09/index.html). 52 Zum Begriff des Verfassungsstaates und seinen Besonderheiten als gerade wettbewerbender (Verfassungs)Staat näher unten C.III.1. 53 Normativ mag er – im Rahmen seiner Rechtspersönlichkeit – zwar auch handlungsunabhängig existieren. Im Sein wird der Staat aber eben nur als tatsächlich Handelnder wirklich, und zwar als situativ Handelnder (näher dazu weiter oben C.I.1.).
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
staatlichen Handelns im Wettbewerb knüpft naturgemäß aber nicht an die bloße Existenz von wettbewerblichen Ergebnissen (eben Wettbewerb), sondern an das staatliche Handeln in diesem Wettbewerb, an. Es kommt für den Geltungsgrund und die Geltungsreichweite des Verfassungsrechts daher nicht darauf an, ob das von ihm eingehegte Handeln nun im Wettbewerb stattfindet oder nicht (im weiteren Sinne findet, wie gerade hervorgehoben, jedes staatliche Handeln in diesem Wettbewerb statt), sondern darauf, ob es – als wettbewerblich motiviertes Handeln – substanziell in das Verfassungsrecht eingreift oder nicht. Aus verfassungsrechtlichen Gründen kommt hier daher die wettbewerbliche Motivation des Handelns ins Spiel. Denn die Frage eines Eingriffs in Gehalte des Verfassungsrechts (und damit auch die Möglichkeit eines wettbewerbsspezifischen Abbaus von Verfassungsnormativität) erhält ihren Bezug zum Wettbewerb erst durch eine spezifisch wettbewerbliche Motivation des Staates für sein Handeln. Für die Frage eines spezifisch wettbewerblichen Eingriffs in das Verfassungsrecht (und damit auch für das wettbewerbliche Potenzial eines Abbaus von Verfassungsrecht) ist also nicht relevant, ob das wettbewerbliche Handeln des Staates nun gerade im Wettbewerb stattfindet (die Feststellung eines solchen Umstandes wäre trivial: Es findet – im Maße der Offenheit – immer im Wettbewerb statt), sondern ob es eben wettbewerblich motiviert ist und gerade in dieser wettbewerblichen Motiviertheit sein Potenzial zum Abbau verfassungsrechtlicher Normativität entfaltet. Die wettbewerbsbezogenen Ziele eines Handelns mit Verfassungseingriffs- und gegebenenfalls Verfassungsabbaupotenzial, nicht der Wettbewerb selbst, machen also die mit ihm verbundenen Herausforderungen für das Verfassungsrecht zu einem wettbewerblichen Spezifikum. Die Konsequenzen dessen liegen auf der Hand: Wettbewerbliche Herausforderungen des Verfassungsrechts entstehen nur, wenn ein Staat – offen oder verdeckt – wettbewerblich motiviert handelt. Nur in gerade dieser spezifischen Motivation kann ein staatliches Handeln im Wettbewerb und damit überhaupt auch das Phänomen des Wettbewerbs selbst zu einer Herausforderung für das Verfassungsrecht werden. 2. Der wettbewerbende Staat im Paradigma relativer Herrschaftsattraktivität: Rücksichtnahme und das Ziel der Inklusion von Faktoren unter die staatliche Herrschaft Der Kern des Übergangs vom Staat im Wettbewerb zum wettbewerbenden Staat liegt daher also in dem wettbewerblichen Wollen des Staates: Das Ziel der Inklusion des Einzelnen unter die staatliche Herrschaft bewegt den Staat dazu, Rücksicht auf die Verfügenden mobiler Faktoren zu nehmen.54 Die so entstehende staatliche 54
Hier erhält der Begriff der Inklusion eine völlig neue Dimension. Er hat bisher eher eine demokratietheoretische, weniger eine herrschaftstheoretische Rolle gespielt, vgl. etwa Habermas, Jürgen, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999; im Kontext des offenen Staates Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 100 ff.
II. Der offene Staat als wettbewerbender Staat
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Rücksichtnahme auf den nach Möglichkeit zu Unterwerfenden macht gerade den Kern wettbewerbenden Herrschens aus.55 Wettbewerbendes Herrschen orientiert sich – jedenfalls auch – an der Attraktivität für den Faktorverfügenden. Die Attraktivität, die wettbewerblich motiviertes Herrschen zu erreichen versucht, ist keine absolute Attraktivität, sondern nur eine relative Attraktivität, relativ gegenüber der Attraktivität der (mit-)wettbewerbenden Staaten: Denn der Staat steht nicht zu einem imaginären Staat im Wettbewerb, sondern nur zu wirklichen Staaten.56 Er muss sich daher auch nur mit ihnen messen. Es kann ihm bei seiner Rücksichtnahme daher nicht darum gehen, in absoluten Begriffen attraktiv zu sein, sondern nur darum, relativ zu seinen Wettbewerbern attraktiv zu sein. Auch der Gedanke relativer Attraktivität kann die Bereiche von Herrschen und Verhandeln freilich aber nicht sinnvoll begrifflich ineinander verschwimmen lassen. Insbesondere macht es wenig Sinn, Herrschaft in ein Anreizsystem umzubenennen. Man kann das Herrschaftliche am Herrschen dadurch begrifflich zwar verbrämen – man kann etwa, durchaus über das hier betrachtete Themenfeld hinaus, behaupten, dass die drohende Sanktion für das unerlaubte Überqueren einer roten Ampel lediglich ein (bloßer) Anreiz sei, stehen zu bleiben. Mit solchen Verbrämungen ist der Wahrnehmung der verhaltensleitenden Elemente der zu Grunde liegenden Regeln aber nicht gedient. Denn am Ende ist dem Einzelnen eben nicht freigestellt, etwa über die rote Ampel zu gehen und Sanktionen dafür in Kauf zu nehmen. Vielmehr unterwirft hier das staatliche Recht mit der gesamten staatlichen Durchsetzungsmacht den Einzelnen, die primäre Handlungsanordnung zu beachten.57 Es gibt einen auch 55 Der wettbewerbende Staat ist daher auch etwas anderes als der „lediglich“ schlanke Staat. Bei der so genannten Schlankheit des Staates geht es vor allem um die Reduzierung der Staatsquote und deren Rückwirkungen auf das Konzept der modernen Staatlichkeit, vgl. dazu aus staats-juristischer Sicht etwa Wallerath, Maximilian, Der ökonomisierte Staat: Zum Wettstreit zwischen juridisch-politischem und ökonomischem Paradigma, JZ 2001, S. 209. 56 Übrigens ist auf Grund dieser Relativität der Attraktivität im Attraktivitätsparadigma nicht zuletzt auch ein echter Herrschaftsverlust, also eine konkrete Abwanderung, nur in begrenzter Weise zu erwarten. Denn auch der mobile Unterworfene kann sich kaum in einen staatsfreien Raum verflüchtigen. Bereits dadurch wird der Anreiz zur Mobilitätsausübung, also zur tatsächlichen Bewegung in einen anderen Staat, deutlich geringer, als er wäre, wenn es aus Sicht des Verfügenden einen Idealstaat gäbe. Zum andern schaut auch der mobile Unterworfene in der Regel nicht nach nur einem Kriterium, sondern setzt seine persönliche Kosten-/Nutzengesamtrechnung an. Aus der Kombination beider Umstände folgt, dass die Kosten und der Nutzen eines Staates, auch für einen mobilen Faktorverfügenden, nicht absolut zu sehen sind, sondern immer nur relativ zu jenem anderer Staaten. Im Ergebnis führt dies übrigens dazu, dass der wettbewerbliche Druck auf das „bedingte Herrschen“ in der Offenheit vielleicht doch geringer ist, als man auf den ersten Blick vielleicht annehmen möchte. 57 In den Worten von Robert Alexy zum Begriff der sozialen Wirksamkeit eines rechtlichen Normensystems: „Das Merkmal des Zwangs enthält dieser Begriff deshalb, weil die soziale Wirksamkeit einer Norm darin besteht, dass sie entweder befolgt oder ihre Nichtbefolgung sanktioniert wird, und weil die Sanktionierung der Nichtbefolgung von Rechtsnormen die Ausübung von physischem Zwang einschließt, der in entwickelten Rechtssystemen staatlich organisierter Zwang ist (Hervorhebung JLD)“, vgl. Alexy, Robert, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg: Alber, 2005, S. 203.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
herrschaftstheoretischen, nicht bloß einen rechtlichen Unterschied zwischen einem rechtlichen Müssen und einem rechtlichen Dürfen. Denn wer einem rechtlichen Müssen zuwiderhandelt, nimmt nicht nur die Sanktion in Kauf und wählt im Übrigen eben einfach das Zuwiderhandeln, sondern rebelliert zugleich gegen den Herrschaftsanspruch, der auch heute noch – jedenfalls prinzipiell – im sprichwörtlichen Schuldturm endet.58 Das Recht als bloßes Anreizsystem zu deklarieren mag dem Ökonomen zwar lieb sein. Und seiner ökonomischen Analyse des Rechts beansprucht das Anreizdenken aus Gründen der Allokationseffizienz ja auch einen wichtigen Platz.59 Es kann dem Recht und der sich in ihm manifestierenden staatlichen Herrschaft jedoch nicht das Element des Gehorsams entwinden: Auch eine weitgehende Ökonomisierung des Rechts kann nichts an dem Unterwerfungscharakter rechtlichen Herrschens ändern. Auch die beste Ökonomie endet daher am Selbststand des Rechts. Dennoch lässt sich der Begriff des Marktes60 hier nicht ganz heraushalten.61 Fast zwangsläufig rückt das so genannte Austauschmodell in den Blickpunkt.62 Dass 58 Um im Beispiel zu bleiben: Wer bei rot über die Ampel geht, entscheidet sich eben nicht nur zwischen den Möglichkeiten eines Wartens und der Tragung der Konsequenzen eines Nichtwartens (etwa über die Wahrscheinlichkeit einer Zustellung und Durchsetzung eines Bußgeldbescheides), sondern er wendet sich zugleich gegen das primäre Gebot, ohne ihm entfliehen zu können. Ökonomen, die die staatliche Ordnung vor allem als Anreizsystem verstehen, übersehen gerade diesen Umstand der originären Primärpflichtverletzung: Die rote Ampel ist Herrschaft, auch wenn man sich ihrer – etwa angesichts einer besonderen finanziellen Leistungsfähigkeit – noch so leicht entwinden zu können meint. Man kann sich ihr nicht entwinden, wie sich spätestens dann zeigt, wenn man den Bußgeldbescheid nicht bezahlen will: Ein Anreiz umfasst die Möglichkeit eines Anders-Entscheiden-Dürfens. Er ist insoweit auf Freiheit gebaut. Herrschaft mag, wie im Verfassungsstaat, zwar an solcher Freiheit enden. Sie ist aber nicht ihrerseits freiheitsgetragen, sondern, man kann es noch so sehr drehen und wenden, auch im modernen Verfassungsstaat eine Sache von Zwang und Gehorsam. Die Verfassung setzt der Herrschaft zwar normative Grenzen, verändert sie aber nicht in ihrer Phänomenologie. 59 Grundlegend noch immer Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995. Mit Blick auf die konkrete Verfassungsrechtsauslegung am Beispiel Österreichs Lachmayer, Konrad, Effizienz als Verfassungsprinzip, in: Bungenberg, Marc u. a. (Hrsg.), Recht und Ökonomik, München: Beck, 2004, S. 135. 60 Vgl. zur Einführung in den ökonomischen Begriff des Marktes etwa Siebert, Horst, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 14. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer, 2003. 61 Individuelle Freiheit setzt zwar nicht notwendig marktliches Handeln voraus, wohl aber umgekehrt setzt marktliches Handeln schon begrifflich die Existenz eines Mindestmaßes von Freiheit voraus. Marktliches Handeln ist daher nichts anderes als ein Handeln in gegenseitiger Freiheit. Dies wird nicht nur in allgemein gängigen Marktbegriffen mehr oder weniger so aufgenommen, sondern ist auch zur Grundlage der Wissenschaft über den Markt überhaupt geworden. Nicht ohne Grund betrachtet man in der neueren Wissenschaft das Phänomen des Marktes nahezu ausschließlich aus der Perspektive des so genannten methodischen Individualismus, dessen normativer Ausgangspunkt die Freiheit des einzelnen, nicht sein Gehorsam ist. 62 Grundlegend hierzu und zu den daraus resultierenden organsisationswissenschaftlichen Problemen mit dem so genannten Kollektivismus etwa Vanberg, Viktor, Markt und Organisation, Tübingen: Mohr Siebeck, 1982, S. 3 ff., 77 ff. Zusammenfassung der auch wissen-
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dieses marktliche Modell eines echten – durch Beiderseitigkeit geprägten – Verhandelns auf die Situation der Selbstunterwerfung nicht vollständig passt, kann dabei nicht weiter erstaunen. Das Spezifische ist ja schließlich, dass hier ein an sich Untergeordneter mit einem an sich Übergeordneten in eine verhandlungsähnliche Situation gerät und der Untergeordnete seine Freiheit (in diesem Fall zur mobilitätsgetragenen Selbstunterwerfung) gerade durch den Übergeordneten gewährt bekommt. Dennoch ist die Nähe dieses Wettbewerbsprozesses zum Phänomen des Marktes aber doch frappierend: Im wettbewerbenden Staat mischt sich gewissermaßen das Marktliche mit dem Staatlichen in einer sehr eigentümlichen Art und Weise. Im Lichte der paradigmatischen Unterschiede zwischen Staat und Markt, zwischen Herrschaft und Verhandeln, kann es aber auch nicht weiter erstaunen, dass eine aktive Teilnahme des Verfassungsstaates wie überhaupt eines Staates am Wettbewerb, also ein Entgegenkommen gegenüber Verfügenden mobiler Faktoren, in der Staatsrechtslehre zu konzeptionellen Schwierigkeiten führt. Ein Einzelner, der mit einem Staat, dem er untergeordnet ist, eine Austauschbeziehung aufnimmt, bleibt seinem Staat an sich ja weiter untergeordnet. Wenn der Staat auf den freiheitsberechtigten Einzelnen nun eingeht und ihm im Wege dessen Zugeständnisse macht, so führt dies zu einer Verdrehung im Herrschaftsbegriff. Normativ mag ein Primat der Freiheit, wie ihn etwa Hayek behauptet63, ja bestehen. Im Faktischen hat diese normative Freiheit jedoch herrschaftliche Wurzeln: Dass die Freiheit vom Staat gewährt – und nicht nur respektiert – wird, ist gerade Ausdruck staatlichen Herrschens.64 Insoweit ist der freie herrschaftsunterworfene Einzelne mit dem autonomen Staat in dessen Marktteilnahme eben doch nicht auf einer Stufe. Austauschverhältnisse im Herrschaftsverhältnis haben daher immer etwa Prekäres. Angesichts dieser schwierigen Sachlage bedarf es bei der Betrachtung des Phänomens der wettbewerblich motivierten Rücksichtnahme nicht nur eines genaueren Blicks auf den Handlungswillen des Staates selbst, sondern auch und vor allem auf dessen Entstehung: Der Staat macht sich nämlich den Willen des mobilen Faktorschaftshistorischen Grundlagen hierzu auch etwa bei Buchanan, James M., Liberty, Market and State, Brighton, Sussex: Elgar, 1986. Hayek hat dieses Austauschmodell bekanntlich zu einer umfassenderen Evolutionstheorie fortentwickelt und so auch die Spontaneität von Ordnungen begründet. Freilich handelt es sich hierbei durchgängig um einen normativen Ansatz zur Eindämmung von Herrschaft, ohne dass bereits ausgemacht wäre, dass staatliche Herrschaft hierüber fortfallen würde. Besonders interessant zu lesen insoweit Hayek, Friedrich A. von, Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde, in: ders., Die Anmaßung von Wissen, Nachdruck, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, S. 16 ff. 63 Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 7 (Freiheit als „Quelle und Vorbedingung für die meisten moralischen Werte“). 64 „Jedes subjektive Recht setzt voraus das Dasein einer Rechtsordnung, durch die es geschaffen sowie anerkannt und in größerem oder geringem Maße geschützt wird.“, Jellinek, Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. Tübingen 1919, Nachdruck Aalen: Scientia, 1979, S. 8.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
eigentümers – jedenfalls ein Stück weit – zu eigen. Dies ist gerade der Kern des wettbewerblichen Handelns: Dass man im eigenen Willen auf den Willen des anderen, um den man wirbt, zugeht. Der Staat kommt dem Faktoreigentümer also – um seines eigenen Interesses willen – in seinem eigenen Wollen und Handeln entgegen und erfüllt, je nach Lage der Dinge, insoweit die Erwartung des Faktoreigentümers. Dies hat zur Folge, dass der Staat – in der Behandlung der Eigentümer mobiler Produktionsfaktoren – nicht mehr so handelt, wie er ohne die Wettbewerbssituation handeln würde, sondern (jedenfalls soweit er nach dem wettbewerblichen Rücksichtnahmegebot handelt) so, wie es der Faktoreigentümer von ihm erwartet. Der Staat nimmt sein Handeln zu Gunsten Einzelner (typischerweise aggregiert, also zu Gunsten einer Gruppe von Einzelnen, namentlich den mobilen Faktorverfügenden) zurück und lässt sich dabei durch den Willen des oder der Einzelnen leiten. Der Wille des oder der Faktorverfügenden wird also für den staatlichen Willen bis zu einem gewissen Maße zur Orientierung. Idealiter führt diese Orientiertheit nach der ratio des Wettbewerbs zu einer völligen Übereinstimmung des staatlichen Willens mit dem Willen des Faktorverfügenden, erklärbar durch das staatliche Interesse am Faktor. Hier nun stößt das Herrschen im Attraktivitätsparadigma auf ein echtes Problem, nämlich den Umstand, dass auch materiell nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes (von Befehl und Gehorsam) geherrscht, sondern nur mehr allenfalls noch verhandelt wird. Der Herrschaftsverlust, der mit der beschriebenen Konditionierung der Unterwerfung durch den Selbstunterwerfungswillen des Einzelnen65 eingetreten ist, setzt sich hier also in einem materiellen Herrschaftsverlust fort. Dies ist gewissermaßen der „zweite Teil“ der (Selbst-)Entmächtigung, von der Habermas im Zusammenhang der Offenheit spricht.66 Im Kern bedeutet der staatliche Rücksichtnahmewille nämlich, dass der Staat sich, soweit sein Rücksichtnahmewille reicht, das Interesse eines Dritten, nämlich eines (gegebenfalls potenziellen) Herrschaftsunterworfenen, zu eigen macht, obwohl dies eigenen Interessen, etwa einem allgemeinen Regulations- oder Einnahmeinteresse, „an sich“ entgegenläuft. Die wettbewerbliche Offenheit nivelliert hier also offenbar (jedenfalls partiell) staatliche Herrschaft, in dem sie ein Mindestmaß an staatlicher Rücksichtnahme bewirkt. Hier wird die herrschaftstheoretische Nähe – und Spannung – des Wettbewerbs zwischen den Staaten zum Markt besonders deutlich. Substanziell steht mit dieser Annäherung des Herrschaftswillens an den Willen des mobilen Unterworfenen im Raum, dass der Staat etwas will (Rücksichtnahme), was er „eigentlich“, nämlich in Abstraktion der Wettbewerbssituation, nicht wollen würde. Am Beispiel wird dies deutlich. Ein Staat, der ein hohes Maß an Umweltschutz anstrebt und dann mobilen Faktoreigentümern gegenüber in wettbewerblicher 65
Dazu oben C.I.3. Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation; Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998, S. 91, 107. Zum ersten Teil dieser Entmächtigung vgl. oben Teil C.I. 66
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Motivation Rücksicht nimmt, so dass er ihnen gegenüber (präferenziell oder nicht) keine hohen Umweltstandards geltend macht, handelt seinem Streben, und manche würden eben sagen: seinem „eigentlichen Willen“, entgegen.67 Dies ist der klassische Vorwurf der Willens- und Handlungsineffizienz staatlichen Handelns in der Offenheit.68 Allein dieser Vorwurf trägt nicht: Der Staat will ja Rücksicht nehmen. Er will zwar auch ein hohes Maß an Umweltschutz, aber eben auch Rücksicht. Der Kompromiss zwischen beidem kann zwar substanziell angegriffen werden, aber nicht mit dem Argument, dass der Staat in der Offenheit (willens-)ineffizient handele, sondern allenfalls mit dem Argument, dass er – in der Offenheit – das Falsche wolle, nämlich Rücksichtnahme, und gerade hierdurch seinen „eigentlichen Willen“ eines Maßes an Umweltschutz nicht verwirkliche. Es entspricht einer langen, bis auf Platon zurückgehenden Tradition, dass man den Willen des anderen, in diesem Fall den Willen der Herrschenden und damit jenen des Staates, nicht für das nimmt, was er ist, sondern für das, was er sein soll.69 Hier kommt normative Diskussion im analytischen Gewande, und es ist genau diese analytische Verklei67 In diese Richtung etwa Scharpf, Fritz W., Globalisierung als Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik, in 17 JNPÖ 1998, S. 41 ff. Die Behauptung einer Ineffizienz staatlichen Handelns in der Offenheit steht typischerweise auf der Grundlage eines Denkens in Möglichkeiten. Die nachfolgenden Überlegungen stellen sich ausdrücklich nicht in diese Tradition des Denkens in Möglichkeiten, sondern in jene des staatlichen Wollens. Denn der Staat will die Offenheit und auch das Regieren in der Offenheit. Die Folgen sind also durch den staatlichen Willen getragen. Von Willensineffizienz kann man in diesem Zusammenhang daher eigentlich nicht sprechen, eher schon von den Leistungsgrenzen des Rechts. In Begriffen der Macht handelt es sich hier freilich nicht um rechtliche Ineffizienz, sondern um Selbstentmachtung, etwa des Parlamentes, vgl. dazu etwa Herdegen, Matthias, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung, 62 VVDStRL 2003, S. 7, 21 ff. Insofern ist das BVerfG – bei aller Kritik am Duktus des BVerfG im Lissabon-Urteil – durchaus beizupflichten, dass es die deutschen Gesetzgebungsorgane an ihre Verantwortung im Integrationsprozess erinnert. Ob freilich ein zum Jagen getragener Jäger ein guter Jäger ist, bleibt zweifelhaft. Dennoch erscheint es nicht ganz ungefährlich, der normativen Anordnung des Rechts die Wirklichkeiten politischen Entscheidens rechtfertigend entgegenzuhalten, etwa im Sinne eines so genannten „realistischen Parlamentsverständnisses“, vgl. Morlok, Martin, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung, 62 VVDStRL 2003, S. 37, 64. 68 Nicht nur das Kooperationsparadigma, sondern auch das Konsensparadigma spielen hier die Hintergrundmusik; vgl. dazu etwa Becker, Florian, Kooperative und konsensuale Strukturen der Normsetzung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; ferner Dederer, Hans-Georg, Korporative Staatsgewalt, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004. Besonderes Interesse verdienen dabei naturgemäß nicht nur die Zusammenhänge einer „Kooperation nach innen“, sondern auch einer „Kooperation nach außen“. Vgl. aus jüngerer Zeit dazu etwa die jüngeren Berichte der Staatsrechtslehrertagung von 2006 zum Thema „Bundesstaat und Europäische Union zwischen Konflikt und Kooperation“, 66 VVDStRL 2007; in einer souveränitätsbewahrenden Richtung demgegenüber jüngst ferner Seiler, Christian, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; allgemeiner Hobe, Stephan, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin: Duncker & Humblot, 1998. 69 Umfassende Kritik hierzu bei Popper, Karl R., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, 7. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1992.
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dung eines außerordentlich normativen Argumentes, die das Argument so schlagkräftig macht.70 Dieser Behauptung der Willensineffizienz offener Herrschaft ist daher entgegenzutreten. Der Staat handelt – auch in der Offenheit – nicht in Unwillen, sondern er will sein Handeln, sowohl sein Handeln zur Öffnung und Offenhaltung als auch sein Handeln in der Offenheit. Dies gilt insbesondere für die Rücksichtnahme auf Faktorverfügende im eigenen Handeln. Staaten in der Offenheit wollen (und handeln) daher nicht ineffizient, sondern sie wollen (und handeln) anders, als es der Beobachter vielleicht will. Für das Argument, der Staat müsse – wider eigenen Willen – in der Offenheit Rücksicht nehmen, weil etwa der Wettbewerb ihn hierzu zwinge, ist damit kein Raum. Vielmehr ist die Rücksichtnahme Ergebnis eines situationsbedingten Kompromisses, dessen Kern gerade darin besteht, dass der Staat die Interessen und das Wollen des Faktorverfügenden in seinen eigenen Willen mit einbezieht. Dass das Argument der unrichtigen staatlichen Wollens typischerweise als Vorwurf der Willens- und Handlungsineffizienz des offenen Staates vorgebracht wird, liegt nicht zuletzt an der Tradition der Staatslehre, dem Staat eine (fiktive!) Willenseinheit zuzuschreiben In der Tat ist – insbesondere die deutsche – Staatslehre bis heute nicht am Kompromiss im staatlichen Wollen orientiert, sondern an der imaginierten Einheit staatlichen Wollens, also an der Vorstellung einer tatsächlichen Willenseinheit. Das Verständnis vom Staat als Willenseinheit findet bis heute seinen Niederschlag, auch in der Verfassungsrechtswissenschaft. Eindrücklich zeigt sich dies – in jedenfalls zweifelhafter Schmittscher Radizierung – etwa bei Böckenförde, der von der Friedens-, Entscheidungs- und Machteinheit als den wichtigsten Strukturmerkmalen des Staates spricht: „Wir sprechen vom Staat als Einheit, als politischer Einheit und erleben ihn als solche.“71 In Anti-Schmittscher Thetik möchte man solchen Aussagen gegenüberstellen: „Wir sprechen vom Staat als Vielheit, als politischer Vielheit und erleben ihn als solche.“ Das Verständnis vom Staat als einer Einheit (statt einer situativen Vielheit) im Denken, Wollen und Handeln ist eine der wesentlichen Ursachen für die Behauptung, der Staat müsse in der Globalisierung etwas tun, was er eigentlich nicht tun wolle (oder umgekehrt: könne das, was er wolle, nicht verwirklichen). Nimmt man den Staat als monolithischen Block, so liegt in der Tat der Gedanke nahe, der Staat könne in Sachzwänge gewissermaßen hineinrutschen, nicht mehr ihr Treiber, sondern ihr Getriebener sein. Diese Perspektive ist dringend zu hinterfragen. Blickt man nämlich auf den Staat wie auf ein komplexes Phänomen vielfältigen situativen Denkens,
70 Auch Rousseau wusste, dem anderen einen eigentlichen Willen zuzuschreiben. Rousseau, Jean-Jacques, Du contrat social/Vom Gesellschaftsvertrag, Ditzingen: Reclam, 2010. Die totalitären Gefährdungen, die dieses Argument hervorgebracht hat, sind allzu bekannt. 71 Vgl. etwa Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin: Dunker und Humblot, 1978, S. 12.
II. Der offene Staat als wettbewerbender Staat
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Entscheidens und Handelns72, so rückt der so genannte Sachzwang wie von selbst in den Hintergrund. Der Staat erscheint dann nämlich vor allem als ein Ergebnis von Interessensdurchsetzung: Staat ist danach sozusagen durchgesetztes Interesse. Willenloses staatliches Handeln ist in dieser Perspektive schon kategorisch ausgeschlossen. Die Fiktion einer Willenseinheit verstellt somit den Blick auf die wirklichen Umstände staatlichen Wollens. Willenstheoretisch bedeutet der staatliche Wille zur Rücksichtnahme zunächst nämlich nichts anderes, als dass der Staat den Willen des Faktorverfügenden als Tatsache wahrnimmt, deren Tatsächlichsein sich in nichts von anderem Tatsächlichsein unterscheidet. Der Staat nimmt hier den Willen des anderen also nicht anders als etwa die Existenz einer Person oder einer Sache. Es wäre also verfehlt zu vermuten, dass der Staat sich hier etwa dem Willen des Faktorverfügenden seinerseits unterwirft, sich also das Unterwerfungsverhältnis gewissermaßen umdreht. Lediglich nimmt er den Willen und das ihn tragende Interesse des Faktorverfügenden am eigenen Verhalten als seiend auf und baut ihn – als tatächlichen Umstand – in den eigenen Willen mit ein. Willenstheoretisch unterscheidet sich dieser Vorgang in der Tat nicht von andern alltäglichen Vorgängen staatlicher Willensbildung. Wenn etwa ein Staat eine Abrissverfügung erlässt, so nimmt er in seinen Willen das Wissen um die Existenz des Hauses, das er abzureißen verfügt, mit auf. Sein Wille ist also auf dieses Wissen und damit auch, soweit dieses Wissen wahr ist, auf die tatsächliche Existenz des Hauses bezogen. Nicht anders liegt es bei der Rücksichtnahme: Auch sie ist auf das Wissen um den Willen und das ihn tragende Interesse des Faktorverfügenden bezogen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das – staatlicherseits jedenfalls vermutete – Tatsächlichsein des Willens des Faktorverfügenden unterscheidet sich seinerseits also nicht vom Tatsächlichsein des Willens des Staates. Denn auch der Staat will tatsächlich, nicht normativ. Hier fügt sich also die eine Tatsächlichkeit des Wollens bruchlos neben die andere Tatsächlichkeit des Wollens. Das eine Sein tritt zum anderen Sein hinzu. Der Wille des (ja immerhin herrschaftsunterworfenen) Faktorverfügenden wird so – auf völlig unnormative Weise – zu einem Bestandteil der staatlichen Willensbildung. Die Folge dessen ist: Staatliche Rücksichtnahme ist immer willensgetragen. Der staatliche Rücksichtnahmewille führt daher mitten in die staatliche Verantwortung hinein. Das Argument des Sachzwangs ist damit ausgeschlossen: Der Staat nimmt nach dem wettbewerblichen Ethos auf mobile Faktorverfügende nicht etwa deshalb Rücksicht, weil er dies tun muss (im Sinne eines äußeren Zwangs), sondern weil er dies tun will. Erst die Anerkennung dieser Willensverantwortung kann in eine verantwortungsvolle Gestaltung staatlichen Rücksichtnahmehandelns in der Offenheit führen. Voraussetzung ist freilich, dass man den staatlichen Willen als ursprünglich menschlichen Willen anerkennt, der durch die Organisation der Herrschaft eine neue 72
Siehe dazu C.I.1.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
– eben herrschaftliche – Bedeutung erhält. Denn Wollen ist in der Tat zunächst eine menschliche Eigenschaft, jedenfalls aber eine Eigenschaft von Lebewesen, nicht von Organisiertheiten.73 Insofern mag es erstaunen, dass man Organisiertheiten wie dem Staat überhaupt einen Willen zuschreibt. Dennoch schreibt man Staaten nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im allgemeinen Sprachgebrauch einen solchen Willen zu, wie zum Beispiel einen Willen, das Haushaltsdefizit abzubauen oder einen Willen, das persönliche Einkommen zu besteuern. Ganze Rechtsbereiche wie etwa das Völkerrecht sind auf diese Zuschreibung eines Wollen-Könnens gebaut74 und es nimmt nicht Wunder, dass ein Regime wie das Völkerrecht gerade dort auf Probleme stößt, wo ein staatlicher Wille nicht oder nicht mehr vorhanden ist.75 Insofern lässt sich wohl sagen, dass jedenfalls die Möglichkeit eines staatlichen Wollens, jedenfalls unter Juristen, allgemein unterstellt wird. Was bedeutet es eigentlich, dem Staat in diesem Sinne einen Willen zuzuschreiben? Man könnte über diese Frage ohne Weiteres hinweggehen, sie mit einem Hinweis auf die gruppenweise Aggregation von Willen oder einen wie auch immer begründeten Willenskonstruktivismus vom Tisch wischen, wenn es für die Betrachtung staatlicher Interessen wie im vorliegenden Zusammenhang nicht von Relevanz wäre. Es ist aber von Relevanz, umso mehr, als die Staats- und Rechtswissenschaften in ihrer Praxis fast durchgängig, wie etwa Möllers zu Recht hervorhebt, „Verfassungsrecht ohne Einheitskonzept“ betreiben. Man kann in der Tat mit Möllers auch daran zweifeln, dass „das Abstraktionsniveau der Diskussion 73 Selbst in einem Umfeld Tönniesscher Gemeinschaft ist der Wille (Tönnies nennt ihn – in Abgrenzung zum gesellschaftlich wirkenden „Kür-Willen“ – bekanntermaßen den „Wesenwille“) ein Wille des Menschen, nicht ein Wille der Gemeinschaft. Überhaupt steht die Tönniessche Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft vor allem auf der Unterscheidung unterschiedlicher Willen. Die Unterschiede im Wollen liegen aber in der Art des Wollens, nicht in seiner Trägerschaft, vgl. näher Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005. 74 Frühe Kritik etwa bei Drucker, Peter F., Die Rechtfertigung des Völkerrechts aus dem Staatswillen, Berlin: Brandenburgische Buchdrucks- und Verlagsanstalt, 1932. 75 Die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre etwa ist nichts anderes als eine Systematisierung unterschiedlicher Rechtswerdungsprozesse nach dem zu Grunde liegenden staatlichen Willen. Es erstaunt nicht, dass sich ausgerechnet der völkerrechtliche Vertrag als am wenigsten angefochtene Völkerrechtsquelle etablieren konnte, während zwingendes Recht (ius cogens), aus welcher Rechtsquelle auch immer stammend, kraft seiner Loslösung vom staatlichen Willen allgemein einen schwierigen Stand hat. Nicht nur Voluntaristen wie Strupp, Tunkin oder auch Danilenko haben daher erhebliche Schwierigkeiten mit der Bejahung von Recht, wenn der zu Grunde liegende staatliche Wille fehlt. Das damit einhergehende theoretische Problem soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Es setzt viel tiefer an, wurzelt schon in der Frage nach dem Rechtsgrund. Für wegweisende Schriften zum Ganzen vgl. etwa Verdross, Alfred, Die Quellen des universellen Völkerrechts, Freiburg: Rombach, 1973; ders., Jus Dispositivum and Jus Cogens in International Law, 60 AJIL (1966), S. 55; ferner etwa Weil, Prosper, Towards Relative Normativity in International Law, 77 AJIL (1983), S. 413. Eine nützliche Zusammenstellung der theoretischen Positionen im völkerrechtsdogmatischen Umgang mit dem staatlichen Willen findet sich etwa Mendelson, Maurice, The Subjective Element in Customary International Law, 66 BYIL (1995), S. 177.
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überhaupt auf hochgradig ausdifferenzierte Einzelprobleme heruntergefahren werden kann“.76 Beim Wettbewerb handelt es sich aber gerade nicht um ein solches Einzelproblem. Es handelt sich eher um ein themenübergreifendes Phänomen, manche würden vielleicht sagen: einen Megatrend. In diesem Megatrend, der durch den Gegensatz zwischen der Internationalität der Wirtschaft und der Nationalität/ Unionalität ihrer Regulierung geprägt ist, trägt der Staat die ihm zukommende Willensverantwortung. Es bedarf daher einer Beschreibung dessen, was diesen Willen überhaupt ausmacht. Dies gilt umso mehr, als der Prozess der Öffnung der staatlichen Ordnungen für Produktionsfaktoren typischerweise nur bedingt den Staaten zugewiesen wird.77 Auch in der Öffentlichkeit steht immer wieder im Raum, dass die Öffnung irgendwie wie Pech und Schwefel über die Staaten gekommen sei, ohne dass diese viel dazu beigetragen hätten.78 Dieser Wahrnehmung tritt die vorliegende Arbeit entgegen: Es ist der staatliche Wille, der zur Öffnung führt, nicht ein unabwendbares Schicksal, dem man sich nur entweder fügen oder widersetzen, nicht jedoch entrinnen kann. Der staatliche Wille ist, anders als der menschliche Wille, eine Folge von Organisation, namentlich der Organisation von Herrschaft.79 Er mag zwar sein, dass ein Wille, etwa ein Herrschafts- und insbesondere Herrschaftsorganisationswille, auch 76
Möllers, Christoph, Staat als Argument, München: Beck, 2000, S. 243. Die mittlerweile kaum mehr zu überschauende Literatur zur Vorrangrechtsprechung des EuGH etwa lässt die unterliegende Willensdimension der unterworfenen Staaten völlig im Hintergrund. Dies gilt insbesondere für jene, die im unionsrechtlichen Vorrang eine Anfechtung für die Mitgliedstaaten erblicken, vgl. statt vieler noch immer nur etwa Scholz, Rupert, Zum Verhältnis von europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem Verwaltungsverfahrensrecht, 51 DÖV 1998, S. 261. Selbst jene, die in der Europarechtswissenschaft neue Wege zu gehen versuchen, in dem sie die – unbestreitbare – Rolle etwa der Unionsorgane gerade in ihrem Wechselspiel zu den Mitgliedstaaten stärker in den Vordergrund rücken, lassen die konstitutive Rolle des dem Prozess unterliegenden duldenden Willens der Mitgliedstaaten typischerweise aus dem Spiel. Ein eindrückliches Beispiel findet sich etwa bei Halterns Betrachtung des Vorrangproblems, vgl. Haltern, Ulrich, Europarecht, Dogmatik im Kontext, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl., 2007, S. 437 ff. 78 Man denke nicht zuletzt etwa an die vom damaligen SPD-Vorsitzenden Müntefering ausgelöste so genannte Heuschreckendebatte, die immer wieder Anklänge findet, vgl. etwa die Rede des Vorsitzenden der SPD Franz Müntefering auf dem a.o. SPD-Bundesparteitag in Berlin am 18. 10. 2008, zu finden unter http://www.spd.de/de/aktuell/pressemitteilungen/2008/10/ Rede-des-Vorsitzenden-der-SPD-Franz-Muentefering-auf-dem-ao-SPD-Bundesparteitag-in-Ber lin.html (Seitenaufruf am 16. 9. 2009). 79 Herrschaft meint hier staatliche Herrschaft, weniger im Sinne der bekannten Definition Max Webers als einer Durchsetzungschance als Gegensatzbegriff zur Macht (Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Aufl. 1976, S. 28), als vielmehr einer tatsächlichen autoritären Befehlsgewalt, sozusagen eines Ausdrucks von (nicht eines Gegenbegriffs zur) Macht. Max Weber hat in diesem auf die Wirklichkeit fokussierten Sinn trotz seiner „Chancendefinition“ durchaus gedacht, vgl. etwa die Ausführungen ebenda, S. 544. Sehr nahe der eigenen Vorstellung von Herrschaft steht etwa die Vorstellung von Heinrich Popitz, der Herrschaft als eine Stufe ständig institutionalisierter Macht versteht, vgl. Popitz, Heinrich, Phänomene der Macht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl., 1992, S. 233 ff., 259 („Veralltäglichung zentrierter Herrschaft“). 77
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
eine Voraussetzung von Organisation ist. Heller spricht in diesem Zusammenhang von Bewusstsein80, schließt aber nicht ausdrücklich aus, dass es zu diesem Bewusstsein auch eines Willens, namentlich eines Herrschaftsorganisationswillens bedarf. Dieser planvoll lenkende Wille zur Herrschaft oder besser zur Herrschaftsorganisation ist aber ein kategorisch anderer Wille als der materielle Wille zur planenden Gestaltung. Ersterer ist gehaltlos und schafft erst die Voraussetzungen von Herrschaft (Wille zur Herrschaft). Letzterer ist demgegenüber substanziell und setzt zu seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit Herrschaft bereits voraus (Wille zur Gestaltung). Der Wille, um den es hier geht, nämlich der Wille zu einer bestimmten Behandlung von mobilen Faktorverfügenden, ist ein substanzieller, Herrschaft und damit auch Organisation bereits voraussetzender Gestaltungswille. Als Folge von Organisation macht sich der Wille des Staates – dies ist eine bis heute unwidersprochen gebliebene Einsicht Hellers – nicht etwa von einzelnen Individualwillen oder auch nur deren Aggregation abhängig. In Hellers Wahrnehmung ist der Staat gerade nicht ein bewusster Wirkungszusammenhang etwa im Sinne der Tönnies’schen Gemeinschaft. Rationale Gesellschaftstheorie hat am komplexen Massenstaat daher (übrigens bis heute) ihre Erklärungsnot. Den Grund hierfür sieht Heller völlig zu Recht darin, dass – psychologisierende wie objektivierende – konstruktive Gesellschaftstheorie in der Tat das „unbewußte Werden“ nicht angemessen zu erfassen vermag81: „Eben weil der Verband eine organisierte Wirkungseinheit und kein Sinngebilde oder objektiver Geist ist, kann er sich nicht nur vom Bewußtsein, sondern sogar auch vom Wollen und Wirken einzelner Angehöriger unabhängig machen.“82 Ja er kann sich nicht nur vom Wollen und Wirken einzelner Angehöriger unabhängig machen. Kraft seiner Organisation kann er sich sogar vom Wollen und Wirken vieler Angehöriger, ja vielleicht sogar der meisten Angehörigen unabhängig machen. Es ist dies eine der bis heute schwer nachzuvollziehenden Mechanismen von Herrschaft, dass sie sich – auch im demokratischen Staat – sogar gegen eine Mehrheit von Gegenwillen durchsetzen kann und sich typischerweise, gerade angesichts der Vielschichtigkeit von Politik, sogar oft auch tatsächlich durchsetzt. Gerade politische Vielschichtigkeit und Problemverschränktheit führt dazu, dass oft sogar ein staatlicher Wille entsteht und kraft der staatlichen Organisation auch durchsetzbar ist, obgleich ihm die Mehrheitsfähigkeit eigentlich abgeht.83 80
Zum Beispiel bei Heller, Hermann, Staatslehre, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, S. 102: „Die Einheit der kollektiven Tat aus der Vielheit der Aktzentren entsteht erst dort, wo die Leistung der Vielen durch ein bewußt auf die Einheit der Tat gerichtetes Handeln eventuell zwangsweise vereinheitlicht und einheitlich in Wirkung gesetzt wird. Diese auf die Art und Ordnung der Leistungsverbindung und ihre wirksame Aktualisierung zielende Tätigkeitsform nennen wir eine bewußte Einheitsbildung oder Organisation.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser). 81 Heller, Hermann, Staatslehre, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, S. 107. 82 Heller, Hermann, Staatslehre, 6. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1983, S. 108. 83 Nicht zuletzt ist auch dies ein Phänomen der mittlerweile allseits gerügten Politikverflechtung, die nicht nur – etwa im kooperativen Föderalismus – durch die Beteiligung ver-
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Es ist diese – durchaus kategorisch wirkende – Unabhängigkeit des staatlichen Willens von den Willen einzelner Herrschaftsunterworfener, die den Staat – als Herrschaftsorganisation – zum genuin selbst Wollenden erhebt. Der Staat ist in der Tat selber Wollender, ohne dass es – für die Existenz des staatlichen Wollens – im Einzelnen auf die Willen der Herrschaftsunterworfenen ankommt. Dieses „SelberWollen“ des Staates bedeutet jedoch nicht, dass der Staat völlige Unabhängigkeit von überhaupt irgendeinem Menschen will. Vielmehr ist sein Wille ganz wesentlich der Wille der konkret Herrschenden (konret Herrschende meint hier naturgemäß nicht eine Art Marxsche „herrschende Klasse“, sondern lediglich den konkret Herrschaftsausübenden, also den Steuerbeamten, den Richter, den Gefängniswärter, aber gegebenenfalls auch den Abgeordneten oder auch den Minister). Insofern ist, bei allem Abstraktionsvermögen der modernen Wissenschaft vom menschlichen Willen, der hinter dem Staatswillen stehende Wille Einzelner maßgeblich, wenn auch in der Regel durch Verfahren aggregiert.84 Den Staatswillen formt in der Tat der Wille des schiedener Akteure entsteht, sondern auch durch die komplexitätsbedingte und -steigernde Verflechtung verschiedener Politikziele. Zum ganzen grundlegend an Hand des deutschen kooperativen Föderalismus noch immer das dreibändige Werk von Scharpf, Fritz W. u. a., Politikverflechtung, Kronberg, Scriptorverlag, 1976, 77 und 79. Neuerer Überblick in dem Sammelband von Mayntz, R./Streeck, Wolfgang (Hrsg.), Die Reformierbarkeit der Demokratie. Innovationen und Blockaden. Festschrift für Fritz Scharpf. Frankfurt/New York: Campus, 2003. Zum geringen Entflechtungspotenzial der Föderalismusreform in Deutschland jüngst Scharpf, Fritz W., Föderalismusreform: Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle?, CampusVerlag, Frankfurt/New York, 2009. Die Vermengung von Zielverflechtung und Akteursverflechtung mit der Internationalisierungs- und Europäisierungstendenz lässt manche heute einen drittem Weg erkennen, dessen kategorische Eigenständigkeit allerdings in Zweifel zu ziehen ist, vgl. etwa Mehde, Veith, Die dritte Dimension der Politikverflechtung; Mitgliedstaaten, EG und die Weiterentwicklung der WTO, in: Kluth, Winfried u. a. (Hrsg.), Wirtschaft, Verwaltung Recht, FS Stober, Köln, Heimann, 2008, S. 783. Sinnvoller scheint hier die allgemeine Tendenz hin zu einem Wettbewerbsföderalismus zu sein, dazu in dogmatischer Sicht auf das Grundgesetz näher etwa Nettesheim, Martin, Wettbewerbsföderalismus und Grundgesetz, in: Brenner, Michael u. a., Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, FS Badura, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 363. Übrigens stehen in diesem Zusammenhang nicht nur Fragen nach der Föderation, sondern auch nach der Substanz und wissenschaftlichen Unterlegbarkeit politischen Entscheidens, dazu etwa Engel, Christoph, Rationale Rechtspolitik und ihre Grenzen, JZ 2005, S. 581. 84 Hier mag die systemtheoretischen Betrachtung Luhmanns im Wege stehen, der „das System“ bekanntlich vom menschlichen Willen ganz abkoppelt und dadurch die so genannte Eigengesetzlichkeit des Systems hervorhebt. Diese Sicht, mit der er mit dem Jahrtausende alten Anthropozentrismus der Wissenschaft bricht, vermag den Verfasser nicht zu überzeugen. Ohne menschliches Wollen gibt es kein Wollen, auch kein staatliches Wollen. Wer sich mit der Luhmann’schen Systemtheorie demgegenüber der These anschließt, dass der Staat letztlich ohne jede Abhängigkeit an überhaupt irgendeinen menschlichen Willen selber will, dem kann und will der Verfasser nicht mehr folgen. Der Systemtheorie ist insoweit nicht zu helfen. Es mag zwar in der Tat sein, dass der Wille sich nicht wirklich aggregieren lässt, dass also der aggregierte Wille in Wirklichkeit vielleicht gar nicht aggregiert ist. Dies ist aber bereits eine substanzielle Frage des Willensgehaltes (die übrigens auch in demokratischen Staaten eine zunehmende Rolle spielt), nicht eine Frage der Existenz und Abhängigkeit staatlichen Willens von menschlichem Willen, namentlich dem Willen der Herrschenden. Vgl. zum ganzen vor allem Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Neuauflage 2008.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
Gefängniswärters, den Schlüssel umzudrehen, der Wille des Abgeordneten, für einen Gesetzentwurf zu stimmen, der Wille einer Kanzlerin, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Die Rede vom Amtswalter und vom Amtsethos, wie überhaupt das Bild vom gemeinwohlorientierten und gewissermaßen machtneutralisierten Handeln des Staatsvertreters85 verdeckt hier eher den Blick auf die staatliche Wirklichkeit, als dass sie ihn ermöglicht. Sogar das Recht verstellt hier den Blick, wenn man ihm, wie viele, nicht nur herrschaftsbegrenzende, sondern auch herrschaftskonstituierende Merkmale zuschreibt.86 In der Tat konstituiert und substanzialisiert sich der Staatswille – trotz aller normativer Einhegung etwa durch positive und negative Kompetenznormen – nur im konkret Wollenden.87 In demokratischen Staaten mag darüber hinaus auch der Wille der einzelnen Herrschaftsunterworfenen von Relevanz sein. Allerdings ist er bekanntermaßen nicht für die Existenz staatlicher Herrschaft und insbesondere staatlichen Wollens relevant, sondern lediglich in Betreff auf deren Legitimation.88
III. Der Verfassungsstaat als wettbewerbender Staat: Verfassungsrecht zwischen Begrenzungswirkung und Herausgefordertheit Die derart gewollte staatliche Rücksichtnahme reibt sich – wie jedes andere staatliche Handeln auch – naturgemäß an der Normativität des Verfassungsrechts. 85 Besonders prominent etwa Isensee, Josef, Salus publica – suprema lex? Das Problem des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, Paderborn: Schöningh, 2006. Ähnlich ders., Gemeinwohl im Verfassungsstaat, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 71, S. 3. 86 Diese – vor allem normativ geprägte – Zuschreibung herrschaftskonstituierender Wirkungen an das Recht ist selbst in Kreisen distanzierter Staatstheorie verbreitet, vgl. etwa Möllers, Chistoph, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: Bogdandy, Armin von (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, Berlin: Springer, 2002, S. 4 mvwN (Verfassungsfunktion der Begründung von Herrschaft); ähnlich ders., Der vermisste Leviathan, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008, S. 15; Brunkhorst, Hauke, Einführung in die Geschichte politischer Ideen, Stuttgart: UTB, 2000, S. 253 ff. 87 Es ist die Vernachlässigung dieses Umstandes, den die Rechtswissenschaften in die Richtung einer herrschaftsfernen Dogmatik getrieben hat. In der Tat findet Staatsrechtslehre heute weitgehend ohne Rückgriff auf den staatlichen Willen statt. Die Verantwortung dafür trägt aber nicht die staatliche Wirklichkeit, sondern diejenigen die sich mit ihr dogmatisch beschäftigen. Näher zum ganzen etwa Di Fabio, Udo, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Paderborn: Schöningh, 2003. Freilich soll hiermit nicht gesagt sein, dass es auf die Legitimation staatlichen Willens nicht ankomme. 88 Im Gegenteil, gerade in einer Popper’schen offenen Gesellschaft ist sie besonders wichtig. Sie ist aber keine Voraussetzung für die Existenz eines staatlichen Willen und einer staatlichen Herrschaft. Dass das Demokratieprinzip im Übrigen kein Ausdruck oder gar Ersatz von Herrschaft ist, sondern lediglich ein normatives Prinzip (mit wenn auch herrschaftslegitimierender Kraft), ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Selbst diskursive Aufarbeitungen des Demokratieprinzips weisen diesem Prinzip in erster Linie eine legitimierende Funktion zu, vgl. etwa Lieber, Tobias, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 18 ff.
III. Der Verfassungsstaat als wettbewerbender Staat
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Die Bewertung der Rücksichtnahme am Maßstab des Rechts ist dabei nur die eine (typischerweise juristische) Richtung werthaften Denkens. Sie wird konfrontiert durch eine primär ökonomische Sicht: Danach rückt der Verfassungsstaat mittels seiner Rücksichtnahme auf Verfügende mobiler Faktoren seine Verfassung gewissermaßen in den Markt hinein, macht seine Verfassung sozusagen zu einem marktlichen Gegenstand, also zu einem Gegenstand im Markt. Aus der ökonomischen Perspektive der Marktanalyse drängt sich die Teilhaftigkeit der Verfassung im Markt, also dieses „Teil-Im-Marktgeschehen-Sein“, sogar geradezu auf. Nicht ohne Grund sieht die Ökonomie die Verfassung als Element im Marktgeschehen, als Teil der Märkte.89 Das gilt aber übrigens nicht nur für die Prozess- oder Evaluationsökonomie unter dem Gesichtspunkt der so genannten spontanen Ordnung90, sondern es gilt sogar für Gleichgewichtstheoretiker.91 Das Denken hinter diesem Denken fasst Regeln – auch Verfassungsregeln – als Teil von Märkten auf, kollektive Organisation als Ausdruck produktiven Verhaltens und damit letztlich als Substrat ohne Selbststand, nämlich als normatives Substrat, das eben mehr oder weniger nachgefragt oder nicht nachgefragt wird und sich – dies ist das Bedeutsame dabei – dieser Nachfrage entsprechend auch anpasst. Das Denken vom Staat als einer mehr oder weniger nachgefragten Ordnung, wie es insbesondere die Institutionenökonomik vorangetrieben hat (Stichwort: Staat und Ordnung als Angebot)92, ist also durchaus keine aus dem gleichgewichtsgeprägten Rahmen der Ökonomie gleichsam herausschießende ökonomische Richtung, die sich ausnahmsweise auch auf staatliche Prozesse konzentriert, sondern lediglich der Gipfel einer dem Regelkonstruktivismus die Stirn bietenden normativen Ökonomie des offenen Staates.93 Diesem marktlichen Denken von Verfassung, also der Wahrnehmung von der Verfassung als einem Teil der Märkte, steht nun also das überkommene, zur Geschwindigkeit ökonomischer Rationalität fast bieder wirkende Verständnis vom Verfassungsrecht als einer Grundordnung gegenüber.94 Nach diesem Kägi’schen Verständnis hat die Verfassung nicht nur Geltungsgehalte und einen Geltungsanspruch, sondern auch einen Geltungsgrund, der eben nicht nur im Willen des Ver89 Grundlegend dazu North, Douglass C., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge: CUP, 1990. 90 Einführend dazu Hayek, Friedrich A. von, Evolution und spontane Ordnung, in: ders., Die Anmaßung von Wissen, Nachdruck, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, S. 102. 91 Geradezu paradigmatisch für dieses Denken ist es, wenn man das Verfassungsrecht selbst, wie etwa Siebert stellvertretend für einen ganzen Wissenschaftszweig, als einen Produktionsfaktor beschreibt („Soziales System als Faktor“), vgl. Siebert, Horst, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, 2003, S. 377 f. 92 Überblick etwa bei Schenk, Karl-Ernst/Schmidtchen, Dieter/Streit, Manfred E./Vanberg, Viktor, Globalisierung, Systemwettbewerb und nationalstaatliche Politik, 17 JNPÖ (1998), Tübingen: Mohr Siebeck. 93 Vertiefend etwa Vanberg, Viktor, Markt und Organisation, Tübingen: Mohr Siebeck, 1982. 94 Kägi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, Neudruck Zürich: Schulthess, 1971.
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
fassungsgebers wurzelt, sondern zu einem guten Stück überpositiv ist. Die Überpositivität des Rechts95 – manche sprechen von der Zweitformulierung der Menschenrechte als Grundrechte96 – lässt nicht nur den Gedanken der Vernunft aufleuchten, sondern auch jenen des Selbststandes, also des Stärkerseins. Blickt man mit einem solchen Verständnis auf die Verfassung, so wirkt die Ökonomisierung des Rechts, die mit dem marktlichen Gedanken einhergeht, als nichts weiter als ein weiterer (bislang weitgehend misslungener) Versuch der – in diesem Fall eben ökonomischen – Instrumentalisierung des Verfassungsrechts. Angesichts des schwierigen Zusammenhangs zwischen der Ökonomie und dem Recht (zuletzt also dem staatlichem Attraktionsinteresse einerseits und der starken Verfasstheit der staatlichen Herrschaft über den Faktorverfügenden andererseits) müssen sich die Staats- und Verfassungsrechtswissenschaften der Verfolgung des Interesses am mobilen Produktionsfaktor stellen. Sie können den faktoroffenen Staat nicht einfach aus dem Wettbewerb herausreden, so, als bräuchte er einfach nur nicht teilzunehmen, als müsse er einfach nur vom Wettbewerb frei stehen, um vom Wettbewerb verschont zu bleiben.97 Denn der Staat kann nicht ohne Teilnahme am Wettbewerb offen für Produktionsfaktoren sein. Mit seiner Offenheit für Faktoren nimmt der Staat vielmehr notwendig am Wettbewerb zwischen den Staaten teil. Dies gilt selbst dann, wenn er gegebenenfalls gar nicht wettbewerblich motiviert handelt. Denn selbst dann, wenn dem faktoroffenen Staat eine spezifisch auf den Wettbewerb bezogene Motivation fehlt, handelt er doch im Wettbewerb.98 Die Durchsetzbarkeit – und Durchsetzung – der jeweils in Rede stehenden Interessen bestimmt dabei den wettbewerblichen Erfolg oder Misserfolg des faktoroffenen Verfassungsstaates. In dem Maße, in dem sich das Ertragsinteresse des Staates im politischen Spiel gegenüber anderen staatlichen Interessen durchsetzt, wird der faktoroffene Staat im Wettbewerb um die Attraktion von Produktionsfaktoren erfolgreicher oder weniger erfolgreich sein. Angesichts dieser Situation soll im Folgenden, nach einigen Vorüberlegungen zum Begriff des Verfassungsstaates (C.III.1.), die Leitfrage für die 95
Isensee, Josef, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, HdBGrR II, §26, S. 41. Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 62. 97 So aber offenbar Kirchhof und andere (vgl. schon die Angaben oben bei A.II.1.). 98 Am Wettbewerb würde es allenfalls dann fehlen, wenn keiner der offenen Staaten wettbewerblich handelte. Dann würde es einfach offene Staaten geben, zwischen denen Faktoren und Faktorverfügende hin und her pendeln, ohne dass es dazu irgendwelche staatlichen Reaktionen gäbe. Ein solches Szenario ist zwar nicht undenkbar, angesichts des Bestehens staatlicher Interessen aber wenig realistisch. Man muss daher wohl davon ausgehen, dass offene Staaten typischerweise im Wettbewerb zueinander stehen. Im Übrigen ist anzumerken, dass die wettbewerblichen Wirkungen staatlichen Handelns nicht von den wettbewerblichen Zwecken des Staates abhängig sind. Der Staat wirkt auch ohne Zwecke, und nicht immer sind die tatsächlichen Wirkungen mit den bezweckten Wirkungen kongruent. Der Staat löst die mit dem Wettbewerb einher gehenden Interessenskollision mit seinem Handeln typischerweise allerdings nicht auf, sondern entscheidet sie (nur), von Fall zu Fall, je nach Interessenslage mal mehr zu Gunsten des einen, mal mehr zu Gunsten des anderen Interesses, je nach Situation und Staatsorganisation mal im Wege des legislativen Handelns, mal im Wege der Verwaltungsentscheidung, mal im Wege richterlicher Rechtsanwendung. 96
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kontranormative Herausforderung des Verfassungsrechts durch das staatliche Interesse im Wettbewerb formuliert werden (C.III.2.). 1. Vorüberlegungen zum Begriff des Verfassungsstaates Es gibt Begriffe, deren umgangssprachlicher Benutzungs- und Bedeutungszusammenhang klarer zu sein scheint als ihr wissenschaftlicher Gehalt. Der Begriff des Verfassungsstaates ist ein solcher Begriff. Gemeinhin wird man recht anschauliche Vorstellungen von dem haben, was ein Verfassungsstaat ist, eben ein Staat mit einer Verfassung.99 Diesem landläufigen Zugang zur modernen Verfassungsstaatlichkeit steht eine eigentümliche Unsicherheit in den Rechtswissenschaften gegenüber. Denn im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist nicht nur der Staat angesichts seiner phänomenalen Komplexität bis heute schwer begrifflich erfassbar100, auch der Begriff der Verfassung ist alles andere als deutlich konturiert. Selbst wenn man Verfassung im Anschluss an Kägi101 mit der heute jedenfalls in Deutschland wohl herrschenden Auffassung102 als rechtliche Grundordnung des Staates betrachtet, zeigen sich erhebliche Verständigungsschwierigkeiten. Denn auch der Begriff des Rechts, den diese Definition ja in sich aufnimmt, gehört zu den schwierigsten und umstrittensten der Rechtswissenschaften überhaupt.103 Wenn man sich aber schon 99 Ein illustratives Beispiel für dieses landläufige Verständnis findet sich etwa unter http:// de.wikipedia.org/wiki/Verfassungsstaat (Seitenaufruf vom 5. Januar 2008). 100 Deutliche Zweifel an der begrifflichen Erfassbarkeit finden sich etwa bei Möllers, Christoph, Staat (juristisch), in: Heun, Werner u. a., Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart: Kohlhammer, 2006, S. 2272, der unter anderem auch darauf verweist, dass die auf Jellinek zurück gehende so genannte Drei-Elemente-Lehre begrifflich gerade nicht tragfähig ist, sondern allenfalls untrennbare Teile ein und derselben Sache (Personal- und Gebietsherrschaft) unhaltbar zu trennen versucht. Diese Kritik ist überzeugend, entbehrt bis heute aber eines Gegenkonzeptes. Am nächsten dürfte dem Phänomen Staat die Beschreibung als einer Vielheit situativer Herrschaftsverhältnisse kommen, wie sie andeutungsweise etwa bei Quaritsch deutlich wird: Quaritsch, Helmut, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1970, S. 35 (Einzelheiten oben bei C.I.1.). 101 Kägi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, Neudruck Zürich: Schulthess, 1971. 102 Nähere Angaben etwa bei Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München: Beck 1984, S. 78; Zippelius, Reinhold/Würtenberger, Thomas, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., München: Beck, 2008, S. 40 ff. 103 Einführend etwa Alexy, Robert, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl., Freiburg: Alber, 2005. Einen Geschmack über die Vielfalt von Problemen, die mit dieser Frage seit dem Siegeszug des Rechtspositivismus verbunden sind, geben die vielfältigen Sammelbände zum Wesen und Begriff des Rechts. Verwiesen sei etwa auf den sehr instruktiven Band von Coleman, Jules/Shapiro, Scott (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, Oxford: OUP, 2002. Eine anregende deutschsprachige Sammlung von Aufsätzen findet sich bei Maihofer, Werner (Hrsg.), Begriff und Wesen des Rechts, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973. Eine vor allem didaktisch prägnant gehaltene Zusammenfassung findet sich etwa bei Ott, Walter, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1992. Jüngere Zuspitzungen finden sich in den Auseinandersetzungen zwischen Hart und Dworkin; vgl. dazu überblickartig statt vieler nur etwa Watkins-Bienz, Renée M., Die Hart-Dworkin
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nicht darüber einigen kann, was Recht überhaupt ist, wie unendlich viel schwieriger ist es dann, sich darüber zu verständigen, was denn eine rechtliche Grundordnung des Staates ist. Die Schwierigkeiten zeigen sich bereits in der gängigen positivistischen Fortschreibung des Kägi’schen Verfassungsbegriffs. Sie übernimmt nominal den Kägi’schen Verfassungsbegriff, koppelt sich von dessen naturrechtlichen Wurzeln aber weitgehend ab. Damit muss sie notwendig auf Schwierigkeiten stoßen, denn der Verfassungsbegriff Kägis ist nicht positivistisch, sondern eben naturrechtlich geprägt. Wer ihn positivistisch fortschreibt, kommt um Probleme der Ursprünge des Verfassungsrechts nicht herum. Schon das Problem etwa der verfassungsgebenden Gewalt wirft – in dieser positivistischen Lesart – mehr Fragen als Antworten zu diesen Ursprüngen auf, weshalb es denn auch eher verwirrend denn erhellend diskutiert wird.104 In der staats- und verfassungsrechtlichen Literatur sieht man von einer Definition des Begriffs Verfassungsstaat denn auch überwiegend ab. Bereits eine erste Durchsicht zeigt, dass man den Begriff des Verfassungsstaates typischerweise zwar benutzt und – in dieser Benutzung – mit ihm offenbar auch etwas irgendwie Fassbares verbindet, trotzdem aber weithin darauf verzichtet, das Phänomen des Verfassungsstaates auch genetisch auf einen Begriff zu bringen.105 Man nähert sich dem
Debatte: Ein Beitrag zu den internationalen Kontroversen der Gegenwart, Berlin: Duncker & Humblot, 2004. 104 Eindrückliches Beispiel für die stark normativ geprägte Begriffsbildung mit einem Problemaufriss, der eine Zuordnung zwischen positivistischen und naturrechtlichen Vorstellungen übrigens völlig vermissen lässt, etwa bei Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992, S. 90. Trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – seiner normativen Dimension macht der Begriff neuerdings auch in internationalen Zusammenhängen Karriere, was angesichts stärkerer Einbindung von Staaten einerseits und teils auch international getragener Neuordnung von Staatlichkeit (Stichwort Nation-Building) zwar nicht verwunderlich ist, die dem Begriff inhärenten Schwierigkeiten aber freilich nicht auflöst, sondern eher noch verstärkt, vgl. etwa Dann, Philipp/Al-Ali, Zaid, The Internationalized Pouvoir Constituant – Constitution-Making Under External Influence in Iraq, Sudan and East Timor, 10 MPYUNL 2006, S. 423. 105 Beispiele statt vieler etwa bei Häberle, Peter, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2008; Möllers, Christoph, Die drei Gewalten: Legitimation der Gewaltengliederung in Verfassungsstaat, Europäischer Integration und Internationalisierung; Weilerswist, Verlbrück, 2008; Di Fabio, Udo, Verfassungsstaat und Weltrecht, 39 Rechtstheorie 2008, S. 399; Seiler, Christian, Der souveräne Verfassungsstaat zwischen demokratischer Rückbindung und überstaatlicher Einbindung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; Wahl, Rainer, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003; Schmidt, Reiner, Der Verfassungsstaat im Wandel, in: Eberle, Carl-Eugen (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, FS Brohm, München: Beck, 2002; Brugger, Winfried, Der moderne Verfassungsstaat aus Sicht der amerikanischen Verfassung und des Grundgesetzes, 126 AöR 2001, S. 338; Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, in: ders., Staat – Nation – Europa, 1999, S. 127. Dicke, Klaus, Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland, Baden-Baden: Nomos, 2001.
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Begriff induktiv, nicht deduktiv.106 Die Schwierigkeiten, die Komplexität des Phänomens des Verfassungsstaates angemessen einzufangen, sind offenbar zu groß, um anders vorgehen zu können. Gängige Lexika der Staatswissenschaften nehmen den Verfassungsstaat als eigenen Eintrag schon gar nicht erst auf, sondern belassen es bei Einträgen etwa zu Staat107 und Verfassung108. Zwar verwenden sie in diesem Zusammenhang beiläufig auch den Begriff des Verfassungsstaates109, führen ihn begrifflich aber nicht näher aus.110 Und das Handbuch des Staatsrechts nimmt den Begriff des Verfassungsstaates in seinem zweiten Band im Titel zwar auf, klärt ihn in dem einleitenden Artikel zum Thema „Staat und Verfassung“ aber nicht genetisch, sondern belässt es bei recht allgemeinen Überlegungen zum Wesen und zur Ausformung des Verfassungsstaates. Isensee kommt in seinem einleitenden Artikel dem Begriff bezeichnenderweise ausgerechnet an jenen Stellen am nächsten, an denen er den Begriff bildhaft durch andere Begriffe ersetzt, wie etwa jenem der „Verfassungsgeprägtheit des Staates“111 oder jenem der „Integralität der Einheit von Staat und Verfassung“112. Selbst monographische Untersuchungen, wie etwa jene von Fenske, definieren den Begriff des Verfassungsstaates nicht, sondern lassen ihn vielmehr – umgekehrt – induktiv erst in der näheren Beobachtung des Phänomens, gewissermaßen mit der fortschreitenden Lektüre über den Gegenstand und seine Geschichte, zu Leben erstehen.113 Ähnlich liegt es bei Monographien, die sich einzelnen Aspekten der modernen Verfassungsstaatlichkeit zuwenden.114 106 Klassisches Beispiel etwa der Sammelband von Starck, Christian, Der demokratische Verfassungsstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995. 107 Etwa Isensee, Josef u. a., Staat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, fünfter Band, 7. Aufl., Freiburg: Herder, 1989, S. 133. 108 Etwa Grimm, Dieter, Verfassung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, fünfter Band, 7. Aufl., Freiburg: Herder, 1989, S. 633. 109 Beisp.: „Der Verfassungsstaat wurde für längere Zeit zum wichtigsten innenpolitischen Thema der meisten europäischen Staaten“; bei Grimm, Dieter, Verfassung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, fünfter Band, 7. Aufl., Freiburg: Herder, 1989, S. 633, 634. Oder: „Der Verfassungsstaat löst die Frage der Herrschaftszuständigkeit im demokratischen Sinn“, bei Isensee, Josef u. a., Staat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, fünfter Band, 7. Aufl., Freiburg: Herder, 1989, S. 133, 140. 110 Ähnlich etwa Heun, Werner u. a., Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart: Kohlhammer, 2006. 111 Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: HdBStR Band 2, 3. Aufl. 2004, § 115, Rn. 137 ff. 112 Ibid, Rn. 193 ff. 113 Auf diese Weg etwa Fenske, Hans, Der moderne Verfassungsstaat; Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u. a.: Schöningh, 2001, der, obgleich er „Definitionen des Verfassungsstaates“ sogar ausdrücklich an den Anfang seiner Erörterungen stellt (näher S. 5 ff.), interessanterweise dann aber doch völlig von Definitionen ablässt. Weder legt er seinem Werk eine eigene Definition zu Grunde, noch versucht er Definitionen früherer Zeitgenossen – als Definitionen – abzubilden. Damit steht er durchaus in der kulturgeschichtlichen Tradition des Verfassungsstaates. In der Tat war zur Geburtsstunde des Verfassungsstaates der Begriff des Verfassungsstaates nicht weiter im Umlauf. Vielmehr sprach
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Die Schwierigkeiten in der Bildung des Begriffs können kaum weiter verwundern. Denn in der Tat ist der Verfassungsstaat schon phänomenologisch ein hoch komplexes Gebilde. Die Gefahr der Unterkomplexität eines Begriffs des Verfassungsstaates ist nicht gering, weshalb man die Zurückhaltung in der Begriffsbildung durchaus auch als Reaktion auf die mit ihr einhergehenden Gefahren verstehen kann. Man kann sich zwar auf eine formale Begriffsbildung verständigen: Der Verfassungsstaat ist dann eben ein Staat mit einer Verfassung. Ein solches formelhaftes Vorgehen hat aber – obgleich es bereits auch in dieser Form mit begrifflichen Schwierigkeiten einhergeht – keinen heuristischen Wert. Denn die Erkenntnis, dass der Verfassungsstaat ein Staat mit einer Verfassung ist, trägt noch keine begriffliche Qualifikation in sich. Sie führt begriffslogisch lediglich in eine Kombination, nicht anders als andere Begriffszusammenfügungen in eine Kombination führen, wie ein Vergleich zeigt: Die Begriffe von Recht und Kultur führen zu Rechtskultur (oder Kulturrecht), ohne dass damit gesagt wäre, welcher Art das damit in Bezug genommene Recht (die damit in Bezug genommene Kultur) ist, das hier in eine begriffliche Beziehung gesetzt wird.115 Alternativ kann man das begriffliche Verständnis auch materiell aufladen. Ein Verfassungsstaat ist dann ein Staat mit einer starken Verfassung, die bestimmte Mindestgehalte vorschreibt, Mechanismen zu ihrer Durchsetzung bereithält und diesen auch tatsächlich zur Anwendung zu verhelfen in der Lage ist.116 In diesem Sinne eines materiell aufgeladenen Begriffs des Verfassungsstaates erhält der Begriff zwar eine eigenständige Konnotation, trägt aber gerade die beschriebenen materiellbegrifflichen Unklarheiten und Fragen nach dem Geltungsgrund und -gehalt des Verfassungsrechts im Verfassungsstaat notwendig in sich. So bleibt es bei einer fragenbehafteten Verwendung des Begriffs des Verfassungsstaates. Wie ausgeprägt und wirksam etwa müssen die Sicherungen des materiellen Substrates denn sein, damit man voraussetzungsvoll von einem Verfassungsstaat sprechen kann? In welchem Verhältnis haben Demokratie und Individualrechtsschutz dabei zueinanderzustehen? Wie stark muss sich der Staat insoweit am Prinzip der rechtlichen Gleichheit orientieren, damit er Verfassungsstaat ist? In diesen Fragen wird deutlich: Ein voraussetzungsvolles Verständnis ist nicht ein Verständnis des Entweder-Oders, des Ja oder Nein, sondern ein solches der Schattierung, der Differenzierung, des Abwägens von begrifflichen Bestandteilen. Dass man vom Rechtsstaat und traf damit den Gegenstand, über den man sprach, schon recht genau, indem man den Blick nämlich gerade auf das Gebundensein des Staates richtete. 114 Jüngeres Beispiel etwa bei Reuter, Astrid/Kippenberg Hans, Religionskonflikte im Verfassungsstaat, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010. 115 Zu begrifflichen und substantiellen Überlegungen insoweit jüngst etwa Hofmann, Hasso, „In Europa kann’s keine Salomos geben.“ – Zur Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur, JZ 2009, S. 1. 116 Zu den moralischen Grundlagen verfassungsstaatlicher Stärke vgl. etwa Raz, Joseph, Legitimate Authority, in: ders., The Authority of Law, Essays on Law and Morality, Oxford: Clarendon, 1979, 2002, S. 3.
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sich dies in der Begriffsbildung durchaus auch praktisch niederschlägt, zeigt sich bereits darin, dass heute eine Vielzahl von Staaten über eine Verfassung verfügt117, man aber kaum alle diese Staaten in diesem materiell aufgeladenen Verständnis als „echte“ Verfassungsstaaten bezeichnen möchte. Hier gibt es auch eine kulturelle Voraussetzung, eine Voraussetzung, von der der materiell aufgeladene Verfassungsstaat lebt, die er aber selber nicht schaffen kann. In der Staats- und Verfassungsrechtslehre ist dies allgemein anerkannt.118 Neben diese Schwierigkeiten in der Begriffsbildung tritt aber auch das Fehlen eines Anreizes zur klaren Begriffsbildung. Der Begriff kann zwar sowohl analytisch wie auch normativ verwendet werden – und wird auch jeweils so verwendet. Der argumentative Zusammenhang ist dabei aber gerade kein rechtlicher, jedenfalls nicht im engeren interpretatorischen Sinne, sondern eher ein soziologischer. So steht der Begriff typischerweise nicht in einer Verfassung und er steht auch in keinem Text des einfachen Rechts. Die Funktion seiner Begriffsbildung ist also nicht normativitätsgenerierender Art, vergleichbar etwa der Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, sondern nur beschreibender, gegebenenfalls auch analytischer Art. Der Motor zur Auslegung von Begriffen, wie er bei Rechtsbegriffen etwa in der richterlichen Tätigkeit angelegt ist, springt beim Begriff des Verfassungsstaates daher nicht an. Es gibt kein klar definiertes juristisches Bedürfnis zur Auslegung des Begriffs. Insoweit ist nicht nur die Gefahr, die mit einer Konkretisierung einhergeht, recht hoch, sondern auch der Nutzen, den man von ihr erwarten darf, recht gering. Dennoch kann man sich den Strukturen des Begriffs jedenfalls begriffslogisch nähern. Die begriffliche Auseinanderhaltung der Begriffsteile „Verfassung“ und „Staat“ ist dabei zwar naturgemäß nur ein erster Schlüssel zum Verständnis des Gesamtbegriffs Verfassungsstaat. Er öffnet aber doch den Weg zu ersten funktionalen Überlegungen. In begriffsfunktionaler Hinsicht wirkt der Teilbegriff Verfassung für den Verfassungsstaat nämlich typuskonkretisierend, der Teilbegriff Staat demgegenüber nur typusbeschreibend. Seine Besonderheit in der Relation zu anderen Staaten erhält der Verfassungsstaat nämlich nicht aus seinem Staat-Sein (auch andere Staaten sind Staaten), sondern aus seinem Verfasst-Sein. Der Begriffsteil „Staat“ ist daher nur der allgemeinbegriffliche Teil des zusammengesetzten Begriffs Verfassungsstaat. Seinen individualisierenden Begriffsteil findet der Begriff des Verfas-
117 Einen Eindruck über die Vielfalt vermittelt etwa Robbers, Gerhard, Encyclopedia of World Constitutions, drei Bände, New York: Facts on File, 2006; ferner Maddex, Robert L., Constitutions of the World, Washington DC: Congressional Quarterly, 1995. 118 Vgl. nur die Zielrichtung der Textsammlungen von Grimm, Dieter, Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt: Suhrkamp, 1991; Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt: Suhrkamp, 2006; Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: HdBStR Band 2, 3. Aufl. 2004, § 115, Rn. 128.
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sungsstaates demgegenüber in dem Teilbegriff „Verfassung“.119 Die Unterschiede zwischen allgemeinbegrifflichem und individualbegrifflichem Teil zeigen sich bereits im sprachlichen Gebrauch: Denn wer den Begriff des Verfassungsstaates benutzt, tut dies typischerweise in einer konkretisierenden Absicht: Es geht in der Verwendung des Begriffs Verfassungsstaat typischerweise nicht darum, hervorzuheben, dass von einem Staat die Rede ist, sondern darum, dass der Staat, von dem die Rede, ein – im Einzelnen wie auch immer – verfasster Staat ist, eben ein Verfassungsstaat. Dieses Verhältnis von allgemeinem und individualisierendem Begriffsteil bestätigt sich in der Umkehrung: Wer von Staatsverfassung statt von Verfassungsstaat spricht, hebt typischerweise nicht hervor, dass er von einer Verfassung spricht, sondern dass die Verfassung, von der er spricht, eine solche eines – im Einzelnen wie auch immer definierten – Staates ist. Er verwendet also die Begriffsteile Verfassung und Staat in genau umgekehrter Funktion, nämlich den Teilbegriff Verfassung als den allgemeinbegrifflichen Teil, den Begriff Staat als den individualbegrifflichen Teil.120 Mit Blick auf die Konkretisierung des Begriffs führen diese Überlegungen bereits auf den Befund hin, dass Staat und Verfassung im Rahmen der Begriffsbildung nicht in funktional gleicher Weise auf den Gesamtbegriff Verfassungsstaat einwirken, sondern (entlang der kategorialen Unterschiede im Phänomenologischen) auch in ihrer begrifflichen Funktion für den Gesamtbegriff unterschiedlichen Kategorien folgen. Das Staatliche enthebt sich in dieser Begrifflichkeit nämlich jeder Disponibilität, ist, begriffsfunktional gesehen, gewissermaßen eine Invariable – der Verfassungsstaat ist Staat und bleibt Staat, egal, ob und wie man sich auch immer bemüht, ihn zu verfassen. Verfassung ist demgegenüber die begriffsfunktionale Variable, die sich, je nach Lage der Dinge, normativ auf- oder entlädt und damit auch dem Begriff des Verfassungsstaates ein höheres und geringeres Maß an normativer Eingebundenheit beschert. Staat und Verfassung sind – über das Maß der kategorischen Unterscheidungen zwischen Faktizität und Normativität hinaus – in ihrer Bedeutung für die Bildung des Begriffs Verfassungsstaat daher funktional schon deshalb zu unterscheiden, weil in der Tat der Teilbegriff Verfassung zum Gesamtbegriff Verfassungsstaat in einem (wenn auch nur einfachen) Konditionalverhältnis steht, der Teilbegriff Staat eine solche Konditionalität zum Gesamtbegriff Verfassungsstaat demgegenüber aber nicht entfaltet, sondern in seinem Verhältnis zum
119 Diese Funktionen von Begriffen folgen der klassischen philosophischen Einteilung. Näherer Überblick mit weiteren Angaben etwa in dem Artikel „Begriff“ unter http://de.wi kipedia.org/wiki/Begriff_(Philosophie) (Seitenaufruf am 4. 12. 2008). 120 Bereits aus dieser recht einfachen Gegenprobe ergibt sich, dass der Begriff Staat nicht notwendig ein Allgemeinbegriff ist, Verfassung nicht notwendig ein individualisierende Begriff. Je nach Aussagegehalt kann man diese Begriffe auch anders nutzen. Im Gesamtbegriff Verfassungsstaat werden sie typischerweise aber in eben dieser Funktion gebraucht (Staat als allgemeines Merkmal, Verfassung als konkretisierendes Merkmal).
III. Der Verfassungsstaat als wettbewerbender Staat
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Verfassungsstaat im bloß Wesenhaften verbleibt, auf sein Sein, nicht sein So-Sein, verweist.121 Mit dieser Feststellung, nach der zwar die Verfassung, nicht aber der Staat, in einem konditionalen Verhältnis zum Verfassungsstaat steht, sind begrifflich bereits erste Vorfestlegungen im Hinblick auf die Marktteilnehmerschaft des Verfassungsstaates getroffen. Eindeutig ist danach der Staat nämlich Seinsvoraussetzung des Verfassungsstaates, die Verfassung demgegenüber nur ausgestaltende Bedingung: Sie ist, anders als er, nicht Voraussetzung für das Sein, sondern nur Bedingung für das So-Sein des Verfassungsstaates: Der Staat findet im Verfasstsein „lediglich“ seine spezifische Ausformung, nicht aber seine Existenz. Die Verfassung findet im Verfassungsstaat demgegenüber ihren Wirklichkeitsbezug. Für den Zusammenhang des Wettbewerbs zwischen den Staaten muss daher die Verfassung in den Mittelpunkt rücken, nicht der Staat – obwohl der Staat, nicht die Verfassung, begrifflich Wettbewerber ist.122 Über diese begriffsstrukturellen Überlegungen lassen sich einige bindungstheoretische Aspekte festhalten: In der Sache handelt es sich bei dem Bezogensein der Verfassung auf den Staat nämlich nicht nur legitimatorisch, sondern auch analytisch vor allem um ein Phänomen der materiellen Bindung. Es sind mithin die Gehalte des Verfassungsrechts, sein Bindungsanspruch und die Kraft seiner Bindungswirkung, die den Verfassungsstaat im Wettbewerb in einer spezifischen Situation erscheinen lassen. Erst die Bindungskraft materiell aufgeladener normativer Gehalte macht den Verfassungsstaat gewissermaßen zu einer Besonderheit in der Marktteilnahme und damit auch zu einer Besonderheit im Wettbewerb. Schwach verfasste Staaten haben, in dem Maße ihrer Verfassungsschwäche, keine weiteren Probleme mit dem Wettbewerb. Erst im Gebundensein an eine normativ stark aufgeladene Verfassung wird – eben angesichts ihrer Bindungswirkung – der Wettbewerb zum Problem. Nur über die Bindungswirkung materieller Gehalte kommt man dem Verfassungsstaat im Wettbewerb daher näher. Kraft und Maß der Bindung unterscheiden den Verfassungsstaat dabei von anderen Typen der Staatlichkeit.123 Wenn im Folgenden daher 121
Isensee weist in diesem Zusammenhang deutlich darauf hin, dass zwar die (konkrete) verfassungsstaatliche Ausprägung eines Staates, sein So-Sein, das Ergebnis von Verfassungswirkungen ist (der Staat ist kraft seiner Verfassung oder ihrer Schwäche so ausgestaltet, wie er eben ist), nicht aber sein Sein: „Die Staatlichkeit als solche steht nicht zur Disposition des Verfassungsgebers. Er entscheidet nicht darüber, ob Staat sein soll oder nicht, vielmehr geht er aus ihm hervor und gestaltet ihn aus. Der Staat ist vorgegebene Materie, die Verfassung die Form [Hervorhebung durch den Verfasser]“, vgl. Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: HdBStR Band 2, 3. Aufl. 2004, § 115, Rn. 33, vertiefend zum verfassungsunabhängigen Sein von Staatlichkeit ebenda, Rn. 99. 122 Spricht man vom Verfassungsstaat im Wettbewerb, meint man materiell daher zu einem guten Teil die Verfassung im Wettbewerb zwischen den Staaten. Die Verfassung wird jedoch auch in diesem Verständnis nicht ein Wettbewerber (Wettbewerber bleibt der Staat). Sie gerät aber in diesen Wettbewerb zwischen den Staaten hinein. 123 Man spricht vom Verfassungsstaat in diesem Zusammenhang sogar von einer Staatsform (etwa Isensee, HdBStR II, § 115, Rn. 170), obgleich die Beschränkung auf den Begriff Typus
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von Verfassungsstaat die Rede ist, ist von ihm als einem Staat die Rede, der durch seine materiell stark aufgeladene Verfassung in hohem Maße normativ eingehegt ist.124 2. Leitfrage: Der Bindungsanspruch des Verfassungsrechts als Kristallisationspunkt im Verhältnis von verfassungsrechtlicher Normativität und staatlicher Herrschaft im Wettbewerb In dem paradigmatischen Gegeneinander von staatlicher Herrschaft einerseits und verfassungsrechtlicher Normativität andererseits können wettbewerblich bedingte Friktionen kaum weiter verwundern. Der Selbststand des Rechts mag sich – begründungstheoretisch – zwar nicht so leicht anfechten lassen125, praktisch wirkt sich die marktliche Perspektive aber eben doch aus. Denn was geschieht, wenn das Verfassungsrecht dem marktlichen Interesse des Staates entgegensteht. Weicht es in seinem Geltungsanspruch gegebenenfalls zurück oder passt es sich in seinen Geltungsgehalt an?126 Wie immer man zu den Grundpositionen normativ im Einzelnen auch stehen mag: Sie deuten doch an, dass die Verfassung – gerade angesichts ihrer hier angemessener wäre. Die konkreten Gehalte des Verfassungsrechts spielen für die Typusbildung in diesem Zusammenhang des Wettbewerbs zwischen den Staaten – ebenso übrigens wie die tieferen Gründe für die Bindung – demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Sie schlagen sich in der konkreten Ausgestaltung des Verfassungsstaates nieder, nicht aber in seinem Typus. Dies heißt freilich nicht, dass die Gehalte des Verfassungsrechts für einen Verfassungsstaat weniger bedeutsam wären als das formale Element der Bindung. Es heißt nur, dass sie – im Angesicht der durch den Wettbewerb aufgeworfenen Fragen – eben nicht typusbildend sind. Dies gilt übrigens sowohl für die Gehalte der rechtlichen Freiheit wie auch für diejenigen der rechtlichen Gleichheit. 124 Dass dieser Begriff ein durch den Begriff der Verfassung sowohl materiell als auch institutionell konditionierter Begriff ist, tut seiner Operabilität keinen Abbruch. Im Gegenteil: Gerade die mit dieser Konditioniertheit einhergehende normative Auf- und Entladbarkeit des Begriffs des Verfassungsstaates bereitet überhaupt erst den Grund für die Untersuchung, die nämlich die Frage zum Gegenstand hat, wie es denn um das gegenseitige Berührungsverhältnis von Verfassungsrecht und Wettbewerb im einzelnen bestellt ist, eine Frage, die schon zu ihrer Gestelltheit ein Verständnis von Verfassung – und Verfassungsstaat – im Sinne eines Mehr oder Weniger (statt eines Entweder-Oder) geradezu voraussetzt. 125 Überzeugende Erwiderungen auf solche Versuche etwa bei Dworkin, Ronald, Why Efficiency; ders., A Matter of Principle, Oxford: Clarendon, 1986, S. 267; vertiefend Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; auch Mestmäcker, Ernst-Joachim, A Legal Theory without Law, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007. Überblick zum Ganzen bei Morlok, Martin, Vom Reiz und vom Nutzen, von den Schwierigkeiten und den Gefahren der Ökonomischen Theorie für das öffentliche Recht, in: ders./Engel, Christoph (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998; S. 1. Eine kurze, aber lehrreiche Einführung dazu findet sich auch bei Mathis, Klaus, Effizienz statt Gerechtigkeit, 3. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2009. 126 Diese Frage ist übrigens eine Grundfrage des Verhältnisses von Recht und Markt, die auch über die diskutierte Fragestellung durchaus hinausgeht, vgl. etwa Dieth, Eric, Recht – als Prostituierte des Marktes oder als Schutz vor Vermarktung, in: Towfigh, Emanuel V. u. a. (Hrsg.), Recht und Markt, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 137.
III. Der Verfassungsstaat als wettbewerbender Staat
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prägenden Kraft für den Verfassungsstaat127 – offenbar im Zentrum allen Überlegens über das spezifische Phänomen des Verfassungsstaates im Wettbewerb stehen muss. Denn nicht nur steht das Recht in seiner kontrafaktischen Wirkung der Wirklichkeit gegenüber. Auch steht die Kraft des Rechts der Kraft der Wirklichkeit gegenüber. An einer Norm wie derjenigen des Art. 1 Abs. 3 GG, nach der die deutsche Staatsgewalt an die Grundrechte gebunden ist, wird die Schwierigkeit, die sich hier auftut, unmittelbar deutlich. Das Recht beansprucht die Einhegung gerade jener kontranormativen staatlichen Kräfte, die den Versuch unternehmen, sich der Bindung zu entledigen. Für das Verfassungsrecht gibt es angesichts der Phänomenologie von Herrschaft eigentlich nur zwei Möglichkeiten, zwischen denen eine Vermittlung nicht denkbar ist: Entweder steht das Verfassungsrecht den wettbewerblichen Interessen des Staates einhegend gegenüber und setzt seine begrenzende Wirkung durch; oder der Staat im Wettbewerb ordnet sein Verfassungsrecht seinen wettbewerblichen Interessen unter, macht sein Verfassungsrecht also zu einem wettbewerblichen Instrument. Beide Elemente, das der Durchsetzung und das der Unterordnung des Rechts, sind durchaus miteinander kombinierbar. So mag das Verfassungsrecht sich zum Beispiel in dem einen Politikbereich dem Wettbewerb gegenüber erfolgreich in Stellung bringen, in dem anderen aber etwa nicht. Eine begriffliche Verwischung der Trennlinien im Kategorischen ist demgegenüber nur schwer denkbar: Entweder drängt das eine das andere zurück oder das andere drängt das eine zurück. Mittelwege im paradigmatischen Sinne gibt es hier nicht. Der Bindungsanspruch des Rechts ist hier also der Kristallisationspunkt, um den sich alles rankt. Ein genauerer Blick eröffnet insoweit allerdings ein kompliziertes Feld. Denn der Bindungsanspruch des Verfassungsrechts ist eigentlich absolut und lässt keine Ausnahmen zu.128 Diese Absolutheit des Bindungsanspruchs führt daher, wenn sie denn tatsächlich besteht, dazu, dass Reaktionen des Rechts auf die Wirklichkeit nicht im Geltungsgrund oder im Geltungsanspruch erfolgen können, sondern nur im Geltungsgehalt. Genau auf diese Herausforderung läuft der Verfassungsstaat im Wettbewerb aber zu: Dass sich nämlich – angesichts des wettbewerblichen Drucks – verfassungsrechtliche Gehalte ändern. Unter dem Gesichtspunkt der Geltungskraft des Rechts handelt es sich insoweit gegebenenfalls um ein Zurückweichen des Rechts. Ungeachtet dieser normativen Frage nach dem Stand des Rechts gegenüber dem wettbewerbenden Staat stellt sich zudem die eher kategorische und insoweit auch verfassungstheoretische Frage, was in solchen Änderungsprozessen mit dem Verfassungsrecht eigentlich passiert. Hier wiederum befindet man sich bereits in der engen Rückbindung der verfassungsrechtlichen Geltungsgehalte an den verfassungsrechtlichen Geltungsgrund, wobei es naturgemäß ein erheblicher Unterschied ist, ob eine verfassungsrechtliche Norm kraft der ihr innenwohnenden Vernunft gilt 127 128
Näher etwa Isensee, Josef, Staat und Verfassung, HdBStR, Bd. 2, 3. Aufl., 2004, § 15. Isensee, Josef, Staat und Verfassung, HdBStR II, § 15, S. 86 ff. (Rn. 166 ff.).
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C. Der Verfassungsstaat als Wettbewerber
(dies wäre ein naturrechtlicher Ansatz, dem Autoren wie etwa Kägi129 oder auch Alexy130 nahestehen) oder ob sie allein kraft ihrer Gesetztheit Geltung beansprucht.131 Das Problem des Verhältnisses von Offenheit und Ertragsinteresse offener Verfassungsstaaten scheint also ganz offenbar tiefer zu liegen, als es das Schlaglicht des so genannten „Wettbewerbs der Gesetzgeber“ in der Union auf den ersten Blick vermuten lässt. Es geht hier ganz offenbar um mehr als nur die Frage der tatsächlichen Entscheidung des Gesetzgebers für oder gegen das Ertragsinteresse in Fällen des Konflikts mit anderen Interessen. Es geht auch um mehr als lediglich eine bereichsspezifische Bestandsaufnahme staatlichen, insbesondere legislativen Handelns in der Offenheit. Unter der Oberfläche solcher Bestandsaufnahmen tatsächlichen legislativen Handelns steht nämlich das paradigmatische Verhältnis von Offenheit und staatlichem Interesse selbst in Frage. Die innere Verfasstheit dieses Verhältnisses zwischen Offenheit und Interesse, also die Verfassung der Offenheit, gerät also auf den Prüfstand. Es fragt sich nämlich, wie denn eigentlich das Verfassungsrecht des offenen Verfassungsstaates selber in den Wettbewerb mit hineingezogen wird. Denn wenn es tatsächlich so ist, dass das Verfassungsrecht des offenen Verfassungsstaates in der globalisierten Welt ein, wie die Ökonomen behaupten, „Produktionsfaktor“ ist132, dann steht es auch selber unter wettbewerblichem Druck. Dieser ökonomisch vermittelte Druck ist – als Realtypus – zwar nicht neu. Denn jeder Verfassungsstaat, der den Namen verdient, ist in der Wirklichkeit „ein wenig“ und damit auch „mehr oder weniger“ offen. Doch die (insbesondere innerhalb der Europäischen Union) beobachtbare Festschreibung von Offenheit und der gegenwärtige technologische Fortschritt scheinen in ihrer Kombination den ökonomischen Druck auf das Recht und damit auch das Verfassungsrecht in nie da gewesener Weise zu erhöhen. Was wird in dieser Situation eines „Verfassungsrechts im Wettbewerb zwischen den Staaten“ aus den Grundlagen von Freiheit und Gleichheit? Den mit dem Wettbewerb verbundenen verfassungstheoretischen und -praktischen Fragen kann sich die Wissenschaft vom offenen Verfassungsstaat auf Dauer 129 Kägi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, Neudruck Zürich: Schulthess, 1971. 130 Alexy, Robert, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl., Freiburg: Alber, 2005. 131 Dabei ist der Begriff der Gesetztheit durchaus weit zu verstehen, nämlich in einem Sinne des Faktischen. In diesem Sinne der Faktizität finden sich nicht nur Kelsen und seine Schüler, sondern auch Mischtheorien eines psychologischen und soziologischen Positivismus wie etwa von Hart, Herbert L. A., The Concept of Law, Oxford: Clarendon, 1979. Für einen exzellenten Überblick über die verschiedenen Ausprägungen des Rechtspositivismus vgl. Ott, Walter, Der Rechtspositivismus, Berlin: Duncker & Humblot, 1992. 132 Statt vieler etwa Siebert, Horst, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 14. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer, 2003, S. 45 (Soziales System als Faktor, zu dem Siebert auch die Verfassung zählt), konsequent dann ferner auf S. 389 unter dem Titel „Staaten im Standortwettbewerb“.
III. Der Verfassungsstaat als wettbewerbender Staat
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nicht verschließen. Denn der Verfassungsstaat selbst kann sich ihnen nicht ohne weiteres entziehen. Die zwischenstaatliche Kooperation, etwa im Wege der Harmonisierung, mag zwar ein praktischer Ausweg in kleinen Schritten sein. Das Spannungsverhältnis aufzuheben vermag solche Kooperation aber freilich nicht. Denn sie bietet sich nicht allgemein an, sondern immer nur punktuell, der Offenheit sozusagen nachlaufend. Als Phänomen einer Relation zwischen staatlicher Offenheit und staatlichem Ertragsinteresse bleibt der Wettbewerb daher bestehen. Die Verfassung wird so als prägendes Element des Verfassungsstaates durch dessen Wettbewerbereigenschaft in den Wettbewerb geradezu hineingezogen. Aus der Perspektive der Verfassung wirkt ein solches Hineingezogenwerden wie eine Herausforderung, aus der Perspektive des Wettbewerbs demgegenüber als einfacher instrumenteller Vorgang.
D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat Angesichts dieser Umstände kann es kaum weiter erstaunen, dass man in der staatlichen Offenheit heute eine „tektonische Verschiebung von kaum überschätzbaren Ausmaßen“ bemerkt.1 Ob eine derartige Verschiebung mit der Öffnung nach außen tatsächlich eingesetzt hat, ist allerdings noch nicht wirklich ausgemacht. Im Lichte der dargestellten Zusammenhänge zwischen staatlicher Offenheit für mobile Faktoren, einem staatlichen Wettbewerben um diese Faktoren und dem Verfassungsrecht stellt sich vielmehr die Frage danach, welche verfassungsrechtlichen Gehalte eine wettbewerblich motivierte Rücksichtnahme denn nun tatsächlich herausfordert. Für eine Antwort auf diese Frage weist ausgerechnet die Wettbewerbsanalyse selbst einen Weg. Insbesondere das Analyseinstrumentarium Albert Hirschmans2 eignet sich hervorragend, um die näheren Umstände, die der Wettbewerb zwischen den Staaten dem Verfassungsrecht bereitet, genauer zu betrachten. Hirschmans Analyse umfasst nämlich nicht nur individualwettbewerbliche Phänomene (etwa zwischen Unternehmen, die im Wettbewerb um Kunden stehen, und ihren Kunden), sondern ganz allgemein – abstrahiert von Anbietern und Nachfragern, also insbesondere abstrahiert von den konkreten Wettbewerbern – wettbewerbliche Prozesse, Situationen und Ergebnisse als solche. Daher lässt sie sich auf ein wettbewerbliches Phänomen wie den hier betrachteten Wettbewerb zwischen den Staaten zwanglos anwenden. Betrachtet man – mit Blick auf das verfassungsrechtliche Substrat – den Wettbewerb zwischen den Staaten durch die Brille Hirschmanscher Analytik, so bestätigt sich zunächst, dass sich der Wettbewerb und das Verfassungsrecht in weiten Teilen gegenseitig ergänzen. Beide haben die Wirkungen eines Freiheitsgewinns: Der Wettbewerb führt – schon rein faktisch – zu größeren Freiheitsräumen; das Verfassungsrecht gewährleistet, über seine Freiheitsverbürgungen, unter anderem genau diese faktischen Freiheitsräume, die der Wettbewerb ermöglicht. Allerdings gibt es wesentliche Unterschiede in dieser gegenseitigen Ergänzung: Nicht nur die Mechanismen, die diese Wirkungen herbeiführen, sind unterschiedlicher Art (faktisch versus normativ). Auch der Gewinnerkreis unterscheidet sich maßgeblich: Während der Wettbewerb ganz bestimmte Einzelne faktisch begünstigt, will das Verfas1
So Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 2. Hirschman, Albert O., Exit, Voice and Loyalty, Responses to Decline in Firms, Organizations and States, London: Oxford, 1970. 2
D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
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sungsrecht – jedenfalls seinem Anspruch nach – zunächst jedem Einzelnen in gleicher Weise die Freiheit verbürgen. Bei einer näheren Durchsicht dieser gegenseitigen Ergänzungswirkungen von Verfassungsrecht und Wettbewerb zeigen sich aber auch kontrapunktische Elemente: Insbesondere der Umstand, dass bereits die bloße Möglichkeit einer Abwanderung (in Hirschman’scher Diktion: die exit-Option) die Durchsetzbarkeit eigener Interessen (voice, also die „eigene Stimme“ im Staat) verbessert und – dies ist der normative Teil der Institutionenökonomie – auch verbessern soll, führt in ein Gegeneinander von Recht und Fakt. Denn der Wettbewerb schafft hier offenbar einen Anreiz (den Anreiz zur Präferenzialität im staatlichen Handeln), der dem Verfassungsrecht (und insbesondere seiner Allgemeinheit) teilweise entgegenläuft. Am Beispiel der Steuerentlastung kann man dies sehr einfach deutlich machen: Der Staat kann nicht alle Steuerzahler gleichermaßen entlasten und gleichzeitig teure staatliche Infrastruktur zur Verfügung stellen. Will der Staat Verfügende mobiler Faktoren steuerlich entlasten, muss er – im Maße der Entlastung – sein Angebot daher entweder reduzieren oder andere Steuerzahler zusätzlich belasten. Die (aktuelle oder spätere) zusätzliche Belastung anderer führt aber unmittelbar in die Präferenzialität hinein.3 Die derart umschriebene Versuchung zur präferenziellen Ungleichbehandlung aus Gründen der Mobilität ist keine eigenständige Kategorie der Staatstheorie, schon gar nicht des Staats- und Verfassungsrechts. Im offenen Verfassungsstaat ist sie aber, wie übrigens in jedem anderen Staat auch, vorhanden, und zwar umso stärker, je offener der Verfassungsstaat für die Ab- und Zuwanderung von Faktoren ist. Sie ist mit der Offenheit des Verfassungsstaates und der durch sie ermöglichten Mobilität sozusagen untrennbar verknüpft, weil der Staat sein Interesse am Faktor nicht „hinweg-wollen“ kann. Ihre staats- und verfassungstheoretische Relevanz erhält sie nicht aus einer irgendwie gearteten Besonderheit attraktionistischer Herrschaft gegenüber anderer staatlicher Herrschaft, sondern vielmehr aus der Gefahr des Abbaus des allgemeinen Geltungsanspruchs des Verfassungsrechts (letztlich also seiner Allgemeinheit).4 Verfassungstheoretisch wirft eine wettbewerblich motivierte Prä-
3 Der Mechanismus weist über das Steuerrecht dabei übrigens weit hinaus. Denn Stabilität im Staat bringt erhebliche Kosten mit sich, und auch im Hinblick auf diese Kosten trägt der Anreiz zur Rücksichtnahme gerade auch einen Anreiz zur Kostenbefriedigung seitens Dritter in sich. Insbesondere bleibt er nicht bei der – durch das Allgemeine getragenen – Effizienzsteigerung stehen: Wer meint, der Wettbewerb zwischen den Staaten bilde allenfalls einen Anreiz zur bloßen – allgemein wünschenswerten – Effizienzsteigerung, blendet einen wichtigen Teil der polit-ökonomischen Dynamik des Wettbewerbs aus, nämlich denjenigen des Anreizes zur Präferenzialität. 4 Nicht von ungefähr haben schwach verfasste Staaten wenige Probleme mit der Flexibilität zu Gunsten mobiler Produktionsfaktoren. Flexibilität wird erst in der normativ aufgeladenen Ordnung des Verfassungsstaates zum Problem, und zwar umso mehr, je dichter die Normativität der Verfassung das staatliche Handeln umfängt. Es ist mithin erst der spezifische Typus des anspruchsvoll verfassten (offenen) Staates, für den der Umgang mit der Versuchung zur Un-
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
ferenzialität in der Tat ein Problem auf. Denn es stellt sich die Frage danach, welche Gründe anerkannt werden können oder sollen, um eine Rechtfertigung für einen Verfassungsverstoß aus Gründen der Mobilität zu tragen. Die dogmatische Entfaltung etwa einer Besserbehandlung ist dabei nicht aus verfassungsdogmatischen Gründen schwierig, sondern aus verfassungstheoretischen: In Frage steht nämlich die normative Kraft der Verfassung im Angesicht des wettbewerblichen Anreizes zur Besserbehandlung der Verfügenden mobiler Produktionsfaktoren. Gewiss, gerade die Rechtsstaatlichkeit verfassungsstaatlichen Verhaltens und insbesondere der ausgeprägte Eigentums- und Freiheitsschutz durch die Verfassung sind im Wettbewerb, wenn sie auch manches Verfahren kompliziert und anspruchsvoll machen, das wichtigste „Pfund zum Wuchern“. Insoweit streiten rechtsstaatlich-liberale Verfasstheit und der Wettbewerb in vielerlei Hinsicht in dieselbe Richtung. Gleichwohl, die Stabilität, die der Verfassungsstaat bietet und als Standortfaktor voll zur Wirksamkeit bringen kann, kann der Wettbewerbsfähigkeit eben auch im Wege stehen. Die Ursache hierfür liegt darin, dass das Kosten-NutzenOptimum für Produktionsfaktoren typischerweise in der möglichst kostengünstigen Bereitstellung einer stabilen öffentlichen Ordnung liegt und es dem Verfügungsberechtigten daher zunächst gleichgültig bleiben kann (und in der Regel wohl auch bleibt), wie der Staat die von ihm gewährte Stabilität, insbesondere den Eigentumsschutz, garantiert. Der Verfügungsberechtigte hat – zu Recht – lediglich das ökonomische Interesse, die von ihm gewollte Stabilität möglichst kostengünstig ausnutzen zu können, im besten Fall also ohne jede Kosten. Die für ihn optimale Situation liegt daher in der Bereitstellung einer stabilen Ordnung, die er ohne (globaläquivalente) Kostentragung nutzen kann. Rechnet er die Existenz und Interessen anderer mit ein, hat er daher typischerweise nicht nur ein Interesse an Stabilität, sondern eben auch ein solches an der (eigenen) Besserbehandlung. Er sucht geradezu nach präferenzieller Behandlung unter Beibehaltung der Stabilität im Übrigen. Steigt seine Mobilität zwischen den Staaten, so steigen gegebenenfalls die Chancen der Durchsetzung seines Interesses, jedenfalls in jenen Staaten, in denen, wie in fast allen Staaten, ein reges Interesse an der Produktivitätsentfaltung von Produktionsfaktoren besteht. Die Herausforderung, von der hier die Rede ist, besteht übrigens gar nicht einmal deshalb, weil der Verfassungsstaat in dem von Ökonomen gern gebrauchten Bild des Wettbewerbs auch mit solchen Staaten konkurriert, die mit geringerer Verfassungsnormativität ausgestattet sind, als wir in der westlichen Welt es so kennen. Sie besteht vielmehr schon deshalb, weil die mit dem Begriff des Wettbewerbs umrissene Situation den Staat in Versuchung bringt, die von Produktionsfaktoren typischerweise gewünschte Flexibilität und Kostengünstigkeit der staatlichen Ordnung durch Mittel zu erreichen, die durch den liberalen und damit zugleich allgemeinen Rechtsstaatlichkeitsgedanken des Verfassungsrechts an sich eben nicht mehr gedeckt gleichbehandlung zur Herausforderung gerät, nicht der unspezifischere Typus der (nicht oder wenig verfassten) Staatlichkeit schlechthin.
D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
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sind. Die Allgemeinheit des Rechts steht manchem Bedürfnis nach Flexibilität entgegen. Sie ist nicht davor geschützt, ihrerseits gerade angesichts dieses Flexibilitätsbedürfnisses aufgeweicht zu werden. Mit einem bloßen Rechtsvergleich etwa zwischen den verfassungsrechtlichen Gehalten der Wettbewerber kommt man dem Problem daher nicht bei. Denn selbst wenn andere Wettbewerber dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe entwickeln wie ein Verfassungsstaat, das verfassungsrechtliche Schutzniveau in wettbewerbenden Staaten also gleich hoch ist, besteht der Anreiz zur Aufweichung des Rechts. Der mobile Faktorverfügende wird naturgemäß auch dann noch Rücksichtnahme einfordern und damit die Frage eines Normativitätsabbaus auf der Tagesordnung des Staates halten, wenn alle wettbewerbenden Staaten ein vergleichbares verfassungsrechtliches Niveau erreichen. Es geht hier also um eine grundsätzliche Frage der Stellung des Verfassungsrechts gegenüber dem wettbewerblichen Interesse des Staates, nicht um einen bloßen Verfassungsrechtsvergleich. Im nun folgenden Abschnitt sollen die Herausforderungen, die der Wettbewerb zwischen den Staaten für die Allgemeinheit des Rechts bereithält, näher betrachtet werden. Es gilt zu zeigen, dass der Wettbewerb nicht nur nebenbei, sondern gerade im Kern Probleme für die Allgemeinheit des Rechts mit sich bringt, weil der Einzelne gerade nach Besserbehandlung sucht und es für den Staat einen Anreiz gibt, das Rücksichtnahmeinteresse gerade im Wege einer Besserbehandlung zu befriedigen. Die Gefahr besteht darin, dass der Staat aus seinem wettbewerblichen Interesse an der Attraktion von Produktionsfaktoren im Wettbewerb in ein Muster präferenziellen Handelns verfällt, das dann seinerseits ein Problem in der rechtlichen Allgemeinheit aufwirft. Denn für den Staat erscheint ein präferenzielles Entgegenkommen typischerweise einfacher als ein allgemein behandelndes Entgegenkommen. Präferenzialität ist daher ein typisches Muster wettbewerblich motivierten staatlichen Handelns (D.I.). Das BVerfG hält auf diese Herausforderung Antworten bereit, die zum Teil allerdings recht unkonventionelle Wege gehen. Damit stärkt es die Allgemeinheit des Rechts gegenüber der wettbewerblichen Herausforderung. Trotz eines offenbar ausgeprägten Willens zu einem starken Selbststand des Verfassungsrechts gibt es jedoch auch Ausreißer, die die Kraft des Verfassungsrechts zu reduzieren in der Lage sind. Der Beitrag stellt die jeweiligen Ansätze nebeneinander und zeichnet so ein Gesamtbild, wie es sich nach der Verfassungsrechtssprechung in Deutschland darstellt (D.II.). Der insgesamt etwas durchwachsenen Situation stellt der Beitrag ein verfassungsfunktionales Leitbild der Allgemeinheit des Rechts entgegen. Die Allgemeinheit des Rechts ist funktional nichts anderes als eine notwendige Eigenschaft des rechtlichen Freiheitsschutzes im Verfassungsstaat. Sie birgt – anders als die Freiheit – kein verfassungsstaatliches Ziel in sich, sondern dient, als normatives Instrument, allein dem verfassungsstaatlichen Ziel der Freiheit. Sie wird so ihrerseits zu einem antiprotektionistischen Instrumentalisierungsverbot, nämlich einem Verbot der Instrumentalisierung des Staates seitens Einzelner zu Lasten anderer Einzelner. Der Beitrag verwurzelt diesen Gedanken der antiprotektionistischen Funktion der Allgemeinheit des Rechts in den soziologischen Beobachtungen Tocquevilles und
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
baut seinen – sehr liberalen – Gedanken einer égalité des conditions zu einer allgemeinen égalité des conditions normatives aus (D.III.). Der Abschnitt schließt dann mit der Erörterung einiger Konsequenzen, die sich für die verschiedentlich erhobene Forderung einer engeren Verschränkung zwischen der wettbewerbenden Ordnung und einer – durchaus gerne beschworenen – Wettbewerbsordnung ergeben (D.IV.).
I. Präferenzialität in der staatlichen Rücksichtnahme als wettbewerbliches Spezifikum: Die Herausforderung der Allgemeinheit des Rechts durch wettbewerblich motiviertes Handeln Der Einzelne sucht – als Nachfrager staatlicher Ordnungen – nicht nur nach einem hohen Maß an Freiheit, sondern auch nach einem hohen Maß an staatlicher Stabilität, namentlich Stabilität im Rechtsschutz und Stabilität in der Infrastrukturgewährleistung.5 Soweit der Nachfrager seine Nachfrage nach Freiheit lediglich im Sinne einer „Freiheit in staatlicher Stabilität“ nachfragt, muss zwischen seinem Bedürfnis nach Freiheit und seinem Bedürfnis nach Stabilität kein Widerspruch liegen – er fragt dann eben „nur“ im Rahmen der von ihm nachgefragten Stabilität, also innerhalb der nachgefragten Ordnung, nach Freiheit. Seine Nachfrage nach Freiheit ist in diesem Fall also von vorneherein auf die „stabilitätsfördernde Freiheit“ begrenzt, also insoweit, als sie mit Stabilität nicht in Widerspruch gerät. Der Typus eines solchen Nachfragens ist ein Typus der Bescheidenheit. Fragt jemand Freiheit lediglich im Rahmen von Stabilität nach, so nimmt er sich nicht erst im „Erhalten“ einer bestimmten Ordnung zurück, sondern schon in seinem Nachfragen selbst. Er löst die Zielkonflikte zwischen Stabilität und Freiheit gewissermaßen schon im Nachfragen auf und erwartet vom Staat daher nichts, was dieser nicht leisten könne. Ein idealtypisierter mobiler Nachfrager staatlicher Ordnungen fragt allerdings nicht in dieser – bescheidenen – Art und Weise nach der staatlichen Ordnung. Er versucht vielmehr, in seinem Nachfragen ein Höchstmaß von Stabilität und Freiheit miteinander zu verknüpfen. Sein Ziel ist ein Höchstmaß an Freiheit in der Kombination mit einem Höchstmaß an Stabilität. Dieses Ziel kombinierter Höchstmaße bildet sich nicht zufällig. Es ist vielmehr notwendige Folge seines ökonomischen Denkens. Märkte funktionieren nach den Gesetzen der Gewinnmaximierung, nicht nach den Gesetzen der Bescheidenheit oder des Anstandes. Je höher der Nutzen einer Ordnung für einen ökonomisch rationalen Nachfrager ist, desto stärker fragt er die Ordnung nach (d. h.: setzt er seine Faktoren in dieser Ordnung ein). Wenn sich aber der Nutzen durch die Kombination von Freiheit und Stabilität in ihren jeweiligen Höchstmaßen erhöhen lässt, so ist kein ökonomisch sinnvolles Argument dafür zu 5 Beispiele: Bildungsinfrastruktur: Hervorbringung gebildeter Arbeitskräfte; Verkehrsinfrastruktur: Erhaltung technischer Mobilität; Kommunikationsinfrastruktur: Sicherung von Kommunikationsnetzen; Forschungsinfrastruktur: Forschungskerne in Universitäten, usw.
I. Präferenzialität als wettbewerbliches Spezifikum
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finden, diesen Nutzen nicht auch nachzufragen. Ökonomisch vorzuwerfen ist ihm dies jedenfalls nicht. Der Nachfrager einer Ordnung muss sich – im Paradigma des Wettbewerbs – nicht darum scheren, wie der Staat die von ihm nachgefragte infrastrukturelle Stabilität bieten kann. Insbesondere muss er nicht danach fragen, ob der Staat überhaupt in der Lage ist, Freiheit und Stabilität jeweils in einem Höchstmaß anzubieten. Die tatsächliche Möglichkeit der Kombination von Freiheit und Stabilität ist vielmehr Sache des sich anbietenden Staates. Er – nicht der Nachfrager – muss sich überlegen, wie er denn eigentlich das Freiheits- und Stabilitätsbedürfnis des Nachfragers mit möglichst hohem Gesamtnutzen anbieten kann. Der Nachfrager kann sich demgegenüber darauf beschränken, Höchstmaße nachzufragen. Erhält er sie nicht, ist es nicht seine Sache, schon die Nachfrage zu reduzieren. Vielmehr hat er – im Paradigma des Wettbewerbs – alles Recht dazu, seine Unzufriedenheit auch weiterhin zu äußern und, so es die relative Attraktivität anderer Staaten hergibt, seine mobilen Faktoren abzuziehen und eben woanders anzusiedeln. Angesichts dieser Nachfragesituation fragt es sich, wie der Staat hierauf nun reagieren kann. Will er dem Nachfrager wettbewerblich entgegenkommen, so scheint er im Wesentlichen zwei Typen von Möglichkeiten zu haben: Er kann auf den Nachfrager entweder im Wege allgemeinen Handelns oder aber im Wege der Besserbehandlung, also im Wege der Präferenzialität, Rücksicht nehmen. Es ist eine These des vorliegenden Beitrages, dass der zweite Weg, also die Attrahierung von Faktoren über den Weg einer Besserbehandlung, nicht nur die Allgemeinheit des Rechts herausfordert, sondern – als solche – auch die wesentliche wettbewerbliche Herausforderung des Verfassungsstaates überhaupt bereithält. Zum Zweck der genaueren Betrachtung soll im Folgenden zunächst eine kurze Analyse der Funktionsbedingungen wettbewerblichen Handelns erfolgen. Es handelt sich hierbei um eine einfache Kosten-Nutzen-Analyse, die nahe legt, dass der Einzelne – jedenfalls unter Berücksichtigung von Kosten und Nutzen – nicht nur Freiheit, sondern eben auch Stabilität sucht, und dass der Staat – wiederum unter Berücksichtigung von Kosten und Nutzen – Einzelnen die gesuchte Kombination von Freiheit und Stabilität am günstigsten gerade im Wege einer Besserbehandlung anbieten kann (D.I.1.). In einem weiteren (normativen) Schritt soll dann begründet werden, dass dieser – dem Wettbewerb inhärente – Anreiz zur Besserbehandlung Einzelner nicht nur zu einer Herausforderung der Allgemeinheit des Rechts führt, sondern dass darüber hinaus in dieser Herausforderung gerade auch die Spezifität des Verhältnisses von Wettbewerb und Verfassungsstaat deutlich wird. Selbst in der wettbewerblich motivierten Verkürzung verfassungsstaatlicher Freiheitspositionen zeigt sich dieses spezifische Verhältnis nämlich typischerweise nicht schon in der Verkürzung der Freiheit selbst, sondern gerade erst in der Verkürzung ihrer gleichen Gewähr. Die gleiche Gewähr der Freiheit, nicht die individuelle Freiheit an sich, wird durch den Wettbewerb daher nämlich in paradigmatisch besonderer, sich von anderen Herausforderungen abhebender Weise herausgefordert (D.I.2.). Diese spezifisch wettbewerbliche Herausforderung besteht jedoch nur im Rahmen echter wettbewerblicher Motivation staatlichen Handelns. Wo der Staat auf Grund einer
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
rechtlichen Verpflichtung Einzelne ungleich behandelt, wie etwa in den Fällen der so genannten „umgekehrten Diskriminierung“, handelt er nicht mit wettbewerblicher, sondern mit lediglich rechtsbeachtender Motivation. In der Konsequenz seiner (etwa europarechtlichen) Verpflichtung ist der normative Rahmen seines Handelns hier ein anderer. Sein Handeln lässt sich anders rechtfertigen. Ein Gleichheitsverstoß wird hier nämlich über den Weg zur Erfüllung der Verpflichtung rechtfertigbar. Solche Fälle der umgekehrten Diskriminierung, wie sie gerade in Bereichen der Geltung etwa des Herkunftslandsprinzips immer wieder vorkommen, folgen normativ völlig anderen Regeln. Ihnen liegt kein wettbewerblich motiviertes Handeln zu Grunde, sondern lediglich ein anders (nämlich gerade nicht wettbewerblich) motiviertes Handeln, namentlich ein durch Rechtsbeachtung motiviertes Handeln. Es soll aus den weiter gehenden Erörterungen der nachfolgenden Teile daher herausgehalten werden (D.I.3.). 1. Kosten und Nutzen staatlicher Freiheits- und Stabilitätsgewähr für den Staat: Präferenzialität als einfachster wettbewerbsstrategischer Weg der Rücksichtnahme Es liegt im ökonomischen Interesse des Einzelnen, vom Staat jeweils Freiheit und Stabilität im Höchstmaß zu verlangen. Hierin liegt einer der wichtigen Unterschiede zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Der Einzelne muss sich – seinem ökonomischen Interesse entsprechend – keine Gedanken darüber machen, ob sich eine solche Kombination von Höchstmaßen sachlich richtig überhaupt gewährleisten lässt. Er kann, als Nachfrager, vielmehr ganz und gar egoistisch ein Höchstmaß an Freiheit und ein Höchstmaß an Stabilität verlangen.6 Ob und gegebenenfalls wie der Staat ein solches Ansinnen befriedigen kann und will, ist nicht Sache des Einzelnen, sondern Sache des Staates. Er, nicht der Einzelne, muss sich also Gedanken darüber machen, ob und wie er diese Nachfrage nach einer Kombination von Höchstmaßen befriedigen kann und will. In einer Situation geringer Mobilität stellt ihn die Antwort vor relativ geringe Schwierigkeiten: Er handelt einfach nach gusto und sieht sich dabei allenfalls durch das Verfassungsrecht begrenzt. In Zeiten hoher Mobilität muss er jedoch mit Abwanderung rechnen, so dass er sich ernsthaft darüber Gedanken machen muss, wie er mit der Nachfrage nach Höchstmaßen umgehen will und kann, wenn er die Abwanderung nicht einfach in Kauf nehmen will.
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Aus der Perspektive des Nachfragers der Ordnung grundlegend etwa Massmann, Jens/ Schmidt, Reinhard H., Recht, internationale Unternehmensstrategien und Standortwettbewerb, 18 JNPÖ 1999, S. 169. Selbst in der neueren Moraltheorie geht es mittlerweile nicht mehr nur um die Handlungsanordnungsgehalte moralischer Regeln, sondern auch um die Frage, wie sich solche Regeln – mit dem Ziel ihrer Außergeltungstellung – herausfordern lassen. Es ist durchaus augenfällig, dass ausgerechnet in Zeiten entgrenzender Globalisierung neue moralphilosophische Konzepte wie etwa der Neo-Intuitionismus, der Neo-Egoismus und der radikale Partikularismus in den Blickpunkt rücken. Äußerst lehrreich und durchaus kritisch mit Anlehnung an die analytische Diskursethik hierzu etwa Kellerwessel, Wulf, Regel und Handlungssubjekt in der gegenwärtigen Moralphilosophie, Hamburg: Hopf, 2007, S. 29 ff.
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Angesichts dieser Situation lässt sich nicht argumentieren, dass es – im Lichte der verfassungsstaatlichen Wirklichkeiten – unrational sei, Freiheit und Stabilität jeweils im Höchstmaß nachzufragen. Denn es ist in der Tat nicht Sache des Nachfragers, den Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Im Gegenteil: Die ökonomischen Interessen des nachfragenden Einzelnen gehen – Verwirklichbarkeit hin oder her – vielmehr in Richtung des ökonomischen Optimums. Und dieses ökonomische Optimum liegt gerade in einem Höchstmaß von Freiheit in der Kombination mit einem Höchstmaß an Stabilität. Es wäre ökonomisch unrational und allenfalls moralgetrieben, vom einzelnen Nachfrager verlangen zu wollen, dass er sich Gedanken über die Verwirklichbarkeit seines Ansinnens machen soll.7 Er kann einfach fordern und dann beobachten, wie weit man seiner Forderung entgegenzukommen bereit ist. Die betriebswirtschaftliche Rationalität der Kombinierung von Höchstmaßen in der Nachfrage des Einzelnen lässt sich also durchaus aus der inneren Struktur des Nachfrager-Anbieter-Verhältnisses erklären. Sie lässt sich auch leicht darstellen, wie etwa folgendes Beispiel der Nachfrage nach einer geringen Besteuerung und eines hochwertigen Infrastrukturangebotes zeigt: Der Nachfrager einer staatlichen Ordnung hat – in seiner ökonomischen Rationalität – naturgemäß ein hohes Interesse an Belastungsfreiheit. Sein Optimum liegt in der völligen Belastungsfreiheit. Für ihn ist es daher rational, möglichst geringe Steuern einzufordern. Zugleich hat er aber ein großes Interesse an Infrastrukturstabilität. Im Forschungssektor etwa hat er ein großes Interesse an interessanten Universitäten, im Transportsektor hat er ein großes Interesse an funktionierenden Auto- und Eisenbahnnetzen, im Rechtsschutzbereich an rechtsstaatlichen Gerichten und so weiter. Im Paradigma des Wettbewerbs gibt es für den Nachfrager staatlicher Ordnung nun allerdings überhaupt keinen Grund, sein Interesse an möglichst geringer Abgabenbelastung nur deshalb zurückzustellen, weil er eben auch sein Infrastrukturinteresse geltend machen will. Im Gegenteil: Er kann vom Staat selbstbewusst – und mit allem betriebswirtschaftlichen Recht – verlangen, dass er belastungsfrei gestellt wird und trotzdem an den infrastrukturellen Stabilitätsleistungen partizipieren kann. Im Grundsatz unterscheidet ihn dies zunächst nicht vom Einzelnen im geschlossenen Staat: Auch im geschlossenen Staat kann man im Grundsatz Abgabenfreiheit und infrastrukturelle Stabilität zugleich verlangen (und unter bestimmten Bedingungen sogar erhalten: Stichwort Geringverdiener im Sozialstaat). Im Paradigma des Wettbewerbs ergänzt sich diese ökonomische Rationalität der Kombination von Höchstmaßen jedoch durch die Möglichkeit, den Staat im Lichte der tatsächlichen Mobilität der eigenen Faktoren zu einem wettbewerblichen Verhalten zu bringen, das er ohne die tatsächliche Mobilität nicht an den Tag 7
Hier werden die Unterschiede zwischen Interesse und Moral deutlich: Die Kombination von Höchstmaßen zu fordern mag unmoralisch sein, wenn die Erfüllung der Forderung notwendig auf Kosten Dritter geht (es kann eben nicht jeder ein Höchstmaß an Freiheit genießen, ohne dass die Stabilität leidet). Das Unmoralische einer solchen Forderung ändert aber am Interesse selber nichts. Zum Verhältnis von Interesse und Moral in solchen und weiteren Fällen aufschlussreich etwa Vanberg, Viktor, Moral und Interesse, Ethik und Ökonomik, in: Hegselmann, Rainer/Kliemt, Hartmut (Hrsg.), Moral und Interesse, München: Oldenbourg, 1997, S. 167.
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
legen würde. Die Ökonomie benennt diese Möglichkeiten bekanntermaßen in Begriffen der Durchsetzungsfähigkeit.8 Der Wettbewerb zwischen den Staaten signalisiert den Einzelnen, die Kombination von Höchstmaßen in der Nachfrage an die staatliche Ordnung gerade erst aufrechtzuerhalten, etwa im Sinne eines ständigen Versuchsballons, der anzeigt, inwieweit der Staat wohl bereit ist, auf die eigene Nachfrage zu reagieren und ein Trittbrettfahren zuzulassen.9 Die Rationalität der Kombination von Höchstmaßen in der eigenen Nachfrage lässt sich auch außerhalb des Steuerrechts an Beispielen deutlich machen. Der Einzelne kann – betriebsökonomisch durchaus rational – etwa eine Ordnung nachfragen, in der er zwar als Kläger auftreten, nicht aber selber verklagt werden kann. Mit Blick auf das Funktionieren der staatlichen Ordnung mag eine solche Nachfrage unsinnig erscheinen. Dies liegt aber nicht daran, dass die Nachfrage selber unsinnig wäre, sondern an den Möglichkeiten des Staates, einem entsprechenden Ansinnen nach den Maßstäben des Verfassungsrechts nachzukommen. Dem Verfassungsstaat ist es typischerweise verwehrt, solche Regelungen zu schaffen, die eine Gesamtausnahme zu Gunsten Einzelner ermöglichen. Nichtsdestotrotz ist es aber eben durchaus ökonomisch, derartiges in der Kombination nachzufragen. Der einzelne Nachfrager staatlicher Ordnung würde in seiner ökonomischen Gesamtrechnung eine entsprechende Regelung auf der Habenseite staatlicher Attraktivität verbuchen, ihr Nichtvorhandensein demgegenüber auf der Sollseite. Gegenüber dieser Nachfrage nach Höchstmaßen von Freiheit und Stabilität bleibt der Staat, soweit nicht überstaatliche Strukturen wie etwa das unionale Beihilferecht zur Verfügung stehen10, auf sich selbst zurückgeworfen. Ist es nicht der Einzelne, der 8 Statt vieler etwa Straubhaar, Thomas, Empirische Indikatoren für den Systemwettbewerb – Moderne und historische Befunde, 17 JNPÖ 1998, S. 243, 244: „Je kostengünstiger ein ,Exit‘ erfolgen könnte, desto ernsthafter muss eine Obrigkeit ,Voice‘ nehmen, um nicht tatsächlich die Abwanderung zu provozieren.“ Manche sprechen in diesem Zusammenhang auch von „Freifahreroptionen“, so etwa durchaus kritisch Wegner, Gerhard, Nationalstaatliche Institutionen im Wettbewerb – Wie funktionsfähig ist der Systemwettbewerb?, Berlin: De Gruyter Recht, 2004, S. 24. 9 Übrigens ist man auch – oder gerade – in ordnungsökonomischer Tradition durchaus kritisch solchem Trittbrettfahren gegenüber eingestellt, vgl. etwa Vanberg, Viktor, Auch Staaten tut der Wettbewerb gut: Eine Replik auf Paul Kirchhof, 56 ORDO (2005), S. 47, 49 ff. 10 Auch das unionale Beihilfeverbot (Art. 107 AEUV) bedingt freilich keine Gleichheitsverbürgung zwischen Einzelnen im Staat. Es kann allenfalls dazu führen, dass Gleichheitspositionen im Staat annexhaft mit geschützt werden, etwa dann, wenn ein beihilferechtliches Verbot Auswirkungen nicht nur auf das grenzüberschreitende Konkurrenzverhältnis hat, das es in den Blick nimmt, sondern auch auf innerstaatliche Konkurrenzverhältnisse. Solche innerstaatlichen Wirkungen des Beihilferechts sind zwar nicht selten, jedoch nicht im engeren Sinne vom Beihilferecht bezweckt. Systematisch einbezogen werden solche innerstaatlichen Wirkungen von den Unionsorganen typischerweise allerdings weder bei der Marktabgrenzung noch bei der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. Vielmehr muss die Wettbewerbsbeschränkung geeignet sein, den zwischenstaatlichen Handeln zu beeinträchtigen (näher etwa Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter/Nettesheim, Martin, Europarecht, München: Beck, 4. Aufl. 2009, S. 398; Happe, Zur innerstaatlichen Wirkung von Beihilfeentscheidungen, NVwZ 1993, S. 31). Allerdings wird – der steigenden grenzüberschreitenden
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sich (bereits in seiner Nachfrage nach Ordnungen) in seinen Anforderungen selber beschränkt, so ist es der Staat, der, will er überhaupt irgendeine Ordnung anbieten, sich (in seinem Entgegenkommen) zu beschränken hat. Hier kommt der wesentliche Wesenszug des Wettbewerbs zwischen den Staaten zu Tage: Er hat – außer im Staat selbst – keinen Ordner, der ihn in Schranken weist. Die Ordnungsfunktion bleibt in Ermangelung staatsähnlicher überstaatlicher Phänomene dem Staat allein zugewiesen. Die Anreizsituation, in der der Staat dadurch steckt, zeigt sich im Hinblick auf die Privilegienwirtschaft in voller Deutlichkeit: Einerseits will – und soll – der Staat dem einzelnen Nachfrager im Wettbewerb entgegenkommen, in dem er seine Ordnung für diesen effizient und attraktiv gestaltet, andererseits aber ist gerade er – jedenfalls in Ermangelung anderer staatsähnlicher überstaatlicher Autoritäten – als einziger in der Lage, überhaupt irgendeine Ordnung, die einer Privilegienwirtschaft entgegensteht, zu gewährleisten. Das so entstehende Ordnungsdilemma schlägt unmittelbar auf die Interessenssituation aller Beteiligten durch, wie sich am Abgabenbelastungsbeispiel (aber an jedem anderen auch) beschreiben lässt: Denn für den Staat ist es teuer, der Nachfrage Einzelner nach attraktiven staatlichen Ordnungen im Wege der Gleichbehandlung zu entsprechen.11 Er kann den Ordnungsnachfrager daher nicht im Wege der Gleichbehandlung mit allen Unterworfenen dauerhaft belastungsfrei stellen und zugleich die genannte infrastrukturelle Stabilität gewährleisten. Denn wenn er dies im Wege der Gleichbehandlung täte, müsste er alle Herrschaftsunterworfenen vergleichbar belastungsfrei stellen. Die Allgemeinheit des Rechts fordert vom wettbewerbenden Staat daher Selbstbewusstsein.12 Denn die ratio des Allgemeinen ist im Wettbewerb: Niemand Verflechtung durchaus angemessen – die Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 107 Abs. 1 a.E. AEUV) widerleglich vermutet. Zum Ganzen und auch zur Zusammenführung der dogmatischen Voraussetzungen von Wettbewerbsbeschränkung einerseits und grenzüberschreitender Handelsbeeinträchtigung andererseits näher Bultmann, Peter Friedrich, Beihilfenrecht und Vergaberecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 33 ff. Aus der Perspektive der Wirtschaftsförderung etwa Stober, Rolf, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, Stuttgart: Kohlhammer, 16. Aufl. 2008, S. 227 ff. 11 Die Höhe der relativen Kosten der Gleichbehandlung (relativ meint hier die Relation zu den geringeren Kosten durch eine Ungleichbehandlung) ist in jeder steuersystemisch relevanten Änderung des Steuerrechts von großer Relevanz. Gerade der Gesichtspunkt der Steuergleichheit macht solche systemändernden Vorhaben so schwierig. Ein einleuchtendes Beispiel findet sich etwa in der nachgelagerten Besteuerung, die naturgemäß nur mit einem sehr genauen Blick auf die Gleichheit der Belastungswirkungen durchgeführt werden darf, vgl. dazu etwa Dorenkamp, Christian, Nachgelagerte Besteuerung von Einkommen, Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 91 ff. und S. 231 ff. (zur Problematik des Wegzugs). 12 Der selbstbewusste Staat ist gerade für die Steuerrechtswissenschaft eigentlich eine selbstverständliche Wirkungsbedingung gleichmäßiger Besteuerung. Nicht ohne Grund ist gerade die materielle Steuergerechtigkeit der Dreh- und Angelpunkt des steuerrechtlichen Systems überhaupt, vgl. dazu nur etwa Tipke, Klaus, Die Steuerrechtsordnung, Köln: Otto Schmidt, 2. Aufl. 2000, S. 228 ff. Dennoch ist gerade die Geschichte des Steuersystems ein ständiger Kampf gerade um die Steuergerechtigkeit. Allein der Kampf um die Etablierung und
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muss sich der Herrschaft unterwerfen; wer es aber tut, muss sich nach den allgemeinen Regeln behandeln lassen. Auf diesem Weg gegebenenfalls entstehenden relativen Unattraktivitäten entledigt sich der allgemeine Staat allenfalls im Modus des Allgemeinen. Attraktiv halten kann sich der Staat in diesem Handlungsschema also nicht durch stellenweises Reparieren unter Aufrechterhaltung einer im Übrigen – relativ – unattraktiven Ordnung, sondern durch ein attraktives Gesamtbild. Sein Entgegenkommen gegenüber dem Einzelnen ist durch das Erfordernis großer Effizienz geprägt.13 Neben diesem Weg der Allgemeinheit des Rechts gibt es zudem den Weg der Präferenzialität staatlichen wettbewerblichen Handelns: Der Staat gibt in dieser Konstellation dem Drängen nach Besserbehandlung nach und schafft so ein mehr oder weniger ausgeprägtes Privilegienrecht. Weil aber irgendjemand die entstehenden Kosten tragen muss, verlagert man sie auf andere (zum Beispiel auf spätere Generationen oder auf Verfügende immobiler Faktoren). Man attrahiert Faktoren mittels präferenzieller Behandlung dabei insbesondere auf Kosten der Allgemeinheit. Dieser Weg der gruppenspezifischen Rücksichtnahme ist ein Weg des Kleinmutes.14 Er ist geprägt durch ein Bewusstsein relativ geringer Attraktivität im Wettbewerb, den Willen, die Attraktivität zu steigern, und den Verzicht, diese Steigerung gerade durch ein allgemeines Handeln erreichen zu wollen. Man läuft – umgangssprachlich – den Verfügenden mobiler Faktoren auf Kosten der Allgemeinheit sozusagen nach, nur um sie an den eigenen Standort zu binden. Erhaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips spricht Bände über den Grad des Selbstbewusstseins, das im steuerstaatlichen Handeln angelegt ist; eindrücklich zum Wechselspiel zwischen Norm und Fakt etwa noch immer Birk, Dieter, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, Köln: Deubner, 1983, S. 23 ff. 13 Es ist dieser Hang zum Großzügigen, zur Nivellierung wettbewerblicher Unterschiede, die für einen solchen Weg Selbstbewusstsein erfordern. Denn dieser Weg erfordert vor allem eines: Die Fähigkeit des Staates, um der Allgemeinheit seines Handelns willen über dem nachvollziehbaren Wunsch des Erreichens kurzfristiger wettbewerblicher Ziele zu stehen. Der Staat darf nicht jedem noch so interessanten wettbewerblichen Vorteil um den Preis der Allgemeinheit nachrennen wollen, sondern muss auch verzichten können, um diesen Weg der Gleichbehandlung gehen zu können. Dieser Weg bedeutet nicht Verzicht auf ganzer Linie, wohl aber Verzicht jenseits der Grenzen des Allgemeinen, das der Gleichheitsgarantie inne wohnt. Es ist gerade die Allgemeinheit der freiheitsbegrenzenden Rechtsnormen, die die gleiche Freiheit des einzelnen garantiert. Zu dieser kantischen Erkenntnis über die Allgemeinheit der Regeln im Einzelnen etwa Zippelius, Reinhold, Das Wesen des Rechts, München: Beck, 5. Aufl. 1997, S. 96 ff.; ferner – ebenfalls aus einem kantischen Blickwinkel – Mestmäcker, Ernst-Joachim, Macht-Recht-Wirtschaftsverfassung, in: ders., Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 1984, S. 15. Die politische Bedeutung dessen hat die politische Ökonomie wieder und wieder hervorgehoben, vgl. nur etwa Buchanan, James M., How can Constitutions be designed so that politicians who seek to serve the „public good“ can survive and prosper?, 4 Constitutional Political Economy, 1993, S. 1. 14 Dieser Weg des Kleinmutes ordnet sich übrigens zwanglos ein in den „spießbürgerlichen Materialismus“, den man mittlerweile als gesellschaftliche Grundlage – und offenbar auch Folge – der um sich greifenden Marktersatztheologie erkennt, vgl. Stürner, Rolf, Markt und Wettbewerb über alles?, München: Beck, 2007, 144, 145 ff.
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Im Ergebnis führt dieser Weg des Kleinmutes in eine Zweiteilung des Rechts: Der Staat schafft für die Verfügenden mobiler Faktoren ein Sonderrecht. Kleinmütig ist dieser Weg auch deshalb, weil er dem Staat die Rückkehr zum autonomen Handeln aus der Hand schlägt. Begibt sich der Staat nämlich einmal auf diesen Weg, ist die Etablierung von Grenzen solcher Sonderrechtssituation schwierig. Lässt der Staat eine Schedulisierung im Steuerrecht zu, so ist es argumentativ schwierig, sich einer solchen Schedulisierung in anderen Rechtsbereichen zu widersetzen. Warum soll man dann nicht auch das Strafrecht schedulisieren, das Beamtenrecht, das Umweltrecht? Der schwache offene Staat gerät hier in eine Falle der Rechtskultur: Ist er in einem Rechtsbereich bereit, die Allgemeinheit seines Handelns aus wettbewerblichen Gründen zu vernachlässigen, wird er es in anderen Bereichen schwer haben, die Allgemeinheit seines Handelns zu erhalten. Ein bloßer Hinweis auf eine so genannte Bereichsspezifität des Rechts stößt hier an Grenzen. Der Staat hat hier nämlich etwas Kategorisches verloren, etwas, was er nur unter erheblichen intellektuellen und moralischen Anstrengungen wiederfinden kann, nämlich seine Integrität als eben allgemeiner und damit liberaler Staat. Ein Staat, der die Allgemeinheit seines Handelns zum Zwecke einer wettbewerblichen Schedulisierung opfert, ist kein liberaler Staat mehr, sondern – mit Kirchhof15 – ein Staat des Privilegs.16 Nicht die allgemein richtige Lösung für ein Problem steht am Beginn eines solchen Weges, sondern der Wille, den Inhabern mobiler Produktionsfaktoren – unabhängig von der richtigen Lösung – im Wege eines Sonderrechts entgegenzukommen. Es spricht viel für die Vermutung, dass der Weg in das Privilegienrecht für den Staat – jedenfalls kurzfristig – kostengünstiger ist als der Weg der Gleichbehandlung. Denn auf diese Weise kann sich der Staat attraktiv machen, ohne die Ordnung zugleich für alle Unterworfenen gleichermaßen zu verändern.17 Allerdings lässt sich ein solcher Weg nicht sehr weit gehen, ohne dass zusätzliche Kosten entstünden. Denn in der Tat hat auch ein solcher Weg Konsequenzen vor allem für die vom Einzelnen nachgefragte infrastrukturelle Stabilität.18 Der Umstand, dass ein überschuldeter 15
Kirchhof, Paul, Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Autonomie – Solidarität, 56 ORDO 2005, S. 39. 16 Eine besonders kritische Analyse zu den augenfälligen Zusammenhängen zwischen Status, Privileg und staatlichem Gesetz findet sich bei Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991 (Neudruck), S. 185 f. 17 Ein geradezu idealtypisches Beispiel in diese Richtung ist etwa die auch jüngst wieder vorgeschlagene Schedulisierung des Einkommenssteuerrechts nach dem skandinavischen Vorbild einer Dualität der Einkünfte. Eine umfassende ökonomische Analyse spricht, jedenfalls kurzfristig, für eine solche (ungleichbehandelnde) Attraktivitätssteigerung, vgl. etwa die Studie von Schön, Wolfgang u. a., in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung u. a., Reform der Einkommens und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommenssteuer, 2006, zu finden unter www.sachverständigenrat-wirtschaft.de. 18 Stabilitätsgefährdend ist dabei insbesondere die Uneinheitlichkeit der Behandlung. Die duale Einkommensbesteuerung etwa trägt, um im Beispiel zu bleiben, erhebliche Ungleichbesteuerungen in sich, weil eben nicht die Faktoren (Arbeit versus Kapital) unterschiedlich besteuert werden, sondern die Einkommensbezieher, also die Menschen. Damit aber läuft sie
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Staat nur noch unter großen Schwierigkeiten Wachstum generieren kann19, ist nur eine Folge dessen unter vielen. 2. Die wettbewerbliche Herausforderung der Präferenzialität als Spezifität des Wettbewerbs: Verkürzung der rechtlichen Freiheit gerade durch Verkürzung ihrer allgemeinen Gewähr Die mit den Begriffen „exit“ und „voice“ arbeitende Analyse Hirschmans20 vermag diesen Umstand in wettbewerbstheoretischer Hinsicht mit großer analytischer Erkenntniskraft zu erklären. So schreibt Hirschman in seiner Loyalitätstheorie zu dem Zusammenspiel zwischen exit und voice: „The chances for voice to function effectively as a recuperation mechanism are appreciably strengthened if voice is backed up by the threat of exit, whether it is made openly or whether the possibility of exit is merely well understood to be an element in the situation by all concerned“21 – und weiter: „[…] it appears that the effectiveness of the voice mechanism is strengthened by the possibility of exit“ (Hervorhebungen jeweils von Hirschman selber).22 Die aus der bloßen exit-Option erwachsende Stärkung von voice ist dabei übrigens nicht nur irgendein Phänomen des Wettbewerbs neben anderen wettbewerblichen Phänomenen. Es handelt sich vielmehr um ein ganz zentrales, vielleicht das zentrale Phänomen von Wettbewerb überhaupt: dass nämlich der mobile Nachfrager gerade dadurch die Allokationseffizienz des allgemeinen Geschehens steigert, dass er eben tatsächlich entweder abwandert oder angesichts der Abwanderungsmöglichkeit Änderungen durchzusetzen in der Lage ist. Wer Wettbewerb den Anforderungen des Gleichheitssatzes diametral entgegen. Unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Besteuerung daher kritisch zum ganzen etwa Wiss. Beirat beim BMF, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer, BMF Schriftenreihe, Bd. 76, 2004; Englisch, Joachim, Die duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, IFSt-Schrift 432, Bonn, 2005; Hey, Johanna, Besteuerung von Einkommen, JZ 2006, 851, 854 f. Zum größeren Zusammenhang prominent auch etwa Kirchhof, Paul, Die Besteuerung des Einkommens in einem einfachen, maßvollen und gleichmäßigen Belastungssystem, BB 2006, 71. 19 Gerade die sogenannte „jüngste“ europäische Verschuldungskrise führt diesen schmerzlichen Zusammenhang mittlerweile auch der Öffentlichkeit deutlich vor Augen, vgl. statt vieler nur etwa Dreger, Christian, Staatsverschuldung bremst die Wirtschaftsentwicklung, Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 1 – 2/2000, im Internet unter www.diw.de. In der juristischen Literatur diskutiert man – auch deshalb – vermehrt die Staatsverschuldung wie überhaupt das Finanzverfassungsrecht, vgl. statt vieler etwa Ohler, Christoph, Der Staatsbankrott, JZ 2005, S. 590; Glaser, Andreas, Begrenzung der Staatsverschuldung durch die Verfassung, DÖV 2007, S. 98; Blanke, Hermann-Josef, Staatsfinanzen im Föderalismus, 65 ZaöRV 2005, S. 71. Zur neuen so genannten Schuldenbremse unter dem Grundgesetz Seiler, Christian, Konsolidierung der Staatfinanzen mithilfe der neuen Schuldenregel, JZ 2009, S. 721 (eher positiv) und Korioth, Stefan, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, S. 729. 20 Hirschman, Albert O., Exit, Voice and Loyalty, Responses to Decline in Firms, Organizations and States, London: Oxford, 1970. 21 Ibid., S. 82. 22 Ibid., S. 83.
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will, geht heute daher nicht nur davon aus, dass die Möglichkeit eines exit die Durchsetzungschancen (voice) erhöht, sondern auch davon, dass sie – aus Gründen der Allokationseffizienz23 – eben gerade auch erhöhen soll.24 Die Durchsetzungskraft des mobilen Nachfragers steigt jedoch nicht nur – in diesem Hischman’schen Sinne der Steigerung von voice – gegenüber dem Anbieter, sondern naturgemäß auch im Verhältnis gegenüber anderen (eben nicht oder weniger mobilen) Nachfragern, jedenfalls dann, wenn der Anbieter zu unterschiedlicher Behandlung in der Lage ist, etwa weil das angebotene Produkt unterschiedliche Handlungen ermöglicht. Die relationelle voice-Verstärkung – eben die Verstärkung der voice derjenigen, die tatsächliche exit-Möglichkeiten haben, gegenüber jenen, die diese exit-Option nicht oder in geringerem Maße haben – hat bei Hirschman keine weitere Rolle gespielt, ist doch das horizontale Verhältnis zwischen verschiedenen Kunden ein und desselben Anbieters im Individualwettbewerb weitgehend unerheblich. Im Staat, insbesondere im Verfassungsstaat, ist dies jedoch anders. Hier gibt es eine rechtliche Verdichtung zwischen dem Staat und den Einzelnen, die sich sogar relational zwischen den Einzelnen niederschlägt (Gleichheitsgewähr). Der Verfassungsstaat im Wettbewerb ist – als Anbieter einer Herrschaftsleistung – hier daher in einer völlig anderen Situation als andere Anbieter von Leistungen. Die Häufigkeit, mit der unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs zwischen den Staaten etwa steuerliche Ungleichbehandlung immer wieder nicht nur aufrechterhalten, sondern auch neu eingeführt wird,25 zeigt, wie sehr der Staat typischerweise in dieser Situation steht. Im Lichte dieser Situation fordert der Wettbewerb zwischen den Staaten die Allgemeinheit des Rechts also ganz offenbar heraus. Die These, die der vorliegende Beitrag mit dieser Situation verbindet, geht dahin, dass die Herausforderungen, die der Wettbewerb – und insbesondere das wettbewerbliche Handelns des Staates – für die Freiheit, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit im Verfassungsstaat bereithält, sogar im Kern gerade präferenzieller Art sind. Diese Herausforderungen lassen sich daher, wenn nicht vollständig, so doch ganz wesentlich, über die Funktion der Allgemeinheit des Rechts erfassen. Für die wettbewerbliche Herausforderung 23 Mueller, Dennis C., Redistribution and Allocative Efficiency in a Mobile World Economy, 17 JNPÖ 1998, S. 172. 24 Hirschman selbst ging es bereits um das „hidden potential“ von exit und voice, vgl. ebenda S. 126. Es wurde bisher in die Theorie des Wettbewerbs zwischen den Staaten nicht näher eingeführt, liegt ihm aber gewissermaßen zu Grunde, vgl. etwa Windisch, Rupert, Modellierung von Systemwettbewerb: Grundlagen, Konzepte, Thesen, 17 JNPÖ 1998, S. 121, 130 ff.; zum Hintergrund i.Ü. etwa Voigt, Stefan, Institutionenökonomik, Stuttgart: UTB, 2009, S. 169. Einführend ferner etwa Richter, Rudolf/Furobotn, Erik G., Neue Institutionenökonomik, Tübingen: Mohr Siebeck, 3. Aufl. 2003; Erlei, Mathias/Leschke, Martin/Sauerland, Dirk, Institutionenökonomie, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 2007; zu den Grundlagen des methodologischen Individualismus ausgreifender Pies, Ingo, Normative Institutionenökonomik, Tübingen: Mohr Siebeck, 1993. 25 Besonders kritisch insoweit immer wieder Tipke, Klaus/Lang Joachim, Steuerrecht, 19. Aufl., 2008, S. 211 ff.
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des bürgerlichen Verfassungsstaates in den Bereichen des Freiheitsschutzes, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ist gerade die Allgemeinheit des Rechts, also die gleiche Gewähr der Freiheit, der Dreh- und Angelpunkt schlechthin.26 Diese These bedarf freilich der näheren Begründung: Ausgangspunkt dafür kann allein der Umstand sein, dass der Wettbewerb zwischen den Staaten um mobile Produktionsfaktoren – im Tatsächlichen – keineswegs ein in erster Linie grenzüberschreitendes Phänomen ist. Sein Kern liegt vielmehr in der Herrschaftsbeziehung des Einzelnen zu seinem Staat.27 Diese Unterwerfungsbeziehung, nicht der Grenzübertritt, bildet daher den Dreh- und Angelpunkt der Phänomenologie des Wettbewerbs zwischen den Staaten. Es tritt zwar auch ein Außenbezug hinzu, insoweit nämlich, als der Wettbewerb zwischen den Staaten einen (eben wettbewerbenden) Referenzstaat braucht, in Bezug auf den ein wettbewerblich motiviertes staatliches Handeln überhaupt stattfindet. Dieser Außenbezug bedarf aber nicht notwendig der Aktualisierung durch den Grenzübertritt (in Hirschman’scher Diktion: des exits) eines wettbewerblich umkämpften Faktors. Er kann zwar in dieser Weise aktualisiert werden. Es wäre aber verfehlt anzunehmen, diese Aktualisierung als Notwendigkeit für die Existenz von Wettbewerb, sozusagen als dessen Manifestation zu nehmen (nach dem Motto: Wo es keinen Grenzübertritt gibt, gibt es keinen Wettbewerb). Ja es sprechen sogar gute Gründe dafür, eine solche Aktualisierung nicht einmal als Kern des Wettbewerbs zu nehmen. In vielerlei Hinsicht handelt es sich bei dem Grenzübertritt – als Tatsächlichkeit – allenfalls um Beiwerk (sozusagen die Hintergrundmusik), und vor allem um eines, das die Herrschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen Herrschaftsunterworfenen und ihrem Staat nicht einmal nachhaltig belastet. Denn dieser so genannte exit führt, wenn er denn tatsächlich stattfindet, allenfalls zu einem Herrschaftswechsel. Ein Herrschaftswechsel mündet aber nicht, jedenfalls nicht schon per se, in große verfassungsrechtliche Verwerfungen. Vielmehr verlässt hier jemand seine Herrschaftsordnung und ordnet sich zugleich einer anderen unter. Staatliche Offenheit für Faktoren macht – für sich genommen – den Wettbewerb daher noch nicht aus. Sie ist lediglich eine Voraussetzung für Wettbewerb zwischen den Staaten, mehr nicht.
26 Es gehört zum gesicherten Bestand der Rechtswissenschaften, dass die rechtliche Gleichheit – über den Gedanken der Allgemeinheit des Gesetzes – gerade erst dem Freiheitsschutz dient. Rechtliche Gleichheit und Freiheit sind also keine Gegensätze, sondern Freiheit wird gerade erst durch die rechtliche Gleichheit geschützt, zsfd. dazu etwa Heun, Werner, Freiheit und Gleichheit, in: HdBGR, Bd. 2 (2006), § 34, S. 437, 452 ff. (Rn. 20 ff.); zur näheren Differenzierung in der Schutzwirkung etwa Kirchhof, Paul, Gleichheit in der Funktionenordnung, in. HdBStR, 2. Aufl., § 125, S. 973 ff. Zum Ideal gleicher Freiheit in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit gerade ungleicher Macht jüngst Schulte, Axel, Demokratie und Integration, Berlin: Hopf, 2009, S. 23 ff. 27 Herrschaft lässt sich übrigens nicht einfach „hinwegdemokratisieren“. Vielmehr macht das Herrschen die Demokratie erst sichtbar, ja sogar überhaupt erst wirklich. Zu diesem – in der Demokratietheorie übrigens seit langem bekannten – Umstand jüngst etwa Leisner, Walter, Demokratie – eine „friedliche Staatsform“?, JZ 2005, S. 809.
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In das Zentrum der Überlegungen rückt daher wettbewerblich motiviertes staatliches Handeln bereits angesichts der bloßen Möglichkeit eines Grenzübertritts. Eine wettbewerbliche Motivation liegt nämlich schon dann vor, wenn sich der Staat von der Möglichkeit eines Weggangs beeindrucken lässt und daher – also in der bloßen Vermutung eines bevorstehenden Grenzübertritts – in besonderer Weise wettbewerblich handelt. Hier geht es nicht um einen tatsächlichen Grenzübertritt (kein exit), sondern um eine Situation im Umfeld der bloßen Möglichkeit eines solchen Grenzübertritts, nämlich darum, dass der Einzelne – in fortbestehender Herrschaftsunterwerfung – seine eigenen Interessen besser durchsetzen kann, indem er den offenen Staat, dem er unterworfen ist, vermuten lässt, dass er abwandert, wenn dieser ihm nicht entgegenkommt. Welche Mechanismen er dafür im Einzelnen nutzt (Drohung mit Weggang, bloße Ankündigung oder auch sonst mittelbare Mechanismen des Vermutenlassens) spielt dabei zunächst keine große Rolle. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass der Staat den Weggang vermutet, ohne dass ein solcher Weggang tatsächlich eintreten muss.28 Wenn in einer solchen Situation der Staat – in seiner Vermutung eines bevorstehenden exit – auf den Einzelnen zugeht und ihm im Wege des Verhandelns Zugeständnisse macht, dann ist gerade dieses Handeln wettbewerbliches Handeln, selbst dann, wenn es nicht einen einzigen Grenzübertritt (des Faktors oder seines Verfügenden) zu verzeichnen gibt. Es ist diese innerstaatliche Wirkung des Wettbewerbs, die so reich an verfassungsstaatlichem Friktionspotenzial ist. Denn anders als bei der echten exit-Situation (dem tatsächlichen Weggang) trifft diese Situation eines lediglich möglichen, vielleicht wahrscheinlichen Grenzübertritts mitten in das Herz verfassungsrechtlicher Normativität, weil man hier auf einen Einzelnen (oder Gruppen Einzelner) bereits auf Grund einer bloßen Vermutung einer Faktorwanderung zugeht und ihn dann gegebenenfalls besser behandelt als andere. Dass der Kerngehalt der modernen Verfassungsstaatlichkeit hier angesprochen ist, zeigt sich mit Blick auf die entstehende Verhandlungssituation: Man durchlöchert staatliche Herrschaft durch Verhandeln und hebt damit das Paradigma der allgemeinen Un-
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Dieser Hang ins Präferenzielle wohnt gerade nicht jeder Freiheitsbeschränkung inne. Vielmehr gibt es durchaus vielzählige Freiheitsbeschränkungen, die überhaupt nicht gleichheitssensitiv sind. Viel spricht für die Überlegung, dass sogar die größte Zahl von Freiheitsbeschränkungen auch heute noch wenig Berührung gerade mit der Allgemeinheit des Freiheitsschutzes hat. Beschränkungen, die gerade aus der Individualisierung, Internationalisierung und vor allem Ökonomisierung der Welt herrühren, bilden insoweit wahrscheinlich aber eine Ausnahme. Hier verdichtet sich ein neues Muster, das gerade aus der Erosion des Gemeinschaftlichen herrührt. Insoweit lässt sich das folgende durchaus als Phänomen des Ökonomisierungsprozesses verstehen, deren Kern gerade in der – globalisierungsbedingten – Auflösung gemeinschaftlicher Bezüge liegt, vgl. näher etwa Volkmann, Uwe, Freiheit und Gemeinschaft, in: HdBGR, Bd. 2 (2006), § 32, S. 363, Rn. 24 ff. („Erosion der Gemeinschaftsbezüge als neue Herausforderung der Freiheit“). Mit der bloßen tatsächlichen Verschiedenheit des Menschen allein hat dieses Phänomen also noch nicht zu tun, vgl. dazu näher etwa Kube, Hanno, Rechtliche Gleichheit und tatsächliche Verschiedenheit, in: Mellinghoff, Rudolf/Palm, Ulrich (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, Heidelberg: Müller, 2008, S. 23.
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terwerfung partiell auf, wenn man hier Einzelnen oder Gruppen Einzelner im Wege des Verhandelns entgegenkommt.29 Damit ist das Kernproblem des Wettbewerbs umrissen, nämlich sein Anreiz zur präferenziellen Behandlung von – rechtlich gleich – Freien selbst in solchen Fällen, in denen der Herrschaftszusammenhang durch eine Faktorwanderung nicht unterbrochen wird. Erfassbar wird dieses Problem unter dem Gesichtspunkt der Allgemeinheit des Rechts.30 Die Allgemeinheit des Rechts meint in diesem Zusammenhang nicht ein Instrument egalitaristischen Gleichheitsschutzes, sondern ist Ausdruck eines liberalen Ur-Anliegens westlichen Verfassungsrechts. Nicht geht es dabei um „Gerechtigkeit durch Gleichheit“, deren Kern bekanntlich im Relationalen zwischen den Einzelnen liegt31, sondern um die Verwirklichung allgemeiner Freiheit. Der Wert der Gleichheit taucht darin als bloße Funktion der rechtlichen Freiheit auf, 29 Dass in der Verhandlung von Herrschaft nicht nur ein Phänomen der Herrschaftsveränderung sondern auch ein Problem der Allgemeinheit liegt, zeigt sich in dem einfachen Umstand, dass der Übergang von der Herrschaft zum Verhandeln eben präferenziell stattfindet, und zwar ohne dass die staatliche Vermutung eines exits durch tatsächliche exit-Strategien des Faktorverfügenden überhaupt gespeist sein muss. Der einzelne Faktorverfügende muss, je nach der Stärke des staatlichen Interesses an seinen Faktoren, lediglich geschickt vorgehen, um sich in der staatlichen Faktoroffenheit Privilegien erstreiten zu können, die er unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Freiheit eigentlich nicht haben dürfte. Er kann sie gegebenenfalls sogar selbst dann erreichen, wenn er in Wirklichkeit nie intendiert hat, wirklich wegzugehen. Ausreichend für eine Steigerung von voice ist, den Staat in einer bestimmten Situation vermuten zu lassen, dass er, der Faktorverfügende, sich und seine Faktoren mobilisiert (sozusagen die exitOption aktualisiert). Näher zur Allgemeinheit rechtlichen Gleichheit als einem, wenn nicht dem konstitutiven Herrschaftsprinzip Braun, Johann, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 90 ff. 30 Manche Beiträge diskutieren dieses Problem der Allgemeinheit des Rechts sogar unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Systemwettbewerbs, so etwa mit Blick auf die Unterschiede zwischen dem Individualwettbewerb und dem Wettbewerb zwischen den Staaten Rehberg, Markus, Spezifika des Systemwettbewerbs, in: Towfigh, Emanuel V. u. a. (Hrsg.), Recht und Markt, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 29, 51 („Recht versus Kühlschränke“). So weit will der vorliegende Beitrag in seiner eher analytisch und phänomenologisch geprägten Ausrichtung nicht gehen. Wollte man diese weitreichende These vertreten, müsste man zunächst spezifizieren, was denn für den Wettbewerb zwischen den Staaten die Funktionsfähigkeit eigentlich bedeutet. Die Argumentation von Rehberg zeigt hier, dass er in der Sache offenbar doch eher die vorliegend in den Blick genommenen Gleichheitsfragen aufgreift, wenn er von Funktionsfähigkeit spricht. Darüber hinaus aber ist die Vorfrage der Funktionsfähigkeit schon aus anderen, eher wettbewerbstheoretischen Gründen äußerst kompliziert und schwierig zu beantworten. Sie zeigen sich schon in der Frage, woher denn die Maßstäbe für eine solche Funktionsfähigkeit kommen sollen. Typischerweise diskutiert man hier in ordnungsökonomischen Kategorien, vgl. etwa Wegner, Gerhard, Nationalstaatliche Institutionen im Wettbewerb – Wie funktionsfähig ist der Systemwettbewerb?, Berlin: De Gruyter, 2004, S. 5 ff. 31 Grundlegend Gosepath, Stefan, Gleiche Gerechtigkeit, Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004. Zu den philosophischen Grundlagen eines solchen egalitaristischen Verständnisses kritisch einführend Krebs, Angelika, Einführung: Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, in: dies., Gleichheit oder Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 7, 10. Vertiefend im Sinne einer individualistisch geprägten Befragung der Gleichheit Menke, Christoph, Spiegelungen der Gleichheit, Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004.
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nicht als intrinsischer Wert einer Gleichheit an sich. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass der rechtliche Schutz der meisten menschlichen Bedürfnisse sinnvollerweise nicht in der Beziehung zwischen den Einzelnen normativ zu verankern sind (also tri-relational im Dreieck Einzelner – Einzelner – Staat), sondern nur im bilateralen Verhältnis zwischen dem jeweils Einzelnen und dem Staat. Diese Auffassung begrenzt die verfassungsrechtliche Gleichheit also auf ganz bestimmte ausgewählte Grundbedürfnisse des Menschen (Gedanke der Grundsicherung), überlässt das Feld im Übrigen aber der Allgemeinheit des Rechts.32 3. Die Grenzen der spezifisch wettbewerblichen Herausforderung: Rechtsbeachtungsmotivation als Herausforderungsgrenze – das Beispiel der umgekehrten Diskriminierung Wettbewerblich herausgefordert ist die Allgemeinheit des Rechts in diesem paradigmatischen Sinne damit aber freilich nur bis an die Grenze der wettbewerblichen Motivation. Es sind die wettbewerblichen Ziele des Staates, die die Grundlage für die Herausforderung bilden. Handelt der Verfassungsstaat im Wettbewerb ohne oder sogar entgegen möglichen wettbewerblichen Zielsetzungen, wird man von einer spezifisch wettbewerblichen Herausforderung daher kaum sinnvoll sprechen können. Der Fall der so genannten umgekehrten Diskriminierung ist ein Beispiel hierfür. Umgekehrt diskriminierend handelt der Staat nach wohl weitgehend etablierter Redensart dann, wenn er Inländer in Erfüllung einer rechtlichen (vor allem: europarechtlichen) Pflicht gegenüber Ausländern diskriminiert (auch Inländerdiskriminierung genannt). Es ist angesichts der ständigen Rechtsprechung – auch trotz des mittlerweile erreichten Integrationsstandes – nicht bestreitbar, dass solche Fälle mangels Grenzüberschreitung und in Ansehung mitgliedsstaatlicher Autonomie (noch immer) nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen und damit auch den gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverboten entzogen sind.33 Doch auch unter dem deutschen Verfassungsrecht lässt sich – jedenfalls unter dem Art. 3 GG – ein Verstoß nur unter Schwierigkeiten begründen. Astrid Epiney erklärt die hohen Anforderungen vor allem mit dem staatlichen Bedürfnis zur Durchsetzung eigener Gerechtigkeitsvorstellungen.34 Es ist vor allem die staatliche Regelungsautonomie, die hier im Vordergrund steht, verbunden mit dem Umstand, dass die Pflicht, die der Staat mit seiner in Rede stehenden Maßnahme erfüllt, selbst rechtfertigende Kraft entfaltet. Der wesentliche Grund dafür, dass eine umgekehrte Diskriminierung im Grundsatz keinen Verstoß gegen den grundgesetzlichen 32 In diese Richtung – und besonders kritisch gegenüber einem liberal-egalitaristischen Verständnis, wie es bei Dworkin u. a. entwickelt wird – etwa Anderson, Elisabeth S., Warum eigentlich Gleichheit, in: Krebs, Angelika, Gleichheit oder Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 117. 33 Dazu und zu den Versuchen, hier eine Trendwende einzuleiten, Epiney, Astrid, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 27 ff. 34 Epiney, Astrid, Umgekehrte Diskriminierungen, Köln: Heymanns, 1995, S. 478.
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Gleichheitssatz mit sich bringt, liegt in der rechtfertigenden Kraft der erfüllten europarechtlichen Regelung selbst. Ein Staat, der wegen einer europarechtlichen Verpflichtung Inländer schlechter behandelt, tut dies gerade nicht aus wettbewerblicher Motivation, sondern aus rechtsbeachtender Motivation. Er handelt also nicht nur nicht wettbewerblich motiviert, sondern geradezu nicht-wettbewerblich motiviert.35 Wirklich wettbewerblich motivierte Präferenzialität steht daher in einem völlig anderen normativen Bezugsrahmen als nicht-wettbewerblich (sondern etwa rechtsbeachtend) motivierte – gleichwohl aber im Wettbewerb stattfindende – Ungleichbehandlung. Am Herkunftslandprinzip lässt sich dies auf Grund seiner festen Verankerung in europarechtlichen Öffnungsregelungen sehr leicht deutlich machen: Handelt der Gesetzgeber am Maßstab dieses Prinzips, ohne dass er hierzu europarechtlich oder sonstig verpflichtet wäre (wie etwa in der der Zweitregisterentscheidung zu Grunde liegenden Gestaltung mit Bezug auf die Matrosen), bedarf es für die verfassungsrechtliche Bewertung einer Ungleichbehandlung (im Fall: jeweils zwischen Reedern und anderen Unternehmern, aber auch jeweils zwischen Matrosen und Arbeitnehmern) substanzieller Argumente.36 Handelt der Gesetzgeber demgegenüber unter der Geltung einer rechtlichen Verpflichtung zur Beachtung des Herkunftslandsprinzips, wie sie im Warenverkehr spätestens seit Cassis de Dijon feststeht37 und mittlerweile – im Wege der Cassis-Philosophie des „gegenseitigen Vertrauens“38 – in andere Grundfreiheitsbereiche hineingetragen39 und sekundärrechtlich sogar, jedenfalls teilweise, auch konkretisiert ist (Stichwort: Dienstleistungsrichtlinie)40, so kann er zur Rechtfertigung etwaiger Ungleichbehandlungen unmittelbar auf die verpflichtende Norm verweisen. Ihre Rechtfertigungskraft reicht hier völlig aus. Vielleicht ist auch dies ein Grund, warum die Problematik das BVerfG nie erreicht hat. Man kann nun freilich einwenden, dass der Staat der rechtlichen Pflicht, die er in seinem Handeln beachten möchte, in früheren Zeiten einmal zugestimmt hat und deshalb hier – in der Zustimmung – dennoch ein wettbewerblich motiviertes Handeln 35
Hier passt tatsächlich das Bild des Jägers, der zum Jagen getragen wird. Zum Beispielsfall näher unten D.II.1. 37 EuGHE 1979, 649, Rs. 120/78 „Cassis de Dijon“. 38 Wägenbauer, EuR 1987, 113. 39 Zur Dienstleistungsfreiheit etwa EuGHE 2006, I-885, Rs. C-244/04 „Kommission/ Deutschland“ – st. Rechtsprechung. 40 Näher hierzu insbesondere mit Blick auf das Zusammenspiel zur Dienstleistungsfreiheit statt vieler etwa Calliess, Christian, Die Dienstleistungsrichtlinie, Bonn: ZEW, 2007; Hatje, Armin, Die Dienstleistungsrichtlinie – auf der Suche nach dem liberalen Mehrwert, NJW 2007, S. 2357; Köck, Heribert Franz (Hrsg.), Die neue Dienstleistungsrichtlinie der Europäischen Union, Baden-Baden: Nomos, 2008; Wachter, Gustav, Die Dienstleistungsrichtlinie, Innsbruck; Innsbruck University Press, 2008; Lemor, Florian/Haake, Kai, Ausgesuchte Rechtsfragen der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie, EuZW 2009, S. 65. Zum grundlegenden Zielkonflikt auch Eichenhofer, Eberhard, Dienstleistungsfreiheit und Arbeitnehmerschutz, JZ 2007, S. 425. 36
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vorliege. Die Substanz dieses Argumentes ginge in etwa dahin, dass man dem Staat eine – wenn auch weitgehend abstrakte – wettbewerbliche Motivation zuschreibt, weil er sich über den Weg der Anerkennung der weniger strengen Rechtsordnung eben zur Rücksichtnahme verpflichtet, eine Art generalisierende und in gewisser Weise vorwegnehmende Rücksichtnahme bis auf das Niveau eines potenziellen Herkunftsstaates herunter. In der Tat mag man auch in einer solchen Zustimmung bereits ein strategisches Rücksichtnahmeinteresse vermuten, wenn man die rechtliche Selbstverpflichtung als ein Mittel zur (innerstaatlich schwierigen) Rechtsdurchsetzung betrachtet. Dennoch vermag dieser Gedanke aber nicht zu tragen. Denn der primärrechtlichen Pflicht zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, wie sie der EuGH in Cassis entwickelt und seither verschiedentlich bestätigt und weiter konkretisiert hat, hat der Mitgliedstaat vor dieser Rechtsprechung in dieser Form nie zugestimmt. Nachträglich haben die Mitgliedstaaten sie zwar bestätigt, indem sie – in den verschiedenen Vertragsänderungsrunden – nie hiergegen wirklich revoltiert haben. Und auch an dem Entstehen von Rechtsakten waren sie entscheidend beteiligt. Diese Beteiligung geschah – was das Herkunftslandprinzip angeht – jedoch, soweit das Herkunftslandprinzip überhaupt noch Eingang in das Richtlinienwerk gefunden hat, in Anerkennung und Umsetzung der Vorgaben des EuGH. Dieser Umstand ergibt sich bereits aus der zeitlichen Reihenfolge, lässt sich aber auch im Entstehungsprozess etwa der Dienstleistungsrichtlinie nachweisen.41 Die Schwierigkeiten, die bei der Etablierung des Herkunftslandprinzips deutlich wurden und dazu führten, dass es – als Rechtsprinzip – in der Richtlinie nicht einmal mehr genannt wurde, sprechen insoweit Bände.42 Gegen eine wettbewerbliche Motivation bei der Schaffung sekundärrechtlicher Verpflichtungen spricht zudem, dass das Herkunftslandprinzip, soweit es denn niedergelegt ist, gerade alle Mitgliedstaaten gleichermaßen bindet. Es handelt sich daher nicht um einen spezifisch wettbewerblichen relativen Vorteil, den die Mit41 In diese Richtung etwa Schliesky, Utz, Von der Realisierung des Binnenmarkts über die Verwaltungsreform zu einem gemeineuropäischen Verwaltungsrecht?, DVBl. 2005, S. 887, 888; differenzierend mit Blick auf die Anwendbarkeit des Bestimmungslandrechts mangels Verstoß gegen die Grundfreiheit Streinz/Leible, Einleitung, Rn. 49, in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Handkommentar, Baden-Baden: Nomos, 2008. Streinz ist naturgemäß insoweit zuzustimmen, als er zwischen einem strikten Herkunftslandprinzip, der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung des EuGH (Cassis) und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, wie es die Kommission seinerzeit formuliert hat, unterscheidet. Die Unterschiede ändern allerdings nichts daran, dass der am Ende tatsächlich in Kraft getretene Richtlinientext in weiten Teile allenfalls die Rechtsprechung des EuGH übernimmt, jedenfalls insoweit, als er die Rechtfertigbarkeit eines Verstoßes im Lichte der Nichtgemäßheit einer Dienstleistung mit dem Recht des Herkunftsstaates zulässt. 42 Vgl. insoweit nur etwa das Schicksal des Art. 16 im ursprünglichen Richtlinienentwurf (dem Bolkestein-Entwurf), der das Herkunftslandprinzip normativ zu verankern suchte, im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens – nicht zuletzt im Angesicht der intensiven öffentlichen Diskussionen – aber aufgegeben wurde. Einzelheiten dazu mwN etwa bei Streinz/Leible, Einleitung, Rn. 30 ff. und 39 f., in: Schlachter/Ohler, Europäische Dienstleistungsrichtlinie, Handkommentar, Baden-Baden: Nomos, 2008.
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gliedstaaten von der Sekundärpflicht haben, sondern um einen absoluten, der alle beteiligten Mitgliedstaaten gleichermaßen trifft. Im Vordergrund steht hier nämlich das europaweite Wachstum, nicht das Wachstum eines Mitgliedstaates im Verhältnis zu dem Wachstum eines anderen Mitgliedstaates.43 Würde man – abweichend von der hier vertretenen Meinung – demgegenüber davon ausgehen, dass schon die Zustimmung zu dem Herkunftslandprinzip – sei es über die Vertragsänderungsverträge oder die Entstehung entsprechenden Sekundärrechts – wettbewerblich motiviert sei, müsste man freilich einen Gleichheitsverstoß in dieser Zustimmung selber prüfen und daher – unter Anerkennung des hohen Abstraktionsniveaus – eine wettbewerbliche Herausforderung annehmen.
II. Antworten des BVerfG: Zwischen Ab- und Aufbau allgemeiner verfassungsrechtlicher Normativität Wie nun reagiert das BVerfG auf die wettbewerbliche Herausforderung der Präferenzialität im staatlichen Handeln? Der so genannte Grundsatz der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes, den das BVerfG mit seiner Investitionshilfeentscheidung in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus der Taufe gehoben hat44, lässt vermuten, dass das BVerfG hier einen weiten Spielraum lässt. Und ein erster Blick in die neuere Rechtsprechung zeigt auch tatsächlich, dass das Gericht im Spannungsfeld zwischen dem Wettbewerb, in dem international tätige Unternehmen stehen, und dem Gleichbehandlungsgrundsatz, der die Herrschaftsunterworfenen unabhängig von internationalen Wettbewerbssituationen gleichermaßen erfasst, seine Spielräume vorwiegend auf der Rechtfertigungsebene nutzt: In einer ganzen Reihe von Entscheidungen hat das BVerfG Besserbehandlungen international tätiger Unternehmen mit Blick auf deren (individual-)wettbewerbliche Situation zugelassen, indem es dem Gesetzgeber erlaubt, internationale Effekte der Rechtsordnung unter Beeinträchtigung des Gleichheitsgrundsatzes zu berücksichtigen (Stichwort: gesetzlicher Nebenzweck der Stand-
43 Der Grund hierfür liegt in dem Nebeneinander unterschiedlicher Regulationsrelationen. Kein Mitgliedstaat wird in allen Bereichen strenger reguliert sein als ein anderer Mitgliedstaat. Vielmehr wird ein Mitgliedsstaat mal strenger als ein anderer reguliert sein, mal weniger streng. Eine echte wettbewerbliche Motivierung (zur Erreichung eines relativen Vorteils) würde allenfalls dann anzunehmen sein, wenn ein Mitgliedstaat aggregiert über viele oder gar Felder über eine strengere Regulation verfügte, also über die verschiedenen Regulationsbereiche hinweg. Dies wäre aber allenfalls ein Sonderfall; in der Aggregierung ähneln sich die Staaten erstaunlicherweise sehr in ihrem Regulationsverhalten; Unterschiede zeigen sich erst unterhalb der Aggregierungslinie. Zu den ökonomischen Auswirkungen in diesem Zusammenhang etwa Calliess, Christian/Korte, Stefan, Die Dienstleistungsrichtlinie und ihre Umsetzung in Deutschland, in: Müller-Graff, Peter-Christian/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), XXIII FIDE-Kongress 2008, Die deutschen Länderberichte, EuR 2009, Beiheft 2, S. 65, 67. 44 BVerfGE 4, 7 (17 f.).
II. Antworten des BVerfG
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ortsicherung).45 Der Gesetzgeber macht sich die dadurch gewonnenen Spielräume regelmäßig zunutze, indem er Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen – typisiert, d. h. ohne weitere Nachweise zur tatsächlichen Abwanderungsgefahr – besser behandelt. Ein typisches Beispiel hierfür findet sich etwa im Energiesteuerrecht, das bestimmte Unternehmenszweige wie selbstverständlich von bestimmten Steuern ausnimmt46, und zwar mit der Begründung, dass diese Unternehmen im internationalen Wettbewerb stehen und deshalb – ganz im Sinne des level-playing-Gedankens – nicht schlechter gestellt werden dürfen als die ausländischen Wettbewerber.47 Um der Herstellung gleicher Bedingungen im internationalen Wettbewerb willen wird hier also eine Ungleichbehandlung mit anderen Herrschaftsunterworfenen in Kauf genommen. Diese Inkaufnahme ist nicht das Ergebnis eines zweifelhaften Zurückfahrens rechtlicher Geltungskraft, es ist auch nicht das Ergebnis eines (ebenso zweifelhaften) Absenkens von Gleichheitsstandards, sondern das Ergebnis eines (verfassungsrechtlich vollkommen legitimen und im Übrigen den Grundrechten ohnehin innewohnenden) Abwägungsprozesses: Solche Abwägungsprozesse finden in dieser oder vergleichbarer Form in jeder Grundrechtsprüfung statt. Sie bewegen sich nicht nur im Rahmen herkömmlicher Grundrechtsdogmatik, sondern sind geradezu ihr prägender Bestandteil. Fast mag man hier von einem eingeschwungenen Zustand sprechen: Wer im internationalen Wettbewerb steht, erhält danach – wenn auch unter Inkaufnahme von Ungleichbehandlungen gegenüber Dritten im eigenen Herrschaftsbereich – punktuelle und insgesamt recht zielgenaue Sonderbehandlungen zur Ermöglichung einer sinnvollen Wettbewerbsteilnahme. Dass der Staat hier typisiert vorgeht und insbesondere nicht jedes einzelne Unternehmen darauf hin überprüft, ob es denn – im Fall einer Gleichbehandlung mit anderen – auch „wirklich“ das Land verlassen würde, ist nicht so sehr eine Frage der Gewährleistungsfunktion der Gleichheit, sondern eine bloße Frage der Möglichkeit nicht-typisierten staatlichen Handelns überhaupt: Gesetzgeberisches Handeln ist eben typisiertes und damit naturgemäß auch vom konkreten Unternehmen abstrahiertes Handeln. Wollte man die durch Typisierungen ermöglichten Mitnahmeeffekte reduzieren, müsste man den Staat auf Einzelfallentscheidungen verweisen – ein Umstand, der weder unter Effizienz- noch unter Gleichheitsgesichtspunkten vorzugswürdig wäre. Allenfalls der Umstand, dass Gleichbehandlung hier ausgerechnet in jenem Feld angestrebt wird, in dem die 45 Ansätze in diese Richtung etwa in BVerfGE 48, 210 (226); 84, 239 (271); 93, 121 (147); 93, 165 (177). Geradezu idealtypisch ausgeführt dann in BVerfGE 110, 274 (292) – ökologische Steuerreform. Ein konkreter Nachweis, dass der Unterworfene auch tatsächlich in einer internationalen (individuellen) Wettbewerbssituation steht, ist übrigens auch ausweislich eines jüngeren Beschlusses aus dem Jahre 2006 zur Tarifbegrenzung gewerblicher Einkünfte ausdrücklich nicht erforderlich, vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 21. Juni 2006, 2 BvL 2/99 (gefunden auf http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls 20060621_2bvl000299.html, Seitenaufruf am 1. April 2009). 46 Etwa § 10 StromStG. 47 BT-Drucksachen 14/40, S. 12; 14/440, S. 17; 15/21, S. 1. Vgl. mit Hinweis hierauf ausdrücklich BVerfGE 110, 274 (292) – ökologische Steuerreform (bei Rn. 78 ff.).
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Gleichheitsgewährleistung nicht gilt (nämlich im transnationalen Verhältnis internationaler Wettbewerber), während sie dort, wo die Gleichheitsgewährleistung eigentlich gilt, nicht erreicht wird (nämlich zwischen den Unterworfenen unter ein und derselben Herrschaft), hat eigentlich ironische Züge.48 Sie sind im offenen Staat aber anzuerkennen, will man nicht die wettbewerbliche Position der heimischen Industrie aus Gründen überzogener Gleichheitsanforderungen schwächen. Man mag damit also davon ausgehen, dass das BVerfG sich im Wesentlichen im Rahmen seiner eigenen verfassungs- und insbesondere grundrechtlichen Konzeptionen bewegt, mithin also die Wettbewerbssituation im Wesentlichen nicht anders als jede andere Herausforderung grundrechtlicher Gewährleistungen behandelt. Eine genauere Durchsicht der Entscheidungstätigkeit zeichnet dann aber doch ein durchaus ambivalentes Bild, ganz im Sinne einer – wenn auch nicht notwendig Hayek’schen – spontanen Ordnung.49 So lässt das Gericht einerseits zwar einen Abbau von Normativität zu, indem es in der so genannten Zweitregisterentscheidung50 die Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) abschwächt und dafür auf einen Ausnahmeduktus zurückgreift, dessen Tragweite weitgehend offen bleibt (D.II.1.). Auf der anderen Seite sind aber auch normativitätsaufbauende Akzente deutlich sichtbar, die zwar nicht ausschließlich der Situation des Wettbewerbs geschuldet sind, in dieser wettbewerblichen Konstellation aber durchaus besonders zum Tragen kommen. Eine heraus gehobene Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Rechtsprechungslinie unter dem Stichwort des Vollzugdefizits zu. Der Aufbau von Normativität erfasst hier – in den Grenzen des gerade strukturellen Vollzugsdefizits – die Möglichkeit, eigene Belastungen unter Hinweis darauf erfolgreich abzuwehren, dass sie trotz anderweitigen Rechtsanwendungsbefehls andere Einzelne oder Gruppen von Einzelnen nicht in vergleichbarer Weise erfassen (D.II.2.).
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Er zeigt: Hier wirkt der Wettbewerb zwischen den Staaten Gleichheits- (und damit auch Freiheits-)effizienter als die Verbürgungen des Verfassungsrechts. Eine vergleichende Wirkungsanalyse müsste daher zu dem Ergebnis kommen, dass der Wettbewerb – als ein Faktum – hier, wenn auch nur in punktueller Weise, stärkere normative Kraft entfaltet als die grundrechtliche Gleichheitsverbürgung der Verfassung gegenüber den Herrschaftsunterworfenen. 49 Zur Rolle von Gerichtsentscheidungen bei der spontanen Entwicklung rechtlicher Ordnungen im Sinne der H.L.A. Hartschen „primary rules of obligation“ sehr interessant etwa Parisi, Francesco, Toward a Theory of Sontanious Law, 6 Constitutional Political Economy, 1995, S. 211, 212 ff. 50 BVerfGE 92, 26 – Zweitregister (=NJW 1995, 2339).
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1. Ansätze des Abbaus allgemeinen Rechts gegenüber wettbewerblich motiviertem Handeln: Die Zweitregisterentscheidung des BVerfG Im Lichte der tradierten Leitlinien des Dogmas von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes51, der Willkürrechtsprechung52 und der so genannten „Neuen Formel“53 erging die erste wesentliche Entscheidung des BVerfG zu der Präferenzialitätsherausforderung, die der Wettbewerb zwischen den Staaten für die rechtliche Gleichheit bereithält, erst Mitte der neunziger Jahre, in einem Fall, in dem von der Allgemeinheit des Rechts – trotz ihrer Zentralität für den konkreten Fall – interessanterweise gar nicht die Rede war, nämlich in dem Urteil zum Internationalen Seeschifffahrtsregister (sog. Zweitregisterentscheidung).54 In dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall ging es vor allem um eine Regelung des Flaggenrechtsgesetzes (§ 21 Abs. 4 FlRG), nach der Arbeitsverhältnisse von Schiffsbesatzungsmitgliedern, die im Inland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, bei der Anwendung des § 30 EGBGB nicht schon auf Grund der Tatsache, dass das Schiff, auf das sie angeheuert haben, die Bundesflagge führt, dem deutschen Recht unterliegen.55 Die Neuregelung des § 21 Abs. 4 Satz 1 FlRG hatte folgenden Hintergrund: § 30 Abs. 1 EGBGB schließt im Bereich des internationalen Arbeitsrechts eine Rechts51 BVerfGE 4, 7 (17 f.); BVerfGE 50, 290. Einführend dazu mwN etwa Papier, Hans Jürgen, Wirtschaftsordnung und Grundgesetz, in: Das Parlament – Aus Politik und Zeitgeschichte, zu finden unter http://www.bundestag.de/dasparlament/2007/13/Beilage/001.html (Seitenaufruf am 4. 9. 2010). 52 BVerfGE 49, 343, 360; 50, 368, 392;74,182, 200; 81, 108, 117; 83, 343, 368. 53 Einführend zum Ganzen und auch dem Hinweis darauf, dass die „neue Formel“ gar nicht so neu sei, sowie mit weiteren Nachweisen Jarass, Hans D., Folgerungen aus der neueren Rechtsprechung des BVerfG für die Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG, NJW 1997, 2545. 54 BVerfGE 92, 26 – Zweitregister (=NJW 1995, 2339). Der hier zentrale Absatz lautet: „Soweit das deutsche Recht den Betreibern der Handelsschiffe Bedingungen auferlegt, die ihre Wettbewerbsfähigkeit erheblich mindern, haben sie die Möglichkeit, sich der Geltung des deutschen Rechts durch das Ausflaggen ihrer Schiffe gänzlich zu entziehen, ohne dass dem deutschen Gesetzgeber wirksame Mittel zu Gebote stünden, diesen Schritt zu verhindern.“ Der deutsche Gesetzgeber steht deswegen vor der Alternative, den deutschen Grundrechtsstandard entweder ungeschmälert zu wahren, ihm damit aber im Bereich der Hochseeschifffahrt praktisch das Anwendungsfeld zu entziehen, oder ihm ein Anwendungsfeld zu erhalten, dann aber eine Minderung des Grundrechtsstandards in Kauf zu nehmen. „Unter diesen Umständen ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verwehrt, den zweiten Weg zu wählen und Positionen von Koalitionen aufzugeben, die sich in der internationalen Rechtswirklichkeit ohnehin nicht behaupten ließen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber dadurch zugleich hinreichende Anreize für deutsche Reeder schafft, ihre Schiffe weiter unter deutscher Flagge und damit wenigstens teilweise im Rahmen deutschen Rechts zu betreiben“ (Hervorhebungen des Verfassers). 55 Einführende Besprechung etwa bei Lagoni, Rainer, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverträge auf Seeschiffen, JZ 1995, S. 499.
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wahl für zwingende Arbeitnehmerschutzbestimmungen aus, indem er bestimmt, dass auf grenzüberschreitende Arbeitsverhältnisse die zwingenden Vorschriften jenes Staates anzuwenden sind, dessen Recht mangels einer Rechtswahl nach den Kriterien des Abs. 2 der Vorschrift anzuwenden wäre. Dieser Staat ist nach der Gesamtheit aller maßgeblichen Umstände zu ermitteln (z. B. Herkunft und Wohnsitz von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Leistungsort, Zahlungsort, Aufenthalt des Schiffes, Vertragssprache usw.). Zum Zeitpunkt der Neuregelung des § 21 Abs. 4 FlRG ging eine wohl herrschende Meinung davon aus, dass mit Blick auf Heuerungen an Handelsschiffe im internationalen Verkehr die Gesamtheit aller dieser Umstände auf denjenigen Staat weise, dessen Flagge das Handelsschiff führt.56 Diese Auffassung entspricht durchaus auch dem Regelungsgedanken des Art. 94 Abs. 2 lit. b) des Seerechtsübereinkommens der VN von 1982, nach dem den Flaggenstaat die Verpflichtung trifft, „die Hoheitsgewalt nach seinem innerstaatlichen Recht über jedes führende Schiff sowie dessen Kapitän, Offiziere und Besatzung in Bezug auf die das Schiff betreffenden verwaltungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegen auszuüben“. Sie ist im Hinblick auf die Rechtsgleichheit auch sachangemessen: Der Leitgedanke dessen ist nämlich (jedenfalls auch), dass der Reeder mit dem Nutzen, den er von einer bestimmten Flagge durch die Zugehörigkeit seines Schiffes zu dem Flaggenstaat (Art. 91 Seerechtsübereinkommen) erhält (Zugang zum Recht des Flaggenstaates, diplomatischer Schutz usw.), auch die damit verbundenen Kosten tragen soll. Verhindert werden soll nach dieser Auslegung der Regelung nicht zuletzt, dass ein Reeder den Nutzen einer bestimmten Rechtsordnung für sich in Anspruch nimmt, die dadurch für ihn entstehenden Kosten dafür aber nicht trägt.57 Die Neuregelung des § 21 Abs. 4 S. 1 FlRG entzog dieser – wohl herrschenden – Auffassung, die die Anwendung des Art. 30 Abs. 2 EGBGB im Wesentlichen von der Flagge und damit von der Staatszugehörigkeit des Handelsschiffes abhängig macht, trotz ihrer inneren Konsequenz den Boden. Sie führt dazu, dass für Heuerverträge an Bord von Handelsschiffen, die unter deutscher Flagge international verkehren, nach § 30 Abs. 2 EGBGB im Fall mangelnder Rechtswahl nicht schon deshalb deutsches Recht gilt, weil das Schiff die deutsche Flagge führt. Angesichts dieser gesetzlichen Auslegungswirkung zu § 30 Abs. 2 EGBGB erhalten mit § 21 Abs. 4 S. 1 FlRG 56 Das BVerfG verweist insoweit etwa auf Reithmann, Christoph/Martiny, Dieter, Internationales Vertragsrecht, 4. Aufl. 1988, Rn. 733; Gamillscheg, Franz, Ein Gesetz über das internationale Arbeitsrecht, 14 ZfA (1983), S. 307, 342; Däubler, Wolfgang, Das neue internationale Arbeitsrecht, RiW 1987, S. 249, 251 f. 57 Nandan, Satya N. u. a. (Hrsg.), United Nations Convention on the Law of the Sea 1982, Volume III, Art. 94, Dordrecht: Martinus Nijhoff, 1994. Eine weitergehende Aufladung des so genannten „genuine link“ Kriteriums wollte der Internationale Seegerichtshof (ISGH) in seiner Entscheidung im Fall M/V Saiga (No. 2) freilich nicht vornehmen, vgl. The M/V „Saiga“ (No. 2) (Saint Vincent and the Grenadines v. Guinea, ILM 38 (1999), S. 1322 (1242 ff.); kritisch dazu etwa Wolfrum, Rüdiger, Kapitel 4: Hohe See und Tiefseeboden (Gebiet), in: Vitzthum, Wolfgang Graf, Handbuch des Seerechts, München: Beck 2006, S. 302 (Rn. 32); ferner Brevern, Hartmut v./Carlowitz, Leopold v., Die erste Hauptsacheentscheidung des Internationalen Seegerichtshofs, RIW 1999, S. 856 (859).
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vielmehr auch die oben zum Teil bereits genannten weiteren Gesichtspunkte – relativ zur Flagge des Schiffes – größere Bedeutung (z. B. Herkunft und Wohnsitz von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Leistungsort, Zahlungsort, Aufenthalt des Schiffes, Vertragssprache usw.). In der Konsequenz ist im Ergebnis nicht (mehr) das zwingende Arbeitnehmerschutzrecht des Flaggenstaates anwendbar, sondern das Schutzrecht jenes Staates, auf den die Gesamtheit aller dieser Umstände im Übrigen weisen, weil die Heuerverträge nach Abs. 2 der Regelung mangels Rechtswahl nicht mehr dem Recht des Flaggenstaates unterworfen wären. In der Rechtswirklichkeit bedeutet dies: Ein Reeder, der unter deutscher Flagge fährt, kann den Nutzen des deutschen Rechtsordnung voll ausschöpfen, muss die Kosten einer eigenen Rechtsbefolgung aber für einen wichtigen Teilbereich (die Heuerkosten) nicht tragen, da er selber nicht nach diesem verpflichtet ist. Es handelt sich also um einen geradezu klassischen Fall des Trittbrettfahrens. Denn der Reeder kann hier für einen Teil seiner Reederei – sein Schiff – einen Teil der Rechtsordnung (die ihm günstigen Bestimmungen) gelten lassen, sich einem anderen Teil, der ihm zu teuer ist (den zwingenden Arbeitnehmerschutzbestimmungen), demgegenüber aber entziehen. Erstaunlicherweise hat das BVerfG der Klage hiergegen nicht etwa stattgegeben, sondern sie mit der Begründung zurückgewiesen, hier würden widerstreitende Interessen von Grundrechtsträgern „in einem Raum ausgetragen, der von der deutschen Rechtsordnung nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird“ (LS 1). Für diesen Fall sei die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers größer als bei der Regelung von Rechtsbeziehungen mit inländischem Schwerpunkt.58 Im Einzelnen hat es dazu ausgeführt, dass dem Reeder mit dem deutschen Arbeitsschutzrecht Bedingungen auferlegt würden, die seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Reedern erheblich mindere, dass er ohne weiteres Bedingungen herbeiführen könne, die die deutschen Arbeitsschutzstandards überhaupt nicht mehr anwendbar sein ließen (namentlich durch das so genannte Ausflaggen des Schiffes, also den Wechsel des Flaggenstaates (zu den Rechtswirklungen § 91 ff. Seerechtsübereinkommen)), und dass hierdurch „der Einfluss der deutschen Gewerkschaften“ noch stärker zurückgedrängt sei. Ökonomisch sei eine Rücknahme der rechtlichen Anforderungen mit dem Ziel, trotz der Wettbewerbssituation insgesamt einen dem Grundgesetz möglichst nahe kommenden Standard zu gewährleisten, im Übrigen angemessen, denn: „Während […] Seeleute mit Wohnsitz oder ständigem Aufenthalt im Inland ihren Unterhalt und den ihrer Familien in Deutschland bestreiten müssen, geben die ausländischen Seeleute ihre Heuern überwiegend in ihren Heimatländern aus. Der allgemeine Lebensstandard und damit auch die Lebenshaltungskosten sind dort erheblich niedriger als in Deutschland. Die Heimatheuern sind dem Lohnniveau in den Herkunftsländern angepasst und entsprechen den dortigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen.“ Das BVerfG sieht insoweit also nur einen „begrenzten Bezug zu Deutschland“ und spricht von einem besonders starken Durchschlagen der Arbeitsbedingungen des internationalen Arbeitsmarktes. 58 Besonders kritisch hierzu Puttfarken, Hans-Jürgen, Grundrechte im internationalen Rechtsraum, RIW, 1995, S. 617, 618.
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Erstaunlich ist die Entscheidung allerdings nicht so sehr aus Gründen des politischen Verhältnisses zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften einerseits und Arbeitgebern andererseits (man mag die Entscheidung insoweit kritisieren59 oder auch begrüßen60), sondern deshalb, weil hier das wettbewerbliche „pick and choose“ zwischen Staaten, das dem Verfassungsstaat auf Grund seiner Gleichheitsverpflichtung eigentlich fremd ist, fast mustergültig durchgeführt und vom BVerfG sogar sanktioniert ist. Der staats- und verfassungstheoretische Kern liegt hier nämlich in der Tat nicht in der Frage, ob eigentlich das Heuerverhältnis eines Matrosen mit Wohnsitz und ständigem Aufenthalt außerhalb Deutschlands auf einem Schiff unter deutscher Flagge nun stärker dem deutschen Recht oder dem so genannten Heimatrecht zuzuordnen ist. Es liegt auch nicht in der Frage, ob eigentlich ein Schiff unter deutscher Flagge tatsächlich ein Raum ist, der „von der deutschen Rechtsordnung nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird“.61 Der staats- und verfassungstheoretische Kern liegt hier vielmehr in dem Umstand, dass der Staat es einem Einzelnen (in diesem Fall einem Reeder) erlaubt, sich einzelner verfassungsrechtlicher Bestimmungen, denen er unterworfen ist, unter der Geltung des deutschen Verfassungsrechts im Übrigen zu entledigen, weil sich der Reeder anderenfalls der deutschen Rechtsordnung in noch viel umfänglicherer Weise entledigen würde.62 Der Wettbewerb zwischen den Staaten (in diesem Fall um die Zugehörigkeit von Schiffen zur jeweils eigenen Handelsflotte) führt hier also zu einem präferenziellen Entgegenkommen gegenüber Reedern. Während der Einzelne dem Recht typischerweise so unterstellt ist, wie es eben besteht (also ganz oder gar nicht), ist es dem Reeder aus bestimmten wettbewerblichen Gründen erlaubt, sich verschiedener Teile sogar verfassungsrechtlich geprägter normativer Zusammenhänge (etwa: Koalitionsfreiheit) zu entledigen, i.Ü. aber das Verfassungsrecht für sich weiter in Anspruch zu nehmen. Was bedeutet dieses herrschaftstheoretisch merkwürdige pick-and-choose, das man nach dieser Lösung nicht nur beim Reeder findet (pick and choose rechtlicher Regelungen), sondern auch beim Staat (pick and choose einzelner Unterworfener)? Die Frage stellt sich unter anderem mit Blick auf die Berechtigung, mit der der Staat hier einem Reeder etwas erlaubt (nämlich das partielle opting-out aus der Rechtsordnung63), was er anderen, etwa anderen Unternehmern, vergleichbar nicht erlaubt. 59
Die politische Dimension leuchtet in kritischer Betrachtung auf etwa bei Geffken, Rolf, Soziale Grundrechte unter Vorbehalt?, NZA, 1995, S. 504, 506 f. („Lohndumping“). 60 Unter Hinweis auf die wirtschaftspolitische Bedeutung der Entscheidung Lagoni, Rainer, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverträge auf Seeschiffen, JZ 1995, S. 499, 450. 61 Man unterstellt dem BVerfG hier, nicht ganz ohne Grund, seinerseits „in bildlich-naiver Vorstellung von der Seeschifffahrt den Reedern einen sog. Piraterie-Effekt“ zu unterstellen, Geffken, Rolf, Soziale Grundrechte unter Vorbehalt?, NZA, 1995, S. 504, 505. 62 In der Literatur wird dieser dialektische Zusammenhang zum Teil sogar schon in der Überschrift deutlich, vgl. etwa Höfft, Wolfgang, Zweitregister oder Ausflaggen, NJW 1995, S. 2329. 63 Der Reeder kann sich das für ihn geltende Verfassungsrecht immer gerade je nach Nutzen und Kosten unterschiedlich aussuchen, nicht im Sinne eines Entweder-Oder, sondern im Sinne
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Man kann hier durchaus die Frage stellen, warum denn eigentlich ein Produktionsunternehmen, das mit ausländischen Mitarbeitern für internationale Märkte produziert, nicht mit der gleichen Berechtigung Sonderbehandlung für sich einfordern können soll. Nur vordergründig handelt es sich um eine sinnvolle Abgrenzung, wenn das BVerfG hier für Schiffe offenbar einen „Raum“ für die Austragung widerstreitender Interessen annimmt, „der von der deutschen Rechtsordnung nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird“. Der Grund für Zweifel scheint nicht einmal die etwas merkwürdige Subsumtion von Schiffen im internationalen Seeverkehr unter diese Definition von „Raum“ zu sein. Vielmehr stellt sich schon die Frage nach der Definition selber: Was bedeutet in diesem Zusammenhang der „Raum“, in dem die widerstreitenden Interessen ausgetragen werden – der Herrschaftsbereich des Grundgesetzes oder der internationale Wirtschaftsraum? Nimmt man zur Kenntnis, dass das BVerfG ein Schiff im internationalen Seeverkehr unter diesen „Raum“ subsumiert, kann es sich mit Blick auf Art. 91 ff. Seerechtsübereinkommen bei diesem „Raum“ eigentlich nur um den „internationalen Wirtschaftsraum“ handeln, nicht um den Herrschaftsbereich des Grundgesetzes (die widerstreitenden Interessen werden schließlich nicht im Wasser, sondern auf dem Schiff ausgetragen, selbst wenn dieses in internationalen Gewässern unterwegs ist). Wenn aber ein Schiff im internationalen Seeverkehr mit dem BVerfG unter diesen „Raum“ zu subsumieren ist, so fragt sich doch, ob nicht vielleicht auch ein Unternehmen, das für internationale Märkte produziert, in einem solchen Raum steht. Man denke nur etwa daran, dass ein Autohersteller in Deutschland mit Hilfe ausländischer Mitarbeiter (früher: „Gastarbeiter“) Autos produziert, die den amerikanischen Zulassungsbedingungen entsprechen, dass er mit seinen Mitarbeitern ferner widerstreitende Interessen austrägt, indem er auf die Kosten einer Herstellung in Amerika (d. h. unter amerikanischem Arbeitsrecht) verweist und schließlich die Produktion dorthin verlegt: Werden die widerstreitenden Interessen hier wirklich in einem Raum ausgetragen, der von der deutschen Rechtsordnung mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird? Oder ist nicht auch dies ein Raum, der von der deutschen Rechtsordnung gerade nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird. Das BVerfG hat sich hier mit seinem – sicher gut gemeinten – Abgrenzungsversuch in eine herrschaftstheoretische Zwickmühle gebracht. Denn welches international operierende Unternehmen ist denn – von den wirtschaftlichen Beziehungen, damit aber auch von der in Bezug genommenen Interessensaustragung her gedacht – der Reederei mit international verkehrenden Schiffen heute noch so unähnlich? Man braucht hier nicht nur an Transportunternehmen zu denken (z. B. Luftfahrtunternehmen: Flugzeug als funktionales Äquivalent), sondern kann überhaupt jedes in internationalen Märkte operierende Unternehmen heranziehen (z. B.: Ein Autohersteller mit Hauptsitz in Deutschland und Produktions- und Vertriebsstätten in 36 Ländern). Die Schwierigkeiten, die hier entstehen, werden unmittelbar deutlich, wenn man den zentralen Absatz der Gerichtsentscheidung leicht abwandelt. eines Sowohl-Als-Auch, also sowohl deutsches Verfassungsrecht (für die eigenen Belange) als auch Billigflaggenverfassungsrecht (für die Belange der Vertragspartner).
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Man muss hier nur die Begriffe „Handelsschiff“ oder „Schiff“ durch den Begriff „Faktor“, die Begriffe „Betreiber der Handelsschiffe“ oder „Reeder“ durch den Begriff „Faktorverfügender“, den Begriff „unter deutscher Flagge“ durch den Begriff „in der deutschen Rechtsordnung“, den Begriff „Ausflaggen“ durch den Begriff „Verlagern ihrer Faktoren in eine andere Rechtsordnung“ und den Begriff „Bereich der Hochseeschiffahrt“ durch den Begriff „sektorspezifisch“ ersetzen, um folgenden, leicht abgewandelten Text zu erhalten: „Soweit das deutsche Recht den ,Faktorverfügenden‘ Bedingungen auferlegt, die ihre Wettbewerbsfähigkeit erheblich mindern, haben sie die Möglichkeit, sich der Geltung des deutschen Rechts durch das ,Verlagern ihrer Faktoren in eine andere Rechtsordnung‘ gänzlich zu entziehen, ohne dass dem deutschen Gesetzgeber wirksame Mittel zu Gebote stünden, diesen Schritt zu verhindern. Der deutsche Gesetzgeber steht deswegen vor der Alternative, den deutschen Grundrechtsstandard entweder ungeschmälert zu wahren, ihm damit aber ,sektorspezifisch‘ praktisch das Anwendungsfeld zu entziehen, oder ihm ein Anwendungsfeld zu erhalten, dann aber eine Minderung des Grundrechtsstandards in Kauf zu nehmen. Unter diesen Umständen ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verwehrt, den zweiten Weg zu wählen und Positionen von Koalitionen aufzugeben, die sich in der internationalen Rechtswirklichkeit ohnehin nicht behaupten ließen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber dadurch zugleich hinreichende Anreize für deutsche ,Faktorverfügende‘ schafft, ihre ,Faktoren‘ weiter ,in der deutschen Rechtsordnung‘ und damit wenigstens teilweise im Rahmen deutschen Rechts zu betreiben.“ Die Abwandlung zeigt deutlich: Mit der Abgrenzung nach dem ausschließlich vom deutschen Recht her beherrschten Interessensaustragungsraum hat das BVerfG – einmal ganz abgesehen von dem semantischen Fehlgriff – hier ein völlig untaugliches Kriterium entwickelt. Die „Herrschaft der Gesetze“ entspringt zwar einem Idealbild liberaler Staatslehre64, ist aber von der Wirklichkeit so weit weg wie eh und je. Recht „herrscht“ nicht, sondern dient der Einhegung von Herrschaft. Es kann gar nicht herrschen, ist es doch ein „bloß“ normatives Phänomen. Eine bildhafte Sprache mag für ein Gericht wie das BVerfG in vielerlei Hinsicht eine passable Ausdrucksform sein. Geht es jedoch um so grundlegende Zusammenhänge wie dem Vorliegenden, sollte das Gericht doch versuchen, die Dinge etwas klarer zu benennen. Hätte es bei diesem Abgrenzungsversuch der normativen, nicht faktischen Qualität von Recht auch begrifflich stärker Rechnung getragen, wäre ihm wohl deutlicher aufgefallen, wie ungeeignet dieses Kriterium eines „durch Recht beherrschten Interessenaustragungsraumes“ ist. Die Kritik an solcher richterlichen Sprache ist keine semantische, sondern eine methodische. Das BVerfG spielt hier in semantisch leichtfertiger Art mit den Grundfragen verfassungsrechtlicher Geltung. Der Wille zur Ausnahme ist zwar ersichtlich. Wie er sich allerdings operationalisieren lassen kann, bleibt völlig offen. Gerade in einem weithin faktoroffenen Staat ist die Operationalisierbarkeit eines solchen Kriteriums aber von großer Bedeutung. 64 Zum Begriff und seiner Geschichte instruktiv Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 195 ff.
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Denn andernfalls öffnet das BVerfG Tür und Tor für ein wettbewerbliches Paradigma, das die Grundlagen verfassungsrechtlicher Geltung völlig aus den Angeln hebt. Das BVerfG diskutiert die Problemlage im Weiteren in der Problemlage der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie der rechtlichen Gleichheit der Seeleute mit ausländischem Wohnsitz (Art. 3 Abs. 3 GG). In all diesen normativen Bereichen kommt das staats- und herrschaftstheoretische Problem, das das BVerfG hier durch seine Entscheidung schafft (präferenzieller Abbau von Normativität), nur bedingt zum Ausdruck. Denn hier scheinen die Freiheiten der anderen (der Gewerkschaften, der deutschen Seeleute, der ausländischen Seeleute) und die Gleichheit der ausländischen Seeleute mit den inländischen Seeleuten in der Tat einer besonderen Regelungssituation zu unterliegen, die eben entsprechende Antworten braucht, nicht anders als bei jeder anderen Regulierungsaktivität, die sich im Schutzbereich von Grundrechten befindet. So kommt es, und ist auf den ersten Blick sogar nachvollziehbar, dass das Gericht hier von einer Ausnahme spricht, nämlich von der Ausnahme des besonders starken Durchschlagens der Bedingungen der internationalen Arbeitsmärkte. Es entsteht so ein Ausnahmeduktus, der Eindruck nämlich, hier handele es sich um ein Sonderproblem der Seeschifffahrt, das nur dadurch entstehe, dass Schiffe eben in besonderem Maße international betrieben werden und hier nun – fast zufällig – das Sonderproblem internationaler Marktbedingungen die Ausnahme von der Herrschaftsordnung und ihrem Recht rechtfertigen. Hätte das BVerfG demgegenüber mit Blick auf die Herrschaftssituation im offenen Verfassungsstaat den Kern seiner Überlegungen auf die rechtliche Gleichheit der Bleibenden hin ausgerichtet, so hätte sich eine vollkommen andere Perspektive ergeben. In den Mittelpunkt der Entscheidung wäre dann nämlich nicht der Ausnahmecharakter irgendwelcher sektoriellen Sonderbedingungen gerückt, sondern die hier ganz offenkundig geradezu beispielhaft zu Tage tretende Spannungslage zwischen Markt und Herrschaft, in der der faktoroffene Staat steht. Es geht in dieser Entscheidung nämlich in der Tat nur vordergründig um die Arbeitsbedingungen von Seeleuten mit ausländischem Wohnsitz auf Schiffen unter deutscher Flagge und die damit verbundenen gewerkschaftlichen Positionen. Sie mögen für die Einzelnen entscheidend sein (wie jede Freiheitsverkürzung für den Einzelnen entscheidend ist). Die Tragweite des Falles machen sie demgegenüber nicht aus. Bereits bei einer ersten Durchsicht zeigt sich nämlich, dass es hier vielmehr um die sehr grundlegende Frage geht, wie eigentlich der deutsche Verfassungsstaat in seiner Offenheit für Faktoren mit einzelnen Faktorverfügenden umzugehen hat, die ihm mit der Abwanderung ihrer Faktoren drohen. Darf man diesen gegenüber rechtliche Verpflichtungen präferenziell abbauen, um die Faktoren – auch mit Blick auf klingelnde Kassen – im Herrschaftsbereich zu halten, oder muss der Staat deutlich machen, dass er sich nicht „erpressen“ lässt, dass also für Reeder in der Substanz genau dieselben Regelungen gelten wie für andere Unternehmer auch?
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Das Problem erhält eine besondere Pikanz dadurch, dass der Reeder nicht – jedenfalls nicht in der Regel – mit der eigenen Abwanderung droht, sondern eben nur mit der seines Faktors, in diesem Fall nicht einmal mit der Abwanderung seines Unternehmens (der Reederei), sondern nur mit der Abwanderung eines Teiles seines Unternehmens, nämlich seinem Schiff („Ausflaggen“). Er untersteht in der Regel also weiterhin dem deutschen Recht, nur im Hinblick auf einen für ihn besonders kostenintensiven Teil dieses Rechts sucht er sich eine günstigere Rechtsordnung. Dieses Suchen nach anderen Rechtsordnungen ist an sich allgemein üblich (Beispiel: Betätigung der Rechtswahlfreiheit – so genanntes forum shopping). Es nimmt aber bedenkliche Züge an, wenn der Staat – um dieser Suche willen – die Normativität, die mit den Rechten anderer verbunden ist, dann seinerseits präferenziell abbaut. So liegt es hier: Das BVerfG hat mit dieser Entscheidung sanktioniert, dass der Staat zu Gunsten Einzelner die Rechte anderer präferenziell abbaut.65 Statt den Reedern – unter dem Banner einer besonderen Ausnahmesituation und unter Heranziehung der Konstruktion eines nicht national beherrschten Interessenaustragungsraumes – zuzurufen, dass sie sich eines Teiles der Herrschaftsordnung mit Hinweis auf eine drohende Faktorverlagerung einfach entziehen können, hätte das BVerfG eine herrschaftsbezogene Sicht mit dem Blick auf die rechtliche Gleichheit der Bleibenden entwickeln können und müssen. Die Kernaussage wäre dann gewesen: Auch in der Faktoroffenheit gilt das Recht allgemein, ist also unteilbar, und unterwirft daher alle, die unter ihm stehen, in gleicher Weise. Kern dessen ist, dass – jedenfalls im Verfassungsstaat – die Rechte anderer nicht auf dem Altar der wirtschaftlichen Interessen des Staates geopfert werden dürfen. Wem die Standortbedingungen eines Rechtssystems nicht attraktiv genug sind, der mag woanders hingehen. Wer aber bleibt, der muss sich den Regeln unterwerfen, wie sie eben gelten. Für das Recht des Staates, dem der Reeder angehört, würde dies bedeuten: Der Reeder muss sich (ganz oder teilweise, d. h. mit Teilen seines Vermögens) dem Recht eines Staates unterwerfen, entweder dem Recht seines Staates oder dem Recht eines anderen Staates. Nicht aber darf der Staat dem Reeder mit Hilfe eines Zweitregisters66 ermöglichen, je nach Sachlage für sein Schiff mal die eine Verfassungsrechtsordnung (z. B. beim diplomatischen Schutz), mal die andere Verfassungsrechtsordnung (z. B. bei den Heuerbedingungen) für sich in Anspruch zu nehmen.67 65 Besonders prägnant im Hinblick auf diese wichtige wettbewerbliche Dimension gerade des Abbaus von Normativität Tomuschat, Christian, Grundrechtsfestung Deutschland?, IPRax 1996, S. 83, 86 („robuste Philosophie“), 87 (Verzicht auf souveräne Gestaltungsfreiheit); Wimmer, Norbert, Minderer Grundrechtsschutz bei internationalen Arbeitssachverhalten? – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum internationalen Seeschifffahrtsregister, NZA 1995, S. 250. 66 Puttfarken weist zu Recht darauf hin, dass es sich bei dem deutschen Zweitregister bei Lichte besehen gar nicht um ein echtes (alternatives) Schiffsregister handelt, sondern um ein bloßes (zusätzliches) Register zur Dokumentierung der genannten privatrechtlichen Wirkungen, in: Puttfarken, Hans-Jürgen, Grundrechte im internationalen Rechtsraum, RIW, 1995, S. 617, 618. 67 Weiterführend ist hier auch nicht der Hinweis von Erbguth darauf, dass der Gesetzgeber hier die Wahl zwischen Pest (Ausflaggung) und Cholera (Zweitregister) gehabt habe (Erbguth,
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Wer einmal, wie das BVerfG in seiner Zweitregisterentscheidung, damit beginnt, unter Hinweis auf die wettbewerbliche Situation des Staates einzelnen Unterworfenen präferenziell Sonderbedingungen zuzugestehen, reißt einen Damm des Rechtlichen gegen das Ökonomische ein. Der Kern liegt hier nicht in der Rücknahme der Koalitionsfreiheit selbst. Es gibt Verfassungsstaaten, die hier mehr oder weniger Freiheit gewähren und gleichwohl Verfassungsstaaten bleiben. Auch sonst bestimmt das BVerfG den Kerngehalt von Rechten und lädt diesen normativ entweder auf oder ab. Der Kern liegt hier vielmehr in der Sonderbehandlung. Denn warum soll nicht der bereits erwähnte Autohersteller für sich in Anspruch nehmen können, dass auch er seine mit den Interessen seiner Arbeitnehmer widerstreitenden eigenen Interessen in einem Raum austrägt, „der von der deutschen Rechtsordnung nicht mit allgemeiner Gültigkeit beherrscht wird“. Der wettbewerbliche Raum, in dem Autos verkauft werden, ist die Welt, nicht Deutschland. Wenn etwa das Auto eines deutschen Herstellers teurer wird, weil sich die Tarifbedingungen für den Hersteller verschlechtern, dann wird sein Auto in den USA gegenüber japanischen Autos teurer; auch in Japan wird es gegenüber amerikanischen Autos teurer. Weder Japan noch die USA sind aber von der deutschen Rechtsordnung beherrscht. Weil der deutsche Arbeitgeber den deutschen Arbeitnehmern aber genau diese wettbewerblichen Wirkungen in Japan und in den USA entgegenhält, ist der „Raum“, in dem die widerstreitenden Interessen austragen werden, „von der deutschen Rechtsordnung nicht mit allgemeiner Gültigkeit beherrscht“. Warum also soll ein deutsches Unternehmen in Deutschland seinen ausländischen Mitarbeitern ohne festen Wohnsitz in Deutschland angesichts der Möglichkeiten der Verlagerung der Produktionsstätte nicht einfach unter Hinweis auf die Zweitregisterentscheidung den deutschen Mindestarbeitsschutz verweigern dürfen? 2. Ansätze des Aufbaus allgemeinen Rechts gegenüber wettbewerblich motiviertem Handeln: Die Vollzugsdefizitrechtsprechung des BVerfG Diesen Abbautendenzen von Normativität stehen freilich auch verfassungsrichterliche Tendenzen des Aufbaus allgemeinen Rechts gegenüber. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Rechtsprechung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit von Gesetzen wegen eines strukturellen Vollzugsdefizits, wie sie mit der Zinsentscheidung des BVerfG begonnen und in der Entscheidung zur Besteuerung von Spekulationsgewinnen (so genannte Tipke-Entscheidung) ihre Vertiefung gefunden hat. In den beiden Entscheidungen zu Grunde liegenden Fällen ging es um Regelungen des Einkommensteuergesetzes (EStG) zur Besteuerung von Kapitalerträgen einerseits (§ 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979) und zur Besteuerung von Spekulationsgewinnen andererseits (§ 22 Nr. 2, 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG 1997). ObWilfried, Die Zweitregisterentscheidung des BVerfG – BVerfG, NJW 1995, 2339, JuS 1996, S. 18). Dieser Hinweis auf Pest und Cholera lenkt den Blick von der eigentlichen Entscheidungssituation ab, nämlich derjenigen zwischen Intervention und Nichtintervention.
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
gleich diese Entscheidungen in dem – unter gewissen Gesichtspunkten spezifischen – Feld der Besteuerung ergangen sind, haben sie doch erhebliche Wirkungen in der ganzen Breite staatlichen Handelns. Sie ermöglichen, wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen, in der Tat, sich gegen eine gesetzliche Belastung unter dem Gesichtspunkt zu wehren, dass das Gesetz vergleichbaren Dritten gegenüber nicht vergleichbar angewendet wird (Vollzugsgleichheit). Diese grundsätzlich neue Möglichkeit, in der unter der Rechtsprechung des BVerfG das materiell verfassungswidrige Gesetz unter bestimmten Umständen verfassungswidrig wird, wenn es Dritten gegenüber nicht durchgesetzt wird, hat naturgemäß erhebliche Wirkungen auf die Allgemeinheit des Rechts im Wettbewerb zwischen den Staaten. Sie soll im Folgenden daher kurz vorgestellt (D.II.2.a)) und im Anschluss auf ihre Wirkungen im Wettbewerb zwischen den Staaten hin untersucht werden (D.II.2.b)). a) Die Rechtsprechung des BVerfG zum sogenannten strukturellen Vollzugsdefizit: Die Zinsentscheidung und das Tippke-Urteil des BVerfG Das BVerfG hat mit seiner so genannten Zinsentscheidung68 einen Grundsatz begründet, nach dem ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt ungleichen Vollzuges unter bestimmten Voraussetzungen verfassungswidrig ist. Voraussetzung hierfür ist ein Vollzugsdefizit, auf dessen Bestehen der Gesetzgeber es geradezu angelegt hat. Das Gericht fordert insoweit eine strukturelle Gegenläufigkeit der Erhebungsregelung gegenüber dem Besteuerungstatbestand. Ist diese strukturelle Gegenläufigkeit (das strukturelle Vollzugsdefizit) dem Gesetzgeber zuzurechnen, so führt die dadurch bewirkte Gleichheitswidrigkeit zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Steuernorm.69 Zwar verneinte das Gericht für den streitgegenständlichen Veranlagungszeitraum noch eine Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführer, weil die bestehende Rechtslage für eine Übergangsfrist noch hingenommen werden müsse.70 Im Ergebnis mussten sich die Beschwerdeführer daher mit der geltenden Regelung (§ 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979) abfinden. Für die darauf folgenden Veranlagungszeiträume stellte das Gericht jedoch angesichts des Umstandes, dass die geltenden Regelungen (im zu Grunde liegenden Fall: die Regelungen des so genannten Bankenerlasses von 1979) eine wirksame Ermittlung und Kontrolle der Einkünfte aus Kapitalvermögen weitgehend verhinderten, die Verfassungswidrigkeit fest und stellte den Gesetzgeber vor die Aufgabe einer Neuregelung nach Ablauf der Übergangsfrist (Rn. 147, 148). Der Kern der Verfassungswidrigkeit lag hier darin, dass – dem Gesetzgeber zurechenbar – die „klugen“ Steuerunehrlichen, die ihre Einkünfte 68
BVerfGE 84, 239. BVerfGE 84, 239 (LS 4). 70 Kritisch zum Gedanken eines „rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebotes“ insoweit etwa Bilsdorfer, Peter, Anmerkungen zum Zinsbesteuerungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, BB 1991, 1455, 1456. Eher verteidigend demgegenüber Rodi, Michael, Verfassungskonforme Besteuerung von Kapitalerträgen, NJW 1991, 2865, 2868. 69
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pflichtwidrig nicht erklärten, vor Entdeckung weitgehend sicher sein konnten und dadurch in dem von ihnen verwirklichten Unrecht besser behandelt wurden als die „dummen“ Steuerehrlichen, die ihre Kapitaleinkünfte korrekt deklariert hatten und entsprechend höher belastet wurden. Seine Fortsetzung fand diese Rechtsprechung in der Entscheidung des BVerfG zur Besteuerung von Gewinnen aus Spekulationsgeschäften (so genanntes Tipke-Urteil).71 Auch hier ging es um die – dem Gesetzgeber zurechenbar – geringe Kontrolle der Einkünfte (und damit auch der Deklaration dieser Einkünfte) der Steuerpflichtigen, also das ungute Zusammenspiel von Deklarationsprinzip und Nichtdeklaration durch den Steuerpflichtigen. Nur betraf der zu Grunde liegende Fall dieses Mal eben Spekulationsgewinne, nicht klassische Kapitalerträge. Das Gericht ging in diesem zweiten Fall über seine Zinsentscheidung insoweit hinaus, als hier die Verfassungswidrigkeit auch für den zur Entscheidung stehenden Zeitraum selbst (nicht nur – relativ zum streitgegenständlichen Veranlagungszeitraum – für die Zukunft) festgestellt wurde. Im Kern hat das BVerfG mit seiner Entscheidung zu Spekulationsgewinnen die Ansätze der Zinsentscheidung dadurch nicht nur weiter konkretisiert, sondern auch deren Wirkmächtigkeit verstärkt.72 Seit der Entscheidung zur Besteuerung von Spekulationsgewinnen ist damit zweifelsfrei entschieden, dass dem Einzelnen – trotz des Grundsatzes „Keine Gleichheit im Unrecht“ – verfassungsrechtliche Mechanismen zur Verfügung stehen, um Belastungen abzuwehren, die der Staat dem Einzelnen auferlegt und durchsetzt, ohne sie anderen gegenüber in gleicher Weise durchzusetzen.73 Die Konstruktion dieser Rechtsprechung wirft erhebliche dogmatische und auch gleichheitsfunktionale Fragen auf. So steht schon im Raum, wie denn eigentlich der Zusammenhang zwischen einer Norm und ihrer Durchsetzung durch die Verwaltung in einen normativen Gesamtkomplex verschmelzen können soll, wie es dem BVerfG offenbar vorschwebt. Ein solches „In-die-Norm-Hineinlesen“ der mangelnden Durchsetzung folgt einem Normkonstruktivismus, der offenbar alle Grenzen zwischen Norm und Fakt verschwimmen lässt. Zwar erscheint es durchaus legitim, Vollzugsmängel dem Gesetzgeber zuzurechnen zu wollen, wenn diese in der Norm unmittelbar angelegt sind. Allerdings lässt sich eine Unterscheidung zwischen (allgemeinen) Vollzugsdefiziten, wie sie „immer wieder vorkommen können und sich auch tatsächlich ereignen“, und (strukturell gegenläufigen) Vollzugsdefiziten, derentwegen der „Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden
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BVerfG, Urteil vom 9. 3. 2004, 2 BvL 17/02, NJW 2004, S. 1022. Kritisch zur Ungerechtigkeit, die dadurch entsteht, dass für den konkreten Veranlagungszeitraum nur jene (streitlustigen) Steuerzahler profitieren, deren Veranlagung noch offen ist Streck, Michael, Zur Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Grund Verwaltungshandelns, NJW 2004, 1580. 73 Einen genaueren dogmatischen Vergleich der Spekulationsentscheidung mit der früheren Zinsentscheidung liefert etwa Winterhoff, Christian, Trommelwirbel mit geringfügigen Mißtönen, DÖV 2004, 819. 72
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
kann“, dogmatisch kaum sinnvoll treffen.74 Denn die Verwaltung arbeitet immer – dies ist eine der Grundlagen moderner Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit – im rechtlich gebundenen Raum. Ermessensspielräume sind daher nicht etwa Ausdruck einer rechtlich freien Verwaltung mit singulären Bindungen, sondern umgekehrt punktuelle Ausnahmen von einer strikten rechtlichen Bindung, die – ihrerseits – rechtlich vorgegeben sind. Wenn die Verwaltung die Gesetze nicht durchsetzt, dann trifft den Gesetzgeber daher immer die (wenn auch sekundäre) Verantwortung dafür, dass er der Verwaltung offenbar nicht die richtigen rechtlichen Anreize zum effektiven Vollzug schafft. Insofern scheint die Abgrenzung des BVerfG hier in Wirklichkeit weniger auf eine echte Qualifiziertheit eines (so genannten strukturellen) Vollzugsdefizits gegenüber anderen (eben allgemeinen) Vollzugsdefiziten zurückzugehen, als vielmehr auf eine Unterscheidung zwischen einer geringen Zahl von nicht weiter typisierbaren Einzelfällen einerseits und echter Typisierbarkeit andererseits. Im Kern geht der Vorwurf des BVerfG an den Gesetzgeber hier dahin, dass der Vollzug mangelhaft ist, weil die Norm selbst (also diese konkrete Norm selbst) mangelhaft ist. Über diese dogmatischen Schwierigkeiten hinaus fragt sich aber auch, wie sich denn eigentlich die vom BVerfG behauptete Bereichsspezifität von Verfassungsrecht75 wirklich begründen lässt. Die Bereichsspezifität des Rechts zaubert ein Gericht typischerweise dann aus dem Hut, wenn es ein bestimmtes Ergebnis seiner Entscheidung anstrebt, deren Folgen es für die Rechtsprechung im Allgemeinen aber (noch) nicht verantworten will. Das BVerfG ist – gerade im Hinblick auf den Gleichheitssatz – ein regelmäßiger Apologet der Bereichsspezifität des Rechts. Mit Erstaunen liest man beim BVerfG immer wieder, dass der Gleichheitssatz – je nach dem ihm unterworfenen Bereich – offenbar unterschiedliche Gehalte aufweise.76 Eine Generalkritik hieran verbietet sich im vorliegenden Zusammenhang, in dem es 74 Es geht hierbei noch gar nicht einmal um die Skepsis, wie sich denn die Unterscheidung zwischen allgemeinen und qualifiziert strukturellen Vollzugsdefiziten in der Anknüpfung des BVerfG an die „Gleichheit im Belastungserfolg“ sinnvoll erfassen lässt, dazu näher etwa Meyer, Stephan, Strukturelle Vollzugsdefizite als Gleichheitsverstoß, DÖV 2005, 551, der allerdings offenbar übersieht, dass die Zurechnung der Vollzugsmängel an den Gesetzgeber auch beim BVerfG nicht über die Unterscheidung zwischen allgemeinen und strukturellen Vollzugsdefiziten stattfindet. Das BVerfG macht vielmehr lediglich diese (wenn auch kaum tragfähige) Unterscheidung und verfügt im Anschluss, dass die derart unterschiedenen strukturellen Vollzugshindernisse – wenn sie dem Gesetzgeber zurechenbar sind – zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Norm führen. 75 Auch vorliegend beschränkt etwa bereits der LS 1 sich bereits auf das Steuerrecht: „Der Gleichheitssatz verlangt für das Steuerrecht, dass …“. 76 Die Bereichsspezifität der gewährleistenden Norm hat – gerade bei der Gleichheitsrechtsprechung des BVerfG – von Beginn an eine wichtige Rolle gespielt. Man vergleiche insoweit nur etwa die gleichheitsrechtlichen Ausführungen zur (absoluten) Wahlrechtsgleichheit in BVerfGE 1, 208, 261 – SSW I (7,5 %-Sperrklausel) einerseits und zu der – von der so genannten wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes geprägten – geringen Gleichheit unter wirtschaftslenkenden Gesetzen in BVerfGE 4, 7, 27 – Investitionshilfe andererseits.
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vor allem um die wettbewerbsbezogenen Aspekte dieser Rechtsprechung gehen soll. In der Tat fragt es sich aber auch hier, welche Konsequenzen diese neuere Rechtsprechung auf nicht durchgesetzte Rechtsregeln in anderen Rechtsbereichen ganz rechtspraktisch hat, man denke nur etwa an Normen, die schwer ermittelbare Straftaten verbieten oder aus anderen Gründen nicht in der ganzen Breite durchgesetzt werden (Stichwort: Sozialversicherungspflicht von Tätigkeiten als Haushaltshilfe). Hier lässt sich vieles Theoretische, aber auch manches Verfassungspraktische anmerken.77 Das BVerfG tut sicher gut daran, die Konsequenzen seiner Rechtsprechung möglichst überschaubar zu halten. Man fragt sich allerdings, warum es nicht von vorneherein verfassungsdogmatisch bekannteres Gebiet beschritten hat. So hätte etwa die Figur des faktischen Grundrechtseingriffs vollkommen genügt, um einen Gleichheitsverstoß in diesen Fällen zu begründen.78 Denn im Kern geht es hier um einen Mangel im Vollzug, nicht um einen solchen in der zu vollziehenden Norm. Auch die Methode des BVerfG, diesen Vollzugsmangel in die Norm hineinzulesen, lässt die Wurzeln des Mangels nicht aus dem (faktischen) in die (rechtliche) Norm wandern. Der Mangel bleibt – auch wenn er in der Konsequenz der Rechtsprechung zum Rechtsmangel wird – im Kern daher zuallererst immer noch Vollzugsmangel. Dies zeigt sich bereits darin, dass der Mangel im Vollzug nicht Folge, sondern Voraussetzung für den (behaupteten) Mangel in der Norm ist. Mit der Figur des faktischen Grundrechtseingriffs hätte das BVerfG seinen Weg sehr viel direkter erreicht. Vor allen Dingen hätte es sich die schwierige Abgrenzung vom Grundsatz „Keine Gleichheit im Unrecht“ erspart. Völlig ohne Not gerät das Gericht hier in eine Situation, in der es sich vorwerfen lassen muss, dass es – jedenfalls im Ergebnis – hier eine Ausnahme von diesem Grundsatz geschaffen habe.79 Denn im Ergebnis kann sich der (zu Recht) Belastete über diese Rechtsprechung im Erfolgsfall in die Situation des (zu Unrecht) Nicht-Belasteten bringen. Der – zweifelsfrei bestehende – dogmatische Unterschied zu einer „Gleichheit im Unrecht“ besteht hier nur noch darin, dass in der Tat die rechtliche Situation, zu der sich der (zu Unrecht) Begünstigte in Gegensatz stellt, mit dem Verdikt des BVerfG gar nicht mehr existiert. Es 77 Vorbildlich insoweit etwa Goerlich, Helmut, Anmerkung, JZ 1991, 1139. Ähnlich mit dem Ziel, allgemeine Konsequenzen auszuweisen, etwa Seiler, Christian, Das Steuerrecht als Ausgangspunkt aktueller Fortentwicklungen der Gleichheitsdogmatik, JZ 2004, S. 481. 78 Näher dazu etwa Meyer, Stephan, Strukturelle Vollzugsdefizite als Gleichheitsverstoß, DÖV 2005, 551, 554. Dogmatisch viel weiter noch ginge der Weg eines Ausbaus des Art. 3 GG zu einem (positiven) Leistungsrecht auf ein gleichheitsgewährleistendes Steuerverfahren, vorgeschlagen vor allem von Funke, Andreas, Gleichbehandlungsgrundsatz und Verwaltungsverfahren, Die Rechtsprechung des BVerfG zu strukturell bedingten Vollzugsdefiziten, 132 AöR 2007, S. 168. 79 In diese Richtung etwa Goerlich, Helmut, Anmerkung, JZ 1991, 1139 („Das offene Feld der Gleichheit im Unrecht ist in Wahrheit doch betreten: …“). Ähnlich Meyer, Stephan, Strukturelle Vollzugsdefizite als Gleichheitsverstoß, DÖV 2005, 551, 557 („Entgegen dem Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts bedeutet die Entscheidung eine Abkehr von dem Grundsatz ,keine Gleichheit im Unrecht‘.“).
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
gibt also schon gar kein Rechtssubstrat mehr, im Verhältnis zu welchem derjenige, mit dem man sich vergleicht, im Unrecht stehen könnte. Die Lösung des BVerfG sorgt vielmehr dafür, dass die Pflichtwidrigkeit beim (zu Unrecht) Begünstigten gewissermaßen gleich mit entsorgt ist. So gesehen führt die Lösung des BVerfG nicht nur zu einer Kapitulation des einfachen Rechts gegenüber dem Rechtsuntreuen, sondern auch noch gegenüber dem Rechtstreuen – ein denkwürdiges Ergebnis fürwahr. b) Die Bedeutung der Rechtsprechung zu strukturellen Vollzugsdefiziten im Wettbewerb zwischen den Staaten: Stärkung der Allgemeinheit des Rechts gegenüber wettbewerblich motivierter Rücksichtnahme Mit dem vom BVerfG schon lange erhobenen Anspruch der Folgerichtigkeit der Besteuerung ist diese besondere Stoßrichtung der Vollzugsgleichheit noch nicht vollends beschrieben. Ihre besondere Wirkrichtung zielt vielmehr noch auf eine andere Unterscheidung, nämlich jene zwischen der Abwanderung lediglich des Faktors (unter Aufrechterhaltung des Herrschaftsverhältnisses über den Verfügenden im Übrigen) und der Abwanderung des Faktorverfügenden selbst (Stichwort der doppelten Mobilität). Es ist in der Tat ein großer Unterschied, ob der Verfügende sich der staatlichen Herrschaft entzieht (oder im umgekehrten Fall sich ihr unterwirft) oder ob er nur seine Faktoren dem Einflussbereich entzieht. Im ersteren Fall handelt es sich nämlich um einen echten Herrschaftsverlust/-gewinn über den Verfügenden (den das BVerfG weder verbieten will noch kann), im zweiten Fall um ein bloßes – gegebenenfalls rechtswidriges – Verstecken von Faktoren vor dem Fiskus. Genau diese Unterscheidung nimmt das BVerfG nun auf, indem es dem Gesetzgeber vorschreibt, dass er – auch im Wettbewerb zwischen den Staaten – über die Besteuerung zwar autonom entscheiden darf, dass er dabei aber nicht Einzelnen dadurch entgegenkommen darf, dass er ihnen bei der Umgehung des Rechts präferenziell behilflich ist. Neben der Sprengkraft für die dogmatischen Strukturen des Verfassungsrechts (dazu oben) weist diese Rechtsprechung daher auch bedeutende funktionale Bezüge zum Wettbewerb zwischen den Staaten auf, die in der literarischen Betrachtung bisher ganz offenbar zu kurz gekommen sind. Mit diesen Entscheidungen hat das BVerfG nämlich in der Tat – jedenfalls auch – maßgebliche Akzente im staatlichen Umgang mit dem Verfassungsrecht im Wettbewerb zwischen den Staaten gesetzt. Auf den ersten Blick fällt dieser Umstand vielleicht nicht ins Auge. Bei genauerer Lektüre der Entscheidungen zeigt sich jedoch, dass dem BVerfG der wettbewerbliche Aspekt der zu entscheidenden Konstellation deutlich vor Augen steht. In besonderer Deutlichkeit zeigt sich dies bei den Überlegungen des BVerfG in der Zinsentscheidung zur besonderen Zielsetzung des Bankenerlasses von 1979. Das BVerfG erkennt nämlich, dass es der Gesetzgeber „bei den Auswirkungen des Bankenerlasses bewenden“ hat lassen, weil er „aus gesamtwirtschaftlichen Gründen vermeiden wollte, dass Kapitalanleger ihr Geld aus dem Inland abziehen (Hervor-
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hebung JLD)“80. Allerdings ließen sich, so das BVerfG weiter, die sich aus diesem Ziel ergebenden „beträchtlichen Steuerverkürzungen und die daraus folgende Ungleichheit des Belastungserfolges […] nicht durch gesamtwirtschaftliche Gründe rechtfertigen“81. Hier rammt das BVerfG – von der allgemeinen Verfassungsrechtswissenschaft weitgehend kaum wahrgenommen – den eigentlichen Pfahl des Rechts gegenüber dem wettbewerblich motivierten Handeln des Staates ein. Denn im Kern bedeutet die Entscheidung: Eine wettbewerbliche Motivation des Staates zur präferenziellen Rücksichtnahme gegenüber den Verfügenden mobiler Faktoren (insbesondere: Kapital) kann einen Gleichheitsverstoß auch unter Zuziehung weiterer gesamtwirtschaftlicher Erwägungen nicht rechtfertigen. Das Recht, insbesondere das Gleichheitsrecht, lässt sich also nicht durch wettbewerbliche Motivationen des Staates instrumentalisieren. Es weicht nicht vor den Zwängen des Wettbewerbs zurück, sondern wirkt mit aller seiner Kraft auf das wettbewerblich motivierte staatliche Handeln genau so ein wie auf jedes andere staatliche Handeln auch. Nicht der Fakt wettbewerblichen Interesses, sondern die Normativität des Rechts bestimmt dessen Kontrafaktizität. Das BVerfG wahrt in der Zinsentscheidung gegenüber dem wettbewerblichen Verhalten des Staates also die dem Verfassungsstaat eigene Kategorialität von Norm und Fakt. Wettbewerblich motivierte Herrschaftsrücknahme ist im Allgemeinen danach zwar erlaubt, aber eben nicht präferenziell, sondern nur in den Grenzen der rechtlichen Gleichheit. Insoweit ist die Entscheidung eben gerade nicht, wie Wüst etwa nahe legt, allein das Ergebnis einer bloßen Abwägung „zwischen Legalitätsund Opportunitätsprinzip“82, sondern eine Aufforderung an den Gesetzgeber im Wenn-Dann-Muster: Wenn der Gesetzgeber dem Legalitätsprinzip im Grundsatz folgt, dann muss er ihm so folgen, dass nicht manche (in diesem Fall eben die Verfügenden mobiler Faktoren) diesem Prinzip entgehen, indem sie ihre tatsächliche Belastetheit in der Eigengesetzlichkeit des Wettbewerb der eigenen Entscheidung unterwerfen können, andere (etwa immobile Arbeitnehmer) aber eben nicht. Das BVerfG verlangt hier vom Staat also nicht, wie er im Wettbewerb besteuert, sondern nur, dass die Besteuerung, nach welchen Regeln sie auch immer im Einzelnen ausgestaltet ist, auch im Wettbewerb zwischen den Staaten im Ergebnis die Gleichheit der Einzelnen vor dem Gesetz wahren muss. Das BVerfG nimmt die Motivation auch des Verordnungsgebers dabei durchaus auf. Denn in der Tat ging es dem Verordnungsgeber bei der Neufassung des Bankenerlasses von 1979 nicht in erster Linie darum, die Steuerbasis zu verbreitern und die Einkünfte zu sichern, sondern darum, die Steuerverwaltung von zu weitgehend empfundener Kontrolle abzuhalten und so die Härten des Legalitätsprinzips unter Verzicht auf gleichmäßigen Vollzug präferenziell abzubauen. Dass der Gesetzgeber in Kenntnis dessen nicht entgegengewirkt hat, ist der zentrale Vorwurf des BVerfG. 80
BVerfGE 84, 239. Ibid. 82 Wüst, Günther, Die Besteuerungsgleichheit bei Zinseinkünften – Eine Nachlese zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 27. 6. 1991, 2 BvR 1493/89 –, DStR 1991, 1577. 81
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Wettbewerbs spricht es insoweit Bände, dass der Gesetzgeber – seinerseits in wettbewerblicher Motivation – nicht nur dem Bankenerlass nicht entgegengewirkt hat, sondern seine Gehalte darüber hinaus im Wesentlichen auch noch zu geltendem Recht hat werden lassen (vgl. § 30a AO). In der Zinsentscheidungsphilosophie des BVerfG ist dieser Schritt zwar durchaus folgerichtig, ist damit doch – jedenfalls zum Teil – wenigstens der Vorwurf vom strukturellen Vollzugsdefizit aus der Welt. Vor einer gleichheitsrechtlichen Überprüfung des Zusammenspiels der Besteuerungsgrundlagen auch mit § 30a AO feit dieser Schritt den Gesetzgeber aber freilich nicht. In dieses Bild passt es durchaus, dass das BVerfG in seiner Spekulationsentscheidung – übrigens nach außergewöhnlich länglichen Erörterungen über die Bedingtheit der einkommensteuerlichen Erfassung von Spekulationsgewinnen aus privaten Wertpapiergeschäften durch die Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen83 – festgestellt hat, dass „das Monitum des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1991 (BVerfGE 84, 239 ,278‘) zum früheren Bankenerlass im Wesentlichen auch dessen Nachfolgeregelung in § 30a AO ,treffe‘: Vor allem mit dem Verbot von Kontrollmitteilungen wird der Finanzverwaltung eines der wirksamsten Mittel zur Sachverhaltsaufklärung genommen.“84 Es ist daher nur konsequent, wenn das BVerfG im Anschluss hieran über die Feststellung eines strukturellen Vollzugsdefizits nurmehr unbeschadet der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 30a AO entscheidet.85 Den einschlägigen Folgeentscheidungen liegt dabei ein gesetzgeberischer Mix aus wettbewerblichem Zuckerbrot und rechtsstaatlicher Peitsche zu Grunde, der das BVerfG dazu bewogen hat, nicht nur die Begründetheit, sondern sogar die Zulässigkeit entsprechenden Vorbringens zu verneinen, und zwar sowohl in jenen Fällen, in denen es im Wege der Verfassungsbeschwerde befasst wurde86, als auch in jenem, in dem es auf Grund einer Vorlage des Finanzgerichts Köln tätig wurde87. Der Kern der Argumentation des BVerfG war jeweils, dass angesichts der mittlerweile ergangenen gesetzgeberischen 83 BVerfG, Urteil vom 9. 3. 2004, 2 BvL 17/02, NJW 2004, S. 1022 – Spekulationsurteil Rn. 85 ff.: Dem BVerfG geht hier übrigens ganz wesentlich um das geringe tatsächliche Entdeckungsrisiko unehrlicher Steuerpflichtiger. Es erörtert in diesem Zusammenhang im einzelnen Aspekte der Wirkung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 88 AO) im Massenverfahren, wie es insbesondere der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) und die gleichlautenden Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder „Organisation der Finanzämter und Neuordnung des Besteuerungsverfahrens; hier: Arbeitsweise in den Veranlagungsstellen“ (GNOFÄ 1997) in den Blick nimmt (Rn. 86 ff.). Auch stellt das es mit Blick auf Spekulationsgewinne das Fehlen von Anzeigepflichten wie in §§ 137 bis 139 AO und von Aufbewahrungspflichten wie in §§ 140 ff. AO fest (Rn. 94 ff.). Schließlich verweist es auf die geringen Chancen zur Informationsbeschaffung im Wege von Außenprüfungen (Rn. 96 ff.). 84 BVerfG, Urteil vom 9. 3. 2004, 2 BvL 17/02, NJW 2004, S. 1022 – Spekulationsurteil Rn. 113. 85 BVerfG, 2 BvR 294/06 vom 10. 1. 2008 (Rn. 31); BVerfG, 2 BvL 14/05 vom 25. 2. 2008 (Rn. 34); BVerfG, 2 BvR 2077/05 vom 10. 3. 2008 (Rn. 21). 86 BVerfG, 2 BvR 294/06 vom 10. 1. 2008; BVerfG, 2 BvL 14/05 vom 25. 2. 2008. 87 BVerfG, 2 BvR 2077/05 vom 10. 3. 2008.
II. Antworten des BVerfG
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Akte eine Verfassungswidrigkeit der Besteuerung genauer begründet werden müsse: So fehle im Fall der Vorlage des Finanzgerichts eine entscheidende Darlegung und Prüfung der sachlichen und rechtlichen Ausgangslage88. Im Falle der Verfassungsbeschwerden könne „allein der Umstand, dass § 30a AO unverändert geblieben ist, ein die Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm begründendes strukturelles Vollzugsdefizit als ganz außergewöhnliche Rechtsfolge mangelnder Effektivität des Rechts nicht herbeiführen“.89 Zu den Maßnahmen des Gesetzgebers, die nach Ansicht des BVerfG die Feststellung eines strukturellen Vollzugsdefizits – ohne Widerspruch zur Zinsentscheidung und zur Spekulationsentscheidung – ausschlossen, gehörte neben dem automatisierten Kontenabruf nach § 93 Abs. 7 und 8, § 93b AO i.V.m. § 24c KWG ergänzend übrigens auch die Erweiterung der Nutzbarkeit der Mitteilungen der Kreditinstitute an das Bundesamt für Finanzen nach § 45d EStG für die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen, eines Strafverfahrens wegen einer Steuerstraftat oder eines Bußgeldverfahrens wegen einer Steuerordnungswidrigkeit.90 Zusammengenommen mit der seinerzeit in § 24c EStG verankerten Jahresbescheinigung über Kapitalerträge und Veräußerungsgewinne habe der Gesetzgeber „nahezu lückenlose Kontrollmöglichkeiten geschaffen“91. Neben diese rechtsstaatlichen Mittel der Kontrolle traten jedoch – vom BVerfG durchaus ebenfalls als defizitmindernd in Anschlag gestellt – auch wettbewerblich motivierte Mittel, die unter Art. 3 GG an sich durchaus fragwürdig sind, wie z. B. die – wenn auch nur kurzfristige – Verzehnfachung, später Verfünffachung des Steuerfreibetrages, die vorübergehende Amnestieregelung im Strafbefreiungserklärungsgesetz (StraBEG)92, die Möglichkeit der Vermeidung von Strafe im Wege der Selbstanzeige nach § 371 AO, aber auch das Zinsabschlaggesetz von 1992, das Abschläge auf Zinseinkünfte vorsah, die (mit jeweils 30 respektive 35 %) in der Regel unter dem jeweiligen persönlichen Steuersatz gelegen haben dürften.93 Solche Ansätze dienen nicht gerade einem hohen Maß rechtlicher Gleichheit, liegt ihr Kern doch in einem präferenziellen Entgegenkommen zu Gunsten Einzelner, sind mit dem 88
BVerfG, 2 BvL 14/05 vom 25. 2. 2008: Im Ergebnis Rn. 35. BVerfG, 2 BvR 294/06 vom 10. 1. 2008 (Rn. 31); BVerfG, 2 BvR 2077/05 vom 10. 3. 2008 (Rn. 21). 90 Näher dazu jeweils BVerfG, 2 BvR 294/06 vom 10. 1. 2008 (Rn. 24 ff. und Rn. 29). Vgl. dazu auch Scheurle, Florian, Die Vollziehbarkeit der Besteuerung von Einkommen aus Kapital, in: DStJG (2007 – Einkommen aus Kapital), S. 39 ff. 91 BVerfG, 2 BvR 2077/05 vom 10. 3. 2008 (Rn. 24). 92 Dazu besonders kritisch der trotzdem lesenswerte Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des FG Köln vom 22.9.2005 – 10 K 1880/05, EFG 2005, 1878, 1879 ff.; in eine ähnliche Richtung auch Seer, R., Steueramnestie und Idee einer Entpönalisierung des Steuerrechts, in: Gedächtnisschrift für C. Trzaskalik, Köln 2005, S. 457, 459 ff. Demgegenüber sehr klar die Verfassungsmäßigkeit des mittlerweile entstandenen Zustandes betonend BFH, Urteil vom 7. 9. 2005 (VIII R 90/04), BStBl. 2006 II S. 61. 93 Einzelheiten in der Würdigung dessen jeweils in BVerfG, 2 BvR 2077/05 vom 10. 3. 2008 (Rn. 19 ff., 26). 89
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
BVerfG aber dennoch mit Art. 3 GG vereinbar. Das BVerfG prüft hier das Gesamtbild. Nicht geht es ihm darum, absolute Gleichheit unter allen Steuerzahlern zu erreichen, sondern – mit Blick darauf, dass der Gesetzgeber hier versucht, das eigentliche Ungleichbehandlungsproblem zu entschärfen – um ein Handeln in die richtige Richtung. Dies wird insbesondere bei den Erwägungen zur Zinsabschlagssteuer ersichtlich. Die Argumentation des Gerichts lässt sich hier ungefähr wie folgt zusammenfassen: Es ist zwar richtig, dass vielmals der Zinsabschlag in seiner Belastung unter dem persönlichen Steuersatz bleiben dürfte. Das dadurch entstehende Gleichheitsdefizit ist aber immer noch gleichheitsgemäßer, als gar keinen Zinsabschlag vorzusehen.94 Im Ergebnis liegt hierin eine Verbeugung gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber: Je näher sich der gleichheitswidrige Zustand nach dem Willen des Gesetzgebers an die Anforderungen der rechtlichen Gleichheit verschiebt, desto weniger streng wird das BVerfG offenbar in seiner Überprüfung.95
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen: Ein ordnungspolitisches Leitbild für den Schutz der allgemeinen Freiheit im Wettbewerb Die Untersuchung offenbart einen janusköpfigen Umgang des BVerfG mit dem wettbewerbenden Staat: Einerseits verzerrt das BVerfG unter geradezu erstaunlicher Handhabung rechtlicher Funktionalitäten wie der Geltung des Rechts die Gleichheitsgarantie (Zweitregisterentscheidung), andererseits zwingt es den Gesetzgeber in Bereichen, in denen er, wie in der Kapitalertragsbesteuerung, Zurückhaltung übt, geradezu in die Beachtung allgemeinrechtlicher Maßstäbe hinein, indem es völlig
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Deutlich in diese Richtung etwa 2 BvR 2077/05 vom 10. 3. 2008 (Rn. 19 ff.). Vor diesem Hintergrund werden auch die Kritiker des Satzes der 25-prozentigen neuen Abgeltungssteuer, wie sie die Unternehmenssteuerreform 2008 eingeführt hat, wenig Aussicht auf Erfolg haben. Es spricht viel dafür, dass das BVerfG hier seinen pragmatischen Ansatz weiterführt, der den Schwerpunkt darauf legt, dass Kapitalbeträge überhaupt wirksam besteuert werden, selbst wenn immer noch ein gewisses Gleichheitsdefizit zu Steuerzahlern mit leichter nachweisbaren andersartigen Einkünften fortbesteht. Bereits in seiner Zinsentscheidung hat es ja einen entsprechenden Hinweis auf eine definitive Quellensteuer auch schon gegeben (dort Rn. 144). Materielle Gesichtspunkte weisen ferner auf die besondere Inflationsanfälligkeit von Kapitalerträgen hin (vgl. dazu auch Seer, Roman, Datenabruf bei der sog. Kontenevidenzzentrale für steuerliche Zwecke, in: Kirchhof, Paul u. a. (Hrsg.), Steuer- und Gesellschaftsrecht zwischen Unternehmerfreiheit und Gemeinwohl, FS für Arndt Raupach, Köln: Schmidt, 2006, S. 107). Kritisch gegen die Abgeltungssteuer unter Gesichtspunkten der rechtlichen Gleichheit dennoch etwa Englisch, Joachim, Verfassungsrechtliche und steuersystematische Kritik der Abgeltungssteuer, StuW 2007, S. 221; äußerst kritisch unter dem Gesichtspunkt der Fehllenkungswirkungen Kiesewetter, Dirk/Lachmund, Andreas, Wirkungen einer Abgeltungssteuer auf Investitionsentscheidungen und Kapitalstruktur von Unternehmen, in: Die Betriebswirtschaft 2004, S. 395. Allgemein zur Abgeltungssteuer Eckhoff, Rolf, Abgeltungssteuer, 89 Finanzrundschau 2007, S. 989 (Ertragssteuerrecht). 95
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen
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neue und – dogmatisch durchaus waghalsige – Konstruktionen wie das strukturelle Vollzugsdefizit wählt (Rechtsprechung zum Vollzugsdefizit). Die Spannweite des BVerfG ist hier außerordentlich weit. Sie umfasst die Bereitschaft, von der stringenten Lösung allgemeiner Grundrechtsgeltung bereichsspezifisch abzurücken und damit den Grundrechtsstandard im Angesicht der internationalen Märkte teilweise abzubedingen. In seiner Zweitregisterentscheidung legt das BVerfG insoweit einen durchaus zweifelhaften Grundstein. Denn nach dieser Konstruktion weicht das Recht gegenüber dem staatlichen Interesse soweit zurück, wie der Staat sein eigenes – zuvor als legitim anerkanntes – Interesse (im Fall: das Interesse an einer deutschen Handelsflotte und damit am Nicht-Ausflaggen deutscher Schiffe) befriedigen kann. Dass auf dieser Grundlage kaum sinnvolle Rechtsgeltung erzeugt werden kann, ergibt sich fast von selbst. Vielleicht hat es auch deshalb bisher keine Folgeentscheidungen hierzu gegeben. Dennoch aber stellt sich die Frage nach der dogmatischen Bedeutung.96 Daneben aber geht das Gericht (mit seiner Rechtsprechung zum Vollzugsdefizit) über herkömmliche dogmatische Gewissheiten der Gleichheit weit hinaus. Das Gericht verfolgt hier ganz offenbar – jedenfalls auch – einen Weg der Bewusstseinskontrolle. Der Gesetzgeber soll sich danach die Konsequenzen seines wettbewerblichen Handelns genau überlegen. Weiß er, was er tut, und handelt er dennoch in einer Weise, die die Einzelnen nicht gleich behandelt, so lässt das BVerfG sein Handeln passieren. Handelt er demgegenüber in einer Weise, nach der er das gesetzliche Umfeld nicht dem gesetzgeberischen Ziel entspricht und entsteht hierdurch ein Gleichheitsdefizit im staatlichen Handeln, so wirkt das BVerfG dem entgegen. Blickt man aus einer Vogelperspektive auf diese Rechtsprechung des BVerfG, so lässt sich unter Zurückstellung mancher Einzelheiten die These wagen, dass sich das BVerfG bei der Beurteilung von Gleichheitsverstößen einem in aller Bewusstheit wettbewerblich motivierten positiven Tun des Gesetzgebers nicht verschließt und den Weg für echtes demokratisches Entscheiden damit trotz eigentlich bestehender gleichheitsrechtlicher Grenzen freigibt, einem Handeln des Gesetzgebers im Unüberlegten oder gar Ungewollten demgegenüber Schranken auferlegt. Die Konsequenz dessen ist eine Betonung der gesetzgeberischen Verantwortung im Wettbewerb: Der Gesetzgeber soll sich danach sein Handeln im Wettbewerb gut überlegen. 96 Die Entscheidung reiht sich damit ein in die Vielzahl von Entscheidungen, deren dogmatischer Kern im Ergebnis unklar bleibt – eine Entwicklung, die immer wieder beklagt wird, vgl. nur etwa Volkmann, Uwe, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, JZ 2005, S. 261. Das Problem ist freilich ein methodisches und stellt sich damit in den größeren interpretativen Zusammenhang ein, vgl. dazu etwa Herdegen, Matthias, Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, S. 873, der von metakonstitutionellen Interpretationsreserven spricht, die aus dem Gesamtzusammenhang herrühren (S. 878). Durchaus kritischer zu einem Interpretationsholismus demgegenüber Christensen, Ralph/Lerch, Kent D., Dass das Ganze das Wahre ist, ist nicht ganz unwahr, JZ 2007, S. 438. Parallel hierzu ist eine Bindungslockerung zu beobachten, die nicht nur die Verfassungsrechtssprechung verändert, sondern auch die Verfassungsrechtswissenschaft, vgl. Schlink, Bernhard, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtssprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157.
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Ist sein Handeln – nach verfassungsrichterlichen Maßstäben – hinreichend gut überlegt, gibt das BVerfG den Weg frei. Ist das Ergebnis gesetzgeberischen Handelns demgegenüber nolens volens entstanden, so sperrt sich das BVerfG nicht nur gegen das Ergebnis, sondern erhöht auch die Anforderungen an die gedankliche Durchdringung der vom Gesetzgeber geschaffenen oder geduldeten tatsächlichen Situation. So gesehen bewegt sich die Judikatur des BVerfG in der Tat weg von einer substanziell-inhaltlichen Kontrolle hin zu einer bloßen Bewusstseinskontrolle gesetzgeberischen Handelns. Nicht der substanzielle Individualschutz des einzelnen Rechtsträgers steht hier mehr im Vordergrund, auch nicht die materielle Rationalität des Gesetzgebungsergebnisses, sondern die Bewusstseinstiefe des Gesetzgebers: Wo der Gesetzgeber im Wettbewerb bewusst und in voller Anerkennung der Konsequenzen Ausnahmetatbestände schaffen will, wird ihm dies durch das BVerfG erlaubt. Wo er demgegenüber die Dinge lediglich laufen lässt und auf diese Weise ungleiche Belastungserfolge entstehen lässt, weist ihn das Gericht in die Schranken. In der Reduktion verfassungsgerichtlicher Judikatur auf eine bloße Bewusstseinskontrolle des Gesetzgebers ist eine Verschiebung im verfassungsstaatlichen Gefüge zwischen positiver Gestaltungsfreiheit und negativer Abwehr des Einzelnen angelegt. Ihr wohnt eine erhebliche Sprengkraft für das funktionale Verhältnis zwischen Politik und Recht, zwischen demokratisch legitimierter Entscheidung und richterlicher Überprüfung und damit letztlich auch zwischen dem Mehrheits- und dem Minderheitswillen im Verfassungsstaat inne. Denn im Kern bedeutet sie nichts anderes als die Reduktion richterlicher Kontrolle auf einen gesetzgeberischen Konsequenzialismus: Der Gesetzgeber müsste danach das, was er bewirkt, nur auch wirklich bewirken wollen, um einen Verfassungsverstoß zu vermeiden. Nicht mehr geht es darum, die Verfassungsmäßigkeit der Ziel-Mittel-Relation gesetzgeberischen Handelns richterlich zu überprüfen (Verfassungsmäßigkeit des Ziels, des Mittels und der Relation), sondern nur noch darum, Wirkungen gesetzgeberischen Handelns auf ihre gesetzgeberische Gewolltheit hin zu überprüfen (Wille-Wirkung-Relation). Das Wesentliche dabei scheint zu sein, dass nicht mehr die Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Willens selbst überprüft wird, auch nicht jene der Wirkungen gesetzgeberischen Handelns, sondern nur noch jene der Aufeinanderbezogenheit von Wirkung und Wille, eben die gesetzgeberische Gewolltheit der Wirkung – ein verfassungsrechtliches Anforderungsniveau, das bei genauerem Hinsehen geringer allerdings kaum sein könnte. Im Kern liegt hierin eine Verabschiedung substanzieller Überprüfung staatlichen Handelns zu Gunsten einer Effizienzkontrolle gesetzgeberischen Wollens. Das verfassungsrichterliche Vorgehen folgt also durchaus einer inneren Logik, nämlich einer Logik gesetzgeberischer Effizienz im wettbewerblichen Handeln des Staates. In Reaktion auf diese Entwicklung soll der vorliegende Beitrag ein ordnungspolitisches Leitbild entwickeln, anhand dessen das BVerfG seine Entscheidungstätigkeit überprüfen und gegebenenfalls konsolidieren kann. Im Mittelpunkt sollen
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen
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dabei die ordnungspolitischen Grundlagen der Allgemeinheit des Rechts stehen. Sie sollen das Recht – in seiner verfassungsstaatlichen Funktion für den Freiheitsschutz – sozusagen als ein Instrument eines normativen Antiprotektionismus nach Innen97 sichtbar werden lassen.98 Dies verspricht einen stärker übergreifenden Ansatz des Gerichts, der die Wirkungen seiner Entscheidungen nicht nur für den konkreten Fall, sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rechtspflege mit berücksichtigt. Gerade im wettbewerbenden Staat ist innere Rationalität des Rechts ein tragender Pfeiler nicht nur für die Rechtskultur, sondern vor allem auch für die Selbstgewissheit des Rechts. Nur die wirklich durchgesetzte Allgemeinheit des Rechts vermag den manchmal schwerfälligen Verfassungsstaat heil und sicher durch den Wettbewerb zwischen den Staaten zu steuern. Es geht dabei weniger um eine über die Jahre in praktischer Entscheidungstätigkeit immer feiner verästelte Dogmatik einzelner Bestimmungen als um ein kräftiges normatives Leitbild. Denn nur mit einem solchen Leitbild lässt sich der selbst gesetzte Anspruch behaupten, in dem Meer der widerstreitenden wettbewerblichen Interessen den Verfassungsstaat hochzuhalten. Es ist gerade die Allgemeinheit des Rechts, die eine bewusste – und vor allem sich selbst bewusste – Hochhaltung verdient, nicht unähnlich dem Feldherrenzeichen in der Schlacht. Der Ausgangspunkt für ein ordnungspolitisches Leitbild steckt in der Erkenntnis, dass die Allgemeinheit des Rechts – für sich genommen – kein eigenständiger Zweck des Verfassungsstaates ist, sondern lediglich ein (normatives) Instrument für die Erreichung des verfassungsstaatlichen Zwecks des Schutzes der Freiheit. Diese Instrumentalität der Allgemeinheit des Rechts verleiht ihr eine besondere Kraft, weil man sich in der Auseinandersetzung um sie nicht schon auf der Ebene des Ziels streitet, sondern nur auf der Ebene des Mittels.99 Darüber hinaus trägt dieser instrumentelle Charakter der Allgemeinheit des Rechts für den Schutz der Freiheit bereits in sich eine (durchaus verfassungs-)ordnungspolitische Dimension: Der dem Allgemeinen verpflichtete Verfassungsstaat, 97 Die folgenden Überlegungen lassen sich durchaus als Teil einer allgemeinen ordnungspolitischen Aufladung des Verfassungsrechts verstehen. Bemühungen in diese Richtung einer ordoliberalen Verfassungstheorie sind in jüngerer Zeit vor allem von Schaefer vorangetrieben worden, vgl. jüngst Schaefer, Jan P., Ordoliberale Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes, Der Staat 2009, S. 215; in eine ähnliche Richtung etwa Lenski, Sophie-Charlotte, Marktregulierung im Meinungskampf, in: Towfigh, Emanuel V. u. a. (Hrsg.), Recht und Markt, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 97. In diesen Überlegungen ist die Bedeutung der rechtlichen Gleichheit zwar – leider – nicht mit aufgenommen. Die rechtliche Gleichheit lässt sich aber zwanglos in das ordnungspolitische Nachdenken über die Verfassung einfügen und ist für sie wahrscheinlich sogar ein tragendes Gerüst. 98 Der Beitrag soll damit nicht zuletzt auch in die Lücke vorstoßen, die man seit geraumer Zeit in der Wirksamkeit des grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassungsrechts sieht. Die Überlegungen zeigen, dass die – jedenfalls verfassungsrechtliche – Erosion der individuellen verfassungsrechtlichen Berechtigungen doch so groß nicht ist, wie teilweise angenommen, vgl. etwa Ruffert, Matthias, Zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaftsverfassung, 134 AöR 2009, S. 198, 204, 217 ff. 99 Dieser Umstand wird im Folgenden herauszuarbeiten sein.
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
also die normative Einhegung des Staatlichen in Begriffen allgemeiner Freiheit, dürfte – schon auf Grund seiner Gewährleistungsfunktion für freie Märkte – nämlich ein deutlich höheres Wertschöpfungspotenzial haben als eine noch so gut gemeinte staatliche Anmaßung von Wissen darüber, dass der eine Produktionsfaktor nun wichtiger sei als der andere und daher präferenziell attrahiert werden müsse. Der Verfassungsstaat muss, soll er seine ökonomischen Grundlagen zum Nutzen seiner Unterworfenen erhalten können, zwar in der Lage sein, angemessen auf wettbewerbliche Herausforderungen reagieren zu können, insbesondere über den Weg allgemeiner und gleichheitswahrender Gesetze. Diese Wege dürfen aber nicht, jedenfalls nicht ohne tieferen Grund, in einer Verletzung oder gar einem Abbau des Verfassungsrechts liegen. Der Verfassungsstaat muss sich – gerade in marktliberaler und ordnender Perspektive – auch im Wettbewerb vielmehr bemühen, das Verfassungsrecht so weit wie möglich zu wahren, und zwar desto mehr, je herausfordernder Verfügende mobiler Produktionsfaktoren – und mit ihnen der Wettbewerb um ihre Faktoren – dem Staat entgegentreten. Sektorspezifische Besonderheiten dürfen dabei keine Rolle spielen. Der Staat soll nicht in wettbewerblicher Absicht in die Wirtschaft eingreifen, sondern sich darauf beschränken, allgemeine Regeln zu setzen, die es der Wirtschaft ermöglichen, international zu kompetitieren. Der wettbewerbliche Erfolg eines Staates wird sich in Ansehung der Attraktivität der Märkte dann – relativ zu den Erfolgen anderer Staaten – ganz von selber einstellen. Dies ist eines der Erfolgsrezepte des Verfassungsstaates. Er sollte es auch weiterhin beherzigen. So wie man Protektionismus nach außen durch die antiprotektionistische Aufladung grenzüberschreitender Gleichheitsgarantien zu verhindern sucht, kann man auch einem Protektionismus nach Innen entgegenwirken, indem man die Allgemeinheit des Rechts als ein Verbot zur protektionistischen Instrumentalisierung des Staates zu Lasten Einzelner betrachtet, sie sozusagen ordnungspolitisch auflädt. Geht man diesen Weg, so wird die Allgemeinheit des Rechts zu einem – innerstaatlichen – Baustein allgemeiner ordnungspolitischer Freiheitsgewähr. Nur wenn man die Allgemeinheit des Rechts in diesem Sinne ordnungspolitisch auflädt, wird man eine wirklich liberale und damit auch vernünftige Antwort auf die Fragen nach der verfassungsstaatlichen Herrschaft in der staatlichen Faktoroffenheit finden.100 Ausgehend von dieser Überlegung erscheint die Allgemeinheit des Rechts vor allem als Bollwerk gegen den Privilegienstaat, also die Instrumentalisierung des Staates seitens einzelner Interessengruppen zu Lasten Einzelner. Ein Blick in die Verfassungssoziologie zeigt, dass die politiktheoretische Anlage dafür bereits voll entwickelt ist. man muss sie lediglich auf die neueren Herausforderungen anwenden. In der Tat hat bereits Alexis de Tocqueville die Allgemeinheit des Rechts auf ihre verfassungsstaatliche Funktion einer Gleichheit in den Bedin100
Damit lassen sich sogar auch die verschiedenen Gerechtigkeitsebenen, die man gemeinhin in der Gleichheit unterscheidet wiederbeleben, vgl. Heuß, Ernst, Gerechtigkeit und Marktwirtschaft, 38 ORDO 1987, S. 3 (Startgerechtigkeit, Einkommensgerechtigkeit und distributive Gerechtigkeit). Zu dieser Gerechtigkeitsdimension auch Zippelius, Reinhold, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 1994, S. 39.
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen
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gungen zurückgeführt („egalité des conditions“). In der Rückbesinnung auf diese – letztlich anti-protektionistischen – Überlegungen Tocquevilles und der funktionalen Fortentwicklung zu einer „egalité des conditions normatives“ entsteht ein Leitmotiv, an dessen Hauptaussage das BVerfG sich orientieren könnte, um in Zukunft Entscheidungen wie etwa die Zweitregisterentscheidung vermeiden zu können. Zu seiner näheren Entfaltung soll der nun folgende Teil zunächst die instrumentelle Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts für den Freiheitsschutz herausstellen (D.III.1.). Im Rahmen dieser Überlegungen geraten die Tocqueville’schen Vorstellungen von der Gleichheit der Bedingungen dann wie von selbst in den Blick. Sie lassen sich – nicht zuletzt mit Hilfe moderner liberaler Staatstheorie – zu einem Leitmotiv für verfassungsrichterliches Entscheiden gegenüber wettbewerblich motivierter staatlicher Präferenzialität ausbauen, das dem BVerfG nahegelegt sei (D.III.2.). 1. Funktionale Überlegungen zur Allgemeinheit des Rechts als einem Instrument des Freiheitsschutzes Die Herausforderung, die der Wettbewerb zwischen den Staaten für die Allgemeinheit des Rechts bereithält, ist in ihrer verfassungsstaatlichen Bedeutung kaum zu überschätzen. Der Grund hierfür ist einfach: Er liegt in der überragenden verfassungsstaatlichen Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts selbst. Der Verfassungsstaat ist ohne die Allgemeinheit des Rechts schlichtweg nicht denkbar. Denn er ist gewissermaßen in seinem Wesen ein Staat allgemeinen Rechts. Die Allgemeinheit des Rechts gehört – als eine Gewährleistung der allgemeinen rechtlichen Freiheit – nicht nur zu den wesentlichen Gewährleistungen des modernen Verfassungsstaates. Sie ist in ihrer Funktion für die rechtliche Freiheit darüber hinaus auch eine wichtige normativ-instrumentelle Voraussetzung für die Existenz des modernen Verfassungsstaates selbst.101 Die Allgemeinheit des Rechts gehört somit nicht nur zum tragenden Grund des Verfassungsstaates, sondern schwingt sich geradezu zu seinem Ausweis auf, seiner Typenbestimmung, seinem prägenden Begriffsmerkmal.102 101
Vergleichende Überblicke bestätigen denn auch, dass das Recht in den europäischen Staaten nicht ohne Grund eine in recht solider Weise allgemein ist; vgl. im Bereich der Steuerrechtsgleichheit etwa den Sammelband mit detaillierten Zusammenstellungen von Meussen, Gerard T. K. (Hrsg.), The Principle of Equality in European Taxation, Den Haag: Kluwer Law International, 1999. 102 Die Allgemeinheit des Rechts prägt den Verfassungsstaat übrigens unabhängig davon, wie kurz oder weit die Freiheit des Einzelnen im Verfassungsstaat greift oder wie bereichsspezifisch die Freiheit im Einzelnen ausgestaltet ist. In der unterschiedlichen Ausprägung des Freiheitsschutzes wurzeln in der Tat Unterschiede zwischen den modernen Verfassungsstaaten, ohne dass diese deshalb schon aufhörten, Verfassungsstaaten zu sein (die eine Verfassung schützt vor der Todesstrafe, die andere eben nicht, und ist gleichwohl Verfassung). Würden demgegenüber die wie auch immer ausgestalteten Freiheiten des Einzelnen nicht mehr in allgemeiner Weise gewährt, sondern – dem Wettbewerbsparadigma folgend – dem einen mehr, dem anderen weniger, weil es den strategischen Interessen des Staates im Wettbewerb eben gerade so oder morgen eben gerade anders entspricht, dann ist der Verfassungsstaat in seinem Wesen am Ende. Denn er ist seines Kerns beraubt, wenn er in seinem Handeln nicht mehr dem
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Die kategorische Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts ist für den Verfassungsstaat damit übrigens durchaus anders gelagert als etwa die der rechtlichen Freiheit. Denn während die rechtliche Freiheit des Einzelnen ein normatives Ziel des Verfassungsrechts ist, beschränkt sich die Allgemeinheit des Rechts auf die Eigenschaft eines normativen Instruments zu seiner Erreichung. Gerade der tatsächlich erreichbare Zuschnitt der rechtlichen Freiheit ist daher in hohem Maße von ihrer allgemeinen Gewähr abhängig. Rechtliche Freiheit ist gewissermaßen allgemeinheitsbedingt. Die Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts folgt damit aus der Zwecksetzung von Staat und Verfassung selber, also aus dem Zweck des Gesamtphänomens Verfassungsstaat, letztlich also aus dem Zweck der Gewähr individueller Freiheit. Die konstitutive Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts für den Verfassungsstaat lässt sich daher gerade nur im Zweck der rechtlichen Freiheit ermessen. Die Allgemeinheit des Rechts ist insoweit gewissermaßen die rechtliche Grundlage für die Zweckverwirklichung der Freiheit. Damit aber ist sie maßgeblich für die auch tatsächliche Existenz von Verfassungsnormativität. Mit der Allgemeinheit des Rechts steht und fällt die Verfassung gewissermaßen, und mit ihr der Verfassungsstaat.103 In Begriffen von Voraussetzung und Folge mag man es wie folgt formulieren: Je (rechtlich) allgemeiner eine Verfassung ist, desto stärker ist der von ihr verfasste Staat ein Verfassungsstaat. Zur Aufarbeitung der verfassungsstaatlichen Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts bedarf es daher einer näheren Betrachtung dieses Nebeneinanders von Staatszweck und Rechtszweck: Der Staatszweck des Schutzes der Freiheit des Einzelnen lässt sich im Verfassungsstaat (nur) über die Allgemeinheit des Rechts verwirklichen. In dem kategorialen Nebeneinander von staatlichem Zweck (Freiheit als Staatszweck) und rechtlichem Instrument (Allgemeinheit als Instrument des Freiheitsschutzes) offenbart sich aber auch ein kategoriales Nebeneinander von Staatszweck und Rechtszweck. Angesichts dieser Situation soll der freiheitsschützende Zweck des Verfassungsstaates im Folgenden im Lichte der klassischen Staatszweck- und Rechtszwecklehren betrachtet werden (D.III.1.a)). Auf der Grundlage dieser Betrachtung stellt sich dann die Allgemeinheit des Rechts fast wie
Paradigma der allgemeinen Freiheit folgte, sondern – unter Verstoß gegen diese – jenem der Standortstrategie. 103 Dies gilt übrigens auch für den Verfassungsstaat nach angelsächsischer Prägung, der vom Grundsatz der Souveränität des Parlaments geprägt ist. Einführend dazu etwa Hübner, Emil/Münch, Ursula, Das politische System Großbritanniens, 2. Aufl., München: Beck, 1999, S. 33 ff. Parlamentssouveränität bedeutet für das Parlament nämlich nicht die Verfügbarkeit der allgemeinen Freiheit. Sie bedeutet lediglich, dass das Parlament in seinen Entscheidungen auch auf die Allgemeinheit des Rechts hin nicht richterlich überprüfbar ist; näher zum ganzen auch unter dem Gesichtspunkt der EMRK etwa Schirmer, Benjamin, Konsitutionalisierung des englischen Verwaltungsrechts, Göttingen: V&R unipress, 2007, S. 42 ff.; ähnlich Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas, Das Regierungssystem Großbritanniens, München: Oldenbourg, 2006, S. 24 ff.
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen
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von selbst als nichts anderes dar als die bloße Umsetzung des verfassungsstaatlichen Zwecks der Freiheit (D.III.1.b)). a) Der Schutz der Freiheit des Einzelnen als Fundmentalzweck des Verfassungsstaates: Begrenzung von Macht des einen über den anderen Die instrumentelle Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts für den verfassungsrechtlichen Freiheitsschutz stellt die Allgemeinheit des Rechts mitten in das Spannungsfeld zwischen Freiheitsschutz und demokratischer Politikgestaltung hinein. Es manifestiert sich in der Aufgabe des demokratischen Verfassungsstaates: Er soll einerseits politisch gestalten und damit – notwendig – unterschiedliche normative Aussagen treffen, andererseits aber allgemeine rechtliche Freiheit gewährleisten. Das in diesem Rahmen entstehende Spannungsfeld äußert sich nicht nur in der praktischen richterlichen Aufgabe einer Spannungsauflösung (oder besser: ständigen Neuausrichtung), sondern vor allem auch in der Ausgestaltung des Staates als Ganzem. Ideengeschichtlich sind Staat und Recht interessanterweise bisher allerdings recht unterschiedliche Wege gegangen. Staatszwecklehre und Rechtszwecklehre sind gewissermaßen nicht ordentlich aufeinander abgestimmt. Das Bedürfnis nach diesen Lehren und mithin ihr Zweck sind in der Tat immer sehr unterschiedlicher Art gewesen. Dies zeigt schon ein Blick in den funktionalen Zusammenhang. Während es der Staatszwecklehre in erster Linie um die Rechtfertigung staatlichen Seins ging (Schutz vor Dritten)104, machte sich die Lehre vom Rechtszweck vor allem an die Einhegung dieses Staates (Schutz vor dem Staat)105. Im Zweck des Verfassungsstaates konvergieren diese willensschützenden Zwecke zu einem (Gesamt-)Zweck umfassenden Willensschutz durch den und vor dem Staat.106 Das verfassungsstaatliche Zweckverständnis begründet damit einen Zweck des Willensschutzes ganz generell vor Beeinträchtigungen von außen, also seitens Dritter oder seitens des Staates.107 Im Kern erstreckt sich dieser Willensschutzzweck – ganz im Sinne Kants berühmter Rechtsdefinition – also auf die Begrenzung aller Macht des einen über den anderen, also die Begrenzung jeder Art von (sowohl unmittelbar als auch – über den 104
Umfassender Überblick und Einordnung etwa bei Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Berlin: Springer, 1922, S. 184 ff. 105 Ibid., S. 246 ff. 106 Grimm, Dieter, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 11, 14. 107 Dieses Verständnis schließt sich Max Webers berühmter Definition von Macht an, richtet sich an ihr aus und leitet so die Rechtfertigung des Verfassungsstaates im ganzen aus ihr ab. Danach bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“; vgl. Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Aufl. 1972, Studienausgabe, S. 28.
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Staat – mittelbar ausgeübter) durchsetzender Einflussnahme auf den Einzelnen gegen dessen Willen.108 Der verfassungsstaatliche Zweck der Beschränkung von Macht setzt freilich bereits im Menschsein selber an.109 Macht über den Menschen ist nicht die Macht einer Institution oder eines Gottes. Macht über den Menschen ist vielmehr menschliche Macht, also eine Relation zwischen zwei Menschen. Weber definiert sie als Durchsetzungschance, mithin also als Fähigkeit zum willensbrechenden physischen Zwang. Sie ist damit – ganz im Hobbesschen Sinne110 – im Kern der Zwang (die willensbrechende Gewalt) des einen gegen den anderen. In heutigen Zeiten macht sich allerdings kaum mehr einer einen Begriff von solcher Gewalt zwischen Einzelnen. Gerade angesichts des Erfolges moderner Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit setzt man den Verfassungsstaat – als Staat – voraus, ohne ihn weiter zu thematisieren.111 Genau hierdurch aber geht die Vorstellung vom Zweck des Staates und seines Verfassungsrechts verloren. Der Zweck des Rechts leidet gewissermaßen am Erfolg des Rechts selbst.112 Dass hiermit eine Verschiebung, vielleicht sogar eine Gefährdung des verfassungsstaatlich Erreichten 108
In Deutschland hat dieses Verständnis eines umfassenden Freiheitsschutzes (auch und gerade gegenüber dem anderen) vor allem Kant geprägt mit seiner berühmten Definition des Rechts als dem „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann (Hervorhebung JLD)“, so in Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten (1797), in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.), Imanuel Kant, Werke in zehn Bänden, Bd. 7, 1975, S. 337 (AA 6, S. 230). Dazu etwa Rückert, J., Von Kant zu Kant?, in: Alexy, Robert u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002. S. 89, 94 f. 109 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten (1797), in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.), Imanuel Kant, Werke in zehn Bänden, Bd. 7, 1975, S. 345 (AA 6, S. 237): „[…] dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht […]“ (Hervorhebung JLD). 110 Hobbes, Thomas, Leviathan, Stuttgart: Reclam, 1970. 111 Hofmann, Hasso, Von der Staatssoziologie zur Soziologie der Verfassung?, JZ 1999, S. 1065 ff.; Di Fabio, Udo, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Paderborn: Schöningh, 2003, S. 63; zum Staat als einem Fixbegriff des Staatsrechts demgegenüber Möllers, Christoph, Staat als Argument, München: Beck, 2000, S. 297, 424. 112 Dies gilt übrigens, obwohl die moderne Staatsrechtslehre spätestens mit den pluralen Legitimationskonstruktionen Scharpf’scher Prägung mittlerweile ausdrücklich am Menschen ansetzt, nicht am Staat, vgl. vertiefend dazu etwa Schliesky, Utz, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 656 ff. (und S. 744, dort These 77 ff.). Die Konzeptualisierung von Input- und Output-Legitimation erfolgt zwar in der Wirkung von Herrschaft mit einem Bezug auf den einzelnen Menschen, nicht aber in der Ausübung von Herrschaft. Denn die Input-Legitimation betrifft weniger die konkrete Herrschaftsausübung selbst (sozusagen den Wachmann, der den Schlüssel umdreht) als vielmehr die legitimierend wirkende Inklusion des Einzelnen in den demokratischen Prozess durch verfahrensmäßige Beteiligung. Sie erfasst also einen wichtigen Teil demokratischer Legitimation von Herrschaft, jedoch weniger mit Blick auf die konkrete Herrschaftsausübung als vielmehr mit Blick auf die zwar demokratische, jedoch weitgehend abstrakte Beteiligung aller einzelnen an dieser konkreten Herrschaft.
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen
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begründet wird, liegt auf der Hand.113 Es ist eine Sache, den Bürgerkrieg, wie ihn Hobbes beobachtet hat, für beendet zu halten. Es ist eine völlig andere Sache, auch die Gefahrenlage der Instrumentalisierung des Staates selbst aus dem Blickfeld zu verlieren. Wenn das deutsche Grundgesetz Herrschaft so erfolgreich begründet und begrenzt, dass das Gefühl für Macht des einen über den anderen verloren geht, legt es damit nicht zuletzt auch eine Grundlage für den Niedergang. Entformalisierung staatlichen Handelns und Leistungsgrenzen des Rechts sind hier die Stichworte, mit denen man sich dem Phänomen heute nähert.114 Dass diese Diskussion heute geführt werden muss, zeigt, dass man die Gefährdung der Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit gerade mit Blick auf ihren Erfolg zu unterschätzen beginnt. Der Prozess ist schleichend, er kommt nicht von heute auf morgen und kündigt sich auch nicht mit dem großen Paukenschlag an, aber er ist doch vorhanden.115 Die Pluralität verfassungsstaatlicher Zwecke – des Schutzes, der Organisation, des Ausgleichs – lässt sich zurückführen auf diesen einen primordialen Zweck der Beschränkung von Macht, gewissermaßen den Urgrund des Zweckhaften, ohne dessen Setzung das ganze Unternehmen der Verfassungsstaatlichkeit weder vermittel- noch durchsetzbar ist.116 Dieser Urgrund im Zweck sucht Macht zu verhindern, in Anerkennung der tatsächlichen Unmöglichkeit der Verhinderung jedenfalls aber zu begrenzen. Insoweit trägt der Zweck der Begrenzung von Macht bereits die Anerkennung in sich, dass das eigentliche Ziel der Abschaffung von Macht, wie es
113 Das Handbuch des Staatsrechts lässt sich als Versuch bewerten, diesem Schwund von Machtsensibilität auch methodisch entgegen zu wirken. Allerdings bezieht es sich dabei vor allem auf staatliche Macht, also eine Form der Herrschaft, weniger auf Macht schlechthin. Dies mag der eigentliche Grund dafür sein, warum man heute meint feststellen zu können, dass dieses Handbuch mehr für ein politisches denn für ein wissenschaftliches Staatsverständnis stehe und ihm daher eher die Zukunft eines Denkmals einer Wissenschaftlergeneration bevorstehe, eher denn als diejenige eines echten Beitrages zur Staatstheorie, so Möllers, Christoph, Der vermisste Leviathan, Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008, S. 63, 67. 114 Statt vieler nur die Berichte von Matthias Herdegen und Martin Morlok zur Staatsrechtslehrer-Tagung 2002 in St. Gallen zum Beratungsgegenstand Leistungsgrenzen des Verfassungsrechts: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung, VVdStRL, 2003, S. 7 ff. Ruffert, Matthias, Entformalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, DVBl 2002, S. 1145. 115 Der Prozess hat durchaus auch damit zu tun, dass man das Verfassungsrecht mit der Ausweitung von Grundrechtsfunktionen auch überfordern kann. Die Rationalitätsgewinne, die man sich hiervon verspricht, stoßen allerdings schon aus rechtsstrukturellen Gründen auf ihre Grenzen, die ihrerseits Rückwirkungen auf den negatorischen Schutz haben, vgl. schon früh dazu etwa Grimm, Dieter, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 221, 235. 116 Diese Grundlegung des Verfassungsstaates durch die Freiheit verwirklicht sich im Grundgesetz. Interessanterweise vollzieht das Grundgesetz tatsächlich sehr weitgehend die republikanischen Vorstellungen Kants, vgl. etwa Dreier, Horst, Kants Republik, JZ 2004, S. 745.
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etwa in der irreführenden Notion der „Herrschaft der Gesetze“117 zum Ausdruck kommt, nicht erreichbar ist. Macht lässt sich nicht abschaffen. Sie lässt sich vielleicht durch Winkelzüge begrifflich verstecken, mehr schlecht als recht hinwegdefinieren oder durch die Errichtung staatlicher Herrschaft118 eindämmen, wie es der Verfassungsstaat versucht. Verschwunden ist sie deshalb aber nicht. Sie taucht überall auf, wo ihr das Normative nicht mit Zähigkeit entgegengehalten wird. Hierin wird das Instrumentelle des Verfassungsstaates bereits deutlich: Nämlich die Umwidmung bestimmter Formen von Macht zu einem herrschaftlichen Mittel der Verhinderung anderer Macht. Wo sich Macht des einen über den anderen schon nicht vermeiden lässt, soll sie wenigstens beschränkt werden, durch rechtlich gebundene staatliche Herrschaft. Der Zweck des Verfassungsrechts – die Begrenzung von Macht des einen über den anderen – ist dem Staatlichen also vorgelagert, in jenem Sinne nämlich, dass der Staat, erst aus diesem Zweck des Rechts heraus, zu dem wird, was er ist. Er wird zum Instrument des Rechts, weil es ohne den Staat offenbar nicht geht. Der Staat ist dabei – ganz im Schmitt’schen Sinne – zunächst ganz und gar im Recht, insoweit nämlich, als er im Recht überhaupt erst seine Existenz findet. Es ist dies vielleicht die wesentliche Erkenntnis der Schmitt’schen Dreifaltigkeit von Recht – Staat – Einzelnem, nach der der Staat Mittler zwischen den Sphären des Normativen und des Faktischen ist, „Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen.“119 Freilich sind die Grundlagen der Wahrnehmung Schmitts heute überholt: So ist das Recht – auch das Verfassungsrecht – heute nicht so streng naturrechtlich begründet, wie es die Schmitt’sche Unterscheidung zwischen Recht und Macht nahelegt; das Normative hat seine Wurzeln, jedenfalls auch, im Sein, namentlich im Willen. Auch ist nicht alles staatliche Handeln zu apologieren; das Denken vom Staat her ist heute überholt, wie der Übergang von der Verfassungsstaatlichkeit zur Grundrechtsstaatlichkeit deutlich zeigt. Aber das Schmitt’sche Denken vom Staat als Mittler zwischen Recht und (individuellem) Sein weist doch den Weg in das Instrumentelle des Staates: Danach steht das Recht – kategorisch – vor dem Staat, macht ihn sich zur Schöpfung, nicht umgekehrt. Dies bedeutet nicht, dass das Verfassungsrecht Herrschaft (als eine Form von Macht) konstituiert. Es heißt aber, dass es Macht einhegt und begrenzt, indem es bestimmte Formen der 117 Zum Begriff eingehend Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, S. 247 f. Dass der Gedanke der Herrschaft der Gesetze von Beginn an ein vernunftrechtlicher war, zeigt sich etwa bei Welcker, Karl Theodor, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, Gießen, 1813, S. 438. 118 Herrschaft ist – in verfassungsstaatlicher Hinsicht – insoweit ein Gegenbegriff zum Begriff der Macht. Max Weber versteht unter Herrschaft „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhaltes bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“, vgl. ibid., S. 28. Über das Verhältnis von Macht und Herrschaft ist freilich arg gestritten worden. Bezieht man in Gehorsam auch den widerstrebenden Gehorsam mit ein, ist Macht ein Oberbegriff von Herrschaft, Herrschaft ein Phänomen der Macht. 119 Grundlegend hierzu etwa Schmitt, Carl, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Berlin: Dunker und Humblot, 2. Aufl. 2004, S. 56.
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Ausübung von Macht verbietet und dadurch andere Formen der Macht, nämlich staatliche Herrschaft, durch ihr Erlaubtsein legitimiert. Die Begrenzung von Macht setzt eben eine Institution voraus, die dann selber durch Herrschaft gekennzeichnet sein muss. Dies ist weder zu bedauern noch zu kritisieren. Es ist einfach anzuerkennen, solange man sich nicht etwas Besseres hat einfallen lassen. Mit der Instrumentalität des Staates für das Recht wird der Staatszweck in dem Maße, in dem er mit dem Verfassungszweck eine Synthese eingeht, auch Teil des Verfassungszwecks. In ihr schwingt sich die Sicherheit des Einzelnen vor den Bedrängnissen von Seiten Dritter zum Zweck des Verfassungsrechts und damit eben auch zum Zweck des Verfassungsstaates auf. Diese „Hinzuziehung“ des Staatszwecks zum Verfassungszweck konturiert das Instrumentelle des Staates und formt es geradezu aus. Dieser Zusammenhang gerät angesichts der allgegenwärtigen Verengung des Verfassungsrechts auf ein Recht gegen den Staat, wie es in der Entwicklung des Verfassungsstaates hin zum Grundrechtsstaat, der Verfassungswissenschaft hin zur Grundrechtswissenschaft120 zu erleben ist, in Vergessenheit. Und in der Tat verliert man angesichts der historischen Entwicklung, die der Staat genommen hat (erst war Staat, dann Verfassung) den instrumentellen Charakter des Staatlichen leicht aus den Augen. Fast mutet das Verfassungsrecht tatsächlich als ein Recht vor allem gegen den Leviathan an. In dieser Verengung des Zwecks des Verfassungsrechts auf die Begrenzung staatlicher Herrschaft gerät der viel grundlegendere Zweck der Machtbegrenzung gegen jede Art von Macht, also auch gegen die Macht einzelner Dritter, aus den Augen. Diese Verengung des Gesichtsfeldes findet etwa darin ihren Ausdruck, dass man in der so genannten liberalen Grundrechtstradition vor allem staatsabwehrende, nicht aber allgemein machtabwehrende Grundrechtsfunktionen verwurzelt sieht. Es wirkt fast wie eine notwendige (dennoch aber folgenreiche) Konsequenz, dass man die Staatszwecklehre von der Verfassungszwecklehre getrennt hat. Die Staatszwecklehre ist über Jahrhunderte von dem Gedanken eines Fundamentalzwecks von Staatlichkeit geprägt gewesen, namentlich der Sicherheit des Einzelnen vor seinem Nachbarn121, dem sich die Vielfalt weiterer Zwecke untergeordnet hat (Hauptrechtfertigung für den Staat ist bis heute das Bedürfnis nach Sicherheit122). In der Verfassungsrechtslehre taucht dieser Fundamentalzweck der Sicherheit aber allenfalls als ein Zweck unter vielen auf. Nur mühsam wurden in der Dogmatik
120 Zum Begriff näher Jestaedt, Matthias, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999, S. 87 ff. 121 Näher zum Verhältnis der Staatsaufgabe Sicherheit gerade in ihrer Abgrenzung zur rechtlichen Garantie von Sicherheit Möstl, Markus, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 3 ff. 122 Zu den Anforderungen, die dieses Bedürfnis in der heutigen Zeit an den Staat stellt, näher Stoll, Peter-Tobias, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 8 ff.
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Schutzpflichten und Schutzrechte neu begründet123, obwohl gerade sie am Kern nicht nur staatsrechtfertigender, sondern – gerade angesichts der verfassungsrechtlichen Instrumentalität des Staates – auch eminent verfassungsrechtlicher Zwecke liegen. Mittlerweile scheint sogar die damit zwischenzeitlich einhergehende Schutzpflichteninflation zu Gunsten einer Beschränkung auf den Übermaßgedanken zurückzugehen.124 In theoretischer wie dogmatischer Hinsicht überaus fragwürdig ist dabei jedoch, dass man in den vergangenen Jahrzehnten in der Verfassungsrechtswissenschaft – nicht zuletzt wohl angesichts der Komplexität der modernen Verfassungsstaatlichkeit – einen Fundamentalzweck des Verfassungsrechts geradezu überhaupt nicht mehr identifiziert. Der ebenso nutz- wie ergebnislose Streit über „Grundrechtstheorien“ etwa, den man bis in die achtziger Jahre hinein geführt hat,125 ist nur ein Beispiel dafür, wie man sich in der Beliebigkeit von Zwecken auch in dogmatischer Beliebigkeit verstricken kann. Da werden Grundrechtstheorien gegeneinandergestellt, ohne überhaupt nur danach zu fragen, ob es denn einen primordialen Zweck des Verfassungsstaates als ganzem gibt, geschweige denn, worin er liegen könnte.126 Es drängt sich das Gefühl auf, dass hier – ohne Not – einer ausgereiften Verfassungsstaatszwecklehre ein heilloses Durcheinander von Verfassungszwecken gegenübergestellt wird, im Ergebnis damit eine Art organisierter Zwecklosigkeit, die das Verständnis des Verfassungsstaates nicht nur nicht voranbringt, sondern ihm schadet. Die methodische Schieflage zwischen hoch entwickeltem staatstheoretischem Zweck- und Rechtfertigungsdenken einerseits und der Entkoppelung der schier endlosen verfassungsrechtlichen Dogmatik von einer verfassungsstaatlichen 123 Grundlegend dazu noch immer Isensee, Josef, Das Grundrecht auf Sicherheit, Berlin: De Gruyter, 1983; Steiner, Udo, Der Schutz des Lebens durch das Grundgesetz, Berlin: De Gruyter, 1992. Dogmatische Erörterungen etwa bei Hermes, Georg, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, Heidelberg: Müller, 1987; Robbers, Gerhard, Sicherheit als Menschenrecht, Baden-Baden: Nomos, 1987. Zur weiteren Entwicklungsgeschichte und neueren Diskussion näher etwa Cremer, Wolfram, Freiheitsgrundrechte: Funktionen und Strukturen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 258 ff. 124 Hans-Peter Schneider etwa stellt fest, dass der Kulminationspunkt – nicht zuletzt angesichts anhaltender Kritik – mittlerweile offenbar doch überschritten sei, vgl. Schneider, HansPeter, Grundrechte und Verfassungsdirektiven, HGR I (2004), §18, S. 719, Rn. 45. 125 Einen Höhepunkt hat bei diesem „Sammeldenken“ die Zusammenstellung von Grundrechtstheorien durch Ernst-Wolfgang Böckenförde gehabt (Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff.), eine Zusammenstellung von kategorial übrigens völlig Unterschiedlichem (näher: Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt: Suhrkamp, 1994, S. 510). Obgleich sie praktisch keine echte Systematisierungskraft hat, wirkt diese Darstellung bis heute fort, vgl. etwa Krebs, Walter, Rechtliche und reale Freiheit, in: HGR II (2006), § 31, Rn. 13 ff. 126 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl., Frankfurt: Suhrkamp, 1992, S. 115. Äußerst kritisch hierzu nicht unter dem Gesichtspunkt der kategorialen Unterschiedlichkeit des Zusammengestellten sondern gerade auch auf seine partikularethische Begrenztheit Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., Frankfurt: Suhrkamp, 1994, S. 29 ff., 31 (Grundrechtstheorien als „Ein-Punkt-Theorien“).
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Zwecksetzung andererseits ist der verfassungsrechtlichen Instrumentalität des Staatlichen alles andere als angemessen. Die Dogmatik des Verfassungsrechts hat es nicht verdient, auf eine derart unklare verfassungstheoretische Zwecklehre gestellt zu werden. Sie läuft Gefahr, in Beliebigkeit unterzugehen, wenn ihr nicht eine klare Verfassungsstaatszwecklehre vorangeht, also eine Lehre über den kombinierten Zweck von Verfassungsrecht und Staat. Ähnlich wie der Berechtigung des Staates eine ausgeprägte Vorstellung über den Staatszweck zu Grunde zu legen ist, damit sie kraftvoll und richtungsgebend wirken kann, ist auch dem Verfassungsstaat eine klare Verfassungsstaatszwecklehre zu Grunde zu legen, damit die Dogmatik des Verfassungsrechts eine nachvollziehbare Form bekommt. Ihr Fehlen ist einer der wesentlichen Gründe dafür, warum es – gerade in Deutschland – offenbar so schwierig ist, wertsubstanzielle Aussagen zur Verfassungstheorie zu machen.127 In der Zusammenführung von Staatszweck und Verfassungszweck zu einem umfassenden Verfassungsstaatszweck verliert sich die Schwierigkeit wertsubstanzieller Zweckaussagen fast wie von selbst. Der Hauptzweck des Staates, nämlich die Freiheit des einen vor dem anderen, wird vielmehr ganz von sich aus wieder zum Hauptzweck des Verfassungsrechts. Die verfassungsrechtliche Einhegung des Staates im Sinne einer Staatsabwehr erscheint demgegenüber nicht mehr als Hauptaufgabe des Verfassungsrechts, sondern lediglich als „Zwischenaufgabe“ des Verfassungsstaates. Die Einhegung des Staates erscheint in diesem Zusammenhang nicht als ein Zweck an sich, sondern als bloßes Instrument zur Verfolgung des dahinter liegenden Zwecks der Begrenzung von Macht des einen Einzelnen über den anderen Einzelnen. Der Staat reduziert sich in dieser Wahrnehmung von einer – ohnehin schon überhaupt gar nicht denkbaren – Gemeinwohlmacht zu einem Instrument des Rechts, das zwar geschaffen wird zur Begrenzung der Macht Einzelner, seinerseits aber nicht vor Übernahme durch die Interessen Einzelner geschützt ist. Dies setzt freilich voraus, den Staat als Instrument und Ergebnis des Verfassungsrechts entgegen dem landläufigen Verständnis verstehen zu wollen. Ökonomen sehen in diesem Zusammenhang die Dinge interessanterweise übrigens viel klarer als der moderne Verfassungsrechtler, wenn sie von der Gefahr der Bemächtigung des Staates durch Gruppeninteressen sprechen.128 Die Erkenntnisse 127 Auch die Rezeption der bislang herausragenden Werttheorie Alexys (zur Rezeption vgl. etwa Enders, Christoph, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, S. 67 ff.; Cremer, Wolfram, Freiheitsgrundrechte: Funktionen und Strukturen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 220) hat interessanterweise offenbar nicht zu einer stärkeren wertsubstanziellen Aufladung auch der Rechtssprechung selbst geführt. 128 Einen eindrücklichen historischen Abriss hierzu wie auch überhaupt zur Entwicklung des Staates liefert in diesem Zusammenhang etwa Volckart, Oliver, Systemwettbewerb als historisches Phänomen: Das Beispiel Deutschlands vom 10. bis 18. Jahrhundert, in: Streit, Manfred E./Wohlgemuth, Michael, Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 181. Juristen tendieren demgegenüber dazu, Gruppeninteressen vor allem in ihrer normativen Dimension, etwa im Hinblick auf das so genannte Gemeinwohl, zu betrachten. Ausnahmen finden sich etwa bei Arnim, Hans-Herbert von, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt a.M.: Metzner, 1977.
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des politökonomischen Denkens vom Staat, in der Ökonomie alles andere als ein Geheimnis, waren dem juristischen Denken über den Staat nicht immer so fremd wie heute. Im Gegenteil, sie waren der frühen Verfassungslehre durchaus sehr vertraut, wenn naturgemäß auch nicht vor dem Hintergrund ökonomisch fundierter moderner Interessenstrukturtheorie. Die frühe Verfassungstheorie um den altliberalen Verfassungslehrer von Mohl etwa ist viel näher an der Festschreibung des Verfassungszwecks als einem Fundamentalzweck des Verfassungsrechts als die heute dogmatisch so fein ausdifferenzierte, weiten Teils aber der inneren Führung entbehrende Verfassungsrechtswissenschaft.129 Aber auch Hans Kelsen etwa gebraucht sehr deutliche Worte, wenn es um die einfache Nichtexistenz von Gesamtinteressen geht.130 Diese von Ernst Fraenkel und später dann Robert Dahl bekanntlich weiter zu einer echten Pluralismustheorie ausgebaute Erkenntnis131 fällt bei Verfassungsjuristen bis heute aber leider auf recht unfruchtbaren Boden. Vielmehr greift die allgemeine Rede von der Existenz eines Gemeinwohls sogar wieder vermehrt um sich.132 Unter Verfassungsjuristen sieht man heute daher schwer den Wald vor lauter 129 Vgl. nur etwa die – durchaus in den Subsidiaritätsgedanken eingebetteten – Überlegungen als Staatszweck bei Mohl, Robert von, Enzyklopädie der Staatswissenschaften, Freiburg und Tübingen: Mohr, 1872, S. 71 ff. (Fördern als Staatszweck). Dazu und gerade zu der Liberalität Mohlscher Staatslehre etwa Scheuner, Ulrich, Der Rechtsstaat und die soziale Verantwortung des Staates: Das wissenschaftliche Lebenswerk von Robert von Mohl, 18 Der Staat 1979, S. 1, 5. 130 Deutlich in diese Richtung Kelsen, Hans, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen: Mohr, 1911, S. 479. Näher dazu etwa Ooyen, Robert Christian van, Normative Staatslehre in pluralismustheoretischer Absicht: Hans Kelsens Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, in: ders., Politik und Verfassung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, S. 17. 131 Fraenkel, Ernst, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart: Kohlhammer, 1968; Dahl, Robert, Polyarchy, Participation and Opposition, New Haven: YUP, 1972. 132 Einen guten Überblick gibt insoweit der Sammelband von Arnim, Hans Herbert von (Hrsg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, Berlin: Duncker & Humblot, 2004. Kritikwürdig ist dabei nicht einmal so sehr die Rede von der Verpflichtetheit des Staates auf das Gemeinwohl selbst (obwohl auch bei der Konkretisierung dieser Pflicht durchaus erhebliche Schwierigkeiten entstehen), sondern die Annahme einer tatsächlichen Existenz von Gemeinwohl. Schon Schumpeter hat deutlich darauf hingewiesen, dass es „kein solches Ding wie ein eindeutig bestimmtes Gemeinwohl, über das sich das ganze Volk kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könne“, gäbe (vgl. Schumpeter, Joseph A., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Aufl., Tübingen: UTB, 2005, S. 399; ähnlich Downs, Anthony, The Origins of An Economic Theory of Democracy, in: Grofman, Bernard, An Economic Theory of Democracy in Perspective, Michigan: MUP, 1995, S. 197). Dennoch nimmt man weiterhin ohne Rücksicht auf das Wirkliche die Existenz eines solchen Gemeinwohls an, wenngleich sie mittlerweile stärker in der Imaginierung von Gemeinwohl durch den (und im) Einzelnen verwurzelt wird, instruktiv dazu der Sammelband von Münkler, Herfried/ Blum, Harald (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Berlin: Akademieverlag, 2002; kritisch zu dieser vermehrten Benutzung etwa auch Fischer, K., Das öffentliche Interesse am Privatinteresse und die „ausgefranste Gemeinnützigkeit“ – Konjunkturzyklen politischer Semantik, in: Schuppert, Gunnar Folke, Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, WZB Jahrbuch 2002, S. 65. Kritisch zum ubiquitären und letztlich allein rethorisch benutzen Gemeinwohlbegriff im Recht Anderheiden, Michael, Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen: Mohr Siebeck,
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Bäumen.133 Der positivistische Detailreichtum hat in eine Entwicklung geführt, die das Werten und vor allem Be-Werten unterschiedlicher Rechtspositionen im Verfassungsstaat nicht nur nicht fördert, sondern sogar erschwert. Was es braucht ist daher eine Rückkehr zu den Traditionen der altliberalen Verfassungszwecklehre. Der Kern einer solchen Verfassungszwecklehre kann nur in der Herausarbeitung eines – an der Existenz der Interessen Einzelner ausgerichteten – Fundamentalzwecks des Verfassungsrechts liegen. An einem solchen Fundamentalzweck, der nur in der Begrenzung von Macht des einen über den anderen liegen kann, nicht an der Abwehr staatlicher Herrschaft als einem Unterzweck, hat sich alle Dogmatik des Verfassungsrechts zu messen: Die Ausgestaltung des Staates, seine Strukturprinzipien, die Dogmatik seiner rechtlichen Einhegung und ihre Grenzen. Nur so kann die Freiheit des einen Einzelnen vor dem anderen Einzelnen zum Leitbild verfassungsrechtlicher Dogmatik werden, und zwar unabhängig davon, ob er nun unmittelbar oder über den Umweg des Staatlichen bedrängt wird. b) Die Umsetzung des verfassungsstaatlichen Fundamentalzwecks des Freiheitsschutzes: Die Allgemeinheit des Rechts als Instrument Diese Zwecksetzung des Verfassungsstaates – Verhinderung von Macht des einen über den anderen aus Gründen der Freiheit des Einzelnen als verfassungsstaatlicher Fundamentalzweck – hat ihren normativen Ausgangspunkt in der verfassungsrechtlichen Instrumentalität des Staatlichen. Ihren faktischen Ausgangspunkt findet sie demgegenüber in dem ständigen (tatsächlichen) Machtinteresse Einzelner gegenüber anderen Einzelnen. Hier findet also eine Art doppelte Instrumentalisierung des Staates Eingang in die Überlegungen: Zum einen instrumentalisiert das Verfassungsrecht den Staat, um Freiheitsbeschränkungen Einzelner über andere Einzelne zu verhindern. Zum anderen aber sucht der Einzelne den Staat zu instrumentalisieren, um die Herrschaft über den anderen, die ihm durch die Existenz des Staates rechtlicherseits genommen ist, anderweitig auszugestalten oder jedenfalls an ihr zu partizipieren. Der Staat wird so zum potenziellen Opfer von Gruppeninteressen, wenn das Recht diesem Bemühen Einzelner nicht entgegenzuwirken vermag. 2006. Für eine methodische Verstärkung des Gemeinwohldenkens gleichwohl Isensee, Josef, Salus publica – suprema lex?: Das Problem des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, Schöningh, 2006. Einen interessanten normentheoretischen Ansatzpunkt liefert übrigens Schäfer, der – wenn auch ohne weiteren Hinweis auf die juristische Deontik – zwischen permissiven und autoritären Normen unterscheidet und erstere dem Strukturprinzip Markt, letztere dem Strukturprinzip des imaginierten Gemeinwohls zuordnet, vgl. Schaefer, Jan P., „Markt“ und „Gemeinwohl“ als Integrationsprinzipien zweier ineinander greifender Normenordnungen in: Towfigh, Emanuel V. u. a. (Hrsg.), Recht und Markt, Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 117, 127 ff. 133 Vgl. aber die lesenswerten Überlegungen zur Gemeinwohlbestimmung durch Gesetzgebung und Verwaltung etwa bei Hofmann, Hasso, Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls, in: Münkler, Herfried/Fischer, Karsten (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Berlin: Akademieverlag, 2002, S. 25.
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Nur die Verwurzelung des Verfassungsrechts im verfassungsstaatlichen Zweck (also im kombinierten Zweck von Verfassung und Staat) vermag dem Verfassungsrecht daher die Kraft zu geben, die es braucht, um dieser Bemächtigung des Staates durch Sonder- und Gruppeninteressen entgegenwirken zu können. Als derartige Kraftquelle verfassungsrechtlicher Dogmatik eignet sich der allgemeine Machtverhinderungszweck, weil er in einem Urgrund des Menschseins wurzelt, dem auch die hohe Organisierbarkeit von Gruppeninteressen nicht ohne weiteres beizukommen vermag. Dieser Urgrund des Zwecks liegt in der Erkenntnis des Menschen als Menschen.134 Es ist nämlich sein Sein, nicht sein So-Sein, das am Anfang aller verfassungsrechtlichen Normativität steht. Nicht die Umstände des Menschen hat das Recht zum Beginn, sondern sein Menschsein selbst. In dieser Erkenntnis liegt eine kraftvolle Aussage nicht in erster Linie zur Freiheit des Menschen, sondern vor allem zu ihrer allgemeinen Gewähr. Freiheit ist zwar ein wichtiges Ziel verfassungsrechtlicher Normativität, das über das Maß verfassungsrechtlicher Normativität Auskunft zu geben vermag. Das Maß ihrer Gewähr entscheidet immerhin maßgeblich über die Ausgestaltung des Verfassungsstaates. Der Typ des Verfassungsstaates wird – im Unterschied zu unverfasster oder jedenfalls schwach verfasster Staatlichkeit – aber nicht über dieses Maß der Freiheit geprägt, sondern über ihre gleiche Gewähr. Der Verfassungsstaat kann daher ein Mehr oder weniger an Freiheitsschutz gewähren und bleibt doch Verfassungsstaat – gewährt er ihn nicht mehr allgemein, hört er demgegenüber ganz wesentlich auf, Verfassungsstaat zu sein. Damit rückt die allgemeine Gewähr der Freiheit in den Mittelpunkt des Verfassungsrechts.135 Sie wird zum Mittler zwischen dem verfassungsrechtlichen Zweck der Begrenzung von Herrschaft des einen über den anderen und seiner verfassungsrechtlichen Verwirklichung. Doch was bedeutet dies im Einzelnen? Schaut man auf die Anfänge der Verfassung zurück, so fällt vor allem ihre Orientierung am Personsein des Einzelnen statt an seinen Umständen auf. Politik knüpft immer an Umstände an, nie an die Person. Im Verfassungsrecht aber ist es genau umgekehrt: Es knüpft – ganz in der kantischen Tradition – an die Person an, nicht an den Umstand. Der Umstand ist zwar Gegenstand der rechtlichen Bewertung, nicht aber ihre Quelle. In der positiven Anerkennung von Grundrechten wird diese Eigenschaft des Verfassungsrechts besonders deutlich. Sie gründen im Personsein der Person, nicht in ihren Umständen: Das Leben wird nicht als solches geschützt, sondern immer nur in seinem Bezug zur Person, dem lebenden Menschen. Das Eigentum wird nicht als Gegenstand geschützt, sondern als rechtliche Beziehung einer Person zur Umwelt. Die Privatsphäre wird nicht schlechthin geschützt, sondern immer nur in ihrer Bedeutung für die Person. Insofern ist es verkürzend, wenn man 134
Dazu näher etwa Kirchhof, Paul, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HdBStR, 2. Aufl. Bd. V, § 124, Rn. 6 ff. 135 Insofern hat die Präponderanz der Gleichheit im Verfassungsstaat durchaus tiefer liegende Gründe als etwa das Streben nach mehr tatsächlicher Gleichheit im Nachgang der Wiedervereinigung, in diese Richtung aber etwa Kahl, Wolfgang, Neuere Entwicklungslinien der Grundrechtsdogmatik, AöR 2006, S. 579, 589 ff. mwN.
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von dem Schutz „des Lebens“, „des Eigentums“ oder „der Privatsphäre“ spricht. Richtiger müsste man etwa vom Schutz des lebenden Menschen, des Eigentümers, des Privatmenschen sprechen. Aber auch in anderen Bereichen des Verfassungsrechts knüpft das Recht letztlich an die Person an. Das Demokratieprinzip etwa knüpft an den Einzelnen und seine Beteiligung an der Entscheidung über die Auswahl der Herrschenden an, aber nicht deshalb, weil er mit seinen besonderen Fähigkeiten zu dieser Entscheidung besser in der Lage ist als andere Einzelne, sondern deshalb weil er als Person über die Auswahl der Herrschenden mit entscheiden soll, gleichviel ob er nun klug ist oder dumm, schön oder hässlich, arm oder reich. Und schließlich knüpft selbst ein so abstrakter Grundsatz wie etwa die Gewaltenteilung nicht an die Überlegung an, dass geteilte Gewalt bessere oder effizientere Gewalt ist als ungeteilte, sondern daran, dass der Herrschaftsunterworfene – als Person – vor Übergriffen der Herrschaft besser geschützt ist, wenn die Gewalten geteilt (oder wie man heute besser sagt: gegliedert136) sind. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Verfassung in ihren Gehalten nicht auch an das Faktische anknüpfen würde. Im Gegenteil: Verfassungen nehmen typischerweise die Wirklichkeit zu einem guten Teil in sich auf. Sie sind insoweit immer auch Ausdruck von Machtverhältnissen.137 Dieser unleugbare Umstand darf allerdings nicht zu der Annahme verleiten, eine Verfassung schaffe Herrschaftsmacht. Diese – nicht zuletzt auf Hannah Arendt zurückgehende138 – Auffassung ist mittlerweile auch in Deutschland durchaus weit verbreitet.139 Danach seien in der verfassungsstaatlichen Entwicklung zwei Traditionen zu unterscheiden, eine (amerikanische und französische) der Begründung des Herrschaftssubjekts und eine (vor allem deutsche) der Begrenzung und Modifizierung bereits bestehender herrschaftlicher Macht.140 Soweit damit die verschiedenen Traditionen im verfassungsrechtlichen Umgang mit revolutionärer Herrschaft beschrieben sind, mag man dem zustimmen. Erhebliche Zweifel drängen sich jedoch mit Blick auf die behauptete verfassungsrechtliche Herrschaftskonstitutionalisierung, also gerade auf die Schaffung eines Faktums 136 Möllers, Christoph, Gewaltengliederung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; ders., Dogmatik der grundgesetzlichen Gewaltengliederung, 132 AöR 2007, S. 493. 137 Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: HdBStR Band 2, 3. Aufl. 2004, § 115, Rn. 183; Henke, Wilhelm, Der „fließende“ Staat, in: 20 Der Staat (1981), S. 580 ff. Grimm etwa zitiert Lorenz von Stein mit den Worten: Das Verfassungsrecht entsteht nicht aus dem Recht der Gesetze, sondern aus dem Recht der Verhältnisse, näher Grimm, Dieter, Der Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt: Suhrkamp, 1991, S. 101, 140. 138 Arendt, Hannah, Über die Revolution, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg, 1963, S. 183 ff. 139 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 29, 42; Brunkhorst, Hauke, Einführung in die Geschichte politischer Ideen, Stuttgart: UTB, 2000, S. 253 ff. 140 Gute Einführung hierzu etwa bei Möllers, Christoph, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung: Begriffe der Verfassung in Europa, in: Bogdandy, Armin von, Europäisches Verfassungrecht, Berlin: Springer, 2002, S. 1, 3 ff. mwN.
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durch das Recht auf. Normen können tatsächliche Herrschaft nicht in dieser doppelten Weise begründen. Norm und Fakt sind kategorisch völlig unterschiedliche Dinge. Eine Norm kann Normativität, die ihrerseits verhaltensleitend sein kann, erschaffen, nicht jedoch tatsächliches Verhalten an sich. Insbesondere ein Faktum wie Herrschaft lässt sich nicht durch Normen begründen (im Sinne von erschaffen). Vielmehr lässt sich Herrschaft – auch im verfassten Gemeinwesen – allenfalls erkämpfen. Diesem Kampf setzt verfassungsrechtliche Normativität zwar Grenzen; sie ersetzt ihn aber nicht. Dass man bestimmte Machtbefugnisse nach dem Verfassungsrecht ausüben darf, bedeutet nichts anderes, als dass Herrschaftsausübung, die den vorgeschriebenen Regeln nicht folgt, eben (Verfassungs-)Unrecht ist. Hieraus aber zu schließen, dass die Herrschaft selbst – etwa durch ein Organ wie den Bundestag – durch das Recht im wörtlichen Sinne begründet (geschaffen) worden sei, verkennt des herrschaftliche Element im Revolutionären. Die Verfassung ist – ebenso wie die neue (revolutionäre) Herrschaft – Kind der Revolution, nicht ist die revolutionäre Herrschaft Kind der neuen (revolutionären) Verfassung. Dies dürfte insbesondere auch für Verfassungen gelten, die aus der Revolution geboren werden.141 Die Anknüpfung des Verfassungsrechts an das Vorgefundene hat durchaus etwas dialektisches. Die Kategorie des Begrenzens ist in diesem Anerkennen von Macht durchaus eingelagert. Einer liberalen Verfassung jedenfalls ist es eigen, dass es hier letztlich eben nicht um Anerkennung, sondern typischerweise gerade um Begrenzung der staatlichen Macht geht, und sei es um Begrenzung derjenigen Machtformen, die gerade nicht durch die Verfassung anerkannt sind. Verständlich wird die Verfassung typischerweise daher nicht durch einen Blick auf die Aufnahme des Tatsachlichen in das Normative, sondern durch einen Blick auf dessen Begrenzung. Die raison d’être jedenfalls des westlich geprägten Verfassungsrechts liegt in dieser Begrenzung des Anerkannten, nicht in der Anerkennung des Begrenzten. Es ist daher folgerichtig und durchaus nicht ohne verfassungspraktische Stoßrichtung, dass man das Verfassungsrecht heute überwiegend aus der Perspektive des Einzelnen versteht.142 Leitbild ist dabei die Freiheit des Einzelnen, seiner Verwirklichung dient die Allgemeinheit des Rechts: Um der Freiheit der Einzelnen willen gewährleistet der Verfassungsstaat die Allgemeinheit des Rechts.143 Der Staat ist 141 Die Verfassung entsteht aus der revolutionären Gemengelage, nicht umgekehrt. Diskussion hierüber und unter Verweis auf die revolutionäre Herkunft der Verfassung etwas anders etwa Grimm, Dieter, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt: Suhrkamp, 1991, S. 31 ff. 142 Grundlegend Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 1991. Für eine starke liberale Interpretation von Verfassung vgl. jüngst etwa Huster, Stefan, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002 (Hinweis auf die Verfassung als Rahmenordnung bei S. 644 ff.). 143 Diese Bedingtheit der Freiheit durch die Gleichheit wird nicht allgemein anerkannt. Werner Heun spricht lediglich von Kompatibilität. Allenfalls könnten sich bei „insofern etwas unterschiedliche[n] Zielrichtungen“ Freiheit und Gleichheit einander „in der Sicherung der
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zwar das Thema des Verfassungsrechts – es geht ihm um seine Einhegung. Als solches ist er auch der Gegenstand des Verfassungsrechts, nicht aber – ganz im Sinne seines Instrumentalisiertseins durch das Recht – sein Ausgangspunkt. Ausgangspunkt ist vielmehr der Einzelne und von ihm ausgehend seine Freiheit. Freiheit, nicht Herrschaft, ist daher die Grundkategorie des Verfassungsrechts.144 Dies hat einen einfachen erkenntnistheoretischen Grund, der in der verfassungstheoretischen Literatur oft zu kurz kommt: Herrschaft lässt sich nämlich umfassend als Ausübung von Freiheit verstehen, nicht aber lässt sich umgekehrt auch Freiheit umfassend als Ausübung von Herrschaft begreifen. Man kann Freiheit zwar als Ausübung von Herrschaft verstehen. In diesem Sinne der Ausübung von Herrschaft bildet man aber nur einen Teil der Freiheit ab. Ein wesentlicher, ebenso wichtiger Teil der Freiheit ist aber die Freiheit vor Herrschaft.145 Dieser Teil der Freiheit, typischerweise negative Freiheit genannt, lässt sich nicht über die Ausübung von Herrschaft erklären, sondern gerade nur über die Abwesenheit von Herrschaft. Freiheit ist daher schon aus begrifflichen Gründen eine grundlegendere Kategorie als Herrschaft. Es ist dies vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Berlin’schen Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit, wie sie die liberale politische Literatur durchzieht.146 Mit der rechtlichen Freiheit rückt notwendig auch die Allgemeinheit des Rechts in den Blickpunkt des Interesses.147 Denn die Allgemeinheit des Rechts ist untrennbar mit der rechtlichen Freiheit verknüpft.148 Nicht nur in der liberalen politischen Philosophie ist dies seit längerem anerkannt.149 Auch in der Judikatur ist diese enge Verknüpfung seit langem Grundlage des Freiheitsschutzes. Bereits der Reichsstaatsgerichtshof hat dies in seiner Entscheidung über das preußische Wahlgesetz individuellen Freiheitssphären“ wohl „ergänzen“, Heun, Werner, Freiheit und Gleichheit, HGR II (2006), § 34, Rn. 20. 144 Die wohl elaborierteste Darstellung der Gegenthese findet sich bei Schmitt, Carl, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 2. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 2004. 145 Dogmatische Ausarbeitungen hierzu noch immer etwa bei Grabitz, Eberhard, Freiheit und Verfassungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 1976; aus jüngerer Zeit etwa Poscher, Ralf, Grundrechte als Abwehrrechte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003. 146 Die wohl eingängigste Zusammenfassung ist immer noch diejenige von Berlin, Isaiah, Two Concepts of Liberty, in: ders., Four Essays on Liberty, London u. a.: Oxford University Press, 1969, S. 118 ff. Guter und umfassender Überblick zu den verschiedenen politischen Strömungen zur Freiheit etwa bei Silier, Yildiz, Freedom: Political, Metaphysical, Negative and Positive, 2. Aufl., Aldershot: Ashgate, 2005; ferner MacCallum, Gerald C., Negative and Positive Freedom, 76 Philosophical Review (1967), S. 312; Carter, Ian, A measure of freedom, Oxford: OUP, 2004, S. 13 ff. 147 Es geht hier um die rechtliche Gleichheit des einzelnen, nicht um jene föderative Gleichheit von staatlichen Institutionen, vgl. zu letzterem etwa Pleyer, Marcus C., Föderative Gleichheit, Berlin: Duncker & Humblot, 2005. 148 Gerade im Steuerrecht wird dieser Zusammenhang besonders deutlich, für eine Aufarbeitung mit Bezug auf die Unternehmensbesteuerung vgl. etwa Jachmann, Monika, Steuergesetzgebung zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit, Stuttgart: Boorberg, 2000. 149 Guter Überblick etwa bei Vaubel, Roland, The Philosophical Basis of the Free Society, 33 ORDO 1987, S. 21, 25.
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vom 17. Februar 1930 mit folgenden Worten dokumentiert: „In der Reichsverfassung ist klar zum Ausdruck gekommen, dass die Gleichheit aller Staatsbürger den Grundzug der neuen Staatsordnung bildet. [Hervorhebungen JLD)].“150 In dieser Formulierung wird deutlich, dass die rechtliche Gleichheit nicht nur einen (eben wichtigen) Grundzug unter vielen bildet, sondern dass sie eben das Wesentliche der neuen Staatsordnung überhaupt bildet, dass sie eben der Grundzug schlechthin ist. Hier ist also mehr gesagt, als dass die rechtliche Gleichheit wichtig ist. Es ist gesagt, dass sie – um der Freiheit willen – das primordiale Element der Staatsordnung ist, gewissermaßen die Achillesferse des Verfassungsstaates selbst. Was aber für die rechtliche Gleichheit gilt, gilt umso mehr für die normativ viel weniger aufgeladene Allgemeinheit des Rechts. Nicht einzelne Elemente des Rechts, wie etwa der allgemeine Gleichheitssatz, sondern der Staat an sich, also das staatliche Ganze des Verfassungsstaates, ist danach (jedenfalls auch) Ausdruck der verfassungsrechtlichen Behauptung der Allgemeinheit des Rechts. Die wesentlichen Bauelemente des Verfassungsstaates – die Demokratie, der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, der Grundrechtsschutz – sind Ausdruck der Allgemeinheit des Rechts.151 In diesem Sinne ist der Verfassungsstaat ganz wesentlich ein Staat allgemeiner Rechtsgeltung. Dies ist bedeutsam festzuhalten. Denn in der Tat erscheint nicht nur der Staat hierdurch in einem zweckdurchtränkten, also instrumentellen Licht. Auch sind die Bauelemente des Verfassungsstaates selbst, also die einzelnen Normen in ihrem Zusammenspiel, in diesem Lichte des Zwecks zu prüfen. Sie entsprechen nur dann dem verfassungsrechtlichen Auftrag, wenn sie den verfassungsrechtlichen Zweck auch tatsächlich verwirklichen.152 150
StGH 12/28, RGZ 128 Anh. S. 8. Deshalb geht es bei der Freiheit immer auch im selben Atemzug um Gerechtigkeit, vgl. etwa Streit, Manfred E., Freiheit und Gerechtigkeit – Ordnungspolitische Aspekte zweier gesellschaftlicher Grundwerte, 39 ORDO 1988, S. 33. 152 Ein Staatsorganisationsrecht etwa, das die Entformalisierung staatlichen Handelns zulässt, weicht nicht nur die eigenen Anforderungen an das staatliche Handeln auf, sondern widerspricht – über den Widerspruch zur eigenen Zwecksetzung hinaus – auch der rechtlichen Gleichheit. Denn Entformalisierung führt zur besseren Durchsetzbarkeit von organisierbaren (Gruppen-)Interessen gegenüber anderen Interessen und damit zur Verkürzung der rechtlichen Gleichheit der einzelnen. Dogmatisch mag hierin kein Verstoß gegen das Verfassungsrecht liegen. Der Grund hierfür liegt aber nicht darin, dass Entformalisierung gleichheitsneutral wäre, sondern darin, dass die rechtliche Gleichheit im allgemeinen Gleichheitssatz gerade aus Gründen der dogmatischen Reduzierung des Verfassungsrechts als ein Recht gegen den Staat verkürzt ist. Es trägt eine gewisse Absurdität in sich, wenn Entformalisierung unter dem Gleichheitssatz nicht angegriffen werden kann, weil man diesen nur gegenüber staatlichem Handeln für einschlägig hält. Dieser Gesichtspunkt taucht selbst in kritischen Kommentaren gegenüber moderner Entformalisierung freilich – wenn überhaupt – allenfalls im Hintergrund auf, sozusagen als Bewertungsfolie, vgl. etwa den kritischen Text bei Herdegen, Matthias, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL, 2003, S. 7. Deutlich apologetischer gar in Richtung einer allgemeinen Rechtfertigungsdogmatik Morlok, Martin, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL, 2003, S. 37, 67. 151
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Damit deuten sich wichtige kategoriale Unterschiede zwischen der rechtlichen Freiheit und der Allgemeinheit des Rechts an. Zu diesen Unterschieden gehört es, dass die Freiheit des Einzelnen, anders als die Allgemeinheit des Rechts, ein Ziel des Verfassungsrechts ist. Sie ist – in ihrer Zielebene – gewissermaßen das, was, negativ ausgedrückt, die Abwesenheit von Macht ist, und begründet damit den normativen Teil des verfassungsrechtlichen Zwecks der Machtbegrenzung.153 In diesem freiheitsbezogenen Sinne ist ein stark freiheitlich ausgeprägter Staat naturgemäß ein stärkerer Verfassungsstaat als ein weniger freiheitlich ausgeprägter Staat.154 Diese Gewährung von Freiheit im Maße, gewissermaßen das Maßstäbliche der Freiheit, hat die Allgemeinheit des Rechts als deren Grundlage demgegenüber nicht: Die Allgemeinheit des Rechts kann, anders als Freiheit, nicht mehr oder weniger gewährt werden. Sie kann nur entweder bestehen oder eben nicht bestehen. Denn sie ist kein Zweck des Verfassungsstaates, der mehr oder weniger erreicht werden kann, sondern sie ist ein Instrument.155 In ihrer Wahrung wird, ohne dass sie selber Zweck wird, der Zweck der tatsächlichen Freiheit des Einzelnen überhaupt erst verfolgbar. Damit 153 Dieses Zielhafte des Freiheitsschutzes ist in der politischen Freiheitstheorie übrigens viel deutlicher nachgezeichnet als in der Verfassungsrechtsdogmatik. Steht in letzterer der tatsächlich erreichte Freiheitsschutz im Vordergrund (Balance von Individualschutz und seinen Grenzen), ist die politische Theorie der Freiheit von vorneherein aspirativ und – in diesem aspirativen Sinne – dann eben auch normativ, vgl. nur den deutlich das Zielhafte der Freiheit hervorhebende Mill, John Stuart, On Liberty, in: ders., Utilitarianism, London: Dent (Everyman’s Library), 1992, S. 69, 123 ff. 154 Die Trennlinien zwischen starkem und schwachem Freiheitsschutz liegen damit aber noch nicht ganz zu Tage. Hier kommt es vielmehr auf die Strukturen des Verfassungsrechts im Einzelnen an, insbesondere auf das durch sie geprägte Machtverhältnis im Dreieck einzelner – Staat – Dritter. Denn entweder sieht sich der Einzelne – im Angesicht eines schwachen Staates – einem herrschenden Dritten gegenüber, oder aber er sieht sich – im Angesicht eines starken Staates – zwar einer geringen unmittelbaren Gefahr durch Dritte gegenüber, wohl aber der staatlichen Freiheitsbeschränkung, die sich aber bei Lichte besehen durchaus aus durchgesetzten Interessen (anderer) einzelner zusammensetzt. 155 Das Instrumentelle der Allgemeinheit des Rechts wird in der Literatur gemeinhin nicht explizit gemacht, sie schwingt typischerweise aber insofern mit, als regelgerechte Freiheit eben immer auch ein (durchaus kategorischer) Imperativ gegen den Freiheitsträger selbst ist. Leibholz etwa macht – unter Hinweis auf die Simmelsche „maximale Allgemeinheit“ der Freiheit – darauf aufmerksam, dass die normative Freiheit auch immer Gebote gegen sich selbst enthält, eben gerade mit der Folge, dass „jedes vernünftige Wesen die Freiheit, die es für sich in Anspruch nimmt, auch bei den anderen gleichgearteten Wesen voraussetzen muss“, vgl. Leibholz, Gerhard, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl., München: Beck, 1959, S. 21. Es ist gerade dieser Gesichtspunkt der Allgemeinheit des Rechts, also der Allgemeingültigkeit der Freiheit, der der Idee der rechtlichen Freiheit ihre ganze normative Kraft vermittelt. Der kantische Einschlag der Leibholz’schen Betrachtungen lässt sich kaum verhehlen, ist aber nicht notwendig für die politikphilosophische Begründung der Instrumentalität der Gleichheit, vgl. etwa den eher Fraenkel’schen Ansatz bei Koller, Peter, Gleichheit und Pluralismus in politikphilosophischer Perspektive, in: Berger, Peter A./Schmidt, Volker H. (Hrsg.), Welche Gleichheit, welche Ungleichheit?, Grundlagen der Ungleichheitsforschung, Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften, 2004, S. 49, 52 ff. Zum ganzen auch Scholler, Heinrich, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, Berlin: Duncker & Humblot, 1969.
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stellt sich ein kategorialer Unterschied zwischen der rechtlichen Freiheit des Einzelnen und der Allgemeinheit des Rechts deutlich in das Blickfeld: Freiheit wird – als Zweck des Verfassungsrechts – graduell mehr oder weniger verwirklichbar. Der eine Verfassungsstaat gewährt mehr rechtliche Freiheit als der andere und beide sind sie dennoch Verfassungsstaaten. Die Allgemeinheit des Rechts demgegenüber lässt sich nicht im Graduellen oder Relativen verwirklichen, sondern nur im Absoluten.156 2. Die Allgemeinheit des Rechts als ordnungspolitisches Leitbild: Alexis de Tocqueville und die liberale Antwort auf den Wettbewerb zwischen den Staaten Im Lichte dieser Überlegungen leuchtet der eigentliche Zweck der Allgemeinheit des Rechts im Verfassungsstaat auf, nämlich der Zweck der Verhinderung dessen, dass einzelne Herrschaftsunterworfene oder Gruppen von Herrschaftsunterworfenen den Staat für ihre Interessen instrumentalisieren. Der Hintergrund dieser Zwecksetzung ist einfach: Der Staat dient der Verhinderung von Macht des einen über den anderen. Staatliche Herrschaft ersetzt also Machtstrukturen zwischen den Einzelnen. Wo der Einzelne den anderen Einzelnen angesichts der Existenz des Staates nicht mehr unterdrücken kann, versucht er aber gegebenenfalls, sich wenigstens besser zu stellen als die anderen, sich also mittels des Staates über die andern zu erheben. Dies zu verhindern ist der eigentliche Zweck der rechtlichen Gleichheit. Sie soll demokratische Herrschaft – und damit sachlich rechtfertigbare Ungleichbehandlung von Menschen – erlauben, den Schutz der Sonderinteressen Einzelner zu Lasten der anderen aber verhindern. Die Allgemeinheit des Rechts wird so zu einem Instrumentalisierungsverbot, nämlich zu einem Verbot der Instrumentalisierung des Staates durch den Einzelnen. In dieser Zwecksetzung gerät sie allerdings in ein prekäres Verhältnis, das man in ähnlicher Weise auch in der rechtlichen Gleichheit des Einzelnen findet. Sie hat nämlich einerseits die Aufgabe, die Durchsetzung von gruppenspezifischen Sonderinteressen zu verhindern, andererseits aber die Aufgabe, Herrschaft (und damit notwendig die Befriedigung von Interessen) zu ermöglichen. Hierin liegt ein praktisch nicht auflösbarer – allenfalls handhabmachbarer – Widerspruch. Es ist insbesondere die Abgrenzung von Gruppeninteressen, die der Allgemeinheit des Rechts hier Schwierigkeiten aufzwingt, letztlich also die Identifizierung eines Interesses als 156 Übrigens schlägt sich dieser instrumentelle Charakter der Allgemeinheit des Rechts in ihrem Verhältnis zur Freiheit auch in der Auslegung von Gleichheitsnormen wie etwa dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG nieder. So schreibt etwa Hans Peter Ipsen zur Rechtsnatur der Gleichheitsnorm des Art. 3 Abs. 1 GG: „Der Gleichheitssatz ist Emanation und Instrument zur Verwirklichung des allgemeinen Freiheitsrechts und seiner Spezifikationen im Rahmen ihrer Gesetzesvorbehalte“, vgl. Ipsen, Hans Peter, Gleichheit, in: Neumann, Franz L./ Nipperdey, Hans Carl/Scheuner, Ulrich, Die Grundrechte, Berlin: Duncker & Humblot, 1955. Ähnlich etwa Kloepfer, Michael, Gleichheit als Verfassungsfrage, Berlin: Duncker & Humblot, 1980, S. 49.
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Sonderinteresse. Denn was ist ein (Gruppen-)Sonderinteresse und wie unterscheidet es sich von Interessen, die keine solchen Sonderinteressen sind? Dem Problem der Identifizierung und rechtlichen Begrenzung von Sonderinteressen versucht man in der Dogmatik des Gleichheitssatzes mit einer Zweck-MittelRelation zu begegnen. Der Kern dieses Versuches ist die Behauptung, dass nach der Gleichheitsdogmatik die tatbestandliche Gruppenbildung dem verfolgten Regelungsziel entsprechen müsse.157 Diese Behauptung mag sachlich nicht falsch sein. Dogmatisch öffnet sie vielleicht ein Tor zu einem praxisnahen Verständnis des Gleichheitssatzes. In der – auch theoretisch belastbaren – Substanz kommt sie dem Problem der Abgrenzung von Gruppeninteresse und anderen Interessen aber nicht näher. Es bleibt vielmehr die grundsätzliche Frage bestehen, wie denn eigentlich ein Sonderinteresse unter dem Gleichheitssatz als solches identifiziert werden soll. Die Dogmatik gibt hierzu bis heute keine Antwort. Vielmehr bleibt die Vergleichsgruppenbildung im Beliebigen. Die Auswahl des tertium comparationis soll sich zwar am Zweck des staatlichen Handelns orientieren. Dass aber auch dieser typischerweise interessengesteuert ist (etwa durch die Interessen der Träger der Mehrheit) und damit jene behauptete „Objektivität“ der Gleichheitsprüfung nicht sicherstellen kann158, bleibt, man kann es drehen und wenden wie man will, das dogmatische Grundproblem der rechtlichen Gleichheit. Die Allgemeinheit des Rechts geht in diesem Zusammenhang einen anderen Weg als die Gleichheitsdogmatik. Nach einem interessenstheoretischen Verständnis garantiert die Allgemeinheit des Rechts nämlich, anders als die Gleichheitsdogmatik, einen normativen Antiprotektionismus nach innen. Ziel des allgemeinen Rechts ist es danach, Protektionismus nach Innen, also die Durchsetzung der Interessen Einzelner auf Kosten der anderen, über den Weg des staatlichen Handelns zu verbieten.159 Um diese Überlegung einer freiheitswahrenden Begrenzung gesetzgeberischer Spielräume160 näher zu entfalten, soll im Folgenden das zu Grunde liegende Konzept 157 Kirchhof, Paul, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HdBStRV, 2. Aufl. Bd. V, § 124, S. 842, Rn. 10 ff. 158 Einführend in interessensaggregationstheoretische Überlegungen etwa Kevenhörster, Paul, Politikwissenschaft, Band 1: Entscheidungen und Strukturen der Politik, 3. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 265 ff. 159 Dieser Weg geht übrigens über das eher prozedurale Gleichheitskonzept der „geschützten Erwartungen“ von Marmor („protected expectations“) hinaus, das sich offenbar doch eher auf die Situation vor dem Richter (Gesichtspunkt: Rechtssicherheit) denn auf materiale Fragen bezieht, näher Marmor, Andrei, Law in the Age of Pluralism, Oxford: OUP, 2007, S. 183, 189. Er geht eher in Richtung einer ordnungsökonomischen Aufladung der rechtlichen Gleichheit. Damit ist er ein Teil des größeren (und wahrscheinlich sehr viel schwierigeren) Versuches einer ordnungsökonomischen Aufladung der Grundrechte überhaupt – in diese Richtung ambitiös jüngst Schaefer, Jan Philipp, Ordoliberale Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes, 48 Der Staat 2009, S. 215. 160 Im Ergebnis in eine ähnliche Richtung Tipke, Klaus, Mehr oder weniger Entscheidungsspielraum für den Steuergesetzgeber?, JZ 2009, S. 533. Ähnlich etwa Hey, Johanna, BVerfG zur Erbschaftssteuer: Bewertungsgleichmaß und Gemeinwohlzwecke; JZ 2007, S. 565.
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zunächst dargestellt und zu einer Zielstruktur ausgebaut werden (D.III.2.a)). Im Anschluss soll dann festgestellt werden, dass die theoretischen Grundlagen für das so entstehende Leitbild allgemeinen Rechts als einem antiprotektionistischen Instrumentalisierungsverbot schon lange gelegt sind, namentlich seit den Überlegungen von Alexis de Tocqueville zu der Gleichheit der Bedingungen (égalité des conditions). Im Rückgriff auf Tocquevilles Überlegungen entsteht ein starkes Leitbild allgemeinen Rechts, das wettbewerbsmotiviertes staatliches Handeln erlaubt, Sonderwege zu Gunsten einzelner dabei aber verbietet (D.III.2.b)). a) Die innere Struktur der Allgemeinheit des Rechts im Verfassungsstaat: Verbot der Instrumentalisierung des Staates als rechtlicher Antiprotektionismus nach Innen Die Allgemeinheit des Rechts verbietet Protektionismus nach Innen. Ein solches verfassungsstaatsfunktional geprägtes Verständnis der Allgemeinheit des Rechts bedarf freilich der näheren Erläuterung: Denn der Begriff des Protektionismus – wie auch jener des Antiprotektionismus – ist vor allem aus grenzüberschreitenden Zusammenhängen bekannt. Protektionismus bedeutet im grenzüberschreitenden Zusammenhang typischerweise den Schutz einheimischer Industrie vor ausländischer Konkurrenz.161 Kern eines solchen Protektionismus ist es, dass die Staaten die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen – in der Sprache der Ökonomen das so genannte level playing field162 – im Wege eigenen Handelns zum Nutzen der heimischen Industrie verzerren. Ziel ist es dabei, eine Besserbehandlung gegenüber den Wettbewerbern (in diesem Fall: den Teilnehmern von Transaktionen unter ein- und derselben Herrschaftsordnung) zu erreichen, hierdurch einen qualitativen Vorteil zu erzielen und diesen in der Wettbewerbsbeziehung nutzen zu können. Für grenzüberschreitende Wettbewerbsbeziehungen und den staatlichen Umgang mit ihnen ist, etwa im Bereich des Handelsrechts, die Erkenntnis hierüber so gut wie unangefochten.163 Man streitet zwar über Wertungen, wie zum Beispiel, ob und gegebenenfalls wie viel Protektionismus im Einzelfall sinnvoll sein kann (Stichwort etwa
161 Umfassende Einführung etwa bei Bhagwati, Jadish, Protectionism, 8. Nachdruck, MIT Press, 2000. 162 Der Begriff des level playing fields ist ein durchaus normativer Begriff, der in der Ökonomie regelmäßig dann benutzt wird, wenn es um die Forderung gerechter Bedingungen geht, vgl. als jüngeres Beispiel etwa Kapstein, Ethan, Economic Justice in an Unfair World: Towards a level playing field, Princeton, NJ: Princeton UP, 2006. 163 Vgl. statt vieler nur Lowenfeld, Andreas F., International Economic Law, Oxford: OUP, 2003; Guzman, Andrew T./Sykes, Alan O. (Hrsg.), Research Handbook in International Economic Law, Cheltenham: Elgar, 2007; Carr, Indira, International Trade Law, 3. Aufl., Portland: Cavendish, 2005; Chow, Daniel C. K./Schoenbaum, Thomas J., International Trade Law, Aspen Publishers, 2008.
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der so genannten Infant Industries164). Von solchen Fragen über die Bewertung abgesehen sind aber jedenfalls der Begriff des Protektionismus in grenzüberschreitenden Zusammenhängen ebenso wie der richtige Umgang mit Protektionismus weithin unumstritten.165 In innerstaatlichen Zusammenhängen liegen die Dinge freilich etwas anders. Protektionismus ist typischerweise kein Begriff, mit dem man inländische Wettbewerbsbeziehungen beschreibt. Protektionismus nach Innen ist schon gar kein Fachbegriff. Dennoch gibt es solchen Protektionismus, und er hat viel mit grenzüberschreitendem Protektionismus gemein. Auch hier geht es darum, den Staat für die Durchsetzung von Sonderinteressen zu instrumentalisieren, allerdings weniger gegenüber ausländischen als vielmehr gegenüber inländischen Konkurrenten. Protektionismus nach Innen liegt etwa dann vor, wenn es einer Interessengruppe gelingt, ihre Interessen im Wettbewerb mit Hilfe des Staates gegenüber den Interessen anderer inländischer Interessengruppen durchzusetzen. Die Wettbewerbsbeziehung, die hier betroffen ist, setzt nicht einen Wettbewerb im engeren Sinne voraus. Insbesondere bedarf es hier keiner so genannten cross-price elasticity166. Vielmehr ist hier ein weiter Begriff von individuellem Wettbewerb in Aussicht genommen, der die Einzelnen in ihrem Streben (worin dieses auch immer im Einzelnen liegen mag) in eine Beziehung zum Staat setzt. Es geht hier letztlich um einen Wettbewerb zwischen den Einzelnen um staatliche Regelung im Sinne der eigenen Interessen. Die konkreten Zusammenhänge, die die Situation des Einzelnen bestimmen, spielen dabei keine große Rolle. Maßgeblich ist vielmehr allein das Interesse des Einzelnen, den Staat zu einer Regelung zu bringen, die zwar andere belastet (etwa durch höhere Steuern), den eigenen Interessen aber dient. Es geht dem Einzelnen dabei gerade darum, den Staat gerade auf Kosten anderer für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Der Begriff „Wettbewerb um Staatshandeln im eigenen Interesse“ ist hier in einem weiten, funktional-ökonomischen Sinne zu verstehen. Dass es sich bei einem solchen Protektionismus nach Innen tatsächlich um ein Phänomen der Protektion handelt, wird am Beispiel unmittelbar deutlich: Wenn der Staat etwa den Interessen eines bestimmten Sektors – etwa des Transportsektors – präferenziell nachgibt (etwa durch sektorielle Steuerentlastungen), so sind die dadurch entstehenden zusätzlichen Kosten von den anderen mit zu tragen. Der zentrale Gesichtspunkt hier ist, dass der Kostenvorteil Einzelner den anderen als Kostennachteil staatlich aufgebürdet wird. Der Staat schützt hier – und sei es unter noch so 164 Kritische Auseinandersetzung etwa bei Mankiw, Gregory, Principles of Economics, Mason, OH: Cengage, 2008, S. 190 f.; vertiefend Cypher, James M./Dietz, James L., The Process of Economic Development, Oxon: Routledge, 2005, S. 248 ff. 165 Zusammenfassung statt vieler etwa bei Vanberg, Viktor, A Constitutional Political Economy Perspective on International Trade, 43 ORDO 1992, S. 375. 166 Cross-Price Elasticity misst die Elastizität des Preises eines Gutes in Abhängigkeit von dem Preis für ein anderes Gut. Es handelt sich um ein mittlerweile fest etabliertes Instrument zur Einschätzung der Intensität von Wettbewerbsbeziehungen zwischen ungleichen Gütern. Näher zum Ganzen Mankiw, Gregory, Principles of Economics, Mason, OH: Cengage, 2008, S. 99.
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legitimen Zielen – jedenfalls als Nebenfolge auch die Interessen Einzelner auf Kosten der anderen Einzelnen. Dies ist die wichtigste Gemeinsamkeit zum grenzüberschreitenden Protektionismus – auch er bürdet der Allgemeinheit die Kosten für die präferenzielle Entlastung Einzelner auf. Protektionismus nach Innen ist also der erfolgreiche Versuch Einzelner zur Instrumentalisierung des Staates im Lichte des Umstandes, dass der Einzelne – eben angesichts der Existenz des Staates – keine Macht mehr über den anderen Einzelnen ausüben kann. Weil diese Fähigkeit fortgefallen ist, ist er bestrebt, den Staat in (dessen) Herrschaftsausübung für eigene Zwecke zu instrumentalisieren: Weil der Einzelne nicht mehr (ohne den Staat) Macht über den anderen Einzelnen ausüben kann, versucht er nun (mit dem Staat) eine Besserstellung zu erreichen. Einzelne versuchen – etwa über den Zusammenschluss in Verbänden – dabei, möglichst günstige Sonderbedingungen in der Ausübung staatlicher Herrschaft zu erreichen. Phänomene wie etwa der allgegenwärtige Lobbyismus sind danach – jedenfalls dem Grundsatz nach – keine das System störenden Elemente, sondern folgerichtiger Ausdruck der systemtragenden Grundlagen des Staates und der Grenzen des Rechts im Umgang mit ihnen.167 Man kann die Allgemeinheit des Rechts nun als normative Antwort auf diesen Protektionismus nach Innen verstehen.168 Ziel der Allgemeinheit des Rechts ist es danach, solchen Protektionismus nach Innen zu verhindern.169 Die Allgemeinheit des Rechts wird so zu einem normativen Antiprotektionismus nach Innen.170 Gerade diese antiprotektionistische Wirkrichtung der Allgemeinheit des Rechts zeigt die fundamentale Bedeutung der Allgemeinheit des Rechts im Verhältnis zwischen dem Einzelnen, einem anderen Einzelnen und dem Staat. Die Allgemeinheit des Rechts gewährleistet, dass die Freiheit des einen Einzelnen – sowohl in ihrer Wirkung 167 Darstellungen und – tendenziell eher apologetische – Bewertungen etwa in den Sammelbänden von Leif, Thomas/Speth, Rudolf (Hrsg.), Die fünfte Gewalt, Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006; Dagger, Steffen/Kambeck, Michael (Hrsg.), Politikberatung und Lobbying in Brüssel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. 168 Anklänge finden sich insoweit bereits bei Mestmäcker, dem es nicht so sehr um eine staatliche Gegenmacht gegen die wirtschaftliche Macht einzelner geht, sondern „lediglich“ darum, dass der Staat der Entstehung solcher Machtpositionen normativ entgegenwirkt, vgl. Mestmäcker, Ernst-Joachim, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: ders., Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl. Baden-Baden: Nomos, 1984, S. 33, 56. 169 Übrigens nehmen sowohl vertragstheoretische als auch evolutionstheoretische Konzepte etwa Hayekscher Provinienz solch funktionales Denken in Begriffen des Interesses durchaus in sich auf. Sehr schön deutlich wird die Interessensorientierung etwa in der Zusammenfassung bei Hoppmann, Erich, Ökonomische Theorie der Verfassung, 38 ORDO 1987, S. 31. 170 Sie passt sich damit voll ein in die Überlegungen von Schaefer, Jan P., Ordoliberale Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes, Der Staat 2009, S. 215; methodisch vertiefend ders., Grundlegung einer ordoliberalen Verfassungstheorie – die Grundbegriffe des Grundgesetzes in ordoliberaler Interpretation, entwickelt am Beispiel des Verbotes rechtsextremistischer Versammlungen wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Berlin: Duncker & Humblot, 2007.
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gegenüber dem anderen Einzelnen als auch in jener gegenüber dem Staat – tatsächlich in allgemeiner Weise gewährt wird.171 Gäbe es sie nicht, gäbe es keine Freiheit und damit – dies wurde bereits oben erwähnt – auch keine aufgeladene Verfassungsstaatlichkeit. Die rechtliche Freiheit steht und fällt daher mit der Allgemeinheit des Rechts. Allerdings steht auch die Allgemeinheit des Rechts – ähnlich übrigens wir die rechtliche Gleichheit – hier vor einem grundlegenden Problem: Es gibt für den Staat keine Objektivität, so wenig wie es überhaupt im menschlichen Leben Objektivität gibt.172 Schon deshalb gibt es auch kein Allgemeinwohl, auf das der Staat verpflichtet werden könnte. Vielmehr gibt es nur Interessen, die eben gegeneinanderstehen und – in diesem Gegeneinander – staatlich durchgesetzt werden (müssen). Selbst Interessen, die vernünftigerweise alle haben sollten – wie etwa die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen – lassen sich nicht so ohne weiteres zum Allgemeinwohl stilisieren. Denn das Allgemeine mag es normativ geben – im Tatsächlichen findet es sich nicht. Auch eine Rechtsidee ist daher nicht interessefrei. Sie nimmt vielmehr bestimmte Interessen von vorneherein in sich auf und macht sich gerade dadurch zu einer interessensgetragenen Idee.173 Es fordert daher zum Widerspruch heraus, wenn – etwa Kirchhof – behauptet: „Die Zusammengehörigkeit von Tatbestand und Rechtsfolge erscheint […] meist evident, weil der Tatbestand mit Blick auf die Rechtsfolge vom Gesetzgeber erdacht worden ist, die Tatbestandsabgrenzung also allein einer Rechtsidee folgt und deshalb von vorneherein deckungsgleich mit der gemeinten Rechtsfolge ausgestaltet werden kann. (Hervorhebung JLD)“174 Auf diese Weise kann man weder Gleichheitsrechtsprechung noch die hier interessierende Allgemeinheit des Rechts rationalisieren. Man behauptet zwar, es handele sich um einen wertenden Vorgang, reduziert dann die Vergleichsgruppenbildung aber doch auf eine bloße Technik der Vergleichsgruppenbildung, hinter der man die vorgenommene Wertung – als objectivum – gewissermaßen verschwinden lässt.175 Man überspielt damit das Problem, dass auch das Ziel gesetzgeberischen 171 Dies lässt sich bereichsspezifisch herunter brechen, so etwa in der These von Pullmann, dass der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz in die Prüfung entsprechender Positionen mit einfließen müsse, vgl. Pullmann, Tobias, Der verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz im öffentlichen Vergaberecht, Berlin: Duncker & Humblot, 2009. 172 Zu den metaphysischen Zweifeln an der Möglichkeit des Objektiven sehr ausdruckkräftig etwa Marmor, Andrei, Positive Law and objective values, Oxford: OUP, 2001, S. 168 ff. 173 Vielleicht ist dies der überhaupt eigentliche Grund dafür, dass man Zweifel an der Fähigkeit des Rechts zur Eigenständigkeit gegenüber der Ökonomie hat, vgl. Behrens, Peter, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, Politische Ökonomie als rationale Jurisprudenz, Tübingen: Mohr Siebeck, 1986, S. 6 ff. 174 Kirchhof, Paul, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HdBStR, 2. Aufl., Bd. V, § 124, Rn. 13. 175 Das Problem zeigt sich insbesondere in der Bildung desjenigen Merkmals, an Hand dessen man Vergleichsgruppen überhaupt bildet (des tertium comparationis). Um noch einmal
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Handelns interessegesteuert ist. Die bloße Auswahl einer Regelungsmöglichkeit unter anderen Regelungsmöglichkeit kann im Ausnahmefall zwar vielleicht auch einmal wert- und interessefrei sein, wie etwa die Frage, ob man im Verkehr nun grundsätzlich rechts oder links fährt (obwohl selbst solche Fragen nicht ganz wertfrei sind, wie etwa die Kostenstruktur eines Autoherstellers zeigt, der für unterschiedliche Rechtsordnungen Autos produziert). Abgesehen von solchen Ausnahmefragen stechen die Interessen in gesetzgeberischen Zielen typischerweise aber unmittelbar hervor, und zwar unabhängig davon, ob man nun das Material von Feuerwehranzügen, die Form vermarktbarer Gurken, die Höhe der Grunderwerbssteuer oder die Anforderungen an Banküberweisungen gesetzlich festlegt. Alle solche Regelungen (und sogar Fälle der Nichtregelung) haben zur Grundlage Interessen, und zwar nicht erst in der Abstimmung der Rechtsfolge auf das Regelungsziel, sondern gerade auch im Regelungsziel selbst. Das Regelungsziel ist geradezu interessegetragen. Diesen Umstand zu überspielen bedeutet, eine Objektivität einzuziehen, die es in Wirklichkeit nicht gibt.176 Die politische Theorie hat schon lange nachgewiesen, dass solche – sozusagen im Raum stehende und nur aufzunehmende – Objektivität nicht einfach vom Himmel fällt.177 Sie kommt weder aus den Sternen noch aus den Köpfen, sondern ist das – fingierte – Produkt desjenigen, der für seine Entscheidung nicht Gründe, sondern eine ihm irgendwie zwingend erscheinende Rationalität angeben will.178 Man sollte Allgemeinheit des Rechts daher eher funktional beschreiben.179 Kirchhof zu zitieren: „Hat der Gesetzgeber ein verfassungskonformes Regelungsziel – ein legitimes Gesetzgebungsprogramm und die ihm entsprechenden Rechtsfolgen – entwickelt, so ergibt sich daraus der Vergleichsmaßstab (das tertium comparationis), auf den der Tatbestand gleichheitskonform auszurichten ist.“, vgl. Kirchhof, Paul, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HdBStR, 2. Aufl., Bd. V, § 124, Rn. 34. 176 Niemand wird ernsthaft in Zweifel ziehen wollen, dass Richter und Gesetzgeber im Staat unterschiedliche Funktionen haben. Aber die Abgrenzung im Funktionalen ist freilich heillos umstritten. Mal geht es um die Abwehr parlamentarischer Diktatur, mal um diejenige politischer Richter. Ein anspruchsvoller und überaus gelungener systematischer Ansatz von Möllers nimmt die Gewaltenteilung demgegenüber in eine zeitliche Perspektive auf und unterscheidet funktional zwischen (zukunftsgerichteter) Inklusivität der Legislative und (vergangenheitsgerichteter) Exklusivität der Judikative, vgl. Möllers, Christoph, Die drei Gewalten, Weilerswist: Velbrück, 2008. Auch hier ist freilich über manche Undeutlichkeit gebügelt, so etwa den Umstand, dass auch der Richter durchaus zukunftsgerichtet entscheiden kann. 177 Besonders kritisch bekanntermaßen insoweit etwa Dworkin, Ronald, Law as Interpretation, in: Patterson, Dennis, Philosophy of Law and Legal Theory, Oxford: Blackwell Publishing, 2003, S. 374. Vertiefend Marmor, Andrei, Interpretation and Legal Theory, Oxford: OUP, 1992. Demgegenüber behaupten Positivisten bloßer Rechtsanwender sei, vgl. in diese Richtung immer noch vor allem die positivistische Mischtheorie mit psychologischen und soziologischen Elementen von Hart, Herbert L.A., The Concept of Law, Oxford: OUP, 1961, S. 41 ff. 178 Für die Rechtswissenschaft hat vor allem der amerikanische Rechtswissenschaftler Joseph Raz diese Erkenntnis fruchtbar gemacht. Seine Hauptthese geht dahin, dass eine (auch juristische) einheitliche Handlungslogik ihre Grundlage nicht in der deontischen Logik hat, sondern in der Logik der Handlungsgründe, vgl. Raz, Joseph, Praktische Gründe und Normen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006 (dt. Übersetzung). Diese Behauptung hat noch keinen hinreichenden Eingang in die deutsche Rechtswissenschaft gefunden. Ist sie richtig, so würde dies
III. Begründungsansatz für zukünftige Entscheidungen
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b) Die Wurzeln des antiprotektionistischen Instrumentalisierungsverbotes in der politischen Theorie: Alexis de Tocqueville und die égalité des conditions normatives Unter diesen Umständen ist die Allgemeinheit des Rechts – ähnlich wie die Freiheit selbst – eine schon von vorneherein verkürzte Garantie: Sie gewährleistet etwas, was im Verfassungsstaat eigentlich nicht zu erreichen ist.180 Der tiefere Grund hierfür liegt nicht erst, wie man zunächst annehmen möchte, im tatsächlichen richterlichen Entscheiden, sondern bereits in der schwierigen Verwirklichbarkeit normativer Garantien selbst. Politisches Handeln knüpft typischerweise eben an Umstände des Menschen, die Allgemeinheit des Rechts, wie überhaupt grundrechtliche Garantien, demgegenüber aber an sein Menschsein. Nicht nur hat die umstandsorientierte Politik damit ihre Grenzen in der menschenorientierten normativen Garantie. Auch umgekehrt – dies ist Ausfluss des Wesens von Normativität – hat die menschenrechtlich verwurzelte normative Garantie notwendig ihre praktischen Grenzen im umstandsorientierten Handeln des Staates.181
bedeuten, dass der Rechtswissenschaftler in der Tat mehr auf die Handlungsgründe des Richters denn auf die diskurstheoretischen Grundlagen seines Handelns schauen sollte. 179 Damit ist nicht eine Differenzierung nach Funktionsbereichen gemeint, wie sie etwa Kirchhof meint, wenn er die Gleichheit in der Funktionenordnung betrachtet (HdBStR, 2. Aufl., Bd. V, § 125), sondern eine Erkenntnis des Ziels der Allgemeinheit des Rechts in ihrer Funktion für die rechtliche Freiheit. 180 Walter Krebs etwa spricht – mit Bezug auf die Freiheit – etwa von „irrealer Freiheit“ und gar von einem „Kunstprodukt“, Krebs, Walter, Rechtliche und reale Freiheit, in: HGR II (2006), § 31, Rn. 5. Eine solche Unterscheidung zwischen real und irreal ist freilich nur begrenzt zielführend, weil sie die – wichtige – Unterscheidung zwischen tatsächlich und normativ nicht in sich aufnimmt: Die normative Garantie der Freiheit ist – trotz ihrer Unverwirklichbarkeit im Tatsächlichen – normativ durchaus real. Sie existiert im Normativen und man kann sich auf sie berufen, wird aber freilich allenfalls verkürzte Verwirklichungen im Tatsächlichen finden. Diesen Umstand hat sehr viel präziser jüngst Lindner hervorgehoben, der gerade das Transzendentale der über das Wirkliche hinausweisenden grundrechtlichen Position zur Grundlage seiner Theorie der Grundrechtsdogmatik erhoben hat. Zum transzendentalen Charakter normativer Garantien, der in seiner Figur des „status libertatis naturalis fictivus“ zum Ausdruck kommt, sehr instruktiv Lindner, Josef Franz, Theorie der Grundrechtsdogmatik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 112 ff. Die so ermöglichte strikte Auseinanderhaltung von Normativem und Faktischem hat eine Tradition, die schon früher zu erkenntnisreichen Fortschritten geführt hat, vgl. nur etwa die fruchtbare Identifizierung von Verfassungsvoraussetzungen bei Krüger, Herbert, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, FS für Ulrich Scheuner, 1973, S. 285 ff. 181 Hier bestätigt sich übrigens die interessante These von Lieber, der in ausdrücklichem Widerspruch zur habermas’schen radikalen Demokratietheorie dem ordnenden Recht einen (diskursunabhängigen) Eigenwert zuerkennt und damit gerade das Institutionalisierte des Verfassungsstaates von dem demokratischen Prozess, der in ihm stattfindet, abkoppelt, näher Lieber, Thomas, Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 334 ff. Es spricht viel für die These, dass der normstrukturelle Grund für die behauptete demokratieinhaltliche Unabhängigkeit der demokratiegewährleistenden Ordnung gerade darin liegt, dass die (demokratiegewährleistende) Ordnung eben an den Menschen anknüpft, nicht
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Richterliche Zurückhaltung ist daher mehr als nur die allgemein hervorgehobene funktionale Zurückhaltung gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber („judicial self-restraint“).182 Sie ist vielmehr auch schlichter Ausdruck von Praktikabilitätsgrenzen des Grundrechtsschutzes. Politik durch Grundrechtsschutz, wie sie in Thesen wie etwa jener Bullingers über die Grundrechte als „negative Kompetenznormen“ zum Ausdruck kam183 und später in Diskussionen wie jener zur Integrationsfunktion von Grundrechten in Europa eine Neuauflage erfahren hat184, ist daher nicht erst aus Gründen der sachlichen Wünschbarkeit, sondern schon aus Gründen der praktischen Machbarkeit eine Absage zu erteilen. Solche Ideen widersprechen nicht nur dem abwehrenden Gehalt von Grundrechten, sondern auch ihrer Funktionsweise. Dies hat ganz praktische Konsequenzen für den Grundrechtsschutz: Auch eine noch so umstandsorientierte Politik wird nämlich immer Ungleichbehandlungen des Menschen zur Folge haben, weil sie notwendig mit politischer Gestaltung einhergeht. So sehr gesetzgeberisches Handeln nach diesem Umstände-Paradigma auch ausgestaltet ist, wird es daher notwendig ungleich behandelnde Wirkungen haben. Schon aus diesem Grund bedarf es für eine Grundlegung der Allgemeinheit des Rechts einer Verwurzelung in der poltischen Philosophie. Mit Alexis de Tocquevilles soziologischem Ausgangspunkt der Gleichheit in den Bedingungen („égalité des conditions“)185 bietet sich eine solche Wurzel unmittelbar an, ja drängt sich geradezu auf. Der Kern der Tocqueville’schen Beobachtungen findet sich in der Tat in der deterministischen Finalität der historischen Entwicklung: Tocqueville entdeckt nämlich in dem historischen Übergang von der aristokratischen Gesellschaftsform zur Demokratie tatsächlich ein Prinzip, dem die Geschichte offenbar folgt.186 Baut man diese Beobachtung, die die methodische Grundlage in Tocquevilles Werk ist187, von einer soziologischen Einsicht zu einem normativen Substrat aus, lässt sie sich in ein verfassungsstaatliches Leitbild der Allgemeinheit des Rechts geradezu zwanglos
(wie der demokratische Wille) an die (demokratisch gewollten oder jedenfalls zugelassenen) Umstände des Menschen. 182 Jüngere methodologische Aufarbeitung etwa bei Lindner, Josef Franz, Theorie der Grundrechtsdogmatik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 150 ff. 183 Bullinger, M., Die Zuständigkeiten der Länder zur Gesetzgebung, DÖV 1970, S. 761, 773 ff. Zur Rezeption näher etwa Goerlich, Helmut, „Formenmißbrauch und Kompetenzverständnis“, Tübingen: Mohr Siebeck, 1987, S. 43 ff. 184 Vgl. dazu statt vieler nur Bogdandy, Armin von, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel? JZ 2001, S. 157. 185 Tocqueville, Alexis de, Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart: Reclam, 2006, S. 15. 186 Nähere Betrachtung dazu etwa bei Schmidt, Manfred G., Demokratietheorien, Opladen: Leske und Budrich, 3. Aufl. 2000, S. 130. 187 Näher Herb, Karl Friedrich/Hidalgo, Oliver, Alexis de Tocqueville, Frankfurt a.M.: Campus, 2005, S. 32 f.
IV. Verschränkung von wettbewerbender Ordnung und Wettbewerbsordnung
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umgießen.188 In der Tat ist nämlich in der Gleichheit der (normativen) Bedingungen bereits die Allgemeinheit des Rechts mit angelegt. Wenn nämlich Einzelne über andere Einzelne weder direkt noch über den Umweg des Staates Macht ausüben dürfen sollen, dann müssen die Bedingungen ihrer Existenz, insbesondere die Herrschaftsbedingungen, allgemein sein. Die Allgemeinheit des Rechts steht damit nicht nur in einer engen Beziehung zur Demokratie, sondern ist letztlich ihr Ausfluss: Ohne Demokratie ist eine Allgemeinheit des Rechts nicht möglich.189
IV. Konsequenzen für die Verschränkung von wettbewerbender Ordnung und Wettbewerbsordnung Im Rahmen eines solchen verfassungsfunktionalen Leitbildes gesellt sich die Allgemeinheit des Rechts zu den antiprotektionistischen Garantien des Völker- und Europarechts. Das unionale Beihilferecht190 hat ebenso wie das Antisubventionsrecht der WTO191 durchaus annexhafte und damit gegebenenfalls ergänzende Wirkungen für innerstaatliche Gleichheitspositionen.192 Einer besonderen Verschränkung im 188 Ansätze in diese Richtung bereits bei Feldhoff, Jürgen, Die Politik der egalitären Gesellschaft: Zur soziologischen Demokratieanalyse bei Alexis de Tocqueville, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1968. 189 Diese These ist freilich eine voraussetzungsstarke These. Denn sie besagt nicht nur, dass aus demokratischer Gleichheit gleiche Freiheit folgt (vgl. dazu die These 14 bei Möllers, Christoph, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Berlin: Wagenbach, 2008, S. 17), sondern auch, dass nur aus demokratischer Gleichheit gleiche Freiheit folgt. Sie macht damit auf den liberalen Kern der Demokratietheorie aufmerksam, wie ihn etwa auch Downs zur Grundlage seiner demokratieökonomischen Überlegungen herausgearbeitet hat (vgl. Downs, Anthony, An Economic Theory of Democracy, New York: Harper Collins, 1957). Nach dem ökonomischen Modell eines solidarischen Egalitarismus sind die im Rahmen von Internationalisierungsprozessen entstehenden Ungleichheiten gegebenenfalls zu kompensieren, vgl. etwa Cohen, Joshua/Rogers, Joel, Can Egalitarianism Survive Internationalization?, in: Streeck, Wolfgang (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie: Herausforderungen für die Demokratietheorie, Frankfurt a.M.: Campus, 1998, S. 175. 190 Einführende Darstellungen etwa bei Ritter, Fritz/Dreher, Meinrad, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., Heidelberg: Müller, 2008, 710 ff.; Frenz, Walter, Handbuch Europarecht, Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, Berlin: Springer, 2007; Gross, Ivo, Das Europäische Beihilferecht im Wandel: Probleme, Reformen und Perspektiven, Baden-Baden: Nomos, 2004. 191 Einführend etwa Götz, Volkmar/Martinez Soria, José, H., III. Subventionsrecht, in: Dauses, Manfred A. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, EL 18, München: Beck, 2008; Benitah, Marc, The Law of Subsidies under the GAT/WTO-System, London: Kluwer Law International, 2001; Lowenfeld, Andreas F., International Economic Law, Oxford: OUP, 2003, S. 199. 192 Besonders bekannt geworden ist insoweit der Verfassungsfunktionalismus, wie er vor allem in den achtziger Jahren zum GATT-Recht entwickelt wurde, vgl. grundlegend dazu Petersmann, Ernst-Ulrich, Constitutional Functions and Constitutional Problems of Interna-
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Sinne eines irgendwie „kohärenten Mehrebenensystems“, wie es von manchen gefordert wird193, bedarf es im Lichte des hier entwickelten Leitbildes jedoch nicht. Denn echte Kohärenz im Sinne eines in sich widerspruchsfreien Normensystems scheint es zwischen diesen Regimen des WTO-Antisubventionsrechts, des unionalen Beihilfenrechts und der rechtlichen Gleichheit im hier entwickelten Leitbild, soweit ersichtlich, schon zu geben. Kohärenzwidrige echte Normenkollisionen sind zwischen diesen Normenkomplexen bisher jedenfalls nicht erkennbar. Denn ein vernünftiger Kohärenzbegriff kann allenfalls innere Widerspruchsfreiheit zwischen den einschlägigen Normen fordern. Eine solche Widerspruchsfreiheit liegt zwischen den Normensystemen und ihren jeweiligen Einzelnormen aber vor. Insbesondere ist ein Aufeinandertreffen eines Gebotes mit einem Verbot nicht ersichtlich. Die Widerspruchsfreiheit zeigt sich im Einzelnen bereits im Wege einiger weniger deontischer Überlegungen. Nach der deontischen Logik lassen sich die Gehalte von Normen nämlich auf Gebote, Verbote und Erlaubnisse reduzieren194 In dieser Reduktion lassen sich rechtliche Pflichten zwanglos einordnen. Eine Pflicht besteht danach nämlich regelmäßig nur dann, wenn eine Norm, nach der etwas verboten oder geboten ist, Bindungswirkung entfaltet. Besteht eine (Ge- oder Verbots-)Pflicht demgegenüber nicht, ist etwas freigestellt. In diesem Zusammenhang sind nur einige wenige logische Umstände zu beachten. Erstens muss es sich bei dem zu Grunde liegenden normativen Substrat in der Tat um eine Norm handeln, nicht um einen Normsatz.195 Der wesentliche Unterschied zwischen einer Norm und einem Normsatz ist, dass die Norm gilt oder nicht gilt, der Normsatz hingegen weder gelten noch nicht gelten kann, sondern wahr oder unwahr ist. Der Modus der Geltung ist nicht ein Modus des Normsatzes. Rechtliche Pflichten ergeben sich daher nur aus Normen, nicht aus Normsätzen.196 Zweitens ist zu beachten, dass es für das Bestehen einer tional Economic Law: Fribourg: University Press Fribourg, 1991; zur Rezeption etwa Rodi, Michael, Die Subventionsrechtsordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 101 ff. 193 Prominent etwa Mehde, Veith, Wettbewerb zwischen Staaten, Baden-Baden: Nomos, 2005, S. 611 ff. mwN. 194 Einführend etwa Kalinowski, Georges, Einführung in die Nomenlogik, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1972; Kutschera, Franz von, Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen, Freiburg: Alber, 1973. Kritischer Überblick über das Feld der Normenlogik etwa bei Cornides, Thomas, Logik der Normen, in: Winkler, Günther, Rechtstheorie und Rechtsinformatik, Wien: Springer, 1975, S. 67. Vertiefend der Sammelband von Hilpinen, Risto (Hrsg.), Deontic Logic: Introductory and Systematic Readings, Dordrecht: Reidel, 1971. 195 Zur Unterscheidung etwa Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Aufl. 1994, S. 42 mit kurzem Überblick über die Unterscheidung sowie verschiedene Arten in der Literatur, diese zu bezeichnen. 196 Die Unterscheidung ist vorliegend vor allem deshalb von Bedeutung, weil rechtliche Regeln ihren Ausdruck zwar in Normsätzen finden, ihrer Natur nach aber Normen sind. Damit unterschieden sie sich von Normsätzen, die keine Normen in sich tragen, wie zum Beispiel die Aussage eines Anwaltes über eine rechtliche Situation. Eine solche Aussage gilt nicht, selbst dann nicht, wenn sie mit einem Gesetzestext semantisch identisch ist. Sie ist entweder wahr oder unwahr. Es ist eben ein Unterschied, ob der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ im Grundgesetz steht, oder ob dieser Satz so von jemandem geäußert wird. Der Unterschied liegt in
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rechtlichen Pflicht in der Tat ausreicht, wenn eine Norm etwas gebietet oder verbietet, selbst dann, wenn es von einer Vielzahl anderer ebenso geltender Normen erlaubt sein mag.197 Dies führt zu dem für manche erstaunlichen Ergebnis, dass etwas ver- oder geboten sein kann, obwohl es von einer Vielzahl von Normen erlaubt wird. Schließlich ist drittens zu beachten, dass das Erlaubtsein von etwas, das eine Norm ausspricht, mehr ist als die bloße Negation von Gebot oder Verbot. Sie ist nämlich die Negation von Gebot und Verbot. Es ist etwas nämlich dann (und nur dann) erlaubt, wenn es weder verboten noch geboten ist. Es ist dann nämlich positiv und negativ erlaubt. Nach der deontischen Logik ist es dann freigestellt.198 Erst die Freistellung ist also der deontische Ausdruck der Nichtverpflichtung aus einer Norm. Sie ist also ungefähr das, was in dem relationalen Begriffsverständnis Hohfelds das privilege ist.199 Hier nun kommt es zum Kern der Überlegungen zur rechtlichen Kohärenz. Denn echte Kohärenz fordert danach nicht viel. Sie fordert nämlich lediglich Widerspruchsfreiheit der Normen im deontischen Sinne, also das Nichtvorliegen einer Normenkollision. Eine echte Normenkollision liegt danach nicht schon dann vor, wenn manche Normen etwas erlauben, was andere Normen ge- oder verbieten, sondern eben erst dann (und nur dann), wenn verschiedene Normen zugleich etwas ver- und gebieten.200 Es müssen also ein Gebot und ein Verbot von etwas aufeinder Unterscheidung von Norm und Normsatz. Zur Wahrheits-, nicht Geltungsfähigkeit von Normsätzen eindrücklich etwa Koch, Hans-Joachim/Rüßmann, Helmut, Juristische Begründungslehre, München: Beck, 1982, S. 45. 197 Manche sprechen hier von System. Der Systembegriff muss hier jedoch nicht bemüht werden. Es reicht aus, dass andere Normen überhaupt gelten. Eine nähere normlogische Begründung dazu, warum die drei deontischen Operatoren des Gebots, des Verbots und der Erlaubnis mit Blick auf alle geltenden Normen (nach manchen eben das Normensystem), nicht nur auf die einzelne Norm, zu betrachten sind, und dass es bei der Rechtsfindung durchaus dunkle Stellen im Rechtssystem geben kann, deren deontischen Status man nicht kennt, etwa bei Wright, Georg Henrik von, Normenlogik, in: Lenk, Hans (Hrsg.), Normenlogik, Verlag Dokumentation, Pullach bei München, 1974, S. 25, 27 und insbesondere 29. Man mag sie allerdings streiten, ob die Unkenntnis des deontischen Status deshalb besteht, weil man ihn nur nicht kennt, oder weil es ihn nicht gibt. In der Rechtsdogmatik taucht dieses ursprünglich theoretische Problem als praktisches Problem wieder auf, namentlich in dem Zusammenhang der Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung, insbesondere bei der Frage, ob das Recht, wie ursprünglich von Kelsen behauptet, lückenlos ist oder nicht. Grundlegend zum Ganzen immer noch Canaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, Berlin: Duncker & Humblot, 2. Aufl., 1983. 198 Sehr anschaulich zur normativen Bedeutung der Freistellung Alexy, Robert, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2. Aufl., 1994, S. 182 ff., insbesondere S. 185. 199 Näher Hohfeld, Wesley, Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, in: ders., Fundamental Legal Conceptions; New Haven, Conn: Yale UP, 1919, S. 23. Zur Rezeption von Hohfelds Analyse einführend mwN etwa Kramer, Matthew H., Rights in Legal and Political Philosophy, in: Whittington, Keith E. u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, Oxford: OUP, 2008, S. 414. 200 Dass der Begriff der Normenkollision seit längerem bereits auch die Dogmatik des Europarechts beschäftigt, zeigt sich in Beiträgen wie etwa jenem von Schindler, Dierk, Die
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andertreffen, um von einem echten Normenkonflikt sprechen zu können. Das bloße Nebeneinander etwa von Verboten und Erlaubnissen reicht demgegenüber nicht aus.201 Gemessen an diesen recht einfachen deontischen Kohärenzanforderungen ist eine Inkohärenz oder gar eine Normenkollision zwischen WTO-rechtlichen, unionsrechtlichen und grundgesetzlichen Normen beim besten Willen nicht erkennbar. Angesichts dieses Umstandes bedarf es auch keiner weiteren Analyse konkreter Einzelregelungen.202 Vielmehr bedarf es eines bloßen Hinweises darauf, dass die rechtliche Gleichheit – insbesondere im Rahmen des hier entwickelten Leitbildes – ihren antiprotektionistischen Gehalt ja bereits in sich trägt. Ohnehin scheint es bei dem so genannten Kohärenzgedanken eher darum zu gehen, einem irgendwie merkwürdigen Gefühl einer „Verdoppelung“ oder gar „Verdreifachung“203 von Handlungsanordnungen entgegenzutreten.204 Man kann solchem Bestreben getrost entgegenhalten, dass es kaum einen Normenkomplex gibt, der nicht in vergleichbarer Weise verdoppelt oder verdreifacht ist. Man denke nur etwa an das Nebeneinander von Grundrechten im Grundgesetz und in Landesverfassungen. Auch hier führen, insbesondere gegenüber einem Handeln eines Landes, deontische Überlegungen weiter, übrigens auch auf mit Blick auf die Kollisionsdogmatik des Art. 31 GG.205 Im Ergebnis bedarf es daher keiner weiteren Verschränkung der verschiedenen Rechtsebenen. Man kann sie – jedenfalls aus dogmatischer Sicht – getrost nebeneinander bestehen lassen.206 Auch bedarf es unter dem Gesichtspunkt der wettbeKollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, Berlin: Duncker & Humblot, 2001. 201 Dies ist übrigens auch der Grund, warum die Verfassungsverdichtung, die viele im Völkerrecht beobachten, im Hinblick auf die Einbeziehung des einzelnen noch nicht an sich kollisionsrechtliche Bedenken heraufbeschwört. Eine Aufarbeitung dieser völkerrechtlichen Subjektwerdung des einzelnen findet sich etwa bei Dörr, Oliver, „Privatisierung“ des Völkerrechts, JZ 2005, S. 905. 202 Vgl. für das wichtige Feld der Abgrenzung von Handelsliberalisierung und Marktintegration unter dem WTO/GATT-Recht in diesem Zusammenhang beispielhaft aber etwa Duvigneau, Johann Ludwig, Handelsliberalisierung und Marktintegration unter dem WTO/ GATT-Recht, Berlin, 2005. 203 In diese Richtung wörtlich etwa Mehde, Veith, Wettbewerb zwischen Staaten, BadenBaden: Nomos, 2005, S. 615 mwN. 204 Einen eher weiten Begriff des Regelkonflikts verwendet man auch bei der Diskussion um die so genannten Konfliktlösungsregeln, die einen Konflikt lösen sollen, der – in deontischem Licht besehen – eigentlich gar nicht existiert. Ein Beispiel hierfür mit zusammenfassender Diskussion etwa bei Vranes, Erich, Lex Superior, Lex Spezialis, Lex Posterior – Zur Rechtsnatur von „Konfliktlösungsregeln“, 65 ZaöRV 2005, S. 391. 205 Umfassender Überblick hierzu etwa bei Boysen, Siegrid, Gleichheit im Bundesstaat, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 157 ff. 206 Legitimationstheoretisch stellt sich allerdings weiter die Frage nach demokratischer Gestaltbarkeit der Globalisierung, vgl. hierzu aus einer institutionalistischen Perspektive Keohane, Robert O., Sovereignty in International Society, in: Held, David/McGrew, Anthony, The Global Transformationsreader, 2. Aufl., Oxford: Blackwell, 2003, S. 147. Ferner der
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werbenden Ordnung keiner weiteren Berücksichtigung systemwettbewerblicher Belange bei der näheren Ausgestaltung beihilferechtlicher und antisubventionsrechtlicher Regelungen. Man mag sie zwar wettbewerbsordnend aufladen wollen.207 Eine Notwendigkeit hierzu unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Erosion der wettbewerbenden Ordnung besteht jedoch nicht. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass die rechtliche Gleichheit im wettbewerbenden Staat ausreicht, um die nötigen Anpassungsprozesse in der Rechtsordnung in liberal-egalitärer Weise zu flankieren. Sie bedürfen schon von daher keiner weiteren ordnenden Aufladung, zumal ohnehin etwas unklar bleibt, worin denn eine zusätzliche Aufladung in diese Richtung im Einzelnen überhaupt bestehen soll.208 Überblick bei Bogdandy, Armin von, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, 63 ZaöRV 2003, S. 853. 207 In diese Richtung im Hinblick des unionalen Beihilfenrechts schon früh etwa Koenig, Christian/Kühling, Jürgen, Reform des EG-Beihilfenrechts aus der Perspektive des mitgliedstaatlichen Regulierungswettbewerbs, EuZW 1999, S. 517. Zum WTO-Recht in diese Richtung etwa Wurzbacher, Christian, Welthandelsrecht als Wettbewerbsordnung des Systemwettbewerbs, Frankfurt a.M.: Lang, 2008. Der Verfasser empfiehlt hier eher ein sehr punktuelles Vorgehen wie etwa dasjenige der OECD zum schädlichen Steuerwettbewerb, das bekanntermaßen recht erfolgreich verlief (Überblick etwa bei BMF, Monatsbericht November 2008, Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs, zu finden unter www.bmf.de.; Überblick dazu bei Kiekebeld, Ben J., Harmful tax competition in the European Union Code of Conduct, countermeasures and EU law, Den Haag: Kluwer, 2004.) Insoweit lassen sich auch WTOStrukturen nutzen, vgl. etwa Gross, Ivo, Subventionsrecht und schädlicher Steuerwettbewerb: Selektivität von Steuervergünstigungen als gemeinsames Kriterium, RIW 2002, S. 46. Darüber hinaus könnte man zur Entlastung der verfassungsrechtlichen Ordnungen über die Verdichtung verfassungsrechtlicher Homogenität nachdenken, wie sie etwa in den unionalen Homogenitätsklauseln angelegt ist. Darüber hinaus von einem Verfassungsverbund zu sprechen erscheint demgegenüber aber überdehnt, vgl. kritisch etwa Nettesheim, Martin, Europäischer Verfassungsverbund?: Zwischen Selbststand und Amalgamierung der verfassungsrechtlichen Grundordnungen in Europa, in: Depenheuer, Otto u. a., Staat im Wort, FS Isensee, Heidelberg: Müller, 2007, S. 733. Bemerkenswert ist übrigens, dass auch auf der Staatsrechtslehrertagung 2009 in Graz dem Gesichtspunkt einer Wettbewerbsordnung erheblicher Raum gegeben wurde, freilich ohne näher zu statuieren, was eigentlich an Elementen einer solchen Ordnung bereits vorhanden ist und worin der Bedarf für weitere Elemente einer solchen Ordnung liegen könnte. Auch der konkrete Mehrwert blieb völlig offen, wie überhaupt auch die Machbarkeit eher Fragen als Antworten produzierte. Dezidiert kritisch war insoweit übrigens die Aussprache auf der Tagung, wie etwa schon die Wortbeiträge von Meessen (VVDStRL, Band 69, Berlin: De Gruyter, 2010, S. 106) und Pernice (S. 108) zeigen. Zu den Leitreferaten auf der Tagung vgl. i.Ü. oben A.II.2. 208 Es drängt sich übrigens durchaus der Verdacht auf, dass hier tatsächlich eher in Begriffen einer systemwettbewerbsausschließenden denn in einer -ordnenden Richtung gedacht wird. Sehr instruktiv zum Gegeneinander von Vereinheitlichung und Systemwettbewerb insoweit etwa Bührle, Folko, Gründe und Grenzen des „EG-Beihilfeverbots“, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 179; für den Bereich des Steuerrechts etwa Kube, Hanno, Nationales Steuerrecht und europäisches Beihilfenrecht, in: Becker, Ulrich/Schön, Wolfgang (Hrsg.), Steuer und Sozialstaat im europäischen Wettbewerb, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S. 99. Zu der Nivellierung und letztlich dem „Abwürgen“ (so wörtlich) von systemwettbewerblichen Prozessen aus politökonomischer Perspektive sehr eindrücklich und mit Beispielen aus der Beihilfenkontrollpraxis der Unionsorgane ferner Haucap, Justus/Hartwich, Tobias, Fördert oder behindert die Bei-
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Angesichts dieser normativen Sachlage ist übrigens nicht zu erwarten, dass der Wettbewerb zur weiteren Konstitutionalisierung des zwischen- und überstaatlichen Rechts beiträgt. Eher ist eine Stärkung im Profil des Staatsbegriffs zu erwarten.209 Denn der Begriff des Wettbewerbs erscheint in summa eher als Gegen- denn als Komplementärbegriff zum Begriff der Kooperation. Wettbewerb ist, jedenfalls in weiten Teilen, gerade das Gegenteil von Kooperation. Wettbewerb mag zwar von Kooperation abhängig sein, etwa wenn es darum geht, die Voraussetzungen zu schaffen, etwa im Wege der mehrseitigen Öffnung Darüber hinaus bedeutet Kooperation aber gerade den Ausschluss von Wettbewerb. Der Bedeutung des Begriffs der Offenheit selber könnte aber übrigens Verschiebungen erfahren: Hat man unter staatlicher Offenheit bisher vor allem die Kooperationsoffenheit des Staates verstanden210, tritt nun die Faktoroffenheit als Paradigma in den Vordergrund. Kann es sein, dass hier funktional – aller historischen Entwicklung zum Trotz – die Faktoroffenheit der Kooperationsoffenheit mittlerweile den Rang abgelaufen hat? Wird auf diese Weise die Faktoroffenheit – und mit ihr das Paradigma des Wettbewerbs zwischen den Staaten – vielleicht zum bestimmenden Merkmal moderner Verfassungsstaatlichkeit, das die im Anschluss an Vogel211 so viel diskutierte212 Kooperationsoffenheit im Wesentlichen auf ihre Ermöglichungsfunktion reduziert? Hier steht für die Staats- und Völkerrechtswissenschaft in der Tat gegebenenfalls ein Paradigmenwechsel bevor: Zur Erinnerung an die vergangenen Entwicklungen: Die Staats- und Rechtswissenschaften hatten im letzten Jahrhundert zunächst „nur“ einen Übergang von einem mehr oder weniger geschlossenen Staat (eben „dem“ hilfekontrolle der Europäischen Union den (System-)Wettbewerb?, in: Schäfer, Wolf (Hrsg.), Wirtschaftspolitik im Systemwettbewerb, Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 93, bei 114 ff., 121 f. Auch die Vorschläge für ein Weltkartellrecht, wie sie von Basedow und anderen seit geraumer Zeit vertreten werden, haben weniger (system-)wettbewerbsordnende denn ausschließende Wirkung, indem sie nämlich die – ja durchaus anerkennungswürdigen – Ziele weitenteils durch Harmonisierung zu erreichen suchen, also jenem Element, das Systemwettbewerb gerade ausschließt, vgl. etwa Basedow, Jürgen, Weltkartellrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 84 ff.; ähnlich auch in: ders., Globalisierung ruft nach einer Welt-Wettbewerbsordnung, FAZ vom 15. Juli 2000. Ein faktisches Harmonisierungselement findet sich freilich in den vielfältigen Überlagerungen durch die so genannte „Europäisierung“ des staatlichen Rechts, zum Vergaberecht insoweit etwa Dörr, Oliver, Das europäisierte Vergaberecht in Deutschland, JZ 2004, S. 703. 209 Durchaus ganz im Sinne von Mestmäcker, Ernst-Joachim, Die sichtbare Hand des Rechts, in: ders., Recht und ökonomisches Gesetz, 2. Aufl., Baden-Baden: Nomos, 1984, S. 104. 210 Grundlegend dazu Schmidt, Reiner, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: 36 VVDStRL (1978), S. 65 ff. 211 Vogel, Klaus, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, Tübingen: Mohr Siebeck, 1964. 212 Tomuschat, Christian, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HdBStR VII, 1992, S. 483; Hobe, Stephan, Der offener Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, Berlin: Duncker & Humblot, 1998. Einführend etwa Kunig, Philip, Völkerrecht und Staatliches Recht, in: Vitzthum, Wolfgang Graf (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl., Berlin: De Gruyter, 2007, S. 86, 93 ff.
IV. Verschränkung von wettbewerbender Ordnung und Wettbewerbsordnung
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Staat, dessen – relative – Geschlossenheit staatstheoretisch nicht weiter thematisiert wurde) hin zur so genannten offenen Staatlichkeit beobachten können. Die Offenheit der Staatlichkeit hat man in diesem Prozess vor allem in der Offenheit zur Kooperation des Staates gesehen.213 Es handelte sich dabei also um eine „bloße“ Kooperationsoffenheit, also um eine weitgehend inhaltsunabhängige Offenheit, die zwar (über Organisationszusammenhänge) mit Faktoroffenheit zu tun haben kann, jedoch keineswegs mit ihr identisch ist. Verfassungstheoretisch verhandelte man insoweit zunächst Fragen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Verfassungsstaates214, der Kooperativität des Staates in Europa und der Welt215, später der Offenheit zur Integration im europäischen Gemeinschaftsrecht216 bis hin zu den Konstitutionalisierungsdiskussionen, wie sie mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht, später sogar mit Blick auf völkerrechtliche Verträge wie etwas des WTO-Rechts, ihren Lauf nahm. Schaut man auf die Literatur der Staatswissenschaften, hat man daher den Eindruck, der offene Staat sei in seinem Wesen vor allem ein Kooperationsstaat, ein, wie manche sagen, kooperationsoffener Staat, mittlerweile nicht nur nach außen217, sondern, über Veränderungen auch der Verfassungsrealität, auch nach innen218. Man versucht dies mittlerweile in einer Rechts- und Verfassungslehre offener Staaten zu fassen.219 Doch was, wenn die Offenheit nicht nur in die Kooperation führt, sondern vor allem in den Wettbewerb, namentlich den Wettbewerb mit anderen Staaten? Was, wenn der Kooperationsstaat nur die eine Seite der Offenheit bildet, deren andere
213 Vgl. etwa Hillgruber, Christian, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), HdBStR, Band II, 3. Aufl., Heidelberg: Müller, 2004, § 32, S. 929. 214 Statt vieler Bleckmann, Albert, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1979, S. 309. 215 Besonders prägnant etwa Häberle, Peter, Der kooperative Verfassungsstaat, in: Kaulbach, Friedrich/Krawietz, Werner, Recht und Gesellschaft, FS Schelsky, Berlin: Duncker & Humblot, 1978, S. 141. Staatliche Kooperativität in diesem Sinne ist nicht zu verwechseln mit Konzepten politikwissenschaftlicher Provenienz zu einer so genannten Korporativität; dazu näher etwa Dederer, Hans-Georg, Korporative Staatsgewalt, Tübingen: Mohr Siebeck Siebeck, 2004 und Becker, Florian, Kooperative und konsensuale Strukturen der Normsetzung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005. 216 Zusammenfassend zum damaligen Stand etwa Steinberger, Helmut, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: 50 VVDStRL 1991, S. 9 ff. 217 Dazu mit Blick auf die Verwaltungskooperation etwa Möllers, Christoph, Transnationale Behördenkooperation – Verfassungs- und völkerrechtliche Probleme transnationaler administrativer Standardsetzung, 65 ZaöRV 2005, S. 352. 218 Überblick etwa in den VDStRL-Tagungsberichten von Mathias Herdegen und Martin Morlok 2002 in St. Gallen zum Thema der Leistungsgrenzen des Rechts: Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 2003, Bd. 62, jeweils S. 7 und S. 37. 219 Vor allem Di Fabio, Udo, Das Recht offener Staaten, Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998; ders., Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001.
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D. Die Allgemeinheit des Rechts im wettbewerbenden Verfassungsstaat
Seite der Wettbewerb ist?220 Die Faktoroffenheit stellt hier den Staat vielleicht vor ungleich größere Herausforderungen als die Kooperationsoffenheit.221 Jedenfalls dürften sie jenen der Kooperation in ihrer Größe und Bedeutung nicht nachstehen. In vielerlei Hinsicht sind sie nicht nur deren notwendige Ergänzung, sondern darüber hinaus – phänomenologisch, nicht historisch – vielleicht sogar deren Grundlage. Man kann sich in der Tat nämlich fragen, ob nicht die Kooperation in der Offenheit vielleicht doch nur ein Sonderfall eines größeren Paradigmas ist, dessen allgemeinerer Wesenszug gerade nicht die Kooperation, sondern der Wettbewerb ist. Was, wenn die so viel thematisierte Kooperation weiten Teils nur die Ausnahme, vielleicht sogar nur das Instrument zur Herbeiführung einer Situation des Wettbewerbs ist, darüber hinaus aber allenfalls dazu angetan, den Wettbewerb auszuschließen oder bereichsspezifische regulative Lösungen zu finden? Dieser Blick auf die Zusammenhänge von Kooperation und Wettbewerb, ja sogar vielleicht auf das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen Kooperation und Wettbewerb, mag aus historischen Gründen lange verstellt geblieben sein, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil die Faktoroffenheit typischerweise erst über Kooperation (namentlich antiprotektionistische Kooperation) erreicht wird, und im Übrigen auch nur langsam durchsetzbar ist, Schritt für Schritt, nicht von heute auf morgen, sondern in einer Entwicklung, die Jahrzehnte währt und bis heute nicht abgeschlossen ist. Vielleicht steckt die Faktoroffenheit ja selber noch in ihren Kinderschuhen? Je faktoroffener die Staaten allerdings werden, und je stärker diese Faktoroffenheit sich durch die grenzüberschreitende Bewegung der Faktoren selbst mit Leben erfüllt, desto stärker gerät – phänomenologisch – das Regel-Ausnahme-Verhältnis in den Blick. Im einem weitgehend faktoroffenen Staat erscheint Kooperation dann nicht mehr als Ausnahme von der Geschlossenheit, mithin als Weg in die Offenheit, als Öffnungsprozess, sondern vor allem auch als Ausnahme zum Wettbewerb, als ein Handeln in der Offenheit, das paradigmatisch gegebenenfalls viel weitere Felder abdeckt als alle materielle und prozedurale zwischenstaatliche Kooperation zusammen.
220 Dies würde übrigens auch ein neues Licht auf den ethischen Gehalt der Ordnung werfen, vgl. etwa Kadelbach, Stefan, Ethik des Völkerrechts unter Bedingungen der Globalisierung, 64 ZaöRV 2004, S. 1. 221 Eine Ahnung der einfachrechtlichen Breite dieses Phänomens erhält, wer die Vielfalt der Parameter und Eckpunkte betrachtet, die die Offenheit für die praktische und politische Vernunft in Europa und Deutschland einfordert, etwa bei Stürner, Rolf, Markt und Wettbewerb über alles?, München: Beck, 2007, S. 169 ff.
E. Zusammenfassung und Thesen Mit ihrer zunehmenden Offenheit für mobile Produktionsfaktoren entsteht zwischen den Staaten ein Wettbewerb um diese Faktoren. Treiber dieses Wettbewerbs ist das Interesse der Staaten an der Produktivmachung im eigenen Herrschaftsbereich. In der normativen Ökonomie betrachtet man diesen Wettbewerb schon seit längerem. Die Wissenschaft vom einfachen Recht schließt sich dem in ihrem Interesse mittlerweile an. Man erkennt, dass die offenheitsgetragene Mobilität von Faktoren einen faktischen Freiheitsgewinn bedeutet, der sich der staatsbegrenzenden Normativität des Rechts zur Seite stellt. Mit der derart bewirkten Verstärkung der normativen Freiheit durch den Wettbewerb sind allerdings Änderungen in der Rechtskultur verbunden. Die Staaten passen mittlerweile nicht mehr nur ihr Steuer- und Gesellschaftsrecht an, sondern weiten ihr wettbewerbssensitives Handeln auf weite Bereiche staatlichen Handelns aus, wie die neueren Entwicklungen etwa im Umweltund Produktionsrecht oder gar im Beamtenrecht (Professorenbesoldung mit Sonderregelungen für international gefragte Professoren) zeigen. Darüber hinaus werben Staaten heute mit effizienten staatlichen Strukturen und preisen ihre Rechtssysteme an. Ganze Handlungsbereiche werden so zu staatlichen Instrumenten im Wettbewerb. Doch wie weit geht diese Entwicklung? Erfasst sie neben dem einfachen Recht auch das Verfassungsrecht – und wenn, dann wie? Die Staats- und Verfassungsrechtslehre steht erst am Beginn der Beschäftigung mit diesem Thema. Es steht im Raum, dass das Paradigma des Wettbewerbs die verfassungsrechtliche Einhegung des staatlichen Herrschaftsanspruchs nicht nur unterstützt, sondern ihr offenbar auch entgegenläuft. Man befürchtet eine Erosion des Verfassungsrechts, die gerade deshalb besonders relevant sei, weil der eingehegte Staat der einzig zur Verfügung stehende Garant des Wettbewerbs ist. Stellte er sich selbst in den Wettbewerb, wer sollte den Wettbewerb zwischen den Einzelnen – und viel weitergehend noch: Das Recht überhaupt – dann noch ordnen und schützen? Vor dem Hintergrund dieser Vertrauensfrage an die staatliche Leistungsfähigkeit im Wettbewerb zwischen den Staaten beobachtet man ganz konkrete Herausforderungen der modernen Verfassungsstaatlichkeit mit einem gewissen Unbehagen, insbesondere, soweit sie das Demokratieprinzip, die Rechts- und Sozialstaatlichkeit, den Grundrechtsschutz und damit weite Teile des Identitätskerns des Verfassungsrechts betreffen. Schon finden sich die ersten, die nach einer internationalen – oder jedenfalls europäischen – Wettbewerbsordnung rufen und gar bereits Bausteine einer „Kohärenz der Ordnungen“ entdeckt haben wollen. Die vorliegende Arbeit stellt sich dieser insgesamt doch recht unspezifischen verfassungsrechtlichen Diskussion entgegen. Es ist zwar richtig, dass der Wettbe-
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E. Zusammenfassung und Thesen
werb die Grundanliegen der modernen Verfassungsstaatlichkeit – die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, den Freiheitsschutz – nicht nur verstärkt, sondern potenziell auch angreift. Der Anreiz zur verfassungsrechtlichen Erosion in diesen Bereichen ist auch durchaus spürbar und für die Identität des Verfassungsstaates, also seine Kernbestandteile, sogar überaus relevant. Denn er trifft den Verfassungsstaat in einem seiner Fundamente. Die Herausforderung, die der wettbewerbliche Anreiz zur verfassungsrechtlichen Erosion bereithält, ist allerdings eine sehr spezifische, und vor allem: Sie ist – bereichsübergreifend – immer dieselbe. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsschutz sind nämlich in der Tat nicht per se durch den Wettbewerb kontranormativ betroffen, sondern immer nur in einem ganz bestimmten Aspekt, nämlich dem Aspekt der Allgemeinheit des Rechts. Zu diesem Schluss muss kommen, wer die Funktionalität des Wettbewerbs genauer betrachtet. Die moderne Wettbewerbsanalyse hilft hier weiter: Insbesondere weist sie mit ihren Hirschman’schen Begriffen von exit, voice und loyalty auf das eigentliche Problem, vor dem der Verfassungsstaat steht. Sie zeigt nämlich, dass nicht eine Wanderungsbewegung selbst (im vorliegenden Fall: der grenzüberschreitende exit), sondern bereits die bloße Möglichkeit einer solchen Wanderung (die so genannte exit-option) die Durchsetzungsfähigkeit von Sonderinteressen (voice) stärkt. Es bedarf zur Stärkung von voice also gerade nicht eines exit, sondern lediglich des staatlichen (optionsgetragenen) Glaubens an einen bevorstehenden exit. Dass diese (allein optionsgetragene) Verstärkung der Durchsetzungskraft der verfassungsstaatlichen Anlage in allen ihren wichtigen Bereichen (Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit) entgegenläuft, liegt auf der Hand: Die Anerkennung der Allgemeinheit des Rechts steht dem im Wettbewerb angelegten Anreiz zur präferenziellen Rücksichtnahme entgegen, der gegenüber jenen besteht, an deren Faktoren der Staat ein Interesse hat und die wirksam mit der Abwanderung ihrer Faktoren drohen können. Die Anwendung Hirschman’scher Wettbewerbsanalytik auf den Verfassungsstaat als Wettbewerber zeigt aber nicht nur, wo die wesentlichen wettbewerblichen Friktionen zwischen dem Wettbewerb und dem Verfassungsrecht liegen. Sie weist auch den Weg, den die Verfassungsrechtslehre in der weiteren Analyse beschreiten sollte: Statt sich – je nach Sachlage und politischer Ausrichtung – in immer neuen pro- oder kontrafaktischen Stellungnahmen gegenüber dem Wettbewerb in der einen oder anderen Weise in Position zu bringen, bedarf es einer Analyse der verfassungsrechtlichen Reaktion auf die spezifische wettbewerbliche Herausforderung. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch einer solchen Rechtsanalyse am Beispiel des deutschen Verfassungsstaates. Das Ergebnis mag für manche erstaunlich sein: Das BVerfG hat trotz der frühen Entscheidung für die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes einen recht genauen Blick für die wettbewerbliche Herausforderung des Rechts. Seine Rechtsprechung rammt – nicht zuletzt über den Begriff des strukturellen Vollzugsdefizits – Pflöcke gegen wettbewerblich motivierte Ungleichbehandlungen ein. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, wie etwa die Zweitregisterentscheidung.
E. Zusammenfassung und Thesen
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Angesichts dieser Sachlage plädiert die Arbeit für eine Rückversicherung über den Sinn und die grundlegende Bedeutung, die die Allgemeinheit des Rechts gerade für den liberalen Verfassungsstaat hat. Dabei geht sie auch gleich den ersten Schritt: Sie entwickelt ein ordnungspolitisches Leitbild der Allgemeinheit des Rechts, das zum verfassungspolitischen Streit herausfordern soll. Der Kern dieses Leitbildes, das sich in der politischen Ökonomie des Verfassungsrechts übrigens bis auf Alexis de Tocquevilles liberale Demokratiebeobachtung zurückführen lässt (Stichwort: égalité des conditions), liegt in einem ausgeprägten rechtlichen Antiprotektionismus nach innen. Die Allgemeinheit des Rechts erhält so die Funktion eines Instrumentalisierungsverbotes: Verboten ist danach die (binnenprotektionistische) Instrumentalisierung des Staates durch einzelne Herrschaftsunterworfene oder Gruppen von Herrschaftsunterworfenen zu Lasten dritter Herrschaftsunterworfener. Wird ein solches Leitbild umgesetzt, bedarf es – jedenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen – einer weitergehenden Ordnung des Wettbewerbs nicht mehr. Vielmehr darf man davon ausgehen, dass das eigentliche Potenzial zum Schutz des Verfassungsrechts vor dem Wettbewerb gerade in der verfassungsrechtlichen Ordnung selber angelegt ist (Gedanke der Dezentralität der Wettbewerbsordnung). Das Beispiel des deutschen Grundgesetzes lässt jedenfalls die Hoffnung zu, dass das einzelstaatliche Verfassungsrecht, so denn nur die richtigen Bedingungen dafür vorliegen, für den dezentralen Selbstschutz durchaus stark genug sind. Im Einzelnen lassen sich abschließend folgende Thesen formulieren: *
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Die deutsche Staatsrechtswissenschaft steht erst am Beginn der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die der Wettbewerb zwischen den Staaten für den Verfassungsstaat bereithält. Ihr fehlt bis heute ein klarer und analysefähiger Begriff des Wettbewerbs. Statt sich im Verein mit Nachbarwissenschaften über den faktischen Kern des wettbewerblichen Phänomens klar zu werden, zeigt sie Tendenzen, den Wettbewerb zu normativieren. Die damit verbundenen Entfaktisierungsbemühungen (Entseiung) können nicht zu einem problemadäquaten Analyserahmen führen, weil sie sich dem Problem schon im Ansatz gegenüber nicht öffnen, sondern es – über die Normativierung – hinwegzudefinieren versuchen (B.I.). Der Wettbewerb zwischen den Staaten lässt sich für die Ziele und Bedürfnisse der Staatsrechtslehre begrifflich sinnvoll nur in seiner ausgeprägten Faktizität erfassen. Denn die Kontrafaktizität des Rechts lebt von der Erkenntnis des Faktischen, also von dem, gegen das es sich wendet. Betrachtet man den Wettbewerb unter diesem Gesichtspunkt, so muss man konzedieren: Der Wettbewerb ist in aller erster Linie ein Interessensphänomen. In seinem Kern lebt er nämlich von dem – faktischen – Interesse des offenen Staates an mobilen Produktionsfaktoren: Dem Staat geht es darum, am Wertschöpfungsprozess beteiligt zu sein (inter-esse = dazwischen sein: d. h. die Hände dazwischen haben). Ihm geht es um Gewinne, die er für sich und den so genannten Standort aus dem Produktionsprozess schöpfen
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E. Zusammenfassung und Thesen
kann. Die Anerkennung dieses Umstandes muss in der Staatsrechtslehre notwendig zu einer Refaktisierung des Begriffs führen, für die man – jedenfalls bedingt – Anleihen an die normative Institutionenökonomie fruchtbar machen kann (B.II.). *
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Neben dem derart zu berücksichtigenden Interesse des Staates am mobilen Faktor ist auch die Diversität staatlichen Handelns ein begriffskonstituierendes Merkmal des Wettbewerbs zwischen den Staaten (B.III.). Im Ergebnis ist Wettbewerb zwischen den Staaten danach ein tatsächliches Phänomen, das dadurch entsteht, dass zwei oder mehr Staaten ihr Interesse an der staatlichen Teilhabe an einem Produktionsprozess, an dem ein oder mehrere wertschöpfungsträchtige Produktionsfaktoren beteiligt sind, im Wege staatlichen Herrschens über den Faktorverfügenden befriedigen wollen (B.IV.). Der in einem derartigen Wettbewerb stehende moderne Staat verändert sein herrschaftliches Wesen. War der Staat traditionell das Phänomen einer Kombination vielfältigen situativen, gleichwohl organisierten Befehlens und Gehorchens, kann der offene Staat den mobilen Einzelnen nicht mehr gegen seinen Willen unterwerfen: Aus der staatlichen (Fremd-)unterwerfung wird vielmehr die individuelle Selbstunterwerfung. Der Wille des Einzelnen zur Selbstunterwerfung wird seinerseits zur Bedingung offener Herrschaft (bedingtes Herrschen, C.I.). Der damit einhergehende Wechsel von der klassischen Unterwerfung zur bloßen Anreizsetzung führt in ein Paradigma relativer Herrschaftsattraktivität: Nicht Macht, sondern Attraktivität ist in diesem Paradigma der – jedenfalls gegenüber mobilen Faktoren – entscheidende Gesichtspunkt staatlicher Hoheitsausübung. Relativ ist diese Attraktivität insoweit, als der Einzelne die Attraktivität seines Staates nicht an einem (fiktiven) wettbewerbenden Idealstaat messen wird, sondern nur relativ zu tatsächlich existierenden (wettbewerbenden) Staaten. Hier leuchtet das Muster des „wettbewerbenden Staates im Wettbewerb“ auf (C.II.). Für den „wettbewerbenden Verfassungsstaat im Wettbewerb“ stellt sich in diesem Zusammenhang eine sehr grundsätzliche Frage: Hegt sein Verfassungsrecht sein wettbewerbendes Handeln begrenzend ein, oder macht der Staat sein Verfassungsrecht zu einem Instrument im Wettbewerb? Diese Grundfrage wird – im Rahmen des Bindungsanspruchs des Verfassungsrechts – zur Leitfrage für den wettbewerbenden Verfassungsstaat im Wettbewerb (C.III.). Im Wettbewerb zwischen den Staaten um mobile Produktionsfaktoren wirft diese Leitfrage ihr Licht vor allem auf das normative Substrat der Allgemeinheit des Rechts. Denn nicht die Abwanderung (exit), sondern bereits die (bloße) Möglichkeit einer Abwanderung (exit-option) stärkt die Durchsetzungsfähigkeit von Sonderinteressen (voice). Diese – allein exitoptionsgetragene – Stärkung der „voice der Bleibenden“ läuft der verfassungsrechtlichen Einhegung staatlicher Herrschaft diametral entgegen. Denn dem modernen Verfassungsstaat liegt der
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liberale Gedanke zu Grunde, dass die Freiheit des Einzelnen eine Position der allgemeinen Freiheit ist (D.I.). *
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Das BVerfG hat trotz der frühen Entscheidung für die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes einen recht genauen Blick für den im Wettbewerb angelegten Anreiz zur präferenziellen Rücksichtnahme. Zwar finden sich punktuell auch Tendenzen des Abbaus allgemeinen Rechts im Wettbewerb. Von solchen Ausnahmen abgesehen rammt seine Rechtsprechung – nicht zuletzt über den Begriff des Vollzugsdefizits – aber deutliche Pflöcke gegen den wettbewerblichen Anreiz zur Ungleichbehandlung ein (D.II.). Man darf daher davon ausgehen, dass das eigentliche Potenzial zum Erhalt der Allgemeinheit des Rechts in der verfassungsrechtlichen Ordnung selber angelegt ist. Die Tocqueville’sche égalité des conditions lässt sich zwanglos zu einem binnenwärtigen antiprotektionistischen Leitbild ausbauen, in dessen Rahmen die Allgemeinheit des Rechts zu einem Instrumentalisierungsverbot wird (Verbot der Instrumentalisierung des Staates durch einzelne Herrschaftsunterworfene zu Lasten anderer Herrschaftsunterworfener, D.III.). Im Lichte dieses Leitbildes bedarf es einer übergreifenden Ordnung des Wettbewerbs zwischen den Staaten zur Sicherung moderner Verfassungsstaatlichkeit – etwa unter dem Gesichtspunkt der Lauterkeit staatlichen Handelns – nicht. Das Beispiel des deutschen Grundgesetzes lässt vielmehr die Hoffnung zu, dass die staatlichen Verfassungsrechtsordnungen, so denn nur die richtigen Bedingungen dafür vorliegen, für den dezentralen verfassungsrechtlichen Selbstschutz stark genug sein können (Gedanke der Dezentralität der Wettbewerbsordnung, D.IV.).
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Sachwortverzeichnis Allgemeinheit des Rechts 201 Antiprotektionismus nach Innen 210 Diversität staatlichen Handelns 98 Égalité des conditions normatives 215 Evolutionsökonomie 65 exit-Option 158 Gesellschaft im Wettbewerb zwischen den Staaten 79 Herrschaft 106 – Attraktivität von 121 – Organisation von 129 Institutionenökonomik 71 Neue Politische Ökonomie 71 Produktionsfaktoren 86 – Immobilität von 109 – Mobilität von 90 – Staatliches Interesse an 85 Public Choice 71
Selbstunterwerfungswille 112 Staat 106 – Diversität im staatlichen Handeln 98 – Offene Staatlichkeit 112 – Staat und Gesellschaft im Wettbewerb zwischen den Staaten 79 – staatliches Interesse am mobilen Faktor 85 – wettbewerbender 120 Systemwettbewerb 67 Verfassungsrecht, Bindungsanspruch 142 Verfassungsstaat – Begriff 135 – wettbewerbender 133 Voice 158 Vollzugsdefizit, strukturelles 177 Wettbewerb zwischen den Staaten 39 – Begriff 101 – in der Staatsrechtslehre 43 – Präferenzialität im 152 – Staat und Gesellschaft im 79 Wettbewerbsordnung 217 Zweitregisterentscheidung 169