Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989 9783737004596, 9783847104599, 9783847004592


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German Pages [406] Year 2015

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Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989
 9783737004596, 9783847104599, 9783847004592

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 16

Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte

Carsten Gansel / Monika Wolting (Hg.)

Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989

Mit 6 Abbildungen

V&R unipress

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-8471-0459-9 ISBN 978-3-8470-0459-2 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0459-6 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS). © 2015, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Plastik des Blechtrommlers Oskar Matzerath nach Günter Grass’ »Blechtrommel«, Danzig. © Carsten Gansel Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

I. Vorbemerkungen Carsten Gansel und Monika Wolting Grenzerfahrungen und neue Annäherungen – Deutschland- und Polenbilder in der Diskussion. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . .

11

II. Polenbilder in der deutschen Literatur Carsten Gansel (Gießen) »die andere Seite mit den eigenen Augen sehen?« oder Warum Versuche der Einfühlung misslingen (müssen) – Literarische Polen- und Deutschlandbilder in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Lothar Bluhm (Koblenz-Landau) Der polnische Großvater – Zur Ästhetik des Vorbehalts in Monika Marons »Pawels Briefe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Peter Braun (Jena) »Das Knie ist ein guter Platz zum Schreiben« – Polen in den Reisereportagen von Wolfgang Büscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Andrzej Kopacki (Warszawa) Oderbruch als Topos – Zu metaphorischen Konstruktionen in Judith Hermanns Erzählung »Diesseits der Oder« . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Michael Haase (Heidelberg) »Kann nit verstan« – Zum Polen-Bild in Uwe Timms »Wendegeschichte«

77

Richard Slipp (Calgary) »Asien. Alles wird Asien.« Zur erzählerischen Subversion deutscher Polenbilder in zwei Romanen Christoph Heins . . . . . . . . . . . . . . .

87

6 Sabine Egger (Limerick) Bilder des »europäischen Ostens« in der neueren deutschen Lyrik

Inhalt

. . . . 103

Matthias Braun (Berlin) Der »polnische« Papst Johannes Paul II. im Spiegel der geheimen Berichte der Stasi an die SED-Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Peter Klimczak (Cottbus) »Schon bald musste ich den Satz differenzieren« – Zum logischen Umgang mit Stereotypen in Steffen Möllers »Viva Polonia« . . . . . . . . 133

III. Deutschlandbilder in der polnischen Literatur Monika Wolting (Wrocław) Eine Gegend wird durch Geschichtenerzählen erschlossen – Zu Olga Tokarczuks »Taghaus Nachthaus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Halina Ludorowska (Lublin) Das Bild des Deutschen nach 1990 – Zu Andrzej Ziemilskis »Dobry Niemiec« (Der gute Deutsche, 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Mirosława Zielin´ska (Wrocław) Wendepunkte, Brüche und Kontinuitäten im polnischen kulturellen Gedächtnis 1944/1945–2011 und die Funktion der Narrative über »Deutsche und Polen« im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Hans-Christian Trepte (Leipzig) »Die DDRler sind (auch nur) Menschen«! – Zu stereotypen Vorstellungen von der DDR und ihren Bürgern in Henryk Sekulskis »Przebitka« und Brygida Helbigs »enerdowce i inne ludzie« . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Maciej Walkowiak (Poznan´) Zu ausgewählten Bildern der deutschen und polnischen Kultur in Stefan Chwins Roman »Tod in Danzig« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Karolina Prykowska-Michalak (Łódz´) Deutschlandbilder in der jüngsten polnischen Dramatik am Beispiel der Dramen Małgorzata Sikorska-Miszczuks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Inhalt

7

IV. Deutsch-Polnische Begegnungsräume Werner Nell (Halle-Wittenberg) Der Schneider Strapinski und der Stürmer Lewandowski – Über Selfmade-Konzeptionen in Deutschland und Polen und die Diagnosekraft einer kleinen Novelle aus dem 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 241 Stephan Wolting (Poznan´) Deutschland, Polen, Russland, Norwegen oder der Kosmos? Formen multipler Identität in Dariusz Muszers Roman »Die Freiheit riecht nach Vanille« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Katarzyna S´liwin´ska (Poznan´) »Ich, Mischling«. Literarisches Sprechen aus der Position des Dazwischen in »Wieczny Grunwald« und »Morphin« von Szczepan Twardoch . . . . . 283 Artur Pełka (Łódz´) »Warschau besser nicht« – Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Andreas Englhart (München) Theatrales Mimikry in der Glokalisierung – René Polleschs transkulturelle Produktion »Jackson Pollesch« am Warschauer Teatr Rozmaitos´ci . . . . 317 Cheryl Dueck (Calgary) Der Schnee von Gestern – Interkulturelles Gedächtnis in der deutsch-polnischen Koproduktion »Wintertochter« . . . . . . . . . . . . 335 Paula Wojcik (Jena) Translating Identity – Narrative Identitätskonstruktionen in der deutschsprachigen Literatur aus Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Olena Komarnicka (Poznan´) Das Bild der polnischen Provinz im Roman von Artur Becker »Der Lippenstift meiner Mutter« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

V. Autorengespräche Olga Tokarczuk im Gespräch mit Stephan Wolting (Poznan´) »Seit diesem Moment hat sich die Welt erneuert, sie ist jetzt für immer anders« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

8

Inhalt

Artur Becker im Gespräch mit Robert Jonczyk (Wrocław) »Ich lebe auf einer Insel…« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

I. Vorbemerkungen

Carsten Gansel und Monika Wolting

Grenzerfahrungen und neue Annäherungen – Deutschlandund Polenbilder in der Diskussion. Vorbemerkungen

Uwe Johnson ging es in seinen Texten darum, »die Grenze: den Unterschied: die Entfernung« erzählerisch zu markieren. Die Grenzerfahrung zwischen Ost und West war für ihn mit dem Versuch verbunden, das Auseinanderleben und das Fremdwerden der Deutschen zu erfassen und jeweils »die andere Seite mit ihren eigenen Augen« zu sehen. Dieser Ansatz wird nunmehr auf ein Thema übertragen, das in besonderem Maße einen Perspektivenwechsel notwendig macht, weil ohne den Versuch, sich in den Anderen ›einzufühlen‹, dieser nicht zu verstehen ist und beidseitige Klischees und Stereotype die Folge sein können. Eben diese Gefahr der Stereotypenbildung hat in der Vergangenheit immer wieder die deutsch-polnischen Beziehungen beeinflusst. Für die letzten Jahrzehnte – vor allem die Entwicklungen nach 1989 – wird man nun aber davon ausgehen können, dass ein nachhaltiger Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen eingetreten ist. In Verbindung damit ist es teilweise zu einer Dekonstruktion existierender Stereotype und Klischees gekommen. Damit verbunden ist ein Plädoyer für Offenheit gegenüber dem Anderen, seiner Werte wie seiner Kultur. Es geht um gegenseitigen Respekt und die Reflexion darüber, was jeweils an kulturellem und historischem Erbe eingebracht wird. Nur auf diese Weise – so eine Position – kann ein interkultureller Dialog zustande kommen, der unterschiedliche Auffassungen toleriert. Die in den letzten zwanzig Jahren offensichtliche Annäherung war deshalb möglich, weil in besonderer Weise erinnert und vergessen wurde.1 In Verbindung damit hat die Bereitschaft zugenommen, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und im Sinne von Uwe Johnson »die andere Seite mit ihren eigenen Augen« zu betrachten. Es steht außer Frage, dass in diesem Prozess Kunst und Literatur, ebenso wie filmische Inszenierungen, das Theater oder die Bildende Kunst eine

1 Vgl. Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting (Hg.): Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015.

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Carsten Gansel und Monika Wolting

nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben, auch und gerade, indem sie ›aufstörende Erfahrungen‹ vermittelten.2 Damit ist der Ausgangspunkt der Beiträge dieses Bandes markiert, in dem es darum geht, nach den Bildern des jeweils Anderen insbesondere in der Literatur beider Länder zu fragen. In Verbindung damit ist auf langlebige Traditionen in beiden Literaturen und entsprechende nationale Hetero- und Auto-Stereotype zu verweisen. Diese besitzen wegen ihrer direkten Bindung an kollektive Selbstbilder wiederum eine zentrale Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis. Überhaupt gehören Auto- und Heterostereotype als kulturspezifische Schemata und kollektive Codes neben Vorstellungen, Ideen, Denkmustern, Empfindungsweisen, Werten, Normen zur mentalen Dimension des Gedächtnisses.3 Wirft man nun einen Blick auf die deutsche und polnische Literatur des letzten Jahrzehnts, dann fällt auf, wie häufig deutsch-polnische Geschichten erzählt werden und die Figuren sich auf den Weg nach Polen, nach Deutschland oder jene Räume machen, die früher ›deutsche Gebiete‹ waren. Es zeigt sich dabei allerdings auch, dass die Geschichten der jungen Autorinnen und Autoren anders aussehen als etwa jene der älteren Generationen. Tanja Dückers, die in ihrem Roman »Himmelskörper« (2003) – wie Günter Grass in seiner Novelle »Im Krebsgang« (2002) – Vergangenheit inszeniert und eine Familiengeschichte um den dramatischen Untergang des Flüchtlingsschiffes »Wilhelm Gustloff« baut, hat den Unterschied pointiert so formuliert: »Grass ist Zeitzeuge, deshalb ist er emotional engagiert. Meine Hauptfigur ist Naturwissenschaftlerin, die einen wesentlich nüchterneren Blick auf diese Generation wirft.« Olga Tokarczuk oder Karol Maliszewski als Vertreter einer Generation von polnischen Autorinnen und Autoren, die Ende der 1980er Jahre in Polen debütierte, entdecken in ihrer Prosa »die deutschen Orte« neu und erzählen in ihren Texten Geschichten, die sich weit weg von einer »Verfälschung der Historie« aus der Zeit der Volksrepublik Polen bewegen.4 Wenn die deutschen Bewohner Niederschlesiens etwa ihre verlassenen Häuser und Höfe nach Jahren besuchen – wie in Olga Tokarczuks Roman »Letzte Geschichten« (2006) – treffen sie nicht auf Sieger des Krieges, sondern auf Menschen, die nach wie vor mit dem Verlust der Heimat zu

2 Vgl. Carsten Gansel/Norman Ächtler (Hg.): Die Kategorie Störung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2013. Siehe zuletzt Carsten Gansel (Hg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4/2014, Göttingen 2014. 3 Vgl. dazu u. a. Carsten Gansel: Abkehr vom Stereotyp: Polenbilder in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Plädoyer für einen narratologischen Ansatz. In: Seminar 45/4 (2009), S. 254–275. 4 Vgl. Monika Wolting/Wojciech Browarny (Hg.): Opcja niemiecka. O problemach z toz˙samoscia˛ i historia˛ w literaturze polskiej i niemieckiej po 1989 roku. Kraków: Universitas 2014.

Grenzerfahrungen und neue Annäherungen

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kämpfen haben und von der Erfahrung des Holocaust und der sowjetischen Lager gezeichnet sind.5 Texte polnischer und deutscher Autoren wie Andrzej Stasiuk, Sabrina Janesch, Tanja Dückers, Olga Tokarczuk, Karol Maliszewski, Filip Springer, Waldemar Mierzwa oder Artur Becker erfassen mitunter auch hybride Räume über geografische Barrieren hinweg und begeben sich aus den »Komfortzonen« heraus in neue Gebiete, in ein ›Dazwischen‹. Die Figuren sind dabei konfrontiert mit Fragen nach der eigenen Identität und dem, was man Heimat nennen kann. Gleichzeitig geht es um die Wechselwirkung zwischen dem Eigenen und Fremden. Die Beiträge belegen – wie bereits frühere Bände in der Reihe »Deutschsprachige Gegenwartsliteratur« – wie wichtig für die Literatur- und Kulturwissenschaften ein modernisierungstheoretischer Ansatz sein kann. Mitzudenken ist, dass in einer globalisierten Welt die bis dahin gültigen Gesetze, Normen, Vereinbarungen zunehmend durch Prozesse der Hybridisierung unterlaufen bzw. ergänzt werden. Mit dem Begriff der ›Hybridisierung‹ ist ein Konzept u. a. von soziologischer Theoriebildung umschrieben, der anders als die These vom ›Kampf der Kulturen‹ Hybridisierung als eine zunehmende Vermischung von lokalen und globalen Räumen und Identitäten versteht. Von daher bilden sich – so die Position – im Rahmen von Globalisierung allmählich Formen einer transnationalen Kultur heraus. Hybridisierung bedeutet ein ›Dazwischensein‹, (›in betweeness‹), genauer: die Verbindung von Nicht-Zusammengehörigem in einem soziokulturellen Zwischenraum. Dabei bleiben die tiefer liegenden Kulturbestandteile etablierter Gemeinschaften nicht nur erhalten, sondern können durch die technologischen Rationalisierungsschübe fortwährend restabilisiert werden.6 Grundsätzlich lässt sich sagen, dass mit dem Prozess von Hybridisierung Kartierungen und Grenzziehungen keineswegs aufgehoben sind. Es zeigt sich, dass dieser Ansatz auch für die Frage nach Deutschland- und Polenbildern in der Literatur produktiv sein kann. Insofern gewinnt die »soziologische Beobachtung und Theoriebildung vom Standpunkt der Grenzprozesse sozialer Systeme« (G. Preyer) im Rahmen von Modernisierungstheorien zunehmend an Bedeutung. An dieser Schnittstelle ergibt sich schließlich auch eine Verbindung zu dem in und von unterschiedlichen Disziplinen markierten Spatial turn. Hartmut Böhme hat nun mit einem durchaus kritischen Blick auf den Spatial turn und die topische Wende betont, dass Kultur die »je spezifische Weise« darstellt, »in der Menschen sich selbst und Objekte im Raum bewegen«. »Raum 5 Vgl. Monika Wolting/Stephan Wolting: Orte in Literatur und Kunst zwischen Oder- und Weichselmündung. In: Lisaweta von Zitzewitz (Hg.): Pommern in der Literatur nach 1945. Külzer Hefte Nr. 3/ 2005, S. 239–256. 6 Vgl. Gerhard Preyer: Gesellschaft im Umbruch II. Jenseits von National- und Wohlfahrtsstaat. Humanities online. Frankfurt a. M. 2009.

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Carsten Gansel und Monika Wolting

wird erst eröffnet und ausgerichtet durch Bewegung«, so Böhme.7 Diese auf reale Phänomene bezogene Überlegung lässt sich auf die maßgeblichen Kategorien eines Erzähltextes übertragen, was in verschiedenen Beiträgen des Bandes eine Rolle spielt. Bei der Suche nach Deutschland- und Polenbildern gehen die Beiträge des Bandes u. a. folgenden Fragen nach: – Sie zeigen, in welcher Weise literarische Texte den geschichtlichen Transformationsprozess der europäischen Veränderungen nach 1945 bzw. 1989 inszenieren. Dabei wird danach gefragt, ob es direkte Antworten auf aktuelle Veränderungen in den deutsch-polnischen Beziehungen gibt oder diese erinnernd mit vergangenen nationalen Bildern konterkarieren werden. – Mit Blick auf aktuelle Entwicklungen wird gezeigt, dass literarische Texte eben nicht nur tradierte Bilder des Eigenen wie Fremden archivieren, mithin Ausdruck der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaften und Erinnerungskulturen sind, sondern auch ein spezifisches Provokations- bzw. Störungspotential entfalten, indem sie Bilder des Anderen liefern, die jenseits der Political Correctness stehen können. Die unterschiedliche Aufnahme etwa des Filmes »Unsere Mütter, unsere Väter« in Deutschland und Polen ist ein aktuelles Beispiel dafür. – Die Aufsätze unterstreichen einmal mehr, dass die Fähigkeit, in Geschichten zu kommunizieren, zu einer anthropologischen Konstante des Menschen gehört. Von daher lässt sich sagen, dass die sogenannte narrative Intelligenz von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung dessen ist, was man Identität nennt. Mit anderen Worten: Das Entstehen des Selbst ist nur möglich über eine kontinuierliche sprachlich-narrative Konstruktion. Genau dies wird in den erzählten Geschichten der deutschen und polnischen Autorinnen und Autoren erkennbar. Sie sind Beispiele dafür, wie ablaufende Veränderungen in der Wahrnehmung des Fremden und Eigenen die Identitätsbildung beeinflussen. – Offensichtlich wird in den unterschiedlichen Beiträgen, die sehr verschiedenen methodologischen Ansätzen verpflichtet sind, dass die Wechselwirkung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zum Entstehen neuer Räume führt, die für die literarischen Figuren durchaus auch zu »symbolischen Räumen« werden können. Gerade hier zeigen sich – so die Auffassung der Herausgeber – deutliche Unterschiede beim Entwurf von Deutschland- und Polenbildern in der jeweiligen Literatur. Die Romane Andrzej Stasiuks »Dojczland« (2008) und »Katzenberge« von Sabrina Janesch (2010) zeigen exemplarisch, wie weit die Spanne bei der Darstellung des Eigenen und des Fremden gehen kann.

7 Hartmut Böhme: Kulturwissenschaft. In: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 197f.

Grenzerfahrungen und neue Annäherungen

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Zu danken ist an dieser Stelle dem Gießener Team, ganz besonders Mike Porath (Gießen), für die Korrektur der Beiträge und Heike Müller-Moritz (Gießen) für die Koordinierung der Drucklegung des Vorhabens.

II. Polenbilder in der deutschen Literatur

Carsten Gansel (Gießen)

»die andere Seite mit den eigenen Augen sehen?« oder Warum Versuche der Einfühlung misslingen (müssen) – Literarische Polen- und Deutschlandbilder in der Diskussion

I. Wirft man einen Blick auf die deutsche Literatur des letzten Jahrzehnts, dann fällt auf, wie häufig deutsch-polnische Geschichten erzählt werden und die Figuren sich auf den Weg nach Polen machen. Erzählt werden die Geschichten von Autoren, die Nationalsozialismus, Krieg, Holocaust sowie Flucht und Vertreibung nicht selbst erlebt, sondern von den Schrecknissen der Vergangenheit nur durch die Eltern und Großeltern erfahren haben. Man würde in diesem Fall erinnerungstheoretisch davon sprechen, dass die Ereignisse über das kommunikative Gedächtnis überliefert werden.1 Zum anderen wurden sie in Kindheit und Jugend über Ausstellungen, Gedenktage, Filme oder den Geschichts- und Deutschunterricht – also über Repräsentationen im kulturellen Gedächtnis – mit prägenden Ereignissen aus der nationalen Vergangenheit konfrontiert.2 Wiederholt befinden sich die (männlichen) Figuren dieser Texte in einer individuellen Krise oder sie werden durch den Tod eines nahen Angehörigen motiviert, sich auf eine Reise in den sogenannten Osten zu begeben, zumeist nach Polen. Insofern sind Aufstörungen das motivierende Moment für einen Aufbruch.3 Genau dies ist – um

1 Vgl. dazu die hinreichend bekannte Unterscheidung in kommunikatives und kulturelles Gedächtnis bei Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992. 2 Es sei an dieser Stelle darauf verzichtet, erneut die theoretischen Implikationen sowie die einschlägigen Ansätze im Rahmen der Erinnerungstheorie zu diskutieren. Siehe dazu Veröffentlichungen im Rahmen des SFB 434 »Erinnerungskulturen« an der Universität Gießen sowie u. a. Beiträge des Verfassers: Gansel, Carsten; Braun, Matthias (Hrsg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2012; Ächtler, Norman; Gansel, Carsten (Hrsg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978–2008. Heidelberg: Winter 2010; Gansel, Carsten (Hrsg.): Rhetorik der Erinnerung – Gedächtnis und Literatur in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus zwischen 1945 bis 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 3 Vgl. dazu zuletzt Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie

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Carsten Gansel

ein erstes Beispiel zu geben – in Hans-Ulrich Treichels Roman »Menschenflug« der Fall. Stephan – er arbeitet bezeichnenderweise als Akademischer Rat im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität Berlin – gerät in eine Art Lebenskrise. Er ist inzwischen über Fünfzig und hat »beinahe das Lebensalter seines Vaters erreicht«.4 Wiederholt fühlt er Schmerzen in der Herzgegend und wird von Angstträumen heimgesucht. Diese Aufstörung führt dazu, dass ihn immer öfter eine »Sehnsucht nach alten Papieren« befällt und das »Verlangen nach alten Truhen, vergilbten Briefen und Fotoalben«.5 Doch seine Eltern haben ihm nichts davon hinterlassen. Dieser Umstand steigert nur noch das Bemühen des Protagonisten, etwas über jene Heimat zu erfahren, die die Eltern auf der Flucht 1945 verlassen mussten. Für Stephan wachsen die unbekannten Orte in einem metaphorischen Begriff zusammen, dem Osten. Und von diesem Osten weiß er nichts. Der heterodiegetische Erzähler markiert die Unkenntnis des Protagonisten folgendermaßen: »Der Osten und alles, was damit zusammenhing, waren ihm als Kind und Jugendlichem vollkommen unverständlich geblieben, den topographischen und historischen Wirrwarr, als der sich die Gespräche der Erwachsenen über Schlesien, Ostpreußen und Pommern, über Breslau, Königsberg und Lodz, über Masuren und Siebenbürgen, über Aussiedlungen und Umsiedlungen, Fluchten und Vertreibungen, vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg sowie, vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg für ihn darstellten, hätte er nie entwirren können […].«6

Treichels Protagonist weiß also – so teilt der Erzähler zumindest mit – nichts über den Osten. Das muss erstaunen, denn eigentlich ist »der Osten« – hier zunächst symbolisiert durch Polen – nach 1945 in der politischen Geschichte beider deutscher Staaten sehr wohl präsent gewesen. Freilich in unterschiedlicher Weise. In der DDR war seit den frühen 1950er Jahren von der »Oder-Neiße-Friedensgrenze« die Rede, womit die Anerkennung des mit dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 beschlossenen Grenzverlaufs gemeint war. In der Bundesrepublik wurde diese Position in dieser Weise nicht übernommen. Ein Wandel kündigte sich erst mit dem 7. Dezember 1970 an, jenem Tag, an dem der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages einen Kranz am Ehrenmal der Helden des Ghettos von Warschau niederlegte. Dabei verharrte er nicht stehend, sondern sank zum Gedenken auf die Knie. Dieses Foto war nicht nur Symbol für die neue Ostpolitik, sondern wurde zu einem ikonischen Zeichen, das im kollektiven und Praxis. In: Ders. (Hrsg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4/2014, Göttingen 2014, S. 315–332. 4 Treichel, Hans-Ulrich: Menschenflug. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 9. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 51f.

Literarische Polen- und Deutschlandbilder in der Diskussion

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Gedächtnis der (West-)Deutschen eine zentrale Rolle zu spielen begann. Auch von der Solidarnos´c´-Bewegung, die eine Art Fanal für die real-sozialistischen Länder darstellte, sollte der intellektuell gebildete Protagonist etwas gehört haben, ebenso wie vom polnischen Papst, Johannes Paul II., oder – es passt in die Biographie des popfreudigen Protagonisten – wenigstens von Czesław Niemen, dem internationalen polnischen Rock-Star. Doch nichts dergleichen. Insofern schreibt Treichel seiner Figur eine Unwissenheit zu, der man nur bedingt glauben mag. Allerdings könnte diese – sagen wir – Ahnungslosigkeit durchaus kennzeichnend für Teile des westlichen Deutschlands vor 1989 gewesen sein. Die Übersetzerin Sylvia Morawetz hat mit einigem Recht vermutet, dass westdeutschen Intellektuellen »alle möglichen Länder (auf der Welt) näher« gewesen seien »als die DDR« und der Osten, ja der Osten von daher »tatsächlich eine Blackbox war«.7 Innerliterarisch – und nur das soll hier interessieren – hat die Unkenntnis des Ostens für den Text eine strukturbildende Funktion: Der Protagonist kann sich gewissermaßen naiv und voller Neugier dem Osten nähern, weil er keine Sekundärerfahrungen besitzt – und Primärerfahrungen schon gar nicht! Mit dem Hinweis auf die Erfahrung ist eine für Autoren und ihre Figuren zentrale Kategorie benannt. Uwe Johnson, der nicht nur mit seinen vier Bänden der »Jahrestage« zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts gehört, hat im Gespräch das Roman-Schreiben als einen Versuch angesehen, ein »gesellschaftliches Modell« herzustellen. »Das Modell besteht allerdings aus Personen«, so Johnson. »Diese Personen sind erfunden, sind zusammengesetzt aus vielen persönlichen Erfahrungen, die ich hatte. Und insofern ist der Vorgang des Erfindens eigentlich ein Erinnerungsvorgang.«8

Vergleichbar hat Christa Wolf entgegen damaliger ›Vereinbarungen‹ in der DDR auf eine »so lange verkannte, unterschätzte, ja verdächtige Kategorie« wie die Erfahrung aufmerksam gemacht. »Das Reservoir, aus dem er [der Autor – C. G.] schreibt, ist seine Erfahrung«, betont Wolf im Gespräch mit Hans Kaufmann.9 Die persönliche Erfahrung, die hier am Beginn der 1970er Jahre von zwei für die deutsche Literatur in West und Ost maßgeblichen Autoren betont wird, hat Reinhart Koselleck zu einer für die historische wie kulturwissenschaftliche Er-

7 Siehe dazu Morawetz, Sylvia: Eine Anmerkung. In: Gansel, Carsten; Chotjewitz-Häfner, Renate (Hrsg.): Verfeindete Einzelgänger: Berlin: Aufbau Verlag 1996, S. 47. 8 Johnson, Uwe. In: Simmerding, G.; Schmid, O. (Hrsg.): Literarische Werkstatt. München 1972, S. 65f. 9 Wolf, Christa: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann (1973). In: Dies: Die Dimension des Autors. Aufsätze, Essays, Gespräche, Reden. Band II. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1986, S. 317–349, hier: S. 327.

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Carsten Gansel

innerungsforschung gewichtigen Kategorie gemacht. Koselleck zielt dabei auf die Verbindung von individueller und kollektiver Erfahrung: »Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben.«10

Entscheidend ist der Hinweis, dass in die Erfahrung die rationale Verarbeitung von Ereignissen sowie unbewusste Verhaltensweisen eingehen und zudem das, was von Eltern, Großeltern sowie den gesellschaftlichen Institutionen – nicht zuletzt der Schule – vermittelt wurde.11 An anderer Stelle hat Koselleck notiert, dass »Primärerfahrung« im Moment »eines singulären, unwiederholbaren Überraschungseffektes« gemacht wird.12 Solche Primärerfahrungen schließen sich in dem Fall, da sie wiederholt auftreten und evaluiert werden, zu dem zusammen, was man ›Lebenserfahrung‹ nennen kann.13

II. Lebenserfahrungen spielen also im Alltag wie in der Literatur eine zentrale Rolle. Sie bilden im Sinne von Paul Ricoeurs Kreis der Mimesis die Präfiguration von literarischen Texten (Mimesis I), sie liefern also den Stoff für Geschichten. Erst auf dieser Grundlage erfolgt dann die literarische Konfiguration (Mimesis II). Was ist nun aber in dem Fall, da die Primärerfahrungen vom Osten bei jenen Autoren, die ab Mitte der 1960er Jahre geboren wurden, möglicherweise noch dürftiger ausfallen als bei Treichels Mittfünfziger-Figur? Die Antwort erscheint einfach: Wenn Erfahrung im Sinne von Koselleck »gegenwärtige Vergangenheit« ist, die auf Ereignisse zurückgreift, die »erinnert werden können«, dann ergeben sich zwei Möglichkeiten. Erstens: Wo Erfahrungen fehlen, können die Figuren die 10 Koselleck, Reinhart: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien. In: Ders. Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 349–375, hier: S. 354. 11 Diese Argumentation stammt aus meinem Beitrag zu Günter Grass und Erwin Strittmatter. Siehe dazu Gansel, Carsten: Sprechen und (Ver)Schweigen: Kriegsdarstellung und Aufstörung bei Grass und Strittmatter. In: Gegenwartsliteratur. Ein Germanistisches Jahrbuch 2012/ A German Studies Yearbook. Hrsg. von Lützeler, Paul Michael u. a.: Tübingen: Stauffenberg Verlag 2013, S. 243–270. 12 Koselleck, Reinhart: Erfahrungswandel und Methodenwechsel: Eine historisch-anthropologische Skizze. In: Ders.: Zeitschichten: Studien zur Historik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 27–77, hier: S. 34. 13 Vgl. ebd. Die Rolle, die Koselleck der Lebenserfahrung beimisst, haben dann Jan und Aleida Assmann in ihren Untersuchungen zum Gedächtnis und zur Erinnerung ausgebaut.

Literarische Polen- und Deutschlandbilder in der Diskussion

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Welt vorurteilsfreier sehen und sich auf Neues, Unbekanntes einlassen. Zweitens: Dort, wo Primärerfahrungen nicht existieren, können sie ersetzt werden durch Erinnerungen bzw. Geschichten der Eltern- und Großelterngeneration, mithin durch das, was im kommunikativen Gedächtnis aufbewahrt ist. Gleichzeitig werden Sekundärerfahrungen über »feste Objektivationen, traditonelle symbolische Kodierung« vermittelt, eben jene Bestände, die das kulturelle Gedächtnis ausmachen.14 Koselleck hat genau darauf noch vor dem Erinnerungsboom verwiesen, wenn er herausstellt, dass »in der je eigenen Erfahrung« »immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben« ist, durch »Generationen oder Institutionen vermittelt«.15 Wenn sich nun also Figuren auf den Weg in Richtung Osten machen, dann ist ihre Wahrnehmung durch das bestimmt, was sie selbst erfahren haben oder ihnen vermittelt wurde. Dieser Umstand sei nunmehr an zwei Texten angedeutet, auf die bereits an anderer Stelle im Kontext des »Prinzips Erinnerung« verwiesen wurde, nämlich an Tanja Dückers »Himmelskörper« (2003) und an Olaf Müllers Roman »Schlesisches Wetter« (2003).16 Es geht mir im Folgenden aber nicht um die Grundstruktur der Texte, die durch einen Wechsel von Basiserzählung (Gegenwartsebene) und Analepse (Vergangenheitsebene) gekennzeichnet sind und in denen dem Erinnern eine systemprägende Funktion zukommt.17 Es geht also weniger um den »discours«, also das »Wie« des Erzählens, sondern stärker um jene Elemente, die zur Ebene der »histoire«, also dem »Was« gehören, d. h. um die Figuren, die Handlungen und den Raum. In diesem Rahmen interessiert zunächst die Perspektive der Figuren, mithin der Blick »der Deutschen« auf Polen.18 Als Tanja Dückers Ich-Erzählerin mit dem Selbstmord ihres polnischen Onkels Kazimierz konfrontiert wird, ruft sie sich wiederholt jene »unterschiedlichen Bilder« ins Gedächtnis, die ihr von ihm im Kopf geblieben sind. Immer wieder muss sie daran denken, »wie Kazimierz Paul und mich als Kinder auf seinem Büroschreibtisch hatte herumhopsen lassen«. Die Besuche beim Onkel in Warschau haben sich der Ich-Erzählerin fest eingeprägt, weil sie mit der Erfahrung von kindlicher Freiheit verbunden sind: »Wir durften alle Schubladen und Fächer öffnen. Kurz bevor wir gingen, drückte er uns den Stempel seiner Fernsehanstalt auf die Handrücken. Paul und ich haben tagelang 14 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. 1992, S. 56. 15 Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, a. a. O., S. 354 (Anmerkung 5). 16 Vgl. Gansel, Carsten: Abkehr vom Stereotyp: Polenbilder in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Plädoyer für einen narratologischen Ansatz. In: Seminar 45/4 (2009). Kanada, S. 254–275. 17 Die Texte waren daher im Kontext der Gegenwartsliteratur auch als »Fictions of Memory« bezeichnet worden. 18 An dieser Stelle könnte mit dem Modell von Tzvetan Todorov gearbeitet werden, der zwischen Ich- und Du-Themen unterscheidet. Bei den Du-Themen gehe es um die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt.

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vermieden, unsere Hände zu waschen. Wir waren ganz unglücklich, als, zurück im fernen Berlin, der Abdruck bald verblasste und schließlich ganz verschwand. Überhaupt hatte uns das Warschauer Büro mit seinen dunklen, alten, vom Holzwurm angefressenen Möbeln, den vielen Kästen, Kisten und aus den Schränken herausgenommenen, auf dem Boden herumliegenden Schubladen, den riesigen klappernden Schreibmaschinen in seltsamen Farben und vor allem den unzähligen dicken, knubbleligen Stempeln auf Kazimierz’ großem Schreibtisch gut gefallen. Nur Jo und Mäxchen [die Großeltern – C. G.] sprachen, als wir ihnen später das Büro und Kazimierz’ Sitten mit sich überschlagenden Kinderstimmen beschrieben, von ›Polen-Wirtschaft‹.«19

Für die Kinder sind der Onkel und Polen also ein Synonym für Zwanglosigkeit und Unbeschwertheit, die pejorative Bezeichnung »Polen-Wirtschaft« ist ihnen überhaupt nicht mehr bekannt. Anders die Großeltern – sie sind aus Danzig geflohen –, die mit Polen ›Unordnung‹, ›Regellosigkeit‹, ›Disziplinlosigkeit‹ und ›Anarchie‹ verbinden und dies mit dem Stereotyp der »Polen-Wirtschaft« zusammenfassen.20 Damit greifen die Großeltern auf das wohl bekannteste PolenStereotyp zurück. Hubert Orłowski hat es entsprechend als »Stereotyp der langen Dauer« bezeichnet und auf die historischen Wurzeln verwiesen.21 Auf eine andere Weise werden die Polen-Bilder in Olaf Müllers Roman »Schlesisches Wetter« entworfen. Hier erhält der Ich-Erzähler, der erfolglose Journalist Alexander Schynowski, von seinem früheren Chef das Angebot, sich in Berlin um polnische Kollegen zu kümmern. Schynowski willigt ausgesprochen lustlos ein und bedenkt, was er überhaupt über Polen weiß. Er reaktiviert Erfahrungen, die ihm von Anderen überliefert wurden, erinnert einige Kurzreisen nach Polen und greift vor allem auf die Geschichten der Großmutter und Mutter zurück, die 1946 aus der Nähe von Wrocław fliegen mussten. Obwohl er den Geschichten ablehnend gegenübersteht, haben sie sein Bild von Polen bestimmt: »Die Alten haben es durchgemacht und die Heimat verloren. Nein. Ich hasse dieses Wort. Nur deshalb ist es wertvoll. Nur weil ich mich erinnere, wie der Haß auf dieses Wort und die darauf folgenden Geschichten wuchs, je älter ich wurde […]. Die Großmutter, die ich liebte, stopfte mich mit ihren Bildern, dem Erzählten, stopfte mich aus, bis ich in die Welt ihrer Entschuldigungen paßte. Bis ich verstummte. Weil ich nicht in ihre Erzählungen gehörte.«22 19 Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin: Aufbau Verlag 2003, S. 155. 20 Siehe hierzu und im Folgenden ausführlich: Gansel, Abkehr vom Stereotyp. 2009. Siehe auch Ders.: Polenbilder einer jüngeren Autorengeneration (Goethe Institut Warschau 2012; http:// http://www.goethe.de/ins/pl/lp/kul/dup/lit/de10242363.htm (Letzter Zugriff am 20. 03. 2015). 21 Orłowski, Hubert: Stereotype der ›langen Dauer‹ und Prozesse der Nationsbildung. In: Lawaty, Andreas; Orłowski, Hubert (Hrsg.): Deutsche und Polen. Geschichte. Kultur. Politik. München 2003, S. 269–279, hier: S. 269. Siehe auch Ders.: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Der deutsche Polendiskurs im Blick historischer Stereotypenforschung und historischer Semantik. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2005. 22 Müller, Olaf: Schlesisches Wetter: Berlin: Berlin Verlag 2003, S. 23 [Im Folgenden unter der Sigle »SW« mit Seitenzahl im Fließtext].

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Einmal mehr ist auf das Erleben des Heimatverlusts durch die Eltern- und Großelterngeneration verwiesen, aber letztlich auch auf die Tatsache, dass sich derartige traumatische Erfahrungen gerade nicht durch das Erzählen auf die nächste Generation übertragen haben bzw. übertragen lassen. Schynowski reagiert auf die Geschichten der Mutter und Großmutter gar mit »Hass«, von Empathie oder von Einfühlung in die Angehörigen kann keine Rede sein. Dieser Umstand ändert nichts daran, dass die Erfahrungen der Großmutter sich in das individuelle Gedächtnis des Ich-Erzählers eingeschrieben haben und Schynowskis Bild von Polen bestimmen. Als Schynowski sich mit den polnischen Journalisten Witek Misiak und Beata Szewinska zum ersten Mal im Berliner »Klub der verlorenen Gänse« aufhält, erinnert er sich an die Großmutter, die ihn in polnischer Gesellschaft nicht gern gesehen hätte. »Dabei hatte sie nichts gegen die Polen an sich«, so bedenkt Schynowski, »aber die Katholiken unter ihnen, also fast alle, sind ihr verdächtig gewesen. Ich höre sie noch sagen, was sie bei ihrem Pfarrer gelernt hatte und an mich weitergab: Die Katholiken werden von ihrer Kirche dazu gezwungen. Sie müssen lügen. Damit man ihnen vergeben kann. In der Beichte können sie die Schuld ihrer Lüge wieder los werden« (SW, 83).

Und auch im weiteren Verlauf – Schynowski ist kurz vor der Reise nach Polen – wird er mit den Geschichten der Mutter konfrontiert, die von Flucht und Vertreibung berichtet. Sie unterscheidet in der Erinnerung zwischen den guten und schlechten Polen. Die »guten«, so die Mutter, »die hatte der Russe aus der Ukraine rausgeschmissen, und dann sind sie zu uns und haben die Höfe übernommen. Die kamen aus der Gegend um Lemberg, die wußten, was es heißt, rausgeschmissen zu werden« (SW, 141).

Nun könnte man meinen, dass die dann folgende Reise nach Wrocław – zeitlich befinden wir uns immerhin im Jahr 2001 – zu einer Korrektur des Polen-Bildes führt. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, Schynowski nimmt ausschließlich das wahr, was in sein vorgeprägtes Polen-Bild passt. Es funktioniert das, was man in der Psychologie »kognitive Dissonanz« nennt, eine Tendenz, jene Informationen aufzunehmen, die der Bestätigung der eigenen Position dienen. Es werden entsprechend jene Elemente ausgeschlossen, die das eigene Weltbild erschüttern könnten.23 Dies beginnt bereits auf der Bahnfahrt, die über Leipzig, Riesa, Görlitz, Legnica nach Wrocław führt. Als Schynowski Liegnitz (Legnica) erreicht, ist dies für ihn ein »Ort direkt aus meinen schwärzesten Phantasien«, und er notiert:

23 Vgl. zum Begriff der »kognitiven Dissonanz« den Beitrag von Knoblauch-Westerwick, Silvia: Kognitive Dissonanz »Revisited«. In: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, Heft 52/2007, S. 51–62.

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»Vorwerke waren verwelkt; geborstene Dächer nicht repariert, ich ortete Brücken, die nicht an ihrem Platz waren, und wunderte mich zwischen Liegnitz und Breslau über die merkwürdige Vermehrung der Schrebergärten, über deren Vordringen bis ins Innere Breslaus […] Nichts entsprach meinem siebzig Jahre alten Stadtplan. Überall Schrebergärten« (SW, 159f.).

Am Wrocławer Bahnhof angekommen, findet der Protagonist den Gestank abstoßend und nimmt den baulichen Zustand wahr: »Die durchgerosteten Pfeiler der Hallenkonstruktion drohten einzuknicken. Ich beeilte mich, da rauszukommen« (SW, 166). Auch die Piłsudskistraße macht einen schlimmen Eindruck. Der Ich-Erzähler sieht »rußige Fassaden«, die Bürgerhäuser sind grau und vom »Werbetafelschimmel« befallen. Auch das einst mondäne Hotel Monopol, in dem Marlene Dietrich und Picasso sich eingemietet hatten – Hitler vergisst der Ich-Erzähler zu erwähnen – hat seine Anziehungskraft verloren, vom »Hauptgebäude fehlten die oberen drei Etagen, die wie die Kirchtürme in der nächsten Umgebung die Schlacht um Breslau nicht überstanden hatten« (SW, 169). Die auf den ersten Blick pejorative Aufladung des Polen-Raumes durch den Ich-Erzähler wird ergänzt durch seine Wahrnehmung von Personen, deren äußeres Erscheinungsbild und Handeln dem Polen-Besucher nichts Gutes verheißen. Er registriert »dubiöse Geschäftsleute«, gerät angesichts der beträchtlichen Summe an mitgeführter D-Mark in Panik und vermutet beim Blick in die Hotelhalle, dass die Männer dort für eine solche Summe »alles tun [würden]«. Von drei auf ihn zusteuernden alkoholisierten Gestalten sieht er sich nur durch eine Polizeistreife befreit, »die mich im Visier zu haben schien« (SW, 170/171). Im Folgenden reaktiviert Schynowski in einer fast fieberhaften Bestandsaufnahme sämtliche Polen-Stereotype, wähnt sich zunehmend in Gefahr und ist in hohem Maße aufgestört: »Ich war keineswegs hysterisch, als ich feststellte, in unmittelbarer Gefahr zu sein. Doch während ich nach einem Ausweg suchte – was ich allein in der Redaktion von den mafiösen Zuständen in Polen gehört hatte, gelesen vom erbarmungslosen Beute-Machen bei deutschen Touristen, von spurlosem Verschwinden –, versuchte ich, aus den aufsteigenden Begriffen einen einzufangen, welcher die Lage, in die ich mich gebracht hatte, am sichersten beschrieben hätte. Aus der Wortwolke fiel: Todesgefahr« (SW, 172).

Auf den ersten Blick muss eine solche Darstellung befremden. Was ist das für ein Zeitgnosse, so könnte man fragen. Woher kommt der Typ und was bildet er sich ein, »dieser Deutsche«, der selbst nichts auf die Reihe bekommt, wie sich zeigt? Werden hier in einem literarischen Text sämtliche jener Klischees erneuert, von denen man geglaubt hatte, sie wären längst außer Kraft gesetzt? Zunächst sollte man bedenken, dass hier ein homodiegetischer Erzähler, ein Ich-Erzähler, seine Eindrücke schildert. Und es ist unter Psychologen und Soziologen bekannt, dass gerade jene, deren gesellschaftliche Anerkennung begrenzt ist, dazu neigen, mit

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arroganter Geste überall dort aufzutreten, wo sie meinen, das eigene Ich stärken zu können. Aber für die in Rede stehende Frage ist die Figurenkonstruktion genauer zu beachten: Denn Schynowski wird vom Autor als erfolgloser Journalist aufgebaut, der von seinen mangelhaften Fähigkeiten als Mann und Intellektueller überzeugt ist, und dies wird über die interne Fokalisierung bzw. die Selbstreflexionen mitgeteilt. Er wiegt mehr als zwei Zentner, ist zudem schwer kurzsichtig (!) und meint selbst, er wirke »wie ein Clochard« (SW, 181). Dass ein solcher Mann Schimmel an den Häuserwänden (!) erkennen kann, das sollte einen aufmerksamen Leser irritieren. Bereits zu Beginn des Textes hatte der IchErzähler denn auch eingestanden: »Ich verließ mich auf meine Ohren. Meinen Augen konnte ich nicht trauen« (SW, 8). Kurzum: Man wird nicht anders können, denn Schynowskis Blick als unzuverlässig einzustufen, ja man muss Schynowski zunächst als einen »unzuverlässigen Erzähler« ansehen, dessen Wertungen mit Vorsicht zu betrachten sind. Diese Vermutung wird im Erzählvorgang mehrfach unterstrichen. Es zeigt sich nämlich – und nun wird das »Wie« des Erzählens wichtig –, dass Schynowski die Geschichten der Mutter, die Bahnfahrt wie auch die Begegnungen mit und in Wrocław aus der Gegenwart erinnert, also retrospektiv erzählt wird. Allerdings – und dies macht das Artistische des Textes aus – verzichtet der Ich-Erzähler durchweg darauf, diesen ersten Blick auf Polen aus der Gegenwart zu kommentieren bzw. zu korrigieren. Auf die aus der Gegenwartsebene eingeschobene Frage, was passiert wäre, wenn er die Fahrt nach Wrocław nicht angetreten hätte, findet sich eine auf den ersten Blick gar nicht wahrnehmbare Prolepse: »Ich hätte Agnieszka nicht kennengelernt. Und nicht ihren Großvater. Es gäbe mich nicht. Wie es mich vorher nicht gegeben hat« (SW, 161).

Zu diesem Zeitpunkt kennt der Leser allerdings weder Agnieszka noch ihren Großvater. Und in dem Augenblick, da Schynowskis Tiraden ins nahezu Hysterische überkippen (»Das Wissen um die Gefahr euphorisierte mich, als ich auf das Hotel Polonia zuging«), findet sich ein Kommentar, der von einem auktorialen Erzähler geäußert werden könnte, aber letztlich vom zweiten Ich der Figur stammt, jenem Ich, das in der Gegenwart in Polen angekommen ist: »Schynowski sollte sich nicht wundern, wenn sein Wunsch in Erfüllung ging. Denn letztlich hatte er sich einmal nichts dringender gewünscht, als wirklich existent zu sein« (SW, 173).

Dieser urplötzliche Wechsel des point of view in der ansonsten ausschließlichen Ich-Erzählperspektive hat eine spezifische Funktion: Es werden die Stereotype von Polen mit dem Ziel vorgeführt, sie zu dekonstruieren. Im Aktionsraum, also dort, wo die Figuren wirklich miteinander in Berührung kommen und interagieren, wird der Polen-Raum im Verlauf der Geschichte dann fast schon uto-

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pisch aufgeladen. Bei der Begegnung und beim Zusammensein mit polnischen Menschen – in diesem Fall vor allem motiviert durch eine junge Frau – entwickelt sich bei Schynowski letztlich ein Gefühl der Geborgenheit. Am Ende des Romans sieht er sich in Polen angekommen und drückt dies folgendermaßen aus: »Ich erinnere mich noch daran, wie ich in der zweiten Nacht meine Brille auf die großen Bretter des Dachbodens abgelegt habe. Ich tauchte in einem aufgeregt hochtönenden Stimmungsgewirr auf und wurde von einem sagenhaften Glücksgefühl, dem es nicht mehr auf das Gedächtnis ankam, erfasst« (SW, 234).

Die gemachte Primärerfahrung führt also ganz im Sinne von Reinhart Koselleck dazu, dass durch eine Einverleibung der aktuellen Ereignisse eine anders geartetete »gegenwärtige Vergangenheit« entsteht.

III. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Figur des Schynowski in Olaf Müllers »Schlesisches Wetter« will zunächst eines überhaupt nicht: »die andere Seite mit ihren eigenen Augen sehen«. Wäre dies der Fall gewesen, dann hätte Schynowski wenigstens andeutungsweise über die historischen Wurzeln für die, sagen wir: wahrgenommene Unstrukturiertheit, das Formlose, nachdenken können. Dass der polnische Staat wie die Bürger sich möglicherweise in einer Art Übergangs- und Wartesaalsitutation eingerichtet hatten, hing wohl auch mit der Tatsache zusammen, dass man mit der Angst lebte, die Deutschen würden irgendwann doch in die ehemaligen Ostgebiete zurückkehren. Müllers Protagonist macht sich solche Gedanken nicht, von einer Einfühlung ins Polnische kann nicht die Rede sein, und letztlich – das ist wegen des Ich-Erzählers auch durchaus konsequent – kommen Figuren polnischer Herkunft nur wenig zu Wort. Und wenn doch, dann fällt bei ihnen eine deutliche Abwehr des Deutschen auf, jedenfalls bei der älteren Generation. Auf Schynowskis Frage, was er denn über die Deutschen schreiben soll, die im Sommer wieder »zu Tausenden« nach Breslau reisen, antwortet Witeks Mutter scharf: »Aber schreiben Sie auch, daß sie eine alte Polin getroffen haben, die ihr Leben in Breslau verbracht hat. Die alte Polin hat Ihnen gesagt, daß die Deutschen wenigstens warten könnten, bis wir tot sind, wenn sie schon zurückkommen müssen« (SW, 197).

Ein Dialog, eine Einfühlung wie auch eine Perspektivenübernahme sehen anders aus. Von daher ist Olaf Müllers Roman einmal mehr ein Beleg dafür, dass es entgegen aller politisch behaupteten Idealismen ausgesprochen schwierig und vielleicht unmöglich ist, sich in Andere in dem Fall einzufühlen, da man nicht

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über die gleichen Primärerfahrungen verfügt. Das betrifft die Position von Witeks Mutter, aber genauso die Sicht der Mutter von Schynowski: »Nur ein Vertriebener soll angeblich die Vertriebenen verstehen können. So etwa sagte meine Mutter, an der offenen Tür, bevor sie Fleisch kaufen ging« (SW, S. 154),

erinnert er. Mit dem »angeblich« ist die Position der Mutter – ganz im Sinne einer political correctness – in Frage gestellt. Nur – so die hier vertretene Auffassung – beide Mütter haben Recht. Um auf den theoretischen Kern des Problems zu kommen, seien zwei Beispiele gegeben: Vor kurzem war ich im Staatlichen Kunstmuseum in Kopenhagen und betrachtete ein Gemälde von Erik Henningsen, einem dänischen Maler des 19. Jahrhunderts. Es trug den Titel »Sat ud« (Evicted), also Zwangsräumung bzw. Vertreibung.

Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass beim Versuch der Einfühlung in die hier dargestellte Situation nicht mehr als Betroffenheit und Mitgefühl wird entstehen können, und dies nicht nur deshalb, weil erkennbar ist, dass die realistische Darstellung ins 19. Jahrhundert führt, also als historisch eingestuft werden kann. Lassen Sie mich ein zweites Beispiel andeuten, das mehr an deutsch-polnische Sensiblitäten rührt. Der deutsche Fernsehfilm »Unsere Mütter, unsere Väter« (2013) wurde nicht nur in Polen auch deshalb kontrovers debattiert, weil er »Kämpfer der polnischen Heimatarmee, des stärksten militärischen Untergrundverbandes im besetzten Europa, als Antisemiten darstellt, die sich aus dumpfem Hass weigern, gefangene Juden aus einem deutschen Transport in die Gaskammern zu befreien«.24 Aber nicht darum soll es hier gehen. Mit dem Film steht einmal mehr die Frage im Raum, wie Erfahrungen zu vermitteln sind, die sich auf Nationalsozialismus, Krieg, Bombentod, Kesselschlacht beziehen oder die fatale Situation von Soldaten beschreiben, die um den Preis des Lebens zum Töten verdammt waren und die den eigenen Tod vor Augen 24 Schuller, Konrad: Sie schonen sich nicht. In: FAZ vom 23. 06. 2013.

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hatten. Ist in solchen Fällen wirklich eine Einfühlung bzw. Perspektivenübernahme möglich bzw. wie weit kann sie gehen? Es handelt sich hier – wie in anderer Weise beim Erfahren von Flucht, Deportation, Ghetto – um traumatische Erlebnisse, die zu einer Störung des Selbst führen. Clifford Geertz hat betont, in welcher Weise sich solche Katastrophen der mentalen und kognitiven Verarbeitung entziehen: »Es gibt mindestens drei Punkte an denen das Chaos – ein Aufruhr von Ereignissen, für die es nicht nur keine Interpretation, sondern auch keine Interpretationsmöglichkeit gibt – über den Menschen hereinzubrechen droht: an den Grenzen seiner analytischen Fähigkeiten, an den Grenzen seiner Leidensfähigkeit und an den Grenzen seiner ethischen Sicherheit.«25

Insofern – so meine These – sind die Möglichkeiten, Traumata narrativ zu konfiguren und den Zuhörer, Leser, Zuschauer zur Perspektivenübernahme zu bringen, begrenzt. Und diese Unfähigkeit, sich einzufühlen, betrifft auch durchaus Alltägliches, womit auf Gegenwärtiges verwiesen ist. Als Karl Lagerfeld von der »Süddeutschen Zeitung« danach befragt wurde, ob er einen Geldbeutel besitze, antwortete er: »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Einen Geld-… was? Ich zahle nie. Darum kümmern sich meine Mitarbeiter. Die machen alles für mich.«26

Entsprechend schwer fällt es ihm – und das ist hier gänzlich ohne Moralisieren gemeint –, sich in einen Menschen zu versetzen, der kein Geld hat oder betteln muss. Es könnte den Anschein haben, dass die vertretene Auffassung, wonach eine Perspektivenübernahme und Einfühlung in Personen und deren Lebenssituation aufgrund nicht existierender Primärerfahrungen nur bedingt funktioniert, in Widerspruch zu neueren Erkenntnissen der Neurophysiologie steht. In einer Reihe von Untersuchungen wurde nämlich herausgestellt, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, vergangene eigene Handlungen oder aber auch beobachtete Handlungen Anderer in einer konkreten Situation zu aktualisieren und neu zu kombinieren. Entscheidende neuronale Voraussetzungen für diese Fähigkeit des Menschen liegen – so die Annahme – in den sogenannten ›Spiegelneuronen‹.27 25 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur [Erstausgabe 1973]. In: Ders.: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 61. 26 Karl Lagerfeld hat keinen Geldbeutel. http://www.prosieben.de/stars/news/karl-lagerfeldhat-keinen-geldbeutel-ich-zahle-nie-135178 (Letzer Zugriff am 12. 03. 2015). 27 Zum nachfolgenden Komplex um Spiegelneuronen und die Theory of Mind siehe ausführlich Gansel, Carsten: Storytelling from the Perspective of Evolutionary Theory. In: Gansel, Carsten; Vanderbeke, Dirk (Hrsg.): Telling Stories/Geschichten erzählen. Literature and Evolution/Literatur und Evolution. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2012, S. 77–109. Siehe

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Eine Forschergruppe um den Physiologen Giacomo Rizzolatti fand heraus, dass es im prämotorischen Cortex von Affen Neuronen gibt, die bereits bei der Beobachtung einer Handlung so »feuern«, als ob sie sie selber ausführen würden.28 Während also der Affe wahrnimmt, wie ein anderer Affe ›seine‹ Nuss nimmt und schließlich auffrisst, ahmt er im Inneren diese Situation nach und spiegelt auf diese Weise das motorische Verhalten seines Artgenossen, womit er anzeigt, dass er es »nachvollziehen« kann.29 Für den Neurologen Vilayanur Ramachandran machen es die ›Spiegelneuronen‹ möglich, die Handlungen von anderen Personen in Form ›virtueller Realität‹ zu simulieren. Die Spiegelneuronen sind schließlich verantwortlich für das, was man »Theory of Mind« nennt. Darunter fasst man die Fähigkeit des Menschen, sich in den geistigen Zustand von anderen Personen hineinzuversetzen, was mögliche Handlungen, Gefühlszustände, innere Überzeugungen betrifft. Diese Kompetenz bildet für das Erzählen wie Lesen von Geschichten eine entscheidende Voraussetzung, weil es um die Fähigkeit zur Nachahmung, zur Perspektivenübernahme, zur Einfühlung und Empathie geht. Welche Bedeutung die Theory of Mind für die menschliche Kultur besitzt, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, was geschieht, wenn genau diese Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, nicht existiert. Mit dem Autismus gibt es ein Krankheitsbild, das die Ausbildung dieser Fähigkeit unterdrückt. Beim Autismus handelt es sich um eine ernsthafte Psychose, die bereits in der Kindheit auftreten kann. Autistische Kinder – man spricht in leichteren Fällen auch vom AspergerSyndrom – zeigen also auffallend wenig Flexibilität und sind nur bedingt in der Lage, »Als-ob-Situationen« zu imaginieren. Rollenspiele, die ansonsten ab einem Alter von zwei Jahren einsetzen, werden bei autistischen Kindern eher nicht zu beobachten sein. Diese Kinder werden auch keine Kuchen aus Sand backen oder mit einem Stock in der Hand das Reiten auf einem Pferd nachahmen. Aber – und dies ist meine These, die hier nur angedeutet werden kann – die Fähigkeit zur Empathie und Perspektivenübernahme hat insofern Grenzen, als nur eine Spiegelung von Handlungen und damit verbundenen Gefühlszuständen möglich ist, die selbst erfahren wurden. Das ist beim Essen, Trinken, Schlagen, Weinen usw. möglich. Erfahrungen von Folter, Bombentod, Exil, Flucht oder Vertreibung, Verlust der bürgerlichen Existenz sind in dem Fall, da sie nicht die deutsche Fassung des Beitrages: Ders.: Story Telling – Geschichten Erzählen in evolutionspsychologischer Perspektive. In: Peter, Georg; Krauße, Reuß-Markus (Hrsg.): Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen. Für Gerhard Preyer. Wiesbaden 2012: Springer VS, S. 271–300. 28 Vgl. Rizzolatti, Giacomo u. a.: Premotor cortex and the recognition of motor actions. In: Cognitive Brain Research 3/1996, S. 131–141. Siehe auch: Rizzolatti, Giacomo; Sinigaglia, Corrado: Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 29 Siehe dazu auch das Gespräch mit Giacomo Rizzolatti bei Remus, Joscha: Infonautik http:// www.infonautik.de/interviews.htm (Letzter Zugriff am 13. 03. 2015).

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selbst erlebt wurden, nicht bzw. nur rudimentär übertragbar – auch nicht durch das Erzählen von Geschichten oder filmische Inszenierungen. Dass diese Position die emphatisch aufgeladene Bedeutung von Literatur schmälern kann oder aber den Auffassungen der Politik nicht entspricht, steht außer Frage. Mit dem hier angedeuteten Problem der »Nicht-Perspektivenübernahme« bekommen wir es zu tun, wenn es um Versuche in der »wirklichen Wirklichkeit« wie in der Literatur geht, sich in »die Polen« oder »die Deutschen« einzufühlen, mithin »die andere Seite mit ihren eigenen Augen zu sehen«. Dieser Umstand sei abschließend an einem polnischen Autor diskutiert, und zwar an Andrzej Stasiuks »Dojczland« (2008), das in der deutschen Ausgabe nicht mehr den Untertitel »Ein Reisebericht« trägt.

IV. Stasiuks autobiographisch angelegter Ich-Erzähler berichtet von seinen ReiseErfahrungen mit Deutschland und den Deutschen. Die Sicht auf Deutschland ist nicht schmeichelhaft, wenngleich auch keineswegs so fatal wie es Aleksandra Zawis´lak auf den Punkt bringt: »Stasiuk spricht mit einer Verachtung, die sich ein deutscher Schriftsteller niemals gegenüber einem anderen Volk erlauben dürfte – weil sie ihm mindestens den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit einbrocken würde.«30 In der Tat ist es so, dass der Ich-Erzähler Mitteilungen von seinem beständigen Alkoholkonsum macht, und die Vermutung liegt nahe, dem Protagonisten habe der Rausch »die Sinne vernebelt«, weswegen er in Deutschland nur »das Rot des Kommunismus und den schwarzen Rauch der Krematorien« wahrnehmen könne.31 Der mitunter zynische Blick auf die Deutschen, dem es durchweg nicht darauf ankommt, »die andere Seite mit ihren eigenen Augen zu sehen«, trifft freilich genauso die polnische Seite. So ist z. B. die Rede davon, dass polnische Freunde, die in Deutschland arbeiten, zu der Auffassung gekommen sind, Deutschland wäre ein »viel angenehmeres Land«, wenn »es dort keine Deutschen gäbe. Wenn nur die Gastarbeiter und Emigranten dort blieben. Die Deutschen sollten irgendwo wegfahren und sich darauf beschränken, Geld zu schicken.«32

30 Zawis´lak, Aleksandra: Deutschland? Nur im Suff!. In: Stern vom 16. 09. 2008; siehe auch: http://www.stern.de/kultur/buecher/andrzej-stasiuk-deutschland-nur-im-suff-639219.html (Letzter Zugriff: 13. 03. 2015). 31 Ebd. 32 Stasiuk, Andrzej: Dojczland. Ein Reisebericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 25 [Im Folgenden unter der Sigle »D« mit Seitenzahl im Fließtext].

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Ein weiteres Moment, das erneut anzeigt, wie in die »eigene Erfahrung« das durch Generationen und Institutionen vermittelte Wissen aus dem kulturellen Gedächtnis eingeht, ist folgendes: Beim mißglückten Versuch, die Geldscheine der D-Mark zu erinnern, kommt der Erzähler auf die »Bildnisse auf den Banknoten« zu sprechen, zu denen man eine Bindung entwickeln würde, etwa ein Ulrich von Jungingen – er findet sich auf dem 100 Złoty-Schein – den »jedes polnische Kind kannte«. »In jeder polnischen Schule und jedem Kindergarten hing eine Kopie von Matejkos Schlacht von Tannenberg, und das war der erste Deutsche im Leben jedes kleinen Polen« (D, 32). In Deutschland müsste man dagegen einen großen Aufwand betreiben, um Personen zu finden, die um die Rolle des Ulrich von Jungingen wissen. Dass er Hochmeister des Deutschen Ordens war, 1409 dem Großfürstentum Litauen und dem mit ihm verbundenen Königreich Polen den Krieg erklärte und dass er das deutsche Ordensheer bei der Schlacht von Tannenberg in eine Niederlage führte, gehört weder zum kommunikativen noch zum kulturellen Gedächtnis ›der‹ Deutschen. Stasiuks Erzähler sieht die Funktion derartiger Reproduktionen in einer Institution wie der Schule darin, dass die »Erstkläßler sich das blutige Opfer des Deutschen auch einprägen« (D, 53). Nun sollen derartige Positionen an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, es kommt vielmehr auf zwei Aspekte an, die das hier diskutierte Thema betreffen und mit Blick auf Primärerfahrungen anzeigen, wo die Gründe für Gemeinsamkeiten wie Unterschiede liegen können. Ein erstes Moment: Offensichtlich ist bei aller Zuspitzung, dass in der Erinnerung des Ich-Erzählers der DDR eine gewisse Sympathie gilt. »Ich mochte die DDR«, bekennt der Erzähler. »In der DDR paßte mir außer den Skinheads alles«. Den Grund benennt er so: »Denn die DDR ist das fehlende Bindeglied zwischen Germanen und Slawen. Die DDR ist dieser verlorene Stamm – germanisch oder slawisch – niemand wird das entscheiden. Die DDR ist der Moment, wo die Deutschen ein bißchen von ihrem Sockel runterkommen« (D, 46).

In der DDR habe er auch »wirklich Freunde gefunden« (D, 47). Das hänge wohl damit zusammen, dass die nicht, wie die »aus dem richtigen Westen«, die ganze Zeit »unauffällig« kontrollieren würden, »ob sie sich an irgendwas schmutzig gemacht haben«. Die aus der DDR täten das nicht, »die benehmen sich ein bißchen so wie gehemmte Slawen«. Und mit dem vergleichenden Blick auf Lebensverhältnisse in Polen und der DDR heißt es ironisch: »Das Slawische, der Kommunismus, ein bißchen schlechteres Essen und billigere Kosmetika, das sind dann doch die Elemente, die das Menschsein befördern« (D, 47). Klar ist, und das bringt der Erzähler deutlich zum Ausdruck: Polen und Ostdeutsche haben – bei allen Unterschieden – vergleichbare Erfahrungen mit einer geschlossenen Gesellschaft gemacht, was die Einfühlung, Empathie und Perspek-

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tivenübernahme erleichtert und verbindet. Das reicht von einem stupiden Ertragen von Parteiparolen über die alltägliche Fahrt zur Arbeit und begrenzte Konsummöglichkeiten (Fleischerei) bis zu den beengten Wohnverhältnissen, dem Zurechtkommen mit den Provisorien des Alltags (Trabant) und der subversiven Gegenwehr in der Popmusik (Punk) mit vergleichbaren Idolen, wozu eben auch Czesław Niemen mit seinem Hit »Jednego Serca« gehört. Schließlich ein zweites Moment, das stärker an den Kern der Unterschiede kommt: Es ist die Form und das Verhältnis von Ordnung und Chaos bzw. Störung. »Ich guckte und dachte an Deutschland als Land der Form«, notiert der Erzähler und kommt schließlich zu dem Schluss, »worin wir uns unterscheiden – Slawen und Germanen. Wir unterscheiden uns in unserem Verhältnis zur Form. Die Germanen wollen sie vervollkommnen, die Slawen wollen sie ständig nur loswerden, eine durch die andere ersetzen, die jetzige in der Hoffnung abwerfen, die nächste werde bequemer sein« (D, 68).33

Störungen treten bei der Betrachtung des geordneten (westlichen) Raumes auf. Christian Luckscheiter hat mit Blick auf Stasiuk treffend herausgestellt, dass die »starre Ordnung […] dem ans Improvisieren Gewöhnten« – und das vereint Polen wie Ostdeutsche – den Blick ins Weite und nach Innen verbaut.34 Es ist daher nicht von der Hand zu weisen, dass Stasiuks Protagonisten, die »in Wahrheit ich selber« sind, den radikalen Veränderungen, die vom Westen ausgehen, distanziert gegenüberstehen. Sie wollen Dukla erhalten.35 Es geht ihnen darum, das, was unterzugehen scheint, in der Schrift zu retten. Das macht auch deshalb einsam, weil die davon wirklich Betroffenen ungestört weiter machen und sich nicht irrtieren lassen.36 Sollte es möglich sein, dass bei einer solchen topographischen Arbeit im Sinne von Walter Benjamin die Chance besteht, »die andere Seite mit ihren eigenen Augen zu sehen«? Wohl eher nicht. Eine solche Sicht auf deutsch-polnische Beziehungen könnte depressiv stimmen und provoziert die Frage, ob es denn überhaupt keine Autoren und Texte gibt, die versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden? Die Antwort muss knapp ausfallen und kann hier nicht vertieft werden: Sabrina Janesch mit ihrem 33 Dieser Hinweis auf ein möglicherweise unterschiedliches Verhältnis zur Form mit den Folgen für ein Nicht-Verstehen oder gar Dissonanzen, findet sich auch in anderen Texten von Stasiuk. Die von ihm favorisierten Welten zeichnen sich durch Ruhe, Stillstand, Zeitlosigkeit, Bewegungslosigkeit aus. Vgl. dazu den Beitrag von Luckscheiter, Christian: Weststörungen im mittelöstlichen Gelände. Zu Andrzej Stasiuks Versuchen, einen verschwindenden Kontinent in die Schrift zu retten. In: Gansel, Carsten; Zimniak, Pawel (Hrsg.): Störungen im Raum – Raum der Störungen. Heidelberg: Winter 2012, S. 371–386, hier: S. 377. 34 Ebd. 35 So der Titel eines Romans von Stasiuk, Andrzej: Die Welt hinter Dukla. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 36 Luckscheiter, Weststörungen. 2012, S. 380.

Literarische Polen- und Deutschlandbilder in der Diskussion

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Roman »Katzenberge« (2010) ist ein Beispiel. Der Roman verfügt entsprechend über eine besondere Figurenkonstellation, insofern die junge Protagonistin bereits in einer deutsch-polnischen Familie aufwächst, polnisch spricht und somit wirklich jeweils »die andere Seite mit ihren eigenen Augen sehen [kann]«.

Lothar Bluhm (Koblenz-Landau)

Der polnische Großvater – Zur Ästhetik des Vorbehalts in Monika Marons »Pawels Briefe«

In einem in Japan gehaltenen Vortrag kommt Monika Maron im Oktober 1995 auch auf ein Stück eigener Familiengeschichte zu sprechen: »Meine inzwischen achtzigjährige Mutter fand kürzlich bei der Suche nach alten Fotos einen Briefwechsel, den sie vor mehr als fünfzig Jahren mit einer deutschen Behörde geführt hatte und der ihre angedrohte Ausweisung nach Polen betraf. Meinen Großvater, der Jude war, hatte man bereits ausgewiesen. Er kam in ein Ghetto und wurde dort ermordet. Meine Mutter, in Deutschland geborene Polin und nach den nazistischen Rassengesetzen Halbjüdin, kämpfte in diesem Briefwechsel um ihr Leben. Später hat sie das vergessen. Als sie die Briefe jetzt wieder fand, machte ihr Vergessen sie zunächst ratlos. Wahrscheinlich, sagte sie, hat sie es vergessen wollen, nachdem sie den Krieg und die zwölf Jahre Faschismus überlebt hatte und nachdem für sie das Überleben wieder zur Normalität geworden war.«1

Auffällig an dieser Beschreibung sind die Verwobenheit von Erinnerung und Vergessen, von Angst und Grenzerleben in einem auf Vernichtung ausgerichteten totalitären System, von Generationenfolge und Generationenerfahrung sowie das Moment eines tastenden Suchens, von Mutmaßung und Ratlosigkeit angesichts eines jahrzehntelangen Vergessens. Der Fund wird Grundlage und Bezugspunkt einer literarischen Ausarbeitung, einer »Familiengeschichte«, wie es im Untertitel heißt. Sie stellt nun ganz augenfällig den abgeschobenen und schließlich ermordeten polnischen Großvater Pawel Iglarz in den Vordergrund. Jedenfalls signalisiert das der Titel des 1999 erschienenen Buches: »Pawels Briefe«. Die Veröffentlichung bietet, so Maron 2005 im Rahmen ihrer Frankfurter Poetikvorlesung, die »Geschichte meiner Familie durch das vorige Jahrhundert, montiert aus Briefen, Erinnerungen meiner Mutter, eigenem Erleben, Mutmaßungen und Leerstellen«2. Stoff ist die

1 Maron, Monika: Vortrag in Japan. In: Dies.: quer über die Gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2000, S. 46. 2 Maron, Monika: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2005, S. 82.

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Geschichte dreier Generationen, des polnischen Großvaters Pawel und seiner Frau Josefa, ihrer Tochter Hella und der Enkelin Monika Maron. Das Material bilden die Briefe des »Großvaters aus dem Ghetto und Briefe seiner Kinder an ihn« (PB, 10) 3 sowie die vielfältig gebrochenen und unstimmigen Erinnerungen der Mutter Hella und der eigenen Tochter. Die Form der Familiengeschichte ist die einer autofiktionalen Erzählung.4 Die ›Familiengeschichte‹ spielt mit dem erklärten autobiographischen Bezug des Erzählten. Die Erzählerfigur heißt Monika Maron und die Namen und Geschehnisse sind in relevanten Zügen historisch und biographisch dokumentiert, nicht zuletzt durch die Schrift- und Bildzeugnisse, die der Publikation beigegeben sind. Gleichwohl handelt es sich um einen Roman, für den gilt, was die Autorin zu ihrem häufig autobiographisch anmutenden Schreiben insgesamt notiert: »Wenn ich über das Schreiben spreche, muß ich über mich sprechen […]. Wenn ich einen Roman schreibe, spreche ich nicht über mich, auch nicht, wenn es so scheint. Die Versuchung, in dem erzählenden Ich eines Romans den Autor zu suchen oder gar zu erkennen, ist offenbar so groß, daß sogar die, die es besser wissen, davon nicht absehen können. Aber dieses Ich ist eine andere Person und nicht ich. Ich bin ihr verfügbares Material.«5

Ein zentrales Thema von »Pawels Briefe« ist das Erinnern, und zwar sowohl unmittelbar als narrative Retrospektion als auch selbstreflexiv als poetologisches Konstrukt.6 Bereits die im Vortrag in Japan aufgezeigte Verbindung von Erinnern und Vergessen deutet darauf hin, dass dabei dem Moment der poetologischen Selbstreflexion im Rahmen der ›Familiengeschichte‹ ein zentraler Stellenwert zukommt. Entsprechend gewinnt die Diskussion des eigenen Erinnerungskonzepts bei Maron eine spezifische Bedeutung. In der Folge soll Monika Marons ›Poetik der Erinnerung‹, wie sie in »Pawels Briefe« realisiert und problematisiert wird, mit dem Generalthema dieser Tagung, der Dekonstruktion nationalkultureller und anderer Stereotypen und

3 Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: Maron, Monika: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1999. [Im Folgenden unter der Sigle »PB« mit Seitenzahl im Text.] 4 Die gelegentlich zu lesende Rubrizierung als ›Autobiographie‹, wie sie etwa Antje Doßmann vornimmt, ist problematisch. Vgl. dies.: Die Diktatur der Eltern. Individuation und Autoritätskrise in Monika Marons erzählerischem Werk. Berlin: Weißensee Verlag 2003, S. 125–140, insb. S. 127–129. 5 Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann. 2005, S. 7. 6 Sehr schön die Unterscheidung bei Boll, Katharina: Erinnerung und Reflexion. Retrospektive Lebenskonstruktionen im Prosawerk Monika Marons. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 104: »Möchte man zusammenfassend die ›Poetik der Erinnerung‹ in den Prosawerken Monika Marons begrifflich konkretisieren, so sind zwei poetologische Momente maßgebend, das der Retrospektivität und das der Selbstreflexivität der Texte in Bezug auf das Erinnern.«

Zur Ästhetik des Vorbehalts bei Monika Maron

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Klischees in der Literatur, verbunden werden. Beides wird schließlich projiziert auf die Folie einer Ästhetik des Vorbehalts. In einem grundlegenden Artikel über Polenbilder in der deutschen Gegenwartsliteratur spricht Carsten Gansel bei Gelegenheit sehr zu recht von einer ›Abkehr vom Stereotyp‹: Es sei »repräsentativ für eine junge Autorengeneration«, dass sie sich in ihren Werken »von tradierten Polen-Stereotypen abwendet und im Gegenteil positive Polen-Bilder entwirft.«7 Gansel belegt seine Beobachtung anhand eingängiger Studien zu literarischen Polenbildern in Romanen der Jahre 2004 bis 2006. Die von ihm in den Blick genommenen AutorInnen Tanja Dückers, Hans-Ulrich Treichel, Dagmar Leupold, Stefan Wackwitz, Olaf Müller, Gernot Wolfram, Jens Petersen und Artur Becker vertreten als in den 1950er bis 1970er Jahren Geborene mehrere Folgen jüngerer Schriftstellergenerationen unterschiedlichster Prägung. Die hier im Blickfeld stehende Monika Maron, die 1941 in Berlin geboren wurde und von 1951 bis 1988 in der DDR lebte, gilt wie Peter Handke oder Botho Strauß als Vertreterin einer mittleren Generation.8 Gleichwohl wird man die von Gansel beobachtete Abkehr vom Stereotyp schon bei ihr beobachten können. Auch in »Pawels Briefe« ist eine augenfällige Dekonstruktion nationalkultureller Stereotypisierung und Klischisierung zu fixieren. Bereits das Augenmerk auf spezifische Hybridisierungen9 in der vorgestellten Familiengeschichte zeugt davon: So betonen die Ausführungen im Japan-Vortrag, aber auch die vielfältigen Reflexionen und nicht zuletzt die narrative Entwicklung der Großvaterfigur im Rahmen der Familiengeschichte selbst eine jedweder festen Identitätsbehauptung entgegenstehende Dichte an Transformationen. In ihrem Mit-, Neben-, In- und Nacheinander lassen diese Transformationen eine eigene, neue Hybrid-Identität zutage treten und einen eigenen soziokulturellen Zwischenraum aufscheinen – und zwar mit Blick auf die Familie als Ganzes wie bei jedem Einzelnen selbst. So ist der Großvater – auf den die nachfolgenden Beobachtungen sich beschränken möchten – in seiner dokumentarisch unterlegten Präsentation im Rahmen der autofiktionalen Erzählung ein 1879 im nordöstlich von Warschau gelegenen Ostrów7 Gansel, Carsten: Abkehr vom Stereotyp: Polenbilder in der deutschen Gegenwartsliteratur. Plädoyer für einen narratologischen Ansatz. In: Seminar 45/3 (September 2009), S. 263. 8 Die Relativität solcherart Zuordnung sei unbestritten. Eine reflektierte Diskussion des Generationenkonzepts in der Literatur hat in den letzten Jahren erkennbar eingesetzt und wird sicherlich noch weiter geführt werden. Eine schätzenswerte Hinwendung zum Problemfeld bietet etwa der Sammelband: Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung. Hrsg. von Gerhard Lauer. Göttingen: Wallstein 2010. 9 Zum Vorstellungshorizont sei ganz allgemein auf die Theoriebildung im Anschluss an Homi K. Bhabha verwiesen sowie im engeren Sinne auf dessen Schrift »The location of culture« von 1994 (Die Verortung der Kultur. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000). Eine aktuelle Einführung bietet Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer 2013.

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Mazowiecki geborener polnischer Jude. Der Hybrid-Charakter wird fassbar im Hinweis auf die Geburtsurkunde als amtliches »Schriftstück […] in russischer Sprache und in der deutschen Übersetzung eines Poznaner Pastors« (PB, 15). Auch die Namennennung zeigt ihn als eine Identität ›in between‹: »In der russischen Fassung heißt das Kind männlichen Geschlechts Schljama, in der deutschen Schloma« (PB, 15). Die Wiedererinnerung im Zuge der Erinnerungsarbeit nach dem Fund der Briefe ist zugleich ein Zeugnis für ein langjähriges Vergessen gerade dieses Zwischendaseins und Zwischenbewusstseins des Großvaters. Pawels Tochter Hella musste die Geburtsurkunde ihres Vaters spätestens 1939, damals 23-jährig, bei einem Verwaltungsakt zur Kenntnis genommen haben, wie das autofiktionale Ich der Tochter Monika in den 1990er Jahren rekapituliert: »Sie muß sie damals also gelesen haben. Aber daß ihr Vater Pawel, der sich auch Paul nannte, als Schljama oder Schloma geboren wurde, ist ihr [Hella – der Verf.] so neu, als hätte sie es nie gewußt« (PB, 15). Der Hybrid-Charakter, der sich im Nebeneinander der Namen Schljama, Schloma, Pawel und Paul offenbart, wird auch in der weiteren Biographie der Person immer wieder fokussiert: So konvertiert der Jude Pawel Iglarz im katholischen Polen zur baptistischen Glaubensgemeinschaft und zieht mit seiner Gattin Josefa beziehungsweise Juscha, einer ebenfalls zum Baptismus konvertierten polnischen Katholikin, 1905 nach Berlin, wo die Kinder geboren werden, um 1938 als jüdischer Pole ausgewiesen, ins Ghetto Belchatow bei Lodz überstellt und 1942 ermordet zu werden. Die im autofiktionalen Bericht der Enkelin nachgezeichneten und vielfältig befragten konfessionellen Transformationen der Großeltern finden eine gewisse Entsprechung in der Befragung von Pawels politischen Überzeugungen. So ist der tiefreligiöse, baptistische Großvater Ende der 1920er Jahre ganz offenkundig der kommunistischen Partei in Deutschland beigetreten, ohne seine religiösen Überzeugungen darüber verleugnet zu haben. Wie auch immer: Der polnische Großvater ist in Monika Marons autofiktionaler ›Familiengeschichte‹ in seiner gesamten Konturierung eine Entgegensetzung zu jedweder gängigen nationalkulturellen Stereotypisierung und Klischisierung. In seiner Zeit stand er damit ohne Zweifel quer zu jedweder Majoritätskultur und entsprechender Identitätskartierung. Diese Figurenkonturierung gewinnt innerhalb der ›Familiengeschichte‹ einen spezifischen funktionalen Charakter. Das eigentliche Thema von Marons Buch ist der letztlich politisch und kulturell fundamentierte Erinnerungsstreit zwischen den Generationen, und das heißt im Kern zwischen den autofiktional entwickelten Erinnerungswelten der Mutter Hella und ihrer Tochter Monika, insbesondere in Bezug auf die DDR. Erinnerungsstreit meint dabei die Auseinandersetzung um die Deutung dieser Vergangenheit und deren Relevanz für eine zu gestaltende Zukunft, über die grundunterschiedliche Vorstellungen herrschen.

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»Pawels Briefe« ist als Erzählwerk im Zusammenhang mit anderen Erzählungen der Autorin aus den 1990er Jahren zu sehen, die ebenfalls dem Erinnerungsdiskurs verpflichtet sind: »Stille Zeile sechs« von 1991 und »Animal triste« von 1996. In »Stille Zeile sechs« lässt Maron in der Auseinandersetzung zwischen der schon aus dem Roman »Die Überläuferin« bekannten Erzählerfigur Rosalind Polkowski und dem pensionierten hochrangigen DDR-Funktionär Beerenbaum, dessen Memoiren die stellungslose Historikerin zu schreiben helfen soll, unterschiedliche Bewertungen der DDR und ihrer Geschichte aufeinanderprallen: »So wie der Erzählerfigur [Rosalind Polkowski – der Verf.] die Position des altgedienten DDR-Funktionärs als intolerant, phrasenhaft und verlogen erscheint, muß diesem deren Versuch, die eigene kritische Distanz zum Kommunismus aus der Biographie der Nachgeborenen heraus zu erläutern, als gänzlich naiv und unverschämt-provokativ erscheinen«10. Selbst wenn die DDR-kritische Position der Erzählerfigur durch den Tod Beerenbaums als narrativ bestätigt erscheint, bleibt doch ein Vorbehalt, der sich aus dem Wissen der Historikerin um die perspektivische Bedingtheit und den unterschiedlichen Erfahrungshintergrund sowie dem unterschwelligen Respekt vor dem historischen Mut des eigentlich verhassten Gegenübers ergibt: »[…] ich wünschte, ich dürfte stolz sein auf Sie, einen, der widerstanden hat, der kein Nazi war und kein feiger Duckmäuser. Trotzdem, würde ich zu ihm sagen, muß ich Ihren Tod wünschen, […] weil Sie alles, was ich zum Leben brauche, gestohlen haben und nicht wieder rausrücken.«11

Wird in »Stille Zeile sechs« der Erinnerungsstreit um die DDR thematisiert, verhandelt »Animal triste« die sogenannte deutsch-deutsche Vereinigungsproblematik nach 1989/90. Sie ist eingebunden in eine anspielungsreiche Geschichte um Liebe, Wahn und Verrat, die eine Ost-Berliner Paläontologin und ihren aus Westdeutschland stammenden verheirateten Geliebten zusammenbringt, um ihr Miteinander in einer mutmaßlich von der sich verraten fühlenden Paläontologin herbeigeführten Katastrophe, dem Tod des Geliebten, münden zu lassen. Auf einer der Verstehensebenen, die der Text evoziert, präsentiert dieser sich als »verdeckter, höchst komplexer Erinnerungsdiskurs über die Entstehung, Geschichte und den Niedergang der DDR«12 sowie über das Scheitern des Versuchs, zu einer wirklichen Vereinigung zu gelangen. Gleichwohl verweigert Marons Erzählung jedes eindeutige Fazit. Umfassender noch als »Stille Zeile sechs« kommt »Animal triste« »ein Moment des ungewissen Schwankens zu, das sich bis 10 Bluhm, Lothar: »Irgendwann, denken wir, muß ich das genau wissen«. Der Erinnerungsdiskurs bei Monika Maron. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000). Hrsg. von Volker Wehdeking. Berlin. Erich Schmidt Verlag, 2000, S. 142. 11 Maron, Monika: Stille Zeile sechs. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1991, S. 156. 12 Bluhm, Erinnerungsdiskurs. 2000, S. 147.

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zum Schluss erhält«13, wie eine jüngere literaturdidaktische Aufbereitung noch einmal bestätigt. Fokussieren die früheren Erzählungen den erinnerungsliterarischen Blick auf den damals nahe zurückliegenden Zeitraum der mittleren 1980er und frühen 1990er Jahre, so erweitert ihn Marons ›Familiengeschichte‹ auf das ganze 20. Jahrhundert. Gleichwohl liegt der Brennpunkt auch in »Pawels Briefe« auf der narrativen Verhandlung eines Deutungsstreits um den Wert oder Unwert der DDR und die politisch-sozialen Weichenstellungen im Nachvereinigungsdeutschland.14 In diesem Streitgefüge gewinnt der polnische Großvater eine spezifische Funktion als Bezugspunkt für den Erinnerungsstreit zwischen dem autofiktionalen Ich Monika Marons und der Mutter Hella. Während die Erzählerfigur der Monika Maron die DDR als Zwangssystem erlebte und verurteilt, begreift die im Dritten Reich als sogenannte ›Halbjüdin‹ gefährdete Mutter Hella diesen Staat als Befreiung von Angst und Unterdrückung: »Das Jahr 1945 sei für sie wie eine Wiedergeburt gewesen, hat Hella gesagt« (PB, 113). Als Ehefrau eines führenden Politikers, Karl Maron, und gläubige Kommunistin gehört Hella zur Aufbau-Generation der DDR und bewahrt dem Staat auch über seinen Zusammenbruch hinaus Treue. Aus der Sicht der Tochter blieb sie dabei in all den Jahren dieses Systems und auch in der Rückschau blind für dessen der Tochter verhassten repressiven Charakter: »In ihren Aufzeichnungen erwähnt Hella weder das Jahr 1953 [den Aufstand des 17. Juni – der Verf.], noch das Jahr 1956 [die Aufstände in Polen und Ungarn – der Verf.], kein Wort über den Mauerbau 1961. Und 1968, ›das verfluchte Jahr 1968‹, wie Hella schreibt, ist nicht das Jahr des Einmarschs in Prag, sondern das Jahr ihrer Sorgen um Karl, der nach dem Ausscheiden aus seinen Ämtern [Abgeordneter der DDR-Volkskammer, 1955 bis 1963 Innenminister – der Verf.] in Depressionen gefallen war« (PB, 191f.).

Die Erinnerung an den von der Mutter halbvergessenen polnischen Großvater wird für die Enkelin zum Ansatzpunkt für einen Streit um die Wiedergewinnung der Blindstellen, die durch den Vorgang des Vergessens entstanden sind. Es ist zugleich eine grundlegende Infragestellung der politischen Identitätskonstruktion der Mutter: 13 Dawidowski, Christian: Gegenwartsliteratur und Postmoderne im Literaturunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2012, S. 97. 14 Einen Hinweis verdient Stefan Neuhaus’ Skizzierung der »Rahmenbedingungen« historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur und die Erinnerung daran, dass »Geschichte […] nicht nur aus bestimmten Gründen erinnert und vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis transferiert […], sondern ebenso zu bestimmten, nämlich aus den Bedürfnissen der Gegenwart resultierenden Zwecken konstruiert« wird. Ders.: »Die Fremdheit ist ungeheuer«. Zur Rekonzeptualisierung historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur. In: Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hrsg. von Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 27.

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»Sie sei eben immer Kommunistin gewesen mit bestimmten Überzeugungen, die sie auch unter anderen Umständen bewahrt hätte. So sieht es Hella; ich sehe es anders, und ab jetzt bestreite ich ihr die alleinige Interpretationshoheit für ihr Leben […]« (PB, 154).

Neben die Erinnerung Monika Marons tritt das Zeugnis des Großvaters als Beglaubigungsdokument der eigenen konkurrierenden Sichtweise. In seiner Opferexistenz wird Pawel Iglarz zum Gegenmodell gegen die Mutter Hella, die nach 1945 als »Sieger der Geschichte« (PB, 156) für die nachfolgende Unterdrückungsgeschichte der DDR in Mithaftung genommen wird. Durch den Rückbezug auf den Großvater gewinnt die Erzählerfigur Maron nicht zuletzt ein Moment jener Opferexistenz, die ihr als Kind »führender Parteifunktionäre« (PB, 170) in der Selbstwahrnehmung nicht zukommen konnte. Damit gewinnt die Selbstwahrnehmung als Opfer des Systems, in dem sie selbst aufgewachsen war, eine historisch versetzte Entsprechung in der eigenen Familiengeschichte. Die Dokumentation des Opfernarrativs untermauert eine identitätssichernde und insgesamt tröstliche Funktion, die dem polnischen Großvater bereits von der jungen Frau in der DDR zugewiesen wurde. Wie in der ›Familiengeschichte‹ erinnert wird, ist die Figur des Großvaters schon in dieser Zeit ein Medium der familienbiographischen Abgrenzung: »An meinem Großvater interessierte mich vor allem, was ihn von anderen Menschen, die ich kannte, unterschied; nur indem er sich von den anderen unterschied, konnte er mir gegen sie beistehen« (PB, 63). Dementsprechend werden seine Briefe in der Folge Ansatzpunkte für die Konstitution einer neuen, dem gewünschten Selbstbild gegenüber ›freundlicheren‹ Familiengeschichte. Jemand wie der polnische Großvater, der »aus dem Ghetto, in Erwartung seines Todes« so versöhnliche Briefe schrieb, wie er es tat, der hätte, so die Erzählerfigur Maron, »gefeit« gewesen sein müssen »gegen den Unfehlbarkeitsanspruch einer Partei, der hätte nicht gleichgültig bleiben können gegenüber den Opfern der nächsten Diktatur« (PB, 181). Zugleich dient die Wiedergewinnung des vergessenen Großvaters einer ›Spurensuche‹, die der Entwicklung der nächsten Generation gilt. Die Frage: »Was hatten Pawels Töchter Hella und Marta unter solchen Leuten [den Vertretern des DDR-Unterdrückungssystems – der Verf.] zu suchen?« (PB, 154) ist ein ständiger Bezugspunkt der Maron’schen ›Familiengeschichte‹. Als Positivfolie eignet sich der polnische Großvater in hervorragender Weise als Traditionsträger und historische Beglaubigung der eigenen systemoppositionellen Haltung der Enkelin. Tatsächlich ist die Figurenzeichnung des Großvaters in weiteren Teilen jedoch eine Mutmaßung, worauf die Erzählerfigur in »Pawels Briefe« auch immer wieder hinweist, sie ist ein Wunschbild, dessen primäre Funktion die Entgegensetzung zur Unbeirrbarkeit der Mutter und ihrer als falsch gegeißelten Erinnerungskonstruktion demonstriert. Die unbestreitbare Integrität des ermordeten Großvaters als Opferexistenz bildet ein Gegengewicht gegen die »ruinierte[n] moralische[n]

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Integrität« von Mutter und Stiefvater, die als Parteifunktionäre in der repressiven DDR in den Augen der Kindergeneration »dabei waren, sich aus Widerstandskämpfern in Machthaber zu verwandeln« (PB, 170). Dies geht jedoch schon über das Moment der Retrospektion hinaus und berührt das Feld der Selbstreflexivität. Gegenüber »Stille Zeile sechs« und »Animal triste« ist die Problematisierung des eigenen Erinnerungskonzepts in »Pawels Briefe« noch einmal deutlich vorangetrieben. Augenfällig ist, dass der Begriff der Erinnerung grundsätzlich an den der Mutmaßung gebunden und in den Horizont des Zweifels gestellt wird – er ist Ausdruck einer Ästhetik des Vorbehalts. In ihren Reflexionen des Erinnerungsbegriffs zeigt Maron sich – wie der Begriff ›Mutmaßungen‹ bereits andeutet – in besonderer Weise Uwe Johnson verpflichtet. In einem Vortrag im November 1997 spricht sie mit Blick auf dessen Roman »Mutmassungen über Jakob« (1959) ausdrücklich von einem »Schicksalsbuch«, das sie Anfang der 1980er Jahre erstmals gelesen habe. Das ›Mutmaßen‹ habe ihr seitdem als – wie sie schreibt – »ein nicht unverlässliche[s] Instrument unserer Erinnerung«15 gedient. Die zentralen poetologischen Aussagen finden sich indes schon in der ›Familiengeschichte‹ »Pawels Briefe« selbst formuliert, insbesondere in den Einleitungspassagen. Sie finden sich darüber hinaus aber auch im Rahmen einer begleitenden Reflexion der Retrospektion. Die Problematisierung des Erinnerungskonzepts in Hinblick auf die Autofiktionalisierung der ›Familiengeschichte‹ korrespondiert durchweg mit dem sprachlichen Gestus des beständigen Fragens, wie er bereits im ersten Satz zum Tragen kommt: »Seit ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben, frage ich mich, warum jetzt, warum erst jetzt, warum jetzt noch« (PB, 7). Der Vorgang des sich der Vergangenheit vergewissern wollenden, tastenden Erkundens ist an das Bewusstsein geknüpft, dass an dieser Geschichte – wie es heißt – »wenig sicher ist« (PB, 7). Schon die Sinnkonstitution als Element des Erinnerns ist – wie kritisch angeführt wird – einer »Sucht nach kausaler Eindeutigkeit« (PB, 13) geschuldet, der zweifelhaften Überzeugung, in den vielfältigen Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit einen »sich viel später offenbarenden Sinn« fixieren zu können oder »umgekehrt«, wie die Erzählerfigur sinniert: »[…] weil man das Chaos der Vergangenheit nicht erträgt, korrigiert man es ins Sinnhafte, indem man ihm nachträglich ein Ziel schafft« (PB, 13). So ist dem selbstreflexiven Bewusstsein der retrospektiv schauenden Erzählerin bereits die Fixierung des Erinnerns zweifelhaft: »Ich kann oft nicht unterscheiden, ob ich mich wirklich erinnere oder ob ich mich an eine meinem Alter und Verständnis angepaßte Neuinszenierung meiner Erinnerung erinnere« (PB, 167).

15 Maron, Monika: Ein Schicksalsbuch. In: Maron, quer über die Gleise. 2000, S. 8.

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In diesen Fragehorizont sind die Bemühungen gestellt, die als »paradiesisch verklärt« (PB, 50) vermuteten Erinnerungen der Mutter, aber auch die eigenen familiengeschichtlichen Rekonstruktionen in Hinblick auf deren offenkundig identitätssuchenden Charakter kritisch zu hinterfragen: »Nachträglich schaffe ich mir nun die Bilder, an die ich mich, wären meine Großeltern nicht ums Leben gekommen, erinnern könnte, statt sie zu erfinden« (PB, 51). Eine Folge dieser durch die Selbstreflexion bewirkten Verunsicherung ist die die Verunsicherung weiter befördernde Einsicht in den Auseinanderfall von konstruierter Erinnerungsgeschichte und dem erzählenden Ich: »Zwischen der Geschichte, die ich schreiben will, und mir stimmt etwas nicht« (PB, 52). In Marons ›Familiengeschichte‹ wird diese Unstimmigkeit letztlich jedoch aufgehoben, indem sie in eine Poetik der Vielstimmigkeit eingebracht wird. Zur Spezifik des erinnerungsliterarischen Konzepts in »Pawels Briefe« gehört nämlich die Offenlegung der Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit der Erinnerungsentwürfe: »Hella erinnert sich anders«, heißt es etwa an einer Stelle zu ihren Kindheitserinnerungen: »Hella erinnert sich an Glück. Manchmal kommt es mir fast gewalttätig vor, wie sie den Tatsachen ihres Lebens das Glück abpreßt, als könnte sie einen anderen Befund nicht ertragen. Aber es ist Hellas Leben, und nur sie kann sagen, wie oft das Befürchtete ausgeblieben ist und das Erhoffte sich statt dessen erfüllt hat« (PB, 70).

In die Wiedergabe der Kindheitserinnerungen der Mutter mischt sich unüberhörbar ein Ton des Zweifels. Der der Tochter als Idyllisierung erscheinende Rückblick wird als quasi gewaltsamer Akt der Klitterung vermutet. Allerdings zeigt sich bei dieser Bewertung eine doch beträchtliche Reihe an Signalen des Vorbehalts gegenüber der eigenen Eindeutigkeit im Urteil. Der Eindruck wird explizit als nur gelegentlicher versprachlicht – ›manchmal‹ –, und die Idyllisierung ist eben nur ›fast‹ gewalttätig. Zudem wird die vermutete Klitterung sofort psychologisiert, aber auch das wiederum im Modus des Konjunktivs: ›als könnte sie einen anderen Befund nicht ertragen‹. Der Zweifel an der eigenen Wertung ist allenthalben eingeschrieben. So steht am Schluss der kritischen Reflexion über allem Zweifel und Erinnerungsstreit auch die Konzession: ›nur sie kann sagen‹, was ihre Erinnerung ist. Auf den Punkt gebracht, findet sich diese Position an anderer Stelle: »Die Interpretationshoheit für ihre Biographie gehört Hella« (PB, 79) – trotz allem Zweifel der autofiktionalen Erzählerinstanz. Vielleicht ist es gerade dieses Moment der Konzession, zu dem das erinnerungsliterarische Schreiben in »Pawels Briefe« im Zuge seiner begleitenden Selbstreflexion gelangt, das den Kern von Monika Marons ›Poetik des Erinnerns‹ ausmacht. In diesem Sinne darf wohl auch der Rückblick auf das Buch gewertet werden:

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»Der genaue Umgang mit dem authentischen Material, der Verzicht auf Erfindung und die Nüchternheit der Sprache, zu denen ich mich beim Schreiben meiner Familiengeschichte verpflichtet gefühlt habe, hinterließen den dringenden Wunsch nach dem Gegenteil: nicht authentisch, viele Stimmen, Freiheit!«16

Gleichwohl entsteht gerade in diesem Bestreben, nicht authentisch sein zu wollen, die eigentliche, neue Authentizität der ›Familiengeschichte‹ – eine Authentizität im Ertragen von Vielstimmigkeit und Freiheit. Die Offenlegung dieser Vielstimmigkeit im Mit-, Neben-, aber auch Gegeneinander unterschiedlicher Positionen, die keiner vereinseitigenden Interpretationshoheit unterworfen wird, stellt Monika Marons ›Poetik der Erinnerung‹ und stellt »Pawels Briefe« in den Horizont einer ›Ästhetik des Vorbehalts‹. Die ›Ästhetik des Vorbehalts‹ ist ein grundlegendes Konzept der Moderne, das Unstimmigkeit als konstitutives Moment von Sinnangeboten versteht und entsprechend auf Offenheit abzielt. Einem in diesem Sinne offenen Text ist es »eigen, dass er mehr oder minder verdeckt mindestens zwei divergierende Aussagen zugleich transportiert, die sich wechselseitig in ihrem Alleinvertretungsanspruch relativieren.«17 Dieses Grundprinzip fundamentiert die Entwicklung und Diskussion des Erinnerungsstreits, den Monika Maron in »Pawels Briefe« vor Augen treten lässt. Die Grenzen der Konzession liegen für die autofiktionale Erzählerfigur allein da, wo die Erinnerung der Mutter mit der eigenen Zeugenschaft der erwachsenen Tochter in Widerstreit gerät. Doch bleibt selbst dort die Vielstimmigkeit im Nebeneinander der unterschiedlichen Interpretationen bestehen. Dies gestattet der autofiktionalen Erzählinstanz dann auch einen ausgesprochen versöhnlichen Schluss, der wohl nicht zufällig an das Vorbild des polnischen Großvaters und seiner so versöhnlichen Briefe aus dem Ghetto erinnert: »Meine Großeltern haben ertragen müssen, daß keines ihrer Kinder sich taufen ließ; Hella hat gelernt zu ertragen, daß ich Antikommunistin wurde; und ich muß ertragen, daß Hella Kommunistin bleibt« (PB, 205).

So wird auch die höchst unterschiedliche Bewertung des Wahlausgangs zum ersten gemeinsamen Bundestag, der der PDS, der Nachfolgepartei der SED, 1990 den für viele – und eben auch für die autofiktionale Monika Maron – schmerzhaften Einzug ins Parlament brachte, nicht zum Ausgangspunkt einer neuen Entgegensetzung, sondern ›ertragen‹: »Morgen werde ich sie [Hella – der Verf.] anrufen,« schließt die ›Familiengeschichte‹, »oder übermorgen, wenn ihre Siegesfreude sich ein bißchen gelegt hat, heute jedenfalls noch nicht« (PB, 205). 16 Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann. 2005, S. 21. 17 Bluhm, Lothar: Christa Wolfs »Medea. Stimmen« und die Ästhetik des Vorbehalts. In: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 140.

Zur Ästhetik des Vorbehalts bei Monika Maron

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Die Konzession des anderen Erinnerungsentwurfs, anderer Wirklichkeitsbeschreibung, Lebenskonzeption und Zukunftshoffnung ist der Kern dessen, was in der Tradition der Aufklärung Toleranz heißt, insbesondere dann, wenn dieses andere Lebensprojekt eine schmerzhafte Zumutung für einen selbst bedeutet – doch geht diese Fixierung damit schon über den konkreten Gegenstand dieses Beitrags hinaus. Dass die von Monika Maron auf ihre Weise realisierte Ästhetik des Vorbehalts über das Literarisch-Konzeptionelle hinaus eine ethische wie eine erkenntnistheoretische Dimension besitzt, ist immerhin angedeutet. Dass sie bei der Autorin in concreto wohl auch die Fortführung der Kulturtechnik des subversiven Schreibens darstellt, das für die ehemalige DDR-Autorin unter den veränderten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen nach 1989/90 obsolet geworden war, mag noch hinzugefügt werden. Eine nähere Betrachtung dieser Transformation würde aber wohl noch »Endmoränen« (2002) detaillierter einbeziehen müssen, was an dieser Stelle nicht möglich ist. Eine kurze Rückschau und Zusammenfassung sei gleichwohl noch vorgenommen: Im Blickfeld stand Monika Marons ›Familiengeschichte‹ »Pawels Briefe« von 1999. In der prominenten Herausstellung der Figur des ›polnischen Großvaters‹ bietet die Autorin ein Modell an, das in seiner Hybridität eine Dekonstruktion nationalkultureller und anderer Stereotypisierung und Klischisierung darstellt. Im Rahmen der autofiktionalen Retrospektion fungiert die Figur als Bezugspunkt für eine auf Offenheit und Toleranz abzielende Erinnerungsarbeit. Marons ›Poetik der Erinnerung‹ steht dabei im Horizont einer ›Ästhetik des Vorbehalts‹, die die autofiktionale ›Familiengeschichte‹ als einen modernen Roman sui generis transparent werden lässt.

Peter Braun ( Jena)

»Das Knie ist ein guter Platz zum Schreiben« – Polen in den Reisereportagen von Wolfgang Büscher »Ich kenne keine Fortbewegung, die dem Denken, dem Sprechen und schließlich auch dem Schreiben gemäßer wäre als das Gehen. Denn zum Fußweg gehört auch der langsame allmähliche Wechsel der Perspektive, das Innehalten, das Betrachten. Erst dadurch kann so etwas wie ein vielschichtiges Bild der Welt entstehen.« Christoph Ransmayr

I. Das von Uwe Johnson übernommene Leitzitat des vorliegenden Bandes findet ein frühes Echo im Gründungstext der modernen Ethnographie, in der Einleitung des ersten Bandes über die Trobriander von Bronisław Malinowski aus dem Jahr 1922 mit dem Titel »Argonauten des westlichen Pazifik«. Darin übt der in Krakau geborene Malinowski scharfe Kritik an der Methodik und der europäischen Egozentrik seiner Kollegen, die am Schreibtisch agierten und die Berichte anderer auswerteten. Dagegen setzte er ein neues, empirisches, auf Beobachtung und Teilhabe fußendes Vorgehen, das seitdem unter den Begriffen Feldforschung oder teilnehmende Beobachtung firmiert. Am Ende der Einleitung pointiert er seine neue Methode mit dem Satz: »Das Ziel besteht, kurz gesagt, darin, den Standpunkt des Eingeborenen, seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu führen.«1 Dieses Ziel gilt abgewandelt auch für den Journalismus, besonders für dessen Königsdisziplin, die Reportage. Wie der Ethnograph bricht auch der Reporter auf, begibt sich an einen Ort und berichtet, was er dort in teilnehmender Beobachtung erlebt und erfährt. Anders als jener ist der Reporter vielleicht mehr daran interessiert, unterschiedliche Sichtweisen auf ein Ereignis, unterschiedliche Bezüge zur Welt und zum Leben zu recherchieren, um sie dann in seinem Text 1 Malinowski, Bronisław: Argonauten des westlichen Pazifik. Schriften in vier Bänden. Hrsg. von Fritz Kramer. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Syndikat 1979, S. 49. [Hervorhebung im Original. Die erste Veröffentlichung erfolgte 1922 unter dem Titel »Argonauts of the Western Pacific«.]

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zu einem komplexen Gesamtbild zusammenzufügen. Hierin folgt der Reporter dem europäischen Verständnis der Moderne, während sich die akademischen Feldforscher lange der Konstruktion des Primitiven gebeugt haben, um eine möglichst homogene Weltsicht eines Stammes, einer Kultur zu entwerfen. Erst seit den 1960er Jahren wurde diese textuelle Praxis zunehmend reflektiert und zugunsten heterogener, Gruppen- und Genderdifferenzen berücksichtigender Darstellungen aufgegeben. In diesem Zuge ist der Abstand zwischen den wissenschaftlichen und den journalistisch-literarischen Formen immer kleiner geworden,2 wie auch immer mehr Schriftsteller die Rolle von Ethnographen übernommen haben, so beispielsweise Hubert Fichte.3 An ihm lässt sich das Eindringen einer genuin journalistischen Form in die Ethnologie aufzeigen: das Interview und das Porträt. Nicht mehr ein Stamm, sondern ein einzelner, individueller Vertreter wird in den Mittelpunkt gerückt. Das Interview belässt ihn seiner individuellen Stimme und zeichnet zugleich den Verstehensprozess des Ethnographen nach. So können der Ethnograph und der Reporter bis hinein in die Populärkultur als homologe Figuren angesehen werden, die in ähnlicher Weise vorgehen: Sie befinden sich vor Ort und nehmen ein Stück Welt in Augenschein und achten dabei auf Andeutungen, sprechende Details und prägnante Szenen, in denen sich größere Zusammenhänge zeigen – im Versuch, ›die Anderen mit ihren eigenen Augen zu sehen‹ und darzustellen. Wenn ich mich nun dem Journalismus zuwende, dann bewege ich mich in einem Bereich, der durch relativ klare Normen definiert ist. Die daran beteiligten Institutionen sorgen für eine strikte Selbstkontrolle. Aber auch auf Seiten der Lesenden existieren relativ klar umrissene Erwartungshaltungen, die sie an journalistische Texte und speziell an die Reportage richten. Demnach kann es dort nicht um ein parodistisches Spiel mit kulturellen Stereotypen oder deren Dekonstruktion gehen und auch nicht darum, den Prozess der Bildung solcher Stereotypen in einer Erzählung heilsamer Desillusionierung narrativ freizulegen. Reportagen machen sich auf den Weg und gehen hin, um in Augenschein zu nehmen, was vor Ort der Fall ist. Dabei können sie die kulturellen Stereotype implizit bestätigen oder – im Sinne einer kritischen Aufklärung – explizit prüfen. Dann aber setzen sie zugleich alte gegen neue Bilder und sind somit in jedem Fall aktiv und unmittelbar an der Kreation solcher kulturellen Bilder beteiligt.

2 Ich verweise hierzu auf die sog. Writing-Culture-Debatte der 1980er Jahre und ihre einschlägigen Veröffentlichungen von James Clifford für den angloamerikanischen und von Fritz Kramer sowie Hans-Jürgen Heinrichs für den deutschsprachigen Bereich. 3 Vgl. Braun, Peter: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt a. M.: Fischer 2005.

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II. Ein deutscher Reporter, der das Hingehen ganz wörtlich nimmt, ist Wolfgang Büscher. Er zählt zu den profiliertesten Köpfen des deutschen Journalismus. Der Grund liegt nicht allein in der stilistischen Brillanz seiner Texte, darüber hinaus besitzt er ein spezifisches Markenzeichen, mit dem er zumeist identifiziert wird: Er geht zu Fuß. Wolfgang Büscher fing Ende der 1990er Jahre an, die Fußreise zu einem journalistischen Element zu machen. Zuerst wanderte er, neugierig auf den Osten der Stadt und des Umlandes, rund um Berlin, 180 Kilometer in einer Woche. Eingang fand diese erste Fußreise in das Buch »Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer« aus dem Jahr 2002, auch wenn hier das Unterwegssein zu Fuß noch nicht zum textkonstitutiven Element erhoben wird.4 Von da an nehmen seine Wanderungen und Fußmärsche immer mehr die Gestalt eines physischen Kraftakts an, in dem Ausdauer und Disziplin zusammenfallen. Seine nächste Fußreise führte ihn bereits von Berlin nach Moskau. Er ging durch Polen, Weißrussland und Russland – drei Monate lang, 1.800 Kilometer. Das Buch, das daraus entstand, erschien 2003 und wurde ein Bestseller.5 Im Anschluss daran umwanderte er Deutschland und blickte dabei von den Rändern auf sein eigenes Land, nachzulesen in »Deutschland, eine Reise« aus dem Jahr 2005.6 Sechs Jahre später, 2011, erschien dann ein Buch, das seine Fußreise durch die USA schildert, von Norden, der Grenze zu Kanada, bis in den Süden an den Golf von Mexiko. Büscher durchwanderte das Land ziemlich genau in der geographischen Mitte, kam also durch die Prärie, den »Bible Belt« und an den Mississippi – und entsprechend lautet sein Titel: »Hartland«.7 Aber nicht nur für Buchprojekte, sondern auch für Reportagen in Zeitungen war und ist Wolfgang Büscher zu Fuß unterwegs.8 So im Jahr 2012, als Polen und die Ukraine die Europameisterschaft im Fußball ausgetragen haben – wieder in Richtung Osten: Sein Weg führte ihn dieses Mal von Breslau, polnisch Wrocław bis nach Lemberg, ukrainisch Lwiw, gut 600 Kilometer in vier Wochen von Ende 4 Büscher, Wolfgang: Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer. Berlin: Alexander Fest Verlag 2002. 5 Büscher, Wolfgang: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. 6 Büscher, Wolfgang: Deutschland, eine Reise. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005. 7 Büscher, Wolfgang: Hartland. Zu Fuß durch Amerika. Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2011. 8 Zwar setzt Büscher in Interviews seine Bücher von seiner sonstigen journalistischen Praxis ab, und das völlig zurecht, denn er schreibe ja nicht nur Reisereportagen zu Fuß. Darüber hinaus nehme er sich in seinen Büchern größere literarische Freiheiten. Zugleich betont er aber auch, dass er in beiden Bereichen »nicht ein völlig anderer sei«. Vgl. Hauptmeier, Ariel: »Der eigene Ton und wie man ihn findet. Interview mit Wolfgang Büscher. In: Reporterforum, 29. 04. 2008. http://www.reporter-forum.de/index.php?id=117&tx_rfartikel_pi1%5BshowUid%5D=95 (Zugriff am 15. 02. 2014).

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März bis Ende April. Doch dieses Mal ging Büscher nicht, wie bei seinen anderen Wanderungen, allein, sondern wurde von dem jungen Filmemacher Lukas Schmid und dem Kameramann Marek Iwicki begleitet. So entstanden eine 45minütige Fernsehdokumentation mit dem Titel »Immer nach Osten«9 und eine ausführliche Reportage, die beide annähernd zeitgleich im Juni 2012 im ZDF ausgestrahlt bzw. im »ZEIT-Magazin« veröffentlicht worden sind.10 Büscher gab seiner Reportage den Titel »Die Welt hinter Breslau« – in Anspielung auf jenes Buch des polnischen Autors Andrzej Stasiuk, mit dem dieser in Deutschland bekannt wurde: »Die Welt hinter Dukla«.11 Auf die Reportage und den Film soll im zweiten Teil dieses Beitrags zurückgekommen und beide ausführlich mit Blick auf die Weise, wie Polen darin dargestellt wird, analysiert werden (V. und VI.). Doch zunächst ist es notwendig, der Strategie der Selbstinszenierung Büschers weiter nachzugehen und die Implikationen freizulegen, die mit dem Zu-Fuß-Unterwegssein verbunden sind. Denn sie legen den diskursiven Rahmen fest, in dem sich Büscher mit seinen Texten bewegt – und dieser ist einmal von der literarischen Tradition seit der Aufklärung geprägt (III.) und setzt sich zugleich bewusst von der üblichen journalistischen Praxis ab (IV.).

III. Bricht heute, in der ersten Hälfte des 21. Jahrhundert, eine/r für eine längere Reise zu Fuß auf, mag das für die meisten anachronistisch erscheinen. Sie werden vielleicht an Sten Nadolnys »Die Entdeckung der Langsamkeit« denken, auch wenn sie nur den Titel kennen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch werden ihnen die aktuellen soziologischen Gegenwartsdiagnosen zur Beschleunigung unserer Gesellschaft in den Sinn kommen.12 Wolfgang Büscher hat, daraufhin in Interviews befragt, stets bekundet, er wolle aus seinem Zu-Fuß-Gehen »keine große Ideologie« machen. Das klingt sympathisch und nimmt für ihn ein. Aber sein understatement ist kalkuliert, denn implizit ist das Verhältnis zu schnelleren 9 Immer Richtung Osten. Ein Film mit Wolfgang Büscher. Regie: Lukas Schmid. Kamera: Marek Iwicki, Lukas Schmid, Schnitt: Konrad Kirstein. Der Film wurde am 10. 06. 2012 um 23.15 Uhr im ZDF ausgestrahlt. Weitere Informationen und einen Trailer bietet die Homepage vom Lukas Schmid: www.lukasschmid.com (Zugriff am 15. 02. 2014). 10 Büscher, Wolfgang: Die Welt hinter Breslau. In: Zeit-Magazin Nr. 24/2012, vom 06. 06. 2012. Zugänglich über Zeit-Online: www.zeit.de/2012/24/Wanderung-Polen-Ukraine (Zugriff am 15. 02. 2014). [Im Folgenden unter der Sigle »HB« mit Seitenzahl im Text.] 11 Stasiuk, Andrzej: Die Welt hinter Dukla. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. (Die polnische Originalausgabe ist 1997 erschienen und heißt schlicht »Dukla«). 12 Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.

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verkehrstechnischen Fortbewegungsmöglichkeiten dem Zu-Fuß-Unterwegs-Sein von selbst eingeschrieben. Seit dem Zeitpunkt, als es nicht mehr bloße Notwendigkeit war, um von einem Ort zum anderen zu kommen, konnte eine Wahl getroffen werden. Seitdem ist es zu einer kulturellen Praxis geworden, mit der sich eine Vielzahl von Bildern, Phantasmen und Wunschvorstellungen, aber auch von Erwartungen, Normen und Konventionen verbunden haben. Viele Autoren haben daran mitgeschrieben, von Jean Jacques Rousseau über Johann Gottfried Seume bis zu Henry David Thoreau, von Joseph von Eichendorff über Robert Walser bis zu Peter Handke, und sie alle haben es mit einer bestimmten, jeweils leicht variierenden Semantik überformt und somit zur Herausbildung einer kulturellen diskursiven Formation beigetragen. Deshalb seien nun ihre grundlegenden Elemente in geraffter Weise aufgezeigt. Im 18. Jahrhundert waren zum ersten Mal weite Teile Europas mit einem flächendeckenden Netz von Postkutschenverbindungen überzogen. Dadurch wurde das Zu-Fuß-Gehen vom unmittelbaren Zweck der Fortbewegung von einem Ort zu einem anderen enthoben; es wurde entpragmatisiert und konnte somit neu interpretiert werden.13 Diese Möglichkeit ergriff das Bürgertum als ein Element seiner Emanzipation von den feudalen Gesellschaftsstrukturen. Zu Fuß ließen sie die alten Zentren des Ancien Régime hinter sich und traten ins Freie, ins Offene der Natur, wo sie sich als unabhängige und autonome Subjekte erleben konnten. Dafür war notwendig, diese neue Form des Unterwegsseins deutlich von einer kulturellen Praxis des Adels abzugrenzen: dem Promenieren. Dieses fand auf eigens dafür angelegten und öffentlich sichtbaren Wegen statt. Für den Adel galt es, sich dort zu zeigen, sich zu präsentieren und dabei eine möglichst gute Figur zu machen – mit einem Wort: das Promenieren als Bühne für den eigenen Auftritt zu nutzen. Ganz anders dagegen das bürgerlich-romantische Wandern: Es erfolgte gerade in Absetzung von dem Geselligen und einer überkommenen, bald mit ersten Entfremdungserfahrungen verbundenen Gesellschaft, führte in die freie, mitunter wilde oder zumindest als Wildnis entworfene Natur und war ein einsamer und intimer Akt: der Einzelne im Austausch mit sich und der Natur – und allenfalls mit einem engen Freund.14 Frauen waren von dieser kulturellen 13 Ich beziehe mich bei meiner knappen Darstellung auf (a): Moser, Christian; Schneider Helmut J.: Einleitung. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. In: Gellhaus, Axel et al. (Hrsg.): Kopflandschaften. Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, S. 7–27; und (b): Schmidt, Aurel: Gehen. Der glücklichste Mensch auf Erden. Frauenfeld: Huber-Verlag 2007. Vgl. auch: König, JohannGünther: Zu Fuß. Eine Geschichte des Gehens. Stuttgart: Reclam 2014. 14 Auch das Bürgertum hat die Promenade schnell adaptiert, und zwar aus denselben Motiven wie der Adel: um sich als die neue Klasse zu inszenieren, die aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist. Aurel Schmidt spricht sogar von den zwei Idealtypen des Spaziergängers, dem Schwärmer und dem Bürger (vgl. Schmidt, Gehen, S. 128–134). Bald hat sich das bürgerliche Promenieren auch in der Stadtentwicklung niedergeschlagen. Denn als idealer Ort

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Praxis weitgehend ausgeschlossen ebenso wie die unteren Schichten. Alle diese Aspekte kommen prägnant in einer Passage von Johann Gottfried Seume zum Ausdruck, die sich nicht in seinem bekannten Reisebericht »Spaziergang nach Syrakus« findet, sondern in jenem, einige Jahre später erschienenen Bericht einer Reise ins Baltikum und nach Russland mit dem Titel »Mein Sommer« (1806). In der Vorrede bedauert er, dass er nicht auch diese Reise ganz zu Fuß zurücklegen konnte, denn: »Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossemen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.«15

Mit den Adverbien »anthropologisch« und »kosmisch« betont Seume in der Tradition der Aufklärung den Gewinn empirischen Wissens. Eng damit verknüpft, erschloss – und das klingt ebenfalls bei Seume an – das neu interpretierte Gehen auch neue Formen ästhetischer Erfahrungen. Aus der Weise, wie das Gehen Landschaft neu erfahrbar machte, entwickelten sich im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts die Kategorien des Erhabenen und des Pittoresken. Beide setzten das Gehen und die Erlebnisweise von Landschaft, die durch das Gehen möglich wurde, voraus. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war die favorisierte, mit der Kategorie des Schönen belegte Darstellungsweise der Landschaft die des Prospekts: Von einem leicht erhobenen Standpunkt aus überblickte man in harmonischer Ruhe eine statische Landschaft, die durch Naturelemente – ein Baum im Vorder-, eine Bergkette im Hintergrund – gerahmt und stabilisiert wurde. Ab den 1860er Jahren hingegen gewannen stärker dynamische Darstellungsweisen die Oberhand, die nicht mehr um einen Überblick bemüht waren, sondern nur noch Ausschnitte zeigten und durch neue Perspektiven aus der Unter- und der Obersicht ein neues Sehen erlaubten, in dem sich der wohlige Schauer des Erhabenen einstellte oder sich der ruinöse und melancholische Glanz des Pittoresken wiederspiegelte. Mögen sich diese Kategorien im weiteren auch verselbständigt haben, so bleiben sie an ihrem Ursprung mit dem Gehen verbunden und bilden von daher einen festen Bestandteil in Darstellungen, die auf Fußreisen beruhen – mit anderen Worten: Sie sind ein festes Ingredienz in der kulturellen Diskursformation Gehen.

galt die stadtnahe Natur vor und um die Stadtmauern. Als die Städte dann weiter wuchsen, wurden diese als Parkanlagen in die Städte integriert. 15 Seume, Johann Gottfried: Mein Sommer 1805. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Jörg Drews. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 541–736, hier: S. 543/544.

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IV. Wenn Wolfgang Büscher das Gehen zum Element seiner journalistischen Praxis macht und seine Reisereportagen darauf fußen lässt, dann setzt er sich einerseits bewusst gegen die übliche journalistische Praxis ab und stellt sich ebenso bewusst in die Tradition der bürgerlich-emanzipativen kulturellen Praxis des Gehens. Erhielte ein Reporter den Auftrag, eine Momentaufnahme Polens im Frühjahr 2012, kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft, zu schreiben, würde er zunächst sorgfältig recherchieren. Er würde sich überlegen, an welche Orte er reist und welche Menschen er dort treffen will. Er würde Termine vereinbaren und einen Reiseplan festlegen. Unterwegs wäre er sehr wahrscheinlich mit einem Auto, mit dem er die Wegstrecken zwischen den ausgewählten Orten schnell zurücklegen kann. In seiner Reportage würden diese Fahrten nicht erscheinen; höchstens die ein oder andere Beobachtung unterwegs ragte hinein. Polen würde sich im schließlich fertiggestellten Text in einem synchronen Schnitt zeigen. Büscher weicht von dieser Praxis mit Kalkül ab. Er kappt die Recherche und bereitet sich, nach eigener Aussage, auf seine Reise nur wenig vor. Er trifft ein anderes Arrangement. In einem Interview, das er der Online-Zeitschrift »literaturkritik.de« zu seinem Buch »Berlin Moskau« gegeben hat, kommt es prägnant zum Ausdruck: »Dieser Reise lag […] ein stiller Vertrag zu Grunde, ein Pakt zwischen mir und dem Land. Der Pakt lautete ungefähr so: Ich gebe diesem Land mich selbst, liefere mich ihm aus, hier bin ich, du kannst mit mir machen, was du willst, du kannst mich mit Regen peitschen, du kannst mich in der Sonne braten, […]; dafür aber will ich deine Bilder, deine Geheimnisse und deine Geschichten, all das, was in dir steckt. Wenn man diesen Pakt eingeht, dann kann man nicht als Journalist um die Ecke kommen. Dann kann man nicht Leute interviewen wollen usw.«16

In diesem Arrangement lassen sich deutliche Anklänge an das Gehen als kultureller Praxis finden – gerade in der engen Bande zwischen freier Natur und intimer Innerlichkeit. Doch Büscher spitzt dieses romantische Paradigma weiter zu. Er transformiert es in einen Tauschhandel, der auf einer Inversion des aktiven, journalistischen Handelns in ein passivisches Erdulden und Erleiden in Gestalt des Sich-Auslieferns beruht. Es ist ein Akt der Unterwerfung. Als Antrieb und mögliche Gegengabe fungiert ein anderes verborgenes und letztlich esoterisches Wissen. Das Gehen, könnte man weiter sagen, wird hier zu einer rituellen Praxis stilisiert, die dem Muster einer Initiation folgt. In solchen Riten werden die Novizen, wie Victor Turner aufgezeigt hat, als Vorbereitung zunächst erniedrigt 16 Prangel, Matthias: Zu Fuß nach Moskau. Ein Gespräch mit Wolfgang Büscher. In: literturkritik.de Nr. 7, Juli 2006. Abzurufen unter: www.literaturkritik.de/public/rezension.php? rez_id=9674 (Zugriff am 15. 02. 2014).

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und in einen Zustand temporärer Verwilderung versetzt. Die Novizen büßen ihren sozialen Status ein, sie verlieren ihren Namen, gelten als schwarz und mithin als unsichtbar und müssen sich, wie in bestimmten afrikanischen Gruppen, mit Erde beschmieren, um von den Tieren nicht mehr unterscheidbar zu sein. So kommen sie in einen Zustand – Turner charakterisiert ihn als liminal –, in dem sie als eigentliche Initiation in das entsprechende geheime Wissen und die geheimen Praktiken eingewiesen werden.17 Übertragen auf Büscher hieße dies: Er selbst schlüpft in die Rolle eines Novizen, dem das Gehen – als Zustand temporärer Verwilderung –zur Voraussetzung dafür wird, dass ihn das Land in sein verborgenes Wissen und seine Geheimnisse initiiert. Doch zieht man diesen rituellen, rational nicht einholbaren Gehalt ab, so bleibt die gesteigerte Bedeutung des Zufalls. Büscher befördert ihn zum strukturierenden und legitimierenden Faktor des Textes. Er erhebt ihn geradezu zum Garanten dafür, dass sich im Zufälligen das Eigentliche, das Wahre, das Sein hinter den glänzenden Fassaden des Scheins offenbare. Nun spielt der Zufall im Journalismus und besonders in der Reportage immer eine Rolle, und es gibt, gerade in der Reportage, eine Tradition der Hinwendung zum Alltäglichen, zum Randständigen, zum Unscheinbaren. Spezifisch für Büscher ist, dass er den Zufall an das entschleunigte Tempo des Gehens knüpft und zur Bedingung seiner Möglichkeit macht: Das Gehen soll den Zufall anziehen, es soll ihn hervorlocken. Damit jedoch verschiebt sich das, was im Journalismus »Nachrichtenwert« heißt, und es verschieben sich die Auswahlfaktoren, die eine journalistische Information zuallererst hervorbringen. Was berichtet wird, ergibt sich eben nicht mehr aus einer mehr oder weniger sorgfältigen und an journalistischen Kriterien orientierten und überprüfbaren Recherche, sondern aus den kontingenten, durch die Langsamkeit des Gehens provozierten Zufällen am Weges- und Straßenrand. Welche Bedeutung dieses andere Arrangement für Büscher hat, geht daraus hervor, dass er die Formulierungen aus dem Interview fast im Wortlaut in den Kommentar des Films »Immer nach Osten« übernommen hat. Dort heißt es, ziemlich zu Anfang: »Warum zu Fuß? Warum tue ich das? Mit dem Auto wäre ich heute Abend in Lemberg. Gesehen und erlebt hätte ich allerdings: nichts. Es ist ein Pakt mit dem Land. Er besteht aus einem einzigen Satz: Ich liefere mich dir aus, dafür gibst Du mir deine Bilder, deine Stimmen, dein Lied.«

Doch halten die derart aufgeladene Reportage und der derart aufgeladene Film, was sie versprechen? Geht jenes andere Arrangement auf und gelingt es Büscher, im entschleunigten Tempo des Gehens andere Bilder freizulegen? 17 Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt a. M.: Campus 1989.

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V. Für die Analyse beider medialen Präsentationsformen bietet es sich an, die räumlichen Aspekte in den Vordergrund zu rücken und mithin nicht auf die an Marcel Proust gewonnene Narratologie Gerard Genettes, sondern auf die den Raum favorisierende von Jurij Lotman zurückzugreifen – ausgehend davon, dass sowohl fiktionale als auch, wie im vorliegenden Fall, faktuale Texte narrativ verfasst sind.18 Für Lotman setzen sich literarische Texte aus einer Folge von Räumen zusammen, die jeweils mit einer bestimmten Semantik belegt sind – weshalb er von jenen Räumen auch als »semantischen Feldern« spricht. Damit verwandeln sich die Räume zugleich von reinen, geometrischen zu konstruierten, dichten, erfüllten, in Beziehung zu einem wahrnehmenden Subjekt stehenden Räumen. Um eine Geschichte zu erzählen, werden zumindest zwei, semantisch voneinander geschiedene Räume benötigt. Diese sind wiederum durch eine Grenze getrennt. Ein narratives Ereignis findet für Lotman statt, wenn eine Figur der Erzählung diese Grenze überschreitet. Dann kommt etwas in Gang, dann wird etwas erzählbar. Deshalb bezeichnet Lotman das Ereignis als kleinste Einheit der Erzählung oder in der russischen Tradition, in der Lotman steht: des Sujets. Kommt es indes zu keiner Überquerung, wird die Ordnung der Räume in ihrer Statik bestätigt. Folglich teilt Lotman das Figurenensemble eines Textes in unbewegliche und bewegliche Figuren. Unbewegliche Figuren verharren in ihrem semantischen Feld und verhalten sich affirmativ zur räumlichen Ordnung; bewegliche Figuren hingegen besitzen die Fähigkeit, die Grenze zu überqueren und mithin jene Ordnung zu unterlaufen. Sie stören die Ordnung, indem sie ein Maß an Unordnung in sie hineintragen. So heißt es bei Lotman: »Das Sujet ist im Verhältnis zum ›Weltbild‹ ein ›revolutionäres Element‹.19 Entscheidend nun ist, und das macht diesen zugegeben etwas schematischen Ansatz auch für faktuale Texte wie Reportagen interessant, dass für Lotman die räumlichen Strukturen eines Textes mit den räumlichen Strukturen des zugrundeliegenden »Weltbilds« korrelieren. Nicht als schlichtes Abbildungsverhältnis, sondern, wie es Michael C. Frank formuliert hat, als »räumliches Grundmuster der Wirklichkeitskonstruktion in reduzierter und literarisch transformierter Form« – zu ergänzen wäre: in literarisch und journalistisch transformierter Form.20 Mag Lotman zur 18 Zur Begründung vgl.: Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: Fischer 2012, vor allem Kap. I. 19 Vgl. Lotman, Jurij: Künstlerischer Raum, Sujet und Figur. In: Dünne, Jörg; Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 529–545: hier S. 540. Erstmals veröffentlicht 1970. 20 Vgl. dazu den hilfreichen, die Verdienste wie auch die Defizite Lotmans diskutierenden Artikel von Michael C. Frank: Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei

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Zeit der Niederschrift seiner räumlichen Narratologie noch von einer Hierarchie zwischen Kultur und Text ausgegangen sein, so hat spätestens die kulturwissenschaftliche Diskussion der 1990er Jahre gezeigt, dass Texte die kulturelle Ordnung nicht nur reflektierend verarbeiten, sondern stets an ihr auch aktiv mitarbeiten und sie entwerfen. Auf die Reportage »Die Welt hinter Breslau« übertragen, ist zunächst die Figur des zu Fuß gehenden Reporters als die einzige bewegliche Figur des Textes zu identifizieren – wie Journalisten und Reporter insgesamt als prädestinierte Grenzgänger im Sinne Lotmans gelten können, die gegenüber der kulturellen Ordnung ein aufstörendes Potential besitzen.21 Zu Fuß gehend durchschreitet diese Figur nun eine Folge von Räumen, die im Text semantisch voneinander abgesetzt sind. Der Übertritt von einem Raum in den anderen wird selten explizit erzählt; er wird aber auch nicht völlig unterschlagen. Meistens finden sich sanfte, den Übertritt nur andeutende Übergänge. Eine Grenze indes ist sehr deutlich markiert: die reale Grenze zwischen Polen und der Ukraine, die zugleich die Außengrenze der EU bildet. Entsprechend wird sie im Text inszeniert: »Die Grenze kündigt sich früh an. Ukrainische Kennzeichen, Laster fahren Kolonne, das Land dünnt aus. Ein letzter Drahtkorridor liegt zwischen Europa und der Welt jenseits davon. […] Wir treten aus der Grenzanlage und befinden uns in einer anderen Welt. Einer, in der Männer Stiefel und Frauen Kopftücher tragen und Pferdefuhrwerke aus Feldwegen auf die Straße nach Lemberg und weiter nach Kiew biegen« (HB, 11).

Damit stehen diese beiden Länder im Text als politische und kulturelle Räume in einer klaren Opposition. Semantisch besetzt sind diese Räume – und das eröffnet einen ersten Blick auf die kulturellen Bilder, die in der Reportage gezeichnet werden – auf Seiten der Ukraine mit ärmlich und nach wie vor bäuerlich geprägt; entgegengesetzt wird Polen als ein Land geschildert, das von einem enormen Modernisierungsschub ergriffen worden sei. Damit sind in die räumliche Semantik zugleich zeitliche Indizes eingetragen: hier Vergangenheit und vormoderne, bäuerliche Welt, dort Moderne und Zukunft. Deutlich wird dies an einem Textdetail, das für beide Länder wiederholt wird und somit als explizites Signal der Oppositionsbildung fungiert: die leuchtenden Dachziegel. So heißt es zunächst über Polen: »[…] die Polen, sie bauen wie losgelassen. Das ist der erste, stärkste Eindruck, selbst das entlegenste Dorf bekräftigt ihn, Neubau für Neubau, Dach für Dach, Zaun für Zaun. […] Polnisch ist die Liebe zum tiefroten, sattgrünen oder azurblauen Ziegeldach. Wie

Jurij Lotman und Michail Bachtin. In: Hallet Wolfgang; Neumann, Birgit (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 53–80, hier: S. 64. 21 Das gilt in gleichem Maß auch für die Figur des Ethnographen – ein weiterer Beleg für die eingangs behauptete Homologie dieser Figuren.

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unter Tortenglasur leuchten diese Dächer aus jedem Dorf hervor, durch das ich gehe. So viele Märkte für Dachziegel, Zäune, Garagentore« (HB, 2/3).

Der Vergleich der »wie unter Tortenglasur leuchtenden Dächer« wird viele Seiten später für die Ukraine wieder aufgegriffen. Dann heißt es: »Wir gehen durch Straßendörfer wie in Polen, doch keines strotzt vor Neubauten, kein Dach hier hat eine Tortenglasur. Es ist ein Spalier niedriger Häuser, hinter denen Kartoffeläcker liegen. All die Märkte und Supermärkte sind wie weggewischt« (HB, 11).

Die damit errichtete, räumliche Makrostruktur einer klaren Opposition wird für den Raum Polen, dem der weit längere Teil der Fußreise gewidmet ist, in weitere Binnenräume differenziert und jeweils unterschiedlich semantisch belegt. Damit wird jedoch zugleich die klare Opposition zurückgenommen, der Raum Polen durch verschiedene Binnenräume sehr viel komplexer und zugunsten einer auch zeitlichen Differenzierung relativer. Die Reportage setzt in Breslau ein, ein Raum, der im Text überraschend persönlich durch die Figur des Reporters besetzt ist. Hier ist sein Vater geboren, der die Stadt am 10. Januar 1945, einem Einberufungsbefehl der Marine folgend, mit 17 Jahren verlassen hat und nie wieder zurückgekehrt ist.22 Der Reporter begibt sich auf die Suche nach dem ehemaligen Wohnhaus der väterlichen Familie. Doch er findet nur eine Baulücke, das Haus selbst ist abgerissen. Damit ist zugleich das Motiv des polnischen Baubooms, das immer wieder aufgegriffen wird, eingeführt. Die Emphase, die Büscher auf dieses Motiv legt, erklärt sich auch als Versuch, gegen das alte Bild des ärmlichen, von Mangelwirtschaft geprägten Polens – kulminierend in der stereotypen Redewendung von der »polnischen Wirtschaft« – anzugehen. An einer Stelle wird dies im Blick auf die Häusergärten, die sich in Ziergärten verwandelt haben, sogar als Imperativ formuliert: »Keine Kohlköpfe mehr, keine Kartoffelbeete, die Zeichen der Hungerleiderjahre suchst du vergebens. Kapier’s endlich, Deutscher: Die Zeit der ärmlichen Selbstversorgung, sie ist hier aus und vorbei« (HB, 3).

Zugleich interpretiert Büscher diese Zeichen des Wohlstands als ein Abwenden und Abstoßen Polens von seiner Geschichte. Die Zeit des Sozialismus und des Warschauer Pakts, die Zeit der ideologischen Zwänge und sprachlichen Verformungen ist vorbei und vergangen – oder soll vergangen sein. »Aus dem Gefängnis seiner Geschichte befreit, rennt es [Polen – der Verf.] hinaus in die Zukunft«, formuliert Büscher (HB, 2). Und gerade darin zieht er eine Parallele zum Wirtschaftswunder-Deutschland der 1950er Jahre. Das Land erinnere ihn an das 22 Schon in dem titelgebenden Kapitel »Drei Stunden Null« aus dem gleichnamigen Buch nimmt Büscher die Lebensgeschichte seines Vaters zum Ausgangspunkt, um am Beispiel Breslaus über das Jahr 1945 zu erzählen.

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Deutschland seiner Jugend, ein Deutschland, so erschien es ihm, »das baute als baue es um sein Leben«. Und es heißt: »Ein Traum treibt das manische Bauen an, wir Deutschen kennen ihn gut, es ist der Traum von einem neuen Leben in spurlos neuen Städten und Häusern« (HB, 2/3). Damit stülpt sich über den beschriebenen Raum ein historischer Metaraum, das Deutschland der 1950er Jahre, der zugleich der kulturelle Raum der Adressaten dieser Reportage ist, die mit dem verwendeten »wir« direkt angesprochen werden. Das Schlesien östlich von Breslau ist der nächste Binnenraum, der in der Reportage folgt. Orte wie Brieg und Oppeln, Groß-Döbern und oder GroßStrehlitz stehen hierfür. Oft trifft die Figur des Reporters auf zweisprachige Ortsschilder, denn hier lebt noch eine deutschsprachige Minderheit – Schlesier, die nach dem 2. Weltkrieg geblieben sind. Das heutige Verhältnis zu den Polen beschreibt eine deutsche Wirtin aus dem Dorf Nakel als gut. Konterkariert wird diese Aussage durch zwei Szenen, die das spannungsgeladene Verhältnis zu einer anderen Minderheit schildern: zu den Roma. Doch entgegen des zu Beginn kraftvoll gezeichneten Bildes des neuen, zukunftszugewandten Polens treten hier Spuren hervor, die in die Vergangenheit führen. Freilich sind dies höchst eigensinnige und seltsam imaginäre Spuren, weit davon entfernt, sich der Vergangenheit in objektivierender Weise zu stellen. Ein Schlesisches Wirtshaus in Groß-Döbern entpuppt sich als ein Museum der besonderen Art: »Wände und Decke der Gaststube sind ganz und gar mit alten Emaille-Reklamen bedeckt. Ausgestorbene Zigarettenmarken, Vorkriegsbiere, aber auch Namen, die überlebt haben. Erdal, AEG, Opel. Mein Blick bleibt an einem Schild gleich über der Tür hängen – am Oberschlesischen Wanderer, einer längst vergessenen Zeitschrift« (HB, 4).

In einem anderen Gasthof, ein gutes Wegstück weiter, entdeckt der Reporter ein monumentales Wandgemälde, das sich über die vier Wände eines großen Raumes erstreckt. Es zeigt in seinen Figuren und Szenen ein nationalpolnisches Schlesien in polnischen Trachten und Uniformen, und über allem schweben Fesselballons in den polnischen Nationalfarben Rot und Weiß. Alle Gräben und Kämpfe, alle Verwerfungen der Vergangenheit sind daraus getilgt. Der Ich-Erzähler ordnet das Wandbild »als naiven, hier und da sogar humorvollen Selbstbetrug« ein: »Die Kinder, der hierher vertriebenen Galizier spielen ihren Hotelgästen – den Kindern der von hier vertriebenen Deutschen – vor, wie es wäre, wenn die Welt vor ihnen glücklich gewesen wäre. Sie tun dies natürlich als Polen.« Doch zugleich nimmt der Reporter das Fresko ernst – als Manifestation einer Sehnsucht, die sich darin zu erkennen gibt: »Es ist die Sehnsucht nach einer Erzählung, die älter ist als das eigene Leben. Nach Bildern, die die Leere füllen. Nach Heilung dessen, was unheil war. Nach Boden unter den Füßen und einem Ort in der Welt. […] Sie ist mir nicht völlig fremd« (HB, 6).

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Mit diesem letzten Satz wird das Erleben wiederum an die Figur des Reporters, an seine Geschichte und Familiengeschichte zurückgebunden. Schon in Breslau konstatierte der Reporter: »Aus Gründen, die mir noch immer nicht klar sind, habe ich einen Hang, ostwärts zu gehen« (HB, 2) – ein Beleg dafür, dass, wie oben ausgeführt, das Zu-Fuß-Gehen in der Tradition der Romantik immer auch mit Selbstfindung verbunden ist. Merkwürdige Kreuzungen der Zeitläufte, allerdings ganz anderer Art, charakterisieren auch den sich anschließenden Textraum, den das oberschlesische Industrierevier um Kattowitz bildet. Als ehemalige Garanten eines wirtschaftlichen Wohlstands in der sogenannten »Gründerzeit« sind die Zechen, Hütten und Abraumhalden heute aus der Zeit gefallen. Sie bilden eine Welt von gestern mit all ihren sozialen Konsequenzen für die Welt von heute. Doch inmitten dieses Raumes ist ein anderer Raum insulär eingekapselt, den man mit Michel Foucault als Heterotopie bezeichnen kann23: die »Schlesische Oper« von Beuthen, polnisch: Bytom. Der imposante Bau ist ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, und doch hat er sich bis heute gehalten, und, was er beherbergt, die Oper, setzt der schwarzen Tristesse des umgebenden Reviers ihre eigene artifizielle Ästhetik entgegen. Damit wird sie, in den Worten Foucaults »zu einem Ort, der außerhalb aller Orte« liegt, und an dem sich zugleich die Zeit bricht. Denn ihre einstige Funktion, Ausweis des Reichtums der gründerzeitlichen Industriekultur zu sein, hat sie schon lange verloren. Zugleich hat sich diese Zeit jedoch in ihr angesammelt, so dass sie heute, wiederum mit Foucault, zu einer Heterochronie geworden ist. Andere Orte unterliegen anderen Zugängen, und entsprechend wird dies im Text inszeniert. Die Stadt zeigt sich dem Reporter zunächst ganz in ihrem ruinösen Glanz, verstärkt noch durch den einsetzenden Regen. Doch dann: »Plötzlich Licht in der Düsternis. Ein Platz öffnet sich auf ein schönes Gebäude hin, Musik dringt heraus – die Schlesische Oper. Ich streife den klatschnassen Regenmantel ab, den Rucksack, gehe hinein, durchs Foyer, durch einen Gang immer der Stimme nach, die da singt, lege die Hand auf die feine Messingklinke der letzten Tür, die mich vom Gesang trennt – ein schlammbespritzter Grobian von der Straße, der seit langem nichts als Dreck gesehen und gefressen hat, hält eine Goldammer in der Hand, so fühlt es sich an. Der Gesang ist in die kleine goldene Klinke gefahren und von ihr in mich, so ist es. Ich öffne die Tür, die Sängerin steht allein auf der Bühne, ihre Stimme erfüllt den Saal, ich bin allein mit ihr« (HB, 8).

Die Szene ist, selbst wenn man die Entbehrungen und Mühsal des Zu-Fuß-Unterwegsseins beachtet, überzeichnet, was der Text voll ausspielt. Noch am nächsten Tag wirkt das Erlebnis nach, die Ruinen der Industriezeit stehen nun »in einem helleren Licht«. Erst im Nachhinein, als die Szene vollends ihre Wir23 Vgl. Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Dünne/Günzel: »Raumtheorie«. 2006, S. 317–329.

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kung ausgeübt hat, bietet der Text weitere Informationen. Erst dadurch wird das nächtliche Erlebnis wieder stärker in der Realität der Reportage verankert – ohne jedoch gänzlich seinen irrealen Charakter zu verlieren. So galt die Probe der Oper »Fürst Igor« von Alexander Borodin, in die der Reporter am Abend zuvor platzte, einem russischen Komponisten, und die Sängerin, die der Reporter auf der Bühne beobachtete, stammt aus der Ukraine. Das ist kein Zufall, denn nach dem Zweiten Weltkrieg diente die Oper von Beuthen als Zufluchtsort für das Ensemble der Oper von Lemberg – und dieses historische Erbe wirkt bis heute nach. Schichtungen der Zeit. Was der Text der Reportage als das Aufeinanderprallen von Wirklichkeit und Traum schildert, der nur mühsam aufgefangen wird, lässt sich auch als Aufeinanderprallen der beiden, mit dem Gehen gewonnenen ästhetischen Kategorien des Pittoresken und des Erhabenen beschreiben. Denn sie treffen hier in geradezu idealtypischer Weise zusammen: der ruinösen und stillgelegten Bergarbeiterstadt – sie fällt unter die Kategorie des Pittoresken – steht die intakte »Schlesische Oper« mit ihrem monumentalen Bau aus deutscher Zeit und die Arie der Opernsängerin als Verkörperung des Erhabenen gegenüber. Erst in der Kombination mit der Schilderung der nahegelegenen Hauptstadt des oberschlesischen Industriereviers, der Stadt Kattowitz, erreicht die Semantisierung dieses Textraums jedoch ihr volles Ausmaß und wird in ihrer Ambivalenz erkennbar. Denn in Kattowitz, so wie es im Text geschildert wird, hat die Zukunft bereits Gestalt angenommen, auch wenn die Innenstadt noch einer einzigen Großbaustelle gleicht. Nagelneue, glitzernde Hochhäuser ragen in den Himmel und breite Autostraßen ziehen sich durch die Stadt. Zugespitzt wird diese Schilderung durch eine Figur, die als Kontrapunkt der Opernsängerin fungiert: »Als wir Kattowitz verlassen, springt uns ein leuchtend blau gekleideter Mann in den Weg. Wo kommt er so plötzlich her? Er will uns etwas zeigen – da hinauf. Er führt uns einen Hang hoch. Wir stehen über einer gewaltigen Baugrube. Das sei eine Zeche gewesen. Sein Vater habe darin 47 Jahre geschuftet. Vorbei, vorbei. Er redet ununterbrochen. Er drängt uns zu einer großen Schautafel, ein Ast liegt herum, ich hebe ihn auf und reiche ihn ihm, er benutzt ihn, ohne zu zögern, als Zeigestock und legt los. Wie ein Lehrer erklärt er uns das neue Kattowitz, das hier entsteht – der große Plan« (HB, 9).

Erst durch diese Figur, nach Lotman trotz seiner offensichtlichen Hektik eine unbewegliche Figur ebenso wie die Opernsängerin, kommt die Janusköpfigkeit dieses semantischen Feldes zum vollen Ausdruck. Zum einen ragt die Zeit von gestern noch hinein, zum anderem zeichnet sich darin schon die Welt von morgen ab. Und das nicht nur in der sichtbaren Architektur, sondern vielmehr noch in den Köpfen der Agenten der Jetztzeit, wie in diesem »leuchtend blau gekleidete[n] Mann«.

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Der nächste, allerdings nur kurz belichtete Textraum umfasst die altpolnische Königsstadt Krakau: »Krakau muss man sich als ein Gehäuse des reinen Vergnügens vorstellen. Tagsüber findet das Vergnügen auf Plätzen und Straßen statt, aber wenn es Nacht wird, beleben sich die tief gestaffelten Höfe und Kellergewölbe seiner alten Bürger- und Geschäftshäuser zu einem einzigen, von Stimmen und Sounds schwirrenden Raum« (HB, 10).

Doch wichtiger als diese räumliche Semantisierung ist die zeitliche Relation, die prospektiv zum abschließenden Textraum der Reportage, zu Lemberg, gezogen wird. Am Ende der kurzen Passage über Krakau fällt die Bemerkung: »Jemand sagt, Lemberg sei so schön wie Krakau, aber nicht so aufgeräumt« (HB, 10). Nach Krakau folgt als nächstes semantisches Feld der Süden Polens mit den Ausläufern der Beskiden. Die Landschaft wird vor allem durch die Natur und den anbrechenden Frühling gekennzeichnet: »Die Knospen der Kastanien und Magnolien platzen auf, die Vögel singen sanfter, ganz für sich« (HB, 10). Kein Wunder also, dass der Reporter in die Irre geht und, vom Weg abgekommen, sich nach Einbruch der Dunkelheit in einem entlegenen Dorf wiederfindet: »Vor einer Sporthalle, im grellen Licht eines Bodenleuchters, der eine Riesenstatue des polnischen Papstes von unten anstrahlt, versuche ich die Karte zu lesen« (HB, 10). Die Statue des Papstes Johannes Paul II. mit all ihren Implikationen des katholischen Polens – sie ist eines von vielen Beispielen der vielen kleinen, sprechenden Details am Wegesrand, die der Zufall dem Reporter zuspielt und die er ganz beiläufig in den Text einfügt. Jenseits der großen Grenze zur Ukraine und angekommen in Lemberg, dem letzten topographischen Raum und zugleich semantischen Feld des Textes, wird die zeitliche Relation zu Krakau wieder aufgegriffen. Lemberg wird nicht räumlich, sondern zeitlich semantisiert als Ort, der die Bewegung der Zeit, der Veränderung bereits in sich trägt: »Krakau ist schon belebt, Lemberg als Nächstes dran. Der große Ballermann ist schon in der Stadt, abgestiegen in einem der neuen, teuren Hotels. Aber er hat noch nicht losgelegt. Es ist der unwiederbringliche Moment, der zauberhafte Vorabend von etwas, das in der Luft liegt. […] In den Gassen ein Lachen, ein helles Hämmern – das sind die Schankterrassen, die überall festgenagelt werden« (HB, 12).

Blickt man, vom Endpunkt der Fußreise, nochmals zurück auf den gesamten Text, löst sich die starre makrostrukturelle Opposition der kulturellen Räume Polen und Ukraine zunehmend auf. Zunächst – und das soll nicht unterschlagen werden – bekräftigt der Text die Grenze und mithin die Differenz EU und NichtEU. Zugleich jedoch wird diese starre räumliche Struktur durch zeitliche Indizes unterlaufen. Denn auch für die Binnenräume, die zusammen den kulturellen Raum Polen bilden, wird ein komplexeres und diffizileres Verhältnis zur Zeit, zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstatiert. Polen ist nicht allein von

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einem enormen Modernisierungsschub mit einem starren Blick auf die Zukunft ergriffen, es hält auch, oft eigensinnig, an seiner Geschichte fest – und diese ist nicht homogen, nicht aus einem Guss, wie es sich alle nationalen Erzählungen erträumen, sondern heterogen, mehrsprachig und multi-ethnisch. Zudem entwickelt der Text ein Sensorium für das, was sich in den sichtbaren Gegenständen an Sehnsüchten und kollektiven Träumen ausdrückt, ein ›Gespür‹ für das kulturell Imaginäre. Der Text misst ihm eine große Bedeutung zu und nimmt sich viel Zeit dafür. Dadurch weiten sich die durchwanderten Räume über das Sichtbare ins Immaterielle. Nicht zuletzt darin löst der Text jenes andere Arrangement ein: in der Langsamkeit des Gehens aus dem, was sich zufällig am Wegesrand ereignet, das Dahinterliegende zu erfassen.

VI. Grundsätzlich lehnen sich die Reportage und die Fernsehdokumentation eng aneinander an. Dieselben Protagonisten durchqueren dieselben Räume und semantischen Felder in derselben Reihenfolge. Dennoch springen beim Betrachten des Films die Unterschiede zunächst stärker ins Auge. Dies liegt nicht nur daran, dass im Film viele Szenen zu sehen sind, die in der Reportage nicht vorkommen – wie auch umgekehrt die Reportage über Schilderungen verfügt, die exklusiv ihr vorbehalten sind. Dass sich der Eindruck der Unterschiedlichkeit aufdrängt, liegt vor allem an den unterschiedlichen Medien und ihren jeweiligen gestalterischen Möglichkeiten und Zwängen. So ist, um ein erstes Beispiel zu nennen, die biographische Grundierung der Reportage und damit das romantische Erbe des Gehens als Selbstfindung im Film fast vollkommen zurückgenommen – zugunsten einer starken physischen Präsenz Wolfgang Büschers in den Bildern. Sehr oft ist er als handelnder Akteur ins Bild gesetzt. Entweder spricht er Menschen an, die er trifft, oder führt sogar längere Gespräche mit ihnen, oder er wird im Gehen gezeigt. Darin liegt vielleicht sogar der auffälligste Unterschied. Hält sich die Reportage nur ganz selten beim Gehen auf, was im Text an keiner Stelle selbstreflexiv aufgegriffen, nur gelegentlich selbstreferentiell eingesetzt wird, so wird es im Film kontinuierlich ins Bild gesetzt und bildet das Hauptgeschehen der gezeigten Aktion. Dem Filmemacher Lukas Schmidt war es sogar offenbar wichtiger, das Gehen im Sinne von »action« in Szene zu setzen, unterlegt mit einer entsprechenden Musik, die die Bewegung des Körpers affirmativ hervortreibt, als sich im Rhythmus des Films der Langsamkeit des Gehens anzunähern. Aber auch andere Unterschiede scheinen durch die je spezifischen medialen Erfordernisse bedingt zu sein. So ist der Kommentar von Büscher an vielen Stellen deutlicher, plakativer formuliert, bringt auf den Punkt und spricht ex-

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plizit aus, was in der Reportage nur angedeutet ist, um es lediglich zu evozieren. Der Grund liegt darin, dass ein gesprochener Kommentar im Film nur wenig Zeit zur Verfügung hat und daher viel knapper formuliert sein muss. Ein Beispiel bietet die Szenenfolge von Brieg. Zu sehen ist eine sehr gut besuchte Messe in einer Kirche. Der Reporter reiht sich unter die Besucher ein. Im Kommentar wird herausgestellt, dass sich die Kirchgänger aus allen Gesellschaftsschichten zusammensetzen, um somit das Bild des »katholischen Polens« zu bestätigen. Zudem heißt es im Kommentar noch explizit: »Modernisierung und Glaube – in Polen scheint es kein Gegensatz zu sein.«24 Gleichwohl muss man konstatieren, dass im Vergleich zu vielen anderen Fernsehdokumentationen die akustische Ebene des Kommentars ein starkes Eigengewicht gegenüber der Ebene der Bilder besitzt, was nicht zuletzt auch an seiner sprachlichen Qualität liegt. Dies rückt »Immer nach Osten« in die Nähe des Essayfilms, zu dessen Merkmalen u. a. ein eigenständiger und sprachmächtiger Kommentar zählt, der dem gesamten Film einen literarischen Zug verleiht.25 Trotzdem bleibt die visuelle Ebene für das Medium Film dominant und ist in einem hohen Maß an das Sichtbare gebunden. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich, die im Gegenüber von Reportage und Fernsehdokumentation besonders deutlich werden. So bietet der Film eine ganze Reihe von Einstellungen, in denen in einem Bild die komplexe Überlagerung von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart ausgedrückt wird. Ein Beispiel liefert die Begegnung mit einem älteren Mann, der mit Hingabe sein altes Auto, einen roten Lada, pflegt. Stolz erzählt er vor der Kamera, welches Aufsehen er mitunter mit seinem Auto erregt, ja geradezu Bewunderung, auch und vor allem von jungen Menschen. Man sieht den Mann neben seinem Auto stehen, er hat es aus der Garage herausgefahren – und über allem ragt der rote, deutsche Schriftzug »Kaufland« vom nahen Supermarkt ins Bild. Eine andere, dichte Szene ereignet sich in Kattowitz. Wir befinden uns offensichtlich im Zentrum der Stadt, überall Baustellen. Die Kamera zeigt einen Straßengeiger, einen ›armen Spielmann‹, dessen Spiel weit davon entfernt ist, virtuos genannt zu werden. Plötzlich schiebt sich ein Mann in einem hautengen, orangenen Overall im Hintergrund durch das Bild, dann noch einer, und noch einer, insgesamt sieben oder acht Männer. Einige von ihnen tragen eine Eichel aus Plastik als Rucksack auf dem Rücken. Offensichtlich eine Werbeaktion, vielleicht für einen Mobilfunkanbieter. Allein dies bildet bereits einen so krassen 24 Die im Text wiedergegebenen Zitate aus dem Kommentartext von Wolfgang Büscher sind vom Verfasser transkribiert. Sowohl die textliche Fassung, vor allem die Wahl der Satzzeichen, als auch eventuelle Unstimmigkeiten hat der Verfasser zu verantworten. Auf einen Einzelnachweis über Timecode hat der Verfasser verzichtet. 25 Vgl. hierzu grundlegend: Kramer, Sven; Tode, Thomas (Hrsg.): Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität. Konstanz: UVK-Verlag 2011.

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wie skurrilen, auch zeitlich konnotierten Kontrast. Nun klingelt jedoch eine Münze in der Dose des Straßengeigers. Er unterbricht sogleich das Spiel, leert die Dose und tippt daraufhin auf eine elektronische Kasse. Die dazugehörigen technisch produzierten Pieptöne sind zu hören. Die elektronische Kasse springt auf, der Geiger legt seinen Verdienst hinein, schließt die Kasse, stellt die Blechdose zurück und spielt weiter – während im Hintergrund die Truppe in Orange langsam aus dem Bild tritt. Was sprachlich also nur schwer und mit vielen Sätzen einzuholen ist, kommt in der filmischen Einstellung von etwa zehn Sekunden Länge sehr prägnant zum Ausdruck. Dabei erschließt sich visuell die Szene wesentlich unmittelbarer als in der sprachlichen Beschreibung, der immer eine Tendenz innewohnt, was sie beschreibt auch zu interpretieren. An anderen Stellen kehren sich die Verhältnisse um, etwa bei der oben bereits beschriebenen traumwandlerischen Begegnung in der »Schlesischen Oper« von Bytom. Auch der Film versucht, diese Szene nachzustellen, aber er scheitert daran. Denn der Film hat nicht wie die Sprache die Möglichkeit, den phantasmagorischen Gehalt zu vermitteln. Viel zu sehr dem Konkreten, dem Sichtbaren verhaftet, kommt der Film nicht weiter, als den Besuch einer Probe zu dokumentieren. Geradezu ernüchternd wirkt zum Beispiel der sichtbare Fakt, dass die ukrainische Opernsängerin zur Probe eine Jeans trägt. Diese Erdung im Sichtbaren versucht der Film dadurch auszugleichen, indem er innerhalb dieser Szenenfolge ein Interview mit dem Intendanten der »Schlesischen Oper« zeigt, in dem dieser Auskunft über die Geschichte seines Hauses erteilt, aber auch eine Einschätzung der aktuellen Situation Polens vornimmt. Die historischen Informationen, die der Film vermittelt, gehen deutlich über die Reportage hinaus. Zu den Erlebnissen, die nur der Film preisgibt, gehört ein Exkurs, ein Abstecher, für den Büscher auch den Bus nimmt. Er besucht, Krakau liegt bereits hinter ihm, das in den Beskiden gelegene Dorf Czarne, in dem die Verlegerin Monika Sznajderman und der Schriftsteller Andrzej Stasiuk leben. In deren gemeinsamen Verlag erscheinen, wie Büscher im Kommentar erwähnt, auch seine eigenen Bücher auf Polnisch. Damit vertieft sich der intertextuelle Bezug, den die Reportage im Titel stiftet, und wird zu einer Wahlverwandtschaft. Visuell wird dies noch durch ein Straßenhinweisschild verstärkt, an dem Büscher vorbeigeht. Es enthält auch die Straße 993, die nach Dukla führt. Der Besuch beginnt zunächst im »Schreibhaus« Stasiuks, einem Traum, den er sich erfüllt habe und um den ihn Büscher, wie er im Kommentar bekennt, beneidet. Sodann besuchen sie einen Freund im Dorf, der zehn Jahre in den USA gelebt und in dieser Zeit, wie Büscher, ausgedehnte Fußreisen durch die USA unternommen hat. Es geht in dem Gespräch ums Fortgehen und Wiederkommen, um Heimat und Fremde und um den veränderten Blick, den man dadurch gewinnt: »Wenn man nur die Schönheit dieses Dorfes genießt, sieht man nur die Oberfläche«, sagt der Mann, »das Dorf ist schön, aber es ist auch voller Blut.« In der Figur dieses Mannes

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bricht in die ansonsten eher geschlossen gezeichneten Räume plötzlich ein Stück Welthaltigkeit. Zudem greift er das Programm des oben beschriebenen anderen Arrangements Büschers auf, hinter die sichtbare, entgegenkommende Oberfläche zu blicken. Er korrespondiert darin mit Monika Snajderman, die einzige jüdische Figur, die im Film – und in der Reportage – auftritt. Im Kommentar heißt es: »Heute ist der 19. April, sagt Monika beiläufig auf dem Rückweg, der Aufstand im Warschauer Ghetto. Mein Vater, sagt sie, war ein Überlebender. Zur letzten Feier sind noch 50 Menschen gekommen.«

Der Film und die Reportage verfolgen letztlich dasselbe Ziel. Sie wollen die große Veränderung Polens – in Opposition zur Ukraine – herausstellen und dazu die alten Bilder vom armen und ›ostigen‹ Polen für obsolet erklären. An ihre Stelle setzen sie ein heutiges, zeitgemäßes Bild, das Polen als eine postindustrielle, politisch entideologisierte und europäisch orientierte Nation zeigt, das sich der Zukunft zuwendet. Zugleich führen sie jedoch an vielen Einzelheiten und Details, die sich gegen eine Indienstnahme für ein neues Bild sperren, vor Augen, wie komplex mitunter die Zeiten sich überkreuzen, wie eigensinnig manchmal die Wege sind, die sich die Relikte aus der Vergangenheit in die Gegenwart bahnen und dabei kollektive Sehnsüchte freisetzen. So ergänzen sich im Rahmen der ihnen vorgegebenen medialen Möglichkeiten die Reportage und der Film und stehen in einem Verhältnis, das sich mit der Metapher des Reliefs beschreiben lässt. Beide sparen in erheblichem Maß aus und zeigen somit Situationen und Ereignisse, die im anderen Medium nicht zu haben sind. Zugleich spielen sie jedoch auch ihre medialen Stärken aus und legen dabei Schichten frei, die dem jeweils anderen Medium verschlossen sind.

VII. Das Verhältnis von Reportage und Film erschöpft sich jedoch nicht in dem sich ergänzenden Verhältnis. Denn durch den Wechsel in ein anderes Medium verwandelt sich der Film zugleich in eine Beobachtung des Textgeschehens, so inszeniert sie auch sein mag. Das betrifft sowohl das Zu-Fuß-Unterwegssein als auch das Schreiben selbst. Ein Text kann den Akt seines Zustandekommens und den Akt des Schreibens nur selbstreflexiv thematisieren, sich selbst beobachten, kann er nicht; das kann nur von einem anderen Medium geleistet werden. Insofern deckt der Film einen blinden Fleck der Reportage auf – immer unter dem Vorbehalt, dass es sich dabei um eine Stilisierung vor der Kamera handelt. Deshalb soll dieses besondere Beobachtungsverhältnis hier noch kurz mit Blick auf die Bilder des Schreibens unterwegs beleuchtet werden. Denn mit diesen

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Bildern wiederum wirkt der Film – und vielleicht gerade weil sie stilisiert sind – an der eingangs beschriebenen kulturellen Diskursformation Gehen mit, in dem das Zu-Fuß-Unterwegssein, das Wahrnehmen und das Schreiben auf das Engste miteinander liiert sind. An insgesamt drei Stellen finden sich im Film »Schreibszenen«, um auf den Begriff zurückzugreifen, den Martin Stingelin prominent gemacht hat: Darstellungen des Schreibens, durch die es gleichsam auf eine Bühne gestellt und zu einer gerahmten Szene wird.26 Bereits auf der ersten Etappe von Breslau nach Brieg hält der Film an einer Stelle in der Bewegung des Gehens inne. Zunächst ist in einer halbtotalen Einstellung eine Landstraße zu sehen, die auf der einen Seite eine Ausbuchtung hat. Dort steht ein kleines Stromhäuschen mit zwei roten Türen. Rechts auf einem Mauervorsprung sitzt Wolfgang Büscher, ein Bein übergeschlagen, offensichtlich in etwas vertieft. Dann springt die Kamera in einen nahen Gegenschuss auf Büschers Gesicht. Es wirkt konzentriert. In dem Moment setzt der Kommentar ein: »Nach Stunden halte ich Ausschau nach einem Rastplatz, einer Mauer, einem Baumstamm. Das Knie ist ein guter Platz zum Schreiben.« Währenddessen hat sich der Kamerawinkel verändert. Zu sehen sind nun die Knie Büschers. Auf dem rechten liegt ein liniertes Schreibheft, kaum größer als Din A 6. Zu sehen sind ferner die Hände, die linke, die das Heft und die Kappe hält, und die rechte, die mit einem wertvollen Tintenkugelschreiber Eintragungen vornimmt – in schwarzer Tinte. Kurz vor Lemberg, kurz vor dem Ende der Reise, wird diese »Schreibszene« wiederholt, dieses Mal inmitten eines ukrainischen Dorfes. Die Straße ist nicht asphaltiert; im Hintergrund stehen einfache Häuser, in einem der Gärten trocknet Heu. Im Kommentar heißt es: »Nur noch zwei Tage bis Lemberg und die Neigung wächst, von der großen Straße abzuweichen – in entlegene Dörfer.« Und wieder sieht man in einer nahen Einstellung die Knie und die Hände Büschers, das linierte Schreibheft, den Tintenkugelschreiber. Wie in der ersten »Schreibszene« Büscher offenbar seine ersten Eindrücke festhielt, so nun die letzten – wieder mit schwarzer Tinte. In der nächsten, halbtotalen Einstellung, das Knie inzwischen aufgestellt, hält Büscher im Schreiben inne und blickt auf – ein Moment, in dem sich vielleicht schon wieder neue Formulierungen im Kopf bilden. Wieviele Ethnographen im Feld mögen, in noch entlegeneren Weltgegenden, in dieser Position verharrt haben, ein Schreibheft auf den Knien, in das sie ihre Beobachtungen und Interpretationen, ihre Fragen und Zweifel eingetragen haben? Wie wohl auch Bronisław Malinowski, der in den Jahren 1914 bis 1918, die er 26 Vgl. Stingelin, Martin: »Das Werkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«. Schreibszenen bei Lichtenberg und Nietzsche. In: Zanetti, Sandro: Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 283–304.

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unter den Trobriandern zubrachte, ein »Tagebuch im strikten Sinne des Wortes« führte. Doch er versah es mit Sperrfrist, aus welchen Gründen auch immer, so dass es erst lange nach seinem Tod, erst Ende der 1960er Jahre, erscheinen konnte.27 Eine letzte »Schreibszene« ist in Lemberg situiert, eine Schreibszene, ohne dass Büscher schreibt. Vielmehr setzt er sich, offensichtlich im Zentrum der Stadt, auf die Stufe eines Hauses und durchblättert seine linierten Notizbücher. Hierbei zeigt sich, dass Büscher immer nur die rechte Seite beschrieben und die Rückseite frei gelassen hat. Zudem hat er lediglich Notate festgehalten, Stichworte – selten ausformulierte Sätze. Im gesprochenen Kommentar resümiert er dazu die Reise: »Wir haben uns ausgeliefert: zwei Ländern, vier Wochen lang. Was haben sie uns dafür gegeben? Vielleicht das: Zu sehen, wie dieses Europa langsam heilt, wie der Schorf des langen, langen Nachkriegs abfällt. Die Polen wollten immer eine freie Nation sein und zu Europa gehören. Nun sind sie am Ziel ihrer Geschichte. Und die Ukrainer? Sie denken, das polnische Beispiel vor Augen, über ihren Weg nach. Irgendwann werden sie mit dem Nachdenken fertig sein.«

Die Ausarbeitung dieses Beitrags ist in die Zeit des Aufstands auf dem Maidan in Kiew gefallen – eine Zeit, in der viele Menschen in einer historischen Situation über sich hinaus gewachsen sind. Diese dramatischen Ereignisse vor Augen kann ich nur feststellen, in welchem Maß Büschers Beobachtungen im Frühjahr 2012 zutrafen und in welchem Maß er Recht behalten sollte. Vielleicht sieht man zu Fuß doch weiter.

27 Vgl. Malinowski, Bronisław: Tagebuch im strikten Sinne des Wortes. Schriften in vier Bänden. Hrsg. von Fritz Kramer. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Syndikat 1986. [Die erste Veröffentlichung erfolgte 1967 unter dem Titel »Diary in the strict sense of the term«.]

Andrzej Kopacki (Warszawa)

Oderbruch als Topos – Zu metaphorischen Konstruktionen in Judith Hermanns Erzählung »Diesseits der Oder«

Die Erzählung Judith Hermanns »Diesseits der Oder« ist asketisch. Sie handelt von einem kleinen Ereignis: Koberling, ein Siebenundvierzigjähriger, der mit Frau und Kind den Sommer wie üblich in seinem Sommerhaus verbringt, bekommt Besuch. Die Tochter seines ehemaligen Freundes, Anna, und ihr haschischrauchender Begleiter, kommen mehr oder weniger zufällig, für anderthalb Tage, vorbei. Es geschieht nicht viel: ein paar wortarme Gespräche, ein Spaziergang. Am nächsten Morgen fahren die beiden wieder weg, das Ereignis scheint folgenlos zu sein. Trotzdem vermittelt diese Erzählung ein erstaunlich bedeutungsträchtiges Bild deutschen Selbstbefindens unter Raum- und Zeitkoordinaten zweier Generationen, ein Bild, das scheinbar hintergründiger und sicher interessanter ist als die Geschichte einer individuellen Frustration. Nicht zuletzt sorgt dafür eine literarische Maßnahme, die man kurz als Oder- und Polen-Motiv erfassen kann. Die Zeitkoordinaten muss man herausarbeiten. Koberling gehört der 1968er Generation an; darauf verweist eine durch Annas Erscheinen hervorgerufene Erinnerung an die Freundschaft mit ihrem »Clownsvater, Faxenmacher, Zirkusdämlack« (DO, 169) 1, an »nächtelanges Kneipenhocken, an Idealaustausch, Illusionszertrümmerung, emporgezüchtete Gemeinschaftlichkeit« (DO, 176), Meditieren auf der Wiese (DO, 169), Verschütten der Weinreste für Janis Joplin (DO, 180) und an Haschischkonsum, wahrscheinlich in den siebziger Jahren. Anna war noch klein und es kam einmal vor, dass ihr bekiffter Vater »Swasigras!« und »Ab ins Swasiland!« (DO, 173) schrie und Koberling vor Lachen vom Stuhl rutschte. Wieso »Swasiland«? In den siebziger Jahren war Swasiland ein Hohn auf die demokratische Entwicklung in der postkolonialen Welt. Kein einziges Mal mehr in der ganzen Erzählung ist es Koberling so fröhlich zumute wie damals. Der Zugangspunkt in der erzählten Zeit sind offensichtlich die 1990er Jahre (der Text erschien 1998), wenn Koberling, ein Berliner Drehbuchautor, regel1 Hermann, Judith: Diesseits der Oder. In: Sommerhaus, später. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1998. [Im Folgenden unter der Sigle »DO« mit Seitenzahl im Text.]

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mäßig seinen Sommer an der Oder verbringt. Dort erscheint bei ihm eines Tages die erwachsene Anna, die sich auf dem Rückweg von ihrem Polen-Besuch befindet. In der ganzen Erzählung fällt kein Wort über die DDR, die Berliner Teilung oder die Wende. Zwischen der erinnerten Zeit und der Jetztzeit liegen für Koberling Jahre der Einzimmerwohnung in Berlin und der Zweizimmerwohnung, die er mit seiner Frau Constanze teilte, nicht ohne ein »Kapitulationsgefühl« (DO, 178). Und anschließend kam Lunow, das Haus an der Oder, der gegenwärtige Handlungsort. Somit kommen die Raumkoordinaten deutlich ins Bild. Das Leben der Familie Koberling spielt sich in einer faulen Pendelbewegung ab: »nach den Jahren in der Stadt, ein Sommerrückzug, im Herbst ginge es ja wieder nach Berlin« (DO, 174). Die Grenze dieser Bewegung ist allerdings die Oder-Linie, die Koberling und Constanze nie überschreiten, außer dass sie gerne Spaziergänge durch das Oderbruch macht, während er die hügelige »Tarkowskilandschaft« (DO, 182) beunruhigend findet; er erlebt dort sogar Albtraumartiges (sieht einmal ein von Fliegen umschwirrtes Stück Fleisch an einem Baum hängen) und lässt es am liebsten dabei bewenden, auf den »Napoleonhügel« – eine groteske Markierung des Geschichtsbewusstseins – zu steigen und in Richtung Oder zu schauen. Diesseits des Flusses verläuft die Grenze seiner Welt. Es liegt nahe, den Gemütszustand Koberlings – sein, wie es Contanze formuliert, »Sich-Schwertun mit dem Glücklichsein« (DO, 175) –, mit dem sich die Erzählung vordergründig befasst, als Mittlebenskrise zu deuten. Denn es gehört vieles zu diesem Syndrom: Dass er in der Routine seiner Ehe, die nie überglücklich war, nichts als seine Ruhe haben will, dass der unerwartete Besuch diese Ruhe ruiniert, und zwar mit dem Aufwühlen der Vergangenheit, die als albern, verlogen und trügerisch abgestempelt wird. Die Erzählung unternimmt viel, um alle harten Fakten auszusparen, die behilflich sein könnten, den Fall Koberling auszudeuten. Es bleibt unklar, was es für seine Verfassung bedeutet, dass er sich noch nie am Morgen erfrischt gefühlt und schon immer das Grauen »vor all den Tagen, Monaten, Jahren, die da noch auf ihn warteten« (DO, 178), überwinden musste. Unklar ist auch, was eigentlich zum Freundschaftsbruch zwischen ihm und dem Clownsvater von Anna geführt hat, obwohl Koberling Anna versichert, »[e]s gibt da keine Geschichte« (DO, 185). Was Anna davon hält, bekommt man auch nicht zu wissen, denn im fast gleichen Moment rennt sie ihm buchstäblich davon. Wenig später wird Koberling Constanze seine Verärgerung wegen des Besuchs von Anna mitteilen (DO, 185–186). Hängt es mit der Ohrfeige, die er dem Kind Anna vor Jahren gab, zusammen und mit dem, was vielleicht dahintersteckt? Es scheint zur Strategie der Erzählung zu gehören, dass sie es nicht erlaubt, zwischen Wahrheit und Lüge beziehungsweise der Lebenslüge Koberlings zu unterscheiden. Ein Prüfstein für eine derartige Unterscheidung, als welcher

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üblicherweise die Erotik in ähnlichen Konfigurationen dienen kann, ist in »Diesseits der Oder« schwer zu gebrauchen. Denn es wird dafür gesorgt, dass jedes narrative Zeichen, das in Richtung Erotik oder erotische Spannung weisen könnte – wie die benachbarten Sätze: »Anna [berührt] seinen Arm. Koberling atmet tief« (DO, 184) –, auch als erotisch neutral gelesen werden kann, einschließlich der überempfindlichen Reaktion Koberlings auf die unerwartete Abreise Annas und des Kiffers – ein Abschluß der Geschichte, der den Leser im Ungewissen zurücklässt. So ergibt sich die Frage: Was stellt diese Strategie als ihren Knotenpunkt hin? Wozu braucht sie den Besuch Annas an der Oder? Was bleibt nach diesem Besuch für Koberling und für den Leser zurück? Mitten am Tag des Besuchs macht Koberling, trotz seines Unwillens zum Oderbruch zu gehen, genau dorthin einen Spaziergang mit Anna. Während dessen denkt er: »an den Anfang des Gedichts, ›Jenseits der Oder, wo die Ebenen weit‹, so oder ähnlich, eines der unzähligen Gedichte, die er Annas Clownsvater vorrezitierte, damals, auf diesen aberwitzigen Spaziergängen des Nachts und im Moorland. ›Hör dies das an und dieses‹, ein hilfloses Rezitieren, Wortehervorbrechen. Koberling läuft hinter Anna her, und das Unvermögen, zu beschreiben, auszudrücken, warum das so erschütternd klingt – jenseits der Oder, wo die Ebenen weit –, nimmt ihm den Atem. ›Ich versteh schon‹, hatte Annas Clownsvater gesagt, immer wieder: ›Ich versteh schon‹, aber er konnte nicht verstanden haben, weil Koberling ja selbst nichts begriff. Er möchte Anna an ihrem Haarknoten packen und sie schütteln und schlagen für diesen Selbstbetrug der Jahre, für die Jahre an sich. Er möchte ihr noch einmal eine Ohrfeige geben und sich selbst wiederholen. Die Oder blendet, und die Ebenen fließen zusammen zu einem grünen Meer. Koberling ruft ihren Namen und hört seine Stimme nur ganz entfernt. Anna dreht sich um, ihr rotes Kleid schlägt eine Welle, Koberling schließt die Augen und glaubt zu fallen« (DO, 183–184).

Kurz danach verlässt ihn die Unruhe, er verspricht sich, sich »ihr« nie mehr auszuliefern und ist vor Erleichterung fast zu singen bereit – das erste und letzte Mal in der Gegenwart der Erzählung. Es wird dabei nicht klar, wem er sich nicht mehr ausliefert, der Unruhe, der Oder oder der neben ihm gehenden Anna? Genauso liegt es gar nicht klar, ob er Annas oder den Namen des Flusses gerufen hat. Denn der Oder-Fluss ist es, der die beiden Zeit- und Erlebnisebenen, die beiden Spaziergänge mit dem Clownvater und mit Anna verbindet – als Grenze. Die Lust, »sich selbst zu wiederholen« und Anna wieder zu schlagen, dafür dass man sich Jahre hindurch selbst betrog und man von den Jahren betrogen wurde (was wahrscheinlich sowohl im individuellen als auch im Generationsausmaß zu verstehen ist), bedeutet den Willen, die metaphorisierte Grenze mit Gewalt zu überschreiten. Der Wille ist blendend wie die Oder, deren Ebenen – wie die Erlebnis- und Erzählebenen – zusammenfließen; Koberling fällt beinahe um.

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Aber er kommt zu sich, ist nun bereit zurückzugehen und nicht unbegründeterweise froh darüber. Jetzt kennt er seine Grenze. In dieser Lesart ist Annas Figur ein Teil der metaphorischen Konstruktion, die im Redefluss – im Zusammenfluss der Ebenen – objektiviert wird: Das »Grenzobjekt«, das infolge des kontrastiven Farbenspiels (die Oder wird zum grünen Meer, das rote Kleid von Anna schlägt eine Welle) Koberling mitblendet, erfüllt in der Erzählung die Funktion, Koberling in seinem Selbstwissen zu erschüttern. Als metaphorische Konstruktion bedeutet dieser narrative Knotenpunkt vielleicht auch einen Verweis auf das in allerlei Ängsten, Illusionen, Unwissen, mitunter in einer aggressiven Ohnmacht verfangene Selbstbewusstsein einer ganzen Generation angesichts dieser Grenze. Noch auffallender kommt es ein paar Zeilen früher zum Ausdruck, wo Anna ihren Vater in der Rolle ersetzt, bei Koberling Ratlosigkeit wachzurufen, weil er den erschütternden Vers »Jenseits der Oder, wo die Ebenen weit« nicht zu interpretieren vermag. Erschütterung und Unverständnis bleiben auf der Seite Koberlings konstant, der Unterschied liegt auf der Seite der generationsdifferenten Gegenspieler: Während der Clownsvater genauso ratlos, nichtsdestotrotz willig war, sorglos zu lügen, dass er den atemberaubenden Vers verstünde, hat Anna ihn wahrscheinlich nie gehört. Das Oderbruch ruft in ihr weder literarische noch historische Assoziationen hervor, wirkt jedoch auf sie anziehend, und noch am selben Tag wird sie mit ihrem jungen Begleiter wieder hingehen. Das Spiel mit der zweiten Zeile des vierten Gedichts aus dem mehrteiligen »Epilog« von Gottfried Benn, Schlussteil seines Bandes »Trunkene Flut« (1949), offenbart sich sofort als Maßnahme der Narration: Dass Koberling den Vers ungenau zitiert – »jenseits« anstatt »östlich« der Oder – schafft eine Entgegensetzung zu dem mit »Diesseits der Oder« betitelten Erzähltext. Somit bildet die Oder eine intertextuelle Grenze zwischen zwei Welten. Jenseits liegt die Heimat Gottfried Benns, das Pfarrhaus von Sellin mit seinem Garten, eine elegisch heraufbeschworene Welt, mit der Koberling nichts anzufangen weiß. Heisst der Fluss bei Benn »erst wie Glück und dann Vergessen« (zweite Strophe, vierter Vers) 2, sorgt er bei Koberling nur für Unruhe. Während »Glück« und »Vergessen« den Fluss in einen Begriffshorizont einbinden und die Reflexion akzelerieren, erweist sich »Unruhe« bloß als eine fruchtlose Gemütsbewegung. Deswegen begreift Koberling die Wirkung von Benns Versen nicht. Ein entferntes Gegenstück entsteht indessen zwischen dem Bennschen Knaben, »der sich am See in Schilf und Wogen ließ« (zweite Strophe, zweiter Vers) 3, und der kleinen Anna, die, wie sich Koberling erinnert, tagelang über die 2 Benn, Gottfried: Epilog 1949. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Hrsg. von Dieter Wellershoff. Wiesbaden: Limes Verlag 1966. Bd. 3 (Gedichte), S. 345. 3 Ebd.

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Flussbrücke im Wald verschwand und im Freien spielte. Das mag darüber hinaus dem weiteren intertextuellen Konstrukt entsprechen, das aus dem Oder-Motiv ein Polen-Motiv macht. Das Gedicht Benns steht nämlich – über den biographisch verankerten Garten zu Sellin – im Zusammenhang mit seinem späten Gedicht »Teils–Teils«, in dem es heisst: »der Garten im polnischen Besitz / die Gräber teils – teils / aber alle slavisch«4. Und in der Erzählung ist Anna diejenige, die über Polen redet; Koberling nimmt den Landesnamen nicht in den Mund. So Anna: »Daß ihr da noch nicht gewesen seid, wo das so nah ist, das verstehe ich nicht. Störche gibt es, wie in Berlin Tauben. Die Polen haben die Felder gemäht und sechzig, siebzig Störche sind in den Erdfurchen hinter den Traktoren hergelaufen und haben nach Insekten gesucht. Und Eisesser sind diese Polen, du glaubst es nicht. Lody und Lody, wo du hinsiehst, essen sie Eis, ununterbrochen« (DO, 174).

Das »du« in ihrem Monolog ist der kleine Max, der Sohn Koberlings, was das EisMotiv als Attraktion und Sympathiewerbung verständlich macht. In der Komposition der kurzen Aussage kann man es aber auch als eine Verdichtung der erzählerischen Handlung interpretieren, die das klischeehafte Bild Polens überwinden soll, sowie als Begründung für Annas Erstaunen darüber, dass die Koberlings die Landesgrenze und die Grenze des Vorurteils noch nicht überschritten haben. Die beiden Bestandteile des Klischees – die zurückgebliebene Landwirtschaft mit dem Mäher als Sensenmann (daher auch grauenerregend) und die Störche als Inbegriff des Sentimental-Romantischen oder des Träumerisch-Idyllischen im Stile Józef Chełmon´skis (Maler des polnischen Realismus) – werden umgedeutet bzw. neubesetzt, so dass das Klischee unter einem wirren Bild verschwindet: »Sechzig, siebzig Störche«, die hinter den Traktoren herlaufen, vermitteln ein Bild der vital frischen Modernität, bei deren Mähdrusch die Natur allerdings noch intakt bleibt. Gleichwohl nimmt Koberling diesen Sinn ›des wirren Gesprächs‹ nicht wahr. Er konzentriert sich darauf, dass Max nur ein Wort daraus verstand, herausnahm und wiederholte: »Eis«. Auf diese Weise vereinzelt sich jedoch das Wort aus dem Kontext und führt eine andere Bedeutung mit, die über den inneren Erzählkreis hinausweist. Man könnte metaphorisch sagen: Diesseits der Oder hält man nicht das sommerliche Bild der polnischen Eisesser fest, sondern beschwört etwas winterlich Kaltes. Wenn Anna wieder zu erzählen beginnt, heisst es nur, es wären »die Polengeschichten, die Eisgeschichten, bißchen Befremden in der Stimme« (DO, 175). Was für Eisgeschichten es sein können und warum in der Stimme Annas jetzt Befremden ist, bleibt dahingestellt. Fühlt sich nur Anna, die über Polen erzählt, befremdet und warum? Oder ist ihre Erzählung befremdend in 4 Ebd., S. 339.

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Bezug auf das Erzählte? Jedenfalls stellt sich somit das Fremde als Bestandteil des Polenbezugs ein und bleibt hängen. Diesseits der Oder fängt man damit nichts mehr an. In der Erzählung »Diesseits der Oder« beschreibt man nicht die deutschpolnische Geschichte und die deutsche Geschichte eigentlich auch nicht. Trotzdem schimmert da die Zeit als Lebenserfahrung von Individuen und Generationen durch. Um Karl Schlögel zu paraphrasieren: Man liest diese Zeit im Raume5. Wenn der Raum – Oderbruch – sich nicht nur als die wirkliche, sondern auch als die in vielerlei Hinsichten hyperbolisierte Grenze verstehen lässt, kann er als Steinbruch für Metaphern dienen, in denen sowohl die individuelle Lebensgeschichte mit ihrem Psychogramm als auch die Selbstverständnisse von Generationen durchbrechen. Dazu gehören Bewegungen, etwa nur bis zur Grenze und über sie hinaus, auch diesseitige Neurosen und Unvermögen sowie das Andere von jenseits. Schließlich gehören dazu ein grotesk verkleinertes Politikum (Napoleonhügel im Garten) und die Dekonstruktion von Polen-Klischees. Nicht zuletzt vollzieht sich diese »Verräumlichung des Zeitlichen«6 im Zusammenfluss von Textebenen, in dem, was die Narration in der Jetztzeit gestaltet, sowie in der Art und Weise, in der sie zur erlebten Rede zurück- und in die Gedanken Koberlings hineingreift, um Vergangenes zu vergegenwärtigen. Und ganz zentral in diesem Textraum prangt das Oderbruch – unmissverständlich als geographische Bezeichnung und als Topos, der sich wie eine Verheißung anhört.

5 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Carl Hanser Verlag 2003. 6 Ich entleihe den Begriff von Fredric Jameson, der ihn freilich in einem anderen Zusammenhang – dem des Postmoderne-Diskurses – gebraucht. Vgl. Jameson, Fredric: Postmoderne und Utopie. In: Postmoderne – globale Differenz. Hrsg. von Robert Weimann und Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 73–109.

Michael Haase (Heidelberg)

»Kann nit verstan« – Zum Polen-Bild in Uwe Timms »Wendegeschichte«

I. Schon bei einer flüchtigen Recherche fällt auf, dass das Polenbild in der deutschen Literatur nach 1989 kaum ohne historische Grundierung auskommt. Die Mehrzahl der Werke führt den Leser in die Vergangenheit zurück, erzählt von deutscher Schuld (Michael Zellers »Café Europa«, 1999), vom millionenfachen Judenmord (Monika Marons »Pawels Briefe«, 1999) und der nach dem Krieg stattgefundenen Vertreibungen von Polen aus Ostgalizien (Sabrina Janeschs »Katzenberge«, 2010). Offenbar geht es den meisten Schriftstellern wie jenen Touristen in Gernot Wolframs Roman »Samuels Reise« (2005). Als »Halbtagsbetroffene«1 suchen sie obsessiv nach ›Abgründen‹2 der Vergangenheit, während sie der Gegenwart Polens fremd gegenüberstehen. Und rückt die heutige Gesellschaft ins Blickfeld – wie in einigen Filmkomödien (»Polnische Ostern«, »Hochzeitspolka«) –, erschöpft sich die Darstellung in einem Reigen von Klischees: schöne, aber naive Frauen, exzessive Saufgelage, ein laxes Verhältnis zu fremdem Eigentum und ein alles überwölbender Katholizismus. So könnte man zugespitzt sagen: der deutsche Blick auf das gegenwärtige Polen ist begleitet von einer spürbaren Befangenheit. Es fällt dem überwiegenden Teil der Autoren schwer, eine Nähe herzustellen, die nicht von vorgefertigten Bildern überfrachtet ist. Zwischen deutscher Scham und deutscher Überheblichkeit bleibt wenig Raum, den Nachbarn in seiner realen Gestalt wahrzunehmen. Genau dieses Dilemma ist auch das zentrale Thema in Uwe Timms »Wendegeschichte« (1999). Deren Titel vermag man eine programmatische Bedeutung in gleich mehrfacher Hinsicht abzulesen. Zuallererst meint »Wende« den Fall des ›Eisernen Vorhangs‹ und das Ende der unter sowjetischem Herrschaftseinfluss stehenden mittelosteuropäischen Satellitenregimes. Der Begriff kommt 1989 als gebräuchlicher Terminus auf, um den stattfindenden politischen Umbruch in 1 Wolfram, Gernot: Samuels Reise. München: DVA 2005, S. 83. 2 Vgl. ebd., S. 120.

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diesen Staaten zu charakterisieren. Gleichzeitig taugt er aber auch für westliche Beobachter, da deren politische Topographie durch die Veränderungen im Osten ebenfalls einen Wandel erlebt. 1990 schreibt Patrick Süskind, dass er durch den Fall der Mauer unverhofft mit »dubiosen Ländereien« konfrontiert worden sei: »Wo früher eine öde Wand stand, der wir nach Möglichkeit den Rücken kehrten, war nun eine ungewohnte, zugige Perspektive aufgetan, und verdattert wie die Kühe, denen man ein lang verschlossenes Gatter aufsperrt, standen und stehen wir da und glotzen in die neue Richtung und scheuen uns, sie einzuschlagen.«3 Uwe Timm mag von der Öffnung der Grenzen ebenfalls überrascht worden sein, aber er begegnet der neuen Situation eher mit Neugier. 1995 zieht er sogar vom »beschaulichen München nach Berlin«4, um den »Irrwitz dieser Stadt« als neuer Ost-West-Drehscheibe aus der Nähe zu erleben und für sein weiteres Schreiben als notwendigen Anstoß zu nutzen.5 Die Neugier auf eine völlig veränderte Wirklichkeit und der Versuch, ihr offen und unverstellt zu begegnen, führen zu einer Wende in Timms Poetik. Sein Erzähler, unverkennbar ein alter ego des Autors, begegnet in der »Wendegeschichte« der neuen, unüberschaubaren Wirklichkeit mit völliger Selbstzurücknahme. Statt als Konstrukteur einer eigenen Fabel in Erscheinung zu treten, protokolliert er fremde Erfahrungen. Die neuen Welten, die sich seit 1989 eröffnen, offerieren Geschichten, die vorher unmöglich schienen. Für das Erkennen von Wendepunkten bedarf es weniger eines dramaturgischen Gespürs als eines geschärften Gehörs für das Un-Erhörte. Diesen Gestus der Bescheidenheit vermittelt auch der Titel des Erzählbandes, dem die »Wendegeschichte« entstammt: »Nicht morgen, nicht gestern« (1999). Der alte, auf gesellschaftlich-historischen Fortschritt abonnierte Chronotopos der Moderne, dem der Autor als engagiertes KP-Mitglied lange Jahre anhing,6 3 Süskind, Patrick: Deutschland, eine Midlife-crisis. In: Der Spiegel 44. Jg. (1990), Heft 38, S. 123. 4 Timm, Uwe: Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 50. 5 Ebd., S. 53. 6 Seit 1973 war Timm in der westdeutschen KP aktiv. Sein Engagement für diese Partei erklärt er rückblickend mit der Biographie vieler älterer Genossen, »die Jahre in Konzentrationslagern oder Gefängnissen widerstanden hatten«, während viele Mitglieder aus Timms Familie in der NS-Zeit den Weg des geringsten Widerstands gegangen waren. Zudem faszinierte ihn »›die emanzipatorische Verheißung‹«, welche die sozialistische Utopie in sich barg. In den späten 1970er Jahren ging jedoch der Glaube an diese Ideen verloren, weil immer stärker der »Realitätsverlust in der politischen Sprache der Linken« spürbar wurde (vgl. Timm, Von Anfang und Ende. 2009, S. 106–109). So vollzog Timm bereits vor dem Mauerfall eine schrittweise ideologische Abrüstung, die schon in »Kerbels Flucht« (1980) einen spürbaren Niederschlag fand. Die gesellschaftlichen Umbrüche nach 1989 forcierten dann diese Entwicklung. Noch im Wendejahr hatte Timm die »bewusstseinsverändernde Intention« einer »engagierten Literatur« gegen das »bourgeoise Literatur-Dogma« verteidigt, demzufolge »sich Politisches und Ästhetisches ausschließen« (Timm, Uwe: Der Blick über die Schulter oder Notizen zu einer Ästhetik des Alltags. In: Uwe Timm Lesebuch. Die Stimme beim Schreiben. Hrsg. von Martin Hielscher. München: dtv 2005, S. 188, 190) In seiner 1992 gehaltenen Paderborner Poetik-

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wird verabschiedet zugunsten eines neuen unverstellten Blicks auf die Gegenwart. Was Timm anstrebt, ist eine Rückbesinnung auf die genuinen Kräfte der Literatur: »der genaue Blick auf den Alltag, und eine Sprache, die sich an die Menschen, an die Gegenstände herantastet, ganz und gar unprätentiös, der gesprochenen Sprache nahe.«7 Durch diese »Alltags-Archäologie« werden die gewohnten Erklärungs- und Verstehenszusammenhänge außer Kraft gesetzt, um »neue, andere Zusammenhänge zu finden.«8

II. Der Erzähler reist im Sommer 1997 mit dem Zug von München nach Kassel, um die X. Documenta zu besuchen. Die Ausstellung steht unter dem Motto »Politics and Poetics«9, hat den erklärten Anspruch, eine »kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart« zu sein, und will hinterfragen, welche Rückwirkungen die Entgrenzungen der postkommunistischen Ära auf die Techniken der Kunst haben.10 Als der Erzähler im Bordrestaurant einen Imbiss einnimmt, setzt sich ein junger Mann an seinen Tisch und wirft mit der Ankündigung: »Hätte nicht viel gefehlt, und ich wär Millionär« (EW, 112) einen Köder aus, um den Gegenüber als Zuhörer zu gewinnen. Was dieser anfangs nicht ahnen kann: sein leutseliger Gesprächspartner liefert mit der Millionen-Story genau den Blick auf die globalisierte Gegenwart, den die Documenta verspricht. Und er führt vor Augen, dass der kritische Fokus nicht allein auf die Wirklichkeit der neuen Gegenwart auszurichten ist, sondern auch auf die Wahrnehmungsmuster, mit denen diese Wirklichkeit aus westlicher Perspektive betrachtet wird. Wer ist dieser »Gumbi«, der hier so zudringlich seine Geschichte offeriert? Der Pferdeschwanz, das verwaschene Red-Cross-Shirt und die losen Tischmanieren lassen auf eine Person schließen, die sich über normierte Äußerlichkeiten und starre Konventionen hinwegsetzt. Aber hier ist Vorsicht geboten, hat sich doch Enzensberger schon zu Beginn der 1980er Jahre über die paradoxen Figuren in der linksalternativen Szene des Westens amüsiert: den »Punker, der Spesenquittungen sammelt«, oder den »Umstürzler«, der um seine »Pensionsberech-

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Vorlesung charakterisiert er hingegen die Literatur als »schöne[n] Überfluss«, die »darum nicht notwendig« sei, aber gerade in der Befreiung von aller denotativ-ideologischen »Notdurft« ihr subversives »Spiel« erst richtig entfalten könne (Timm, Uwe: Erzählen und kein Ende. Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 111f.). Timm, Erzählen und kein Ende. 1993, S. 134. Ebd., S. 138. Timm, Uwe: Eine Wendegeschichte. In: Ders.: Nicht morgen, nicht gestern. München: dtv 2001, S. 136. [Im Folgenden unter der Sigle »EW« mit Seitenzahl im Text.] Hohmeyer, Jürgen: Das Auge auf Diät gesetzt. In: Der Spiegel 51. Jg. (1997), Nr. 26, S. 184f.

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tigung« ringt.11 Gumbis Ausführungen zu Job und Beruf passen perfekt in dieses Schema. Es handelt sich bei ihm um den klassischen Langzeitstudenten, der die sozialen Vorzüge seines Status geschickt zu nutzen versteht. Für die »Ausbildung zum Verwaltungsbeamten« ist er an einer Fachhochschule nur »wegen der Krankenversicherung« (EW, 112) eingeschrieben. Eigentlich lebt er von Gelegenheitsjobs, die meist sehr profitabel sind, weil für ihn als Studenten kaum Sozialabgaben anfallen. Darüber hinaus erfordern sie auch keine großen Anstrengungen. Meist »überführt« (EW, 112) Gumbi Autos und ist mit Bahn oder Wagen quer in der Republik unterwegs – frei von betrieblicher Kontrolle oder Zeitdruck. Eine Lehre als Physiotherapeut hat er hingegen schnell abgebrochen, weil die zu behandelnden Patienten seine Erwartungen enttäuschten, er »viel altes Fleisch durch[zu]walken« (EW, 112) hatte. Kurz gesagt: Gumbi ist ein Parasit, der die Vorzüge der westlichen Wohlstandsgesellschaft mit ihrem dicht gestrickten sozialen Netz auszunutzen versteht. Geschickt verwaltet er das eigene Wohlergehen und pflegt dazu ein gutes Gewissen – zum Beispiel als erklärter Wehrdienstverweigerer (vgl. EW, 130). Deshalb fällt das Angebot, eine dreitägige LKW-Tour nach Polen zu unternehmen, für ihn aus dem gewohnten Rahmen. Die Reise führt ins Unbekannte, das nicht frei von Gefahren scheint. Schließlich weiß der nominelle Verwaltungsbeamte, dass »im Osten […] immer die Mafia mit[fährt]« (EW, 113). Was ihn verlockt und zusagen lässt, ist allein die in Aussicht gestellte hohe Belohnung. Eine erste Überraschung erwartet ihn am verabredeten Treffpunkt. Statt Männern, wie bei Aufträgen im Speditionsdienst zu vermuten, stehen an der Tankstelle zwei junge Frauen, die kurze Röcke und schwarze Stiefel tragen. In Gumbi entsteht bereits ein Bild, bevor die Frauen ihn ansprechen. Es sind in seinen Augen »Nutten«, »die nach Hannover zur Messe trampen« (EW, 114). Auch als sie sich als seine Klientinnen entpuppen, sieht er sein Vorurteil keineswegs erschüttert. Die Polin Vera und deren etwas scheuere georgische Partnerin Lisaweta bleiben auf ihre körperlichen Reize reduziert. Da sie in der Fahrerkabine nach den ersten Kilometern einschlafen, vermutet Gumbi, dass die beiden Frauen in ihrem Gewerbe »wohl ne harte Nacht hinter sich« (EW, 115) haben. Die Macht schablonenhafter Bildnisse im menschlichen Denken hat für den konkreten interpersonalen wie gesellschaftlichen Kontext kein deutscher Nachkriegsautor so eingehend reflektiert wie Max Frisch (»Stiller«, »Andorra«). Seine an Kierkegaard und Sartre geschulte existenzialistische Poetik versucht die Gewalttätigkeit dieser Übertragungsprozesse aufzuzeigen. Das Bild bannt, legt fest, beraubt die Betroffenen ihres Eigenseins, weil es Verhaltensmuster generiert, die den Gebannten ein Anders-Sein-Können unmöglich machen. Auch bei Timm 11 Enzensberger, Hans Magnus: Das Ende der Konsequenz. In: Ders.: Politische Brosamen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 12.

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ist die Macht okkupierender Klischees ein Thema, freilich fehlt hier der Darstellung jede ästhetische Überhöhung. Das liegt zunächst an Gumbi, dessen Erzählen weniger suggestiv als selbstentlarvend wirkt. Wenn er sich auf der Durchfahrt durch die neuen Bundesländer über eine hängengebliebene DDRReklame mokiert und Vera ihn belehrt, dass das Wort ›Plaste‹ durchaus sprachlich korrekt ist und das vermeintlich richtige ›Plastik‹ als Lehnwort dem Englischen entstammt, beeindruckt ihn das stupende Wissen seiner Begleiterin keineswegs. Selbst die Mitteilung, dass die vermeintliche Prostituierte eigentlich eine ausgebildete Lehrerin für Deutsch ist, also über den Hochschulabschluss verfügt, den Gumbi nie besitzen wird, verfängt nicht. Und als Vera ihm vorrechnet, dass sie als Putzfrau im Monat mehr verdient als an einer polnischen Schule in einem Jahr, erschöpft sich seine Replik im selten dummen Kommentar: »Logo« (EW, 116). Der zweite und ausschlaggebende Grund, weshalb Timm mit seiner Stereotypen-Kritik jedwedem Pathos auszuweichen vermag, ist Vera. Sie taugt nicht als Opfer, das Mitleid erregt, sondern kann sich allen Rollenzuschreibungen souverän erwehren. Sie agiert schlagfertig im Gespräch, quittiert sexistische Äußerungen anderer Fernfahrer mit dem »Stinkefinger« und kann sogar das Verlangen des korrupten polnischen Zöllners nach »Bakschich« (EW, 117) bezwingen. Eine subalterne Rolle passt nicht zu ihr; als resolutes »Wahnsinnsweib« (EW, 117) wirkt sie auf die umgebende Männerwelt ehrfurchtseinflößend und offenbart, dass die von außen an sie herangetragenen Bildnisse allesamt Autoporträts der sie umkreisenden geilen und käuflichen ›Freier‹ darstellen – allen voran Gumbi. So überrascht es nicht, dass mit dem Grenzübertritt von Deutschland nach Polen klar wird, wie fern von jeder Unbedarftheit Vera und ihre rätselhafte Begleitung agieren. Wenn sie es schaffen, ihrem Chauffeur mit einem Haarschnitt das brave Aussehen eines »Sparkassenangestellte[n]« (EW, 117) zu geben, denken sie offenbar bereits an den erneuten Grenzübertritt bei der Rückfahrt. Wenn Vera nach der Ankunft am polnischen Zielort auf einer Familienfeier mit dem schnell betrunkenen Gumbi tanzt, ahnt sie den Inhalt seiner Rede voraus und meint nüchtern: »Sag mir nix über meine Brust und meinen Hintern« (EW, 119). Augenscheinlich ist ihre Kleidung und Aufmachung von Beginn ein Mittel gewesen, um ihn zu verwirren und abzulenken. Und da dies wunderbar funktioniert, zeigt sich: Sie kennt ihn in- und auswendig, seine Psyche ist für sie so durchsichtig wie Fensterglas, während Gumbis Projektionen mehr über ihn als sie verraten. Als er seinen Tanz mit Vera beschreibt, charakterisiert er – ohne es zu ahnen – ihrer beider Verhältnis zueinander auf grundsätzliche Weise: »Sie führt, was heißt führt, ich muß mich an sie klammern« (EW, 119). Daher ist Gumbis Anspielung auf Johann Peter Hebels berühmte Kalendergeschichte »Kannitverstan« (vgl. EW, 123) nicht nur auf die bestehende Sprachbarriere zu beziehen. Hebels süddeutscher Handwerksgeselle, der in Amsterdam vor einem prächtigen Haus sowie einem

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großen Schiff nach dem Besitzer und in einer eindrucksvollen Trauerprozession nach dem Toten fragt, dabei die immer gleiche titelgebende Antwort als Personennamen auffassend, ist ein Beispiel produktiven Missverstehens. Aus den drei identischen Antworten konstituiert sich im Helden eine Moral, die den »Unbestand aller irdischen Dinge«12 versinnbildlicht und ob der Tatsache, dass auch einem »Herrn Kannitverstan in Amsterdam« nur ein »enges Grab« bleibt, den Reichtum anderer Menschen »leichten Herzens«13 ertragbar macht. Bei Gumbi verliert sich Hebels Pointe. Einfalt verwandelt sich nicht in Weisheit. Die Wende bleibt aus, weil der Erzähler zu einem Blickwechsel nicht imstande ist. Aber es vollzieht sich im Leser eine Wende, vorausgesetzt, er ist imstande, den herablassend-abschätzigen Blick Gumbis gegen die lebenserfahrene und -kluge Sichtweise Veras zu tauschen. Wer jedoch beide Perspektiven mit dem Westen und Osten gleichsetzt und so verallgemeinert, tappt in eine Falle. Erstens bleibt er negativ auf Gumbi bezogen, weil die eben kritisierten Klischees unter einem veränderten Vorzeichen reproduziert werden. Und zweitens gilt es, zwischen Gumbi als handelndem Protagonisten und Gumbi als Erzähler zu unterscheiden. Letzterer erzählt seine Story gewiss nicht zum ersten Mal, wie sein Eröffnungsköder andeutet. Folglich muss seine Selbstentlarvung gar nicht unfreiwillig, sie kann auch intendiert sein. Jedenfalls lässt die Hebel-Anspielung auf ein ausgeprägtes Reflexionsvermögen schließen, und der im Zugrestaurant mitgeführte Roman, James Hawes’ sozialkritische Gaunerromanze »A White Merc with Fins« (134), legt nahe, dass Gumbi im Nachhinein, beim erzählenden Rekapitulieren, Vera durchaus verstanden hat und seine vermeintlich naiv-blöde Erzählhaltung nur vorschützt, um den Leser auf die Probe zu stellen, um zu testen, ob er zu einer Wende fähig ist. In Hawes’ Geschichte geht es um eine Londoner Freundesclique, deren Mitglieder kurz vor Vollendung des dreißigsten Geburtstags stehen und von der Angst gequält werden, in den »Himmel der Mittelschicht«14 nicht mehr aufzusteigen, vielmehr ein Dasein als armselige Buchhalter mit an der städtischen Peripherie gelegenem Wohnklo zu fristen. Den einzigen Ausweg aus diesem vorhersehbaren Dilemma bietet ein Banküberfall. Er muss so ausgeklügelt sein, dass die Geschröpften keinen nachhaltigen Schaden erleiden und dem Räuberquartett ein verheißungsvoller Neuanfang ermöglicht wird. Neben eines genialen Plans bedarf es dazu vier »richtige[r] Menschen«, die verrückt genug sind, um den Mut zur Realisierung des Coups aufzubringen, »aber nicht so abgedreht«, um die Wirklichkeit dabei aus den Augen zu verlieren.15 Nichts 12 Hebel, Johann Peter: Kannitverstan. In: Ders.: Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinischen Hausfreund. Hrsg. von Hannelore Schlaffer und Harald Zils. München: dtv 2001, S. 162. 13 Ebd., S. 164. 14 Hawes, James: Ein weißer Mercedes mit Schwanzflossen. München: dtv 1998, S. 142. 15 Ebd., S. 70.

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anderes erstrebt Vera. Sie sehnt sich nach einem sozialen Status, der ihrer Intelligenz und ihrem Bildungsprofil entspricht, und sie braucht einen Partner, der über jene ›richtige‹ Mischung aus Courage und Vernunft verfügt. Aufschlussreich ist, dass sie bei der Auswahl des Kombattanten keine nationalen Vorurteile kennt. Sie differenziert nicht zwischen Ost- und Westeuropäer, sondern zwischen Oben und Unten. Sie sieht in Gumbi nicht den Deutschen, sondern einen potentiellen Verbündeten. Denn auch ihm wird der »Mittelschicht-Himmel« auf legalem Wege unzugänglich sein und sein Status als Langzeitstudent durch bevorstehende staatliche Reformen ein baldiges Ende finden. So gesehen gehört Vera zu einer europäischen Avantgarde, die vor Augen führt, dass die eigentliche und kollektive Herausforderung weniger in der Überwindung nationaler Landesals sozialer Standesgrenzen liegt. Nur stellt sich die Frage, ob Veras Plan, wie er sich nun schrittweise enthüllt, eine Wende in beider Dasein herbeizuführen vermag? Wie zu erwarten, dient ihre Visite auf dem russischen Fliegerhorst keineswegs dazu, die Offiziere mit sexuellen Dienstleistungen zu erfreuen. Auch besteht die dort aufgeladene Fracht nicht aus Soldatenbetten für ein Billigbordell. All diese Spekulationen verweisen nur auf Gumbis erhitzten Zustand, der durchaus in Veras Absicht liegt, erspart er ihr doch bis zur Grenze lästige Nachfragen. Rückblickend entpuppt sich auch die schnelle Trunkenheit Gumbis auf der Feier als Teil ihres Plans, da sie so am nächsten Tag das Geschäft in Ruhe abwickeln und den LKW ungestört beladen konnte. Erst als an der Grenze sich die Tür des Laderaums als plombiert erweist und die beiden Frauen mit georgischen Diplomatenpässen eine Kontrolle des Inhalts verhindern können, merkt Gumbi, wie falsch er mit seinen bisherigen Vermutungen lag. Auf die Enthüllung der eigentlichen Fracht – »ein Jagdflugzeug, eine Mig« (EW, 129) – reagiert er schließlich mit Entsetzen. Das Gefühl der Angst beschleicht ihn, an einem Coup beteiligt zu sein, der böse Konsequenzen nach sich ziehen kann. Außerdem spricht er von moralischen Bedenken, als Wehrdienstverweigerer Kriegsgerät in Krisenregionen zu verkaufen wie »Vorderer Orient. Kasachstan. Afrika« (EW, 132). Und hat er nicht recht mit seiner strikten Verweigerung, weiter mitzumachen? Ist bei Waffenhandel nicht eine ethische Grenze erreicht? Timms Geschichte gelangt hier an ihren neuralgischen Punkt. Verstößt eine polnische Putzfrau, die sich 40.000 DM erspart, um mit Waffen einer in Auslösung begriffenen Armee das Geschäft ihres Lebens abzuwickeln, gegen ethische Grundregeln? Abstrakt gedacht, gäbe es nur eine mögliche Antwort. Aber auch hier ist die Wahrheit konkret. Vera handelt mit Jagdflugzeugen, die »sich doch nur gegenseitig abknallen« (EW, 132). Sie handelt nicht mit Waffen, die gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sein können. Zudem wirken Gumbis pazifistische Einwände wenig überzeugend, weil sein Dasein als ewiger Student sich auch den Steuern der deutschen Rüstungsindustrie verdankt. Allein in einem Punkt erweist sich Vera als naiv. Sie inseriert die Mig frei in

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Zeitungen (EW, 131) und gerät deswegen in die Fänge des Militärischen Abschirmdienstes. Offenbar unterschätzt sie die Wachsamkeit staatlicher Geheimdienste in demokratischen Staaten, ein Fehler, der schließlich ihren ganzen Plan vereitelt. Sie verliert ihr Geld, kommt ins Gefängnis und wird schließlich mit ihrer Partnerin, die sich als ihr verkleideter Sohn entpuppt, zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt, wie Gumbi durch einen Zeitungsartikel erfährt – bezeichnenderweise aufgrund von »Zollvergehen«, eine Anklage wegen Handel mit Kriegswaffen erfolgt nicht. Der Geschichte fehlt aber das »dicke Ende« (EW, 136) auch aus einem anderen Grund. Als Gumbi gerade die abschließende Pointe präsentieren möchte, erreicht der Zug den Bahnhof in Kassel. Sein Zuhörer ist nicht bereit, für den Schluss der Geschichte einen Umweg zur Documenta in Kauf zu nehmen. Wie Gumbi aus Furcht vor Unannehmlichkeiten bei Veras großem Coup aussteigt, so vermag auch der Erzähler den Ausgang der Geschichte nicht abzuwarten. Während er den ästhetischen Kommentar der ungefilterten Wirklichkeit vorzieht und diese Entscheidung gleich auf dem Bahnsteig bereuen wird, flieht sein Gesprächspartner vor der Millionenchance, obwohl er bei der Abfahrt von der Raststätte bereits bemerkt, dass er eine Frau der »Sonderklasse« (EW, 133) unwiederbringlich verloren gibt. Beide zeigen sich einer spontanen Begegnung mit dem Unvorhersehbaren und Unerhörten nicht gewachsen und fliehen in die sichere Zone des Vertrauten. Hierdurch zeigt sich, wieviel Geduld und Gespür für den rechten Augenblick Timms postulierte Alltagsarchäologie dem Erzähler abverlangt. Immerhin spricht für diesen, dass er sein ›Versagen‹ durch kein erfundenes Ende ausgleicht. Vielmehr rückt er die selbstverschuldete Lücke sich und den Lesern schmerzhaft ins Bewusstsein. Das offene »Ende der Geschichte« (EW, 136) verweist indes nicht nur auf die Herausforderungen von Timms neuer Ästhetik. Es demonstriert auch auf exemplarische Weise, dass nicht die historische Entwicklung nach 1989 – wie von Francis Fukuyama behauptet16 – an ein Ende gelangt ist, allenfalls der diesen Thesen zugrundeliegende teleologische Glaube. Die in Bewegung geratenen Gesellschaften jenseits der Oder entziehen sich jeder Berechnung, weil ihre Mitglieder keine sicheren Rahmenbedingungen bei ihrem Kampf um ein besseres Leben besitzen und deshalb je eigene Wege zum Glück einschlagen. Das macht sie spannend und für die Literatur als Schauplatz fruchtbar. Offen ist die Geschichte nicht zuletzt aber auch, weil Timm sie als Aufforderung versteht, die neuen Wirklichkeiten in einem erweiterten Europa selbst zu erkunden. Dazu bedarf es nicht einmal des Reisens, denn die als Putzfrauen arbeitenden Uniabsolventen aus Polen weilen bereits unter uns, sie kennen die deutsche Kultur und Mentalität besser als wir die polnische. Nicht zufällig ist Vera für Gumbi ein Rätsel, während umgekehrt er für sie ein offenes Buch darstellt. Insofern gilt es 16 Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler 1992.

Zum Polen-Bild bei Uwe Timm

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von diesen Arbeitsnomaden zu lernen, denn sie sind das, was die meisten Deutschen zu sein behaupten: wahre Europäer.

Richard Slipp (Calgary)

»Asien. Alles wird Asien.« Zur erzählerischen Subversion deutscher Polenbilder in zwei Romanen Christoph Heins

Man dürfte vielleicht erwarten, häufiger bei Christoph Hein polnische – oder zumindest niederschlesische – Motive anzutreffen, wurde der Schriftsteller doch 1944 in der Nähe von Zie˛bice (zu Deutsch: Münsterberg) geboren. Trotz der Übersiedlung im jungen Alter nach Sachsen scheint diese Herkunft für den Schriftsteller auch nicht ganz ohne Bedeutung zu sein.1 Doch auch wenn der womöglich vorschnell gefasste Titel dieses Beitrags mit einer Fülle an Beispielen und Textmaterial rechnen lässt, spielen polnische Figuren, Orte und Motive in Heins beiden Romanen »Landnahme« (2004) und »Willenbrock« (2000) eher verborgene Rollen. In »Landnahme« tritt in der Tat keine einzige polnische Figur auf, sondern lediglich ein deutschstämmiges Flüchtlingskind aus Breslau, das in einer fiktiven sächsischen Kleinstadt der 1950er Jahre von seinen Mitschülern als »Polacke« beschimpft und Vorurteilen, die man in Deutschland historisch gegen Polen gepflegt hat, ausgesetzt wird. In »Willenbrock« erscheinen neben polnischen auch russische Charaktere, und beide Nationalitäten werden im Roman nicht selten undifferenziert zu »Osteuropäern« verschmolzen. Der Versuch, die »andere Seite mit ihren eigenen Augen« zu sehen, wird erst gar nicht unternommen, denn das Augenmerk in diesen zwei Romanen richtet sich an erster Stelle auf Deutsche – ihre Ängste, ihre Kränkungen – und auf ein gestörtes Verhältnis zu der eigenen Vergangenheit. Wo Fremdbilder, Stereotype und Vorurteile in Heins Werken aufscheinen, geht es weniger um die äußere Beschaffenheit der Bilder als um das Zurückgreifen auf diese Vorstellungen durch seine deutschen Figuren und um das Bestreben, ihr Deutschsein in Abgrenzung vom »Fremden« zu behaupten – es geht also um eine Bloßlegung der Denkstrukturen hinter den Vorurteilen und Klischees.

1 Hein soll bei einer Lesung auf die Frage des Moderators, ob er mit dem Ende der DDR seine Heimat verloren habe, geantwortet, dass er »als schlesisches Flüchtlingskind nie habe Fuß fassen können«. http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/kultur/apollinische-orakelschreine-770 04999.html (Zugriff am 26.01.14.).

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Die Dekonstruktion von Eigen- und Fremdbildern erfolgt in den zwei Romanen hauptsächlich über Heins besondere Erzähltechniken und -strategien; somit bilden diese auch den Schwerpunkt dieser Analyse. Hierin unterscheiden sich aber die Romane wesentlich: »Landnahme« weist eine polyphone Struktur um fünf Ich-Erzähler auf, eingebettet zwischen zwei in dritter Person erzählten Rahmenkapiteln, während wir es in »Willenbrock« mit einer (nach Stanzel) »personalen Erzählsituation« zu tun haben, einer strengen internen Fokalisierung,2 die so konsequent durchgehalten wird, dass die Erzählinstanz in der Reflektorfigur praktisch aufgeht. »Landnahme« ist ein Erinnerungsroman, in dem Erzählzeit und erzählte Zeit größtenteils Jahrzehnte auseinanderliegen; in »Willenbrock« decken sich diese weitgehend. Der augenfälligste Kontrast zwischen den beiden Romanen besteht aber darin, dass die eine Hauptfigur, Bernhard Haber, immer Objekt des Erzählens bleibt, somit selber nie das Wort ergreift und über längere Strecken in »Landnahme« die Rolle des Diskriminierten besetzt, während die andere, die Reflektorfigur Willenbrock, eher zu den Diskriminierenden gehört. Auf inhaltlicher Ebene lassen sich aber in »Willenbrock« und »Landnahme« interessante Parallelen erkennen. Die Handlungen beider Romane setzen nach einer umwälzenden Neuziehung der Grenzen ein, mit all den dazugehörenden Komplikationen in der Beziehung zu den Nachbarstaaten. Die beiden Hauptfiguren mit den sprechenden Namen Haber und Willenbrock sind – wenn auch in verschiedenen Stadien im jeweiligen Romangeschehen – nach allen äußerlichen Kriterien als ›Wendegewinner‹ einzustufen. Doch wie fragwürdig diese Errungenschaft zu bewerten ist, zeigen beide Romane deutlich, denn der Wohlstand und die gelungene Integration der Hauptfiguren beruhen zu einem hohen Grad auf opportunistischen Geschäftspraktiken und einem konsequenten Vergessen, Verdrängen und Wegstecken. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Figuren und die Gesellschaft, in der sie leben.

I.

»Landnahme« »Und Bernhard war eben ein Polacke.«3

Der 2004 veröffentlichte Roman »Landnahme« von Christoph Hein bietet etwas weniger Material direkt zum Anliegen der »Polenbilder« an, so dass es in diesem Zusammenhang sinnvoll erscheint, sich auf die einschlägigen Textstellen zu beschränken, vor allem auf diejenigen in den ersten Kapiteln, die einen Einblick 2 Genette, Gérard: Die Erzählung. 3. Auflage. Paderborn: Fink 2010, S. 123. 3 Hein, Christoph: Landnahme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 37. [Im Folgenden unter der Sigle »L« mit Seitenzahl im Text.]

Zur erzählerischen Subversion deutscher Polenbilder bei Christoph Hein

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in einige nach dem Zweiten Weltkrieg kursierende Vorurteile geben und problematisieren, was es bedeutete, in der ostdeutschen Provinz als »Fremder« gebrandmarkt zu werden. Der erste Ich-Erzähler in »Landnahme«, der von Bernhard Habers Ankunft und Einschulung in der Kleinstadt Guldenberg berichtet, ist Thomas Nicolas. Es ist auch Thomas’ Wiederbegegnung mit Haber im Eröffnungskapitel, einer farcenhaften Faschingsszene in der Nachwende-Gegenwart, die offenbar als Auslöser für die Erinnerungen aller fünf Erzähler dient, und Thomas liefert wohl die Darstellung, die am ehesten um Sympathie und Fairness bemüht ist. Somit kommt diesem ersten Ich-Erzähler eine besondere Stellung in der Hierarchie der Erzähler zu, und vielleicht ist der Leser sogar versucht, ihn, wie den anderen Guldenberger Apothekersohn, Thomas Puls in »Horns Ende« (1985), mit dem Autor zu identifizieren. Aber auch Thomas ist nicht gefeit vor den Vorurteilen der Masse. Zum Beispiel erinnert er sich an seine Erleichterung als Kind, dass seiner Familie keine Umsiedler zugewiesen wurden und sie deswegen ihre Wohnung nicht teilen musste, besonders weil er gehört hatte, dass die Fremden Strom und Lebensmittel klauen würden und »schlimmer als die Zigeuner« seien (L, 36). In der einleitenden Rahmenszene spricht der erwachsene Thomas Bernhard Haber mit dem – früher hinterrücks geflüsterten – Spitznamen »Holzwurm« an, dies zwar in Anlehnung an seinen Beruf und den seines Vaters als Tischler, aber suggeriert wird auch ein Schädling, ein unwillkommenes Wesen, das die Substanz eines Bauwerks aushöhlt und schwächt. Thomas gibt zu erkennen, wie in den Köpfen der Guldenberger Bernhards schlesische Herkunft zu einer polnischen wird. So nennt man die Häuser, wo viele der Umsiedler wohnen, immer noch »die Polensiedlung« (da früher Saisonarbeiter aus Polen dort wohnten) und, so Thomas, »wir fanden es daher eigentlich richtig, dass die Vertriebenen dort untergebracht wurden, denn sie kamen schließlich aus Polen und sprachen ein Deutsch, das polnisch klang« (L, 30). An einer anderen Stelle heißt es, die Umsiedler seien »merkwürdige Menschen […] die Worte ganz anders als wir« betonen und Ausdrücke benutzen würden, »die nicht deutsch klangen und die keiner in der Stadt verstand«; schließlich summiert Thomas: »Irgendwie kamen sie aus einem Deutschland, das nicht unser Deutschland war« (L, 35). Doch auch noch in diesem frühen Kapitel wird klar, was die Guldenberger an den Neuankömmlingen wirklich stört: »Sie waren allesamt ärmlicher gekleidet als die Kinder der Einheimischen, ihre Strümpfe und Joppen waren geflickt, runde Lederstücke waren nicht nur auf den Ellbogen angebracht, und vor allem ihr Schuhwerk war alt und rissig« (L, 16).

Die Armut der neuen Stadtbewohner stellt dabei ein besonderes Problem für die Einheimischen dar, da diese mit dem eigenen Überleben und Zurechtkommen

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beschäftigt sind, was sie den Umsiedlern gegenüber regelmäßig beteuern. Thomas versteht den Widerwillen der Guldenberger, diesen Menschen zu helfen, »[…] denn gut ging es in den Jahren nach dem Krieg auch denen nicht, die man nicht vertrieben hatte« (L, 35). Bei Christoph Hein stösst man häufiger auf die These eines kausalen Zusammenhangs zwischen Wohlstandsgefälle und Fremdenangst, vor allem und am deutlichsten in seinen Essays; in einem Anfang der 1990er im »Spiegel« veröffentlichten Brief schreibt Hein: »Nein, wir sind nicht ausländerfeindlich. Wir haben keine Angst vor Eurer Hautfarbe oder Religion, und Eure uns fremde Kultur achten wir und interessieren uns sehr für sie. Aber wir hassen die Armut. Und es ist leider wahr, dass viele von Euch besonders arm sind. Wir fürchten uns vor Eurer Armut, weil sie uns ängstigt. Wir fürchten den Bazillus Eurer Armut, wir fürchten, uns anzustecken. Wir haben eine panische Angst davor, zu verarmen.«4

Der ökonomische Charakter vieler Stereotype, die in Thomas’ Kapitel beschrieben werden, ist nicht zu übersehen, etwa dass die Umsiedler auf Staatskosten leben und nicht gerne arbeiten würden, oder sogar dass sie korrupt seien, was sich in dem verbreiteten Verdacht äußert, dass Bernhards Vater seine eigene Werkstatt angesteckt habe; in einem späteren Kapitel heißt es dazu: »Man kannte sie nicht. Man wusste nicht genau, woher sie kamen, wie sie früher lebten, was bei ihnen erlaubt und verboten war. Vielleicht machte man in Pommern und Schlesien mit Versicherungen für Brand und Naturkatastrophen sein Geld […]« (L, 344).

Das alte Klischee von der »polnischen Wirtschaft« wird also nochmal bedient und ironischerweise auf eine Figur, die ja kein Pole ist, projiziert; relative Fremdheit wird von den Guldenbergern zu einer radikalen hochgespielt, um den »Fremden« auszugrenzen und sich der eigenen moralischen Überlegenheit zu versichern. Ein ebenfalls sehr aufschlussreicher Austausch spielt sich zwischen dem Flüchtlingskind und einem Lehrer am ersten Tag in der neuen Schule ab. Auf die Frage nach seiner Herkunft antwortet Bernhard mit »Breslau«, was die Empörung des Lehrers provoziert. Nachdem ein Mädchen aufgefordert wird, brav den »richtigen« Namen der Stadt, also »Wrocław«, zu verkünden, wendet sich der Lehrer wieder an Bernhard:

4 Hein, Christoph: Eure Freiheit ist unser Auftrag. Ein Brief an (fast alle) Ausländer – wider das Gerede vom Fremdenhaß der Deutschen. In: Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Materialien, Auskünfte, Bibliographie. Hrsg. von Klaus Hammer. Berlin, Weimar: Aufbau 1992, S. 51–66, hier: S. 52.

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»›Oder meinst du, in Italien leben heute die Römer? Nein, die Italiener. Merk dir das. Und Istanbul, das nennt ihr in Hinterpommern wohl noch immer Konstantinopel oder Byzanz, wie? Und du kommst aus Wrocław. Hast du das verstanden?‹« (L, 19)

Die bewusste Verwechslung von Schlesien mit »Hinterpommern« (Kursivierung durch den Verf.) – man denke an »Hinterwäldler«, »Hinterland« und andere zumeist negativ besetzte Assoziationen – dient der Andeutung des Lehrers, dass Bernhard und seine Landsleute rückständig und bäuerlich, oder wie es in einer anderen Passage heißt, sogar »schwer von Begriff« seien. Wenn Bernhard schließlich zum Bekenntnis gezwungen wird, dass er aus Wrocław kommt, um dann trotzig hinzuzufügen, dass er aber in Breslau geboren wurde, ist das Entsetzen des Lehrers perfekt: »Herr Voigt […] verzog verächtlich den Mund und lächelte Bernhard bedrohlich an. ›Ach was‹, sagte er schließlich, und es klang fast anerkennend, ›so einer bist du‹« (L, 20).

Die offizielle Wortwahl der DDR-Führung, die um eine friedliche Beziehung zu dem sozialistischen Bruderstaat bemüht war, wird hier vom Lehrer benuzt, um Bernhard zu marginalisieren. Somit wird das Kind in einen Topf mit den Revanchisten geworfen, die die neu gezogene Grenze zu Polen nicht anerkennen wollen, und gleichzeitig seiner deutschen Herkunft beraubt, wie Phil McKnight resümiert: »a new reality is created with a minor but deft piece of linguistic agility that superimposes a false identity onto Bernhard and simultaneously preserves prejudices towards the Polish.«5 Berhard Haber weist starrsinnig die Opferrolle von sich, gewinnt durch seinen materiellen Aufstieg endlich die Akzeptanz der Guldenberger und vergibt der Stadt sogar die größte Ungerechtigkeit, die ihm im Laufe des Romans widerfährt: den Mord an seinem Vater. Ein populistischer Beitrag zur Debatte um Vertreibung und deutsches Opfertum, der bei diesem Stoff vielleicht zu erwarten, oder besser: zu befürchten wäre, bleibt jedoch aus. Darin aber, wie Elizabeth Boa, die Botschaft zu sehen, man solle im Interesse des wirtschaftlichen Wohlergehens die Verbrechen der Vergangenheit hinter sich lassen,6 erscheint extrem weit hergeholt, und das nicht nur, weil eine Befürwortung des Vergessens bei Hein, dem sonst immer der Imperativ des Erinnerns und Mitteilens ein zentrales Anliegen 5 McKnight, Phil: How the Past Writes the Future. Social Autobiography and the Dynamics of Discrimination in Christoph Hein’s »Landnahme« and Other Writings. In: The German Quarterly 82, 2009, H.1, S. 63–89, hier: S. 75. 6 »[…] Bernhard’s suggestion could also be seen as advice to groups such as the Union of Expellees to move on and get a life, as millions of Germans so successfully did. […] »Landnahme« could seem to advocate breaking the chain of connection to past crimes in the interests of economic prosperity in the new Bundesländer«. Boa, Elizabeth: Lost Heimat in Generational Novels by Reinhard Jirgl, Christoph Hein und Angelika Overath. In: Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic. Hrsg. von Stuart Taberner und Karina Berger. Rochester: Camden House 2009, S. 86–101, hier: S. 95.

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ist, verwunderlich wäre. Von den fünf Ich-Erzählern in »Landnahme« wird mehr über die individuellen und kollektiven Denkmuster der Guldenberger, und vor allem über ihr völliges Desinteresse am Schicksal der Vertriebenen, verraten als über den vermeintlichen Gegenstand der Erinnerungen, Bernhard, der ja selber niemals zu Wort kommt.7 Die Hauptfigur, seine nicht erzählte Geschichte und die verlorene schlesische Heimat bilden die leere Mitte, um die der Roman kreist. Dass hier die gestörte Kommunikation und die Verdrängung der Vergangenheit nicht etwa gutgeheißen werden, sondern gerade davor gewarnt wird, zeigt sich vor allem in der ominösen Rahmenszene am Schluss des Romans, in den fremdenfeindlichen Äußerungen und Taten von Paul Haber, dem Sohn des Umsiedlers Bernhard Haber.

II.

»Willenbrock« »Mauern sollte man bauen. Überall Mauern, anders ist der Menschheit nicht beizukommen. Um Deutschland eine Mauer, um jedes Land.«8

Diese Worte stammen von einer Figur in dem 2000 erschienenen Roman »Willenbrock«, genauer: von einem Arzt, der die Titelfigur nach einem Überfall in seinem Landhaus am Stettiner Haff behandelt. Die Ereignisse spielen sich Mitte der 1990er Jahre ab, also zu einer Zeit, in der laut einer Studie die Kriminalitätsfurcht im Osten Deutschlands noch wesentlich höher lag und schneller wuchs als in den alten Bundesländern,9 was für viele Deutsche in keinem zufälligen Zusammenhang mit der einige Jahre zuvor eingeführten Visafreiheit für Polen stand, wie in einer berüchtigten »Bild«-Schlagzeile aus der Zeit nicht zu übersehen ist: »Kaum gestohlen, schon in Polen«.10 In zahlreichen Rezensionen und Abhandlungen wird Christoph Heins »Willenbrock« häufig in folgender Weise zusammengefasst: Ein erfolgreicher Geschäftsmann, glücklicher Ehemann und Frauenheld gerät nach einer Serie von Einbrüchen in zunehmende Verunsicherung und Angst und greift schließlich zu Gewalt. Kritiker sehen darin einen Beleg für die Versagung des Rechtstaats und 7 Außer in zitierten, d. h. von homodiegetischen Erzählern erinnerten Dialogen. 8 Hein, Christoph: Willenbrock. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 158. [Im Folgenden unter der Sigle »W« mit Seitenzahl im Text.] 9 Dittmann, Jörg: Entwicklung der Kriminalitätseinstellungen in Deutschland – eine Zeitreihenanalyse anhand allgemeiner Bevölkerungsumfragen. Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, 2005, S. 4. http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_02.c.230702. de (Zugriff am 26. 1. 2014). 10 Zitiert in: Das Bild der Deutschen von Polen im Wandel der Geschichte. Ein Working Paper der RAA Mecklenburg-Vorpommern e. V. im Rahmen des Projektes perspektywa. 2012. http://www.perspektywa.de/fileadmin/team/Working_Paper/RAA_Polenbild.pdf (Zugriff am 26. 1. 2014).

Zur erzählerischen Subversion deutscher Polenbilder bei Christoph Hein

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»de[n] beginnende[n] Zerfall zivilisatorischer Selbstverständlichkeiten in Deutschland«.11 Was dabei ausgeklammert wird, ist die Tatsache, dass gut ein Drittel des Romans verstreicht, bevor es zum ersten gewaltsamen Überfall kommt, und viele Erzählemente auf diesen ersten 100 Seiten des Romans klar erkennen lassen, dass Willenbrocks finanzieller Erfolg und friedliches Privatleben ein tiefes Unbehagen verschleiern, das wohl viel früher eingesetzt hat. Willenbrocks innere Konflikte werden also nicht etwa durch die Einbrüche ausgelöst, sondern auf schon vorher bei ihm vorhandene Störungen gegenüber seiner Außenwelt projiziert, was sich in seiner wuchernden Sicherheitsbesessenheit und seinem tiefen Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen widerspiegelt. Überdies scheint manchen Kritikern die Verwechslung unterlaufen zu sein, nicht nur die Erzählinstanz in »Willenbrock« mit dem lebenden Autor gleichzusetzen, sondern ihm sogar die xenophoben Aussagen seiner Randfiguren – etwa das oben angeführte Zitat, Sprüche wie »Asien. Alles wird Asien« (W, 212) oder Klagen über das »Gesocks, das über die Grenze kommt« (W, 211) – unmittelbar in den Mund zu legen. Entrüstet stellt z. B. Anatol Michailow fest: »Etwas Bedrohliches entsteht im Osten, wächst, breitet sich aus und kommt nach Westen – dessen ist sich Christoph Hein sicher«.12 Gregory H. Wolf drückt sich etwas vorsichtiger aus, wenn er meint, man könne Hein kulturelle Insensibilität vorwerfen, da die meisten der Kriminellen in »Willenbrock« aus Osteuropa stammen würden.13 Wolf verteidigt Hein gegen diese Unterstellung mit dem merkwürdigen Argument, dass er die Herkunft seiner Figuren nur dazu instrumentalisiere, eine deutsche Justiz zu kritisieren, die ausländische Verbrecher einfach abschiebt, statt sie strafrechtlich zu verfolgen. Abgesehen davon, dass – wenn man gründlich liest – nur bei einem der vier geschilderten Diebstähle überhaupt Indizien für eine Täterschaft von »Osteuropäern« bestehen, und ungeachtet der Tatsache, dass sich Hein in seinem essayistischen Werk in keinster Weise als populistischen Fremdenfeind zeigt, lassen beide Kritiker auch die erzähltechnischen Elemente völlig außer Acht, indem sie die im Erzählkontext gefällten Urteile und eingefügten Informationen, die im Roman über eine Reflektorfigur mitgeteilt werden, nicht in Frage stellen, sondern sie unkritisch dem Autor Hein zuschreiben. Es sei hier nur auf Stanzels Warnung, einen Erzähler bzw. ein Werk 11 Schönemann, Martin: Der Pole. Anmerkungen zu einer Figur aus Christoph Heins Roman »Willenbrock«. In: Studia Germanica Gedanensia, 11, 2003, S. 201–205, hier: S. 201. 12 Michailow, Anatol: Zum Bild des Russen in ausgewählten Werken der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Literatur für Leser, 2007, H. 1, S. 35–46, hier: S. 38. 13 »Hein may be charged with ethnic insensitivity, as most of the criminals here are of East European descent. In defense against such a charge, however, Hein uses that ethnic background to criticize German law, which does not prosecute to the fullest extent non-Germans who commit crimes in Germany, but simply deposits them on the border«. Wolf, Gregory H.: »Willenbrock« (Rezension). In: World Literature Today. 2001, S. 145.

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als direktes Sprachrohr des Autors zu betrachten, hingewiesen, denn »so verzichtet man auf die wichtigste Möglichkeit, die Mittelbarkeit der Erzählung zur Relativierung der Vorurteilshaftigkeit der Wirklichkeitserfahrung einzusetzen.«14 Es stellt sich demzufolge die Frage, ob für eine solche personale Erzählsituation, wie sie in »Willenbrock« präsentiert wird, das ohnehin umstrittene Konzept des »unzuverlässigen Erzählens« angewendet werden kann. Wayne C. Booths Begriff des »unreliable narrator« sieht in der formalen Nicht-Identität von Erzählinstanz und Reflektorfigur zwar keinen Widerspruch: »[…] any sustained inside view, of whatever depth, temporarily turns the character whose mind is shown into a narrator; inside views are thus subject to variations in all of the qualities we have described above, and most importantly in the degree of reliability«,15

doch andere Theoretiker, allen voran Stanzel und Chatman, lassen die Kategorie der Unzuverlässigkeit für die personale Erzählsituation gar nicht zu. Aber ob man nun von einem unzuverlässigen Erzählen spricht oder die alternativen Begriffe wie »fallible filter«16 bzw. »trüben Reflektor«17 übernimmt – es bestehen zahlreiche Ironiesignale in »Willenbrock«, die den Leser sowohl die kommentierenden Gedanken und Aussagen der Hauptfigur (d. h. ihre »theoretische« Zuverlässigkeit) als auch die Darstellung der Ereignisse (d. h. ihre »mimetische« Zuverlässigkeit18) anzweifeln lassen. Im Folgenden sollen daher vor allem diejenigen Textstellen untersucht werden, die den Zusammenhang zwischen der Unbestimmtheit des Erzählten und den über die Figur Willenbrock vermittelten Polenbildern aufzeigen. Darüber hinaus soll auch kurz auf andere OsteuropaBilder im Roman eingegangen werden, denn besonders die Darstellung des Überfalls im Landhaus und genau wie Willenbrock zu der problematischen Überzeugung gelangt, dass es sich bei den Tätern um zwei russische Brüder handeln muss, verdienen eine nähere Betrachtung. Bereits auf der ersten Seite des Romans deutet eine wichtige, wenn auch fast belanglos erzählte Sequenz auf das präexistierende Unbehagen Willenbrocks. Bei der Lektüre eines Pornomagazins in seinem Büro entsinnt er sich eines Traums:

14 Stanzel, Franz K: Theorie des Erzählens. 8. Auflage. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2008, S. 25. 15 Booth, Wayne C: The Rhetoric of Fiction (2. Ausgabe). Chicago: University of Chicago Press 1983, S. 164. 16 Chatman, Seymour: Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca/ London: Cornell University Press 1990, S. 151. 17 Stanzel, Theorie des Erzählens. 2008, S. 203. 18 Martínez, Matías und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9. Auflage. München: C.H. Beck 2012, S. 103–106.

Zur erzählerischen Subversion deutscher Polenbilder bei Christoph Hein

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»In der Nacht hatte er geträumt, dass er auf einer eisernen Fußgängerbrücke, die über die Eisenbahngleise führte, entlangrannte. […] Im Traum war er einem Mann gefolgt, der vor ihm herlief, ohne dass er ihn erreichen konnte. […] Er wusste nicht, warum er ihn verfolgte, er wusste nicht, ob sie sich kannten, ob sie einander verpflichtet waren, was ihn mit diesem Mann verband. […] Nur ein dummer Traum, sagte er sich und betrachtete müde und enttäuscht die Mädchen, die ihm ihre Brüste entgegenstreckten und ihn einladend anlächelten« (W, 7).

Gerade Willenbrocks abweisendes Fazit (»Nur ein dummer Traum«) lässt aufhorchen: der aufmerksame Hein-Leser wird unwillkürlich an Claudia, die Hauptfigur des ersten längeren Prosawerks »Der fremde Freund«,19 erinnert, deren Lebensbericht die Schilderung eines ähnlichen Traums vorausgeht und die immer wieder ihre Zufriedenheit beteuert und verstörende Erinnerungen herunterspielt. Dazu Hein: »Es ist so, daß der Leser etwas anderes auch liest, also das, was Tschechow einmal als Untertext bezeichnete. Wenn die Person sagt, sie sei zufrieden und ihr gehe es gut, wird eigentlich immer etwas anderes, nicht das Gegenteil, aber etwas anderes noch erzählt.«20

Auch der Macher Willenbrock nimmt »[sich] vor, mit [s]einem Leben zufrieden zu sein. Immer« (W, 64), und behauptet, »uralte schmuddlige« Geschichten (W, 33) seien in einem anderen Leben passiert (W, 59) und würden ihn jetzt nicht »jucken«. Christine Cosentino21 und David Clarke22 haben bereits diesen intertextuellen Bezug aufgezeigt, wobei nur Cosentino dem Traum ausdrücklich eine Schlüsselfunktion für die Deutung von »Willenbrock« zuweist, wohingegen für Clark diese Passage eher eine spielerische Selbstreferenz darstelle. Vor allem beschäftigen Cosentino die Symbole und der vorahnende Charakter des Traums. Meines Erachtens ist er aber noch interessanter in seiner Funktion als ein frühes Signal an den Leser, wie die Hauptfigur und das komplett aus seiner Wahrnehmungsperspektive erzählte Geschehen anzugehen seien. Diese psychologische Kontextualisierung des übrigen Romangeschehens durch eine traumartige Rahmensequenz ist, nebenbei bemerkt, eine Erzählstrategie, die Hein auch in seinem 2011 erschienenen Roman »Weiskerns Nachlass« eingesetzt hat. Im Verlauf des Romans wird immer mehr über die unaufgearbeiteten Ereignisse aus Willenbrocks Vergangenheit vor und kurz nach der Wende verraten: die 19 Die Novelle erschien in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Titel »Drachenblut«. 20 Hein, Christoph: Die Intelligenz hat angefangen zu verwalten und aufgehört zu arbeiten. Ein Gespräch. In: Ders.: Öffentlich arbeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 148–157, hier: S. 151. 21 Cosentino, Christine: Der Traum ein Leben. Textstrategien in Christoph Heins Roman »Willenbrock«. In: Glossen, 2002, Sonderausgabe 15. http://www2.dickinson.edu/glossen/ heft15/cosentino.html (Zugriff am 26. 1. 2014). 22 Clarke, David: Diese merkwürdige Kleinigkeit einer Vision. Christoph Hein’s Social Critique in Transition. Amsterdam/New York: Rodopi 2002, S. 287–289.

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Flucht seines Bruders in den Westen, weswegen er auf seine Leidenschaft, das Segelfliegen, verzichten musste, die neulich ans Licht gekommene Bepitzelung und Denunziation durch einen Vorgesetzten, die ihm Geschäftsreisen ins nichtsozialistische Ausland verwehrten, oder der Bankrott seines Arbeitgebers im Zuge der Auflösung der DDR, was seine Laufbahn als Ingenieur beendete. Ein von der Kritik kaum beachteter,23 diesen Episoden jedoch ganz eigener Aspekt ist in dieser Hinsicht der fließende Übergang in den inneren Monolog, dessen Gestus insgesamt viermal im Roman angewendet wird und der sukzessiv immer umfangreicher wird – der vierte Monolog erstreckt sich schließlich über mehr als drei Seiten. Gerade für diese »Nebenstränge« der Handlung, in denen es offensichtlich nicht um die Kriminalitätsangst geht, die viele Kritiker ja für das Hauptanliegen des Romans halten, verringert Hein die ohnehin schon winzige Erzähldistanz und verwendet eine der unmittelbarsten Formen der Bewusstseinsdarstellung. Die damit implizierte Gewichtung dieser Episoden führt zu der Frage zurück, in welchem Verhältnis diese denn zur übrigen Handlung und zum Thema »Ausländer-« bzw. »Grenzkriminalität« stehen. Ein fruchtbarer Ansatz liegt möglicherweise darin, dass all diese unaufgearbeiteten Vorfälle in Willenbrocks Vergangenheit mit einer kränkenden Einschränkung seiner Mobilität verbunden waren. Der selbstbewusste Eigenbrötler muss nämlich erkennen, dass er doch ein Objekt der Geschichte gewesen ist, wie alle anderen den geopolitischen Veränderungen und Launen ausgeliefert, was in ironischem Kontrast zu der im Roman als durchlässig charakterisierten, von Willenbrock zunehmend als Bedrohung empfundenen Grenze zu Polen steht. Auch ist Willenbrocks Beruf als Autohändler bezeichnend: Sein Autohof steht auf einem Gelände, wo früher eine Gärtnerei betrieben wurde, d. h. wo menschliche Grundbedürfnisse gedeckt wurden; doch die aktuelle Verwendung des Grundstücks, den Handel mit Gebrauchtwagen, dürfte man wohl als eine der krudesten Erscheinungsformen des Kapitalismus klassifizieren. Die Autos sind oft nur wenige Stunden zwischen An- und Verkauf in Willenbrocks Besitz, und ohne dass der Autohändler irgendeinen Mehrwert geschaffen hätte, scheint am Ende immer ein satter Gewinn einzugehen. Doch trotz des florierenden Geschäft stellt Willenbrock bereits auf den ersten Seiten des Romans seinem Mechaniker unvermittelt folgende, etwas verblüffende Fragen: »›Was machen wir falsch, Jurek?‹ ›Falsch? Was meinen Sie?‹

23 Mit der Ausnahme von Gerhard Schulz, der auf den letzten der vier inneren Monologe hinweist, den er »ein Stück exquisiter psychologischer Prosa« nennt; Schulz, Gerhard: Schonzeit für Helden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 7. 2000. http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristik-schonzeit-fuer-hel den-111128.html (Zugriff am 26. 1. 2014).

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›Sie stehen seit einer Stunde vor der Tür, um mir diese uralten Autos abzukaufen. Warum kommt halb Warschau zu mir?‹« (W, 9)

Gemeint ist, wie es kurz darauf lautet, »ein Pulk jüngerer Männer in dunklen, billigen Anzügen und mit offenen Hemden«. Willenbrock stört sich offenbar an der bloßen Anwesenheit der polnischen Käufer auf seinem Autohof, obwohl dieses Klientel an anderer Stelle als ein »Fass ohne Boden«, als ein »unerschöpflich[er]« und »sicherer Kundenstamm« (W, 210) beschrieben wird. Und auch wenn ihre Kleidung wohl bei weitem nicht so armselig ist wie die der Umsiedlerkinder in »Landnahme«, markiert sie ein auffälliges Wohlstandsgefälle zwischen den fremden Kunden und der Hauptfigur. Willenbrocks Unruhe basiert dann auch zum Teil auf der im oben zitierten Essay von Hein identifizierten Angst, sich mit der Armut der Fremden anzustecken und den »durchaus bescheidenen Wohlstand«24 des Westens gegen ausländische Eindringlinge ständig verteidigen zu müssen. Diese panische Angst vor Besitzverlust (gerade bei einer gleichzeitigen, raschen Vermehrung des Besitzes) zeigt sich ebenso ganz deutlich am Beispiel einer Nebenfigur, des neureichen Geschäftsmanns Puhlmann, der sein Haus praktisch zu einem Hochsicherheitstrakt ausgebaut hat, um sein »Goldstück« – gemeint ist seine Ehefrau – vor den ausländischen Banditen zu schützen. Gerhard Schulz vermutet hinter der ambivalenten Einstellung Willenbrocks zu seinen osteuropäischen Kunden ein historisches Schuldbewusstsein, vor allem im Hinblick auf den Russen Krylow, dessen Mutter von deutschen Soldaten vergewaltigt wurde: »Besiegte und Sieger eines Krieges kehren sich um zu Siegern und Besiegten der Geschichte. Das bringt Probleme.«25

Zu diesen durchaus vertretbaren Lesarten kann man eine weitere, ergänzende hinzufügen, die sich durch zahlreiche Textstellen stützen ließe, und zwar dass Willenbrock von der Erkenntnis geplagt wird, sein geschäftlicher Erfolg beruhe auf ungleichen materiellen Machtverhältnissen. In einem der vier inneren Monologe konstatiert er zynisch: »[…] das einzige, worüber ich mir Sorgen machen sollte, falls ich dafür genügend Zeit finde und einen Grund, das ist lediglich, ob sich Osteuropa weiterhin so entwickelt, wie es meiner Firma bekömmlich ist, also ausreichend freundlich und stabil, um meine Kunden zahlungsfähig zu halten, und doch nicht so erfolgreich, dass sie auf meine Dienste verzichten können und sich stattdessen mit neuen Wagen eindecken« (W, 59– 60).

Ein solch offenes Eingeständnis, dass er Nutznießer eines womöglich ungerecht verteilten Wohlstands sei, macht Willenbrock aber nur selten, vielmehr offenbart 24 Hein, »Eure Freiheit ist unser Auftrag«. 1992, S. 52. 25 Schulz, Schonzeit für Helden. 2000.

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sich diese unbequeme Wahrheit in seinem ständigen Hadern (»Was machen wir falsch?«), in seiner Paranoia und in seinem ab der Mitte des Romans sich steigernden Selbstschutzwahn. Diese ungleiche Dynamik der nach Osten sich ausbreitenden Marktwirtschaft wird auch an der Figur Jurek veranschaulicht. Mit dem Mechaniker Willenbrocks, der fast den ganzen Roman über einfach »der Pole« genannt wird, hat sich Martin Schönemann m. W. als bislang einziger Kritiker eingehend auseinandergesetzt;26 allerdings teile ich seine Ansicht nicht, dass Jurek als eine Art Positiv-Folie oder gar guter Engel als Gegengewicht zum teuflischen Russen Krylow fungiere: »›der Pole‹ steht in Christoph Heins Roman für die besseren, die authentischen Seiten des Protagonisten, er ist der Garant seiner selbstbestimmten Identität und Warner vor Vereinnahmungen durch böse Mächte«.27 Denn für solch eine Auslegung ist die Jurek-Figur menschlich viel zu fehlbar – z. B. basiert seine Abneigung gegen Krylow eher auf alten kulturellen Ressentiments als auf seinem moralischen Gewissen; auch ist Jurek der Meinung, dass man Dieben »eine Hand abhacken« (W, 118) solle, und er spricht über seine eigenen Landsleute als »die Mischpoke«, die »über die Grenze kommt« (W, 185). Insofern lässt die Figur Jurek die oben erwähnte West–Ost-Dynamik evident werden. Denn genauso, wie Willenbrock einige Jahre früher bei der Gründung seines Geschäfts von seinem inzwischen westdeutschen Schwager unterstützt und gleichzeitig übervorteilt worden war,28 pendelt Jureks Behandlung durch Willenbrock zwischen Ausbeutung und gönnerhaftem Getue. Wenn Jurek nicht gerade Autos repariert, muss er (dank gemeinsamer Muttersprache) fast alle Kunden betreuen, während Willenbrock in seinem Büro mal in Pornoheften, mal in Bilderbänden über Flugzeuge des Ersten Weltkriegs blättert oder einer seiner Affären einen Besuch abstattet. Mehrfach kommt es zu Erzählübergängen wie folgender vor: »Eine Stunde später klopfte Jurek an das Fenster des Wohnwagens und meldete ihm gestikulierend den Verkauf von drei Autos« (W, 17). Und ebenso, wie Willenbrock immer noch die herablassenden Ratschläge des Schwagers im Westen erdulden muss, erinnert er Jurek immer wieder gerne daran, dass er seinen Lohn bezahlt. Dass Jureks Ehe und Familienleben darunter leidet, dass er sich gezwungen sieht, sein Geld in Deutschland zu verdienen, steht im krassen Gegensatz zu Willenbrock, der Geschäft, Ehe und Affären scheinbar meisterhaft balanciert.

26 Auch David Clarke darf nicht unerwähnt bleiben, der in seinem Kapitel zu »Willenbrock« Jurek einen ganzen Absatz (also vergleichsweise viel Platz) einräumt; Clarke, Diese merkwürdige Kleinigkeit einer Vision. 2002, S. 307. 27 Schönemann, Der Pole. 2003, S. 205. 28 »Die Autos, die er nicht mehr verkaufen konnte, hat er mir überlassen […] Er tut heute, als hätte er sie mir geschenkt, aber inzwischen weiß ich, auch dabei hat er noch verdient« (W, 14).

Zur erzählerischen Subversion deutscher Polenbilder bei Christoph Hein

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Als letztes Beispiel, woran klar wird, wie die Fremdbilder in Heins Roman durch Berücksichtigung der Erzählperspektive relativiert werden, soll die Darstellung des nächtlichen Überfalls auf Willenbrock und seine Frau in ihrem Landhaus bei Bugewitz angeführt werden. Die Überzeugung Willenbrocks – sowie die der Polizei –, dass die Täter Russen seien, wird, wie schon angedeutet, von nicht wenigen Rezensenten und Forschern unkritisch übernommen. Dabei hat David Clarke schon relativ kurz nach Erscheinen des Romans betont, wie sehr diese Annahme weniger auf tatsächlichen Indizien beruhe als auf den höchst subjektiven und unzuverlässigen Wahrnehmungen des Protagonisten, vor allem im Bezug auf die Muttersprache der Einbrecher.29 Was für Willenbrock später zu einer Gewissheit wird, ist eine Vermutung, die sich während des Überfalls nur stufenweise und selbstreflexiv erhärtet: »Jetzt schrie auch der Mann auf, er schrie etwas, was Willenbrock nicht verstehen konnte, da er selbst unentwegt und so laut es ihm möglich war brüllte. [….] Er glaubte, slawische Worte vernommen zu haben und suchte fieberhaft nach geeigneten russischen Wendungen und Wörtern, die er willkürlich herausschrie, ohne auf ihre Bedeutung zu achten. […] für Willenbrock schienen es eindeutig russische Laute zu sein. […] Er hörte aufgeregte Stimmen hinter der Tür, die Männer sprachen hastig und heftig miteinander, jetzt war er davon überzeugt, dass sie russisch sprachen. […] Dann schlug wieder ein Eisen gegen die Tür, und ein Mann, der unmittelbar hinter der Tür stehen musste, rief zweimal einen kurzen russischen Satz, dessen Sinn er nicht entschlüsseln konnte« (W, 143–144, Kusivierungen durch den Verf.).

Die Verlässlichkeit der Reflektorfigur wird auch nicht gerade dadurch bekräftigt, dass sich Willenbrock bei dem Vorfall in einem verständlicherweise extrem aufgeregten Zustand befindet, und zwar in einem Ausmaß, dass ihm, erst nachdem er die Einbrecher abgewehrt hat, klar wird, dass er die ganze Zeit bis auf die Jacke seines Schlafanzugs völlig nackt gewesen ist. Und schließlich dürfen die Augenblicke ganz am Anfang der Einbruchszene nicht außer Acht gelassen werden, d. h. nachdem das Ehepaar durch ein Geräusch geweckt wird, aber noch vor dem eigentlichen Kampf mit den Einbrechern, wenn Willenbrock mutmasst: »Sicher war es ein jugendlicher Arbeitsloser aus einem der umliegenden Dörfer oder ein illegal eingereister Ausländer, der rasch ein Auto und etwas Geld benötigte, um in das Landesinnere zu kommen« (W, 140).

Unmittelbar darauf entsinnt sich Willenbrock einer der »Sensationsgeschichten« eines Mannschaftskameraden in seinem Handballverein, der immer wieder gern von seinen abenteuerlichen Besuchen in Moskau und seinen Begegnungen mit russischen Gangstern erzählt. Diese Vorprägung Willenbrocks durch Anekdoten

29 Clarke, Diese merkwürdige Kleinigkeit einer Vision. 2002, S. 300.

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aus zweiter Hand stellt somit die im Folgenden aus seiner Perspektive gelieferte Darstellung in Frage. So mag dieses letzte Beispiel in einem Beitrag zu Polenbildern zwar fehl am Platz erscheinen, da in diesem Romanabschnitt fast durchgehend von »Russen« die Rede ist. Doch genau wie der als potenzieller »Schädling« behandelten Figur des Bernhard Haber/»Holzwurm« in »Landnahme« eine fremde Identität als »Pole« aufgezwungen wird, verschmelzen in »Willenbrock« alle Mittel- und Osteuropäer zu einer entmenschlichten Masse bzw. zu dem, »was so alles über die Grenze kommt« (W, 175). Alle Länder, die östlich der Oder liegen, werden für die um ihren Besitz besorgten Deutschen zu »Sibirien« oder gar »Asien«.30 Gerade die Tatsache, dass die Hauptfiguren in beiden Romanen das »Fremde« dermaßen undifferenziert betrachten, zeugt davon, dass es sich dabei nicht um konkrete Bilder handelt, die sich etwa aus der Begegnung mit wirklichen Menschen aus Polen, Russland usw. herausgebildet haben. Sie werden im Gegenteil als eine künstliche Konstruktion entlarvt, hinter der sich ganz andere, vor allem hausgemachte Ängste und Unruhen verbergen, oder wie Kai Hendrik Patri notiert: »die Gefahr kommt nicht aus Moskau, Bukarest oder Warschau, sondern von innen: der Feind ist in uns selbst.«31 Es ist ein besonderes Merkmal des Heinschen Stils, der eine Fülle an Details mit einer einzigartigen Zurückhaltung der Erzählinstanz kombiniert, dass in seinen Texten eine Illusion der Mimesis oder – um mit Martínez/Scheffel zu sprechen – die »Illusion einer unmittelbar greifbaren ›Wirklichkeit‹« entsteht.32 Der unbedachte Leser könnte sogar den Eindruck gewinnen, er habe es mit einem allwissenden Erzähler zu tun, wie es bei einigen Kritikern der Fall zu sein scheint.33 Und vielleicht ist es gerade diese Illusion, die andere Kritiker dazu verführt hat, gewisse Urteile – und Vorurteile – dem wirklichen Autor Hein zuzuschreiben – aber es handelt sich eben um eine Illusion, und zwar um eine, die in einem ständigen Spannungsverhältnis zu den vielen erzählerischen Brechungen und offenen Strukturen seiner Texte steht. 30 Z.B. in Willenbrocks Gespräch mit den Puhlmanns: »Und all das nur, weil Sibirien neuerdings vor unserer Haustür beginnt« (S. 211), und »Asien. Alles wird Asien« (S. 212). 31 Patri, Kai Hendrik: »Romane über die europäische Unruhe«: Kriminalität als Einbruch des Unheimlichen in Christoph Heins »Willenbrock« und den zwei ersten Wallander-Romanen Henning Mankells. In: »Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen«. Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90. Hrsg. von Stephan Krause und Friederike Partzsch. Berlin: Frank & Timme, 2012, S. 215–228, hier: S. 219. 32 Martínez und Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. 2012, S. 53. 33 Zum Beispiel schreibt Martin Schönemann von einem »auktoriale[n] Erzähler« in »Willenbrock« (Schönemann, Der Pole. 2003, S. 201), während Volker Hage in seiner Rezension sowohl die personale Erzählsituation als auch die umfangreichen inneren Monologe übersieht: »er [Willenbrock] wird aus großer Distanz, in dritter Person porträtiert«; Vgl. Hage, Volker: Wildwest im Ossiland. In: Der Spiegel, 2000, Ausgabe 25. http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-16694741.html (Zugriff am 26. 1. 2014).

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Wenn auch der Bogen dabei etwas überspannt wird, so ist doch Gustav Seibts Charakterisierung von Heins Hauptaugenmerk in »Willenbrock« weitgehend zuzustimmen: »Mit der Erwartung, dass alles zusammenhängt, spielt er lange genug, um eine gewisse Spannung aufrechtzuerhalten, doch am Ende siegt eine Beklemmung, die nichts Äußerliches mehr hat. Die Einheit des Romans ist psychologisch, seine Anlage abstrakt. […] Doch geht es nicht um soziale Schilderung. Wieder inszeniert Christoph Hein ein Denkspiel, das nur ganz allgemein mit den so liebevoll ausgemalten konkreten Umständen zusammenhängt.«34

Dass am Ende des Romans Willenbrock einen Einbrecher anschießt, lässt sich gewiss nicht nur mit der Verdrängung seiner Vergangenheit und seiner Ängste erklären, sondern stellt auch eine Reaktion auf Verbrechen dar, die wirklich gegen ihn und seine Frau begangen werden, und ist Ausdruck seiner Hilflosigkeit und seines schwindenden Vertrauens in den Rechtsstaat. Doch um dem besonderen xenophoben Charakter der Paranoia Willenbrocks auf den Grund zu gehen, sind alle dieserart geschickt eingebauten Erzählelemente zu berücksichtigen, die sein Wahrnehmungsvermögen und sein Selbstverständnis untergraben. Ebensowenig ist der »Polacke« Bernhard Haber der eigentliche Gegenstand des Romans »Landnahme«, sondern vielmehr die Befindlichkeiten der fünf IchErzähler und der übrigen Guldenberger, die von der Gegenwart von Fremden in ihrer Stadt ausgelöst werden. Hein formulierte in einem Interview seine Rolle als Schriftsteller folgendermaßen: »Ich […] bin nicht klüger als der Leser und kann nur in Dialog mit ihm treten.«35 Die Hein-Leser sind also in einem ungewöhnlichen Maße aufgefordert, auf die Erzählsperspektiven und -strukturen zu achten, Leer- und Unbestimmtheitsstellen zu füllen und permanent das explizit Erzählte zu hinterfragen. Gerade wenn eine allzu eindeutige Interpretation naheliegt, muss sich der Leser der eigenen voreiligen Schlüsse – eventuell auch der eigenen Vorurteile – bewusst werden.

34 Seibt, Gustav: »Alles wird Asien.« (Rezension zu »Willenbrock«). In: Die Zeit, 2000, Ausgabe 26. http://www.zeit.de/2000/26/Alles_wird_Asien (Zugriff am 26. 1. 2014). 35 Brender, Hans/Hüfner, Agnes: »Ich kann mein Publikum nicht belehren«. Gespräch mit Christoph Hein. In: Christoph Hein. Texte, Daten, Bilder. Hrsg. von Lothar Baier. Frankfurt a. M.: Luchterhand 1990, S. 68–75, hier: S. 71.

Sabine Egger (Limerick)

Bilder des »europäischen Ostens« in der neueren deutschen Lyrik

»Die Deutschen und der europäische Osten«, so hatte Johannes Bobrowski Anfang der 1960er Jahre das zentrale Thema seines Werkes zusammengefasst.1 In seinen Gedichtbänden, »Sarmatische Zeit« (1961) und »Schattenland Ströme« (1962), versucht er eine poetische Annäherung an die gemeinsame Geschichte der Deutschen und ihrer »östlichen Nachbarvölker«.2 Mit dem Modell eines multikulturellen, »sarmatischen« Ostmitteleuropa nimmt seine Lyrik einerseits eine Sonderstellung im Kontext der west- und ostdeutschen Nachkriegsliteratur ein und durchbricht das nicht erst im 20. Jahrhundert dominante, westeuropäische Konzept, das Europa als singuläres Beispiel einer Modernisierung mit dem Zentrum Paris auffasst. Das ist sicher ein Grund dafür, dass jüngere Autoren im Europa nach 1989 sich wieder mit diesem Sarmatien auseinandersetzen.3 Andererseits wird der »europäische Osten« in Bobrowskis Texten aber den »Deutschen« gegenübergestellt und setzt damit die für das dominante Europabild grundlegende Dichotomie von Westen und Osten fort, wenn auch in Form eines Dialogs. Geht man davon aus, dass dieser europäische Osten eine Größe ist, die auf die traditionelle Ausgrenzung des ›Östlichen‹ aus dem abendländischen Europabild zurückgreift und in der Epoche der zwei Blöcke eine besondere politische und kulturelle Bedeutung erhielt, ist zu fragen, inwieweit solche Ost–West-Konzepte in Gedichten deutschsprachiger AutorInnen der letzten zwanzig Jahre, die sich mit 1 Bobrowski, Johannes: Mein Thema. In: Johannes Bobrowski. Selbstzeugnisse und Beiträge über sein Werk. Hrsg. von Gerhard Rostin et al. Berlin (DDR): Union 1975, S. 23. 2 So erklärt er 1962 in seinem Vortrag »Benannte Schuld – Gebannte Schuld«: »Ich befasse mich, nach meiner Ansicht, mit dem Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvölkern. Ich benenne also Verschuldungen – der Deutschen –, und ich versuche, Neigung zu erwecken zu den Litauern, Russen, Polen usw. Da ein solches Thema von historisch gewachsenen Vorurteilen und von aus Unkenntnis oder Voreiligkeit resultierenden Ressentiments weitgehend verdeckt ist, kann eine einfache Propagierung von Ansichten oder Empfehlungen nichts ausrichten« (Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Eberhart Haufe. Bd. 4. Stuttgart: DVA 1998/99, S. 447). 3 Beispielsweise in Pollack, Martin (Hrsg.): Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2006.

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dem deutsch-polnischen Verhältnis beschäftigen, weitergeführt oder aufgelöst werden. Wird Polen darin dem »Osten«, »Mitteleuropa« oder einem anderen Europabild zugeordnet, und wo werden neue Grenzen gezogen? Welche Bilder des Eigenen und Anderen werden aufgerufen, bzw. inwieweit werden binäre Oppositionen überwunden und dialogische durch polylogische Strukturen ersetzt? Entsteht so ein transnationaler Raum wie in Bobrowskis Sarmatien heraufbeschworen bzw. wird er in anderer Form imaginiert? Kommt in den Gedichten ein »guter Europäer« zu Wort, ein transnationaler und nomadischer Denker, wie ihn Ute Frevert anhand von Friedrich Nietzsches Begriff definiert,4 oder ein »global player«? 5 Diese Fragen sollen im Folgenden einen imagologischen Blick auf Gedichttexte von Gerald Zschorsch6, Kurt Drawert, Brigitte Oleschinski und auf ein mit unterschiedlichen Medien arbeitendes Gemeinschaftsprojekt der deutsch-polnischen Slam-Poetry-Szene eröffnen, an dem Baas Böttcher, Bohdan Piasecki und VJ Milosh beteiligt sind. An dieser Stelle noch einige Vorbemerkungen: Zum einen gehören die ersten drei der genannten AutorInnen einer Nachkriegsgeneration an, die unter den kollektiven Gedächtnislücken des Kalten Krieges auf beiden Seiten des ›Eisernen Vorhangs‹ zu leiden hatte, so dass letzteres nur indirekt auf die Generation der in den 1970er oder 1980er Jahren Geborenen, der Bas Böttcher oder Bohdan Piasecki angehören, zutrifft, was auch in der Form der literarischen Auseinandersetzung mit dem Osten deutlich wird. Zum anderen erscheinen im Hinblick auf das umrissene Thema dieses Beitrags die Texte der genannten Autoren zunächst nur bedingt repräsentativ für die neuere deutsche Lyrik. Diese beschäftigt sich in den Jahren nach dem Mauerfall mit der Ost-West-Thematik primär als deutsch-deutsches Problem.7 Während die deutschsprachige Prosa nach 1989 zunehmend den europäischen Osten als Erinnerungsort der Flucht und Vertreibung oder als Ort der Rückkehr innerhalb der Migrationsliteratur der zweiten Generation entdeckt und damit auch die europäische bzw. transnationale Dimension in den Vorder4 Frevert, Ute: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2003. 5 Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur: Ein Versuch über die neue Weltliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 6 Erste Überlegungen meinerseits zum Europakonstrukt in den Gedichten Zschorschs und Drawerts sind unter dem Titel »Der ›europäische Osten‹ in der neueren deutschen Lyrik« in einem kurzen Überblick für die Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010 erschienen (Bd. 5.2. Einheit in der Vielfalt? Der Europadiskurs der SchriftstellerInnen seit der Klassik. Hrsg. von Franciszek Grucza und Jianhua Zhu. Oxford: Peter Lang, 2012, S. 151–158). 7 Drawert, Kurt: Rückseiten der Herrlichkeit. Texte und Kontexte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 48f.; im Gegensatz dazu setzen sich polnische, tschechische oder ungarischen Autoren im Zuge der Mittelosteuropa-Debatte damit schon ab Mitte der 1980er Jahre explizit in einem europäischen Kontext auseinander (vgl. Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. Zürich: Piper 1992, S. 444–452).

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grund rückt,8 scheint das in der Lyrik nach der Wende nicht im selben Maße der Fall zu sein. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man die Bände des »Jahrbuchs für Lyrik« ab 1990 durchsieht.9 Vor diesem Hintergrund sind die hier ausgewählten Texte aber von besonderem Interesse, da sie zum Teil Themen und Formen vorausnehmen, die sich erst in den letzten Jahren auch in der Lyrik jüngerer AutorInnen finden. Dabei spiegelt die unterschiedliche Form der besprochenen Texte insgesamt die formale Vielfalt der zeitgenössischen Lyrik wider, die vom Prosagedicht oder dem Rekurs auf klassische Stilelemente bis hin zur Sprachklitterung und einer transmedialen Kunst reicht. Des weiteren soll in dieser Textanalyse u. a. auf den imagologischen Ansatz von Jean-Marc Mouras und Daniel-Henri Pageaux zurückgegriffen werden, wobei die ästhetische Funktion der »Images« im einzelnen Text von mindestens ebenso großer Bedeutung ist wie ihre kulturelle. »Image« ist dabei im Sinne eines kulturellen »imaginaire« im Sinne von Paul Ricoeurs Hermeneutik zu denken.10 Versteht man Literatur insgesamt als »elaborierten Interdiskurs«, der »tendenziell alle Diskurse einer Kultur konnotativ reintegriert«, wie Jürgen Link gezeigt hat, mit einem potenziell hohen Grad an Reflexion und Dekonstruktion von kulturellen Images in literarischen Texten, trifft das auf die Lyrik aufgrund ihrer großen sprachlichen Komplexität in besonderem 8 Siehe dazu u. a. Lengl, Szilvia: Interkulturelle Frauenfiguren im deutschsprachigen Roman der Gegenwart. Dresden: Thelem, S. 15–22 und Wright, Chantal: Writing in the »Grey Zone«. Exophonic Literature in Contemporary Germany. In: gfl, 3 (2008), S. 26–42. 9 Dabei gibt es weitere Ausnahmen, wie etwa Marcel Beyers Gedichtband »Erdkunde« (2002). Darin bricht der Autor auf eine historische Spurensuche in die ehemaligen deutschen Ostgebiete auf, wobei der geographische Schwerpunkt hier auf Kaliningrad und der Kurischen Nehrung liegt. Ein möglicher Grund dafür, dass es weniger Gedichte als Prosatexte zum Thema von MigrationsautorInnen gibt, könnte in einzelnen Fällen auch am Vorbehalt liegen, Gedichte in der zweiten Sprache zu schreiben, der nicht gegenüber der Prosa besteht. So erklärt Olga Martynova: »Gedichte setzen eine andere Geschwindigkeit voraus. Solche Schnelligkeit habe ich auf Deutsch nicht« (Shchyhlevska, Natalia: Gedichte, vom Geiste beseelt: Zum Gedichtband »Von Tschwirik und Tschwirka« von Olga Martynova. In: Literaturkritik.de 2013, 1, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17405&aus gabe=201301 (Zugriff am 02. 06. 2014). Das trifft auf andere deutsch-russische Autorinnen wie Marja Gaponenko allerdings nicht zu. Versteht man Migrationsliteratur im weiteren Sinne als eine Literatur, die Bewegung ästhetisch umsetzt, eröffnet das noch weitere Perspektiven. Siehe Egger, Sabine: »The East« as a Transit Space in the New Europe? Transnational Train Journeys in Prose Poems by Kurt Drawert, Lutz Seiler and Ilma Rakusa. In: German Life and Letters (2015). 10 Pageaux, Daniel-Henri: Littératures et cultures en dialogue. Paris: L’Harmattan, 2007, S. 27. Siehe auch: Moura, Jean-Marc: L’imagologie littéraire, essai de mise au point historique et critique. In: Revue de Littérature Comparée , 263/66, juillet-septembre, 3 (1992), S. 271–287. Hugo Dyserincks konstruktiver Ansatz ist für die Imagologie ebenso von großer Bedeutung. Eine Übersicht über die Forschung dazu vermittelt Leerssen, Joep: Imagology. History and Method. In: Imagology: The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey. Hrsg. von Manfred Beller und Joep Leerssen. Amsterdam/New York (N.Y.): Rodopi 2007, S. 17–32 (= Studia Imagologica; Bd 13).

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Maße zu.11 Im Mittelpunkt sollen hier dementsprechend das Bild Polens und Deutschlands mit Blick auf deren mögliche Auflösung in transnationale Identitätskonzepte und literarische Räume stehen. In seinem Prosagedicht »Czerwonka« von 2006 begibt sich Gerald Zschorsch auf die »Suche nach Bobrowskis Sarmatien«, wie es in der Notiz des Verlags zur Erscheinung des Bandes heißt. Bobrowskis Gedichte aus den 1950er und frühen 1960er Jahren evozieren eine »sarmatische« Landschaft, die zugleich einen ZeitRaum des individuellen und kollektiven Gedächtnisses bildet.12 Vor der Gruppe 47 erklärte der Autor 1960 zum Titel seines ersten Gedichtbandes »Sarmatische Zeit«: »Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen Weichsel und der Linie Don-Mittlere Wolga. Ein Gebiet aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin.«13

»Herumgekommen« bezieht sich auf seine Kriegsteilnahme, die die Kindheitserinnerungen überschattet. Geboren 1917 in Tilsit (dem heutigen Sowjetsk), wächst Bobrowski in einer Gegend auf, deren Kultur von russischen, polnischen, baltischen, jüdischen und deutschen Einflüssen geprägt ist. 1939 nimmt er als deutscher Soldat am Vernichtungsfeldzug gegen die nun als Untermenschen klassifizierten Slawen und Juden teil. Diese Erfahrung wird grundlegend für sein literarisches Schaffen. Das Gegenüber des gedenkenden Dichter-Ich, das in Gestalt des heimatlosen Wanderers den sarmatischen Raum durchstreift, materialisiert sich in Form einer elementaren, urbildhaften Landschaft – angesichts der Abwesenheit des vernichteten Fremden. Erlaubt der mythische Raum dem Ich einerseits die Annäherung an die Vergangenheit, ist das Mythische andererseits ein Grundmerkmal des Ostens und seiner Bewohner. Sie sind Teil einer ungezähmten Naturlandschaft, bestimmt von Strömen, Wäldern und weiten Ebenen. Mythisch erscheint dabei nicht nur die Naturlandschaft, sondern auch die orthodoxe Kirche oder der polnische Katholizismus.14 Bobrowski greift teils bewusst auf die traditionelle Ausgrenzung des »wilden Ostens« aus dem Europabild zurück – und auf das imagotype Bild »der Slawen«, das den deutschen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert bestimmt, im Nationalsozialismus seinen negativen Tiefpunkt erreicht 11 Link, Jürgen: Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Hrsg. von Jürgen Link und Wolf Wülfing. Stuttgart: Klett 1984, S. 63–92, hier: S. 65. 12 Egger, Sabine: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den »europäischen Osten« in der Lyrik Johannes Bobrowskis. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009. 13 Tgahrt, Reinhard; Doster, Ulrike: Johannes Bobrowski oder Landschaft mit Leuten. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1993, S. 121. Für Martin Pollack ist dieses »Sarmatien eine der verlorenen Provinzen Europas, die einmal seine Mitte war« (Pollack, Sarmatische Landschaften. 2006, Klappentext). 14 Vgl. »Wilna«, »Ostern« und »Am Strom« (Bobrowski, Gesammelte Werke, 1998/99, Bd.1, S. 21f., 136, 23).

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und in den literarischen Diskursen beider deutscher Staaten nach 1945 auf unterschiedlichen Ebenen weitergeführt wird.15 In Gerald Zschorschs Prosagedicht »Czerwonka«, in dem er Eindrücke von eigenen Reisen in die polnischen, litauischen und russischen Teile des ehemaligen deutschen Ostens verarbeitet, findet ebenfalls eine Mythisierung dieses Ostens und seiner Bewohner statt, die von der biographischen Erfahrung des Autors geprägt ist. Der Titel benennt den Mittelpunkt seines Text-Reise-Kosmos: das Örtchen Czerwonka, früher Rothfließ, am Dadajsee, im ehemaligen Ermland, heute Teil der polnischen Woiwodschaft Warmia i Mazury. Hier, wie auch im weiteren Reiseverlauf bis hin zur Kurischen Nehrung, erhebt sich die Natur als eine unendliche: eine Gegenwelt zur westlichen Zivilisation als Konsumwelt, wie sie Zschorschs frühe Gedichte in der Frankfurter Großstadtkultur diagnostizieren: »Es sind niedere, tief gestaffelte Himmel mit Kumulus-, Quell-, Turm-, und Schäfchenwolken. Ganz oben aber, wo diese Himmel das Firmament berühren, leuchten nachts die hellsten Sterne der Welt. Nord/Nordost, Masuren/Warmia.«16

Der Sprechende erlebt die Landschaft auf seiner Reise als eine »Mythologie des Ostens« (C, 27). Orte werden durch das Nennen ihrer Namen sprachmagisch angerufen: Olsztyn/Allenstein, Biskupiec/Bischofsburg, Lukta/Locken. Es geht um die transzendentale Erfahrung des Raumes. Wie bei Bobrowski bewegt sich der einsame Wanderer durch ein ›mythisches‹ Östliches, in dem physische, nationale und zeitliche Grenzen aufgehoben erscheinen. Allerdings wird die historische Dimension der Landschaft immer wieder dem Naturraumerlebnis untergeordnet. Sind die Kreuzritter des Deutschen Ordens bei Bobrowski die Vorreiter gewaltsamer deutscher Kolonialisierung des Ostens, heißt es bei Zschorsch: »Kreuzritterland, Kulturland, Osten und Geographie der Ausdehnung: Länge, Breite, Höhe« (C, 12). Wo Grenzen auf historische Auseinandersetzungen deuten, werden diese in 15 Mit Beginn des Kalten Krieges werden auch die »westslawischen Völker der Tschechen, Slowaken und Polen« im westdeutschen öffentlichen Diskurs dem »Osten« zugerechnet (Schornstheimer, Michael: »Die verschlagenen Augen der Polen« – Kriegserlebnisse und Kriegsdeutung in den Fortsetzungsromanen von Quick und Stern in den fünfziger Jahren. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnisse und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961). Hrsg. von Ursula Heukenkamp. Amsterdam/New York (N.Y.): Rodopi 2001, S. 733–742, hier: S. 733). Und im Gegensatz zum offiziellen Parteidiskurs, der Gemeinsamkeiten mit den Bewohnern der »sozialistischen Bruderstaaten« hervorhebt, werden in einigen, recht breit rezipierten Texten der DDR-Literatur, wie Rolf Schneiders »Die Reise nach Jaroslaw« (1974), der Farblosigkeit des eigenen Lebens in einer rationalisierten und technisierten Welt sinnlich-naturhafte und zeitlose polnische (und russische) Landschaften und Figuren gegenübergestellt (vgl. Fox, Thomas C.: Imagining Eastern Europe in East German Literature. In: Germany and Eastern Europe: Cultural Identities and Cultural Differences. Hrsg. von Keith Bullivant et al. Amsterdam/New York (N.Y.): Rodopi 1999, S. 284–303 (= Yearbook of European Studies, Bd. 13)). 16 Zschorsch, Gerald: Czerwonka. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 9. [Im Folgenden unter der Sigle »C« mit Seitenzahl im Text.]

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eine unbestimmte Zeit verlegt. Gestört wird diese Ruhe durch Spuren polnischer und russischer Bewohner. Anders als die mit der Natur in Einklang stehenden Panjewagen und verwilderten Gärten bilden Reste einer ansatzweise urbanen Zivilisation schäbige Störfaktoren: »Am Ortsrand liegt aufgelassen ein Bus im Graben, und ein Schwein zernagt das Lenkrad« (C, 17). Das gilt auch für die gegenwärtige Bebauung: »In Lukta/Locken, einer Anhäufung von Häusern, Magazinen und Buden, schlägt gar keine Zeit mehr. Der Ort scheint verlassen, und nur am Markt stehen Rotköpfe und trinken und pissen in die Bushaltestelle« (C, 15).

Hier wendet sich das Gefühl der Zeitlosigkeit ins Negative. Die Menschen erscheinen archaisch, aber harmonieren, im Gegensatz zu Resten der älteren deutschen Besiedlung, nicht mit der Natur.17 Die »Schmisse« in der Landschaft machen geschichtliche Prozesse zu Mensuren zwischen Diktaturen und Natur, statt die politischen Systeme und ihr Erbe in der Region weiter zu differenzieren. Dabei ist die negative Erfahrung des Stalinismus für Zschorsch persönlich einschneidender oder zumindest frischer, als die der deutschen Besiedlung und des Nationalsozialismus: »Russischer Beton verbreitet Trostlosigkeit. Die überschaubare Dauer eines halben Jahrhunderts slawischer Diktatur ergibt in der Siedlungsgeschichte dieser Geographie wenig Sinn, und doch plaziert sie ihr die tiefsten Schmisse auf« (C, 32).

Die Landschaft reflektiert die persönliche Erfahrung des Autors und rückt diese in den Kontext der kollektiven Erinnerung seiner Generation in den verschiedenen Ostblockstaaten an die von Deutschen und Polen geteilte Erfahrung einer stalinistischen Diktatur. Geboren wird Zschorsch 1951 im Voigtland. Der Vater, ehemaliger KZ-Häftling, in der DDR Diplomat, und die Mutter tun alles für seine staatskonforme Erziehung. Seine eigene Vorstellung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz lässt sich jedoch nicht in dieses Konzept zwängen. Zwischen 1968 und 1974 verbüßt er eine Jugendhaft mit verschärftem Freiheitsentzug wegen »staatsfeindlicher Hetze«. 1974 wird er aus der DDR ausgewiesen, beginnt ein Philosophiestudium in Gießen und freundet sich mit Rudi Dutschke an. 1982 wird er für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert. Trotzdem behält er eine Außenseiterstellung innerhalb einer zunehmend postmodernen deutschen Lyrik. So lassen sich die Ruinen des Stalinismus als Reflexion der im Nachwort des Buches enthaltenen Erinnerungen des polnischen Autors Artur Becker lesen, die die Landschaftserfahrung des Reisenden im Profanen verankern. Dieser erzählt Zschorsch nach ihrer Begegnung im Krakauer Café Europejska nach dem Beitritt

17 »In Allenstein, der Bezirkshauptstadt, ist im Stadtzentrum die Zeit stehengeblieben. Deutsche Bauästhetik wird von russischen Plattensiedlungen bedrängt und abgeschirmt« (C, 14).

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Polens zur EU von seiner wenig idyllischen Kindheit im provinziellen, schäbigen Czerwonka der 1970er Jahre: »Der Deutsche wollte reisen und sich von einem, der in diesem Land geboren worden und aufgewachsen war, Polen zeigen lassen. Er konnte sich unter Warmia und Masuren nichts vorstellen […]. Um meine Aufregung zu verbergen, erzählte ich dem Deutschen Geschichten aus Warmia und dem Sozialismus made in Poland. Er hörte mir zu, und ich wußte nur eines: Sobald er die Wälder und die Hunderte von Seen und vor allen Dingen den Himmel über ihnen erblickte, würde er meinen Geschichten kein Gehör mehr schenken« (C, 42).

Beckers Vater ist der Verwalter eines sozialistischen Ferienlagers. Beide Eltern leiden an einem Alkoholproblem, das Lager gerät aufgrund der Vernachlässigung in einen archaisch anmutenden Zustand. Beckers Nachwort schafft auf diese Weise einen profanen Rahmen, der die traumhafte und zeitlose Landschaftserfahrung des Deutschen – und damit indirekt auch die mythisierenden Diskurse des Ostens und der verlorenen Heimat innerhalb deutscher Erinnerungsdiskurse –18 in Frage stellt. Auf dieser Ebene entsteht zudem ein interkultureller Dialog. Die negative Darstellung der polnischen, litauischen und russischen Bewohner erhält eine andere Bedeutung, mehr noch, wenn man es im Kontext von Zschorschs Gesamtwerk betrachtet. Denn die Reste der stalinistischen Stadtkultur und ihre Einwohner ähneln den negativen Ansichten westlicher Großstadtkultur in frühen Bänden wie »Klappmesser« (1983) oder »Stadthunde« (1986): Dort erscheint die Großstadt in lakonischen, hart gefügten Bildern als Ort elementarer Kämpfe und gnadenloser Gewaltverhältnisse, auch sexueller Natur.19 Diese findet er auch in seinen 2004 unter dem Titel »Eizahn« in »Torhäuser des Glücks« erschienenen kürzeren Gedichten. Neben sprachlich komplexeren Texten wie »Stare Miasto« (414) oder »Dziewczynka« (420), die weibliche und landschaftliche Schönheit zugleich feiern und durch intertextuelle Bezüge ironisieren, gibt es solche wie »Grenzpuppe«, das die Prostitution anprangert: Grell gezeichnete Bilder von neuen alten Formen der Ausbeutung im neuen Europa, das Teil der globalen Konsumwelt ist.20 Die Prostitution als Bild für das Verhältnis zwischen den Bewohnern des neuen und alten Europa findet sich auch in Kurt Drawerts Gedicht »Die Engel der Landstraße«. Sie sind »die Frauen auf der E55 / der Hauptstadt Europas / und des Erbarmens« an der deutsch-tschechischen Grenze. Ihre Kunden, »Generalsekre18 Vgl. Mehnert, Elke (Hrsg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2001. 19 »Die Stadt, / die schneller als ein / Menschenherz sich wandelt. / Den Code vorgibt: Lebendigkeit / Ist Brüllhaus/und mit Selbststellern zerschandelt. / Die wollen nichts. / Die paaren nur zu zweit« (Zschorsch, Gerald: Torhäuser des Glücks. Die Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 189). [Im Folgenden unter der Sigle »TdG« mit Seitenzahl im Text.] 20 »[…] / Der Nagellack changiert, / und das Schambein preßt. / Gegen die fremde Hand, / mit Hast. Halt schnell: so./ Der Fingergrenzverkehr / zwischen Raute und Po« (TdG, 421).

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täre und Direktoren« von der westlichen Seite der Grenze, verkörpern das neue Europa als Ort der Globalisierung.21Auch in den anderen der zwölf Gedichte in Drawerts Sammlung »Frühjahrskollektion« von 2002, die sich mit dem Platz »des Ostens« im neuen Europa beschäftigen, lässt sich zunächst eine Ost-West-Dichotomie erkennen, innerhalb der die mittelosteuropäischen Staaten dem »Osten« zugeordnet werden, die westliche Welt aber von Konsum und Medien bestimmt wird, wobei der Blick nach Osten in der Geschichte und Gegenwart zum Teil koloniale Züge trägt. Konkrete Eindrücke der unmittelbaren Gegenwart, Erinnerungsbilder, geschichtliche und intertextuelle Bezüge, die einfache Zuordnungen unterlaufen, schaffen allerdings ein komplexeres Bild der Realität und hinterfragen gängige Bilder und die Wahrnehmung des Subjekts an sich. Die meisten Gedichte zum Thema sind Erinnerungen an Reisen nach Polen und Russland in den 1990er Jahren. Den Kontext dafür, auch in Form der vorausgehenden und nachfolgenden Texte im selben Teil der Sammlung, bilden poetische Erkundungen des eigenen Wohnorts und von Kulturorten des westlichen Europa, das Rom der deutschen Klassik, das Frankreich Hölderlins und Victor Hugos. Sie lassen sich als eine Standortbestimmung des Ich im neuen Europa nach dem Mauerfall lesen, als Versuch, die damit einhergehende (politische, mehr noch kulturelle) Orientierungslosigkeit des 1956 in Brandenburg geborenen Autors, Absolvent des Leipziger Literaturinstituts, der bereits vor der Wende verhaltene Kritik am DDR-System übte und nach 1989/90 in Darmstadt lebte, zu überwinden. Denn, wie es in »Ortswechsel« von 1993 heißt: »Meine Freunde im Osten / verstehe ich / nicht mehr, im Landstrich zwischen Hamme und Weser / kenne ich keinen.«22 Eine Identifikation findet dagegen mit dem Dichterfreund »Zbigniew Herbert« im gleichnamigen Nachruf in der Sammlung von 2002 statt als mit einem anderen Deserteur des real-existierenden Sozialismus und »Ruhelosen zwischen den Welten« des europäischen Literaturmarkts nach 1990: »Wir trafen uns in einem Supermarkt kurz Vor der Kasse, zeitgleich stipendienverpflichtet Und Hüter eines vornehmen Hauses höherer Künste. Er im wehenden Sommermantel mit dem Duft Von Paris, oder wo immer er herkam, in jenem Winter. Ein Ruheloser zwischen den Welten, […]«.

»Alles war Polen« für den polnischen Dichterfreund, der »die Landkarte westwärts« unterwegs war, »und alles ein faulender Giebel im Auswurf // scheißender 21 Drawert, Kurt: Frühjahrskollektion. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 55f.. [Im Folgenden unter der Sigle »F« mit Seitenzahl im Text.] 22 Drawert, Kurt: Ortswechsel. In: ndl 41/7 (1993), S. 24–26, hier: S. 24.

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Tauben. Denn er war uns im Kopf, // der Osten, dieser Krieg der Sprache gegen die Sprache, / dieses schreckliche Volksstück der Vormoderne« (F, 52f.). Der »Osten«, und damit auch die Ost–West-Dichotomie des kalten Krieges, wird dem positiven Bild eines modernen Europa als grenzenloser Kulturraum gegenübergestellt. Trotzdem sind die Grenzen der »Vormoderne«, die als politische Grenzen nicht mehr existieren, als Erfahrung für beide Dichter weiterhin präsent und prägen ihren Blick auf Gegenwart und Vergangenheit. Verbindet diese Grenze die beiden Dichter, gesteht das Autor-Ich dem polnischen Freund, dessen Vater im Widerstand war, zugleich seine Differenz aufgrund der anderen geschichtlichen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zu. Das Bild einer »östlichen Steppe« (F, 58) wird in mehreren Texten aufgerufen, geschichtlich verortet, mit den neuen geopolitischen Verschiebungen in Bezug gesetzt und in Frage gestellt. Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit verschieben sich. In »Polen in Briefen – und wie geht es in Deutschland« spiegelt der begrenzte Blick eines zeitgenössischen, jungen, westdeutschen Osteuropa-Touristen, für den jenseits der deutsch-polnischen Grenze alles in ein wirtschaftlich rückständiges Östliches verfließt – hart an Sibirien – und die Erinnerung an Verbrechen der Geschichte als Konsumgut banalisiert, den noch begrenzteren des deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg: »Es hat mich schon immer gewundert, was Fliegen auf einer Kotlache suchen, Mutter und auch sonst wenig Neues. Die Männer sind tot bis zum Morgen, Polen in Polen finde ich nicht, und nach Auschwitz kommt man jetzt günstig in Gruppe und mit dem Sondersparticket. Ich esse viel Bigos zum Wodka, es muß ja weitergehen, so hart an Sibirien. Kein Ausschlag mehr, alles getrocknet, die Wäsche ausgekocht, […]« (F, 58).

»Gedichte […] gehen über Grenzen, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überqueren kann«, schreibt Brigitte Oleschinski 2002 in einem poetologischen Text.23 In ihrer frühen Lyrik richtet sich der Blick auch auf ostdeutsche und polnische Landschaften, geht aber zugleich darüber hinaus. Die Autorin versteht ihre Gedichtsprache nicht als Medium ihrer subjektiven Weltsicht, sondern als »allge23 Oleschinski, Brigitte: Reizstrom in Aspik. Wie Gedichte Denken. Ein Poetik-Projekt mit Urs Engeler, Cologne: DuMont 2002, S. 35.

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meinste Form«, wie die Sprache der Mathematik oder Musik. Die Autorinstanz erhält dadurch eine besondere Bedeutung, wie Cheryl Dueck in ihrem Beitrag zu Oleschinskis Lyrik von 2007 zeigt.24 Denn es ist die Autorin, die Grenzen überschreiten will und nicht weiß, ob sie es kann. Sie stellt Worte nebeneinander, so dass diese miteinander zu sprechen und zu denken anfangen und sie selbst wie die Leser zu Zuschauern dieses Prozesses machen. In der Biographie der in Berlin lebenden Autorin zeigen sich ebenfalls Grenzüberschreitungen. Die Familie des Vaters stammt aus Oberschlesien, zieht in den 1930er Jahren nach Güstrow und nach Kriegsende weiter nach Köln. Brigitte Oleschinski, 1955 in Köln geboren, gehört zur politisch aktiven »linken« Generation der 1970er Jahre, studiert an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft und macht die Eingriffe des Staates in die geistige und körperliche Freiheit von Individuen in autoritären Systemen zu ihrem Forschungsschwerpunkt. Ihr erster Gedichtband »Mental Heat Control« erscheint im Wendejahr 1990. Für den nächsten Band »Your Passport is Not Guilty« von 1997 erhält sie im Folgejahr den Förderpreis des Bremer Literaturpreises und den Peter-HuchelPreis. Dass die Titel beider Bände auf Englisch sind, die Gedichttexte aber nicht, reflektiert ihr Sprachverständnis. Die Auflösung von Grenzen zwischen Gattungen, wie zwischen Lyrik und Prosa, sowie von verschiedenen Medien und Kunstformen prägt auch ihre späteren Texte und rückt Oleschinski – ebenso wie ihr Interesse an Gemeinschaftsprojekten und dem Austausch mit dem Publikum – in die Nähe jüngerer Autoren, die mit unterschiedlichen Medien experimentieren. Gemeinsam mit Durs Grünbein und Peter Waterhouse legt sie 1995 die dreistimmige Prosa-Partitur »Die Schweizer Korrektur« (2002) vor. Für ihr »langes Gedicht« »Geisterströmung« erhält sie 2004 den Erich-Fried-Preis.25 Ebenso wie andere Grenzen lässt die Sprache in Oleschinskis Gedichten die Konturen von menschlichen Körpern, Gedichtkörper und Landschaft miteinander verschwimmen.26 So heißt es in »Einschlüsse von Regen« (1990), in dem es um die (Un-)Möglichkeit von Heimkehr geht: »Die unermüdeten Farben der Zähne, ausgeschwemmt von der strömenden Sehnsucht nach Heimkehr 24 Dueck, Cheryl: Global Cargo in the Poetry of Brigitte Oleschinski. In: Schaltstelle: Neue deutsche Lyrik im Dialog. Hrsg. von Karen Leeder. Amsterdam/New York (N.Y.): Rodopi 2007, S. 385–408 (= German Monitor, Bd. 69). 25 Auf ihrer Website www.neuedichte.de (Zugriff am 30. 07. 2009) macht sie sich im Gespräch mit anderen AutorInnen auf die Suche nach der Poetik der Dichtung im neuen Jahrtausend. 26 Dabei sind solche Bezeichnungen in Oleschinskis Gedichten nicht wörtlich zu nehmen: »Was bildet diesen Gedichtkörper aus? Das ist eine offene Frage.« Das betrifft die Gestalt von Körpern ebenso wie von Landschaften, wie sie im Interview mit Chery Dueck 1999 weiter erklärt: »Ich bin bei vielen Landschaften gar nicht sicher, ob es überhaupt Landschaften sind. Ich bin auch bei Personen nicht sicher, ob es Personen sind. Manchmal sind die Personen eigentlich Landschaften und umgekehrt« (Zit. nach Dueck, Global Cargo. 2006, S. 389).

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in kein Land. Zurück bleibt ein durchsichtiges Gestein, umschlossen von Gaumengewölbe, eine niedrige Mauer aus Stümpfen von klarem Harz.«27

Ein Wasserüberlauf wird zu einem menschlichen Mund, und Sehnsucht ist eine Flüssigkeit, die durch ihn fließt. Der Satz »Sehnsucht nach Heimkehr / in kein Land« reflektiert die Erfahrung von Flüchtlingen aus dem Osten nach Kriegsende und von Ostdeutschen nach 1990.28 Die Universalität der Körper/Landschaftsmetapher macht dies aber zugleich zu einer universellen Erfahrung von Heimatlosigkeit. Sie entsteht aus dem Verlust der Erinnerung an vertraute Orte: »Das Gedächtnis ist eine Pfütze / in der wodkadurchspülten Grotte« und »Das Gedächtnis / ist eine Kathedrale mit aufgehobenem Dach«. Beide Zeilen betonen die körperliche und räumliche Dimension von Erinnerung. Zugleich wird mit dem Zitat aus Andrej Tarkovskijs Film »Nostalghia« (1983) in der zweiten zitierten Zeile auf einen bestimmten Kulturraum verwiesen. Die Schaffung eines Dazwischen, eines Schwebezustands zwischen Körper und Geist, Körper und Landschaft und verschiedenen Orten, wie es sich in den Bildern mit intertextuellen und (inter)kulturellen Bezügen manifestiert, ist ein Grundzug ihrer Lyrik. Die Erinnerungsmetaphern in »Einschlüsse im Regen« schaffen eine Fluidität und Offenheit, die feste Grenzen jeder Art auflösen – und damit die Aufmerksamkeit des Lesers auf solche Grenzen richten. Durch immer neue Perspektiven und Verbindungen werden sie zu Anknüpfungspunkten von Wahrnehmungen, Körperempfindungen und Erinnerungsfragmenten, die nicht einem bestimmten Individuum oder einer Kultur zuzuordnen sind. Die Aufmerksamkeit des Lesers verlagert sich von der Suche nach einem in den verschiedenen Stimmen nicht greifbaren Sprecher zu diesen Anknüpfungspunkten und Bewegungen, in denen die Figuration des Gedichts entsteht. Die Auseinandersetzung mit der jüngeren deutsch-deutschen als Teil einer europäischen Geschichte wird in »Your Passport is Not Guilty« einen Schritt weiter geführt.29 Der Band besteht aus vier Teilen, deren Überschriften verschiedene Dimensionen von Spaltung oder Teilung miteinander verknüpfen: I. »Zweikomponentenleuchtstoff«, II. »Dauernd gespalten bleiben«, III. »Your passport is not guilty« und IV. »Augen-, Flügel-, Zehenpixel«. So werden im ersten Teil vergessene, hässliche Gegenden, in denen die Natur den Beton wieder frisst, zu poetischen Orten und zu Orten der (Liebes-)Begegnungen: »angeschlossen / an ein mattgrünes Lämpchen, nachts, in einer Parkbucht unter den 27 Oleschinski, Brigitte: Mental Heat Control. Gedichte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 23. 28 Dueck, Global Cargo. 2006, S. 390. 29 Oleschinski, Brigitte: Your Passport is Not Guilty. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. [Im Folgenden unter der Sigle »YP« mit Seitenzahl im Text.]

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Abschlepp- / kränen, von spärlichem Regen beleuchtet, […]«. Ähnlich in Teil IV, wobei hier Erinnerungsprozesse den größeren Raum einnehmen. Teil II enthält einen Zyklus politischer Gedichte mit Bezügen zu gespaltenen Identitäten, Intersektionen und dem Bild von Ost und West als einem Paar, deren Begegnung als – überwiegend negative – sinnliche Erfahrung erscheint. In Teil III, dessen Titel auch der des gesamten Bandes ist, erweitert sich das Blickfeld über die Grenze nach Polen, setzt deutsch-deutsche Geschichte mit der polnischen in Bezug und verortet sie damit in einem mittelosteuropäischen Kontext. Zugleich werden solche Einordnungen sprachlich in Frage gestellt: Bereits der false friend »guilty« im Titel spielt mit sprachlichen Grenzen. Entgegen der Leseerwartung nach den ersten vier Wörtern ist die deutsche Übersetzung nicht »gültig«, sondern schuldig. Eine nicht auflösbare Spannung entsteht zwischen »gültig« und »guilty«, dem Dokument und der Person, deren Identität der Pass dokumentiert. Durch das Hin und Her zwischen den Bedeutungen entsteht ein virtueller Bedeutungsstoff zwischen den Polen »passport« und »guilty« und damit auch zwischen Nationalität und Schuld. Das im Titel mitaufgerufene Thema der kollektiven und persönlichen Verantwortung für geschichtliche Ereignisse lenkt darauf in den Gedichttexten den Blick.30 Es sind Alltagspartikel der Gegenwart, von denen viele der Gedichte ausgehen: Hässliches, Banales, Übersehenes in den Randzonen der Großstadt Berlin und des polnischen Grenzlandes: ein Zimmer mit Ausblick auf »Lastwagentrassen« oder »Kräne«, Ödland mit »Brennesselhalden« (YP, 13). An akustischen oder visuellen Eindrücken, unscheinbarsten Details, wie »Heckscheibendrähten« (YP, 36) oder »Tankflügel- / stutzen« (YP, 17), entfalten sich seltsam flirrende Epiphanien, hyperrealistische Wahrnehmungen und Erinnerungsfragmente. Es entsteht eine Gedichtsprache, die zerrissen ist, verschnipselt, behangen mit Brocken von historischer Schwerkraft, und damit zugleich ein komplexes inter- und transkulturelles Bedeutungsnetz webt. Geschichtliche Untertöne sind in sämtlichen Teilen des Bandes hörbar: Im letzten Gedicht von Teil I weckt der »Tankflügel- / stutzen« und »in der Hand der Bügel / der Zapfpistole« an einer sommerlichen Tankstelle Assoziationen des Krieges (YP, 17). In einem anderen Text erinnern Wörter, die Teile menschlicher Körper mit denen einer ›östlich‹ anmutenden Birkenlandschaft, wie sie sich bei Bobrowski und anderen Autoren der 1950er und 1960er Jahre findet, und dem Begriff »Ethnie« zusammenbringen, an den Holocaust:

30 In poetologischen Texten spricht Oleschinski von ihrem »nachgeborenen Trauma« als Angehörige einer Generation, deren Kindheit im Westdeutschland der Nachkriegszeit zuerst vom Schweigen und dann vom Prozess der Vergangenheitsbewältigung geprägt war, die ihre Identität, zumindest bis 1989, über den »Zivilisationsbruch« oder »Schmerzbruch« definiert (zit. nach Dueck, Global Cargo. 2007, S. 387).

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»Im Traum sein herabrutschender Birkengeruch, ausgerieben vom blaßgekochten Holz der Wäscheschraube, zu der in der Frühe die nassen Körbe schaukeln, Laken und Hemden, barfuß über die Planken einer witternden Ethnie. Draußen lehnen die Ruten an der Wand, Wellbretter und Seifenzangen. Das Schulterblatt quietscht in den Angeln« (YP, 10).

Die in den Gedichten überschrittenen Grenzen werden nicht beim Namen genannt. In »Angefrorener Tang« ist es die heutige deutsch-polnische Grenze im ehemaligen Schlesien. Die Überschreitung nimmt die Gestalt eines Kindes an: »Angefrorener Tang auf dem Strand, und oben entlang die dämmrige Fischgrätpromenade, die starren sturen Lampenkellen, die Stunden um Stunden vorangestapften Gummistiefel, wie sie jäh aus dem Hang ragen, rostige Knöchel im freigelegten Grenzverhau. Der rechte Fuß polnisch, das Haltbarkeitsdatum fehlt. Der linke ein Haken, das war mein Kind. Es rannte im Zickzack, rann durch den Draht, zehn Zehen sah ich auf dem Wasser gehen« (YP, 37).

Das Wort »Haken« hat verschiedene Bedeutungen – ein Kleiderhaken, ein Problem, ein Hakenkreuz oder Haken, wie sie ein Hase schlägt.31 Das Kind rennt über die Grenze, ungeachtet ihres rechtlichen Status, und die sprechende Stimme hält es nicht zurück, sondern schaut zu. Der Text entwickelt eine Dynamik, die eine Veränderung der am Gedichtanfang erstarrt scheinenden Ordnung vorstellbar macht. Die Verflüssigung des Körpers des Kindes impliziert die seiner Identität: Sein Rennen verwandelt sich in ein »rann / durch den Draht«. Legt man als Leser konventionelle Maßstäbe an, um die Gestalt des Kindes von der Landschaft abzugrenzen, gehören die »zehn Zehen«, die am Schluss »auf dem Wasser / gehen« zum Fuß eines Anderen, der auf das Wasser tritt. Konventionelle Sichtweisen und Grenzen werden auch hier in Frage gestellt. Dass in Teil III insgesamt graue, verschneite Winterlandschaften überwiegen, wo die bestehenden Verhältnisse und Grenzen zugleich sinnlos und festgefroren erscheinen, weist zum einen auf die geschichtliche Dimension der ostmitteleuropäischen 31 Dueck, Global Cargo. 2007, S. 401.

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Landschaften in dieser Sammlung hin, auf die erstarrte Ordnung autoritärer Systeme, auf kollektives Leid, kollektive Schuld und die Schwierigkeit der Erinnerung.32 Die Auflösung von Körpern und anderen Landschaftselementen deutet zum anderen Erinnerungsverlust, aber auch neue Möglichkeiten des Umgangs mit zeitlichen, politischen und kulturellen Grenzen an, ohne diesen einfach erscheinen zu lassen. Die grundlegende Bedeutung, die das Reisen für Oleschinskis Schreiben hat, verbindet sie mit Zschorsch und Drawert. In ihren späteren Bänden lösen sich die auf Reisen gefundenen Grenzen und Konturen weiter auf. In »Geisterströmung« (2004) gibt es keine Ortsnamen, die Gedichte sind keine geschlossenen Einheiten mehr. Der Wunsch nach einer globalen Kommunikationsform rückt weiter in den Vordergrund, inspiriert von Begegnungen mit mündlichen Kulturen und mit der Musik in Indonesien und Bulgarien. Spannungsreiche Stimmen und Rhythmen aus bulgarischen Volksliedern, die auf die thrakische Kultur zurückgehen, werden ebenso aufgenommen wie die Musik der amerikanischen NuMetal- und Hip-Hop-Gruppe Linkin Park – auf CD als musikalische Begleitung zu den Texten und als Rhythmen in die Texte selbst. Die Verarbeitung diverser Einflüsse zu einer kulturell hybriden, stimmhaften Lyrik macht diese Texte für Oleschinski zu einem globalen Begegnungsraum: »eine positive Globalisierung, die nicht einfach auf der Durchsetzung von ökonomischer Gewalt beruht, sondern die sehr unterschiedliche Reibungsflächen […] produziert«, wie die Autorin in einem Interview von 2005 erklärt. »Ich denke, dass in gewisser Weise die Weltsprache Poesie dafür extrem gut geeignet ist. Sie ist eine der ältesten Weltsprachen überhaupt, wenn man so will. In dem [sic!] Kontext einer solchen positiven Globalisierung, einer kulturellen Globalisierung, bei Berücksichtigung aller Unterschiede, fangen wir eigentlich erst an, diese Denkform Poesie zu entdecken.«33

Wird in »Your Passport is not Guilty« ein europäischer Raum vernetzt, in dem Ost und West einander nicht gegenübergestellt, sondern auf komplexere Weise verbunden sind, reicht das Sprachnetz, das Orte, Zeiten, Körper und Identitäten in einem Schwebezustand hält, in ihren späteren Gedichten zunehmend über Europa hinaus. Die klassische Gestalt des Reisenden oder Wanderers, die sich in den Texten der anderen Autoren dem ›Osten‹ annähert, wird darin aufgerufen und zugleich dekonstruiert. So heißt es am Ende von »Geisterströmung«: »die letzten Wanderer // werden Gedichte sein / in der weglosen Landschaft / zerfallener Dateien, verwegene Litaneien / auf rauhen, rohen Fege- / füßen« (Oleschinski 2004, 112). Um eine globale Perspektive geht es auch in dem Projekt »Venus-Transit« 32 Diese Starre findet sich auch in sommerlichen Landschaften: Vgl. »Champignonköpfe, nur daß sie« (YP, 41). 33 Zit. nach Dueck, Global Cargo. 2006, S. 396.

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(2012), an dem Oleschinski mitgewirkt hat.34 Bleibt die bereits bei Bobrowski in Form eines poetischen, interkulturellen Dialogs in Frage gestellte Ost-West-Dichotomie bei Zschorsch weitgehend bestehen, entspricht der als Subjekt, aber nur begrenzt als Autor-Ich sprechende Reisende bei Drawert dem in Ute Freverts »Eurovisionen« postulierten nomadischen, transnationalen »guten Europäer«.35 Dieser löst sich in der Stimmenvielfalt von Oleschinskis Gedichten weiter auf. Die Stimmenvielfalt der polnisch-deutschen Literaturshow »Berlin-Warschau-Express«, die mit Hilfe von Poetry Slam sowie visuellen und akustischen Medien »Sprachgrenzen und Kulturgräben visuell und akustisch überwindet«,36 scheint dies auf einer ganz anderen Ebene zu tun, sowohl inhaltlich als auch formal. Gemeinsam von dem Berliner Lyriker und Spoken-Word Künstler Bas Böttcher, einem der bekanntesten Namen in der deutschen Poetry-Slam-Szene, dem zwischen Warschau und Coventry pendelnden Slam Master und Übersetzer Bohdan Piasecki sowie dem in Krakau geborenen und in Paris lebenden Videokünstler Milosz Luczynski konzipiert, handelt es sich um ein Poetry-Slam-Projekt, in dem die Autoren seit 2006 an verschiedenen deutschen und polnischen Bühnen einen multilingualen Poesie-Dialog über deutsch-polnische Nachbarschaft führen. Nach dem ersten Auftritt in Warschau wurde das Projekt in Berlin, Paris, Coventry und Düsseldorf aufgeführt. Die beiden Wortkünstler rappen auf Deutsch und Polnisch, wobei ihre Sätze über die deutsch-polnischen Verhältnisse zunächst witzig, aber oberflächlich anmuten (»Warschau-Berlin, Wolfsburg-Stettin, da wo die Oder wieder fließt, da das, da dies«). Der Titel nimmt Bezug auf den internationalen Gemeinschaftszug der polnischen und deutschen Bahn, der seit 2002 zwischen Berlin und Warschau verkehrt und in der Performanz als Symbol des neuen, von Politikern als grenzenlos gepriesenen und von Arbeitsmigration geprägten Europa betrachtet wird.37 Allerdings skizzieren sie in ihrem vergnügten Verbalspiel, das auf eigene Erfahrungen ebenso wie auf Themen der Massenmedien zurückgreift, die täglichen Momente der Nachbarschaft recht genau. Die Sätze kommen auf der Bühne durch ihre Interaktion und die auf die Leinwand hinter ihnen projizierten Bilder und Klänge zusammen, aber werden immer wieder zu Satz- und Wortfetzen 34 Dafür kamen LyrikerInnen aus Deutschland und Neuseeland in Tolaga Bay, Neuseeland, zusammen, um gemeinsam an Texten zum historischen, geographischen und kulturellen Ort ihres Treffens zu arbeiten. Dort hatte James Cook bei seiner Reise nach Tahiti 1769, um die Venuspassage zu beobachten, Neuseeland entdeckt – eine erste Begegnung Europas mit dem pazifischen Raum und zugleich der Blick auf einen anderen Planeten. 35 Frevert, Eurovisionen. 2003, S. 19. 36 So Baas Böttcher zum Projekt auf seiner Homepage http://www.basboettcher.de/willkom men.html (Zugriff am 02. 06. 2014). 37 Der Schauspieler und Bestseller-Autor Steffen Möller begreift in seinem Buch »Expedition zu den Polen: Eine Reise mit dem Berlin-Warszawa-Express« (2012) denselben Zug als Topos, um damit auf amüsante Weise Eindrücke der polnischen Kultur aus Sicht eines deutschen Reisenden zu erzählen.

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zerrissen und wortspielerisch neu zusammengesetzt. Wörter, Klänge und Bilder bringen sich gegenseitig in Bewegung und schaffen einen Rhythmus und Angebote neuer Sinnzusammenhänge durch Klang- und Wortspiele, Stab- und Binnenreime, die aber sofort wieder in Frage gestellt werden. Das lehnt sich an den Rap an,38 erinnert aber auch an die auf der Bühne flüchtig inszenierten Nonsens-Texte der Dadaisten.39 So sind die Sprechgedichte des »Berlin-Warschau-Express«, wie die der Slam Poetry insgesamt, sinnliche Ereignisse, deren Klang und Rhythmus nur für die Zeit des Vortrags präsent sind. Das Verfassen und das Präsentieren von Texten gehören eng zusammen. Sie unterlaufen bestehende Literaturformen und kulturelle Konventionen – in diesem Fall nationale Selbst- und Fremdbilder – spielerisch durch die Dekonstruktion von Klischees im Sprachspiel wie auch performativ durch das Gegen- und Ineinander der Stimmen der Vortragenden auf der Bühne. Dabei wird die dialogische Struktur des Austauschs der Stimmen Böttchers und Piaseckis, und damit auch die thematisierten Inhalte, Konventionen und Grenzen, zwar bis zu einem gewissen Grad in der Performanz unterlaufen, aber letztlich nicht so radikal zersetzt und ins Unsinnige verkehrt, wie es im Dadaismus der Fall ist. Im Unterschied zu letzterem bleiben Sprache und Performanz, entsprechend des Verständnisses des Poetry Slams als populärem Literaturspektakel, zugänglich für das Publikum.40 Der Dialog mit dem Publikum in einem beiden Seiten bekannten, ritualisierten Rahmen ermöglicht die Kommunikation mit einem breiten, jungen Publikum, wie auch die Vermittlung ernster Untertöne auf inhaltlicher Ebene,41 wodurch dem Experimentieren auf einer ästhetischen Ebene aber Grenzen gesteckt werden. Ein großer Teil der deutschsprachigen, und internationalen, Poetry-Slam-Szene betrachtet das nicht als Problem, sondern als Schritt hin zu einer nicht-elitären Kunst, bei der Autoren und Publikum als gleichberechtigte Akteure interagieren, was auch die Verbreitung von Auftritten über das Internet als digitale Performanz betrifft.42 Andere, wie Böttcher und

38 Vgl. Preckwitz, Boris: Spoken Word & Poetry Slam. Kleine Schriften zur Interaktionsästhetik. Wien: Passagen, 2005, S. 60. 39 Vgl. Jo, Il: Bezugnahme statt Nonsens: Eine semantische Untersuchung zu Goodmans Symboltheorie und zu literarischen Dada-Artefakten (Dissertation, Humboldt-Universität). Berlin, 2005, S. 11, 154. 40 Preckwitz, Spoken Word & Poetry Slam. 2005, S. 62f. 41 Bei Baas Böttcher werden diese in späteren Arbeiten wie »Neonomade« (2009) oder »Vergehende Schönheit« (2012) noch deutlicher hörbar. So beschäftigen sich Gedichte in »Neonomade« mit dem Konflikt zwischen Anpassung und Nonkonformie, der verführerischen Illusion durch elektronische Medien und der Konsumwelt. 42 Zur Beziehung zwischen Slam-Poeten und Publikum siehe http://www.noz.de/deutschlandwelt/medien/artikel/445586/wie-ein-youtube-video-poetry-slam-popular-macht (Zugriff am 10. 06. 2014).

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Piasecki, die innerhalb der Szene dem älteren Establishment angehören, experimentieren verstärkt mit Medien, was wiederum die Form ihrer Texte beeinflusst.43 Bas Böttcher, der als Mitbegründer der deutschsprachigen Poetry-Slam-Szene gilt und 1997 zum deutschen »National Slam Champion« gekürt wurde, ist mittlerweile Stammgast nicht nur auf internationalen Slam-Poetry Festivals, sondern auch in den Literaturhäusern. Bekannt wurde er u. a. durch seinen HipHop-Act »Zentrifugal«. 2004 erschien sein erster Roman »Megaherz« und 2005 brachte er zusammen mit Wolf Hogekamp die DVD »Poetry Clips (Vol. 1)« heraus. Bohdan Piasecki, der 25-jährige Veranstalter des Warschauer Poetry Slam, Polens ältester Veranstaltungsreihe dieser Art, ist der Wegbereiter der im Hinblick auf die internationale Szene auch im Vergleich mit Deutschland noch relativ jungen polnischen Spoken-Word- und Poetry-Slam-Szene. Organisatorisch und künstlerisch war er an zahlreichen Poetry-Workshops und -Events beteiligt, die »Spoken-Word« mit Musik und anderen künstlerischen Formen verbinden. Bohdan Piasecki lehrt an zwei Universitäten und arbeitet an einer Dissertation zur literarischen Übersetzungstheorie. Sein größter Erfolg auf der internationalen Ebene war bisher der zweite Platz beim John Paul O’Neill Haiku Slam im Londoner Poetry Place. Eine neuere, ästhetisch anspruchsvolle Unternehmung von Böttcher und Piasecki zusammen mit Milosz Luczynski ist das von diesem im Internet veröffentlichte mehrsprachige, intermediale Projekt »Rue des Cascades (Driften)« (2007).44 Darin reflektiert die Bewegung eines »fallen leaf« die Mobilität und Transkulturalität einer postmodernen Welt, der die Erfahrung des Arbeits- und Alltagsleben der beteiligten Künstler entspricht, die zwischen verschiedenen Städten innerhalb und außerhalb Europas pendeln und sich als »in ständiger Bewegung« verstehen. In dem begleitend zum Video auf der Internetplattform »Vimeo« zur Verfügung gestellten Text heißt es: »At the moment I live at Rue des Cascades (Waterfall Street). Somebody once told me: feel as if you were a leaf falling down to the river and drifting with [the] current.«

Diese Bewegung wird im Video in Bild, Klang und Text umgesetzt, wobei der Klang von auf ein Blech fallenden Tropfen zu Beginn im Vordergrund steht, dann 43 Für die Frankfurter Buchmesse 2006 entwickelte Böttcher die »Textbox«, eine Sprecherkabine aus Plexiglas, in der Poeten auftreten. Über Kopfhörer kann das Publikum den Texten in Studioqualität lauschen. Die Textbox wurde seitdem auf den Buchmessen von Peking, Taipeh, Abu Dhabi, Guadalajara und Sao Paulo sowie im Centre Pompidou in Paris und in der Neuen Nationalgalerie in Berlin ausgestellt. Böttcher arbeitete vorher bereits mit dem Berliner Filmemacher und Slam Master Wolf Hogekamp an der Entwicklung eines »Poetry Clip«»Formats, und beide brachten 2005 gemeinsam die DVD »Poetry Clips (Vol. 1)« heraus. Böttcher hatte 2004 an der Bauhaus-Universität Weimar zum selben Thema eine Diplomarbeit eingereicht und dort auch darüber doziert. 44 http://vimeo.com/10202028 (Zugriff am 03. 05. 2014).

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einen an Herzklopfen erinnernden Rhythmus findet, um schließlich wieder zu verfließen und in elektronisch verzerrte Stimmen der Autoren überzugehen, die »Driften« akustisch wahrnehmbar machen, wobei die Umrisse der sprechenden Gesichter in unterschiedlicher Deutlichkeit im Hintergrund ein- und ausgeblendet werden. Es gibt akustisch und bildlich einen fließenden Übergang zu Wörtern und Satzteilen, die in verschiedenen Sprachen (Polnisch, Französisch, Deutsch) gesprochen und auf das Bild geschrieben werden, wobei die Schriftzüge kaum lesbar und für den nicht mit allen Sprachen vertrauten Zuhörer nur begrenzt verständlich sind. Die unterschiedliche Länge der einzelnen Wort- und Satzteile deutet darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um keine Übersetzungen desselben Wortes handelt, sondern um Spiele mit dem Thema des Driftens, Fließens und des Wassers. Die transsprachliche und transkulturelle Dimension dieses Spiels dehnt sich auf der Bildebene über Europa hinweg aus. Man erkennt unscharfe Aufnahmen von Verkehrsszenen, Kreuzungen und Autobahnen einer – schließt man aus den schwer erkennbaren Zeichen auf den Nummern- und Straßenschildern – asiatischen Großstadt. In einer Szene lässt sich bei genauem Hinsehen »Shanghai« auf einem Schild am Geländer einer Brücke bzw. eines Hochhauses entziffern. Die Schwierigkeit, den Ort geographisch einzuordnen, als eine architektonisch mit anderen Metropolen austauschbare Großstadt der Postmoderne, wird in der Bewegung eines Stiftes reflektiert, der versucht, die Umrisse von Häusern und anderen Details der Straßenszenen festzuhalten, was aber sowohl aufgrund der Bewegung der Gegenstände als auch wegen der Kamera und Schnittfolgen nur begrenzt und momentweise gelingt. Dass die Art der Zeichnung an europäische Großstädte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert, deutet einen europäischen Blick auf eine globale Welt an (repräsentiert von einem ortlos gewordenen fernen Osten) und zugleich das Zerfließen eines solchen Blicks innerhalb einer medialen Weltsprache. Das Projekt ist durchaus ein Beispiel für eine intermediale »Weltsprache Poesie« im Sinne Oleschinskis, eine Form der Globalisierung, die trotz des Verfließens nationaler und kultureller Grenzen in ihr kulturelle und ästhetische Reibungsflächen an anderen Stellen produziert und den Betrachter damit zur Reflexion einlädt – zur Reflexion von weiterhin bestehenden, auch kulturell bedingten Grenzen der Wahrnehmung, aber auch von Fragen zu Transnationalität und Globalisierung als Teil des Alltagslebens und der Kunst der Gegenwart. Beides stellt ästhetisch und im Hinblick auf die Verbindung zum Publikum eine Herausforderung dar.45 Dass in ihrer Auseinandersetzung deutsch-polnische Themen in einem über Europa hinausreichenden globalen Kontext verortet werden und es um Alltagserfahrungen der globalen Gegenwart geht, wie der 45 So ist die Rezeption des Projekts, zumindest gemessen an den auf »Vimeo« hinterlassenen Kommentaren, eher begrenzt.

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Mobilität, statt um die »Massengräber« des Zweiten Weltkriegs oder des Stalinismus, verbindet die »Kinder der Transformationszeit« in der deutsch- und polnischsprachigen Prosa, aber auch in der Lyrik. Das ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Vernetzung miteinander, die einen leichteren Austausch ermöglicht. »Sie müssen aus dem Schatten der Vergangenheit nicht heraustreten, denn ihr Rucksack ist leichter oder sie haben ihn weggeworfen. Ihre Communities sind jung, sie bewegen sich in einer Gegenwart, die nicht mehr – so schrieb Andrzej Stasiuk […] – an der Vergangenheit gemessen wird. Nicht die Massengräber, sondern die Halden von Bierflaschen an den Bushaltestellen irgendwo in einer vom Konsum ansonsten abgekoppelten Provinz sind ihre Schauplätze; nicht die an ihren Kriegstraumata leidenden Eltern, sondern junge Werbetexter, Speditionsfirmenbesitzer, Clubbetreiber, Waffenschieber oder Arbeitslose sind die Protagonisten.«46

46 Zu Themen der Generation jüngerer Autoren in Polen und der Ukraine vgl. http://www. eurozine.com/articles/2009–04–16-raabe-de.html#footNoteNUM45 (Zugriff am 10. 08. 2013).

Matthias Braun (Berlin)

Der »polnische« Papst Johannes Paul II. im Spiegel der geheimen Berichte der Stasi an die SED-Führung

Dieser Beitrag soll einen ersten Einblick in die unlängst aufgefundenen, einstmals geheimen Dokumente der politischen Geheimpolizei der DDR (der Stasi) zu einer ganz besonderen polnischen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts geben: Papst Johannes Paul II. Infolgedessen stehen im Zentrum der folgenden Darlegungen nicht literarische Texte, sehr wohl aber Texte, die durch »eigene und fremde Polenbilder«1 der jeweiligen Verfasser aufgeladen sind und damit gleichfalls zum Fundus sowohl deutscher als auch polnischer Erinnerungsgemeinschaften gehören. Die überlieferten geheimpolizeilichen Informationen und Analysen des OstBerliner Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zum »polnischen« Papst sind häufig eingebettet in Informationsberichte über die sich unter Johannes Paul II. abzeichnende Politik des Vatikan gegenüber den politischen Entwicklungen in Polen, die sich daraus ergebende Stellung der katholischen Kirche in der polnischen Gesellschaft sowie über den Stand der Beziehungen zwischen dem Vatikan und der DDR bzw. der Vatikanischen Ostpolitik der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Diese Ausführungen beschränken sich daher auf die frühen Jahre des Pontifikats Johannes Paul II. Die SED-Führung verfolgte von Anfang an die Entwicklung ihres östlichen Nachbarn, der Volksrepublik Polen, mit gespannter Aufmerksamkeit. Gleiches lässt sich über die polnischen Kommunisten zu ihrem westlichen Nachbarn DDR behaupten. Das mag zunächst einmal verwundern, waren doch beide Länder Mitglieder des Militärbündnisses »Warschauer Pakt« und gehörten der wirtschaftspolitischen Vereinigung aller Ostblockstaaten, dem RGW, an. Weitere essentielle Gemeinsamkeiten beider Länder, ja geradezu ihre staatliche und territoriale Existenz ging auf die politische Neuordnung Europas nach dem 1 Siehe das CfP von Gansel, Carsten und Wolting, Monika: »Die andere Seite mit ihren eigenen Augen sehen«? Deutschland- und Polenbilder in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Wissenschaftliche Tagung vom 03.–05. 10. 2013. Vgl. http://deutschlandbilder-polenbil der.nesti.net/die-tagung/ (Zugriff am 08. 03. 2015).

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Zweiten Weltkrieg zurück. Beide politische Führungen waren von den Sowjets installiert worden und hatten sich mehr oder weniger den politischen Optionen des Kreml unterzuordnen. In der Folge hatten östlich und westlich von Oder und Neiße die Kommunisten und Sozialisten, mehr oder weniger zwangsvereinigt, in der SED und der polnischen Arbeiterpartei, die Macht. Offiziell waren SED und PVAP Bruderparteien, die Seite an Seite mit und unter der Führung der KPdSU zur Ausbreitung und Festigung eines sozialistischen Weltsystems beitragen sollten. Bereits in den 1950er Jahren zeigte sich jedoch, wie instabil die politischen Machtverhältnisse in den Ostblockstaaten waren. Erinnert sei an den Volksaufstand im Frühjahr 1953 in der DDR, dem Mitte der 1950er in Polen und Ungarn weitere Legitimationskrisen der regierenden kommunistischen Parteien folgten. In der Volksrepublik Polen wandelte sich die Situation von einem Aufstand gegen die Regierung (Stichwort Juni-Aufstand in Posen mit mehr als 50 Toten und hunderter Verletzter) in eine Vertiefung der Liberalisierung und Machtübernahme durch Władysław Gomoułka, der das Vertrauen des eigenen Volkes als Opfer des Stalinismus genoss (Oktober 1956). Schon damals schrillten – traumatisiert durch den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 im eigenen Machtbereich – bei der Ost-Berliner Führung die Alarmglocken, fürchtete sie doch, die politischen Veränderungen im Nachbarland Polen könnten auf die DDR überspringen. Die weiteren polnischen Entwicklungen, besonders die politischen Unruhen in den Jahren 1968, 1970 und 1976, wurden von der SEDFührung mit zunehmender Beunruhigung verfolgt und ließen bei ihr immer größere Zweifel an der Zuverlässigkeit der polnischen Kommunisten aufkommen. Zu Zeiten von Papst Paul VI., des Vorvorgängers des »polnischen« Papstes Johannes Paul II., waren die Verhandlungen zwischen dem Vatikan2 und der DDR-Führung über die Angleichung der Diözesangrenzen sowie der bischöflichen Struktur an die staatlichen Grenzen der DDR und die damit verbundene Eigenständigkeit der ostdeutschen Bischofskonferenz (Berliner Bischofskonferenz) gegenüber der westdeutschen Bischofskonferenz (Deutschen Bischofskonferenz) weit fortgeschritten. Lediglich durch den Tod Pauls VI. im Frühjahr 1978 kam die Unterzeichnung des römischen Dekrets über die Einrichtung von Administratoren in der DDR nicht mehr zustande.3 Der DDR-Botschafter in Rom, Klaus Gysi, hatte in zwei Gesprächen mit dem damaligen vatikanischen »Außenminister« Casaroli unmittelbar vor und nach 2 Eine Besonderheit der katholischen Kirche ist ihre Struktur als Weltkirche. Dementsprechend agiert nicht nur eine »nationale Kirche« in der DDR, vielmehr ist diese Kirche eingebunden in die Weltkirche und versteht sich als Teil dieser weltweiten Einheit. Der Vatikan macht als Kirchenstaat politische Vorgaben und handelt zugleich als geistliche Zentrale für die Gläubigen. 3 Vgl. Schäfer, Bernd: Staat und katholische Kirche in der DDR. Köln 1999, S. 319.

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dem Tod Pauls VI. zu erkunden versucht, wie sich der Vatikan in Sachen Ostpolitik in Zukunft verhalten werde. In einem Telegramm teilte er seiner Regierung in Ost-Berlin mit, dass die Ostpolitik »in Grundzügen weiterhin gesichert sei, »Akzente dagegen jederzeit weitgehend veränderbar« erscheinen.4 Da das Pontifikat des Nachfolgers von Paul VI., Johannes Paul I., nur 33 Tage währte, stand bereits im Oktober 1978 eine erneute Papstwahl mit den sich daraus für die SED-Führung ergebenden drängenden Fragen weiterhin auf der Tagesordnung. Dabei handelte es sich, erstens, um die eher allgemeine Frage, wer wird neuer Papst, und, zweitens, um die für die SED-Führung zentrale Frage, ob und wenn, wie das neu gewählte Oberhaupt der katholischen Kirche die begonnenen Ostpolitik des Vatikans fortsetzen wolle oder nicht. Einer Stasi-Information ist zu entnehmen, dass sich der »neu gewählte Papst Johannes Paul II. nicht sofort der Beziehungen Vatikan-DDR annehmen werde.«5 Mit der überraschenden Wahl eines polnischen Kardinals auf den Stuhl Petri bekam dieser Wahlausgang für die Partei- und Staatsführung der DDR, wie für alle anderen Regierungen des Warschauer Pakts, eine unvorhergesehene, neue politische Dimension. Schließlich gelangte mit Kardinal Wojtyła zum ersten Mal ein Mann an die Spitze der katholischen Weltkirche, der bis zu seiner Wahl als Johannes Paul II. überwiegend in einem sozialistischen Land gelebt hatte und seinem Gesellschaftssystem schon allein aus religiöser Überzeugung zutiefst ablehnend gegenüberstand. Zunächst einmal schien jedoch die 1978 erfolgte Wahl des polnischen Kardinals und Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum neuen Papst die SED-Führung weit weniger als ihre polnischen Genossen zu verwirren. »Die Wahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyła zum Papst verwirrte einen großen Teil der Mitglieder der PVAP. Es herrschte ein Gefühl des Stolzes auf den ›großen Polen‹ vor, der ›zum ersten Mal in der Geschichte‹ den päpstlichen Stuhl besetzte«6, vermerkte ein Stasi-Bericht. Insgesamt gesehen bedeutete aber für alle Regierungen der Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts und demzufolge auch für die SED-Führung schon allein die Tatsache, dass jetzt ein polnischer Priester und damit ein osteuropäischer Geistlicher aus einem ganz besonders konservativen katholischen Umfeld an der Spitze der katholischen Weltkirche stand, eine große Herausforderung für ihre eigene Politik. Für die ostdeutsche politische Geheimpolizei war es jedenfalls Anlass genug, ihrer Parteiführung möglichst viele Informationen über den neuen Papst und die unter seiner Führung verfolgte vatikanische Politik in Erfahrung zu bringen. 4 Ebd. 5 Information über Meinungen kirchlicher Würdenträger des Vatikan zu den Beziehungen Vatikan – DDR sowie zu einigen weiteren internen Problemen vom 25. 10. 1978; BStU, MfS HA XX 3876, Bl. 3. 6 Berichte des Militärattaché in Warschau vom April 1982. BStU, MfS, HA I 14310 T.1, Bl. 33.

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Hierzu existiert beispielsweise eine als streng geheim deklarierte Information an die SED-Parteiführung. Sie kann als ein erstes Zwischenergebnis der Informationsbemühungen des MfS für die SED-Spitze angesehen werden. Unter der Überschrift »Verschiedene Informationen aus dem Vatikan«7 sind dort brisante Informationen zu diversen Themen, wie etwa den »inneren Problemen des Vatikan«, den »Beziehungen DDR-Vatikan«, »Vatikan und Israel« oder zu den »Perspektiven der Ostpolitik des Vatikan«, aufgezeichnet. Letztere Informationen waren schon allein wegen der weiterhin ungeklärten Bistumsgrenzen in der DDR für die Ostberliner Führung von ureigenem Interesse, was die weitere Ausgestaltung ihres Verhältnisses zur katholischen Kirche betraf. Dieses Dokument enthält auch Hintergrundinformation zur Wahl des damals 58-jährigen Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum neuen Heiligen Vater. So erfahren wir beispielsweise, dass die römische Kurie bereits 1977 geheime Befragungen mit Kardinälen und Bischöfen aus der ganzen Welt zur Situation in ihren nationalen Kirchen durchgeführt und sich dabei zugleich einen Überblick über zukünftige Kandidaten für die Nachfolge des schwer erkrankten Papstes Paul VI. verschafft hatte. Die Ergebnisse dieser Befragungen wurden in einem geheimen Bericht niedergelegt, der nur einigen Kurienkardinälen zugänglich war. In diesem Zusammenhang wurde auch Kardinal Wojtyła zur Lage der polnischen Kirche befragt. »In seinen Antworten vertrat Kardinal Wojtyła bereits damals die grundlegenden Ansichten, die er heute als Papst zum Ausdruck bringt. So sind u. a. bereits seine Einstellung zur politischen Abstinenz der Kirche, das Nichtgebundensein an politische Systeme oder ihrer Veränderung ersichtlich.«8

Mit der Wahl von Wojtyłas Vorgänger, Johannes Paul I., hatte sich die Mehrheit der Kardinäle für einen Papst entschieden, der sich vor allem als Seelenhirte der Weltkirche verstand.9 Da Johannes Paul I., wie bereits erwähnt, nur 33 Tage nach seinem Amtsantritt verstarb, galt es im Herbst 1978 erneut einen Papst zu wählen, dessen Pontifikat die Fortsetzung des begonnenen pastoralen Weges gewährleistete. Der Stasi-Information zur Folge ging es der römischen Kurie bei der Wahl des Nachfolgers von Johannes Paul I. primär darum, für das zu diesem Zeitpunkt deutliche Anwachsen des Katholizismus in der ganzen Welt eine charismatische religiöse Führungspersönlichkeit zu finden. Durch die intensiven geheimen Gespräche mit Kardinal Wojtyła hatten wichtige Kurienkardinäle eine 7 »Verschiedene Information aus dem Vatikan« vom 26. 03. 1979 BStU, MfS HA XX 3876, Bl. 16– 27. Der Bericht geht auf einen in Rom lebenden und über »enge dienstliche Beziehungen in den Vatikan« verfügenden Informanten zurück. 8 Ebd., Bl. 16. 9 Zu verschiedenen politischen Problemen und Personen vom 18. 10. 1978; BStU, MfS HA XX 13332, Bl. 4.

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sehr genaue Vorstellung von ihm. »Diese Kenntnis spielte eine wesentliche Rolle bei ihrer Entscheidung im Konklave«, einen Gottesmann zu wählen, der auch »von seinem äußeren Image seinem direkten Vorgänger folgen konnte«. Diese Idee schien laut Stasi-Informationen perfekt zu funktionieren. »Papst Johannes Paul II. gelang es nach seiner Wahl, sofort die Woge der Begeisterung, die Papst Johannes Paul I. gegolten hatte, aufzunehmen und für sich zu nutzen.«10 Außerdem schien sich der neue Papst von Anfang an auf seine Rolle als religiöses Oberhaupt, als Heiliger Vater der katholischen Weltkirche zu konzentrieren und damit das Amtsverständnis seines Vorgängers Johannes Paul I. nahtlos fortzusetzen. Dafür sprechen weitere Informationen in dem genannten Stasi-Dokument: »In seiner ersten Enzyklika11, die im Vatikan als eine Danksagung des Papstes an die Kräfte betrachtet wird, die seine Wahl unterstützten, spricht er die Fragen an, die die Katholiken in der ganzen Welt interessieren […] Mit dieser Enzyklika, die so formuliert ist, dass eine Politisierung kirchlicher Fragen nicht zugelassen wird, will Johannes Paul seine Position im Vatikan durch Unterstützung und Sympathie der breiten katholischen Massen stärken.«

Auch auf seiner ersten Lateinamerikareise habe sich »die Haltung des Papstes [bestätigt], die Theologie über die Politik zu stellen«12, vermerkt eine weitere Information der Stasi. Das vorwiegend pastorale Amtsverständnis Johannes Paul II. schlug sich auch bei der Neuordnung der römischen Kurie im Jahre 1984 nieder, indem der Heilige Vater Kardinalstaatssekretär Casaroli zu seinem Stellvertreter in der Kirchenverwaltung ernannte. Damit delegierte Johannes Paul II. ganz offiziell seine weltlichen Aufgaben an den »2. Mann« im Vatikanstaat. Die zitierten Informationsberichte liefern nicht den geringsten Hinweis auf die in der DDR mehrfach propagierte These, dass sogenannte einflussreiche Kreise aus den USA in Verbindung mit dem CIA gezielt die Wahl eines Polen zum neuen Papst beeinflusst hätten, um den Weltkommunismus zu schwächen.13 Selbst noch im Oktober 2013 konnte man, anlässlich der angekündigten Heiligsprechung Papst Johannes Paul II. in der »FAZ« lesen: »Am 27. April [2014]

10 »Verschiedene Information aus dem Vatikan« vom 26. 03. 1979, Bl. 17. 11 Zu der Enzyklika Redemptor Hominis (Erlöser des Menschen) vom 04. 03. 1979 liegt ein fachwissenschaftliches Gutachten der HA XX des MfS vor. Vgl. BStU, MfS, HA XX/AKG 164. 12 »Verschiedene Information aus dem Vatikan« vom 26. 03. 1979, Bl. 18f. 13 Beispielsweise heißt es in einem Bericht des Militärattachés zur Stellung der römisch-katholischen Kirche und ihre Rolle in der gegenwärtigen Entwicklung in der Volksrepublik Polen: »Die Wahl Wojtylas als Papst und seine Reise in die VR Polen bewiesen, dass es nicht eine zufällige Erscheinung oder einen ›Kompromiss‹ ging, sondern um das Ziel des Weltimperialismus, in den ideologischen und politischen Gegenangriff gegen die Länder der sozialistischen Gemeinschaft überzugehen.« Berichte des Militärattachés in Warschau vom April 1982. BStU, MfS, HA I 14310 T.1, Bl. 34.

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solle der polnische Papst, der für den Fall des ›Eisernen Vorhangs‹ kämpfte, gemeinsam mit Johannes XXIII. heiliggesprochen werden.«14 Im Unterschied zu vielen Berichtstexten, die als Zeugnisse einer politischideologischen Selbstvergewisserung von den MfS-Mitarbeitern verfasst sind, steht bei den ersten Stasi-Informationen nach der Wahl Kardinal Wojtyłas zum Papst Johannes Paul II. die sachliche Information im Zentrum der Berichtstätigkeit. Diese Informationsberichte kommen, wie der Schriftsteller Volker Braun einmal schrieb, »ohne die literarische Versuchung des Gerüchts oder der Unterstellung«15 aus. Sie sind das Material vor der Ideologisierung. In gleicher Weise wurde auch über das Thema »Perspektiven der Ostpolitik des Vatikan« berichtet. Dazu heißt es, Johannes Paul II. hat »in einem internen Gespräch zum Ausdruck gebracht […], dass sein Heimatland, die Volksrepublik Polen, eine viele Kilometer lange gemeinsame Staatsgrenze mit der Sowjetunion hat. Dies allein wäre Grund genug, dass er von seinen Landsleuten keine Obstruktionspolitik gegen die kommunistische Regierung in der Volksrepublik Polen wünscht. Das ist auch der Grund, warum es vom Vatikan und insbesondere vom Papst keine offizielle Unterstützung der ›Untergrundbewegungen‹ in den sozialistischen Ländern geben wird.«

Auch in der Positionierung gegenüber den osteuropäischen Dissidenten in westlichen Exilländern setzte Johannes Paul II. die begonnene Politik seines Vorgängers fort. »Der Vatikan ist weiterhin nicht bereit, seine Beziehungen zu den sozialistischen Staaten durch die Unterstützung sogenannter Dissidenten, die im kapitalistischen Ausland leben, zu belasten.«16 Parallel zu diesen außenpolitischen Informationen versorgte das MfS die Parteiführung über interne »Äußerungen und Einschätzungen des leitenden Katholischen Klerus in der DDR zur Wahl des polnischen Kardinals Wojtyła als Papst« wie folgt: »Die Wahl eines polnischen Kardinals lasse befürchten, dass sich die bereits vorhandenen nationalistischen Tendenzen in der katholischen Kirche der VR Polen verstärken. Johannes Paul II. habe in Worten und Handlungen seine polnische Nationalität hervorgehoben, und dieses wäre der katholischen Kirche als Weltkirche abträglich.«

Des Weiteren heißt es: »Die ersten Besuche Johannes Paul II. galten zum Beispiel in Italien lebenden polnischen Katholiken in einem Krankenhaus und in einem Kloster. […] Es seien negative Auswirkungen von diesen nationalistischen Tendenzen auf das kirchliche Leben in der VR Polen nicht auszuschließen, und das könnte auch die Beziehungen und Kontakte

14 FAZ vom 01. 10. 2013, S. 6. 15 Braun, Volker: Das Ende der »Unvollendeten Geschichte«. In: Sinn und Form 48 (1996) 4, S. 584. 16 »Verschiedene Information aus dem Vatikan« vom 26. 03. 1979; B. 25f.

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zwischen der Katholischen Kirche in der VR Polen und in der DDR negativ beeinflussen.«

Abschließend erfolgte für die SED-Führung die wichtigste Information: »Interne Absprachen über die weiteren Schritte zur vollen Verselbständigung der katholischen Kirche in der DDR wurden zwischen dem Papst Johannes Paul II. und Kardinal Bengsch bisher nicht geführt.«17 Um sich ein Bild über die Bedingungen des MfS für seine Tätigkeit in Polen Anfang der 1980er Jahre machen zu können, seien hier einige Fakten genannt: Beispielsweise wurde im Mai 1974 eine »Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem MfS der DDR und dem Ministerium für Innere Angelegenheiten der VR Polen«18 unterzeichnet. Sie regelte neben der operativ-technischen Zusammenarbeit die Weitergabe von »Aufklärungsinformationen über den Gegner«, den Austausch von Erfahrungen bei der Bekämpfung »imperialistischer Geheimdienste« und von Informationen über die »Tätigkeit feindlicher Geheimdienste gegen Bürger der DDR und der VR Polen« sowie über »verdächtige« Westkontakte von Angehörigen beider Staaten. Mit Einverständnis des Ministers konnten die Spitzel ausgetauscht und Bürger des anderen Staates zu operativen Zwecken genutzt werden. Weitere bilaterale Vereinbarungen regelten sowohl die regulären Arbeitsbeziehungen zwischen beiden politischen Geheimpolizeien als auch dem MfS und dem Ministerium für Nationale Verteidigung der Volksrepublik Polen auf dem Gebiet der Militärabwehr. Ferner existierte eine Zusammenarbeit zwischen der Hauptabteilung XX des MfS und dem IV. Departement des polnischen Ministeriums des Innern im Rahmen der Bearbeitung der Kirchen und der Bereiche Kunst und Kultur.19 Im Oktober 1980 nahm Stasi-Minister Mielke ausführlich Stellung zu den jüngsten Ereignissen in Polen: »Hier handelt es sich um gefährliche Ereignisse in unserem Nachbarland, um das konzentrierte Wirken konterrevolutionärer Kräfte inmitten unserer Staatengemeinschaft mit allen daraus für die DDR entstehenden Gefahren. Was in Polen geschieht, das ist auch für uns in der DDR eine Kernfrage, eine Lebensfrage! Deshalb ist höchste Wachsamkeit geboten.«20

17 Äußerungen und Einschätzungen des leitenden katholischen Klerus in der DDR zur Wahl des polnischen Kardinals Wojtyła zum Papst vom 31. 10. 1978; BStU, MfS, HA XX 13332, Bl. 14ff. 18 Vgl. BStU, MfS, ZAIG 5627. 19 Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Baden-Baden 1995, Band V/3, S. 2601–2760. Ausführliche Darstellung der einzelnen Vereinbarungen siehe Tantzscher, Monika: »Was in Polen geschieht, ist für die DDR eine Lebensfrage!« – Das MfS und die polnische Krise 1980/81. In: Enquete-Kommission. 20 Mielke, Erich: »Referat auf einer Dienstbesprechung mit den Leitern ausgewählter operativer Hauptabteilungen/Abteilungen und der Bezirksverwaltungen/Verwaltungen zu den Ereignissen in der Volksrepublik Polen am 02. 10. 1980; BStU, MfS, ZAIG 8609.

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In diesem Sinne registrierte das MfS sehr aufmerksam die sich aus der Wahl Wojtyłas zum Papst Johannes Paul II. ergebenden Veränderungen des bisherigen Verhältnisses Vatikan und polnischer katholischer Kirche, vornehmlich des polnischen Episkopats unter Primas Stefan Kardinal Wyszyn´ski und dem Vatikan und der damit untrennbar verbundenen Veränderung der bisherigen komplizierten Dreiecksbeziehung Regierung – Katholische Kirche – Vatikan. Hatte bisher der polnische Primas mit der nicht ganz von der Hand zu weisenden Behauptung, der Vatikan könne die polnischen Verhältnisse nicht richtig einschätzen, mehr oder weniger nach eigenem Ermessen das Verhältnis bzw. die Beziehungen zur polnischen Regierung so gestaltet, wie er es für richtig hielt, so entfiel durch die Wahl eines polnischen Papstes von einem auf den anderen Tag dieses schlagkräftige Argument. Im Unterschied zum polnischen Primas, der gewissermaßen ein Unverhältnis zum polnischen Machtapparat von Partei und Regierung praktizierte, nahm Johannes Paul II., wie aus den vorliegenden StasiQuellen hervorgeht, nun selbst direkten Kontakt mit der politischen Führung Polens und beispielsweise auch der sowjetischen Regierung auf.21 Die ebenfalls als geheim eingestuften Berichte des DDR-Außenministeriums an die Parteiführung zu Johannes Paul II. und der damit im Zusammenhang stehenden politischen Entwicklung des Nachbarlandes fallen eher als politisch-ideologische Kommentare denn als sachliche Informationsberichte aus. Johannes Paul II. wird hier stets als Staatsmann und nicht als religiöser Führer des weltweiten katholischen Christentums gesehen. So heißt es dann auch über den ersten Besuch von Johannes Paul II. im Jahre 1979 in seinem Heimatland Polen: »Er war ein schwerwiegendes außen- und innenpolitisches Ereignis, dessen Folgen in nicht genügendem Maße eingeschätzt wurden. Bei der Auswertung des Besuches herrschte in der Führung der PVAP ein optimistischer Ton vor, die augenblickliche Befriedung über den Verlauf des Besuches, einige Reden des Papstes, vor allem in Auschwitz, die in den Kontext der globalen polnischen Außenpolitik u. a. fielen. Es herrschte auch Befriedung darüber, dass der Besuch unter einer außerordentlichen Diszipliniertheit der Gläubigen, der kirchlichen Veranstalter und der polnischen Sicherheitsorgane ohne Erscheinungen religiösen Fanatismus verlief.«22

Oder: »Die ideologische Grundplattform des Vatikans und des Papstes im Wirken gegen die Länder der sozialistischen Gemeinschaft sind die sogenannten Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten. Die Interpretation der ›Menschenrechte‹ durch den Papst hat einen ausdrücklich politischen Inhalt. In den Rahmen der sogenannten Menschen-

21 Verschiedene Informationen aus dem Vatikan. BStU, MfS HA XX 3876, Bl. 18. 22 BStU, MfS, HA I 14310 T. 1, Bl. 33.

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rechte fällt auch die geforderte ›Formulierung‹ in den Beziehungen zwischen der Kirche und den Regierungen der einzelnen Länder der sozialistischen Gemeinschaft.«23

Erhaltengeblieben sind auch die von der Stasi verstreut abgelegten Informationen zu Äußerungen Johannes Paul II. zur Solidarnos´c´-Führung und der Sonderaudienz Lech Wałe˛sas am 15. Januar 1981 in Rom. In diesem Kontext hatte der Papst im November 1980 durch Kardinal Wyszyn´ski an die Solidarnos´c´ -Führung die dringende Bitte um »große Geduld und Maßhalten« übermittelt. Während der päpstlichen Audienz rühmte Wałe˛sa »die Reife seiner Landsleute und appellierte zugleich erneut an die Solidarnos´c´-Führung: »Möge euch stets der gleiche Mut begleiten, der am Anfang der Initiative stand, aber auch die gleiche Besonnenheit und Mäßigung.«24 Diese Äußerungen verdeutlichen die Interessenslage des »polnischen« Papstes gegenüber seinem Heimatland. Johannes Paul II. befürwortete stets »alle Anstrengungen die dem polnischen Volk konkrete Hilfe bringen«25, die dem Erhalt bzw. der Festigung der polnischen Nation dienten. Dementsprechend lehnte er amerikanische Sanktionen gegen Polen auch ganz entschieden ab. Als sich im Sommer 1980 jenseits von Oder und Neiße eine breite Bewegung für nationale Selbstbestimmung und Demokratisierung entwickelte, witterte die SED-Führung erneut Gefahr. Am 30. August 1980 musste die kommunistische polnische Partei- und Staatsführung dem überbetrieblichen Streikkomitee unter der Führung von Lech Wałe˛sa im »Danziger Abkommen«26 weitreichende Zugeständnisse machen. Das Wichtigste war die Zulassung einer unabhängigen Gewerkschaft, der Solidarnos´c´. Bis zum Frühjahr 1981 spitzte sich die Lage in Polen dramatisch zu. Es galt bürgerkriegsähnliche Zustände zu verhindern. Für den 31. März 1981 war, infolge eines Milizeinsatzes in Bydgoszcz, bei dem drei Mitglieder von Solidarnos´c´ schwer verletzt wurden, ein Generalstreik geplant. In dieser Situation griff der »polnische« Papst ganz direkt in die Geschicke der polnischen Nation ein. Einer überaus brisanten Stasi-Information ist zu entnehmen: »Der Papst habe über den sowjetischen Botschafter in Rom zu verstehen gegeben, dass es zu keinem Generalstreik käme, wenn auch von den Warschauer Vertragsstaaten keine ›Intervention‹ in Polen erfolge. Innerhalb einer Stunde hätte Breschnew den Papst wissen lassen, das es nicht dazu käme, wenn sofort der Generalstreik abgesagt werde. Daraufhin habe der Papst den Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyn´ski, informiert. Dieser habe von Wałe˛sa die Ausführung des ›Befehls‹ vom Papst gefordert, der

23 24 25 26

Ebd., Bl. 35. Vgl. Osservatore Romana vom 16. 01. 1981. Siehe Papst lehnt Sanktionen gegen Polen ab. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. 01. 1982. Zum »Danziger Abkommen« vgl. Kirwannek, Gerd: Polen, Solidarität als Hoffnung. Zürich 1981.

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Matthias Braun

dann ohne Entscheidung des Gesamtvorstandes von Solidarnos´c´ diesen Generalstreik verhindert hat.«27

Auch hier fällt der überaus sachliche und rein informative Gestus der Mitteilung auf. Mit ihren Berichten und Informationen kam die politische Geheimpolizei der DDR ihrem Auftrag nach, die Partei- und Staatsführung ihres Landes in komprimierter Form über alle Problemlagen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu informieren. Entsprechend ihres Selbstverständnisses war die Stasi, wie jede andere politische Geheimpolizei auf der Welt, nicht darauf ausgerichtet, »die andere Seite mit ihren eigenen Augen zu sehen.«28 Folglich liegt es in der Natur der Sache, dass in der Regel die von der Stasi angefertigten Informations- und Berichtstexte nicht frei von Klischees und Stereotypen sind. In diesem Sinne transportieren diese Texte nicht nur häufig tradierte Bilder des »Eigenen wie »Fremden«29, als historische Dokumente archivieren sie zugleich dieses »Eigene« und »Fremde«. Akten sind zwar nicht per se Bestandteil von Erinnerungsgemeinschaften, durch wissenschaftliche Forschung können aber beispielsweise ihre Inhalte in das kollektive Gedächtnis einfließen.30 Darüber hinaus bieten die hier vorgestellten Stasi-Unterlagen zum Episkopat des »polnischen« Papstes Johannes Paul II. aufgrund ihres vorwiegend sachlichen Berichtsstils dem heutigen Leser die Möglichkeit, Denkmuster, Handlungsmotive, Werte und auch Normen des »Anderen« kennenzulernen. In diesem Sinne verfügen sie über das Potential, die in Deutschland und Polen entstandenen Klischees und Stereotype aufzulösen und damit zu einem nachhaltigen Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen beizutragen.

27 Information 682/81: Gespräch mit führenden polnischen Funktionären des Partei- und Staatsapparates zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen vom 09. 07. 1981; BStU, MfS, HA XX/4 Information 227, Bl. 134f. 28 Siehe Gansel, Wolting, »Die andere Seite mit ihren eigenen Augen sehen«? S. 1. 29 Ebd., S. 3. 30 Ebd., S. 4.

Peter Klimczak (Cottbus)

»Schon bald musste ich den Satz differenzieren« – Zum logischen Umgang mit Stereotypen in Steffen Möllers »Viva Polonia«

I. »Als Kind […] stellte ich […] die erste allgemeingültige Behauptung über die Polen auf: Es war Anfang der achtziger Jahre, und ich sah im Fernsehen, wie Wojtek Fibak Tennis spielte und Lech Walesa Werften besetzte. ›Alle Polen tragen Schnurrbärte‹. Schon bald musste ich den Satz differenzieren. Der böse General Jaruzelski, der 1981 das Kriegsrecht ausrief, trug nämlich leider keinen Schnurrbart. Ich reformulierte meine These so: ›Alle guten Polen tragen einen Schnurrbart.‹ Doch auch diese neue Aussage schrie förmlich nach einer weiteren Verfeinerung, da ja auch Papst Johannes Paul II., der so gut Deutsch konnte, keinen Schnurrbart trug. Ich grübelte lange und fand schließlich eine Lösung: ›Päpste zählen nicht.‹ Im vorliegenden Buch mache ich eigentlich genau das Gleiche. Ich stelle Behauptungen über Polen und die Polen auf, deren Grundlage sehr subjektive Beobachtungen sind, aus denen ich höchst allgemeingültig klingende Schlüsse ziehe. Darf man das?« (VP, 5f.) 1

Diese Frage beantwortet Steffen Möller nicht. Und auch an dieser Stelle soll sie unbeantwortet bleiben.2 Die Aufgaben von Literatur- oder Medienwissenschaftlern mögen vielfältig sein, allerdings reichen sie nicht so weit, normative Vorgaben, insbesondere solche gesamtgesellschaftlicher Natur, zu machen. Es kann der Literatur- und Medienwissenschaft in diesem Zusammenhang nur um die Beantwortung einer deskriptiven Frage gehen: Stellt Steffen Möller auf Grundlage sehr subjektiver Beobachtungen tatsächlich »höchst allgemeingültig

1 Möller, Steffen: Viva Polonia. Als deutscher Gastarbeiter in Polen. Frankfurt a. M.: Fischer 2009. [Im Folgenden unter der Sigle »VP« mit Seitenzahl im Text.] 2 Wer eine Antwort (oder besser: Antworten) darauf haben möchte, der sei auf die zahlreiche Literatur zur Stereotypen-Forschung verwiesen. An dieser Stelle sollen lediglich zwei Titel genannt werden, zum einen: Thimm, Caja: Alter – Sprache – Geschlecht. Sprach- und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven auf das höhere Lebensalter. Frankfurt: Campus 2000, S. 95ff. Es handelt sich hierbei um einen kurzen Abriss über die wesentlichen Konzepte der bis dato stattgefundenen Forschung. Zum anderen sei der ›Klassiker‹ der StereotypenForschung erwähnt: Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung. Bochum: Brockmeyer 1990, S. 61ff.

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Peter Klimczak

klingende« Behauptungen auf ? 3 Erst wenn man diese Frage bejahen könnte, würde sich die Frage danach stellen, ob er das überhaupt darf. Doch gerade diese erste Frage lässt sich nicht bejahen. Um das beweisen zu können, bedarf es allerdings einer formallogischen Modellierung von Möllers Vorgehen. Dennoch sind keine Vorkenntnisse in der formalen Logik vonnöten: Der Fließtext kommt komplett ohne Formeln aus. Sie befinden sich sämtlich in den Fußnoten und müssen nicht wahrgenommen werden. Dieser Umstand sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die folgenden Ausführungen elementar auf den in den Fußnoten stehenden Formeln basieren. Der Text wäre ohne sie also nicht denkbar, da die formallogische Modellierung von Möllers Argumentation als Methode fungiert hat.4

II.

Widerspruch und Negation

›Klein-Steffens‹5 erster Schritt ist das Aufstellen einer »allgemeingültige[n] Behauptung«, und zwar der, dass alle Polen einen Schnurrbart tragen.6 Zu dieser These gelangt Klein-Steffen durch induktives Schließen. Er lernt zwei Polen kennen und bemerkt, dass es sich bei beiden um Schnurrbartträger handelt.7 Und da es die zwei einzigen Polen sind, die er zu jener Zeit kennt, also keinen Polen kennt, der keinen Schnurrbart trägt,8 schließt er daraus, dass alle Polen einen Schnurrbart tragen.9 Kurze Zeit später lernt Klein-Steffen aber einen dritten Polen kennen, und der trägt keinen Schnurrbart mehr.10 Entsprechend des zuvor 3 Der Ausdruck der »allgemeingültig klingenden Behauptung« weist bereits auf die wichtigste Eigenschaft eines Stereotyps hin: den Sachverhalt, dass es sich um eine generalisierte, also allgemeingültige Aussage über bestimmte Gruppen von Personen oder Gegenständen handelt. Formallogisch sind derartige allgemeingültige Aussagen als allquantifizierte Implikationen wiederzugeben. Im ›Vordersatz‹ stehen jene Objekte, denen eine Eigenschaft zugeschrieben wird, die wiederum selbst im ›Nachsatz‹ stehen. 4 Zu deren Verständnis sei pauschal auf Einführungen in die formale Logik verwiesen, bspw. Zoglauer, Thomas: Einführung in die formale Logik für Philosophen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 5 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei bereits an dieser Stelle betont, dass sich der Verfasser darüber im Klaren ist, dass das beschriebene Vorgehen von Klein-Steffen nur bedingt dem eines Kindes entspricht, vielmehr ist es das Vorgehen des erwachsenen Steffen, der ein Buch geschrieben hat und – vielleicht noch wichtiger – Philosophie studierte. Maximal handelt es sich also um das Vorgehen eines Kindes, das auf (popularisierte) Art und Weise eines in der formalen Logik geschulten Philosophen wiedergegeben wird. Und dennoch – ja gerade deswegen – eignet es sich für dieses Unterfangen. 6 "x(Px→Sx), wobei gilt, dass Px für »x ist Pole« und Sx für »x trägt einen Schnurrbart« steht. 7 (Pf˄Sf)˄(Pw˄Sw), wobei f Wojtek Fibak und w Lech Wałe˛sa symbolisiert. 8 Ø$x(Px˄ØSx). 9 Ø$x(Px˄ØSx) ↔ "x(Px→Sx). 10 Pj˄ØSj, wobei j für General Jaruzelski steht.

Zum logischen Umgang mit Stereotypen bei Steffen Möller

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aufgestellten Satzes müsste aber Jaruzelski als Pole, der er ja ist, einen Schnurrbart tragen.11 Ideologie – wertfrei verstanden als das Weltbild Klein-Steffens über die Polen – und Ontologie (die evidente Beobachtung also, dass es einen Polen gibt, der keinen Schnurrbart trägt) stehen in Widerspruch zueinander.12 Dieses Problem löst Klein-Steffen durch »Reformulierung« seiner These. Es heißt nun nicht mehr, dass alle Polen einen Schnurrbart tragen, sondern nur noch, dass alle guten Polen einen Schnurrbart tragen.13/14 Während Jaruzelski als böser Pole zu dieser neuen, reformulierten Aussage15 nun nicht mehr im Widerspruch steht, stünde er auch weiterhin zur ursprünglichen Aussage im Widerspruch, dass alle Polen einen Schnurrbart tragen – weshalb diese auch als nicht mehr wahr, als nicht mehr gültig, anzunehmen ist. Sie wurde durch die Existenz eines Polen, der keinen Schnurrbart trägt, negiert:16 Wenn sich zwei Aussagen widersprechen, muss eine davon notwendigerweise falsch sein,17 in diesem Falle jene, die der neueren Beobachtung widerspricht. Ob dieser keinen Schnurrbart tragende Pole nun gut oder böse ist, ist hinsichtlich der Negation der ursprünglichen Aussage dagegen ohne Relevanz: Auch ein böser Nicht-Schnurrbart-tragender Pole ist ein Nicht-Schnurrbart-tragender Pole.18 Neben der neuen Aussage, dass alle guten Polen einen Schnurrbart tragen, gilt demnach zugleich auch, dass nicht alle Polen einen Schnurrbart tragen.19 Dass zwischen der neuen allgemeingültigen Aussage und dem Sachverhalt, dass Jaruzelski keinen Schnurrbart trägt, kein Widerspruch besteht, liegt wiederum daran, dass er nicht unter den Objektbereich der neuen, reformulierten Aussage fällt: gute Polen. Aus der Aussage, dass gute Polen einen Schnurrbart tragen, folgt nicht mehr, dass Jaruzelski einen Schnurrbart 11 ["x(Px→Sx)˄Pj] → [(Pj→Sj)˄Pj] → Pj˄Sj. 12 (Pj˄ØSj) >< "x(Px→Sx) bzw. $x(Px˄ØSx) >< "x(Px→Sx), da gilt: (Pj˄ØSj) → $x(Px˄ØSx). Mit >< soll an dieser Stelle der Kontravalenzoperator symbolisiert werden. 13 "x(Px˄Gx→Sx), wobei Gx für »x ist gut« bzw. »x ist ein guter Mensch« steht. 14 Zwischen Gut-Sein und Böse-Sein besteht die Relation der Kontrarietät: Man kann nicht beides zugleich sein: Ø$x(Gx˄Bx). Oder aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet: Wenn man gut ist, so ist man nicht böse und umgekehrt: "x(Gx→ØBx) und "x(Bx→ØGx), wobei nicht nur zwischen den beiden letzten Aussagen, sondern allen drei Aussagen (verständlicherweise) eine logische Äquivalenz besteht. 15 Im gesamten Text wird nicht zwischen Aussage und Satz unterschieden. Beide Begriffe sind, wie auch bei Steffen Möllers einführenden Darlegungen, als Synonyme zu verstehen. 16 $x(Px˄ØSx) ↔ Ø"x(Px→Sx). 17 Dieser Sachverhalt mag trivial erscheinen, doch ist er fundamental für das Verständnis dieses Beitrages. In der formalen Logik spiegelt sich dieser Sachverhalt im sog. »Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch« wider: Ø(p˄Øp). Aus diesem leitet sich wiederum der Sachverhalt ab, dass die Wahrheit einer Aussage die Wahrheit der sie widersprechenden Aussage negiert: [Ø(p˄Øp)] ↔ [p→Ø(Øp)]. 18 Pj˄Bj˄ØSj → Pj˄ØSj, wobei Bj für »Jaruzelski ist böse« bzw. »Jaruzelski ist ein böser Mensch« steht. Entsprechend gilt auch $x(Px˄Bx˄ØSx) → $x(Px˄ØSx). 19 "x(Px˄Gx→Sx)˄Ø"x(Px→Sx).

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tragen müsste. Dazu müsste er nicht nur Pole, sondern auch ein guter Mensch sein, was er ja gerade nicht ist. Die Aussage, dass alle guten Polen einen Schnurrbart tragen, kann wiederum nur so lange aufrechterhalten werden, bis Karol Wojtyła Papst und damit auch Klein-Steffen bekannt wird. Erneut widersprechen sich Ideologie und Ontologie. Wojtyła als Pole und guter Mensch müsste eigentlich einen Schnurrbart tragen,20 doch das tut er nicht.21 Auch die zuletzt formulierte allgemeingültige Aussage ist damit falsch.22 Da Wojtyła aber nicht nur Pole und ein guter Mensch ist, sondern auch noch Papst,23 kann nach bereits bekanntem Muster eine neue Aussage aufgestellt werden, mit der Wojtyła bzw. dessen Nicht-Schnurrbart-Tragen nicht in Widerspruch steht: »Alle guten Polen, die nicht Papst sind, tragen einen Schnurrbart«.24/25 Mitnichten zieht Steffen Möller also »höchst allgemeingültig klingende Schlüsse auf Grundlage sehr subjektiver Beobachtungen«. Zwar stellt er in der Tat allgemeingültige Aussagen auf, gleich im Anschluss aber negiert er sie – und das nicht nur einmal, sondern mehrmals, so dass von einer Aufstellung allgemeingültiger Aussagen nicht die Rede sein kann, sondern vielmehr von der Negation derartiger allgemeingültiger Aussagen. Entscheidend ist nicht der Beginn, sondern das Ende. Das Besondere an Möllers Buch ist allerdings, dass er diesen Prozess nicht nur im Vorwort expliziert, sondern im ganzen Buch andauernd und zwar ununterbrochen vollzieht; und das in derart vielfältiger Weise, dass es nicht nur nie langweilig wird, sondern auch nicht auffällt, zumindest nicht auf den ersten Blick.

20 ["x(Px˄Gx→Sx)˄Pk˄Gk] → [(Pk˄Gk→Sk)˄Pk˄Gk] → Gk˄Sk˄Pk, wobei es sich bei k um Karol Wojtyła handelt. 21 Pk˄Gk˄ØSk. 22 Zum einen gilt: (Pk˄Gk˄ØSk) → $x(Px˄Gx˄ØSx). Zum anderen: $x(Px˄Gx˄ØSx) ↔ Ø"x (Px˄Gx→Sx). 23 Pk˄Gk˄Rk˄ØSk, wobei Rk für »Karol Wojtyła ist Papst« steht: k symbolisiert Karol Wojtyła und R »ist Papst«. 24 "x(Px˄Gx˄ØRx→Sx). 25 Da es bei Steffen Möller heißt, dass »Päpste nicht zählen«, bestünde zumindest theoretisch auch die Möglichkeit, dass das Ganze nicht auf diese Weise zu verstehen und entsprechend zu formulieren/formalisieren ist, sondern derart, dass die Existenz des Papstes einfach ignoriert wird. Die Aussage bliebe dann unverändert bzw. nicht negiert und hieße weiterhin »Alle guten Polen tragen Schnurrbärte«. Gegen diese Interpretationen spricht aber das unmittelbar zuvor Ausgesagte: »Doch auch diese neue Aussage schrie förmlich nach einer weiteren Verfeinerung«. Damit wird recht explizit angeführt, dass die bisherige Aussage, »Alle guten Polen tragen Schnurrbärte«, zu reformulieren ist. Wenn die »Lösung«, wie es zuvor ebenfalls heißt, nur darin bestünde, dass die Existenz Karol Wojtyłas ignoriert bzw. ausgeblendet würde, so bestünde ja auch kein Bedarf mehr, die bisherige Aussage zu reformulieren.

Zum logischen Umgang mit Stereotypen bei Steffen Möller

III.

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Delokalisation, Modalisation und Rotation

Das Verweisspiel beginnt schon damit, dass der Wechsel zwischen dem Aufstellen einer allgemeingültigen Aussage und ihrer Negation nicht nur innerhalb eines der 85 Kapitel vonstatten geht, sondern oftmals auch kapitelübergreifend. Teilweise liegen zwischen dem einen und dem anderen Hunderte von Seiten. So auch im Falle der bereits im Vorwort von »Viva Polonia« aufgestellten Behauptung, dass im Polnischen alle Wörter (bzw. Nomina) dekliniert werden:26 »Auf dem Krakauer Markt verliebte ich mich unsterblich in die polnische Sprache, in der alles, aber auch alles [Kursivierung durch den Verf.] erbarmungslos durchdekliniert wird. Im Genitiv wird an alle männlichen Namen ein »a« drangehängt. Im Dativ ist es statt des »a« ein »owi«. Verrückt!« (VP, 20)

Genau 91 Seiten später folgt dann die Negation dieser allgemeingültigen Aussage, indem eine Abweichung davon vorgeführt wird: »Und jetzt mal zur Abwechslung eine gute Nachricht über die polnische Sprache: Es gibt im Polnischen NÄMLICH DOCH eine ganze Reihe von Wörtern, die man NICHT in allen sieben Fällen durchdekliniert. Und ihre Zahl steigt ständig – handelt es sich doch um linguistische Kinder der Globalisierung, sprich um staatenlose flottierende Fremdwörter« (VP, 111).

Es wird also behauptet, dass es zumindest einige Wörter gäbe, die die Eigenschaft haben, sowohl in der polnischen Sprache verwendet als auch nicht flektiert zu werden.27 Das ist das eine, das andere ist, dass auch diesen abweichenden Objekten, hier also den Wörtern, eine zusätzliche Eigenschaft eingeräumt wird: Es handelt sich um Fremdwörter.28 Einerseits wird also die 91 Seiten zuvor aufgestellte Aussage negiert – zum einen implizit aufgrund des Sachverhaltes, dass eine Abweichung »Fremdwörter« genannt wird,29 zum anderen explizit sprachlich: »Es gibt im Polnischen NÄMLICH DOCH eine ganze Reihe von Wörtern, die man NICHT in allen sieben Fällen durchdekliniert«. Andererseits wird aufgrund der Nennung einer zusätzlichen Eigenschaft dieser abweichenden Objekte, jener nämlich, Fremdwort zu sein, zumindest die Möglichkeit einer neuen allgemeingültigen Aussage offenbart: dass nämlich alle Wörter im Polnischen, die keine Fremdwörter sind, dekliniert werden.30 Auch wenn das an dieser Stelle nicht expliziert wird, so ist es nichtsdestotrotz impliziert: zum einen dadurch, dass schlicht die Möglichkeit dazu besteht, zum anderen weil es an anderen 26 "x(Lx→Dx), wobei gilt: Lx steht für »x ist ein Wort im Polnischen« und Dx für »x wird dekliniert«. 27 $x(Lx˄ØDx). 28 $x(Lx˄Fx˄ØDx), wobei Fx »x ist ein Fremdwort« symbolisiert. 29 $x(Lx˄ØDx) ↔ Ø"x(Lx→Dx). 30 "x(Lx˄ØFx→Dx).

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Stellen durchaus gemacht wird – prominent natürlich gleich zu Beginn des Buches, im Vorwort, was aufgrund dieser syntagmatischen Exponiertheit31 entsprechend als Schlüssel und Gebrauchsanleitung für das gesamte Buch gelesen werden kann.32 So weit, so gut – allerdings bestünde der Unterschied zwischen dem Vorgehen im Vorwort und dem jetzigen nur darin, dass die Präsentation der Abweichung sowie die Negation der ursprünglichen allgemeingültigen Aussage nicht innerhalb des Kapitels vollzogen und die neue modifizierte allgemeingültige Aussage nur impliziert, nicht aber expliziert wird. Die Unterschiede sind aber weitreichender, und dazu muss noch nicht einmal betrachtet werden, wie das obige Zitat weitergeht. Ein wesentlicher Unterschied zum Musterbeispiel der Schnurrbart tragenden Polen besteht nämlich darin, dass das obige Zitat zudem offen lässt, ob alle nicht deklinierbaren Wörter im Polnischen Fremdwörter sind33 oder aber (auch) alle Fremdwörter im Polnischen nicht dekliniert werden.34/35 Beide Bedeutungen schließen dabei den zuvor dargelegten Fall, dass einige Wörter resp. Fremdwörter im Polnischen nicht dekliniert werden, nicht aus. Ganz im Gegenteil: Der zweite Sachverhalt, jener also, dass alle Fremdwörter im Polnischen nicht dekliniert werden, impliziert sogar, dass einige Wörter im Polnischen nicht dekliniert werden.36 Auch sämtliche Fremdwörter im Polnischen bilden nur eine Teilmenge aller im Polnischen verwendeten Wörter. Entsprechend heißt das aber 31 Vgl. Gräf, Dennis; Großmann, Stephanie; Klimczak, Peter; Krah, Hans; Wagner, Marietheres: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate. Marburg: Schüren 2011, S. 396f. 32 Diese buchspezifische Regel ließe sich formal wie folgt wiedergeben: "x(αx→βx)˄ $x (αx˄Øβx˄Øγx) → "x(αx˄γx→βx). α, β, γ stehen für Prädikatsvariablen. 33 "x(Lx˄ØDx→Fx). 34 "x(Lx˄Fx→ØDx). 35 Im Übrigen handelt es sich hierbei um eine der großen Leistungen der natürlichen Sprache: ihrer Möglichkeit (nicht Notwendigkeit!) zu unpräzisen Äußerungen bzw. Aussagen. Der Mehrwert einer künstlichen Sprache, wie der der Logik, liegt hingegen nicht nur in ihrer Präzision und noch mehr der ihr innewohnenden Möglichkeit mit ihr zu ›rechnen‹, also regelgeleitet Schlüsse zu ziehen; Ebenso nicht zu unterschätzen ist der Erkenntnisgewinn, der in ihrer (bloßen) Anwendung liegt, d. h. der Anwendung einer notwendig präzisen Sprache (Logik) auf eine nicht-notwendig präzise Sprache (natürliche Sprache), um unterschiedliche Bedeutungsmöglichkeiten erkenn- und sichtbar zu machen. Vgl. hierzu: Klimczak, Peter: Formale Subtextanalyse. Modallogische Grundlegung der Grenzüberschreitungstheorie von Jurij M. Lotman. Münster: Mentis 2015. Petersen, Christer: Terror und Propaganda. Prolegomena zu einer Analytischen Medienwissenschaft. Bielefeld: Transcript 2015. Dies.: Amok. Framing Discourses on Political Violence by the Means of Symbolic Logic. In: Marco Gerster, Steffen Krämer, Daniel Ziegler (Hg.): Framing Excessive Violence. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015. Dies.: Ordnung und Abweichung. Jurij M. Lotmans Grenzüberschreitungstheorie aus modallogischer Perspektive. In: Journal of Literary Theory, Heft 9/1 2015. 36 "x(Lx˄Fx→ØDx) → $x(Lx˄Fx˄ØDx) → $x(Lx˄ØDx), wobei der erste Schluss formallogisch nur unter der Bedingung möglich ist, wenn angenommen werden kann, dass es im Polnischen mindestens ein Fremdwort gibt: $x(Lx˄Fx).

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auch, dass der Satz, dass alle Fremdwörter im Polnischen nicht dekliniert werden, den Satz, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden, negiert.37 Noch ist das obige Zitat aber nicht vollständig wiedergegeben, die Unterschiede zum Musterbeispiel aus dem Vorwort sind noch nicht zu Ende. Weiterhin und zwar unmittelbar, ohne den Wechsel eines Absatzes oder gar eines Kapitels, heißt es dann: »Zugegeben: Sie werden NOCH nicht dekliniert, weil sie keine klassischen polnischen Endungen haben. So erging es etwa noch um 1930 dem Wort ›Radio‹. Wenige Jahrzehnte genügten allerdings, und es bürgerte sich auch für dieses Wort das leidige Deklinieren ein. So heißt es heute im Genitiv ›Radia‹. Und wenn man sagen will: ›Ich habe es im Radio gehört‹, heißt das ›slyszalem to w radiu‹« (VP, 111f.).

Was mit diesen wenigen Sätzen erreicht wird – wenn man genau sein will, schon allein mit dem ersten Satz, da die weiteren den ersten nur exemplifizieren –, ist alles andere als trivial, handelt es sich doch um eine modale Ausdifferenzierung hinsichtlich der Temporalität, da, so Möller, alle Fremdwörter im Polnischen früher oder später dekliniert werden.38 Damit wird zwar nicht de jure, also formal, aber immerhin de facto die zuvor in ihrer Existenz als möglich rekonstruierte Aussage, dass alle Fremdwörter im Polnischen nicht dekliniert werden,39 negiert. Der Objektbereich beider Sätze wäre derselbe: »alle Fremdwörter im Polnischen«. Der Eigenschaftenbereich wäre hingegen jeweils entgegengesetzt: »wird nicht dekliniert« auf der einen Seite und »wird dekliniert« auf der anderen Seite. Dass beide Sätze formallogisch nicht im Widerspruch stehen, liegt nur daran, dass das »wird dekliniert« in temporal modalisierter Form vorliegt: Es wird keine Aussage über den gegenwärtigen Zustand, sondern nur eine über den zukünftigen Zustand getroffen, weshalb lediglich von einer de-facto-Negation die Rede sein kann. Entscheidend ist aber, dass auf diese Weise nicht nur dieser zuvor aufgestellte allgemeingültige Satz negiert wurde, sondern ebenso auch die Negation der ursprünglichen allgemeingültigen Aussage, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden,40 zwar wiederum nicht de jure, aber de facto zurückgenommen wurde.41 Der ursprüngliche Satz, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden,42 kann derart als wiederhergestellt angesehen werden: Wenn nämlich zum einen gilt, dass alle Wörter im Polnischen, die nicht Fremdwörter sind,

37 "x(Lx˄Fx→ØDx) → Ø["x(Lx→Dx)]. 38 "x[Lx˄Fx→Z(Dx)]. Der Unterschied zu "x(Lx˄Fx→Dx) besteht im mittels des Zeitoperators Z modalisierten Nachsatz, also des Eigenschaftenbereiches der allgemeingültigen Aussage. 39 "x(Lx˄Fx→ØDx). 40 Ø["x(Lx→Dx)]. 41 Ø{Ø["x(Lx→Dx)]}. 42 "x(Lx→Dx).

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dekliniert werden,43 und zum anderen nunmehr auch gilt, dass alle Fremdwörter im Polnischen, früher oder später, sprich: zukünftig dekliniert werden,44 so heißt das, dass alle Wörter im Polnischen entweder gegenwärtig oder aber zukünftig dekliniert werden45 und somit vom Ende her gesehen gilt, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden.46 De jure, formallogisch, ändert sich natürlich nichts: Der ursprüngliche allgemeingültige Satz bleibt nach wie vor falsch,47 da einige Wörter im Polnischen, jene, die Fremdwörter sind, zumindest anfangs nicht dekliniert wurden und auch nicht dekliniert werden.48 Allerdings ist Möller an dieser Stelle noch nicht am Ende seiner Betrachtungen angelangt, und so gelingt ihm noch eine weitere Wendung: »Ich möchte die nachfolgende Liste nichtdeklinierbarer Wörter, die meines Wissens eine polonistische Weltpremiere darstellt, zwei Frauen widmen, die mich immer wieder neu entzücken – rein linguistisch und nur auf Polnisch. Die eine ist Angela Merkel, die andere Danuta Hübner, die langjährige polnische EU-Kommissarin. Beide besitzen im Polnischen eine höchst bemerkenswerte Deklinationsresistenz. Während man die Vornamen ›Angela‹ und ›Danuta‹ ganz normal durchdeklinieren kann, geht das mit den Nachnamen ›Merkel‹ und ›Hübner‹ nicht, jedenfalls nicht, wenn sie von Frauen getragen werden. […] Wenn dazu auch noch die beiden Titel ›kanclerz‹ und ›komisarz‹ kommen, wird mein Entzücken komplett, da auch diese beiden Wörter im Polnischen nicht dekliniert werden können, wenn sie sich auf Frauen beziehen« (VP, 112).

Damit wird aber nicht weniger behauptet,49 als dass es zumindest einige Fremdwörter im Polnischen gibt, die weder jetzt noch zukünftig dekliniert werden.50 Da, wie bereits oben dargelegt, gilt, dass Fremdwörter im Polnischen auch Wörter im Polnischen sind, geht mit dem Sachverhalt, dass einige Fremdwörter im Polnischen weder jetzt noch künftig dekliniert werden, auch der Sachverhalt einher, dass einige Wörter im Polnischen weder jetzt noch künftig dekliniert werden.51 Das aber negiert nichts anderes, als die gerade zuvor aufgestellte Aussage, dass alle Wörter im Polnischen entweder schon jetzt oder

43 "x(Lx˄ØFx→Dx). Zur Erinnerung: Das war der aufgrund der Differenzierung zwischen Fremdwort und Nicht-Fremdwort (im Möglichkeitsraum) zustandegekommene Satz. 44 "x[Lx˄Fx→Z(Dx)]. 45 "x[Lx→Dx∨Z(Dx)]. 46 "x[Lx→Dx∨Z(Dx)] ~> "x(Lx→Dx), wobei ~> den oben genannten »de-facto«-Schluss symbolisieren soll. Dementsprechend gilt für das erschlossene "x(Lx→Dx), dass es lediglich de facto, nicht de jure vorliegt. 47 Ø"x(Lx→Dx). 48 $x(Lx˄Fx˄Dx) → $x(Lx˄Dx) → Ø"x(Lx→Dx). 49 Mag Steffen Möller auch so sehr betonen, dass das Besondere an der von ihm aufgestellten Liste sei, dass sie noch niemand aufgestellt habe, so liegt das Besondere natürlich nicht darin, sondern dass damit das bis dahin Gesagte (noch einmal) negiert wird. 50 $x[Lx˄Fx˄ØDx˄ØZ(Dx)]. 51 $x[Lx˄Fx˄ØDx˄ØZ(Dx)] → $x[Lx˄ØDx˄ØZ(Dx)].

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künftig dekliniert werden.52 Und da es sich bei diesem Satz um jenen handelte, der die de-facto-Rücknahme der Negation der ursprünglichen Aussage, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden, darstellte, ist mit der neuesten Aussage von Möller diese zuvor zurückgenommene Rücknahme der Negation zurückgenommen. Möller vollzieht am Ende seiner Ausführungen zur Deklination im Polnischen, wenn man so will, eine rotierende Argumentation: die Negation der Negation der Negation, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden.53 Erreicht wird das Ganze nicht zuletzt dadurch, dass die neu aufgestellte Aussage, dass einige Fremdwörter im Polnischen weder gegenwärtig noch zukünftig dekliniert werden, die zuvor aufgestellte Behauptung, dass alle Fremdwörter im Polnischen früher oder später, also zumindest zukünftig dekliniert werden, negiert.54 Diese Aussage55 war es aber, die in Kombination mit jener, dass alle Wörter im Polnischen, die nicht Fremdwörter sind, dekliniert werden,56 zur Aussage, dass alle Wörter im Polnischen gegenwärtig oder zukünftig dekliniert werden, geführt hat.57 Indem diese Aussage nunmehr nicht aufrechterhalten werden kann, weil ihr die dafür notwendige Grundlage entzogen worden ist, kann auch die damit einhergehende Negation der Negation der Aussage, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden, die das Ergebnis dieser Aussage war,58 nicht aufrechterhalten werden.

IV.

Verklausulierung, Differenzierung und Entdifferenzierung

Auch wenn die zuletzt dargestellten Verneinungskapriolen kaum mehr zu überbieten sind, lässt sich zumindest noch der Verneinungsprozess verklausulieren. So heißt es bezüglich polnischer Autofahrer: »Oft haben mir polnische Bekannte gestanden, dass sich auf deutschen Autobahnen sofort ihr Fahrverhalten ändere, sie langsamer und umsichtiger fahren. Warum? Zweifellos auch deswegen, weil sie Angst vor der berüchtigten, bestechungsresistenten deutschen Polizei haben. Es gibt aber noch einen anderen Grund. Jeder Pole, der zum ersten Mal nach Deutschland kommt, ist felsenfest davon überzeugt, dass die Deutschen sich streng an die Straßenverkehrsordnung halten. Offiziell lacht er über so viel Einfalt, doch klammheimlich gefällt es ihm. Sobald er nun die deutsche Grenze überquert, spürt er ganz plötzlich ein Gefühl des Vertrauens zu den anderen Fahrern. Die polnischen 52 53 54 55 56 57 58

$x[Lx˄ØDx˄ØZ(Dx)] → Ø{"x[Lx→Dx∨Z(Dx)]}. Ø〈Ø{Ø["x(Lx→Dx)]}〉. $x[Lx˄Fx˄ØDx˄ØZ(Dx)] → $x[Lx˄Fx˄ØZ(Dx)] → Ø{"x[Lx˄Fx→Z(Dx)]}. "x[Lx˄Fx→Z(Dx)]. "x(Lx˄ØFx→Dx). "x(Lx˄ØFx→Dx)˄"x[Lx˄Fx→Z(Dx)] → "x[Lx→Dx∨Z(Dx)]. Vgl. auch oben. "x[Lx→Dx∨Z(Dx)] ~> "x(Lx→Dx) → Ø{Ø["x(Lx→Dx)]}.

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Raser-Regeln sind aufgehoben, auch die Wut auf Verkehrsrowdys ist weggeblasen. Hey, hier kann man auch mal länger auf der Lkw-Spur tuckern, ohne gleich für schwul gehalten zu werden! Er wird lockerer und steigt gelegentlich sogar mal vorsichtig auf die Bremse. In Polen würde er sich blöd dabei vorkommen, als Einziger die Verkehrsregeln zu beachten« (VP, 68f.).

Der erste (letztlich aber auch der vorletzte) Satz sagt explizit aus, dass zumindest einige polnische Autofahrer, nämlich jene Bekannte von Steffen Möller, die ihm dies gestanden haben, langsamer und umsichtiger fahren, wenn sie in Deutschland mit dem Auto unterwegs sind.59 Wie sowohl am fünften als auch am letzten Satz zu sehen ist, geht es aber nicht nur um das langsamere und umsichtigere Fahren, sondern um das Beachten von Verkehrsregeln.60 Aufgrund des Komparativs von ›langsam‹ und ›umsichtig‹ sagt der erste Satz aber auch implizit aus, dass sie, also die Bekannten Möllers, die Verkehrsregeln jenseits deutscher Straßen oder Autobahnen nicht beachten.61 Selbiges sagt der letzte Satz dann explizit aus, und nicht nur das: Er gibt implizit auch wieder, dass es sich nicht nur um Aussagen bzw. Behauptungen über eine bestimmte Menge von polnischen Autofahrern handelt, sondern um alle polnischen Autofahrer:62 Wenn er, also ein polnischer Autofahrer, sich in Polen an die Verkehrsregeln halten würde, so wäre er der einzige. Das bedeutet nicht nur, dass alle anderen außer ihm sich nicht an die Verkehrsregeln halten, sondern, dass sich überhaupt keiner daran hält, weil auch er es ja nicht macht. Der letzte Satz steht wohlweislich im Konjunktiv, nicht im Indikativ. Aus dem ersten und letzten Satz ergeben sich schließlich die beiden folgenden allgemeingültigen Aussagen: Alle polnischen Autofahrer halten sich in Deutschland an die Verkehrsregeln und alle polnischen Autofahrer halten sich in Polen nicht an die Verkehrsregeln.63 Vergleicht man dies mit dem Musterbeispiel der Schnurrbart tragenden Polen aus dem Vorwort oder mit dem zuletzt angeführten Fall der deklinierbaren polnischen Wörter, so fällt auf, dass in dem neuen Beispiel die den Ausgangspunkt aller Negationen bildende allgemeingültige Aussage mit dem weitest möglichen Objektbereich fehlt: Alle polnischen Autofahrer halten sich nicht an die Verkehrsregeln. Das allerdings stimmt nicht ganz. Einem »Geständnis«, das ist der von Möller verwendete Ausdruck, liegt not59 $x(Px˄Bx˄Lx˄Ux). Dabei steht Px für »x ist Pole«, Bx für »x befindet sich in (der Bundesrepublik) Deutschland«, Lx für »x fährt langsamer« und Ux für »x fährt umsichtiger«. 60 $x(Px˄Bx˄Vx), wobei Vx für »hält sich an die Verkehrsregeln« steht. 61 $x(Px˄ØBx˄ØVx). Da im betreffenden Beispiel bezüglich des sich in Deutschland Befindens (Bx) und des sich in der (Republik) Polen Befindens (Rx) nicht nur eine konträre, sondern eine kontradiktorische Relation gesetzt wird, kann mit der Gültigkeit von $x(Px˄ØBx˄ØVx) auch jene von $x(Px˄Rx˄ØVx) angenommen werden. 62 "x(Px˄Rx→ØVx). 63 "x(Px˄Bx→Vx) und "x(Px˄Rx→ØVx).

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wendigerweise die Verletzung einer Norm zugrunde. Und da hier gestanden wurde, dass man sich an die Verkehrsregeln gehalten hat,64 kann nur die Norm, dass man sich gerade nicht an die Verkehrsregeln hält,65 verletzt worden sein. Implizit geht aus dem ersten Satz also auch hervor, dass sich kein polnischer Autofahrer an die Verkehrsregeln hält.66 Der Umstand, dass man sich auf deutschen Straßen durchaus an die Verkehrsregeln hält, ist demnach die wohl bekannte Negation: Es wird nicht nur die Abweichung vom allgemeingültigen Satz als solche angeführt, sondern auch spezifiziert: hier räumlich, in den beiden vorherigen Beispielen hinsichtlich des Charakters (guter und böser Pole) oder der Herkunft (Fremdwort und Nicht-Fremdwort). Würde man also nur den ersten und den letzten zitierten Satz betrachten, würde man sich in bereits bekannten Mustern bewegen – allerdings mit dem Unterschied, dass sich die verwendete natürliche Sprache nun, viel stärker als es noch beim Fremdwort-Beispiel der Fall war, von der formallogischen Metasprache entfernt: die Proposition, der Gehalt des Gesagten, ist verklausulierter, versteckter, nur impliziert. Die wesentliche Neuerung liegt aber in einem anderen Satz: »Jeder Pole, der zum ersten Mal nach Deutschland kommt, ist felsenfest davon überzeugt, dass die Deutschen sich streng an die Straßenverkehrsordnung halten.« Entgegen Möllers Ankündigung aus dem Vorwort, allgemeingültige Behauptungen über die Polen aufzustellen, stellt er solche nun auch bezüglich der Deutschen auf.67 Zwischen Deutschen und Polen wird damit eine Differenz inszeniert: Während sich alle Deutschen an die Verkehrsregeln halten,68 halten sich alle Polen (zumindest in Polen) nicht daran:69 Der Eigenschaftenbereich, der den Polen und den Deutschen zugeschrieben wird, verhält sich kontradiktorisch zueinander. Die Negation der deutschen Eigenschaft stellt die polnische dar und umgekehrt.70 Steffen Möller wäre aber nicht Steffen Möller, wenn er dieses Ne64 Sowohl ausgehend von $x(Px˄Bx˄Vx) als auch "x(Px˄Bx→Vx) gilt $x(Px˄Vx): $x (Px˄Bx˄Vx) → $x(Px˄Vx) bzw. "x(Px˄Bx→Vx) → $x(Px˄Bx˄Vx) → $x(Px˄Vx) – im letzten Falle formallogisch nur unter der Bedingung, dass es zumindest einen polnischen Autofahrer in Deutschland gibt, $x(Px˄Bx), was aber anzunehmen ist. $x(Px˄Vx) ist wiederum logisch äquivalent mit Ø"x(Px→ØVx): $x(Px˄Vx) ↔ Ø"x(Px→ØVx). 65 Ø[Ø"x(Px→ØVx)] ↔ "x(Px→ØVx). 66 Ø$x(Px˄Vx), wobei gilt: Ø$x(Px˄Vx) ↔ "x(Px→ØVx). 67 Und auch wenn es in Steffen Möllers Buch neben Polen tatsächlich hauptsächlich Deutschland ist, über das allgemeingültige Aussagen getroffen werden, so trifft es auch andere Länder: Russland, Italien, Finnland. 68 "x(Dx→Vx), wobei Dx für »x ist Deutscher« steht. 69 "x(Px→ØVx) bzw. "x(Px˄Rx→ØVx). 70 Dass es Steffen Möller nicht nur bei der Aufstellung von allgemeingültigen Behauptungen über Polen belässt, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass eine wesentliche Funktion der Stereotypisierung darin besteht, Differenzen zwischen dem Fremden und dem Eigenen zu inszenieren und damit ein derartiges Eigenes und Fremdes zu installieren (vgl. Heringer, Hans Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. Tübingen: Fran-

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gationsverhältnis, diese Differenz zwischen Deutschen und Polen, nicht im nächsten Atemzug wieder negieren würde. So heißt es gleich im nächsten Satz, dass dem Polen dieses Befolgen der Verkehrsregeln gefällt. Damit ist aber der Unterschied, wie schon zuvor die Negation im Fremdwörter-Beispiel, modal zurückgenommen. Während sich der deutsche Autofahrer an die Verkehrsregeln hält, gefällt es dem polnischen Autofahrer, sich an die Verkehrsregeln zu halten: Der Pole will sich daran halten,71 der Deutsche tut es.72 Der Eigenschaftenbereich ist nunmehr derselbe, allein mit dem Unterschied der Modalisation. Wie im vorherigen Beispiel kann von einer de-facto-Negation, einer de-facto-Rücknahme gesprochen werden.73 De jure, also formal, bleibt die Differenz aber weiterhin bestehen: Während der deutsche Autofahrer sich an die Verkehrsregeln hält, hält sich der polnische Autofahrer (zumindest in Polen) nicht an sie – so gerne er es auch tun würde.74

V.

Narration und Widerspruch

Die bisherigen Beispiele müssten hinreichend verdeutlicht haben, dass Steffen Möller ein geradezu virtuoses Spiel mit Stereotypen entfaltet, das in der andauernden Produktion von Aussagen negierenden Widersprüchen letztlich nichts anderes zeigt, als dass kein einziges Stereotyp Bestand haben kann. Da er dieses wiederholte Widersprechen immer wieder anders darbietet, nicht nur konzeptionell, sondern auch sprachlich hinsichtlich des Grades der jeweiligen Expliziertheit, ist es als solches kaum wahrnehmbar, was auch eine Erklärung dafür wäre, warum bei der Lektüre keine Langeweile aufkommt und der Text trotz der immer selben Grundstruktur interessant bleibt. Zudem entsteht so etwas wie Spannung, jedoch nicht trotz, sondern gerade wegen der sich wiederholenden Widersprüche. Um das zu verdeutlichen sei in aller Kürze auf die Grenzüberschreitungstheorie75 von Jurij M. Lotman einge-

71 72 73 74 75

cke 2010, S. 181ff.) Besäße sowohl das Fremde als auch das ›Eigene‹ dieselbe Eigenschaft, würde sich das Fremde vom Eigenen allein hinsichtlich seiner Herkunft als Eigenes und Fremdes unterscheiden und damit gerade nicht unterscheiden. "x[Px→W(Vx)], wobei W den Wollens-Operator symbolisiert. "x(Dx→Vx). "x[Px→W(Vx)] ~> "x(Px→Vx), womit sowohl "x(Dx→Vx) als auch "x(Px→Vx) gelten würde. Der Sachverhalt, dass er es will, aber es nicht tut, stellt zumindest aus formallogischer Sicht keinen widersprüchlichen Umstand dar: Man kann etwas tun wollen und gleichzeitig das Gegenteil davon tun, genauso wie man etwas tun soll, aber das Gegenteil tut. Die Vorstellung der Theorie kann und muss im Folgenden nicht vollständig erfolgen. Sie beschränkt sich v. a. auf die Aspekte, die zum Verständnis notwendig sind. Eine Einführung bietet Titzmann, Michael: Narrative Strukturen in semiotischen Äußerungen. In: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung. Hrsg. von Hans Krah und Michael

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gangen. Lotman selbst sowie die Rezipienten seiner Theorie sehen einen Text erst dann als narrativ an, wenn diesem mindestens ein Widerspruch zwischen im Text postulierter Ordnung und im Text gegebener Wirklichkeit innewohnt. Genau dann liegt ein Ereignis vor, und je mehr Ereignisse ein Text umfasst, desto narrativer, desto erzählspannender ist er. Postulierte Ordnungen werden dabei als allgemeingültige Aussagen über eine Gruppe von Objekten verstanden: Aussagen also, dass alle Polen einen Schnurrbart tragen, dass alle Wörter im Polnischen dekliniert werden, dass alle Polen sich nicht an die Verkehrsregeln halten und alle Deutschen es tun. Die im Text gegebene Wirklichkeit ist hingegen genau das, was hier der keinen Schnurrbart tragende General Jaruzelski, das nicht-deklinierbare Fremdwort im Polnischen oder der sich in Deutschland an die Verkehrsregeln haltende polnische Autofahrer ist. Die Parallelen zwischen Lotmans Grenzüberschreitungstheorie und Möllers »Viva Polonia« sind damit aber noch nicht erschöpft. Wie im Text geht es auch in der Theorie nicht so sehr darum, wie es zu einem Widerspruch und damit einem Ereignis gekommen ist, sondern darum, wie dieser Widerspruch behoben werden kann. Entscheidend ist, wie der widersprüchliche, ereignishafte Zustand in einen widerspruchslosen, ereignislosen überführt werden kann. Wie beschrieben, wird der Widerspruch zwischen ideologischem Postulat und ontologischer Beobachtung in allen Fällen dadurch aufgehoben, dass die Ideologie an die Ontologie anpasst wird. In der Terminologie der Grenzüberschreitungstheorie erfolgt damit ein sog. Metaereignis oder eine sog. Metatilgung. Diese Art und Weise der Ereignistilgung stellt jedoch nur eine von zwei möglichen Varianten der Auflösung von Widersprüchen dar. Modellimmanent kann die Tilgung eines ereignishaften Zustands auch dadurch erfolgen, dass sich die Ontologie an die Ideologie anpasst oder angepasst wird. Man spricht dann in der Grenzüberschreitungstheorie von einer gewöhnlichen Ereignistilgung. Zunächst einmal bestätigt die Grenzüberschreitungstheorie das, was zuvor postuliert wurde: Es geht in »Viva Polonia« nicht um die Aufstellung von Stereotypen, sondern um das genaue Gegenteil dessen. Während die gewöhnliche Ereignistilgung die bestehende Ordnung bestätigt, negiert die Metatilgung die bestehende Ordnung, in diesem Fall ein bestehendes bzw. sich gerade etablierendes Stereotyp. Zum anderen macht die Grenzüberschreitungstheorie aber Titzmann. Passau: Stutz 2011, S. 109ff. Karl N. Renner versucht eine wegweisende formallogische Modellierung des Lotmanschen Modells: Renner, Karl N.: Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich von Kleist und ein Film von George Moorse. Prinzipien einer adäquaten Wiedergabe narrativer Strukturen. München: Fink 1983. Eine konsistente formallogische Modellierung unter Einbezug der modalen (ontischen und deontischen) Logik wurde jüngst von mir vorgelegt: Klimczak, Formale Subtextanalyse. 2015. Empfehlenswert ist aber auch die Lektüre des Originals, obwohl es eher einer Skizze als einer systematischen Darlegung gleicht: Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 1993, S. 300ff.

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nochmals deutlich, warum das Buch ein Beststeller geworden ist: eine höhere Dichte an Ereignissen, eine höhere Erzählspannung wird sich kaum generieren lassen. Dabei weist Möllers »Viva Polonia« nicht alle klassischen Kriterien der Erzählliteratur auf:76 Oftmals sind es keine Figuren resp. Personen, die zu einem Widerspruch führen, sondern, wie gesehen, nur Objekte: z. B. polnische Wörter. Und in nicht wenigen Fällen liegt dem Widerspruch keine Handlung im klassischen Sinn zugrunde, der Umstand also, dass die Figur, zumindest aber das Objekt, eine Merkmalsveränderung vollzieht. Das Objekt wird einfach nur zu einem späteren Zeitpunkt wahrgenommen oder aber nur zu einem späteren Zeitpunkt von ihm erzählt. Eine wirklich ausgeprägte Temporalität der Narration wohnt dem Text von Möller also ebensowenig inne, so dass aus erzähltheoretischer Perspektive eher von einer Inszenierung, einer Simulation von Narrativität bzw. von Erzählspannung die Rede sein müsste. Und dennoch: Nichts anderes wäre konsequenter. Immerhin handelt es sich beim Möllerschen Stereotypenspiel ebenfalls um ein Inszenierung, eine bloße Simulation des Aufstellens von Stereotypen.

76 Vgl. Titzmann, Narrative Strukturen. 2011.

III. Deutschlandbilder in der polnischen Literatur

Monika Wolting (Wrocław)

Eine Gegend wird durch Geschichtenerzählen erschlossen – Zu Olga Tokarczuks »Taghaus Nachthaus«

I.

Einleitung

Zum Thema des Romans »Taghaus Nachthaus« hat sich die Autorin Olga Tokarczuk auf folgende Weise geäußert: »Es sind die Geschichten der Gründer des zeitgenössischen Schlesiens«.1 Wenn Tokarczuks Hinweis zutrifft, dann erscheint es durchaus sinnvoll nach den Geschichten, dem Geschichtenerzählen und insbesondere ihrer Rolle in und für »Taghaus Nachthaus« (pl. 1998, dt. 2001) zu fragen.2 Die Autorin betont, die Gegend um Nowa Ruda (dt. Neurode) bewusst zur Heimat der Figuren gemacht zu haben. Dabei handelt es sich um eine Gestaltungsform, die in der Poetik der Autorin durchaus schon bekannt ist. Denn sie richtet in ihren Texten des öfteren den Fokus der narrativen Arbeit auf das Entwerfen von Figuren, die mit Niederschlesien verbunden sind. Ein früheres Beispiel für ein solches Vorgehen liefert der Roman »E. E.« (1996), in dem Wrocław mit seinem Fluss – der Oder –den Figuren den Handlungsraum liefert.3 Im Weiteren ist es die Region Dolny S´la˛sk (Niederschlesien) mit den Städten Nowa Ruda (Neurode) und Wałbrzych (Waldenburg). Es geht also um das frühere Schlesien, das am Ober- und Mittellauf der Oder liegt und durch die ausgedehnte Schlesische Tiefebene verläuft. Im Süden grenzt Schlesien im Bereich des Gebirges Sudeten an Böhmen und Mähren. Die politische Zugehörigkeit Schlesiens zu verschiedenen Herrschaften wechselte im Laufe der Jahrhunderte. Dabei handelt es sich um ein Gebiet, das unter großmährischer, deutscher, polnischer, böhmischer, österreichischer und preußischer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Gewalt stand. Nowa Ruda – früher Neurode – liegt im

1 Siehe das Gespräch in diesem Band: »Seit diesem Moment hat sich die Welt erneuert, sie ist jetzt für immer anders.« Olga Tokarczuk im Gespräch mit Stephan Wolting. 2 Tokarczuk, Olga: Taghaus Nachthaus. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Stuttgart: DVA 2001. [Original: Dom dzienny, dom nocny. Wałbrzych: Ruta 1999; im Folgenden unter der Sigle »T« mit Seitenzahl im Fließtext.] 3 Tokarczuk, Olga: E. E. Kraków: Wydawnictwo Literackie 1995.

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Süden Schlesiens am Rand des Eulengebirges. Dieser Raum wird nun in Tokarczuks Text zum Ort fiktiver Lebensläufe und Ereignisse. Auffällig an der Struktur des Romans ist der Umstand, dass er sich aus vielen lose oder gar nicht miteinander verbundenen Geschichten zusammensetzt, die in unterschiedlichen historischen Epochen spielen. In der Basiserzählung auf der Gegenwartsebene agiert eine homodiegetische Erzählerin. Diese Grunderzählung wird mehrfach durch Erzählungen unterbrochen, die auf unterschiedlichen Vergangenheitsebenen angesiedelt sind, dabei reicht die Zeitspanne vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt auf der Schilderung der Schicksale in der Zeit um und nach 1945. Diese Geschichten werden von der IchErzählerin präsentiert, die mithin einen auktorialen Status besitzt und Einblick in die Gedanken der Figuren nimmt wie auch über einen großen räumlichzeitlichen Überblick verfügt. Wenn man nach dem »Was« des Erzählens fragt, wird offenbar, dass die Erzählerin in den einzelnen Geschichten die Schicksale mehrerer Figuren, die diesen Raum bewohnen und über Jahrhunderte gestaltet haben, schildert. Dabei handelt es sich um Figuren verschiedener Nationalitäten, es sind Deutsche, Polen, Ukrainer, Tschechen, die zu unterschiedlichen historischen Zeiten Schlesien zu ihrer Heimat gemacht haben oder gezwungen wurden, dort zu leben. Es stellt sich die Frage, welche Funktion die erzählten Geschichten in und für den Roman haben, zumal sie keine fortlaufende ›story‹ ergeben. Die einzelnen Geschichten stehen zunächst zwar jede für sich, werden aber zu einem sinnvollen Ganzen durch die Figur der Ich-Erzählerin, die sie allesamt erzählt, verbunden. Zudem erscheinen verschiedene der Figuren wiederholt in unterschiedlichen Geschichten, die am selben Ort spielen. Die Ich-Erzählerin ist eine junge Frau, vermutlich eine Autorin, die ein Sommerhaus in der Nähe von Nowa Ruda besitzt und es mit ihrem Mann R. seit drei Jahren von den ersten Frühlingstagen bis zu Allerheiligen, also bis zum Ende Oktober, bewohnt. Ihre Beschäftigung besteht aus Schreiben, Lesen, Beobachten und im Garten Arbeiten. Sie unterhält Kontakte zu den dort ansässigen Nachbarn, von denen sie viele der Geschichten hört, die dann (im Roman) von ihr (nach)erzählt werden. Hinzu kommen Erzählungen über Figuren, die in diesem Land in früheren Jahrhunderten gelebt haben. Für die präsentierten Geschichten nutzt die Erzählerin unterschiedliche Quellen, dazu gehört etwa eine Broschüre über die »Heilige Kümmernis«, die sie in Wambierzyce in einem Andenkenladen gekauft hat. Als die Erzählerin nach Nowa Ruda kommt, lernt sie dort Marta kennen, eine alte Frau, die scheinbar ihr ganzes Leben in der Gegend verbracht hat, aber vom ihrem Leben nichts preisgibt. Marta führt eine Existenz, die sehr stark an den Ablauf der Jahreszeiten gebunden scheint, die Ich-Erzählerin meint, sie würde jedes Jahr zum Ende des Herbst in einen Winterschlaf in ihrem Keller fallen und

Zu Olga Tokarczuks »Taghaus Nachthaus«

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erst mit dem Beginn des Frühlings wieder auftauchen. Mit Marta als Figur wie auch mit der Figur des K. sind die meisten Kapitel des Romans verbunden, in denen die Ich-Erzählerin auftritt und ihr tägliches Erleben der Natur schildert oder von ihren Tätigkeiten im Haus, im Garten und ihren Treffen mit Freunden und Nachbarn berichtet. Es ist anzunehmen, dass die Erzählerin viele Geschichten von Marta erfahren hat und sie später dann selbst erzählt. Die Kapitel, in denen die Ich-Erzählerin selbst vorkommt, werden durch separate Darstellungen von Lebenswegen, Schicksalen, Erlebnissen sehr verschiedener Figuren – Menschen, Tieren, Pflanzen – unterbrochen. Zentral im Text sind folgende Geschichten: Es geht um eine adlige schlesische Großgrundbesitzerfamilie, die ein Schloss über Generationen bewohnt und von russischen Truppen aus dem Schloss vertrieben wird. Erzählt wird vom armen Trinker Marek-Marek, von der Bankangestellten Krystyna, die in Nowa Ruda einen ihr im Traum erschienenen Liebhaber sucht, sodann von Peter Dieter, einem Deutschen, der in der Gegend vor 1945 gelebt hat, vertrieben wurde und nach Jahren den Ort seiner Kindheit besucht. Letztlich stirbt er an Herzschwäche in seinem Dorf an der polnischtschechischen Grenze. Auch die Geschichte der Familie Frost, die das Haus der Erzählerin baute und darin glücklich war, letztlich aber auch ein schlimmes Schicksal ertragen muss, wird erzählt. In der Folge ist die Rede von Tunczil, dem Gründer der Stadt Neurode, und von Ergo Sum, einem Soldaten, der im Krieg »Menschenfleisch gegessen hatte« und sich später in einen Werwolf verwandelt. Schließlich geht es um die Familie Bobol, die aus dem Osten nach Schlesien vertrieben wurde, sich einen Sommer lang mit den deutschen Hausbesitzern das neue Haus in Niederschlesien teilt, von der deutschen alten Frau zur ewigen Armut verflucht und in diesem Haus nie heimisch wird. Von Bedeutung ist nolens volens auch die Legende der »Heiligen Kümmernis« und der Lebensweg ihres Verfassers. Der Roman verfügt also – dies wird offenbar – über ein umfangreiches Figurenensemble, wobei die Figuren nicht explizit Handlungsträger sind, sondern in den erzählten Geschichten vorkommen, die einzelnen Episoden zu einem Gesamtgefüge, einem Prosanetz verknüpfen und erst in einem Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen einen Sinn für den Roman ergeben. Etwas ist allen Figuren gemeinsam: Sie alle bewohnen den Raum Schlesien und agieren in ihm, verändern und gestalten ihn. Nachfolgend soll es daher um die Frage gehen, welche Rolle das Erzählen der Geschichten spielt. Die Spezifik der Romanstruktur hängt damit zusammen, dass die Ich-Erzählerin, die sich selbst als fremd in der Region wahrnimmt und auf der Suche nach dem eigenen Ort, ja ihrer eigenen Identität ist, sich langsam an die Region, die Menschen, die Landschaft herantastet, in dem sie Geschichten erzählt, die in dieser Region spielen. Anders gesagt: Die Ich-Erzählerin erschließt sich die Gegend und ihre Menschen durch das Erzählen von Geschichten. Dabei handelt es

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sich bei den erzählten Geschichten keineswegs um große Ereignisse, die an bedeutende Persönlichkeiten anknüpfen, sondern es geht um die sogenannten »kleinen Leute«, die erdulden müssen zum Objekt der gesellschaftlichen Zeitläufte zu werden und wenig Möglichkeiten haben, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Eine Frage lautet: Warum werden diese Geschichten erzählt? Carsten Gansel geht in einem Beitrag der Rolle des »Geschichtenerzählens« in der Evolution des Menschen nach.4 Er stellt unter Bezug auf Eroms heraus, dass das Erzählen zunächst »auf Grundbedürfnisse des Daseins ausgerichtet war«. Beim Erzählen wird »Vergangenes in eine gegenwärtige diskursive Situation eingebracht.«5 Die Funktion des Geschichten-Erzählens sieht Gansel unter Bezug auf evolutionspsychologische Forschungen darin, dass es a) um das Überleben ging, b) das Finden eines Partners, c) das Erlangen von materiellem Wohlstand, d) die Verbesserung des sozialen Status, e) die Aneignung von Bildung und Kultur, f) die Unterstützung von Mitmenschen. Es sind dies wiederum epische Schemata, die sich in Texten wiederfinden. Man kann nun davon ausgehen, dass die erzählten Geschichten in »Taghaus Nachthaus« durchaus vergleichbare Aufgaben erfüllen. In jedem Fall geht es darum, dass die Erzählerin sich mit den erzählten Geschichten ihrer selbst sicher wird. Durch das Erzählen dieser Geschichten stellt sie eine Verbindung zu den Menschen und der Gegend her und macht sich dadurch die Region Niederschlesien zugänglich.

II.

Geschichtenerzählerin

Der Roman setzt in medias res mit der Darstellung eines Traumes der IchErzählerin ein: »In der ersten Nacht hatte ich einen reglosen Traum. In meinem Traum bin ich nichts als ein Blick, ein reines Schauen, ohne Körper, ohne Namen. Ich schwebe… hoch über dem Tal, an einem nicht näher bestimmten Punkt, von dem aus ich alles oder fast alles sehen kann. Ich bewege mich in diesem Zustand des Schauens, bleibe aber an derselben Stelle. Oder besser gesagt, die Welt ergibt sich mir, sodass ich entweder alles auf einmal oder nur die kleinsten Einzelheiten sehen kann« (T, 7).

Die Erzählerin erinnert sich an die erste Nacht im neuen Sommerhaus in der Nähe von Nowa Ruda. Dabei kommt es in der Beschreibung des Traums zum Wechsel der Zeitebene, indem nach dem einleitenden Satz, der im Präteritum steht, in den Präsens gewechselt wird. Es geht zunächst um Empfindungen des 4 Gansel, Carsten: Story Telling – Geschichten Erzählen in evolutionstheoretischer Perspektive. In: Reuß, Georg Peter; Krauße, Markus (Hrsg.): Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen. Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 268–298. 5 Ebd., S. 279.

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Ichs, das sich körper- und namenlos vorkommt und sich in einer fortdauernden Bewegung im Raum befindet: »Ich sehe also das Tal, in dem das Haus steht. Es steht mitten in dem Tal aber es ist weder mein Haus noch mein Tal, mir gehört gar nichts, denn ich selber gehöre mir nicht, so etwas wie Ich existiert überhaupt nicht. Ich sehe die Linie des Horizonts, der das Tal von allen Seiten wie ein Ring umschließt. Ich sehe den aufgewühlten, trüben Bach, der zwischen den Hügeln fließt. Ich sehe die Bäume, die mit ihren mächtigen Beinen in der Erde verwurzelt sind. […] Wenn ich will, kann ich den Schein durchschauen. […] Unter den Dächern sehe ich schlafende Menschen […] ihre Herzen klopfen leise, ihr Blut rauscht, selbst ihre Träume sind nicht wirklich, denn ich sehe, was sie sind: pulsierende Fragmente von Bildern« (T, 7).

Fragt man nach der Charakteristik der Erzählerin, nach dem was sie von sich selbst preisgibt, dann ist erkennbar, dass es sich um eine sensible, eher unsichere Persönlichkeit handelt. Denn sie notiert: »mir gehört gar nichts, denn ich selber gehöre mir nicht, so etwas wie Ich existiert überhaupt nicht«. Eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf ihre momentane Lebenssituation ist also nicht zu übersehen. Dies hat Folgen für den Erzählfortgang und auch für die Erzählstruktur. Die Ich-Erzählerin betrachtet im Traum sehr genau die Landschaft, die sich vor ihr öffnet, sie bemerkt Menschen und andere Lebewesen, interessiert sich für Objekte der Natur, hat Einblick in die Träume der Schlafenden. Im und mit dem Traum wird also bereits ein Grundton des Textes angeschlagen, der gleichsam eine Besonderheit der Erzählerin ist. Sie nähert sich der Region wie der Landschaft durch Bilder, die wiederum in der Landschaft verankert sind.

III.

Geschichten

Die erzählten Geschichten haben eine bestimmte Funktion bzw. erfüllen eine über das Erzählte hinausgehende Aufgabe. Die Ich-Erzählerin verknüpft in ihren Geschichten Menschen, Ereignisse, Gegenstände über die Zeiten und über die einzelnen Erzählungen hinweg. Sie entwirft ein Prosanetz, in dem einzelne, wiederkehrende Motive verbindend wirken und einen Verweisungscharakter erhalten. In der Welt der Erzählerin gelangen die vermeintlich verschwundenen Gegenstände wieder an ihre Plätze, sie wechseln ihre Besitzer, werden erneut gebraucht und es wird mit ihnen von der Vergangenheit erzählt. Diese Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit scheint exemplarisch auf am DKWWagen, der im Roman in zwei voneinander unabhängigen Geschichten vorkommt. Zunächst wird der DKW auf der Gegenwartsebene von der Ich-Erzählerin im Wald gefunden, verrostet, mit Waldgrün überwuchert und mit Pilzen bewachsen. Der Fund des DKW wird von der Erzählerin wie folgt beschrieben:

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»Im Wald fanden wir ein Auto. Es war so verborgen, dass wir ohne es zu merken auf seine lange, mit Fichtennadel bedeckte Kühlerhaube traten. Auf dem Vordersitz wuchs eine Birke, um das Steuerrad wanden sich Efeuranken. R. sagte, das sei ein DKW, er versteht etwas von Autos. Die Karosserie war völlig verrostet und die Räder waren zur Hälfte im mulchigen Waldboden versunken. Als ich versuchte die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen, behielt ich die Klinke in der Hand. Auf dem Lederpolster wuchsen gelbe Pilze und bildeten regelrechte Kaskaden bis hinunter auf den löchrigen Boden. Wir erzählten niemandem von dem Fund« (T, 34).

Die Ich-Erzählerin beschreibt den Zustand des alten DKW, der schon Jahrzehnte im Wald liegen muss – anders ist sein Zustand nicht zu erklären. Allerdings bleibt es bei dieser Beschreibung, denn zu diesem Zeitpunkt werden keine Informationen zur Herkunft des Autos vermeldet, die Ich-Erzählerin reflektiert auch nicht darüber, seit wann der DKW im Wald liegen mag. Die Ich-Erzählerin schildert den Zustand des Wagens, beschreibt den Fundort wie auch ihren misslungenen Versuch, den Wagen zu öffnen. In weiteren Verlauf wird dann allerdings die Geschichte des Autos und seiner Besitzer gewissermaßen nachgeliefert. Die Erzählerin verortet nunmehr das Fahrzeug unter dem Titel »Das Schloss« in seiner eigenen Historie. Auf diese Weise werden gewissermaßen archäologisch verschiedene Zeitebenen freigelegt. Während sich in der ersten Notiz zum DKW (DKW I) keine weiteren Erläuterungen finden, wird beim zweiten Auftauchen des DKW (DKW II) in groben Umrissen die Geschichte der in Schlesien ansässigen Familie von Goetzen mitgeteilt und vom Tag der Flucht der Familie aus Schlesien nach Bayern vor den anrückenden sowjetischen Truppen berichtet. Dabei stützt sich die Ich-Erzählerin auf historische Überlieferungen zur Familie von Götzen – einem Adelsgeschlecht, das seit dem 17. Jahrhundert im Glatzerraum beheimatet war. Hier nun wird eine detaillierte Beschreibung des neuen Autos gegeben: »[…] der Apotheker erbot sich, ihm [dem Herrn von Goetzen – M. W.] sein Auto zu leihen, einen schwarzen, wendigen DKW mit glänzenden Kotflügeln und einem Steuerrad, das so selten benutzt worden war, dass es noch die Spuren des Schutzpapiers von der Fabrik trug. Die Ledersitze hatten sich noch nicht einmal an den Körper des Besitzers gewöhnen können. ›Aber nein, das ist ein neues Auto. Das kann ich auch nicht als Leihgabe annehmen!‹ ›Bitte, machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden ihn mir ja zurückgeben.‹ […] Als er zum Schloss zurückkehrte, sah er schon von der Anhöhe, dass Militärfahrzeuge auf dem Hof standen. Er konnte sich denken, dass die Soldaten ihm das Auto abnehmen würden, sobald er damit auftauchte. […] Von Goetzen löste die Handbremse und schob das Auto in das Wäldchen« (T, 217).

Das »Steuerrad, um das sich Efeuranken wanden« (DKW I) wird zum »Steuerrad, das so selten benutzt worden war, dass es noch die Spuren des Schutzpapiers von der Fabrik trug« (DKW II), »die [völlig verrostete] Karosserie« (DKW I) wird zu einem »wendigen DKW mit glänzenden Kotflügeln« (DKW II) und die »Leder-

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polster, [auf denen] gelbe Pilze [wuchsen] und regelrechte Kaskaden bis hinunter auf den löchrigen Boden« [bildeten] (DKW I), werden zu »Ledersitzen, die sich noch nicht einmal an den Körper des Besitzers [hatten] gewöhnen können« (DKWII). Die Zeit wird von der Ich-Erzählerin am Beispiel dieses Wagens zurückgedreht, sie agiert auf der Vergangenheitsebene und erzählt die Geschichte bis zu jenem Punkt, da das Auto im Wald verschwindet. – Es ist der Apotheker des Ortes, der von Goetzen den DKW leiht, weil er sich entschlossen hat, nicht zu flüchten und trotz der anrückenden Russen ausharrt. Die Familie von Götzen besitzt statt dessen ein Anwesen in Bayern, und dieser Besitz macht ihnen die Flucht möglich. Allerdings, als Herr von Goetzen zum Schloss gelangt, sieht er, dass es inzwischen für eine selbstorganisierte Flucht zu spät ist, und ist davon überzeugt, dass er mit dem Wagen keine Chance hat, den Hof zu erreichen. Er versteckt ihn dementsprechend im Wald. »Die von Götzen saßen in Autos und einem Lastwagen. An die Brust gedrückt hielten sie ihre wertvollen Uhren, Spieldosen, Schmuckschatullen, Porzellansaucieren, wie man sie nirgends mehr herstellte, ihre Fotoalben, Dahlien- und Anemonenzwiebel […]. Ein weiterer Lastwagen hatte die kostbarsten Möbel, Spiegel und Bücher geladen. […] In Wolken aus Staub und Benzin zog die Karawane los, bergauf in Richtung Waldenburg« (T, 218).

Mit der zweiten Geschichte wird in den Krieg geführt, wobei keine historischen Exkurse notwendig werden. Es wird pars pro toto über die von Goetzens eine Geschichte vermittelt, die sich in dieser Weise tausendfach in der Region abgespielt hat: die Vertreibung der Bevölkerung, der Verlust von Heimat, der Verfall der Hinterlassenschaft früherer Besitzer. Gleichwohl wird offenbar, wie von Goetzen sich trotz der chaotischen Zustände einen Sinn für Ästhetik bewahrt hat. Zumindest versetzt sich die Erzählerin in den Adligen, doch woher sie diese Kenntnis hat, bleibt offen. Und es kann nur vermutet werden, dass hier die Schriftstellerin agiert, die den realen von Goetzen zur literarischen Figur macht und die die Macht besitzt, sein Denken und Fühlen zu erfassen: »Sein Schwarz [des Wagens – M. W.] verschmolz alchemisch mit dem Schwarz des Waldbodens und der Borke. Der glänzende Lack und die Scheiben spiegelten den Wald wieder und bedeckten damit die Karosserie mit einem Tarnkleid aus Bildern von Himmel und Erde. Von Goetzes hochentwickelter Sinn für Ästhetik ließ das Blut in seinen Adern schneller fließen. Wie schön das ist, dachte von Goetzen. Wie schön die Welt doch ist, trotz allem, was man über sie sagt« (T, 217 f).

Die Sympathie der Erzählerin liegt eindeutig auf der Seite des Grafen von Götzen, insofern er als eine ehrenvolle, künstlerisch begnadete Figur konzipiert wird. Kontrastiv zu ihm werden die Russen charakterisiert, die mit ihrer Ankunft die »alte« Welt zunächst bedrohen und das Auto als Statussymbol wie als ein Objekt der Ästhetik gefährden. Mit ihrer Art und Weise der Darstellung wird die Le-

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bensart und Lebensweise der Figur von Goetzen letztlich zustimmend bewertet, und der Wald mit seinem Versteck hilft ihm, seine Ehre zu wahren. Er bricht nicht das Versprechen, das er dem Apotheker gegeben hat und bemüht sich, das Schöne und Wertvolle zu erhalten. Die Erzählerin greift mehrfach das Thema der deutschen Vergangenheit der niederschlesischen Region in ihren Geschichten auf. Dabei reicht die Vergangenheit in die Gegenwart der Figuren hinein. Dies zeigt sich einmal mehr an der Figur des Peter Dieter, der ein Vertriebener aus Niederschlesien ist und sich nach Jahrzehnten mit seiner Frau Erika auf den Weg macht, um seinen Geburts- und Wohnort noch einmal zu sehen. Das Ehepaar besucht zuerst die Stadt Wrocław, die von Peter Dieter zu seiner eigenen Verwunderung sofort wiedererkannt wird. Ihm fällt lediglich ihre graue Schattierung auf und dass die Stadt viel kleiner wirkt als in seiner Erinnerung: »Ihm kam alles nur kleiner und dunkler vor, als steckten sie im Inneren einer Fotografie« (T, 104). Die »Tricks der Erinnerung« haben das frühere Breslau für ihn opulenter erscheinen lassen. Am nächsten Tag brechen Dieter und seine Frau zuerst nach Krummhübel (Karpacz) und Schreiberhau (Szklarska Pore˛ba) auf, um dann nach Neurode (Nowa Ruda), Glatz (Kłodzko) und Einsiedel (Pietno) zu reisen. Als sie in die Nähe von Pietno kommen, befremden Peter Dieter die Überreste der Dorfes, das in seiner Erinnerung viel größer war: »Das Traurigste an diesem Tag war, daß Peter sein Dorf nicht wiedererkannte. Es war zu einem Weiler geschrumpft, es fehlten Häuser, Höfe, Wege und Stege. Nur ein Skelett war übrig« (T, 105).

Peter Dieter erkennt sein Dorf nicht wieder, was ihn wehmütig stimmt. Das Dorf seiner Vergangenheit gibt es nicht mehr. In die interne Fokalisierung wechselnd, wird Peters Gefühl von Trauer erfasst, ja das Ereignis als »das Traurigste« bewertet. Aber er spricht mit seiner Frau über diese Empfindungen nicht. Sie erwartet statt dessen ein ihr bekanntes Zeichen der Rührung in seinem Gesicht: »feuchte Augen«, »zitterndes Kinn«. Aber sein Gesicht zeigt keine Regung: »Er machte ein Gesicht wie vor dem Fernseher« (T, 106). Während die Frau nichts bemerkt, weiß die Erzählerin genau, was in Peter Dieter vorgeht: »Er sah seine Berge als einen von Dunst umwobenen verschwimmenden Umriss am Horizont. Er sog die Luft durch die Nase ein. Erst der Geruch, und nicht der Anblick, löste eine Lawine von Bildern aus, überbelichtete, unscharfe Bilder, abgerissene Filme ohne Ton, ohne Pointe, ohne Fabel. […] Er atmete auch hier tief die Gerüche des Ortes ein, und wieder setzte das diesen seltsamen Film der Vergangenheit in Gang. Und dann wurde ihm klar, dass er diesen Film von nun an überall würde abspulen können […] denn das, was die Augen jetzt sahen, käme ihm dabei nicht mehr in die Quere« (T, 105 f).

Offensichtlich wird aus der Sicht von Peter Dieter erzählt, ja es erfolgt ein Wechsel des point of view. Offenbar wird, auf welche Weise Peter Dieter die Gegend

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wahrnimmt und wie die Erinnerungen einsetzen. Die Berge sind für ihn nach wie vor »seine Berge«, das Heimatgefühlt ist auch nach Jahrzehnten nicht verschüttet. Den Anstoß für das längst Vergessene, aber auch das immer Vermisste geben die Gerüche des Ortes, nicht die Bilder, die sich ihm bieten. Der unverwechselbare Geruch der Heimat setzt in Peter Dieter die Erinnerungen frei, die vor seinem inneren Auge wie ein Film ablaufen. Dabei schaltet er die stattgefundenen Veränderungen aus und greift auf sein Speichergedächtnis zurück. Peter Dieter geht schließlich allein weiter ins Gebirge, seine Frau wartet im Auto. Schon zu Anfang der Erzählung markiert die Erzählerin, dass die Figur unter gesundheitlichen Problemen leidet, denn es ist in der internen Fokalisierung die Rede vom »pochenden Herzen«. Die Erregung Peters, die er während der Reise unterdrückt, wird schließlich während der Näherung an seinen Heimatort immer größer. Er ist von seinen Eindrücken und Erinnerungen so überwältigt, dass er seinen kritischen Gesundheitszustand nicht bemerkt, bis sein Herz versagt. Peter Dieter stirbt an der polnisch-tschechischen Grenze. Die tschechische Bergwacht, die ihn findet, will jedoch den Fund der Leiche nicht melden, die Männer verlegen den Toten auf die polnische Seite. Auch die polnische Bergwacht, die kurz darauf eintrifft, wiederholt die Prozedur, die Leiche von Peter Dieter wird auf die tschechische Seite geschafft. Die Erzählerin kommentiert Peters Tod geradezu symbolisch: »Und so blieb Peter Dieter sein Tod in Erinnerung, bevor seine Seele ganz verschwand – als mechanische Bewegung zur einen und zur anderen Seite, als Balanceakt auf einer Kante, das Verharren auf einer Brücke« (T, 109).

Peter bleibt auch im Tod das, was er in den letzten Jahrzehnten gewesen ist, eine Person, die nicht ankommen kann. Wie stark der Verlust von Heimat das spätere Dasein bestimmt, wird offensichtlich, wenn der point of view wechselt und im inneren Monolog Peters Frau eine Stimme erhält: »Peter wollte sein Dorf wiedersehen, und Erika wollte Peter sehen, wie er sein Dorf betrachtete. Sie dachte, dann verstünde sie endlich den ganzen Peter, vom Anfang bis zum Ende, seine lakonischen Antworte, die Neigung dazu, Entscheidungen plötzlich umzustoßen […] Patiencen zu legen und Zeit für solche Dummheiten zu verschwenden […] und all dieses Fremde, das immer in ihm gewesen war […]« (T, 105).

Erika markiert einmal mehr die Folgen des Heimatverlustes für Peter. Dass er sein ganzes Leben lang alle neuen Eindrücke an »seiner« Landschaft gemessen hat, wird von der Erzählerin bestätigend hervorgehoben: »Alle Berge der Welt hatte er immer mit diesen Bergen verglichen, und keine hatte er so schön gefunden. Sie waren entweder zu groß und gewaltig oder zu unscheinbar. Oder zu wild, zu dunkel, zu bewaldet wie der Schwarzwald oder zu besiedelt, zu gezähmt und hell wie die Pyrenäen« (T, 107).

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Der Verlust von Heimat hat – so die Konsequenz – Peter teilweise daran gehindert, sich für Neues zu öffnen. In der Erinnerung werden die Orte der Heimat daher mit Bedeutung aufgeladen. Während der Reise werden sie bei Peter Dieter, der »die Landschaft immer in sich trug«, angesichts des Wiedersehens erneut wach. Die Erzählerin lässt Erika zweimal denselben Satz sagen: »Wir sind zu spät gekommen« (T, 104, 106). Damit wird Erikas Befürchtung markiert, dass zu viel Zeit vergangen und das Geschehene dennoch nicht wieder gut zu machen ist, weder in seinem noch in ihrem Leben. Die Erlebnisse haben sich zu tief in die Persönlichkeit eingegraben, sie sind irreversibel und es besteht keine Chance mehr, durch ein erneutes Sehen die Erinnerung zu korrigieren und sie in eine positive Lebenserzählung umzuwandeln. Peter Dieters Herz verkraftet das Wiedersehen mit der heimatlichen Landschaft nicht, seine Überwältigung ist zu groß und die Lebensuhr abgelaufen, er stirbt. Dass er dann an der Grenze hin- und hergeschleppt wird, erscheint einerseits makaber, andererseits offenbart dies seine ein ganzes Leben lang andauernde Zerrissenheit. Als Vertriebener findet er keinen Ort für sich, weder im Leben noch im Tod. Kein Landstrich, kein Dorf, keine Stadt wird ihm, der früh die Heimat verloren hat, zur Heimatstatt werden. Selbst im Moment des Todes bleibt er heimatlos. Das Vertriebensein ist ein Schicksal, das Peter Dieter sein ganzes Leben lang begleitet und über den Tod hinaus existiert. Die Erzählerin verzichtet dabei auf Kommentierungen und präsentiert einzig die Geschichte, sie liefert keine geschichtlichen Daten und klammert die »große Geschichte« aus. Betrachtet man den Text als Ganzes, dann zeigt sich, wie die Erzählerin eine Art Geschichtennetz knüpft, das durch die Verbindung der Themen, Gegenstände, Motive und Figuren entsteht. In der Erzählung »Die Deutschen«, die der Lebensgeschichte von Peter Dieter vorangestellt ist, wird gewissermaßen im Kontrast zur »Peter-Dieter-Geschichte« eine Außensicht auf die Deutschen geliefert. Die Erzählerin berichtet, wie die Bewohner der Gegend um Nowa Ruda und sie selbst die Deutschen wahrnehmen. Auf den ersten Blick fällt die Diskrepanz der beiden Titel »Die Deutschen« und »Peter Dieter« auf, denn während die erste Geschichte auf eine kollektive Bezeichnung verweist, wird mit Peter Dieter ein persönlicher Zugang erkennbar. »Die Deutschen« erhalten eine Individualität und eine gewisse Stereotypisierung wird relativiert, indem ein persönliches Schicksal erzählt wird und die Chance besteht, unter die vermeintliche selbstsichere Schicht zu stoßen. Natürlich ist Peter Dieter »ein Deutscher«, aber indem hinter die äußere Fassade geschaut wird und seine lebenslange Trauer und sein Wehmut erkennbar werden, wird das Stereotyp in Frage gestellt. Anders als »die Deutschen«, die als Gruppe betrachtet und durch äußere Merkmale, wie »weiße und saubere Schuhe«, »weißhaarige Köpfe« (T, 102) oder die Deutsche Mark, charakterisiert werden, erhält Peter Dieter ein persönliches Gesicht und eine Individualität. Damit wird die Distanz gegenüber den Deutschen, wie sie die

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erste Geschichte vermittelt, aufgebrochen. Selbst wenn sie von den polnischen Bewohnern nett und freundlich empfangen werden, bleibt eine stark markierte Distanz zwischen den Gästen und den Gastgebern bestehen: »Gelegentlich bewirteten wir sie mit Tee und Keksen. Sie machten sich nie auf den Stühlen bequem und baten nie um eine zweite Tasse. Sie tranken ihren Tee und gingen wieder« (T, 102).

Die Polen verstehen nicht, warum die Deutschen nach Niederschlesien kommen, und entsprechend fragen sie sich: »Warum fotografieren sie nicht die neue Haltestelle oder das neue Dach anstatt dieser leeren Stätten, an denen nur Gras wuchs« (T, 102). Dass dies mit dem Verlust von Heimat zu tun hat, vermögen die Bewohner nicht zu erkennen. Auch die Ich-Erzählerin entwickelt Distanz, ja sie ist zunächst empört, als sie hört, dass die Familie Frost versichert, dass sie keine Ansprüche an das inzwischen sich in ihrem Besitz befindliche Haus stellen wird: »Sie sagten uns beruhigend, die Familie Frost erhebe keine Ansprüche mehr auf unser Haus. ›Warum sollte jemand auf unser Haus Ansprüche erheben?‹ fragte ich Marta empört. Und sie antwortete: ›Weil er es gebaut hat.‹« (T, 103).

Es verwundert die Ich-Erzählerin, dass jemand einen Anspruch auf ihr Haus stellen könnte. Mit dem kurzen Hinweis von Marta, das der Anspruch deshalb bestehe, »weil er es gebaut hat«, wird nüchtern Erinnerung reaktiviert und das Gedächtnis der Region bewahrt. Die Ich-Erzählerin sieht, wie die Gegenwart Spuren der Vergangenheit in sich trägt. Durch die nachfolgende Erzählung »Peter Dieter« kommuniziert sie die Vergangenheit durch das Erzählen der Lebensgeschichte von Peter Dieter. Sie sucht letztlich einen Zugang zum Schicksal der Vertriebenen und ihrer Angehörigen. An keiner Stelle ist nunmehr von »den Deutschen« die Rede, sie erhalten einen eigenen Namen und werden zu Personen mit einem Gesicht und einer Geschichte. Dass die Erzählerin in gewisser Weise Empathie entwickelt, zeigt sich narratologisch allein darin, dass in die interne Fokalisierung gewechselt wird und die Erzählerin aus der Sicht ihrer Figuren erzählt. Wenn vom Geschichtennetz die Rede ist, dann bedeutet dies, dass eben keineswegs nur Geschichten präsentiert werden, die die Historie betreffen oder vom Verhältnis der Deutschen und der Polen in Niederschlesien erzählen. Die Mehrzahl der Erzählungen ist auf Figuren ausgerichtet, die das gegenwärtige Schlesien bewohnen und der Erzählerin bekannt sind. Dies etwa ist der Fall bei der Geschichte von »Marek Marek«. Wie der Titel bereits signalisiert, handelt es sich um eine Annäherung an eine männliche Figur, nämlich Marek Marek. Das erste Mal kommt Marek Marek auf der Gegenwartsebene in der Geschichte »Soundso« vor. Soundso – ein Nachbar der Ich-Erzählerin – berichtet zum

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wiederholten Mal über seine traumatischen Erlebnisse, nachdem er Marek Marek erhängt durch den Türspalt sah und der ihm dann Nacht für Nacht im Traum erschienen sei. Soundso leitet seine Schilderung der Geschehnisse mit der Frage ein: »Warum wir [die Ich-Erzählerin und ihr Mann – M. W.] nicht zu Marek Mareks Beerdigung gekommen waren?« (T, 14) Offensichtlich ist der Verstorbene der Ich-Erzählerin persönlich bekannt gewesen, und die Dorfgemeinschaft hat erwartet, dass die Erzählerin und ihr Mann R. zur Beerdigung kommen. Die Erzählerin äußert sich nicht direkt zu ihrer Beziehung zu Marek Marek, sondern konstatiert relativ beteiligungslos: »Wir hatten nicht kommen können, weil es im Januar war. Wir waren einfach nicht imstande gewesen, zur Beerdigung zu kommen. Es schneite, die Autos sprangen nicht an, die Akkus röchelten nur« (T, 14).

Zu Marek Marek formuliert sie nur einen lakonischen Satz: »Marek Marek wohnte in einem Haus mit Blechdach« (T, 14). Mehr weiß die Ich-Erzählerin über ihren Nachbarn zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht. Zwei Kapitel weiter wird dann aber ausführlich die Lebensgeschichte von Marek Marek skizziert: »Es war etwas Schönes an diesem Kind – das sagten alle. Marek Marek hatte fast weiße Haare und ein engelsgleiches Gesicht. Die älteren Schwestern hatten ihn sehr lieb. Sie fuhren ihn in einem von den Deutschen zurückgelassenen Kinderwagen über die steilen Wege in den Bergen und spielten mit ihm wie mit einer Puppe. Die Mutter wollte nicht aufhören, ihn zu stillen« (T, 19).6

Das ist der Anfang des Lebensweges einer Figur. Die behütete Kindheit in der Obhut der Frauen dauert nicht lange, Marek Marek wird regelmäßig von seinem trinkenden Vater geschlagen. Seit dem fünften Lebensjahr versteckt er sich vor seinem Peiniger im Keller des Hauses und im Wald und verbringt die Nächte im Freien. Bereits als Jugendlicher fängt er zu trinken an: »Mit fünfzehn Jahren betrank er sich zum ersten Mal« (T, 20). Im Alter von zwanzig Jahren lernt er, sich gegen den Vater zu wehren. In dieser Zeit entdeckt er für sich auch den Lyriker und Liedermacher Edward Stachura, so dass er seine Zeit von nun an mit Alkoholkonsum und Lyrik zubringt. Nach einer misslungenen Entgiftungskur verfolgen Marek Marek Suizidgedanken. Er spürt in seinem Inneren ein fremdes Wesen, das er als einen stets unermüdlichen, grausamen Vogel wahrnimmt. Von diesem Unruhezustand kann er sich nur durch Trinken befreien: »Er trank, und ihm, gefiel dieser Zustand, wenn ihn die Beine von selbst über die Berge trugen und sein ganzes Inneres und damit auch der Schmerz in seinem Inneren aus6 Die dargebotene Übersetzung dieser Textstelle weicht von der Übersetzung von Esther Kinsky ab. In der offiziellen Übersetzung lautet der eröffnende Satz: »Es war irgendwie ein schönes Kind – das sagten alle.« Aus der Sicht der Verfasserin dieses Beitrags schränkt diese Übersetzung die Interpretationsmöglichkeiten deutlich ein.

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geschaltet waren« (T, 21). Sein Leid – sein innerer Schmerz – übersteigt jedoch an einem Tag seine physischen und psychischen Kräfte und er begeht Selbstmord. Mittels der Nullfokalisierung, also über die sogenannte Übersicht, wird der Lebensweg von Marek Marek erzählt, wobei die Erzählerin die Gedanken und Gefühle der Figur kennt. Zunächst wird Marek Marek als ein sensibler, empfindsamer, zarter Junge eingeführt und es heisst: »Es war etwas Schönes an diesem Kind«, weswegen er von den Mitmenschen geliebt wird. Zunächst verbringt Marek Marek eine behütete Kindheit in der Obhut seiner Mutter und Schwestern, die ihn wegen seiner Schönheit und Zartheit lieben. Einzig sein Vater schlägt ihn. Die Erzählerin kennt den Grund für das Verhalten des Vaters nicht. In seiner Verlassenheit spürt Marek Marek – die Erzählerin wechselt fast in die interne Fokalisierung –, dass der Schmerz aber nicht von Außen, sondern von Innen kommt: »Der Schmerz entstand aus sich heraus, und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen morgens die Sonne aufging und nachts die Sterne am Himmel erschienen. Es schmerzte. Er wusste noch nicht, was es war, aber manchmal kam es ihm vor, als erinnere er sich an ein warmes, heißes Licht, das die ganze Welt zum Schmelzen bringt« (T, 20).

Die Nähe zur erzählten Figur bleibt im Fortlauf der präsentierten Geschichte erhalten. Die Erzählerin sucht die Gedanken von Marek Marek genau wiederzugeben, auktoriale Kommentierungen finden sich kaum noch. Der in der Kindheit erlittene Schmerz bringt ihn zu der Überzeugung, das sein Inneres von einem grausamen Vogel bewohnt wird. Auch hier rückt die Erzählerin dicht an die Figur heran und nimmt fast schon seine Perspektive ein: »Er hatte einen Vogel in sich sitzen, das fühlte er. Aber es war ein seltsames, unkörperliches, unnennbares Vogelvieh, das im übrigen auch nicht vogelhafter war als er selbst. […] Er hasste dieses Wesen in ihm, denn er bereitete ihm so viel Schmerz. Ohne ihn hätte er in aller Ruhe trinken, vor dem Haus sitzen und den Berg betrachten können. […] Dieses Vogelvieh musste Flügel haben. Manchmal schlug es blindlings damit in seinem Inneren, angekettet flatterte es, doch Marek Marek wusste, dass seine Füße gebunden, ja vielleicht sogar an etwas Schweres geschmiedet waren, denn es konnte niemals weg fliegen« (T, 23).7

Sehr plastisch werden die Marek Marek heimsuchenden Albträume erfasst: »[Das Vogelvieh] schrie und flatterte aufgeregt. Marek Marek wachte in der Nacht auf, hörte diesen Schrei in sich drin, einen schrecklichen, höllischen Schrei. Er setzte sich im Bett auf und hatte Angst. […] Das Kopfkissen stank nach Feuchtigkeit und Erbrochenem. Er stand auf und suchte etwas zum Trinken. […] Es war zu früh, um ins

7 Auch an dieser Textstelle wurde das polnische Wort »ptaszysko« von der Verfasserin dieses Beitrags anders als in der Übersetzung von Ester Kinsky (»Vögelchen«) übersetzt. Im Polnischen handelt es sich um ein Augmentativ des Substantivs »Vogel«.

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Geschäft zu gehen. Es war zu früh, um zu leben, deshalb ging er nur im Zimmer auf und ab und starb vor sich hin« (T, 25).

Durch eine auf diese Weise entwickelte narrative Nähe entsteht das Bild einer gequälten Figur, deren Leben vom existenziellen Leid und Schmerz geprägt wird, die keine Hilfe von außen zu erwarten hat und sich selbst auch nicht befreien kann. Marek Marek balanciert zwischen Leben und Tod, Angst, Traurigkeit, Schmerz und Leid machen sein Leben aus. Das ursprüngliche Bild von Marek Marek, der zunächst von Soundso« als Alkoholiker abgewertet wird, wird – wie bei der Geschichte von »den Deutschen« und »Peter Dieter« – korrigiert, indem ein Lebensschicksal erzählt und die oberflächliche Sicht von Außen durch den Versuch ersetzt wird, an den Kern der Figur zu kommen und die Ursachen für ihr Verhalten zu ergründen. Dies geschieht über den Wechsel von der Nullfokalisierung zur internen Fokalisierung. Durch diesen Wechsel verändert sich das Bild der Figur. Marek Marek wird zu einer Figur, die vermeintlich gegen einen »flatternden Vogel« in seinem Innersten ankämpft und den Kampf letztlich verliert, er geht zugrunde. Die Geschichte von Marek Marek ist ein Beispiel dafür, auf welche Weise die Erzählerin in ihren Figuren nach existenziellen Erfahrungen, nach Grundgefühlen, nach Basisemotionen sucht, um ihnen näherzukommen. Gefragt wird nach der Sinnhaftigkeit des Daseins. Ohne explizit darauf einzugehen, zeigt sich einmal mehr, wie wichtig es ist, vom Einzelnen nicht nur das wahrzunehmen, was Andere von ihm vermitteln. Dass dies Stereotype und oberflächliche Einschätzungen sein können, das zeigen die Geschichten, die darauf aus sind, hinter die äußere Schicht zu kommen und wie ein Archäologe behutsam das unter der Oberfläche Liegende zu entdecken.

Halina Ludorowska (Lublin)

Das Bild des Deutschen nach 1990 – Zu Andrzej Ziemilskis »Dobry Niemiec« (Der gute Deutsche, 1997)

Das Bild des Deutschen und des deutschen Kulturguts in der polnischen Literatur wird zumeist als von äußeren, außerliterarischen (historischen) Faktoren abhängig gezeigt und durch verschiedene Herangehensweisen charakterisiert. In der linguistischen Sphäre kreist es um bekannte und weniger bekannte Stereotype, Vorurteile und Redensarten. Die autobiographische Forschung zeigt Einzelfälle und sucht nach ihrer Klärung auch innerhalb des kollektiven Gedächtnisses. Die Literatursoziologie berücksichtigt grundsätzlich Modernisierungsprozesse und stützt das Bild des gepflegten und zivilisationsfortgeschrittenen Westens gegenüber dem »wilden Osten«. In diesem Beitrag soll zunächst das Bild des Deutschen in den Erinnerungen des Lemberger Autors Andrzej Ziemilski aus der Perspektive des zivilen Zeitzeugen der Kriegszeit im polnischen Ostgebiet und des Widerstandskämpfers der Heimatarmee untersucht werden. Dabei geht es um das Erzählen aus der 1990er Jahre, wobei freilich historisch bedingte Topoi wie Heimatverlust oder Zwangsaussiedlung eine Rolle spielen. Andrzej Ziemilski (1923–2003) war der Sohn eines Lemberger Arztes und Schwiegersohn des Grafen Wojciech Dzieduszycki, eines Umsiedlers aus Ostpolen. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Soziologie und beschäftigte sich beruflich mit der Soziologie des Sports. Nebenbei war er Schriftsteller und Publizist. Ziemilski bezeichnet sein Erinnerungsbuch »Dobry Niemiec. Opowiadania prawdziwe«1 (Der gute Deutsche. Wahre Geschichten, 1997) vorwiegend als »Lebensszenen«, obwohl das Buch im Grunde genommen verschiedenartige autobiographische Formen nutzt.

1 Ziemilski, Andrzej: Dobry Niemiec. Opowiadania prawdziwe [Der gute Deutsche. Wahre Geschichten]. Warszawa: Czytelnik 1997, S. 7. [Übersetzungen aus dem Polnischen, wenn nicht anders angemerkt, stammen von der Verfasserin; im Folgenden unter der Sigle »DGD« mit Seitenzahl im Fließtext.]

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Das Motto, es stammt aus dem Tagebuch des polnischen Schriftstellers der frühen Nachkriegszeit, Jerzy Andrzejewski, »Z dnia na dzien´« (Von Tag zu Tag), akzentuiert zwei Motive: den Mut und den Überlebenswillen als Lebensdevise für die damalige Zeit. Somit schickt der Autor die erwünschte Lesart voraus, wobei der Text mehrfach mit Originalquellen arbeitet und auf diese Weise das Dargestellte durch gründliche Recherchen beglaubigt wird. Im Vorwort erläutert er seine Schreibmethode und sein Schreibziel: »Diese meine Stimme zu polnisch-deutschen Themen ist nicht nur eine Gedächtnisübung. Ich rekonstruiere hier authentische Vorgänge: ernste und nichtige, fremde und eigene. Einige waren für mich damals wichtig, weil sie mit Nachdenken und nach Jahren oft mit einer Revision der Meinungen resultierten. Die anderen blieben im Gedächtnis nur als liebe oder traurige Anekdote. Einige hier beschriebene Ereignisse haben (im Laufe des Krieges und gleich danach) mein Schicksal beeinflusst, wahrheitsgetreu gesagt – ohne dramatische Folgen. Verschiedene Sachen habe ich ziemlich spät begriffen. All das, das Wichtige und Groteske, rekonstruiere ich heute aus Distanz, nicht nur aus zeitlicher Distanz. Momentan – auch mit einer gewissen Rührung, manchmal mit Lächeln« (DGD, 7).

Diese Aussagen lassen sich an einigen theoretischen Grundlagen der Gedächtnisforschung überprüfen. Aleida Assmann verbindet die eigenen Erinnerungen eines Individuums mit der Erstellung seiner Identität: »Die je eigenen biographischen Erinnerungen sind unentbehrlich, denn sie sind der Stoff, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht ist«.2

Unsere episodischen Erinnerungen sind – nach Assmann – mit bestimmten Merkmalen ausgestattet. Sie sind erstens »unaustauschbar und unübertragbar«3, existieren aber zweitens auch im sozialen Milieu: »Zweitens existieren Erinnerungen nicht isoliert, sondern sind mit den Erfahrungen anderer vernetzt. […] Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz und Glaubwürdigkeit, sondern wirken auch verbindend und gemeinschaftsbildend«.4

Die individuellen Erinnerungen sind begrenzt, also »in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher«5, und verändern sich im Lauf der Zeit.6 Weiter weist Assmann darauf, dass »Individuen im Alter von 12

2 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006, S. 24. 3 Ebd. 4 Ebd. [Kursiv im Original.] 5 Ebd., S. 25. 6 Ebd.

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bis 25 Jahren für lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig sind«.7 Generationsbedingt sei demnach auch die Dynamik ihrer Entwicklung: »Jeder Mensch ist in seiner Altersstufe von bestimmten historischen Schlüsselerfahrungen geprägt, und ob man dies will oder nicht, teilt man mit der Jahrgangskohorte gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster. Das bedeutet, dass das individuelle Gedächtnis nicht nur in seiner zeitlichen Erstreckung, sondern auch in den Formen seiner Erfahrungsverarbeitung vom weiteren Horizont des Generationengedächtnisses bestimmt wird«.8

Ziemilski dokumentiert Orte, Namen, Zeitangaben, aber er vermeidet die Darstellung fremder Gedanken. Er ist sich bewusst, dass seine eigenen Lebensrollen den Veränderungen oder den aufgezwungenen Deformationen durch Halbvergessen, durch »Schatten der Zeit« (DGD, 8) unterliegen. Die Authentizität des Dargestellten wird betont, denn die erinnerten Episoden über den Alltag des Zweiten Weltkriegs in den verschiedenen Orten Polens (Lemberg, Krakau, Warschau und anderen Provinzortschaften) sind subjektbezogen und als nonfiction zu lesen. Sie erscheinen in Hinblick auf die Zeit der ersten (fragmentarischen) Veröffentlichung als Ergebnis einer dokumentarischen Recherche. Dabei scheint mehrfach das Bild des »guten Deutschen« auf, wobei sich im Text nicht eindeutig feststellen lässt, ob Ziemilski als Autor diesen Begriff an ethischen Kategorien misst oder ober er lediglich über »freundlich neutrale« Personen (DGD, 47) berichtet. Vergleicht man nun das polnische und deutsche kulturelle Gedächtnis, dann ist zu konstatieren, dass beide sich stark voneinander unterscheiden, d. h. »ungleichwertig« sind, wie Hubert Orłowski herausstellt: »Hatte der ›Durchschnittspole‹ den Krieg schon ab erstem Kriegstag an eigener Haut erfahren müssen, so trat er in das Alltagsbewußtsein einzelner deutscher Familien schrittweise und mit unterschiedlicher Intensität ein«.9

Nach der Auffassung von Orłowski liegen diese Unterschiede nicht nur im Zeitbezug, sondern auch in der differenzierten Erfahrung: »Die polnische [Literatur – die Verf.] hat folgende Erfahrungssyndrome festgehalten: 1. Die Niederlage Polens im ›Polenfeldzug‹, 1939, verstanden als ein kataklysmusartiger Untergang der Welt, auch einer Welt der (hart erkämpften) Werte (z. B. der der nationalen Unabhängigkeit); 2. der grausame, irrationale Okkupationsalltag; 3. die Erfahrungen mit den ›Warteräumen des Todes‹, und der ›steinernen Welt‹, der Konzentrationslager (und der Gulags Kasachstans, Sibiriens)… Die für die deutsche Gesellschaft relevanten Erfahrungsräume lauten: 1. der ›Schock Stalingrad‹, ›verstanden als kol7 Ebd., S. 26. 8 Ebd. 9 Orłowski, Hubert: Von ungleichwertiger Deprivation. Verlorene Heimat in deutscher und polnischer Literatur nach 1939. In: Heimat und Heimatverlust in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Hubert Orłowski. Poznan´: UAM 1993, S. 117–128, hier: S. 118.

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lektive Vorahnung‹ des herannahenden Debacle’s; 2. das ›Inferno Dresden‹, verstanden als Metapher für das Leben und Sterben (nicht nur) unter dem Bombenhagel; 3. das Jahr 1945, begriffen als das Jahr des Zusammenbruchs des deutschen Reiches, als das Jahr der Flucht, der Zwangsaussiedlungen und Vertreibungen. Ist also […] die polnische Literatur auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ausgerichtet, so orientierte sich – entgegengesetzt – die deutschsprachige am Ausgang des Weltkrieges, also am Zusammenbruch«.10

Die Erinnerungen von Ziemilski reichen in die Gymnasialzeit in Lemberg zurück, also in die 1930er Jahre, wenn er im Anfangskapitel »Lego« (Lego-Spiel) als IchErzähler über seine Erlernung der deutschen Sprache berichtet und seinem Deutschlehrer Jakub Sandel aus Lemberg, der mit Frau und Tochter zum Opfer des Holocausts wurde, ein gedankliches Denkmal setzt. Das Sprachmotiv fungiert dabei häufig als Leitmotiv in den Kriegsszenen der Lebensgefährdung während der deutschen Okkupation, in der Darstellung seiner Übersetzerarbeit in Warschau in den 1950er Jahren oder zuletzt in einer humoristischen Episode aus den 1980er Jahren am DDR-Grenzübergang während seiner Reise in die Schweiz, als er mit seiner exzellenten, altmodischen deutschen Syntax vor dem Grenzbeamten einen Professor vortäuscht (DGD, 78–80). Seine hervorragenden Kenntnisse der deutschen Sprache nutzte Ziemilski darüber hinaus für seine Résistance-Arbeit, als er an der Sabotage in der Filiale des Siemens-Konzerns im Kabelwerk Ozarow (Oz˙arów bei Warschau) beteiligt war und u. a. deutsche Stempel falsifizierte (vgl. »Kabelwerk Ozarow«, S. 31–32). Das Bild der Kriegszeit wird bei Ziemilski nicht heroisiert, denn ihm ist das Gefühl des Überlebens durch zufällige Wunder fremd. Trotz der außergewöhnlich ungünstigen Umstände im okkupierten Polen behält er seine Liebe für die deutsche Musik und betont den Wert der deutschen Kultur, um sich in gefährlichen Situationen Mut zu machen. Das Erinnerungsbuch von Ziemilski weist von daher eine starke Originalität in Bezug auf die Darstellung der Vergangenheit und Gegenwart auf.11 Wie weit es allerdings eine Ausnahme von den ansonsten gültigen polnischen Erfahrungen darstellt, soll im Folgenden am Beispiel einer Übersicht des Problems in der polonistischen Literaturwissenschaft gezeigt werden. Das Bild des Deutschen in der polnischen Nachkriegsliteratur bildete häufig den Untersuchungsgegenstand vieler literarhistorischer Arbeiten der Polonistik. In den Beiträgen jüngerer Forscher zeigen sich hingegen Spuren, die den Bedarf pointierter literaturgeschichtlicher Darstellungen markieren und den Wandel dieses Bildes in der Nachkriegszeit nachzeichnen. Dies zeigt sich u. a. in der 10 Ebd. 11 In der Gegenwart überdenkt er Vieles und nimmt am deutsch-polnischen Versöhnungsprozess der 1990er Jahre teil.

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jüngst erschienenen Monographie von Sławomir Buryła ( Jahrgang 1969), dem Forscher zum Holocausts in der polnischen Gegenwartsliteratur.12 Buryła untersucht Beispiele aus der polnischen Nachkriegsliteratur bis etwa 2012 und stellt zunächst fest, dass das Motiv des »guten Deutschen« früher in der hohen Literatur einen wichtigen Platz eingenommen habe, wobei es heute im medialisierten Zeitalter im Bereich der populären Literatur/Kultur (vor allem des Films) erfolgreich auftrete: »Das historische Gedächtnis verliert seine Stelle zugunsten des Gedächtnisses, das vom Fernsehen, Internet und Computerspielen fundiert wird«.13 Ein solches Porträt des »guten Deutschen« zkizziert zum Beispiel der Film »Der Pianist« (2003) von Roman Polan´ski in der Figur des Wilm Hosenfeld.14 Buryła kommt zum Schluss, dass je größer der Abstand zum Ende des Krieges ist, desto glaubwürdiger würde das Porträt des Deutschen gezeichnet. Etwa ab Mitte der 1970er Jahre sei es voll von Halbtönen und Schattierungen, so wie die ganze deutsche Nation damals strukturell differenziert gewesen wäre.15 Das Bild des »guten Deutschen« hängt auch – nach Buryła – mit dem Gründungsmythos der DDR zusammen, also mit dem Mythos des Antifaschismus. »Den Gründungstext« für die Darstellung eines »aufgeklärten Deutschen« in der polnischen Prosa bildet Buryła zufolge die Erzählung von Tadeusz Borowski »Muzyka w Herzenburgu« (Die Musik in Herzenburg, 1950), in der der ehemalige Nazi Heinz Lohren, früher ein Mitglied der Hitlerjugend, als gewandelte Person aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt.16 In der frühen Nachkriegszeit schien dieses Bild des »guten Deutschen« in Polen nach vielen tragischen Kriegserfahrungen der Einwohner eher ein Paradox zu sein und wurde grundsätzlich auf den »gewöhnlichen Deutschen« bezogen, keinesfalls auf Figuren der Funktionäre der Gestapo und SS oder der Lager- und Ghettoaufseher oder auf die Gendarmen. Eine Ausnahme bildete damals das Drama von Leon Kruczkowski »Niemcy« (Die Sonnenbruchs) um den ›anständigen‹ deutschen Professor Sonnenbruch.17 Ein spezielles Beispiel für das Motiv vom »guten Deutschen« stellt nach Buryła der Emigrant und Widerstandskämpfer dar, vor allem der Intellektuelle, der das Dritte Reich verließ. Einen so konzipierter Held (Klaus Hofer) findet sich in der Erzählung von Adolf Rudnicki »Ucieczka z Jasnej Polany« (Die Flucht von Jasna

12 Buryła, Sławomir: Tematy (nie)opisane [(Nicht)beschriebene Themen]. Kraków: Universitas 2013. 13 Ebd., S. 415. [Übersetzung von der Verf.] 14 Vgl. ebd., S. 333. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd., S. 325. Tadeusz Borowski lebte 1949/50 einige Monate in Ostberlin, seine Erzählung erinnert an das stereotype Thema der Wandlung in der DDR-Prosa. 17 Vgl. ebd., S. 327.

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Polana, 1985). Der Lebenslauf des Helden ist im Text in vielen Punkten mit der Biographie Thomas Manns vergleichbar.18 Buryła führt außerdem Edward Balcerzan an, der eine bestimmte Gruppe von Werken der polnischen Literatur als »deutsche Apokryphen« bezeichnet: »›Es waren Proben einer Sicht auf Deutsche mit Augen der Deutschen, die von polnischen Autoren erfunden wurden. […] Die Polen schrieben von Deutschen so, wie sie dachten, dass sie über sich selbst schreiben könnten oder sollten‹. Diese Strategie neigte zur Beseitigung (oder Minimalisierung) jeglicher Spuren, die als polnische Erkenntnisperspektive aufzufassen wäre. Das Ziel des Apokryphenautors war eine mögliche Einverleibung in die Persönlichkeit des Faschisten, um seine Natur besser kennenzulernen und seine Handlungsmotive besser verstehen zu können«.19

Buryła neigt weiter dazu, den Begriff ›Apokryph‹ enger als Balcerzan zu verstehen und nur auf diejenigen Werke anzuwenden, die ihre aus der Realwirklichkeit stammende Authentizität betonen oder eine offen autobiographische Schreibweise verdeutlichen.20 Außerhalb dieses Begriffs stehen nach der Auffassung Buryłas jedoch die Werke des bedeutenden und in Deutschland gut bekannten Schriftstellers Andrzej Szczypiorski (1928–2000), der vor allem als Autor des Romans »Pocza˛tek« (1986; dt. »Die schöne Frau Seidenman«, 1988) berühmt wurde.21 Buryła betont in der Prosa und Publizistik von Szczypiorski die im Vordergrund stehenden Beziehungen von drei Nationen: Juden, Polen und Deutschen. Der Krieg wird in seinem Schaffen immer aus deutscher Sicht dargestellt: der Wehrmachtsoldaten, der SS- und Gestapoleute, seltener aus der Perspektive gewöhnlicher Staatsbürger des Dritten Reichs. Szczypiorski sucht nach der humanistischen Komponente in den Haltungen und Taten der Deutschen im Krieg, und seine Auffassung ist – nach Buryła – ziemlich klar und einfach: die Vertreter der deutschen Nation sind nicht in besonderer Weise zu prädestiniert, was sie allerdings kennzeichnet, dass ist eine gewisse Autoritätsgläubigkeit wie der naive Glaube an die Unerschütterlichkeit der Voraussetzungen europäischer demokratischer Ordnung. Erst der Faschismus offenbarte ihnen die dunklen Seiten der menschlichen Natur und der Demokratie. Buryła betrachtet die Haltung Szczy18 Vgl. ebd., S. 332. 19 Balcerzan, Edward: Przygoda trzecia: apokryfy niemieckie [Das dritte Abenteuer: deutsche Apokryphen]. In: Ders. Przygody człowieka ksia˛z˙kowego [Abenteuer eines Büchermenschen]. Zit. nach: Buryła, Sławomir: Tematy (nie)opisane. Kraków: Universitas 2013, S. 350. [Übersetzung von der Verf.] 20 Vgl. Buryła, Tematy (nie)opisane. 2013, S. 356. 21 Andrzej Szczypiorski war ein politisch engagierter Autor, der sich für die deutsch-polnische Versöhnung einsetzte und dafür 1995 das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland erhielt. 2007 haben die neuesten Forschungen der Quellen im polnischen Institut für Nationales Gedenken (IPN) ergeben, dass Szczypiorski seit 1955 Zuträger der polnischen Staatssicherheit war.

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piorskis in der letzten Schaffensphase als Wunschbild ohne besondere Kunstfertigkeit und tadelt die Darstellung offensichtlicher Wahrheiten, die in den 1990er Jahren nicht mehr neu und originell gewesen wären.22 Szczypiorskis Wiederkehr zur deutschen Thematik erfolgte mit keiner Erweiterung und subtileren Auffassung der Reflexion über Genese und Sinn des Nazifaschismus.23 Andrzej Ziemilski als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs vertritt eine eigene, Position bei der Beurteilung derjenigen Deutschen, die er zur Kriegszeit getroffen hat. Seine Haltung weicht von der der meisten Polen nach Kriegsende, die deutsche Täter verachtend als Henker bezeichnet haben, ab. Die polnische Historikerin Anna Wolff-Powe˛ska äußert sich zur Sprache dieses Zeitraums in Polen und betont, dass man damals grundsätzlich pejorative Begriffe für den ehemaligen Feind angewendet habe oder ihn beinahe namenlos erwähnte, z. B. Adenauer, also ohne Vornamen, dagegen wurde Josef Wissarionowitsch Stalin immer mit dem vollständigen Namen genannt. Wolff-Powe˛ska hält fest, dass die Sprache, die negative Gefühle äußert, nicht so farbenlos gewesen sei wie die Sprache der positiven Meinungen24. Der Teil »Dobry Niemiec« (Der gute Deutsche) im Werk von Ziemilski umfasst ca. 50 Seiten und setzt mit der Frage ein, was dieser Begriff tatsächlich bedeute. Im April 1944, beim Sprung in den vom Bahnhof De˛be Wielkie abfahrenden Zug, erreicht der Ich-Erzähler die einzig offene Tür des Wagens »Nur für Deutsche« und bekommt eine Ohrfeige mit dem Kommentar: »Du, Idiot […], was würde deine Mutter sagen, wenn…« (DGD, 47). Ein doppeldeutiges Abenteuer erlebt er Mitte Juni 1944 mit seinem Freund aus der Heimatarmee auf dem Bergpfad in der Hohen Tatra, wo sie einen einsamen Unteroffizier der Wehrmacht treffen. War der Deutsche gerade auf dem Urlaub oder im Militärsanatorium?. In dieser Gegend wandert zur Kriegszeit kein vernünftiger Pole. Sie überlegen kurz, die uniformierte Gestalt zu überfallen, die sich plötzlich an sie wendet: »Haben Sie vielleicht Feuer?« (DGD, 81). Der Soldat bekommt tatsächlich Streichhölzer und entfernt sich darauf. Die Darstellung seiner Résistance-Arbeit in der Filiale des Siemens-Konzerns im Kabelwerk Ozarow (Oz˙arów bei Warschau) ergänzt der Autor im Kapitel »Wendt – Major«, wo er sich den Leiter des Rüstungskommandos Warschau25 22 Dagegen lobt der Literaturwissenschaftler sein Schaffen aus den sechziger Jahren, weil er damals nicht der antideutschen Hysterie anheimfiel. Vgl. Buryła, Tematy (nie)opisane. 2013, S. 364. 23 Vgl. ebd., S. 362–364. 24 Wolff-Powe˛ska, Anna: Co Niemiec, to odmieniec [Ein Deutscher ist immer anders]. Polityka (2502), 2005, Nr. 18 vom 7. Mai, S. 70–71. 25 Als Angestellter der Rüstungsfabrik hatte der Autobiograph »gute Papiere«, die ihm eine gewisse Sicherheit garantierten: »Wir machen aufmerksam, dass unser Betrieb ein Rü-Betrieb ist und der Überwachung des Kommando des Rüstungsbereichs Warschau unterliegt. Wir

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vorzustellen versucht: seine physischen Eigenschaften, seine Haltung dem Krieg (»Alle Räder müssen rollen für den Sieg!«, DGD, 61) und der Ostfront gegenüber (hier wird auch überlegt, ob Major Wendt vielleicht den Krieg fern von der Front überleben wollte). Wenn der Autor sich seiner gefälschten Stempel erinnert, gibt er zu, dass er sich in dieser Angelegenheit »nicht völlig wie ein Gentleman verhalten« (DGD, 61) habe. Aber aus der Perspektive eines erfahrenen Menschen lässt der Autor noch eine andere Möglichkeit zu: »Ich denke, dass Sie auch ein Gentleman sein konnten, ein seltenes Exemplar des deutschen Gentlemans im okkupierten Warschau. Einer, der im Kern uns Polen, den Menschen allgemein freundlich war« (DGD, 61).

Ziemilski weiß um das Stereotyp der ritterlichen Wehrmacht und der verbrecherischen SS, das die berühmte Ausstellung in Hamburg 1995 angegriffen hat.26 Diese Gedanken tauchen in der Sequenz »Ornat« (Das Messgewand) auf, wo er über seine schweizerische Freundschaft aus den 1960er Jahren mit einem gewissen Philibert von der Universität Genf berichtet, der besonders polenfreundlich war. Der Schwiegervater Philiberts war deutscher Soldat im Polenfeldzug und brachte dieses damals in nicht geklärten Umständen erworbene Messgewand nach dem Krieg als Geschenk für seinen Schwiegersohn in die Schweiz. Durch geschickte Andeutungen berührt hier Ziemilski auch das Problem vom Raub der Kulturgüter in Europa. An diese Episode grenzt das Kapitel »Bóg (zawsze?) z nami« (Gott (immer?) mit uns), in dem die Geschichte des Kriegsverbrechers Major Defregger erzählt wird, die »Der Spiegel« aufgedeckt hat. Er war Mitglied einer Wehrmachteinheit, die skrupellos Partisanen in der Ukraine und Italien (Orvieto 1944) erschoss. Nach dem Krieg wurde er Priester, in den 1960er Jahren sogar Bischof in München und stand zugleich auf der Liste der Kriegsverbrecher in Italien. Eine bedeutende Stelle bildet zudem das Kapitel »Pamie˛taj o Stalingradzie!« (Gedenke Stalingrad!). Aus seiner Übersetzertätigkeit 1952 erwähnt Ziemilski die Arbeit an der Übertragung (für den Militärverlag in Warschau) des Romans von Elfriede Brüning »Damit du weiter lebst«27, den er der Kategorie der Vielschreiberei zuordnet. Der Roman konzentriert sich auf eine Gruppe von Antibitten alle Militär- und Polizei-Behörden dem oben genannten jede Hilfe zu leisten…« (DGD, 60–61). 26 In der Erwähnung dieser Ausstellung dokumentiert Ziemilski diese Lüge (a huge historical lie) in einer Anmerkung, S. 69, anhand des Artikels von Ian Traynor in »The Guardian« von Anfang April 1995. 27 Elfriede Brüning war lebenslang ihren kommunistischen Idealen treu. Vgl. Lengsfeld, Vera: Elfriede Brüning, 102, liest in der Gedenkbibliothek [für die Opfer des Stalinismus, Berlin: Nikolaikirchplatz 5–7 – H. L.] am 07. 01. 2013. http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/ dadgd/article/elfriede_bruening_102_liest_in_der_gedenkbibliothek (Zugriff am 19. 07. 2013).

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faschisten, die mit einem Funkgerät für die Rote Armee an der Ostfront arbeiten und in die Hände der Gestapo geraten. Major R., Leiter des Verlags MON, schrieb selbst einen Schlusssatz hinein, den es im Original nicht gibt: »Gedenke Stalingrad!« (DGD, 76) Der Erzähler überlegt, an wen sich dieser Satz wendet: an die DDR-Leser wohl nicht, aber eher an polnische Internationalisten. Nach Jahren denkt der Erzähler darüber nach, ob dieses Wort ›Stalingrad‹ vielleicht als ein magisches Wort für Herrn R. fungierte, der schließlich nach harten Lebenserfahrungen ein Happy-End fern von Polen entwerfen wollte (vgl. DGD, 78).28 Diese Episode illustriert den DDR-Mythos von den Kommunisten als den besten Antifaschisten und greift den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR an und damit auch den von den besseren Deutschen.29 Im Kern ist damit auch auf das vielschichtige Identitätsbewusstseins von Marcel Reich-Ranicki angespielt. Die zweite wichtige Textsequenz mit dem Titel »Gleiwitz – Gliwice AD 1945« besteht aus fünf Kapiteln (DGD, 97–135), von denen drei dem Schriftsteller Horst Bienek gewidmet sind. Der Erzähler erinnert sich an seinen Gleiwitzer Aufenthalt 1945 unter Einfluss der Romanlektüre von Bienek (vgl. DGD, 99) und skizziert sofort dessen andere Perspektive für die Auffassung der damaligen Zeit. Zu diesem Zusammenhang äußerte sich 2002 auch der Historiker Krzysztof Ruchniewicz: »Einen Monat später erschien [in der Wochenschrift »Polityka« vom 16. 4. 1988 – die Verf.] ein Interview mit dem Soziologen, Publizisten und ehemaligen Soldaten der polnischen ›Heimatarmee‹ Andrzej Ziemilski, unter dem provozierenden Titel ›Ich habe Horst Bienek ausgesiedelt‹. Zum ersten Mal konnten Leser in Polen etwas darüber erfahren, was ein Vertreter der Behörden bei der Entfernung von Deutschen empfand, und wie er heute darüber denkt. ›Ich schäme mich nicht dessen, was ich getan habe‹, sagte Ziemilski, ›nur dessen, wie ich es getan habe‹.«30 28 Markus Joch bezeichnet Reich-Ranicki als »Ex-Kommunisten[en] vom Eifer des Konvertiten beseelt«. Joch, Markus: »Es geht nicht um Christa Wolf«? Die Logik des deutsch-deutschen Literaturstreits. In: NachBilder der Wende. Herausgegeben von Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008, S. 17–32, hier: S. 22. Über die Anfälligkeit von ReichRanicki gegen den Stalinismus schreibt Gerhard Gnauck in: Wolke und Weide: Marcel ReichRanickis polnische Jahre. Stuttgart: Kletta/Cotta 2009. Vgl. auch: Gnauck, Gerhard: Jak krytyk zakładał cenzure˛ [Wie der Kritiker Zensur errichtete]. Newsweek [Polska] vom 15. 03. 2009, S. 76–77. 29 »Da die zentrale Legitimationsstrategie der SED auf Antifaschismus im erwähnten Sinne zielte, konnte die DDR als das »bessere Deutschland« gelten«. Menschel, Sigrid: Legitimationsstrategien in der DDR und in der Bundesrepublik. In: Deutsche Vergangenheiten, eine gemeinsame Herausforderung: Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte. Herausgegeben von Christoph Klessmann, Hans-Jürgen Misselwitz, Günter Wichert. Berlin: Links 1999, S. 117. 30 Ruchniewicz, Krzysztof: Die Problematik der Aussiedlung der Deutschen aus polnischer und deutscher Sicht in Vergangenheit und Gegenwart. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, edited by Eckhard Grunewald. München: Oldenbourg, Volume 10, 2002, S. 7–26. Der Autor beruft sich

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Auf Grund der Buchausgabe (1997) gewinnt der Leser einen anderen Eindruck: Ziemilski beschreibt diese Zeit in Bezug auf vielseitige Kontexte. In den Erinnerungen von Ziemilski wird mitgeteilt, dass sich dieses »Wie« auf »okrucien´stwo słowne« (wörtliche Grausamkeiten) (DGD, 113) oder auf das Ruinieren der faschistischen Buchbestände in den schon von Militäreinheiten ausgeplünderten privaten Wohnungen bezieht. Als Vergeltung an den Deutschen gab es Denunziationen der Polen an die sowjetische Administration (vgl. S. 105). Bei der Erwähnung der Reise von Bieneks Protagonistin nach Warschau, die dort die Ehrenstätte mit dem Herz Chopins in der Kirche des Hl. Kreuzes besuchen will, wird gleichzeitig betont, dass Bienek von »der anderen Seite blickt« (DGD, 115), und gefragt, ob sie tatsächlich das damalige okkupierte Warschau wahrgenommen habe oder ob sie nur eine fiktionale Figur gewesen sei.31 Ziemilski schildert es seinerseits genauso deutlich: »Als ich zum ersten Mal den Film nach dem Roman Bieneks ›Die erste Polka‹ gesehen und seine Tetralogie gelesen habe, habe ich mir vorgestellt, dass sie in dieser Nacht vom 31. August zum 1. September 1939 noch kristallunschuldig sind, aber im Frühling 1945 waren schon sechs Millionen Tote auf unserer Seite, und das ist diese petite difference. Das war schon unvergleichbar« (DGD, 112, Kursiv im Original).

Er bemerkt außerdem, dass Bienek in seinem Text »Beschreibung einer Provinz« bedauert, dass niemand von der deutschen Seite in seinen Erinnerungen diese Zeit kurz vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee erwähnt, d. h. die Todesmärsche der KZ-Häftlinge (vgl. DGD, 102). Ziemilski postuliert jedoch nach Jahren der Bemühungen um ein neues deutsch-polnisches Verständnis und Verhältnis: »Man muss die Geschichte immer aufs Neue schreiben. Von einer und von anderer Seite der Grenze – und zuletzt gemeinsam« (DGD, 116).

Der Verfasser ist sich dessen bewusst, das Vieles auf einer Asymmetrie der deutsch-polnischen Verhältnisse beruht (vgl. DGD, 117). Um so wichtiger erscheint in diesem Kontext ein von Ziemilski angebrachtes Zitat aus der Rede des polnischen Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Władysław Bartoszewski, der sich anlässlich der Sonderveranstaltung »Gedenken des Deutschen Bundestages und des Bundesrates an das Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« am 28. April 1995 im Bundestag auf die Worte des verstorbenen Jan Józef Lipski beruft: auf das Interview »Wysiedlałem Horsta Bienka. Z socjologiem Andrzejem Ziemilskim rozmawia Adam Krzemin´ski«. Polityka vom 16. 04. 1988. 31 Dies müsste man mit den oben zitierten Feststellungen von Hubert Orłowski zu den verschiedenen Erfahrungsräumen der Deutschen und Polen im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg vergleichen.

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»Wir erinnern uns an die mit großem Mut formulierten Sätze des heute nicht mehr lebenden bedeutenden polnischen Denkers und Essayisten Jan Jozef Lipski, jenes exponierten polnischen Sozialdemokraten, der 1981 voller Bitternis sagte:Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben, von denen die einen sicherlich sich schuldig gemacht haben, indem sie Hitler unterstützten, die anderen, indem sie seine Verbrechen tatenlos geschehen ließen, andere nur dadurch, daß sie sich nicht zu dem Heroismus eines Kampfes gegen die furchtbare Maschinerie aufraffen konnten, und das in einer Lage, als ihr Staat Krieg führte. Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben; die Aussiedlung der Menschen aus ihrer Heimat kann bestenfalls ein kleineres Übel sein, niemals eine gute Tat«.32

Außerhalb des Textes von Ziemilski bleiben die Schlussfolgerungen der Rede Bartoszewskis stehen, die er ebenfalls mit Worten Lipskis fasst: »Ich identifiziere mich vollkommen mit den Thesen meines verstorbenen Freundes Jan Józef Lipski, mit dem ich zusammen in der demokratischen Opposition aktiv war. Ich möchte daran erinnern, daß dieser Text damals eine hitzige Diskussion unter den denkenden Polen hervorrief. Ich denke auch, daß es nicht gut war, daß die Zivilcourage des Verfassers dieser Worte damals [1981! – die Verf.] in Deutschland nicht voll wahrgenommen wurde«.33

Das Buch »Der gute Deutsche« enthält im Folgenden eine erweiterte und 1995 überarbeitete Fassung des Textes »Rückkehr in die Heimat«34, in dem Ziemilski als Soziologe vor allem den Modernisierungsschock beim Transfer der Polen aus Ostgebieten nach Schlesien beschreibt und feststellt: »Suchen wir nicht aufdringlich nach einer Symmetrie beider Wanderungen: der polnischen und der deutschen, wenigstens im politisch-rechtlichen Ausmaß. Es waren hier aber Sieger und Besiegte. […] Geben wir hinzu, dass die deutsche Nation außer der Aussiedlung zusätzlich in zwei Nationen aufgeteilt wurde. Das außermilitärische Hauptkriterium dieser Teilung war die geographische Reichweite der Gehirnwäsche. Dort, wo man es durchführte, existierte das uns interessierende Problem der Gefühle für die alte Heimat anscheinend nicht (aber das war wieder eine von vielen Selbsttäuschungen in der DDR)« (DGD, 128–129).

Die Rückkehr in die Heimat begreift Ziemilski als universelles literarisches Motiv (vgl. Ovid, Dante, Miłosz). Im 20. Jahrhundert ereigneten sich 1945 zwei millionenreiche simultane deutsche und polnische Aussiedlungen, und so entstand nach Jahren bei den Betroffenen der Wunsch, zeitweise die alte Heimat zu besuchen. Ziemilski zufolge liegt die Ursache dafür in der Sehnsucht nach einer Landschaft: 32 http://www.bundestag.de/kulturgeschichte/geschichte/gastredner/bartoszewski/rede_bartos zewski.html (Zugriff am 10. 02. 2014). 33 Ebd. 34 Erstdruck in der Monatsschrift »Odra«, 1992, Nr. 2–3.

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»Die Landschaft zwischen der Oder und Zbrucz wird heute von einer barbarischen makroindustriellen und antiagrarischen Zivilisation durchgepflügt und in antimenschlicher Skala urbanisiert. Man erwartet oft die Dauer und findet Wechsel oder Nichtigkeit« (DGD, 134).

Der Autor distanziert sich von einer simplen Nostalgie und überlegt, dass es wahrscheinlich ein tieferer Grund für Günter Grass gewesen sei, sein Danzig literarisch zu gestalten, oder für Siegfried Lenz, seine masurischen Idyllen zu verfassen, sowie für Józef Wittlin, Jerzy Michotek und Jerzy Janicki Lemberger, geblümte Bilder darzustellen (vgl. DGD, 134). Die polnische Autobiographie-Forscherin Małgorzata Czermin´ska schlägt den Begriff des »autobiographischen Ortes« vor, der sich in ihrer Auffassung sowohl von der Kategorie des »Nicht-Ortes« von Marc Augé als auch von den »lieux de mémoire« von Pierre Nora wesentlich unterscheidet: »Die Kategorie autobiographischer Orte betrifft die Werke moderner Literatur, in deren Rahmen sie – wie es Augé schreibt – den anthropologischen Charakter besitzen und identitätsstiftend, bekannt und historisch sind. Man könnte sie auch mit der Konzeption ›der Gedächtnisorte‹, die Pierre Nora ausgearbeitet hat, identifizieren, dennoch mit dem Unterschied, dass der autobiographische Ort kein soziales Ausmaß besitzt, keine kollektive Wirklichkeit betrifft (obwohl manchmal darin eingesetzt werden kann), also sui generis ›ein individueller Gedächtnisort‹ ist«.35

Im weiteren erarbeitet Czermin´ska eine Typologie dieser Orte als »observierte, erinnerte, imaginierte, umgestellte, ausgewählte und angetastete Orte«.36 Der erinnerte Ort bei Ziemilski betrifft seine Geburtsstadt Lwów/Lemberg, Warschau wird dagegen zu einem »umgestellten Ort«, an dem er einen ständigen Lebensplatz für sich gefunden hat. Über den »ausgewählten Ort« seines kurzen Aufenthalts zum Kriegsende in Gleiwitz berichtet er dann in seiner Besprechung der Erinnerungen von Horst Bienek. Ziemilski betont, dass es nützlich sei, das gemeinsame Kulturgut in Schlesien oder in der westlichen Ukraine zu pflegen: »Ich sehe hier einfach eine Chance des Aufbaus der europäischen Kulturbindungen, wenn man so pathetisch spricht. Und das Ruinieren dessen tut mir ein großes Weh« (DGD, 114).

In seinen soziologischen Arbeiten prägte Ziemilski 1984 den Begriff der »Identität insert«, die für alle Vorschläge offen ist, sowohl für die eigenen Erfahrungen 35 Czermin´ska Małgorzata: Kategoria miejsca autobiograficznego w literaturze doby migracji [Kategorie des autobiographischen Ortes in der Literatur der Migrationszeit]. In: Narracje migracyjne w literaturze polskiej XX i XXI wieku [Migrationsnarrationen in der polnischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts]. Hrsg. von Hanna Gosk. Kraków: Universitas 2012, S. 41–56, hier: S. 47. [Übersetzung von der Verf.] 36 D. h. »miejsca obserwowane, wspominane, wyobraz˙one, przesunie˛te, wybrane i dotknie˛te«. Ebd., S. 49.

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als auch für die medialen Überlieferungen. Dieses Modell der Welterfahrung durch Kultur versucht aus allen ständig wechselnden Elementen der Kulturerfahrung, die in der (hohen) Literatur vermittelt wird, ein kohärentes Ganzes aufzubauen.37 Die ständige Veranschaulichung der deutschen Kultur erfolgt auch in dem hier disktuierten Text und betrifft vor allem die Lektüre deutscher Schriftsteller, die Beachtung der deutschen Musik und die Rezeption der deutschen Literatur. Ziemilski vertritt die ältere Generation, aber aufgrund der überarbeiteten Kapitel seines Buches »Dobry Niemiec«, die teilweise früher in Wochenschriften publiziert wurden, lässt sich resümieren, dass er am deutsch-polnischen Versöhnungsdiskurs der 1990er Jahre lebhaft Anteil nahm : »Die Vergangenheit sakralisiert sich leicht aus Distanz. Der Mythos des Verlorenen Paradieses und seine materiellen Zeichen scheinen sich am besten im Bild der hohen Türme über diese verlorene Paradiesstadt: Danzig oder Lwów, ganz egal, befestigen. Diese Zeichen soll man schonen und das Gedächtnis der Zeitzeugen schätzen. Mit der Zeit entsteht vielleicht auch hier – so wie in dem sich dort einigenden Europa – eine Völkerverständigung für gemeinsame Werte. Für alle? Und wie schnell?« (DGD, 134)

37 Vgl. Burszta, Wojciech: Toz˙samos´c´ kulturowa [Kulturidentität]: In: Kongres kultury polskiej 2009. Raport o stanie i zróz˙nicowaniach kultury miejskiej. http://www.kongreskultury.pl/ title,pid,367.html. (Zugriff am 10. 07. 2013).

Mirosława Zielin´ska (Wrocław)

Wendepunkte, Brüche und Kontinuitäten im polnischen kulturellen Gedächtnis 1944/1945–2011 und die Funktion der Narrative über »Deutsche und Polen« im Krieg

I.

Die Verortung des Narrativs über »Deutsche und Polen« im polnischen Nachkriegsdiskurs über Kultur, Menschlichkeit, Verbrechen, Komplizenschaft des »Monströsen«1

Der ›deutsche Text‹2 polnischer Kultur erfuhr bereits parallel zu den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und dann infolge der radikal veränderten geopolitischen Lage (u. a. erzwungener Abfindung mit einer neuen Staatsform3 und den neuen unsicheren Grenzen), eine verheerende Deformierung. Das Verunsicherungsund Entwurzelungssyndrom4 diagnostizierte – noch fünfundzwanzig Jahre nach Kriegsende – Witold Wirpsza in seinem im Exil entstandenen Buch »Pole, wer bist du?«5 Nach Wirpsza ist das ›Deutschtum‹ für die Polen »nicht die Definition

1 Vgl. Anders, Günther: Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Kaus Eichmann. München: C. H. Beck 1988, S. 37ff. 2 Vgl. Ritz, German: Z Galicji do Niemiec – na (niepolskim) szlaku Kus´niewicza. Polska konfrontacja z Niemcami. Übers. von Małgorzata Łukasiewicz. In: Woldan, Alois (Hrsg.): Mie˛dzy Galicja˛, Wiedniem i Europa˛. Aspekty twórczos´ci literackiej Andrzeja Kus´niewicza. Wien: Stacja Naukowa PAN w Wiedniu 2008 (= Sympozja i seminaria, Bd. 5), S. 111–132. 3 Die Periode 1944–1956, d. h. die zwölf ersten Jahre zwischen dem Gründungsjahr der Volksrepublik Polen und der Entstalinisierung von 1956, konnte erst nach 1989 als Überganszeit zwischen »Befreiung« (dem Ende des Zweiten Weltkriegs) und erneuter »Unterdrückung« genannt werden. Der Enttabuisierungsprozess der polnischen Nachkriegsgeschichte begann in den 1990er Jahren dank der Publikationen der polnischen Exilverlage und der Veröffentlichungen des »zweiten Umlaufs« (vgl. hier exemplarisch Kersten, Krystyna: Mie˛dzy wyzwoleniem a zniewoleniem. Polska 1944–1956 [Zwischen Befreiung und Unterdrückung: Polen 1944–1956]. London Aneks 1993). Die Suche nach einer komplexen Perspektive, die der Gesamtheit der Erfahrungen polnischer Gesellschaft 1939–1989 gerecht werden konnte, scheint jedoch keinesfalls abgeschlossen zu sein. 4 Vgl. Piskorski, Jan M.: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung in Europa des 20. Jahrhunderts. Übers. von Peter Oliver Loew. München: Siedler Verlag 2013. Hier vor allem das Kapitel »Das Jahrhundert der Entwurzelten und Heimatlosen«, S. 25ff. 5 Vgl. Wirpsza, Witold: Pole, wer bist du? Luzern-Frankfurt a. M.: C. J. Bucher-Verlag 1971 [2. Auflage: München 1983]. Auf polnisch erschien das Buch im »zweiten Umlauf«: Ders.:

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für eine Nationalität, sondern die Bezeichnung für einen bestimmten Bedrohungszustand«6. In diesem Kontext ist auch die Einseitigkeit des dämonisierten Bildes des ›aggressiven‹ Deutschlands zu erörtern, die etwa dem Titel der 1945 bereits in der zweiten Auflage veröffentlichten Studie »Deutschland-Polen. Zehn Jahrhunderte des Ringens« von Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) 7 entnommen werden kann. Aus heutiger Sicht kann sie als Reaktion auf die Erschütterungen der kollektiven Identität der polnischen Gesellschaft an der Schwelle des Jahres 1945 gelesen werden. Ihre Instrumentalisierung im Rahmen der Erinnerungspolitik der VR Polen muss dabei nicht nur vor dem Hintergrund des deutsch-polnischen Antagonismus um 1945, sondern der Frontenstellung des Kalten Krieges der 1940er und 1950er Jahre analysiert werden. Der Weltenwurf, in dem durch die Herstellung des Kontinuums zwischen den Kreuzrittern8, dem Bismarck-Reich und NS-Deutschland9 die eindeutige Tren-

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Polaku, kim jestes´? Warszawa: Niezalez˙na Oficyna Wydawnicza 1978. Die zweite Auflage wurde vom Berliner Exilverlag »Pogla˛d« 1986 verlegt. Wirpsza, Pole, wer bist du? 1971, S. 99. Vgl. Wojciechowski, Zygmunt: Polska-Niemcy. Dziesie˛c´ wieków zmagania [Polen-Deutschland. Zehn Jahrhunderte des Ringens]. Poznan´: Wydawnictwo Instytutu Zachodniego 1945 [Die Erstausgabe: Warszawa 1943]. Vgl. auch: Krzoska, Markus: Die Rolle der Geschichtswissenschaft im deutsch-polnischen Dialog. In: Kobylin´ska, Ewa; Lawaty, Andreas (Hrsg.): erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 1998, S. 181–191, hier: S. 185ff. Vgl. Surynt, Izabela: Krzyz˙ak [Kreuzritter]. In: Alfred Gall, Jacek Gre˛bowiec, Justyna Kalicin´ska, Kornelia Kon´czal, Izabela Surynt in Zusammenarbeit mit Christian Pletzing (Hrsg.): Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego [Interaktionen. Lexikon der deutsch-polnischen Kommunikation]. Wrocław: Atut 2015, S. 347–369. Die Geschichte der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Deutschen Ritterorden und die antipolnische Politik der Bismarck-Zeit sind bereits in den gespannten Relationen der II. Polnischen Republik und der Weimarer Republik als Bezugspunkte der Stereotypisierung herangezogen worden, somit sind sie als Elemente des Stereotyps nichts Neues. Heinrich August Winkler weist darauf hin, dass »[a]uf der Ebene der populären Klischees […] für die Polen ›der Deutsche‹ bereits in den 1920er und -30er Jahren »ein martialisches Wesen« blieb, »das entweder eine preußische Pickelhaube oder den Mantel des Kreuzritters trug«. Was die deutschen Stereotype über Polen anbelangt, »wurden die Polen in deutschen bildlichen Darstellungen« – führt Winkler fort – »häufig als heruntergekommenes Diebsgesindel gekennzeichnet und mit Schweinen und Läusen, Ratten und Wölfen verglichen« (Winkler, Heinrich August: Im Schatten von Versailles. Das deutsch-polnische Verhältnis während der Weimarer Republik. In: Lawaty, Andreas; Orłowski, Hubert (Hrsg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. Deutsches Polen-Institut/Robert Bosch Stiftung. Redaktion: Friederike Forst/ Jutta Wierczimok/ Petra Rehder. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2006, S. 60–68, hier: S. 67). Die jahrzehntelang aufgestauten Ressentiments gegenüber Polen, vor allem die als Demütigung Deutschlands interpretierte Restitution des – als »Saison- und Räuberstaat« diskreditierten – polnischen Staates 1918 wurden zu Katalysatoren der Umformung von Wut, Ohnmacht, Verachtung, die generell die Reaktionen auf die Beschlüsse des Versailles Vertrages kennzeichneten, und damit zu Feindbildern. Diese konnten von der NS-Propaganda ohne größere Schwierigkeiten instrumentalisiert werden. In Polen kristallisierte sich das Feindbild ›Deutscher-Täter‹/›Deutschland-Aggressor‹ primär aus dem breiten Spektrum der traumati-

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nung von ›Gut‹ und ›Böse‹ (›Opfern‹/›Widerständlern‹10 und ›Tätern‹/›Komplizen des Monströsen‹11) durchgeführt werden konnte, kann als Formierung des diskursiven Feldes für die Aushandlung des polnischen Selbstverständnisses nach den Kriegserfahrungen gesehen werden. Den zentralen Bezugsrahmen des Identitätsprozesses der Nachkriegszeit bildet die binäre Konstruktion: ›das Deutsche‹ versus ›das Polnische‹12. Fragt man aber, was sich hinter dieser manichäischen Konstruktion verbirgt, lässt sie sich als radikale Entgegensetzung von ›Verbrechen‹/›Unmenschlichkeit‹ und ›Kultur‹/›Humanität‹ deuten. Das Kernproblem des polnischen Nachkriegsnarrativs kann man wie folgt formulieren: Es darf nicht zugelassen/akzeptiert werden, dass ›Kultur‹ kein Antipode mehr von ›Verbrechen‹ sei. Daher wird auch die Indifferenz der Gewalt gegenüber als ›Verbrechen‹ angeklagt und als Zerstörung des ›Menschlichen‹ problematisiert:

schen Erfahrungen von 1939–1945 heraus. Seiner Instrumentalisierung seitens der Machthaber der VR Polen für die Zwecke der Machtlegitimierung und Integration der polnischen Nachkriegsgesellschaft widersetzten sich die regimekritischen Milieus der demokratischen Opposition (1975/1976–1989), die im sog. »zweiten Umlauf« oder im Exil veröffentlichten (vgl. Lipski, Jan Józef (1926–1991): Dwie ojczyzny – dwa patriotyzmy (uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków). Warszawa: Niezalez˙na Oficyna Wydawnicza NOWa 1981. Vgl. auch den zweisprachigen Band von Ders.: Powiedziec´ sobie wszystko… Eseje o sa˛siedztwie polsko-niemieckim [Wir müssen uns alles sagen… Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft]. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Georg Ziegler. GliwiceWarszawa: Wokół nas 1996). 10 Aleida Assmann differenziert zwischen ›heroischen‹ und ›traumatischen‹ Opfern, wie auch zwischen ›heroischer‹ und ›traumatischer‹ Erinnerung (vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2006, S. 72ff.). Im Falle des polnisches kollektiven Gedächtnisses, das nach 1944/1945 von der offiziellen Erinnerungspolitik der VR Polen organisiert wurde, dominiert das heroische und heroisierende Narrativ über polnisches Martyrium, das mit dem polnischen kulturellen Gedächtnis und dem simplifizierenden binär konstruierten Narrativ über ›Faschismus‹ und ›Antifaschismus‹ des offiziellen Nachkriegsdiskurses weitgehende Korrespondenzen aufweist. Die Zeugnisse des kommunikativen/ individuellen Gedächtnisses legen die These nahe, dass man das Gedächtnis der Polen eher zwischen dem heroisierenden Narrativ des kulturellen Gedächtnisses und dem traumatischen Gedächtnis (auch der »Zwangszeugen des ›Monströsen‹«), das aufgrund der kollektiven Tabuisierung oder/und individuellen Verdrängung unausgesprochen und unverarbeitet blieb, verorten soll. Vgl. Gosk, Hanna: Pocza˛tek. Rzeczywistos´c´ polska w prozie lat czterdziestych XX wieku. [Anfang. Realität Polens in der Prosa der 1940er Jahre des 20. Jahrhunderts] In: Dies.: (Nie)ciekawa epoka? Literatura i PRL [(Un)interessante Epoche? Literatur und VR Polen], Warszawa: Elipsa 2008, S. 93–145, hier, S. 97ff. 11 Vgl. Anders, Wir Eichmannsöhne. 1988. 12 Vgl. Balcerzan, Edward: Über die deutsche Kultur. Polnische Kultur im Zeichen der Kriegserlebnisse. In: Kneip, Heinz; Orłowski, Hubert (Hrsg.): Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, Deutsches Poleninstitut Darmstadt 1988, S. 504–528; Ders.: Wobec kultury niemieckiej, »Odra« 1990 nr 7–8, S. 21–30.

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»Die lyrischen Bilder des Krieges mit den Deutschen ohne die Deutschen sind Zeugnisse der Auseinandersetzung des Menschen mit der Kultur überhaupt, ohne ethnische Schuldzuweisungen. Sie dienen häufig ethischen Reflexionen über die Moral sowie über die Grenzen der Moral besiegter Menschen, die durch Krieg und Besatzung in Ausnahmesituationen gedrängt wurden. […] Als ethisches Problem wird das innere Drama des zur Vernichtung verurteilten Menschen dargestellt, der Verfall der Mitmenschlichkeit. Zugleich tragen diese Werke indirekt zu einer Gestaltung des literarischen Bildes der deutschen Kultur bei – durch die Weigerung, die Deutschen in bisher gültigen Kategorien menschlicher Kultur zu sehen.«13

In dem bekanntesten Drama der unmittelbaren Nachkriegszeit »Niemcy« (Die Deutschen) 14, das von Leon Kruczkowski (1900–1962) stammt und dessen Arbeitstitel »Niemcy sa˛ ludz´mi« (Die Deutschen sind auch Menschen) 15 lautete, entwirft der Autor ein Bild der Haltungen der deutschen Gesellschaft im NSStaat und im Krieg16. Es ist derart suggestives Bild einer deutschen Familie im NSStaat und im Krieg entstanden, dass es nicht nur die Vorstellungen ›über die 13 Balcerzan, Über die deutsche Kultur. 1988, S. 518. 14 In deutscher Übersetzung und (ost)deutscher Rezeption als »Die Sonnenbrucks«/»Die Sonnenbruchs«. (Vgl. Kruczkowski, Leon: Die Sonnenbrucks. Stück in 3 Akten mit einem Epilog. Übers. von Horst Holzschuher. Berlin-Leipzig: Volk und Wissen 1951; Ders.: Dramen. [Die Sonnenbruchs. – Der erste Tag der Freiheit. – Die Vergeltung. – Der Tod des Gouverneuers]. Übers. von Peter Ball und Viktor Mika. Mit einem Nachwort von Peter Ball, Berlin: Verlag Volk und Welt 1975. In den polnischen Veröffentlichungen wurde die deutsche Titelvariante in Bezug auf die »Defa«-Verfilmung des Dramas verwendet. Vgl. Rodzina Sonnenbrucków. Na podstawie filmu »Defy« zrealizowanego według sztuki L. Kruczkowskiego opracował Tadeusz Kowalski. Warszawa: Filmowa Agencja Wydawnicza 1951). Das Drama wurde 1949–1989 intensiv in der DDR inszeniert und rezipiert. Im Falle der BRD kann man in Bezug auf das Drama von einer ›Rezeptionsverweigerung‹ sprechen, die vor allem im Kontext der Rivalität zwischen den beiden deutschen Staaten im Gründungsjahr und des spannreichen Verhältnisses in den Folgejahren gedeutet werden muss. 15 Vgl. hier die Interviews mit Henryk Bereska und Ingeborg Knauth, die Susanne Misterek 1996 geführt hat und in denen die Aufnahme des Dramas von Kruczkowski in der DDR diskutiert wird. Misterek, Susanne: Polnische Dramatik in Bühnen- und Buchverlagen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2002, S. 469–491, hier: S. 469, 475–476. 16 Vgl. Ibler, Reinhard: Die Deutschen sind Menschen. Leon Kruczkowskis Drama »Niemcy« zwischen Schematismus und Modernität. In: »Spiegel der Forschung« 2013 Nr. 1, S. 56–63; Steltner, Ulrich: Kruczkowski und die Deutschen. In: Göbler, Frank: Polnische Literatur im europäischen Kontext. Festschrift für Brigitte Schultze zum 65. Geburtstag. München: Sagner 2005 (= Arbeiten und Texte zur Slavistik. Bd. 77), S. 221–234; Dedecius, Karl: Zur Literatur und Kultur Polens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 220–239; Ders.: Leon Kruczkowski und Die Deutschen. In: »Deutsche Studien« 16 (1978), Nr. 64, S. 345–356; Baumann, Wilfried, Die Repliken im dramatischen Text: dargestellt an den »Deutschen« von Leon Kruczkowski, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1977; Olschowsky, Heinrich: Tua res agitur: zur Rezeption von Leon Kruczkowskis »Die Sonnenbrucks« in der DDR. In: »Weimarer Beiträge« 22 (1976), Nr. 2, S. 41–62; Ders.: Zur Aufnahme der »Sonnenbrucks« von L. Kruczkowski in der DDR. In: Kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen. Rostock: Universität Rostock 1976, S. 77–81.

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Deutschen‹ und deren Haltungen gegenüber dem NS-Regime bis 1989 nachhaltig prägte, sondern als einer der wenigen Narrative aus den 1940er Jahre in den 1990er Jahren aktualisiert wurde17. Zum Handlungsort seines Dramas wählt Kruczkowski drei Schauplätze des besetzen Europas mitten im Zweiten Weltkrieg: Polen, Norwegen und Frankreich, die er dem Haus der Göttinger Familie Sonnenbruch gegenüberstellt und bereits dadurch den NS-Terror mit der Scheinnormalität des Alltags einer deutschen Familie konfrontiert. Im Drama wird dabei folgende Figurenkonstellation präsentiert: Die zentrale Figur ist Professor Walter Sonnenbruch aus Göttingen, ein berühmter Biologe, die anderen Figuren – Familienmitglieder und Hausfreunde – werden über die Relation zu ihm definiert. Willy, der Sohn des Professors und SS-Untersturmführer in dem von NS-Regime besetzten Norwegen, Berta, die Frau des Professors, Liesel, seine Schwiegertochter, Hans Hoppe, ein der Familie Sonnenbruch gut bekannter ehemaliger Universitätspförtner, der bei der Feldgendarmerie im besetzten Polen tätig ist, Joachim Peters, der ehemalige Assistent des Professors und ein Regimegegner, der als KZ-Häftling auf der Flucht ist, sowie Ruth, die Tochter des Professors, die, als Künstlerin vorgestellt, von ihrer Europa-Tournee im besetzten Frankreich nach Göttingen zurückkehrt. Willy Sonnenbruch kann als eine eindimensional konstruierte Figur – seine Haltung demensprechend als ›Inkarnation des Täters‹ – bezeichnet werden. Sie dient vielmehr als Folie für die Skizzierung von fünf differenzierten Haltungen gegenüber dem NS-Regime. Der Zuschauer lernt Willy Sonnenbruch in zwei Szenen kennen. Da er als NS-Funktionär im besetzten Land die Entscheidungsmacht über Leben oder Tod eines Menschen besitzt, nutzt er sie zynisch und skrupellos aus: Er belügt die Mutter eines verhafteten Norweger – Adela Soerensen –, um ihre kostbare Halskette zum Spottpreis zu erstehen. Bereits in der ersten Szene wird klar, dass Willys Figur das NS-Regime verkörpert. In der 17 Das Drama wird seit 1949 ununterbrochen (durchschnittlich einmal pro Jahr) in ganz Polen aufgeführt. Vgl. http://www.e-teatr.pl/. 1996 entstand – als polnisch-amerikanische Koproduktion – auf der Grundlage des Dramas von Leon Kruczkowski der Film »Niemcy/Germans« von Zbigniew Kamin´ski mit internationaler Besetzung (Per Oscarsson als Walter Sonnenbruch, Beata Tyszkiewicz als Berta Sonnenbruch, Scott Cleverdon als Willy Sonnenbruch, Vivian Schilling als Ruth Sonnenbruch, Beth Tegarden als Liesel Sonnenbruch, Teresa Budzisz-Krzyz˙anowska als Adela Soerensen, Matthew Sullivan als Joachim Peters u. a.). Kamin´ski setzt in seinem Film allerdings andere Akzente als das 1949 entstandene Drama, vor allem aber beseitigte er alle ideologisch motivierten Momente. Die wichtigsten Umschreibungen betreffen zwei Figuren: die Figur Joachim Peters ist kein ›antifaschistischer Kämpfer‹ mehr, sondern ein Jude auf der Flucht. Umgeschrieben wurde auch die Motivation der Titelfigur, insofern ihre Abkapselung von der Welt nicht mehr auf die freie Entscheidung eines Humanisten zurückgeht, der mit der Barbarei des NS-Deutschlands nichts zu tun haben will. Die Haltung von Professor Sonnenbruch wird nun eher als Handlungsunfähigkeit inszeniert, die Resultat von Überwachung und lähmender Angst vor dem umgebenden Terror sei.

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zweiten Szene versetzt sich Willy dagegen in die Rolle des liebenden Sohnes und beschenkt bedenkenlos seine Mutter, Berta Sonnenbruch, mit der kostbaren Halskette. Die zweite Haltung kann man als blindgläubige Akzeptierung des NS-Regimes bezeichnen. Sie wird von Kruczkowski auf die Unfähigkeit zu einer kritischen Perspektive und Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie zurückgeführt. Diese Haltung wird von zwei weiblichen Figuren unterschiedlicher Generationen vertreten: Berta und Liesel Sonnenbruch. Berta wird als eine ältere brüchige Frau im Rollstuhl porträtiert, die ihren älteren Sohn im Krieg verloren hat und den zweiten vorbehaltslos vergöttert. Liesel, die Schwiegertochter des Professors, als junge Witwe und trauernde Mutter exponiert, ist von Leid und Schmerz gezeichnet, nachdem ihr Mann in Stalingrad umgekommen ist und sie ihre Kinder während eines Bombardements verloren hat. Ihr Leid und Schmerz schlagen in Hass auf alle diejenigen um, die als Gegner oder Feinde des NS-Staates identifiziert werden können. Indem sie z. B. Joachim Peter denunziert, rächt sie sich an einem der Feinde des NS-Staates und kompensiert auf diese Art und Weise ihr Leid. Die dritte Haltung wird an der Figur des Hans Hoppe exemplifiziert, einem ehemaligen Universitätspförtner – in den Augen des Professors der Vertreter der ›guten alten Zeit‹ –, der nun als Gendarm im besetzten Polen zum Täter werden muss. Ein Apfel, den Professor Sonnenbruch dem älteren Sohn Hoppes schenkt, wird dementsprechend zum symbolischen Requisit (ähnlich wie die von Willy aus Norwegen mitgebrachte Kette), der zwei Szenen und zwei ›abgegrenzte Welten‹ in Verbindung bringt: der des NS-Terrors und der der ›Normalität‹ des Familienhauses von Professor Sonnenbruch. Hoppe (eigentlich der Zuschauer) muss beim Anblick des Apfels, der seinem Sohn geschenkt wird, an den in Polen erschossenen jüdischen Jungen Chaim denken, dem Hoppe vor der Exekution ebenfalls einen Apfel geschenkt hatte. (Hoppe signalisiert anfangs, in dem Gespräch mit dem polnischen Bauern Jurys´, dass er aus Rücksicht auf die eigenen drei Kinder bereit wäre, den kleinen Chaim freizulassen. Dann jedoch – aus Angst vor der Denunzierung – denkt er um und entschließt sich, ›seine Pflicht auszuführen‹). Die Einführung in die Konstellation der Figur Hoppes, dem einfach nur bewusst ist, das er etwas Böses gemacht hat, betont dabei noch krasser die innere Verrohung und Unmenschlichkeit von Willy Sonnenbruch, die sein kultiviertes Benehmen nur maskiert. Die vierte Haltung der aktiven Ablehnung des Nationalsozialismus repräsentiert Joachim Peters, der ehemalige Assistent des Professors, der durch sein unerwartetes Auftauchen im Hause Sonnenbruch, ausgerechnet zum 30-jährigen Arbeitsjubiläum des Professors, die Gesammelten auseinanderbringt und die Figur des Professors zur Stellungnahme herausfordert. Die Konstruktion der Figur Peters lässt zwei Deutungsmöglichkeiten zu. Die erste, die ihre Verdeutlichung im

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Epilog findet, ist auf die Konfrontation des Kalten Kriegs und ihre Rhetorik, wie auch die in Polen bis 1956 vorherrschende Sozialistischer-Realismus-Doktrin, zurückzuführen. Diese Deutungsmöglichkeit erlaubt in der Konstruktion der Figur Peters – als des kommunistischen Kämpfers und Antifaschisten – den Diskurs über das ›böse‹/›postfaschistische‹ und ›gute‹/ ›antifaschistische‹ Deutschland aufzudecken. In diesem diskursiven Rahmen ist die Haltung von Peters mit dem ›guten‹ Deutschland – der DDR – gleichzusetzen. Die zweite Deutungsmöglichkeit (geht man von der Urfassung des Dramas ohne Epilog aus) korrespondiert mit dem noch von der polnischen Romantik geprägten Topos eines tragischen Helden, d. h. eines gegen eine ›fremde‹ und ›bedrohliche‹ Macht rebellierenden Individuums. Das zweite Lektüremuster erlaubt dem polnischen Zuschauer (im Einklang mit dem polnischen kulturellen Gedächtnis) die Figur des ›antifaschistischen Kämpfers‹ als ein Individuum zu rezipieren, das – unter Einsatz des eigenen Lebens – im Namen der höheren Werte und Normen bereit sei, sich gegen die NS-Diktatur aufzulehnen. Die fünfte Haltung – und zugleich diejenige Haltung, gegen die der Autor des Dramas eine scharfe Anklage vorbringt – ist die des Professor Walter Sonnenbruch, der sich selbst als Demokrat und Europäer bezeichnet. Sonnenbruch kann als Vertreter der deutschen Intellektuellen bezeichnet werden, die auf Distanz zum NS-Staat in die sogenannte »innere Emigration« gingen. Dieser Eremitenhaltung verdankten sie ihre innere Überzeugung, dass sie auch angesichts des verbrecherischen Systems ›anständig‹ geblieben seien. Kruczkowski beschreibt diese Haltung der Abkapselung von der Welt der Gewalt des NS-Regimes und dessen Verbrechen als »Sonnenbruchismus« (»Sonnenbruchizm«18). Dieser kann als Diskrepanz zwischen den Idealen, zu denen sich ein Individuum bekennt und die es verkündet, und der realen Handlungsfähigkeit definiert werden. Sonnenbruch, der erst nach dem Gespräch mit Joachim Peters sich selbst Rechenschaft über seine Haltung des Nicht-Zur-Kenntnis-Nehmen-Wollens der umgebenden Welt ablegt, kann demnach als eine tragische Figur bezeichnet werden. Er hat jahrelang weggesehen und die eigene Tatenlosigkeit zur Tugend gemacht. Als er endlich umdenkt (oder umzudenken beginnt), kann er die sich anbahnende Tragödie – den Verlust seiner Tochter, die zum Opfer des NS-Terrorapparats wird – nicht mehr abwenden. Das Drama besteht in der Urfassung aus drei Akten. Kurz vor der Uraufführung (polnischer in Krakau, ostdeutscher in Berlin) entstand der Epilog – »Göttingen 1948/1949«. Im Epilog vollzieht die Figur des Professor Sonnenbruch eine radikale Wandlung. Sein vorbildliches Engagement ›für den Frieden der Nachkriegswelt‹ ist die Lehre aus seiner früheren Isolation von der Außenwelt. Der Epilog endet mit dem Bild der zur Entfesselung des Dritten Weltkriegs drängenden Bundesrepublik 18 Vgl. Krzemien´, Teresa: Sonnenbruchizm. In: »Tu i Teraz« vom 01. 08. 1984, Nr. 31. Vgl. http:// www.e-teatr.pl/.

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Deutschland, die in den westlichen Alliierten Verbündete findet. Zur Beglaubigung der Aussage wird die Figur von Willy Sonnenbruch eingesetzt, der (außer Professor Sonnenbruch) als einziger seiner Familie den Krieg überlebt. Der Epilog wurde jedoch als ideologisierte und schematisch-banal konzipierte Nachgeschichte des Dramas, die in der DDR-Rezeption die Legitimierungsfunktion ihres antifaschistischen Gründungsmythos ausübte, ab dem sog. »polnischen Oktober« 1956 auf den polnischen Bühnen nicht mehr gespielt.19 Die sechste von Kruczkowski konzipierte Haltung vertritt die Tochter des Professors Sonnenbruch. Denn Ruth nimmt eine Sonderstellung in der Figurenkonstellation ein, weil sie als einzige sich entschließt – ungeachtet dessen, dass sie die ganze Familie gegen sich hat –, Joachim Peters zu helfen. Die Tochter des Professors ist die gut ausgeprägte, selbständig agierende, offene Figur des Dramas. Weder ihre Weltvorstellungen noch die Motivation ihrer Handlungen lassen sich unproblematisch nachvollziehen und eindeutig deuten. Die Zuschauer lernen Ruth als Künstlerin auf einer Tournee im besetzten Frankreich kennen. Im Hotel lernt die deutsche Pianistin eine junge Französin, Fanchette, kennen, die der Hinrichtung von Geiseln, darunter ihr eigener Vater, beiwohnen soll. Die Erschießung der Stadtbewohner ist die Vergeltungsaktion für die Aktivitäten der Résistance. Ruth meldet sich, um Fanchette zu ersetzen. Ihre Motivation kann als eine menschliche Regung gelesen werden: Ruth erspart auf diese Art und Weise der jungen Französin das Beisein bei der Exekution ihres Vaters. Die Motivation dazu kann aber auch primär als ›Abenteuerlust‹ und nur sekundär als menschliche Geste verstanden werden – das eine schließt das andere nicht aus. Die Entschlossenheit aber, mit der Ruth dem KZ-Flüchtling helfen will, lässt ihre Figur als Pendant zu der nach dem Vorbild des Goethe-Olympikers konstruierten Hauptfigur Sonnenbruch erscheinen. Ruth beweist Zivilcourage und eine Bereitschaft zur konkreten Tat – dazu unter Gefährdung ihres eigenen Lebens – anstelle »des anständigen Deutschen, des geistigen Erben von Schiller, Lessing, Hölderlin, Kant, Bach und Goethe«20, der versagt. Walter Sonnenbruch, dessen älterer Sohn bereits 1942 bei Stalingrad fiel, verliert ein Jahr später seine Tochter, die von der Gestapo anstelle des KZ-Flüchtlings verhaftet wird. Die Interaktionen innerhalb der Figurenkonstellation um die zentrale Titelfigur des Dramas führen zu Kernpunkten des polnischen Selbstverständnisses der Nachkriegszeit. Die Hauptfigur, die zum ›Olympiker‹ stilisiert wird, lässt sich zwischen Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) und Thomas Mann (1875–1955) verorten. Das berühmte Zitat des Letzteren – »Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir« (»New York Times« vom 22. 02. 1938) – wird fast wortwörtlich von der Figur Sonnenbruch als Begründung für seine Eremi19 Vgl. ebd. 20 Ebd.

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tenhaltung wiederholt. Die Anklage dieser Haltung ist wiederum als Auseinandersetzung mit Goethes Idee der ›Weltliteratur‹ zu verstehen und der von ihr abgeleiteten Vorstellung von der Ebenbürtigkeit aller Kulturen, die im deutschpolnischen Kontext als Chance auf einen Dialog mit der deutschen Kultur (trotz unterschiedlichen geschichtlichen und politischen Verwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert21) verstanden wurde. Nun erlebt sie jedoch eine radikale Infragestellung. Als ihr Ausdruck kann die plakative Charakterisierung der Figur des Willy Sonnenbruch in den Regieanweisungen gelesen werden: »Er ist der typische Vertreter der ›Herrenrasse‹, die die Bevölkerung des unterjochten Gebiets peinigt und ausraubt. Er hat den brennen Wunsch, seiner geliebten Mutter etwas wirklich Schönes, nicht banales – er hat ja Kunstgeschichte studiert – mitzubringen.«22

Kruczkowskis Drama eröffnet damit eine literarische Strömung, die man als Auseinandersetzungen mit dem ›deutschen Text polnischer Kultur‹ bezeichnen kann. Edward Balcerzan, der diese Selbstgespräche als ›apokryphe Texte polnischer Literatur‹ bezeichnet (und mit Hilfe der Kategorie der »Semiosphäre« von Jurij Lotman umschreibt), weist dabei auf folgendes Paradoxon polnischer Selbstbefragungen hin: Die Figuren der Deutschen in den Texten polnischer Autoren werden gemäß der Dispositive des polnischen kulturellen Gedächtnisses konzipiert und als Selbstporträt der Deutschen rezipiert. Die angeblich ›deutschen‹ Grundfragen und Antworten entstammen dem Katalog des polnisches Selbstverständnisses und sind somit Projektionen des polnischen Identitätsprozess: »Was denken die Deutschen über sich selbst? Aus dieser fundamentalen Frage entstand in der polnischen Literatur eine Strömung, die man als apokryphisch bezeichnen könnte: In polnischen Werken sprechen von polnischen Schriftstellern konzipierte Deutsche über Deutsche. […] Auf der Ebene der Poetik manifestiert sich die Semiosphäre des Deutschtums aus der Sicht eines Polen recht deutlich, während sie sich aus der Sicht eines Deutschen, der von einem polnischen Schriftsteller konstruierten Figur eines Deutschen, oft konventionell darstellt.«23

21 Vgl. Lawaty/Orłowski, Deutsche und Polen. 2003. 22 Kruczkowski, Die Sonnenbrucks. 1951, S. 76. 23 Balcerzan, Über die deutsche Kultur. 1988, S. 516.

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II.

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1989 zwischen Erinnerungsverlust und/oder Geschichtsversessenheit.24 Die master narrative über (Nach)Krieg zwischen Behauptung und Demontage

Der politische Systemwechsel in Polen 1989, der den vielschichtigen Prozess der gesellschaftlichen Transformation eingeleitet hat, markiert auch den Ausgangspunkt der gravierenden Verlagerungen der Schwerpunkte im kollektiven Gedächtnis. Der vielschichtige Umschreibungsprozess bezieht sich auf alle vor 1989 existierenden Narrative, die man sowohl im Rahmen der offiziellen politischen Linie der polnischen kommunistischen Partei (PZPR, 1944/1945–1989) am Rande des Offiziellen, d. h. im Rahmen der geduldeten, jedoch kontrollierten Freiräume von 1956–1989, als auch in dem subversiven und ›das Offizielle‹ unterminierenden sogenannten »zweiten Umlauf«25 1975/1976–1989/1990 entwarf. Zieht man die von Etienne François ausgearbeitete Definition und Funktion des kollektiven Gedächtnisses heran, das als »interaktives Phänomen, […] auf Austausch beruht und ein immaterielles Erbe dar[stellt], das dazu beiträgt, die Mitglieder der Gruppe zu einer Einheit zu verbinden, und ihnen ermöglicht, sich in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu verorten«26, so erklärt sich, dass der Umschreibungsprozess von 1989 im Spannungsfeld der Ablehnung des ›Alten‹ und der Suche nach ›Neuem‹ verlaufen musste. Abgelehnt wurden die sinnentleerten und kompromittierten Deutungsmuster der offiziellen Erinnerungspolitik der VR Polen wie auch die längst desavouierte »Newspeak« (poln.: Nowomowa) der Parteigremien und statt dessen eine neue Makronarration gesucht, die dem Selbstverständnis einer Umbruchgesellschaft gerecht werden konnte. Da man aber in Bezug auf Polen erst nach 1989 über die allmähliche ›Rückkehr und Etablierung‹ der Öffentlichkeit sprechen kann27, bleiben die Demokratisierungs- und Pluralisierungsversuche der öffentlichen Debatte28 und der übergreifende Umwandlungsprozess der polnischer Gesellschaft nach 1989 – 24 Vgl. Assmann, Aleida; Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit. Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche-Verlags-Anstalt 1999. 25 Seit der Mitte der 1970er Jahre arbeiten die Verlage des sogenannten »zweiten Umlaufs« mit den polnischen Exilzentren in Paris und London und, nach der Verhängung des Kriegsrechts, auch in Berlin eng zusammen. 26 François, Etienne: Erinnerungsorte zwischen Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Ein Forschungsinnovation und ihre Folgen. Übersetzt von Tom Heithoff. In: Schmid, Harald (Hrsg.) Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis (= Formen der Erinnerung 41). Göttingen: unipress 2009, S. 23–36, hier: S. 24. 27 Vgl. Wnuk-Lipin´ski, Edmund: Socjologia z˙ycia publicznego [Soziologie des öffentlichen Lebens], Wydawnictwo Naukowe Scholar. Warszawa 2008. 28 Vgl. Spór o Polske˛ 1989–99. Wybór tekstów prasowych [Polnische Auseinandersetzungen. Ausgewählte Pressetexte aus den Jahren 1989–1990]. Warszawa: PWN 2000.

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besonders in seiner Anfangsphase – dem fundamentalen Bedürfnis nach Orientierung, Integrierung von zerstreuten Narrativen und Sinngebung untergeordnet, d. h. der (Neu)Konstruktion eines allgemeingültigen Narrativs von stabilisierender und integrierender Funktion. Wie diffizil die Umschreibungsprozesse des kollektiven Gedächtnisses im Fall der polnischen Umbruchgesellschaft an sich gewesen und wie sie aus der Außenperspektive charakterisiert worden sind, dokumentiert die zehn Jahre nach dem Umbruchsjahr entstandene Analyse von Rudolf Jaworski, in der das polnische und das deutsche Kollektivgedächtnis einander gegenübergestellt werden: »Die Selbstverständlichkeit, mit welcher in Polen bis in die jüngste Vergangenheit hinein historische Bezüge zur Gegenwart hergestellt und nationale Identität demonstriert wurde […] [wirkte] [A]us der Außensicht, zumal aus deutscher, […] auf jeden Fall erstaunlich: Denn hier fehlen offensichtlich von vornherein eine Reihe von Irritationen, welche die Deutschen seit dem Aufkommen des modernen Nationalgedankens bei ihrem historischen Erinnern und ihrer kollektiven Identitätssuche verunsichert haben. Vergleichbar bange Fragen wie Was ist des Deutschen Vaterland? Sind die Deutschen eine Nation oder nicht? Gibt es eine oder mehrere deutsche Geschichten? Ist nationale Identität eine erstrebenswerte oder eine abzulehnende Zielvorstellung? sind in der polnischen Diskussion schlecht vorstellbar. Kollektive Selbstzweifel kreisen hier bislang vorrangig um ganz andre Themen wie etwa um den richtigen Weg, die kollektive Identität der Polen zu bewahren – auf friedlichem oder streitbarem Weg. So betrachtet könnte man Identitätssuche und –stiftung für die deutsche Seite und Identitätsbewahrung und –sicherung für die polnische Seite als wichtiges Unterscheidungsmerkmal für die bisherige Entwicklung in beiden Ländern festhalten.«29

Die »Identitätsbewahrung und -sicherung« der polnischen Gesellschaft in der Periode der grundlegenden Veränderungsprozesse ermöglichte der Roman von Andrzej Szczypiorski (1924–2000) »Pocza˛tek« (Der Anfang), der zum dominierenden Narrativ der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurde. Der Roman entstand im Exil und wurde 1986 parallel im »zweiten Umlauf«30 und vom polnischen Exilverlag der Pariser »Kultura« veröffentlicht31. Zwei Jahre später lag er in deutscher Übersetzung als »Die schöne Frau Seidenman«32 vor und drei Jahre später – 1989 – konnte er auch ›offiziell‹ in Polen herausgegeben werden33. Von dem Erfolg des von Szczypiorski entwickelten Narrativs zeugt die Tatsache, dass das Werk seit beinahe drei Jahrzehnten – sowohl in Polen als auch in Deutschland – etliche Nach- und Neuauflagen erlebt und in über zwanzig weitere Sprachen 29 Jaworski, Rudolf: Kollektives Erinnern und nationale Identität. In: Lawaty/ Kobylin´ska, erinnern, vergessen, verdrängen. 1998, S. 40–41. 30 Szczypiorski, Andrzej: Pocza˛tek. Warszawa: Przeds´wit 1986. 31 Szczypiorski, Andrzej: Pocza˛tek. Paris: Instytut Literacki 1986 [2. Auflage 1989]. 32 Szczypiorski, Andrzej: Die schöne Frau Seidenman. Übersetzung von Klaus Staemmler. Zürich: Diogenes Verlag 1988. 33 Szczypiorski, Andrzej: Pocza˛tek. Poznan´: Instytut Zachodni 1989.

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übersetzt wurde. In den 1990er Jahren gehörte der Autor zum Kreis der prominentesten Intellektuellen des demokratischen Umbruchs von 1989 in Ostmitteleuropa. In Szczypiorskis Roman werden Themen und Probleme aufgegriffen, die als besonders heikle Punkte des polnischen kollektiven Gedächtnisses gelten und bisher in der sozialen Kommunikation nicht präsent waren. Dabei bot der Autor seinen Lesern – wie sich aus heutiger Perspektive herausstellt, nicht nur den polnischen – eine versöhnliche Konfliktlösung an. Die Individualisierung der Kriegs- und Nachkriegsschicksale macht es auch den nichtpolnischen Lesern möglich, den Roman nicht nur als ›national-polnisches‹, sondern als ein ›polnisch-jüdisch-deutsches‹ Kriegsbewältigungsnarrativ zu deuten. Stellt man die Frage, was in dem Roman – sowohl gegenüber dem/den dominierenden Kriegsnarrativ/en als auch gegenüber dem Bereich, den man in Polen nach 1989 als ›weiße Flecken‹ bezeichnet – als relevante Enttabuisierung und/oder Neuschreibung pointiert werden kann, lassen sich drei wichtige Elemente festhalten. Die polnisch-jüdische Hauptfigur, Irma Seidenman, wird von polnischen Freunden mit gefälschten Papieren, die den Namen Magdalena Gostomska anzeigen, ausgestattet, um sie vor dem Ghetto zu retten. Sie wird jedoch erkannt und von einem jüdischen Gestapo-Spitzel denunziert, kann aber aus dem Gestapo-Gefängnis gerettet werden – diesmal von einem ›guten Deutschen‹ aus Łódz´ ( Johann/Jasiek Müller), der sich selbst als ein Deutscher mit ›polnischer Seele‹ bezeichnet. Die Verortung der erzählten Geschichte im Warschauer Besatzungsalltag 1943 und die Vermeidung einer simplifizierenden Gegenüberstellung von ›Opfern‹ und ›Tätern‹ kann als Alternative gegenüber der Mythologisierung des ›polnischen Martyriums‹ wie auch der – seitens der verordneten offiziellen Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik der VR Polen – ›Polonisierung‹ der Kriegsopfer und Vereinnahmung der Opferperspektive verstanden werden. Das Konstruieren der polnisch-jüdisch-deutschen Figurenkonstellation bei gleichzeitiger Erweiterung der zeitlichen Perspektive (um den Durchmarsch der Roten Armee durch Polen – der für die einen »Befreiung« bedeutete, für die anderen jedoch eine erneute »Unterdrückung« – und die Nachkriegsgeschichte bis in die 1980er Jahre hinein) verlagert den Schwerpunkt von der Darstellung des Krieges auf die Fragen nach seinen Folgen. Dabei geht es nicht nur um die Folgen des Zweiten Weltkriegs (des alltäglichen Terrors des Okkupationsalltags, der Verfolgung und Vernichtung der polnischen Juden), sondern überhaupt um die Erfahrungen mit den beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts und ihre Konsequenzen – vor allem in Hinsicht der Kondition der polnischen Gesellschaft an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Die Überbrückung der zeitlichen Distanz zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit, die auf die Affinitäten in den Denk- und Vorgehensweisen des National-

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sozialismus und Stalinismus aufmerksam machen, erfolgt dabei durch die polnisch-jüdische Hauptfigur der Irma Seidenmann/Maria Magdalena Gostomska, die zweimal das Gebäude in der Warschauer Schuch-Allee verlässt. 1943 wurde in dem Gebäude das berüchtigte Gestapo-Gefängnis errichtet, in das sie nach ihrer Verhaftung gebracht wird. Dank der für sie von Johann ( Jasiek) Müller geleisteten Bürgschaft wird sie jedoch befreit. Fünfundzwanzig Jahre später, im August 1968, verlässt sie dieses Gebäude zum zweiten Mal – diesmal der Sitz des polnischen Bildungsministeriums, in dem Irma arbeitet – dann in Begleitung von drei Funktionären des Staatssicherheitsdienstes (SB). Ähnlich wie etwa bei 15.000 bis 20.000 polnischen Juden wird Irma 1968 gezwungen, Polen zu verlassen. Diese Szenen-Konfrontation konkretisiert die Perspektive, aus der die kritische Hinterfragung der gesellschaftlichen Entwicklungen in Polen von 1945 bis 1968, von 1968 bis 1980/1981 sowie gegen Ende der 1980er Jahre – noch vor den Signalen des möglichen Umbruchs – in dem Roman Szczypiorskis erfolgt. Przemysław Czaplin´ski analysiert die Enttabuisierungs- und Umschreibungsprozesse polnischer Literatur der 1990er Jahre mit ausdrücklich kritischer Distanz34. Er geht davon aus, dass die Einführung des Tabuisierten in die gesellschaftliche Kommunikation nach 198935 um den Preis geschichtlicher Simplifizierung und der Zurück- oder Verdrängung von anderen geschichtlichen Fakten vor sich gegangen sei. Auf diese Art und Weise – so Czaplin´ski – konstituierte sich ein spezifisches master narrative, das zwar Neues versprach, jedoch das Altbekannte weitererzählte: ›das polnische Martyrium‹ – nun zwischen Hitler und Stalin. Zur Bedeutung des Romans von Szczypiorski bemerkt Czaplin´ski in dem oben skizzierten Kontext: »Die Relevanz des Buches beruht nicht darauf, dass darin eine neue Art und Weise der Kriegsdarstellung vorgeschlagen oder besonders wunde Punkte thematisiert worden sind. Ich denke, es war genau umgekehrt: der Erfolg »Des Anfangs« lässt sich darauf zurückführen, dass es seinem Autor gelungen ist, die kollektiven Bedürfnisse und Mythen zum Ausdruck zu bringen. Szczypiorski bot seinen Lesern ein Narrativ an, das ihren Erwartungen entgegenkam und ihre Ängste besänftigte. Vor allen Dingen stellte er den Zusammenhang zwischen dem Krieg und der Nachkriegszeit her, wobei dem Krieg 34 Vgl. Czaplin´ski, Przemysław: Wypowiadanie wojny. Literatura najnowsza wobec okresu 1939–1945 [Kriegs-Erzählung. Die neuste Literatur über die Periode 1939–1945]. In: Buryła, Sławomir; Rodak, Paweł (Hrsg.): Wojna. Dos´wiadczenie i zapis. Nowe z´ródła, problemy, metody badawcze. Kraków: Universitas 2006, S. 418–439. Vgl. ferner Ders.: Polska do wymiany. Póz´na nowoczesnos´c´ i nasze wielkie narracje [Polens Erneuerung tut Not. Spätmoderne und unsere »master narrative«]. Warszawa: Wydawnictwo W.A.B. 2009; Ders.: The Remnants of Modernity. Two Essays on Sarmatism and Utopia in Polish Contemporary Literature. Frankfurt: Peter Lang 2014. 35 Gemeint sind vor allem die sowjetischen Gulags, Katyn´, der »Moskauer Prozess« gegen 16 Führer der polnischen Untergrundarmee »Armia Krajowa«, der NKWD-Terror und der Stalinismus im Nachkriegspolen 1944/1945–1956.

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die Rolle der initialen Situation in Zeiten der polnischen Erfahrungen mit Totalitarismus/Totalitarismen zukam. Dieser Darstellung zufolge verloren die NS-Okkupation und der Einmarsch der Sowjets den separaten Charakter, indem sie vom Autor als Anfang des polnischen Ringens mit dem Modell der totalen Macht aufgefasst wurden.«36

Sein Fazit lautet, dass in dem Roman dem Unrecht und Leid zu viel und der kritischen Selbstreflexion und den Schuldfragen zu wenig Platz eingeräumt würde – insbesondere im Kontext der im Text zentralen polnisch-jüdischen Relation. »Man muss ausdrücklich sagen« – betont dabei Czaplin´ski –, »dass es kein Narrativ über polnische Unschuld gewesen ist – eher über ›Unschuld trotz allem‹.«37 Bezüglich des Narrativs über ›Deutsche und Polen‹ ist anzumerken, dass sich die Figur eines ›guten Deutschen‹ in den polnischen Kriegsnarrativen nach 1989 einbürgert. Dies hängt mit der Demontage der binär strukturierten Perspektive (›Faschismus‹/›Antifaschismus‹) und von der offiziellen Erinnerungspolitik der VR Polen verordneten Einengung der Perspektive der Kriegsdarstellung auf die Besatzungszeit von 1939–1945 und das NS-Regime zusammen. Den Perspektivenwechsel begründet auch die generelle Kontestation der offiziellen Geschichtsschreibung der VR Polen, allen voran der Deutung des Jahres 1945 in den Kategorien des ›Sieges‹ und ›historischer Gerechtigkeit‹38, die mit dem Selbstverständnis vieler Polen keinesfalls korrespondierte39. Die kritische Auseinandersetzung mit Entstellungen der offiziellen Geschichtsauffassung und -deutung und Thematisierung des Verschwiegenen fand seit Mitte der 1970er Jahre im »zweiten Umlauf« statt40. Die Unterschiede in der Gestaltung der einzelnen Fi36 Czaplin´ski, Wypowiadanie wojny. 2006, S. 419. [Übersetzung von der Verf.] 37 Ebd. 38 Vgl. Dmitrów, Edmund: Begriffe und Date des Zweiten Weltkrieges in Polen – 8./9. Mai. Die offizielle Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen. Konstitution der kollektiven demokratischen Identität auf der Makro-Ebene. Rolle der pluralistischen Institutionen und der Generationsabfolge. In: Schwan, Gesine; Holzer, Jerzy; Lavabre, Marie Claire; Schweling, Birgit (Hrsg.): Demokratische politische Identität. Deutschland, Polen und Frankreich im Vergleich. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2007, S. 183–214. 39 Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Interpretation polnischer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte in den Kategorien des ›Sieges über den Faschismus‹ und der Darstellung Sowjetrusslands in der offiziellen Geschichtsschreibung der VR Polen. Die Hinstellung Sowjetrusslands als Polens ›Verbündeten‹ und ›Befreiers‹, wie auch des einzigen Garanten polnischer Nachkriegsgrenzen (›historische Gerechtigkeit‹), legitimierte die ›enge Zusammenarbeit‹ der beiden Staaten nach 1944/1945, d. h. vertiefte die Abhängigkeit der VR Polen von Moskau. Vgl. ebd. 40 Es ist kein Zufall, dass eine der wichtigsten Lektüren der polnischen Oppositionellen »Die Blechtrommel« von Günter Grass gewesen ist – der Roman ist 1979 von dem Untergrundverlag NOWa herausgegeben worden. Vgl. Surynt, Izabela; Zielin´ska, Mirosława: Der polnisch-polnische Krieg um Günter Grass: Imponderabilien und Mythen. In: Ruchniewicz, Krzysztof; Zybura, Marek (Hrsg.): Amicus Poloniae. Teksty ofiarowane Profesorowi Hein-

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guren des ›guten Deutschen‹ (und ihrer Einbindung in das Gesamtwerk) gehören daher makrostrukturell der subversiven Gegenströmung an, mikrostrukturell lassen sich die voneinander differierenden Konzepte vor dem Hintergrund ihrer abweichenden Funktionen im konkreten Text erklären und generationell begründen. Andrzej Szypiorski, den man zu der »Kolumbus-Generation« zählen kann41, hat in seinem Entwurf der Figur des ›guten Deutschen‹ eine ausgebaute Begründung seiner Einwurzelung in der polnischen Kultur entwickelt. Johann ( Jasiek) Müller stammt daher nicht nur aus Łódz´, einer plurikulturellen Stadt polnisch-jüdisch-deutsch-russischer Prägung, sondern denkt auch mit Nostalgie an den Marschall Józef Piłsudski, was ihn zum Mitträger des polnischen kollektiven Gedächtnisses macht. Diese Konstruktion legitimiert die Handlung der Figur, insofern sie ihre Hilfsbereitschaft für die inhaftierte Irma Seidenman glaubwürdig macht. Die Vertreter der Nachkriegsgeneration – man muss an dieser Stelle an den 1949 in Gdan´sk/ Danzig geborenen Schriftsteller Stefan Chwin denken –, die dazu in den ehemaligen deutschen Provinzen aufgewachsen sind, machten sich (als Kinder und Jugendliche) hingegen ihre eigenen Vorstellungen von ›den Deutschen‹ und ›dem Deutschen‹ durch die Interaktion mit der materiellen Kultur, die, als ›Poniemieckie‹ stigmatisiert, die ständige Begegnung mit dem ›Fremden‹ oder sogar ›Bedrohlichen‹ bedeutete. Für Chwin stellt nicht der Krieg, sondern erst die Nachkriegsperiode das dichte Problemgeflecht dar, das sowohl für die individuelle als auch für die kollektive Identitätsbefragung am Ende des 20. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung gewinnt: das Chaos der Nachkriegszeit, Entwurzelung, Begegnung mit dem ›Fremden‹, das zuerst zum Alltag und mit der Zeit dann zu einem Teil der eigenen Identität wurde. Chwins 1995 veröffentlichter Roman »Hanemann«42 (in der deutschen Übersetzung: »Tod in Danzig«43) schlägt daher, mit der Konstruktion der Titelfigur, eine weitgehende Umschreibung des Narrativs über ›Deutsche und Polen‹ vor. Dabei wäre die Einschätzung der Figur des Hanemann als ›eines guten Deutschen‹ eine weitgehende richowi Kunstmannowi w osiemdziesia˛ta˛ pia˛ta˛ rocznice˛ urodzin. Wrocław: Via Nova 2009, S. 393–418. 41 Vgl. Kijowska, Marta: Andrzej Szczypiorski. Eine Biographie. Zürich: Diogenes-Verlag 2006. Vgl. ferner Wnuk, Rafał: Die ›Kolumbus-Generation‹. Überlegungen zu einer kollektiven Biographie. In: Chiari, Bernard; Kochanowski, Jerzy (Hrsg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, Oldenburg: Oldenburg Wissenschaftsverlag 2003, S. 777–806; Steltner, Ulrich: Der polnische Kolumbus als Kollektivum (Kolumbowie rocznik 20 von Roman Bratny). In: Heydenfreich, Tituts (Hrsg.): Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten. Frankfurt a.M.: Vervuert 1992, S. 809–824. 42 Chwin, Stefan: Hanemann. Gdan´sk: Wydawnictwo Marabut 1995. 43 Chwin, Stefan: Tod in Danzig. Übersetzt von Renate Schmidgall. Berlin: Rowohlt 1997.

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Vereinfachung. Die Konstruktion der Titelfigur und ihre Einbettung in die Darstellung des Übergangsprozesses Danzig/Gdan´sk macht die ›Therapie‹ des traumatisierten Raumes möglich44. Erstens impliziert die Verortung des Erzählten zwischen ›Beständigkeit‹ und ›Vergänglichkeit‹ die Relativierung der Opposition von ›Besitz‹ und ›Verlust‹, zweitens werden ›Bruch‹, ›Ende‹ oder ›(Neu)Anfang‹ als zentrale Kategorien derjenigen Narrative, die den Erfahrungen um 1945 gerecht werden wollen, in Frage gestellt. Die Figurenkonstellation des Romans, die die polnischen, deutschen, ukrainischen Lebensgeschichten miteinander verflechtet, stellt das beständige Chaos des Kriegs-/Nachkriegsalltags als menschliche Grunderfahrung um 1945 dar. Unter den Romanfiguren gibt es somit keine, die nicht einen schmerhaften Verlust erlitten hat, so dass zu ihrem bedeutendsten ›Besitz‹, von dem sie sich gerne trennen würden, der Erfahrungsballast gehört. Der ethnischen Kategorisierung der Leidenden und der ›Konkurrenz Kriegsopfer‹ entzieht dabei die Einführung der Figur eines stummen Waisenjungen ohne eindeutig identifizierbare Herkunft den Boden. Erst die Deutung der Figur Hanemanns vor seiner breit verstandenen Bindegliedfunktion her, erlaubt der Bedeutung des ›guten Deutschen‹ in Chwins Roman, als einer universellen vermittelnden Instanz, gerecht zu werden.

III.

The Generation of Postmemory und ihre Kriegsnarrative

Den Film »Róz˙a« (Rose) von Wojciech Smarzowski (geb. 1963) aus dem Jahre 2011 muss man in zwei wichtigen Kontexten erörtern. Der erste ist die Spielfilmproduktion der zwei letzten Jahrzehnte, die sich mit den Themenkomplexen Krieg-Gedächtnis und Tabu-Trauma auseinandersetzt. Den zweiten Kontext bildet die Zäsur der Jahrtausendwende, die symbolisch den Übergang von den Gedächtnisnarrativen der Zeitzeugen zum Postgedächtnis ihrer Nachkommen markiert. Die Unterscheidung von Gedächtnis- und Postgedächtnisnarrativen macht darauf aufmerksam, dass sich die letzten auf die Vorstellungen über Vergangenes beziehen, die durch kulturelle Repräsentationen vermittelt werden45. Darüber hinaus haben sie sich in einer völlig veränderten »soziale[n] und politische[n], kulturelle[n] und symbolische[n] Wirklichkeit«46 der vielfältigen, oft miteinander konkurrierenden Postgedächtnisnarrative (»competing narra44 Vgl. Jarze˛bski, Jerzy: Leczenie przestrzeni [Die Heilung des Raumes]. In: »Tygodnik Powszechny« Nr. 4/5 vom 17. 05. 1998. Beilage »Kontrapunkt«. Vgl. http://www.tygodnik.com. pl/kontrapunkt//jarzebski.html (Zugriff am 12. 12. 2013.). 45 Vgl. Majchrowski, Zbigniew; Owczarski, Wojciech (Hrsg.): Wojna i postamie˛c´. Gdan´sk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdan´skiego, 2011; Sławomir, Buryła: Topika Holocaustu. Wste˛pne rozpoznanie. In: »S´wiat Tekstów. Rocznik Słupski« 2012, Nr. 10, S. 131–151. 46 François, Erinnerungsorte. 2009, S. 24.

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tives«47) entwickelt, die einen »Gedächtnis-Konsens« auch in der Kommunikation innerhalb einer Kultur immer problematischer machen.48 Der Überblick über die Spielfilmproduktion zu den Themenkomplexen KriegGedächtnis und Tabu-Trauma, die dem polnischen Zuschauer in den letzten zwei Jahrzehnten angeboten worden sind49, macht darauf aufmerksam, dass die meisten Drehbücher auf der Grundlage entweder von Zeitdokumenten, fiktionalisierten Zeitzeugenberichten und Erinnerungsberichten50 oder literarischen bzw. dramatischen Texten der Zeitzeugengeneration51 entstanden sind. Unter 47 Ebd., S. 25. 48 Vgl. Assmann/Frevert, Geschichtsvergessenheit. 1999, S. 97ff. 49 Berücksichtigt werden hier nur diejenigen Filme, die sich als polnische Produktionen oder Koproduktionen mit polnischer Beteiligung einstufen lassen. Daher muss einer der interessantesten Filme des letzten Jahrzehnts zur gegenseitigen deutsch-polnischen Wahrnehmung aus der Perspektive der unterschiedlichen Bedeutung von ›Auschwitz‹ in beiden Kulturen ausgeklammert werden (»Am Ende kommen Touristen« [A na koniec przyszli turys´ci]. 2003. Regie und Skript: Robert Thalheim). Allerdings sollte zu dem Film von Thalheim angemerkt werden, dass es dem Regisseur gelungen ist, zwei Grundfragen neu zu formulieren: »Was bedeutet und wem gehört ›Auschwitz‹ heute?« und »Wer trägt die Verantwortung für die Erinnerung an Auschwitz, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt?« 50 »Schindler’s List« [Lista Schindlera]. 1993. Koproduktion: USA, Polen. Regie: Steven Spielberg (geb. 1946). Skript: Steven Ernst Bernard Zaillian (geb. 1953). Kameramann: Janusz Kamin´ski (geb. 1959). Szenografie: Allan Mieczysław Starski (geb. 1943). Die Vorlage lieferte Thomas Keneallys »Lista Schindlera« [Originaltitel: »Schindler’s Ark«]. Prószyn´ski i S-ka 2008. Der Roman des australischen Schriftstellers Thomas Kenelly stammt aus dem Jahre 1982 und stützt sich auf die Erinnerung des jüdischen Krakauers Leopold »Poldek« Pfefferberg, alias Leopold Page (1913–2001). Pfefferberg studierte an der Jagiellonen Universität und arbeitete dann als Lehrer in einem der jüdischen Gymnasien. 1939 nahm er an dem Septemberkrieg als Oberleutnant der Polnischen Armee teil. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg und entkam der Vernichtung dank der Bekanntschaft mit Oskar Schindler aus der Vorkriegszeit und seiner Hilfe während des Kriegs. Nach dem Kriegsende emigrierte er in die USA. »Pianista«/ »The Pianist« [Der Pianist]. 2002. Koproduktion: Polen, Frankreich, Deutschland, Großbritannien. Regie: Roman Polan´ski (geb. 1933). Skript: Ronald Harwood. Die Vorlage lieferte das Tagebuch von Władysław Szpilman (1911–2000) »Pianista«. Kraków: Znak 2002. »Katyn´«. 2007. Regie: Andrzej Wajda (geb. 1926). Skript: Andrzej Wajda, Przemysław Nowakowski, Władysław Pasikowski; »Courageos of Irena Sendler« [Dzieci Ireny Sendlerowej]. 2009. Regie: John Kent Harrison. Skript: John Kent Harrison, Renata Zajdman. Der Film lehnt sich an die Biographie von Irena Sendlerowa (1910–2008) an. »W ciemnos´ci«/ »In Darkness« [Im Dunkeln]. 2011. Koproduktion: Polen, Deutschland, Kanada. Regie: Agnieszka Holland (geb. 1948). Skript: David F. Shamoon. Die Vorlagen lieferten Robert Marshalls »W kanałach Lwowa« [Originaltitel: »In The Sewers of Lvov«]. Warszawa: S´wiat Ksiaz˙ki 2011 und Krystyna Chigers (geb. 1933) und, Daniel Paisners »Dziewczynka w zielonym sweterku« [Originaltitel: The Girl In the Green Sweater. A Life in Holocaust’s Shadow]. Warszawa: PWN 2011. Der Film wurde dem Gedenken an Marek Edelman (1919–2009) gewidmet. 51 »Niemcy«/»Germans« [Die Deutschen]. 1996. Koproduktion Polen-USA. Regie und Skript: Zbigniew Kamin´ski (geb. 1948). Skript: Die Vorlage lieferte das Drama »Die Deutschen« von Leon Kruczkowski; »Pie˛kna Pani Seidenman« [Schöne Frau Seidenman]. 2003. Fernsehtheateradaptation des Romans von Andrzej Szypiorski. Regie: Janusz Kijowski (geb. 1948);

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den wenigen Filmproduktionen, deren Drehbücher von ihren Regie- und/oder Skriptautoren stammen und die auf keine dokumentarischen oder literarisierten Vorlagen rekurrieren52, findet sich auch »Róz˙a«/»Rose« von Wojciech Smarzowski.53 Der Arbeitstitel des in Polen zwischen 2011 und 2012 mehrfach preisgekrönten Films – »Róz˙a z Mazur«/»Rose aus Masuren« – verortet den zentralen Handlungsstrang in Masuren um 1945. Zum breiteren historischen Kontext der erzählten Geschichte gehören jedoch ebenso der Warschauer Aufstand von 1944 und dessen brutale Niederschlagung durch die NS-Truppen sowie der Durchmarsch der Roten Armee durch Polen und Deutschland in Richtung Berlin 1944/1945 vor dem Hintergrund der sich anbahnenden territorialen Veränderungen und ihrer Folgen, wie der ethnisch und ideologisch motivierten Säuberungs- und Gewaltaktionen und Zwangsmigrationen (in dem Film Smarzowskis: der Zwangsaussiedlung der masurischen und Zwangsansiedlung der polnischen Bevölkerung aus der Umgebung von Wilno/Vilnius/Wilna). Dabei sind relevante Interpretationssignale der (alp)traumartigen Anfangs- und Schlussszene des Films zu entnehmen (die Monochromatik des Film verwischt ihrerseits die Grenzen zwischen Realem und Nicht-Realem). Beide Szenen relativieren bewusst den Anspruch auf historische Überprüfbarkeit der erzählten Geschichte – was jedoch nicht bedeuten muss, dass das Erzählte nicht hätte tatsächlich so stattfinden können. Es geht vielmehr um die Fokussierung der Entwicklung einer emphatischen Relation von zwei Individuen – mit ihren persönlichen Lebenserfahrungen, Traumata, Gefühlen und Motivationen –, deren Zusammenkommen (den polnischer-, wie auch deutscherseits geprägten kollektiven ›Wir‹-Wahrnehmungsmodellen zufolge) einen unüberbrückbaren Konflikt darstellen sollte. Die Titelfigur, Róz˙a/Rose Kwiatkowska, ist eine Masurin mit polnischer Herkunft und Witwe eines masurischen Wehrmachtsoldaten ( Johann Kwiatkowski). Seit Monaten lebt sie in ihrem, jedoch nicht mehr ihr gehörenden Haus und erträgt den zum Alltag gewordenen Terror, die Demütigung und Misshandlung durch Rotarmisten und Kriegsmarodeure. Tadeusz ist polnischer AKSoldat, der sich an dem Warschauer Aufstand von 1944 beteiligte. Die den Film eröffnende (alp)traumartige Szene zeigt Tadeusz’ Frau – ebenfalls eine AKAufständische –, die von den deutschen Soldaten vergewaltigt und erschossen »Unkenrufe«/»Wróz˙by Kumaka«. 2005. Koproduktion: Deutschland, Polen. Regie: Robert Glin´ski (geb. 1952). Skript: Cezary Harasimowicz, Paweł Huelle, Klaus Richter. Produzentin: Regina Ziegler (geb. 1944). Die Vorlage lieferte der Roman »Unkenrufe« von Günter Grass (geb. 1930). 52 Vgl. »Joanna«. 2010. Regie und Skript: Feliks Falk (geb. 1941); »Pokłosie« [Nachlese]. 2012. Regie und Skript: Władysław Pasikowski (geb. 1959). 53 »Róz˙a« [Rose]. 2011. Regie Wojciech Smarzowski (geb. 1963), Skript: Michał Szczerbic (geb. 1944).

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wird. Da Tadeusz als Soldat der polnischen Untergrundarmee für die Machthaber des polnischen Nachkriegsstaates als Feind gilt, sieht er sich gezwungen, unterzutauchen, und gelangt auf diese Weise nach Masuren, zu Róz˙a/Rosa. Er überbringt ihr die Habseligkeiten ihres Mannes, nachdem er zufällig Zeuge von dessen Tod wurde. Da man beide Figuren – Róz˙a/Rosa und Tadeusz – als Ausgebrannte mit einem scheinbar unerträglichen Ballast von Erlittenem bezeichnen kann, ermöglicht die Relation, die sich zwischen den beiden entspinnt – zuerst eine stille Empathie, dann eine unausgesprochene Liebe, anschließend die Selbstfindung. Nachdem Tadeusz das Geheimnis von Rosa anvertraut wird – die sich auf dem Dachboden versteckende Tochter Rosas, Jadwiga Kwiatkowska –, ist ihm klar, woher Rosa ihre Kraft zum Überleben und Ertragen des Schlimmsten schöpft. Tadeusz hat dagegen alles verloren. Beim Warschauer Aufstand verlor er nicht nur seine Frau, sondern die ganze frühere Welt ist aus den Fugen geraten. Er ist im eigenen Land – wie alle Soldaten des polnische Untergrundstaates – zum Feind des neuen Systems erklärt worden. Tadeusz weiß Bescheid, dass er die Enttarnung seiner Vergangenheit von der NKWD oder UB54 mit dem Tod bezahlen kann. Er scheint jedoch dank Rosa und ihrem Lebenswillen in seinem eigenen Leben neue Hoffnung und einen neuen Sinn gefunden zu haben. Dabei macht die Erinnerung an seine Frau die Motivation Tadeusz’, als Schutzengel von Rosa und Jadwiga zu agieren, nachvollziehbarer und verleiht der wachsenden Nähe zwischen den Figuren psychologische Glaubwürdigkeit. Im ganzen Film gibt es nur ein paar wirklich heitere Szenen, die man als ›Hoffnung trotz allem‹ beschreiben könnte. Zu den wenigen friedlichen Szenen, in denen die Protagonisten beinahe hoffnungsvoll in die Zukunft blicken, gehört die Bekanntschaft mit den neuen Nachbarn, Amelia und Władek – einer aus den sog. ›Kresy‹ zwangsausgesiedelten Familie aus Wilna (in der Nomenklatur der VR Polen ›Repatriierten‹/›Pionieren‹). Tadeusz, Rosa und Jadwiga fühlen sich eine kurze Weile beinahe als Familie, wenn sie zusammen mit Amelia, Władek und ihren Kindern arbeiten und danach gemeinsam und friedlich am Mittagstisch sitzen. Man kann sie als eine symbolische Gemeinschaft der Kriegsgeschundenen aus unterschiedlichen Teilen Mitteleuropas bezeichnen, die sich nur eines wünscht: Normalität. Jedoch zerbricht die Hoffnung darauf schnell und brutal. Nachdem das Haus von Władek und Amelia überfallen und Amelia vergewaltigt wurde, schwindet das Vertrauen. Menschliche Solidarität wird zurückgestellt, worauf die Wilnaer den benachbarten Bauernhof verlassen. Władek, 54 Das UB – Urza˛d Bezpieczen´stwa – ist ein im Nachkriegspolen entstandenes Polnisches Amt für Staatssicherheit, gebaut nach dem Muster und kontrolliert von der NKWD. Die Aktivität des UB fällt in die Periode des Stalinismus (1945–1956). Nach 1956 wurde das UB von dem SB (Słuz˙ba Bezpieczen´stwa, 1956–1990) abgelöst.

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der über die Vergewaltigung seiner Frau in den Kategorien einer ›untilgbaren Schande‹ denkt, klagt aber nicht die Übeltäter an, sondern schreibt sich mit seiner Denkweise in die Mechanismen von ethnischen und ideologischen Säuberungs- und Gewaltaktionen um 1945 ein, insofern die ›Andere‹ – Rosa – für die Provozierung des Überfalls beschuldigt wird. Ähnliches lässt sich von der deutschsprachigen masurischen Dorfgemeinschaft konstatieren, für die Rosa/ Róz˙a schon immer eine ›Andere‹ gewesen ist. Sie hat polnisch gesprochen, sich für polnische Sprache eingesetzt und polnische Bücher gelesen. Nachdem jedoch die sowjetische Kommandantur ihren Hof zum Hauptquartier gewählt hat, ist sie der Kollaboration verdächtig. Erst nach dem Tod Rosas sammeln sich die Dorfbewohner – dem alten Brauch gemäß – um den Sarg der Verstorbenen, um gemeinsam zu beten. Smarzowski entwirft in seinem Film das Bild einer brutalen Welt, was in der Szene der Verhaftung und brutalen Folterung von Tadeusz’ kulminiert. Doch die Verantwortung für die Entmenschlichung der Welt ist nicht nur dem NKWD oder UB zuzuschreiben. Tadeusz und Rosa haben in einer von der Kriegsmentalität verseuchten Welt, in der Feindbilder, Misstrauen, Hass und Widerwille alle normalen menschlichen Relationen unmöglich machen, allein keine Chance. In diesem pessimistisch anmutenden Kontext von institutioneller Gewalt und menschlicher Unfreundlichkeit stellt die unausgesprochene Liebe der Zentralfiguren den einzigen Wert und Ausdruck des Menschlichen dar. Die innere Schönheit der Titelfigur – stellt man sie der »Schönheit« der Hauptfigur des Romans von Andrzej Szczypiorski, der goldblondhaarigen, schlanken und blauäugigen Frau Seidenman, gegenüber – bedeutet die Immunisierung gegen die stigmatisierende und entmenschlichende Gewalt. Die letzte rätselhafte, traumartige Szene des Films, in der die Kamera aus der Vogelperspektive dem greisen Tadeusz mit dem Gesicht eines Patriarchen auf seinem Weg durch masurisches Land folgt, zeigt Folgendes: die masurische Gemeinde in den Güterzügen, die Wilnaer auf dem Bauernhof von Rosa, die lachende Jadwiga, Rosas Tochter, die – zusammen mit Tadeusz – in einem beinahe tanzenden Schritt durch masurische Wiesen davonläuft. Die offen gelassene Szene, deren Bilder entweder als Wachtraum des Gepeinigten oder Imaginationen des zu Tode Gefolterten gedeutet werden können, überlässt dem Zuschauer die Entscheidung, wie die erzählte Geschichte endet/enden soll. Und diese hängt wiederum mit dem (Nicht-)Zur-Kenntnis-Nehmen-Wollen der entmenschlichten Welt zusammen.

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IV.

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Fazit

In den polnischen (Nach)Kriegsnarrativen nach 1989 sind die beiden Elemente, das Bild des ›Polen‹ und das Bild des ›Deutschen‹, eng miteinander verflochten. Die Impulse zur kritischen Selbstreflexion und Umschreibung des Polenbildes implizieren die Umschreibung auch des Deutschenbildes. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat sich – in der Literatur, im Film, wie auch in der Essayistik55 und im Theater56 – die Tendenz durchgesetzt, die Kriegsgeschehnisse und Kriegsfolgen in ihrer Komplexität darzustellen und zu erklären. Der apokryphe (monologische) Charakter der Narrative ändert sich zugunsten ihrer Polyphonie. Diesen Prozess beweisen die sich ändernden Narrative über ›Deutsche und Polen‹: Die Namen von Szypiorski (die Kriegsgeneration der ›Kolumbus‹), Chwin (die Nachkriegsgeneration, die in den ehemaligen deutschen Provinzen geboren wurde und aufgewachsen ist) und Samarzowski (die Generation des Postgedächtnisses) repräsentieren drei Generationen polnischer Kultur. Die letzte von ihnen schlägt eine neue Denk- und Sichtweise des Vergangenen vor. In dem Film »Róz˙a« von Wojciech Smarzowski lassen sich drei Schlüsselbegriffe ausmachen, die die tradierte Darstellungsweise der menschlichen Kriegsschicksale überdenken lassen: »Heroismus«, »Liebe« und »Menschlichkeit«. Heroisch ist die Ausführung der alltäglichen Arbeit, die einen unaufhörlichen Kampf mit der alltäglichen Todesgefahr und verzweifelten Lage bedeutet – Kampf um Normalität und Menschlichkeit. An die Stelle der heimlichen Treffen von Romeo und Julia treten die Szenen der zärtliche Pflege der kranken Róz˙a durch Tadeusz. Diese Fürsorge voll Empathie und Liebe, ohne ein unnötiges Wort und eine unnötige Geste, gehört zu den stärksten Szenen des Films. Die Filmschlussszene kann man als Formulierung der Grundfrage deuten – dabei bleibt die Antwort dem Zuschauer überlassen. Die Gegenüberstellung von Szenen der Kriegsgräuel, des Todes und traumartiger Erinnerung an den Mut der Hauptfiguren zur Menschlichkeit in der »Zeit der Verachtung« (Tadeusz Borowski) wirft die Frage auf, ob die Menschlichkeit (trotz des tragischen Schicksals der Hauptfiguren, also Triumphes der Gewalt), überdauern konnte und ob sie – für uns heute – einen bleibenden Wert darstellt. 55 Hier exemplarisch: Nowak, Włodzimierz: Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale. Übers. von Janna Manc. Frankfurt a. M.: Eichborn 2009. (2010 wurden Nowak und die Übersetzerin des Buches mit dem Georg-Dehio-Ehrenpreis ausgezeichnet). 56 Hier exemplarisch: Jan Klatas Projekt Transfer! (Teatr Współczesny, Wrocław 2006). Vgl. Pilz, Dirk: Transfer! – Jan Klatas Projekt über Vertreibung in Wrocław und in HAU. Operation am offenen Herzen eines Tabus. In: »nachtkritik.de« vom 03. 01. 2006. Vgl. http://www. nachtkritik.de/ (Zugriff am 12. 12. 2013.); Marszałek, Magdalena: Eine Bühne für die Geschichte: Zur Ästhetik des Authentischen im Theaterprojekt Transfer! von Jan Klata. In: »Seminar. A Journal for Germanic Studies« 45 (2009), Nr. 4, S. 299–315.

Hans-Christian Trepte (Leipzig)

»Die DDRler sind (auch nur) Menschen«! – Zu stereotypen Vorstellungen von der DDR und ihren Bürgern in Henryk Sekulskis »Przebitka« und Brygida Helbigs »enerdowce i inne ludzie«

I.

Die DDR und ihre Bürger in der Literatur

Deutschsprachige literarische Zeugnisse über die DDR, die nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten entstanden, gibt es erstaunlich viele. Das Thema scheint nicht nur Schriftsteller, wie z. B. den 2013 verstorbenen Leipziger Erich Loest, sondern auch viele Künstler und Filmemacher nicht nur ostdeutscher Herkunft zu bewegen. Die DDR ist aber auch ein wichtiges Thema der Geschichtsschreibung. Man könnte sogar die Behauptung wagen, dass die DDR posthum in Kunst, Film und Literatur ein neues, zweites Leben führt. Das Thema inspiriert die Literatur bis heute, so u. a. Erich Loests »Nicolaikirche« (1995), Thomas Brussigs »Helden wie wir« (1995), Jana Hensels »Zonenkinder« (2002) oder Uwe Tellkamps »Der Turm« (2008), aber auch Filme wie Wolfgang Beckers »Good Bye Lenin« (2003), Peter Timms »Go Trabi Go« (1991) oder Florian Henckel von Donnersmarcks »Das Leben der Anderen« (2006). Hinzu kommen zahlreiche »Berichte« über die DDR und ihre Bewohner, die der offiziellen (alt) bundesdeutschen Lesart zufolge als »Brüder und Schwestern« aus der »(Sowjet) Zone« galten. Für viele Westdeutsche, zumal für jene, die in der DDR keine Verwandten hatten, waren die Deutschen aus der DDR eher fremd geblieben. Weitaus weniger literarische Zeugnisse über die DDR und ihre Bürger gibt es dagegen aus polnischer Sicht. Dafür können unterschiedliche Gründe angeführt werden. Für die Mehrzahl der Polen war der damalige westliche Nachbarstaat keinesfalls ein interessantes Reiseziel, die DDR stellte vielmehr ein Hindernis auf dem Weg in den Westen dar, nach West-Berlin, Westdeutschland, Westeuropa oder nach Übersee. Diesen Transitraum galt es so schnell wie möglich zu durchqueren. Allerdings spielte das Thema DDR in der in Volkspolen entstandenen Literatur eine nicht zu unterschätzende Rolle; einige DDR-Schriftsteller waren durchaus populär; erinnert sei u. a. an Christa Wolf, Volker Braun, Christoph Hein, Heiner Müller. Das polnische Thema war aber auch nicht aus der DDR-Literatur wegzudenken, davon legen allein schon die zahlreichen literarischen Reisen nach Polen ein beredtes Zeugis ab. Verwiesen sei an dieser Stelle

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lediglich auf Rolf Schneiders »Die Reise nach Jaroslaw« (1974). Die polnische Sicht auf die einschneidenden historischen Ereignisse westlich von Oder und Neiße infolge von friedlicher Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung könnten ein eigenständiges Forschungsthema darstellen. Dabei finden polnische literarische Zeugnisse über die DDR und ihre Bürger im wiedervereinten Deutschland nicht die ihnen gebührende Beachtung. Auch die damalige Arbeitsmigration aus Volkspolen in die DDR wird in der Exil-, Emigrations- und Migrationsforschung nur selten erwähnt bzw. als ein ernstzunehmendes Thema erachtet. Diese besondere Form der Erwerbsemigration ging auf die zwischen beiden sozialistischen Staaten, Volkspolen und der DDR, geschlossenen Regierungsverträge zurück. Dabei kamen die Vertragsarbeiter allerdings nicht nur aus den »sozialistischen Bruderstaaten«, zu denen Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und Kuba gehörten, sondern auch aus Angola, Vietnam und Mosambik. Es ist das Verdienst von Hernryk Sekulski, dieses Thema in sein Buch »Przebitka« (dt. etwa: Gewinnspanne, Marge), das 2001 veröffentlicht wurde, aufgenommen zu haben. »Die polnische Delegation war die zahlreichste […]. Nach uns kamen die Kubaner und Mocambikaner. Die Vietnamesen dagegen waren meist nicht zu sehen.«1

Die von der DDR an die ausländischen Arbeiter gerichtete Erwartung, »qualifizierte Arbeiter mit Berufsschulabschluss« (P, 127), wurde allerdings nur selten erfüllt. Der Lohn wie auch das aus dem polnischen Grenzhandel erzielte Geld wurde gespart und in Polen häufig in den Hausbau investiert: »[…] wenn es klappt, kann man dabei die Hälfte des Lohns hinzuverdienen« (P, 137). Sekulskis Roman »Przebitka« eignet sich ebenso wie der Erzählband von Brygida Helbig »Enerdowcy i inne ludzie«, der 2011 erschien, sehr gut, die Darstellung der DDR und ihrer Bürger in der polnischen Literatur etwas genauer zu untersuchen, die in beiden Werken ex post, d. h. von einem Standpunkt nach dem Fall der Mauer und der vollzogenen Wiedervereinigung vorgenommen wird. Dabei bezieht sich der Titel dieses Beitrags in erster Linie auf den Erzählband von Brygida Helbig, »enerdowce i inne ludzie«, aber es können diesbezüglich in beiden Texten weitere Zitate gefunden werden. So heißt es bei Sekulski u. a.: »Der Deutsche ist auch ein Mensch […]« (P, 70), und bei Helbig wird gefragt: »Eh Mann, bist du (etwa) ein DDRler?«2 Die nicht selten negativen Einstellungen gegenüber den Deutschen aus der DDR signalisiert die Autorin bereits mit dem Titel ihres Werkes: »enerdowce i inne ludzie« (DDRler und andere Menschen), und zwar in einer sprachlichen Form, die den Regeln des korrekten Polnischen 1 Sekulski, Henryk: Przebitka. Olsztyn: Borussia 2001, S. 164. [Im Folgenden unter der Sigle »P« mit Seitenzahl im Text.] 2 Helbig, Brygida: enerdowce i inne ludzie. Szczecin: Wydawnictwo FORMA 2011, S. 43. [Im Folgenden unter der Sigle »E« mit Seitenzahl im Text.]

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widerspricht. Mit »i inne ludzie« (und andere Menschen) konkretisiert Helbig eine bestimmte Unterkategorie von Menschen und verstößt auch hier erneut gegen die Regeln des korrekten Polnischen, um etwas Abwertendes, Negatives zu suggerieren. Möglicherweise spielt die Autorin in diesem Zusammenhang auf ein polnisches Drama an, das 1949 in Warschau und in (Ost-)Berlin (am Deutschen Theater) seine Uraufführung erlebte: Leon Kruczkowskis Drama »Niemcy« (Die Deutschen), dessen ursprünglicher Titel lautete: »Niemcy sa˛ ludz´mi« (Die Deutschen sind Menschen).3 Die Deutschen in der DDR wurden nicht nur von den Polen ironisch betrachtet, sie galten auch in Westdeutschland oft als kleinbürgerlich, langweilig, als systemhörig bzw. systemtreu. Analog zu der von dem in den USA lebenden polnischen Schriftsteller, Stanisław Baran´czak, kreierten Kategorie des »Alien«4 konnten auch die Ostdeutschen als Fremde, als unbekannte Wesen5 bzw. »Alien« gelten. In Brygida Helbigs Erzählungen werden sie, ähnlich wie die Deutschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Drama von Kruczkowski, auf ihr eigentliches Wesen, nämlich »Menschen« zu sein, zurückgeführt. Henryk Sekulskis Roman könnte man im Vergleich mit Brygida Helbigs Erzählungen durchaus als eine Art Zustandsbeschreibung der herrschenden Verhältnisse in der DDR bezeichnen, getroffen aus der Sicht einfacher, polnischer Arbeiter, »zusammengewürfelt. Unerfahren. Provinziell. Ins tiefe Wasser geworfen« (P, 15). In Helbigs Erzählband wird die DDR dagegen aus der retrospektivisch-rückblickenden Sicht ihrer Bürger gezeigt. Ihre Protagonisten finden sich in einer Zeit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Übergangs bzw. nach der Wiedervereinigung auf der Seite der Verlierer am Rande der neuen Gesellschaftsordnung wieder. Sie sind im wiedervereinten Deutschland nicht angekommen. Beide Werke können durch weitere, gleichfalls die DDR thematisierende der polnischen Literatur ergänzt werden, so u. a. durch Kazimierz Brakonieckis »Dziennik berlin´ski« (Berliner Tagebuch, 2011), Andrzej Kaspereks melancholische Erzählungen »Back in the DDR i inne opowiadania« (Zurück in die DDR und andere Erzählungen, 2010), deren Titel auf einen berühmten Song der Beatles (»Back in The USSR«) anspielt, Krzysztof Wojciechowskis »Moi kochani Niemcy« (2000; Meine lieben Deutschen, 2002) oder durch Magdalena Parys’ »Tunel« (Der Tunnel, 2011). 3 Kruczkowski, Leon: Niemcy. Erstdruck in »Odrodzenie« (Lublin) 1949, Nr. 12, 33, 46. Der deutsche Übersetzungstitel lautet nach der Hauptfigur des Stückes: »Die Sonnenbrucks«. Leon Kruczkowski: »Die Sonnebrucks«. Berlin: Volk und Wissen 1951. Das Stück wurde 1951 unter der Regie von Georg C. Klaren verfilmt. 4 Unter dem Eindruck von Steven Spielbergs Film »E.T.« (1982) hatte Stanisław Baran´czak die Kategorie »E.E.« (East European) im Unterschied zum »A. A.« (Authentic American) geschaffen. 5 Röhl, Ernst: Der Ostler. Geschichten. Berlin: Eulenspiegelverlag 2000.

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Henryk Sekulski und Brygida Helbig sind auch biographisch eng mit den beiden deutschen Staaten verbunden. So arbeitete Sekulski als Gastarbeiter in der DDR, u. a. im Polnischen Kultur- und Informationszentrum in Leipzig. Helbig kam dagegen 1983 in die alte BRD und übersiedelte 1995 nach Berlin. Die DDR hatte sie selbst nicht erfahren und kannte sie nur vom Hörensagen aus zahlreichen Erzählungen und Geschichten. In den genannten literarischen Werken geht es um die komplizierte politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, aber auch um die mentale Transformation: Wie sahen die zumeist gängigen Stereotypen folgenden Vorstellungen über den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat und dessen Einwohner aus? Für die meisten Polen war die DDR ein »deutscher« Staat unter anderen, auf den tradierte, mit Deutschland in Verbindung gebrachte stereotype Vorstellungen bezogen werden konnten. Aus diesem Grund befanden sich die Polen in der DDR in einem »Wartezimmer nationaler Stereotype« (P, 96). Trotz der offiziellen Propaganda von den angeblich »besseren« Deutschen in der DDR und der von Honecker propagierten Theorie von der neuen, »sozialistischen deutschen Nation« blieben die DDRler für die Polen einfach nur »Deutschländer«. »Was soll man hier noch groß reden, der Deutsche bleibt ein Deutscher. Selbst wenn er sich, so wie wir, sozialistisch nennt. Ein fremdes Land. Fremde Leute. Eine fremde Sprache. […] Ost oder West, ganz egal« (P, 30).

Und so scheint es selbstverständlich zu sein, dass auch die DDRler den polnischen Vorstellungen von den Deutschen entsprechen: »Kantige, große Kerle, wie Bullen gemästet; man sieht es sofort, ein typischer Deutscher, wie aus dem Bilderbuch! Und beschissene Besserwisser noch dazu…« (P, 19).

Den Deutschen aus der DDR werden immer wieder typische deutsche Tugenden zugeschrieben. Dazu gehört u. a. vor allem die sprichwörtliche Ordnung: »[…] die deutsche Ordnung muss natürlich eingehalten werden. Ordnung ist Ordnung, klare Sache. Wir sind ja nicht nach Rumänien gekommen« (P, 44).

Ihr folgt augenblicklich die deutsche Reinlichkeit: »Die Klobrille ist so sauber, dass man sich drin spiegeln kann. Alles ist blankgeputzt und aufgeräumt, dass es nur so blitzt« (P, 25). In Helbigs Erzählungen »enerdowce i inne ludzie« findet man vergleichbare stereotype Vorstellungen von Deutschland und den Deutschen: »In der Schule hat man uns beigebracht: deutschländische Piefkes, deutsches Kauderwelsch, Hakenkreuz, Galgen, Halt« (E, 42). Die DDR war für die polnischen Arbeiter kein Ziel der ersten Wahl gewesen:

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»Wenn man nicht woanders hin konnte, dann war die DDR gut genug, auch wenn sie sich in Polen nicht der besten Meinung erfreute […]: Die Cleveren dagegen gehen in die BRD, aber solchen Deppen wie uns ist nur das Vaterland des Trabis geblieben« (P, 15).

Betrachtet man das semantische Feld DDR/DDRler etwas näher, dann fällt auf, dass die meisten polnischen Bezeichnungen alles andere als schmeichelhaft sind. So wird die DDR als NRDowo, NRDówka, Dederonia, Helmutowo, Trabantowo und ihre Bewohner als NRDowcy, enerdowce, dederony, enerdusy, die Männer als »Helmuts«, die Frauen als »Helgas« und die Kinder als »kleine Helmuts« und »kleine Helgas« bezeichnet (vgl. P, 15). Auch die (west)deutschen Bezeichnungen waren nicht gerade positiv konnotiert. So wurde die DDR u. a. als »Der Doofe Rest« buchstabiert, sie galt als »DPR« (Deutsche Problematische Republik), als »Zone«, und zwar im Sinne von »Sowjet- bzw. Ostzone«, ihre Bewohner waren DDRler, Zonis, Ossis. Der ostdeutsche Staat war kein Phantasiegebilde, keine Fata Morgana, auch nicht für seine östlichen polnischen Nachbarn, sondern harte, politische Realität. Es gab zahlreiche Begegnungen zwischen Polen und Ostdeutschen, u. a. im Rahmen des Kinder-, Jugend- und Studentenaustauschs. Man traf sich in Ferienlagern, bei freiwilligen Arbeitseinsätzen, während des Studiums oder der Arbeit. Die Polen sind geradezu »[…] massenhaft dahin gefahren, haben dort gearbeitet, gehandelt, sich an Sportwettkämpfen beteiligt, ihre künstlerischen und literarischen Werke vorgestellt… […] Das kann man nicht bestreiten, auch wenn nicht jeder daran erinnert werden möchte« (P, 78).

Dieser heute zur Geschichte gehörende Staat wurde vor allem mit einem in der DDR hergestellten Auto, dem Trabant, assoziiert: »Die DDR, das war der Trabant. Na vielleicht noch die Stasi oder die Berliner Mauer. Das war’s« (P, 79). In Helbigs Erzählband werden die »Trabis« sogar in Form von Fotografien in den laufenden Text integriert. Die »Pappe«, wie der Trabant ironisch-distanzierend zuweilen selbst von seinen Besitzern genannt wurde, fungiert immer wieder als kolportiertes Identifikations- und Erkennungsmerkmal. Das vielgeschmähte Auto der Ossis wird, wie auch der Ossi selbst, zum Gegenstand zahlreicher Witze und ironisch-sarkastischer Kommentare. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den selbstironischen Film »Go Trabi Go« Wie die DDR im Zuge von Transformation und Wiedervereinigung war auch der Trabant zu einem wichtigen Symbol des Ausverkaufs, zu einem Leasingobjekt geworden – »Trabi for rent« ist auf dem Einband von Helbigs Erzählband zu lesen. Und wie vor dem Mauerfall die »Ossis«, so wird auch der Trabi eingesperrt hinter Gittern gezeigt (E, 6). Er findet sich des Weiteren aber auch, sozusagen als Zeugnis aus einer untergegangenen Welt, auf einem Sockel wieder und ist selbst zu einem Denkmal geworden (E, 69). Der Trabant wird darüber hinaus als Auto der Volkspolizei der DDR gezeigt, außerdem gibt es den Safari-Trabi, der für die Sehnsucht und den

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Weltschmerz der hinter Mauer und Stacheldraht eingesperrten Ossis stehen könnte (E, 74, 85). Auf der ersten Seite des Buches von Henryk Sekulski erkennt man Münzen aus einer vergangenen Zeit, die nicht mehr gültig sind: Zlotys aus Volkspolen, DDR-Mark und Deutsche Mark. Die am 7. Oktober 1949 gegründete DDR war im vierzigsten Jahr ihres Bestehens implodiert. Das für viele Polen wie auch Westdeutsche unerwartete Aufbegehren der als systemkonform geltenden DDR-Bevölkerung hatte zum Sturz Honeckers, der letzten, bereits demokratischen DDR-Regierung, zum Fall der Mauer und zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten geführt. Es war etwas Neues gekommen und das hatte »diese kleine, lächerliche, aufgeblasene, zuweilen auch bedrohliche Republik hinweggefegt, die eifrigste unter den Schülern der Moskauer Schule des Kommunismus« (P, 155). Ohne die Solidarnos´c´-Bewegung in Polen, ohne den Völkerfrühling in Ostmitteleuropa wären diese einschneidenden, historischen Umwälzungen nicht denkbar gewesen. Mehr oder weniger deutliche DDR-Spuren haben sich aber bis heute im Osten Deutschlands erhalten, so in der Architektur und in ehemaligen DDR-Erzeugnissen, vor allem aber in der Mentalität, im Denken und Fühlen der Ostdeutschen, selbst wenn der Erzähler in Sekulskis Roman zu der Feststellung gelangt: »Von der sozialistischen Republik, die vor einigen Jahren noch das Ziel unserer unrühmlichen Odyssee gewesen war, ist kaum noch eine Spur geblieben« (P, 154). Bei Sekulski steht eine Frage im Mittelpunkt: Was interessierte die Polen an dieser ungeliebten DDR? Zweifelsohne war das Land für viele polnische Bürger ein Einkaufsparadies mit Fotoapparaten (Praktika), Schuhen (Salamander), Lebensmitteln (aus dem Delikat) und allerlei anderen, in Polen durchaus gefragten Artikeln: »Die Kaufhalle in der Nähe, alles kann man kaufen, keine langen Schlangen. Nicht wie bei uns. Fleisch und Wurst zur Genüge« (P, 83).

Die gelungene »Kombination«, als Arbeiter in der DDR Geld zu verdienen und zugleich die bessere Warenversorgung für den gewinnbringenden Kleinhandel zu nutzen, stellte einen Vorteil dar. Bereits der Titel von Sekulskis Roman, »Przebitka« signalisiert diesen materiellen Gewinn aus dem illegalen Kleinhandel über die von den DDR-Grenzpolizisten und Zöllnern streng bewachte Grenze: »In der DDR macht man den größten Gewinn mit Silber, mehr noch als mit Hemden. […]. Er schmuggelte Weidenkörbe, Ohrklipse, Kristallgläser, Autoaufkleber und eine Flasche Spiritus… Die halbe Tasche voll mit Krimskram, ein Händler wie sich’s gehört!« (P, 18)

Dabei waren auch kleine Dinge des täglichen Bedarfs für den Verkauf in Polen interessant, dessen Kauf vom DDR-Verkaufspersonal allerdings mit Argwohn registriert wurde:

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»Pfeffer zum Beispiel verkaufen sie den Polen nur fünf Tütchen auf einmal. Kein Deka mehr. Haben Angst, diese Helmuts, dass es für sie selbst nicht reicht. Aber Pfeffer zu schmuggeln zahlt sich absolut aus, ein Gewinn, der sich sehen lassen kann« (P, 88).

Die Auswirkungen dieses massenhaften Kleinhandels auf die damaligen Beziehungen zwischen der DDR und Volkspolen waren fatal. In Zeiten der sozialistischen Mangelwirtschaft führte der Schmuggel über die polnische Grenze zu auch von SED-Kreisen gesteuerten antipolnischen Kampagnen. Burkhardt Olschowsky spricht in diesem Zusammenhang von einer, auch in den offiziellen Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen herrschenden »gegenseitigen Unaufrichtigkeit«.6 Der polnische »Einkaufstourismus«, Kleinhandel und Schmuggel, das Denken in Kategorien des Geschäfte- und Gewinnmachens hatte sich nunmehr auch auf die angespannten Beziehungen zwischen den Polen und den DDR-Bürgern ausgewirkt.7 In Sekulskis Roman veranschaulicht eine solche Szene die damalige Situation in Leipzig: »Der Zug nach Polen fährt am Bahnsteig 26 ab, aber das muss man nicht wissen, das erkennt man sofort. Dieser Bahnsteig ist der letzte auf der rechten Seite vom Eingang. Es reicht hinzuschauen und alles ist klar. […] Auf Bahnsteig 26 türmen sich die Pakete, Fahrgäste sind nur eine Art von Zugabe. Packen auf Packen, Paket auf Paket, Wagen auf Wagen, Taschen und ganze Berge von Taschen, Riesentaschen. […] In den Taschen Töpfe, Pfannen, Salami, Pfeffer, Gewürze, Bohrmaschinen, Schokolade, Gardinen, Kindersachen« (P, 92–93).

Die Aktivitäten der polnischen Arbeiter wurden von der Volkspolizei, dem Zoll der DDR, vor allem aber von der Stasi misstrauisch beobachtet, die eine besonders unrühmliche Rolle in den Beziehungen zwischen den Deutschen in der DDR und den Polen spielte: »Die Stasi sitzt mir ohnehin auf den Fersen. – Die Stasi – sagte ich – überwacht jeden, wichtig ist allein, dass sie nichts finden, woran sie sich hochziehen können. Über uns haben sie auch schon Erkundungen eingezogen, unsere Nachbarin hat es uns gesteckt […]« (P, 288).

Mit den DDR-Deutschen hatte man sich, den Instruktionen des Leiters der polnischen Delegation folgend, auf keinerlei politische Diskussionen einzulassen, denn »nichts soll über Solidarnos´c´, über das Kriegsrecht oder Lech Wałe˛sa gesagt werden. – Das ist ein unerwünschtes Thema und ganz allein unsere innere Angelegenheit!« (P, 12) 6 Olschowsky, Burkhard: Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und Polen 1980–1989. Osnabrück: fibre Verlag 2005, S. 640. 7 Vgl. dazu: Logemann, Daniel: Das polnische Fenster. Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972–1989. München: Oldenbourg Verlag 2012. Hier vor allem das 4. Kapitel: Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig. Hamsterkäufe und Konsumkultur »von unten«, S. 265–334.

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Zu den Tabuthemen gehörte auch die höchst strafbare »Republikflucht«, das illegale Verlassen der DDR, »sogar mit einem Ballon« (P, 79). Den in der DDR durch den Schmuggel noch zusätzlich gestärkten antipolnischen Einstellungen stellten die Polen häufig ihre messianischen Vorstellungen bzw. ihre von der polnischen Romantik immer wieder genährte Widerstandsideologie gegenüber: »In diesem Partisanenkampf des Handels konnte sich zu dieser Zeit kein anderes Volk mit dem unsrigen messen, auf diesem Gebiet wurden wir zu unangefochtenen Weltmeistern. […]. Der Schmuggel wurde in den achtziger Jahren zu einer nationalen Beschäftigung, die Polen warfen sich in dessen Strudel wie in einen Aufstand; es lauerten Verbote, Durchsuchungen, Verfolgungen, lange und unbequeme Reisen auf sie, doch nichts konnte sie davon abhalten. Am Ende wartete nämlich, wie das Licht am Ende des Tunnels, der Triumph« (P, 142).

Aus einigen Vertretern dieses illegalen Handels und Schmuggels sollen – dem Erzähler in Sekulskis Buch zufolge – wichtige Repräsentanten der polnischen Marktwirtschaft geworden sein, die natürlich ihr damaliges Handeln bewusst verschweigen: »Viele der heute angesehenen Geschäftsleute haben damals angefangen, […] mit sehr bescheidenen […], inoffiziellen Handelskontakten mit dem Ausland.« Doch sie wollen sich heute nicht mehr daran erinnern, dass »am Anfang ihrer nicht selten abenteuerlichen Karriere häufig die DDR stand« (P, 142). Zwangsläufig schnitt die DDR im Vergleich mit der westdeutschen Wohlstandgesellschaft wesentlich schlechter ab: »Es schien, verflixt noch mal, dass es in der DDR so gut ist, dass es besser gar nicht sein kann. Doch […] hier [im Westen – der Verf.] ist das Paradies. Wir steigen in Offenbach aus« (P, 184).

Durch die gewählte Erzählperspektive der in der DDR lebenden polnischen Vertragsarbeiter kommt es zu ständigen Vergleichen und Anspielungen mit dem, was zu Hause bzw. in Polen gewesen sei und dort zurückgelassen wurde, und dem, was es in der DDR und im Westen gebe. Diese Vergleiche beziehen sich aber nicht nur auf Materielles, sondern auch auf die Geschichte, vor allem auf die polnisch-deutschen Beziehungen. Immer dann, wenn gewöhnliche Argumente in den Diskussionen mit den deutschen Kollegen nicht mehr ausreichen, wird die ›deutsche Karte‹ gezogen und werden Ereignisse aus der komplizierten polnischdeutschen Vergangenheit hervorgeholt, wohingegen sich die Polen als immerwährende Verfolgte und Opfer darstellen, die unter den Russen ebenso wie unter den Deutschen gelitten hätten. Eben aus diesem Grund gelte es, stets die Ehre der Polen zu verteidigen und die Überlegenheit der polnischen Phantasie über die deutsche Gewissenhaftigkeit unter Beweis zu stellen: »Unsere Ehre verteidigen wir und zeigen diesen Plumphosen, wozu ein Pole in der Lage ist« (P, 72). Um diese Überlegenheit jedoch demonstrieren zu können, muss sich der Pole als der

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Clevere beweisen (P, 136) und den Deutschen z. B. immer wieder Grunwald unter die Nase reiben: »Wir springen aus dem Saal, die Situation ist brenzlig. Es riecht nach Grunwald« (P, 166). Diese Auseinandersetzungen mit dem Blick durch »das Prisma von Konfrontationen« führen letztendlich aber auch dazu, dass sich die polnischen Arbeiter langsam an ihre Kollegen aus der DDR gewöhnen und ihre Ängste abbauen (P, 5). Hilfreich bei diesem deutsch-polnischen Vergleich scheint für die polnischen Arbeiter dabei auch die Literatur zu sein. So findet der Leser in Sekulskis Roman zahlreiche Anspielungen auf Werke der polnischen Literatur, die allerdings den meisten Deutschen nicht bekannt sein dürften. Sie sollen dazu dienen, den besonderen »polnischen Charakter« im Vergleich mit den Deutschen (in der DDR) zu unterstreichen: »Nehmen wir nur die bekannten Figuren aus unserer Literatur, sie sind Verkörperungen des Nationalcharakters, der polnischen Seele. Der Hauptheld von ›Lalka‹ (Die Puppe), Stanisław Wokulski, heiratet des Geldes wegen […] eine Deutsche, die Witwe von Jan Mincel, Małgorzata Pfeifer, ist aber unsterblich in jemand anderes, nämlich Izabella Łe˛cka verliebt, so eine etepedete, die auf ihn herabblickt« (P, 214).

Hinzu kommt die Figur des Karol Borowiecki aus Stanisław Ignacy Reymonts Roman »Ziemia obiecana« (Das gelobte Land), der, »[…] um sich vor dem Bankrott zu retten, die edle Liebe einer Einheimischen, einer Adligen, zurückweist und die lächerliche, schwachsinnige, dafür aber reiche Mada Müller heiratet« (ebd.). Polnische Überlegenheit demonstrieren die polnischen Arbeiter selbst dann, wenn es um das Essen und Trinken geht. Auffallend kritisch ist ihre Einstellung, was deutsche Sitten und Bräuche betrifft: »Was geht uns dennn deren deutschländischer Heiliger Abend an?« (P, 22) Löblich hervorgehoben wird dagegen ihr eigenes spezifisch polnisches Brauchtum: »Das […] Osterfest, geweihte Eier, bemalte Eier, Auferstehungsmessen, das österliche Bespritzen mit Wasser… In Deutschland überhaupt nicht denkbar. Das gibt’s nur bei uns« (P, 116).

Dabei kommt im Vergleich auch das polnische Essen und Trinken weit besser weg: »Die Deutschen haben von Suppen keine Ahnung. Als Mittagessen bieten sie uns Eintopf an, der ist so dick, dass der Löffel drin stecken bleibt. Die Soljanka lässt sich zwar essen, aber schon vom Namen her weiß man doch, dass sie keine deutsche Erfindung ist! Dafür kennt allerdings in Polen niemand Rapünzchen, Schwarzwurzel oder Weihnachtsstollen!« (P, 85).

Polnische Erzeugnisse seien dagegen wahre Leckerbissen: »Und […] unser Wodka, unsere Wurst und unsre sauren Gurken […], kein Vergleich mit den

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deutschen!« (P, 144) Nur das Bier in der DDR wird als gut bewertet: »Das deutsche Bier. Gut, oh ja, das ist wirklich gut. Nicht wie unsres« (P, 29). Auffallend anders als im katholischen Polen war in der DDR das Verhältnis zur Kirche: »[…] in den Kirchen ist es leer, ein Kommunist neben dem anderen, und wenn einer schon mal kein Kommunist ist, dann ist er ein Protestant« (P, 91). In der DDR schienen die vor allem in den Schulen und Hochschulen verbreiteten atheistischen Einstellungen auf einen durchaus fruchtbaren Boden zu fallen: »Andere Länder, andere Sitten […]. Bei uns der Papst – Popiełuszko, Wałe˛sa – […] und die Mutter Gottes und bei ihnen reicht nicht der Luther aus, da kommen Marx und Engels hinzu. Die DDR und Honecker […] und Lenin. Den Glauben haben sie ihnen aus dem Kopf geschlagen. Und zwar gründlich. Man spürt, dass sie mit Religion nichts am Hut haben« (P, 177).

Diese Auffassungen bei Sekulski decken sich weitgehend mit der Meinung, die von der Figur der Uta, einer ehemaligen DDR-Bürgerin, in Brygida Helbigs Erzählungen vertreten wird: »Gott brachte sie [Uta – der Verf.] fortwährend in Verbindung mit Rückständigkeit, Finsternis und Mittelalter […]. In Utas Welt, in ihrer Familie und bei ihren Freunden existierte dieser kompromitierte Gott einfach nicht. Er hatte nichts mit Fortschritt, gesundem Menschenverstand, vor allem aber nichts mit individueller Souveränität zu tun. Und Fesseln jeglicher Art hasste Uta am meisten« (E, 9).

Sekulski verweist aber auch darauf, welche Bedeutung die evangelische Kirche in der DDR, mit der Leipziger Nicolaikirche und ihrem Pfarrer Führer als Zentrum, gerade für die Bürgerbewegung und die friedliche Revolution in der DDR besitzt. Unter dem schützenden Dach der evangelischen, nicht aber der katholischen Kirche hatten sich unterschiedliche, mit der DDR unzufriedene Gruppierungen, Umweltschützer ebenso wie Fürsprecher einer allgemeinen Abrüstungsbewegung in Ost und West, die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden wollten, versammelt. Zu ihnen gehörten auch die Vertreter der »Aktion Sühnezeichen«, Verfechter eines zu reformierenden, menschlichen Sozialismus, aber auch erklärte Gegner des DDR-Systems. Im Vergleich mit ihren Altersgenossen in der Volksrepublik Polen unterschieden sich die Jugendlichen in der DDR von ihnen, insofern die DDR-Jugend selbstständiger, selbstbewusster und unabhängiger war: »Eine vierzehnjährige Rotznase bekommt bereits zur sogenannten Jugendweihe seinen Personalausweis und darf sich von nun an als ein erwachsener Bürger fühlen, er kann die Nase hoch tragen und den Erwachsenen nacheifern« (P, 135). Aus polnischer (aber auch aus katholisch süd- bzw. westdeutscher) Sicht differenzierten sich die »Ossis« aber noch unter einem weiteren Aspekt, und zwar dem Verhältnis zum eigenen Körper bzw. zur Körperlichkeit allgemein. In der »nackten Re-

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publik«8 genoss man körperliche Freizügigkeiten in Form der Freikörperkultur, in der Sauna ebenso wie am FFK-Strand, und zeigte ein unbefangeneres Verhältnis zum Sex. Helbig beschreibt dementsprechend, scheinbar als eine Art Ergänzung zur DDR-Gesellschaft mit ihrer freizügigen FKK-Kultur, eine gestellte Szene von »westdeutschen Nackedeis« am Westberliner Teufelssee (E, 28). Aus der Erzählperspektive der in Polen aufgewachsenen Privatdozentin scheint die Nacktkultur in West-Berlin etwas durchaus Exibitionistisches zu besitzen, gleicht sie doch »einer Art Performance, Show oder Vorführung« dahingehend, gerade am Nacktstrand »Grenzen« unterschiedlichster Art zu überschreiten und miteinander zu »konkurrieren«, wer wohl am Liberalsten eingestellt sei (ebd.).

II.

Zur Tradition der polnischen »Spötter«

Sekulskis Roman kann in die sich auf ironische, sarkastische bzw. auch absurde Weise mit der romantischen Legende auseinandersetzende Literaturtradition der polnischen Spötter eingereiht werden.9 An zwei Beispielen soll im Folgenden gezeigt werden, wie der Autor in seinem Werk liebgewonnene Stereotype und nationale Traditionen verlacht. Liebesbeziehungen zwischen Polen und Deutsche spielen bei Sekulski eine besondere Rolle. Sie können im Kontext der sogenannten »Heiratsemigration«, vor allem aber der stereotypen Darstellung von Polen und (DDR-)Deutschen gesehen werden.10 Die Arbeitsemigranten sind in Sekulkis Roman männlichen Geschlechts. Sie geben sich gerne als ritterliche Kavaliere und Charmeure, auf die viele Frauen in der DDR nur so »fliegen«: »[…] denn der Pole, der ist ein Gentleman. Nicht wie so ein deutscher Piefke. Er weiß genau, wie er sich ranzumachen hat: er haut auf den Putz, macht Versprechungen, küsst die Hand, kommt mit Blumen an…« (P, 99).

Neben der vorgespielten polnischen Ritterlichkeit gehört zu den herausgestellten männlichen Tugenden auch die polnische Trinkfestigkeit. Auch hier »zeigt man den Helmuts, wie man trinken muss […]« (P, 81). Überhaupt fällt der Vergleich der polnischen Männer mit den (Ost-)Deutschen ausgesprochen ungünstig für diese aus:

8 Anspielung auf den Band: Die nackte Republik. Aktfotographien von Amateuren aus 40 Jahren Alltag im Osten. Das Magazin. Berlin: Verlagsgesellschaft Berlin 1993. Vgl. auch Garbe, Eberhard: Natürlich nackt: FKK und Akt in der DDR. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2012. 9 Piwin´ska, Marta: Legenda romantyczna i szydercy. Warszawa: PIW 1973. 10 Glorius, Birgit: Transnationale Perspektiven. Eine Studie zur Migration zwischen Polen und Deutschland. Bielefeld: Transcript 2007, S. 134–135.

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»[…] der Deutsche ist bequem, am wichtigsten sind ihm Trabant, Sessel, Bratwurst, Bier… Eine Frau ist kommt ihm auch zu passe: sie wäscht, kocht, bezieht die Betten. Doch wenn so ein Helmut erst einmal mit dem Biertrinken beginnt, wird er schnell müde und […] fängt sofort zu schnarchen an, weshalb sollte er sich dann noch weiter abmühen?« (P, 100)

Eine Frau aus der DDR wird – und auch hier werden wieder gängige Stereotypen bemüht – als nicht besonders begehrenswert dargestellt. Eine solche »Helga« aus der DDR war den Polen nur schwer zu vermitteln: »Eine Deutsche? Oh Gott. Und dazu noch aus der DeDeR??? Mein Gott Edek, was ist nur in dich gefahren! Wo hast du nur deinen Verstand gelassen? Wieso warst Du nur in der BRD? Hättest Du das nicht sofort dort erledigen können?« (P, 195)

Diese sogenannten »Helgas« werden von den polnischen Arbeitern folgendermaßen »bewertet«: »Die Frauen in der DDR sind in der Partei, die Kirche meiden sie, an Gott glauben sie nicht, man kann sie zwar bis zum Gehtnichtmehr bumsen und dennoch ist es keine Sünde. Zumal weil sie die Pille nehmen und man nicht bangen muss Alimente zu zahlen« (P, 99).

Ganz anders verhält es sich, was die Polinnen betrifft, denn die besitzen »tatsächlich etwas Besonderes. Einen außergewöhnlichen, den deutschen Frauen völlig abgehenden Reiz. […]: Mädchenhaftes und Mütterliches gehen bei ihnen einher mit sexueller Begehrlichkeit. Und unter der Maske der Unschuld verbergen sich Schalkhaftigkeit und Rafinesse« (P, 8).

Schon aus »Karl Millöckers Operette, ›Der Bettelstudent‹, weiß man doch, dass der Reiz der Polinnen unerreicht ist« (P, 79). Dieser Feststellung folgt ein kleiner Exkurs, sozusagen eine belehrende Erläuterung: »[…] Die Macht des Stereotyps der ›schönen Polin‹ ist bei den Deutschen so groß, dass selbst die Hitlerdeutschen, als sie in Polen einmarschierten, ›In einem Polenstädtchen‹ sangen…« (P, 80). Letztendlich sei es der Zauber und die Macht der Liebe, die es allein vermöge, die Kluft zwischen den Polen und den (DDR-)Deutschen zu überwinden: »Zwei Menschen, die alles teilte – Sprache, Kultur, Bräuche, eine unüberwindliche Staatsgrenze und Feindschaft zwischen beiden Völkern – begegnen sich zufällig und augenblicklich, vom ersten Moment an, sind sie sich darüber im Klaren, dass sie die andere, fehlende Hälfte gefunden haben […], dass sie von nun an nicht mehr voneinander lassen wollen« (P, 74).

Der romantisch geprägten Liebe folgt der ebenfalls in der Tradition der polnischen Romantik stehende Patriotismus der Polen, der in einem engen Zusammenhang mit großen polnischen Persönlichkeiten gesehen wird. Zu diesen Vorbildern und Helden gehört – immerhin spielt Sekulskis Roman in Leipzig –

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Fürst Józef Poniatowski, den der Autor in einen engen Zusammenhang mit einem besonderen literarischen Werk von Adam Mickiewicz bringt: »Ordons Redoute« (Reduta Ordona) aus dem Jahr 1832, das notabene in dessen Dresdner Exil verfasst wurde. Und so beginnt die für die polnischen Arbeiter organisierte Stadtbesichtigung (bezys´tigung!) notwendigerweise am Leipziger PoniatowskiDenkmal: »Zum Auftakt das Denkmal von Fürst Joseph, der hier den Heldentod starb, als wir gemeinsam mit Napoleon bei Leipzig ordentlich den Arsch versohlt bekamen, und Poniatowski, eben Pole, darauf bestand, bis zuletzt zu kämpfen. Und so kämpfte er und kämpfte er, bis er auf seinem schäumenden Pferde in die Fluten der Elster stürzte und danach gab’s einen [polnischen – der Verf.] Patrioten weniger. Das Denkmal, nicht schlecht, nicht besonders groß, elegant, man kann nichts dagegen einwenden. – Und diese Elster – fragen wir – ist die weit von hier weg? – Nicht weit. – Es wäre schon gut sie zu sehen. – Kajn Problem. Nachdem wir ein Stück gefahren sind, steigen wir am Ufer aus und wollen unseren Augen nicht trauen: das Wasser reicht bis an die Knöchel! Na, höchstens bis an die Knie. – Wie kann man hier nur ertrinken? – Noch dazu auf einem Pferd? – Vielleicht hat er vor der Schlacht einen ordentlich gehoben? Die Dolmetscherin erklärt, dass der Fluss damals wahrscheinlich noch nicht begradigt war und etwas tiefer gewesen sein muss. – Und selbst wenn es so gewesen ist… Und das ihn die Strömung augenblicklich mit sich gerissen hat? Es sei denn, dass er schwer verwundet war, eine andere Erklärung kann es nicht geben. […] Ein Verwundeter hat schließlich das Recht dort zu ertrinken, wo es ihm gefällt, denn anderenfalls wär’s schon etwas blöd, wenn unser Nationalheld in so einer Pfütze ertrunken wäre. Und diese reißenden Fluten der Elster, das ist wohl auch eine Übertreibung. Sicher hat irgend so ein Poet, der den Fluss gar nicht selbst gesehen hat, sich daran hochgezogen und ist in seiner Beschreibung aufs Ganze gegangen, hat aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. So wie dieser Mickiewicz, der hat erst herumgejammert, hat die Redoute beklagt, dass die in die Luft gesprengt wurde und dass ihre Verteidiger dabei heldenhaft umgekommen sind, und später, da hat’s sich herausgestellt, dass dieser Ordon lebt, gesund wie ein Fischlein im Wasser« (P, 26–27).

Der Bezug zu Poniatowski bleibt bei den polnischen Arbeitern in Leipzig aktuell. So äußert z. B. der Erzähler während einer langweiligen Schriftstellerlesung im Polnischen Kultur- und Informationszentrum: »Uns fallen schon die Augen zu, doch wir kämpfen heroisch mit dem Schlaf wie Fürst Józef Poniatowski an der Elster, schließlich erwartet der Schriftsteller, dass wir mit ihm noch diskutieren« (P, 139).

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III.

Hans-Christian Trepte

Die DDR und das Deutsche

Der DDR-Bürger, DDRler, Ossi oder Zoni schien, auch was seine Sprache betrifft, eine besondere Unterkategorie der Deutschen darzustellen. Generell kommt der deutschen Sprache in beiden in polnischer Sprache geschrieben Werken eine besondere Bedeutung zu. Das Deutsche wird dabei dem polnischen Lautsystem angepasst und in polnischer Umschrift wiedergegeben. Es bezeichnet Realien und dient u. a. als Nachweis für das Authentische, Reale, erscheint aber auch in Form von häufig verwendeten Floskeln, Redewendungen und bruchstückhaften Äußerungen. Bei Brygida Helbig heißt es z. B.: »U-Bahn, Na klar! Komm! … dort sind genug Weiber« (E, 48). Hinzu kommen deutsche Vulgarismen wie »Arschloch« und »Scheiße«, aber auch deutsche Lieder: »Ich habe einen Koffer in Berlin« – eigentlich: »Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin« (ebd.). Sicher darf man nicht so weit gehen, den Deutschen in der DDR eine eigene Sprache zuzuschreiben. Allerdings unterschied sich das gesprochene wie auch das geschriebene DDR-Deutsch, vor allem auf der offiziellen Regierungs- und Parteiebene, vom BRD-Deutsch im Westen. Dieses Parteideutsch, ostdeutsches »newspeak«, unterschied sich aber auch vom bewusst gewählten, »guten« Deutsch zahlreicher DDR-Bürger. Was die Umgangssprache einfacher Menschen in der DDR betrifft, spielten zudem Mundarten eine wichtige Rolle, die sich bis heute erheblich voneinander unterscheiden. Das Sächsische war nur eine von vielen Mundarten und nicht der in der DDR überall gesprochene Dialekt, wie oft bis heute fälschlicherweise angenommen wird. Ebenso berechtigt, was die offenkundigen sprachlichen Unterschiede angeht, nicht dazu, von einer damals existierenden »Sprachmauer« zu sprechen.11 Der Erzähler in Sekulskis Roman spricht hingegen von einer besonderen »sprachlichen Geographie« in der DDR und begibt sich auf eine »Jagd durch diese Sprachgeographie«. Zur dieser zählt er in erster Linie »landeskundliche« Realien, die mit der DDR assoziiert werden und heute oft vergessen, die aber auch in Brygida Helbigs Erzählungen präsent sind. Zu ihnen gehören Abkürzungen wie SED, PDS, FDJ, NVA, ABV, LPG, aber auch Intershop, Jugendweihe, Kaufhalle, Barkas Werke (E, 45), Zeitschriften wie die »Fußballwoche« und »Sportecho«, Vereine wie die FDJ und die ( Jungen) Pioniere. Hinzu kommen DDR-Bands wie Die Puhdys, die Berliner Musikgruppe RotFront sowie Dichter und Sänger wie Wolf Biermann (ebd.). Zu den »Ostprodukten«, die es noch bzw. wieder gibt, gehört die Sektmarke »Rotkäppchen«, zählen Spreewälder Gurken, Werder Ketschup, Bautzener Senf, Thüringer Pflaumenmus und Club 11 Donderowicz, Magdalena: Die deutsche Sprache zwanzig Jahre nach der Vereinigung. Ist die »Sprachmauer« gefallen? In: Okon´ski, Krzysztof; Pruss-Pławska, Dorota (Hrsg.): Der polnische Blick auf die Berliner Mauer: Politik – Geschichte – Medien – Literatur. Bydgoszcz: Wydawnictwo Uniwersytetu Kazimierza Wielkiego w Bydgoszczy, S. 236–243.

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Cola. Hinzu kommen Realien aus der VR Polen, die auch in der DDR bekannt waren, wie »Lolek und Bolek«, »Die Roten Guitarren« oder die Fernsehserie »Vier Panzersoldaten und ein Hund« (ebd.). Die Ostprodukte werden bei Helbig mit den verlockenden Westprodukten der schönen neuen Welt verglichen. In der »sprachlichen Geographie« spielen aber auch »landeskundliche Wendungen« (P, 159), die oft vom Erzähler erläutert werden, eine bedeutende Rolle. Zu ihnen zählen beispielsweise »Polnische Wirtschaft« oder »Jetzt ist Polen offen« im Sinne von »alles ist möglich, alles gerät außer Kontrolle«12. Hinzu kommt: »Noch ist Polen nicht verloren!«, was soviel heißen will wie, so der Erzähler, »ein kaum zu lösendes Problem kann letztendlich doch noch gelöst werden«.13 Berücksichtigung finden des Weiteren auch Redewendungen im nichtpolnischen Kontext wie »Böhmische Dörfer«, eine Bezeichnung für etwas Unklares, Unverständliches, »schwedische Gardinen« oder, dass etwas jemandem »Spanisch vorkommt« im Sinne von »etwas ist seltsam, verdächtig«. Es schließen sich in der DDR gebräuchliche Phraseologismen an wie »Potemkinsche Dörfer«14 oder »Parteichinesich«, eine spöttische Bezeichnung für den (unverständlichen) Jargon kommunistischer Funktionäre. Denn was die Russen betrifft, gab es besonders viele solcher Phraseologismen: »Das gibt’s in keinem Russenfilm!«, eine Redewendung die etwas Unerhörtes, Unwahrscheinliches zum Ausdruck bringt. Hinzu kommen »Russendisco« und »Russisches Roulette«. Es werden aber auch Sprüche angeführt, die, im Kontext der Wiedervereinigung gesehen, im Osten Deutschlands häufig verwendet wurden: »Wo gehobelt wird da fallen Späne«; »Niemand hat gesagt, dass es leicht wird« oder »Wir müssen jetzt alle den Gürtel enger schnallen.« Interessant und aufschlussreich ist die Wahrnehmung des Deutschen durch die Polen, die auch hier tradierten stereotypen Vorstellungen folgt: »Das Deutsche verursachte bei uns [Polen – der Verf.] Herzrasen. Es klingt bedrohlich. So als würden sich die Wehrmacht zu Wort melden« (P, 150).

Die deutsche Sprache gilt als ein unverständliches Kauderwelsch, denn selbst »wenn ein Schwarzer etwas auf deutsch sagt, kann man noch etwas mitbekommen, doch einen Deutschen, den kann ich weiß Gott nicht verstehen. Was ist das nur für eine verfluchte Sprache!« (P, 129)

12 Eräuterung des Erzählers: Polen war zur Zeit der Anarchie ungeschützt und damit offen für das Eingreifen fremder Mächte in die innerpolnischen Angelegenheiten (P, 150). 13 Eräuterung des Erzählers: Ein historischer Bezug auf die zweite Teilung Polens, den Kos´ciuszko-Aufstand und den [angeblichen – der Verf.] Ausspruch von Tadeusz Kos´ciuszko, »Finis Poloniae«, und auf Józef Wybickis »Noch ist Polen nicht verloren« (ebd.). 14 Erläuterung des Erzählers: Aleksandrowitsch Potemkin und die Vorspiegelung reicher Dörfer beim Besuch der russischen Zarin Katharina II. Ein entsprechendes Äquivalent im Polnischen wäre »czeski film« (ebd.).

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Deutsch zu lernen, galt als verpönt: »Kennst du denn keine bessere Sprache? Befass dich doch mit etwas Vernüftigerem!« (P, 150) Allerdings wurden in Gesprächen mit den Arbeitskollegen aus der DDR immer mehr deutsche Wörter und Ausdrücke verwendet: »Deutsch kann von uns keiner, außer guten tag, ałf wider sejen, danke, byte, szajze, jawol her general, itede, itepe, ein jeder von uns. Ohne Sprachkurs« (P, 34). Langlebigen Stereotypen folgend wurde das Deutsche hauptsächlich auf das Brandenburgisch-Preußische, das Militärische und auf den von den Nazis propagierten Sprachduktus reduziert. Zum BrandenburgischPreußischen kommt jedoch – bei Sekulski vor allem auch wegen des Leipziger Lokalkolorits – das Sächsische hinzu: »Der Deutsche spricht schnell, nachlässig und dazu noch sächsisch« (P, 130). Im täglichen Kontakt mit dem wider Erwarten weichen Sächsisch verändert sich dann allmählich die Einstellung zum Deutschen: »Diese Sprache, die wir hauptsächlich über Redewendungen wie ›Hände hoch‹, ›raus‹ und ›Heil Hitler‹ wahrgenommen hatten, offenbart uns letztendlich auch ihr freundlicheres Angesicht. Wir zittern nicht mehr bei ihrem Klang, wir gewöhnen uns an sie. […] Sie stört uns nicht mehr, wenn wir sie hören« (P, 11).

Allerdings fällt es nicht leicht, in einem polnischsprachigen Text die besondere Spezifik des Sächsischen wiederzugeben; es stellen sich zwangsläufig Fehler ein. So heißt beispielsweise Chemnitz im sächsischen Dialekt nicht »Kemz«, sondern »Kamz« (E, 37) und Leipzig heißt im Sächsischen nicht »Lajpc´« (E, 41), sondern »Lajpcsz«. Darüber hinaus stimme angeblich Sächsisches in phonetischer und lexikalischer Hinsicht auch nicht immer: »Na sach mal, wie sieht es hier aus, können wir hi etwas abruhen, abmatten, auf die Kante legen?« (E, 52) »Auf die Kante legen« hat eine andere Bedeutung und wird im Sinne von »sparen« verwendet, gemeint ist hier aber wahrscheinlich eher »sich hinhaun« im Sinne von »schlafen gehen«. Interessant sind in Sekulskis Roman außerdem jene Textpassagen, in denen der stark umgangssprachlich und vulgär geprägte »Polensprech« der polnischen Arbeiter vorgestellt wird: »Und das Wort ›kurwa‹ hagelt nur so herab. Ein Schauer folgt dem anderen […], denn ohne ›kurwa‹ geht bei den Polen rein gar nichts, vor allem, wenn sie beim Trinken sind« (P, 102),

so wie eben der Deutsche »ohne szajze« nicht umgehen kann (ebd.). Im täglichen Sprachkontakt kommt es zwangsläufig zur Vermischung des Polnischen mit dem Deutschen: »Breslau, erklärt ich den Deutschen – nyks! Najn. Ject in Polen, Wrocław« (ebd.) oder »– Un-meg-lis´! – Was ist dort unmeglis´. Der Pole kann’s […]« (P, 94).

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Zur Veranschaulichung dieser Sprachmischung mit ihrer eigenen ›Sprachwürze‹ sollen im Folgenden kurze Textabschnitte angeführt werden, die allerdings nur für diejenigen verständlich sein werden, die das Polnische beherrschen: »Przynosimy na zgode˛ butelke˛ z˙ubrówki. – Blos nyis´t cu fiyl! – przestrzega. – Nyis´t załfen! – Tylko ain biss´en, mówi Chadaj. Nach der arbajt. Ajne flasze i szlus« (P, 82).

Das betrifft auch Sprachmischungen in amüsanten Liedern und Reimen: »Morgen fry um zekse / kogut kure˛ depce. / Kura mówi altes szwajn / Kogut na to das mus zajn« (P, 115) oder »Cajgt her ojre fyss´en, cajgt her ojre szuł und szałet den flajsygen waszfrałen cu. Zji waszen, zji waszen, zji waszen den gancen tak« (P, 14). Zum Deutschen gesellt sich dabei eine weitere Sprache, und zwar das Russische, das von den Polen ebenso wie von den Deutschen in der DDR in der Schule gelernt werden musste. Es wird, wie das Deutsche, ebenfalls in polnischer Umschrift geschrieben. Zwei in Sekulskis Roman präsentierte russische Lieder sollen das veranschaulichen: »Sołniecznyj krug, niebo wokrug, eto rysunok malcziszki, narysował on na listkie i podpisał w ugołkie…« (P, 57) sowie »Pust’ wsjegda budziet sołnce«, ein Lied, das die Polen ebenso wie die Deutschen in der DDR kannten: »[…] wir Polen dann auf Polnisch im ›sznapsbariton‹ und dann die Helmuts ›Imer lejbe di zone‹« (P, 58).

IV.

Die »DDRler« bzw. die »Ossis« nach der Wiedervereinigung

Was ist mit den Ex-DDR-Bürgern nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten passiert? Dieser Frage stellt sich u. a. Brygida Helbig in ihrem Erzählband »enerdowce«. So beschreibt sie, wie die Mehrheit der Ostdeutschen vom westlichen Konsum, vom bunten Warenangebot, von den Verführungen der »neuen schönen Welt«, von Südfrüchten, Coca Cola, Irisch Moos und Jacobs Krönung geblendet wurde. Nach der Währungsunion waren fast von einem Tag auf den anderen sämtliche DDR-Produkte aus den Geschäften und Warenhäusern verschwunden und durch Westprodukte ersetzt worden (E, 46). Erst später, als die allgemeine Euphorie einer wachsenden Ernüchterung wich, kam es zu einer Rückbesinnung auf die eigene Lebensgeschichte, d. h. zu einer Renaissance bekannter Ostprodukte mit ihrem vertrauten Geschmack. Denn mit der Wiedervereinigung drohten die »DDRler«, ähnlich wie die Indianer in Amerika nach den Eroberungen durch die Weißen, zu verschwinden: »Und er, widerrechtlich aufgeweckt, dachte an die toten Indianer, deren Gebeine in den Ästen der Bäume aufgehängt wurden…« (E, 15). Viele der ehemaligen DDR-Bürger aber gingen nicht in der gesamtbundesdeutschen Einheit auf und blieben als Ossis (oder

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wollten es bleiben!) auch weiterhin »sichtbar«, was ihnen nicht selten vorgehalten wurde: »Die Ex-DDR-Bürger können ihre Herkunft nur schwer verleugnen, vierzig Jahre einfach streichen, an die sie irgendjemand immer wieder gehässig erinnert, sie ihnen vorwirft, sie lächerlich macht. So lange sie leben werden sie Geiseln dieser Erinnerung bleiben. Alle anderen haben sie vergessen – mit der DDR hatten sie nichts zu tun. Sie waschen ihre Hände in Unschuld. Besiegte haben keine Freunde, zu ihnen zu stehen schickt sich nicht […]« (P, 155).

Die Betroffenheit der Protagonisten bei Brygida Helbig ist vergleichbar, insofern Rainer, Ute, Dieter, Volker und Uwik (eine amüsante polonisierte Form von Uwe) weder in der DDR zu den konformen, treuen Bürgern gehörten noch nach der Wiedervereinigung zu den Gewinnern der deutschen Einheit zählen. Vielmehr bilden sie die (ostdeutsche) ›Loser-Generation‹ und leben in der kapitalistischen Gesellschaft erneut am Rande der Gesellschaft, wo sie ein Rand- und Nischendasein fristen müssen. Den persönlichen Geschichten ihrer Figuren zu lauschen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Erzählerin in Helbigs Text, die »von unten« erzählen möchte (E, 36). Ihre Protagonisten sind geprägt durch die sozialistische Erziehung in der DDR, durch den Mauerkomplex, die stürmische Zeit der »Wende«, den Fall der Berliner Mauer und durch die deutsche Wiedervereinigung. Sie werden von Existenzängsten bzw. typischen »DDR-Obsessionen« (E, 23) und Minderwertigkeitskomplexen geplagt und distanzieren sich von den nach der Wiedervereinigung so zahlreich in den Osten Deutschlands strömenden Beratern, Verwaltern und Beamten aus der BRD, die mit einer finanziellen Lockprämie, der sogenannten »Buschzulage«, in die neuen Bundesländer gelockt werden: »Auf jeden Fall sind ihre Komplexe, entstanden aus einem langjährigen Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen, stärker noch als die unsrigen [polnischen – der Verf.]. Die Sekretariate der unterschiedlichsten Einrichtungen sind voll mit degradierten Intellektuellen mit Titeln aus dem Osten, die auf Schritt und Tritt gedemütigt werden, Bitternis und Wut in sich aufhäufen. Sie sind auf der Suche nach Sündenböcken, an denen sie ihre Wut auslassen können« (ebd.).

Viele »Westler« waren aber auch deshalb in den Osten gegangen, um selbstlos beim Aufbau zu helfen, während andere hauptsächlich als Abenteurer kamen. Diese sahen nunmehr ihre Chance gekommen, schnell viel Geld zu machen bzw. eine ihnen bisher im Westen verwehrte Karriere zu verwirklichen. Die Tatsache, dass ein Großteil der DDR-Intellektuellen infolge des Anschlusses der DDR an die BRD einfach »ausgetauscht« wurde und Arbeiter wie Intellektuelle nicht selten von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren, verursachte dem-

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entsprechend Enttäuschung und Frust. So hatte Uwe in der DDR studiert und von einer Anwaltskarriere geträumt: »[…] doch die Wende oder der Umbruch nahm ihm die Möglichkeit auf diesem Gebiet zu arbeiten. Seit 17 Jahren ist er nunmehr arbeitslos und seine Liebe zur Arbeit verwirkt er in zahllosen Gerichtsprozessen, die er sich aufhalst« (E, 24).

Ein entscheidender Grund für die gebrochenen Lebenswege und Karrieren von Ostdeutschen wird, den Aussagen der Protagonisten in Helbigs Erzählungen zufolge, u. a. darin gesehen, dass die meisten der in der DDR erworbenen Abschlüsse und Qualifikationen nach der deutschen Wiedervereinigung nicht anerkannt wurden. Das führt bei Uta zur bitteren Erekenntnis: »Das ist nicht mein Land […] Das ist mein Okkupant« (E, 10). Mithilfe erzählter, infolge der Wiedervereinigung gebrochener Lebensgeschichten wird der Untertitel von Helbigs Buch erst richtig verständlich: »Oder wie ich nicht zu einem Helden wurde«15, ein Verweis auf das Versagen all jener ehemaligen DDR-Bürger, denen es nicht gelungen war, im Prozess der friedlichen Revolution und der nachfolgenden Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu Helden bzw. Aufsteigern zu werden. Helbig scheint mit ihrem Heldenbegriff u. a. auch die Vertreter der »reifen« Generation von Polen und Ostdeutschen anzusprechen, die sich an die »Helden« der russischen Sowjetliteratur erinnern können, also an vorbildliche »sozialistische Helden« wie die Figur des Pawel Kortschagin aus Nikolaj Ostrowskis Roman »Wie der Stahl gehärtet wurde« (1932–34) oder an »Timur und sein Trupp« (1940) von Arkadij Gajdar, die zur damaligen Schullektüre gehörten (E, 36). Hinzu kommen die als Leitbild hevorgehobenen »Aktivisten der sozialistischen Arbeit«16, die Partisanen und Kriegshelden. So können Helbigs Protagonisten zwar zumeist die Wiedervereinigung akzeptieren, doch sie empfinden sie, wie Uta, als einen »Anschluss« an die alte Bundesrepublik, der einen großen Verlust an Idealen und Lebensträumen mit sich bringe: »[…] wie alle in Prenzlauer Berg konnte sie nicht die Vereinnahmung ihres Landes durch die Bundesrepublik akzeptieren, […] sehnten sie sich nach jener Welt zurück, die untergegangen war. In der DDR konnten und wollten sie etwas verändern. In der DDR gab es noch gewisse Ideale« (E, 10).

Aus der provinziellen Enge der DDR vom nördlichen Pasewalk bis ins südliche Karl-Marx-Stadt17 reichen die Lebensgeschichten von Helbigs Figuren. Viele von 15 Poln.: czyli jak nie zostałem bohaterem. 16 Poln: przodownicy pracy. 17 Karl-Marx-Stadt, umgangssprachlich auch »Kalle-Malle« nach dem Fußballverein FC KarlMarx-Stadt genannt, erhielt nach der Wiedervereinigung seinen alten Namen Chemnitz zurück.

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ihnen waren nach (Ost-)Berlin, nach Budapest oder nach Prag gezogen, das als das »Paradies der Ostler« (E, 49) galt. Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen dienten vielen Ostdeutschen als eine Art Ersatz für den unerreichbaren Westen: »[…] alle DDRler waren geradezu verrückt darauf nach Prag zu fahren, denn das war ihr einziger Westen« (E, 49). Dort, ohne die begehrte Westmark, machte man aus der Abneigung gegenüber den Dederon-Deutschen18 keinen Hehl; sie wurden nicht geliebt, »weder von den Polen noch von den Tschechen« (E, 51). Die (ost)deutsch-polnischen Beziehungen werden in Helbigs Erzählband aber noch um eine dritte Dimension, und zwar die tschechische, erweitert. So spielt Prag in den autobiographisch geprägten Abenteuern einer aus Polen stammenden Privatdozentin eine wichtige Rolle (E, 75ff.). Dabei wird, ebenso wie das Deutsche und Russische, auch das Tschechische in einer dem Polnischen angepassten Schreibform wiedergegeben, so u. a. in Realien wie Wistup, Letiszcze, cizincy, Vaclavske Namiesti (E, 82–83). Hinzu kommen tschechische Wörter, Redewendungen und Feststellungen: »Ty wole!«, »Mate smieti?«, »Jezus kralem Polska?« oder »Konserwatywni a nacjonalisticzni Polaci chcit wzit svobodu mediam« (E, 82). Die aus der DDR stammenden Gewinner der Einheit stellten ihre ostdeutsche Herkunft kaum heraus oder verdrängten sie bewusst, denn sie haben sich den neuen Bedingungen im wiedervereinten Deutschland angepasst. Die Verlierer der deutschen Einheit werden dagegen bei Helbig in einen unmittelbaren Zusammenhang mit anderen, gleichfalls an den Rand der bundesdeutschen Gesellschaft gedrängten Menschen gebracht, Migranten wie Türken und Ost- oder Südosteuropäer, die sich ebenso wie die ehemaligen DDR-Deutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen: »Ausländer im eigenen Lande sind allerdings auch die ehemaligen DDR-Bürger. Sie fühlen sich von einem anderen Lande vereinnahmt, sie haben den Eindruck, dass man ihre kulturelle Spezifik ignoriert, indem ihre voll Assimilation gefordert wird […]. Viele von ihnen, nicht unbedingt politisch engagiert, haben nach der Wende ihre Arbeit verloren. […] Beinahe im Lauf einer Nacht hatte man ihnen das eigene Land genommen« (E, 23).

Der (polnische) Erzähler in Henryk Sekulskis Roman, der die euphorischen Jubelfeiern aus Anlass der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 in Berlin mit Abstand betrachtet, äußert sich folgendermaßen: »[…] bei den Deutschen wächst zusammen ›was zusammengehoert‹ [sic!] – Deutschland einigte [sic!] Vaterland, mit Eifer, mit Freude, mit Schwung, ein Hinternis nach dem anderen wurde beiseite geräumt. Ich dagegen beobachtete das Ganze mit Distanz: Eine Schande sich dazu zu bekennen, aber ein bisschen leid tat sie mir schon, die DDR, ich hatte 18 Diese abfällige Bezeichnung bezog sich auf eine in der DDR entwickelte und nach ihr benannte Kunstfaser, Dederon, mit Nylon in der BRD vergleichbar.

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mich an sie gewöhnt, kannte sie von Grund auf und so verabschiedete ich diese Republik mit Wehmut […]« (P, 305).

Maciej Walkowiak (Poznan´)

Zu ausgewählten Bildern der deutschen und polnischen Kultur in Stefan Chwins Roman »Tod in Danzig«

I.

Zum Roman und zu seiner Position in der polnischen Literaturgeschichte nach 1990. Versuch einer Problemstellung

Der Roman »Tod in Danzig« von Stefan Chwin, der von der Kritik und von den Lesern gleich nach seinem Erscheinen 1995 durchaus positiv aufgenommen wurde, nimmt heutzutage – zurecht oder zu unrecht – eine stabile und exponierte Position in der neueren polnischen Literatur ein. Seine thematischen Schwerpunkte sind mehrdimensional, aber es lassen sich hier solche Hauptmotive in den Vordergrund stellen, wie etwa die Figur des Doktor Hanemann (der fiktive Hauptprotagonist im Roman) und seine nicht selten geheimnisvollen Schicksale in Danzig und nach 1945 in Gdan´sk, die Existenz der Deutschen und der Polen in dieser Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Tragik des menschlichen Lebens in Konfrontation mit dem geschichtlichen Prozess im apokalyptischen Ausmaß sowie das Element des Lebens zusammengestellt mit der Welt der Dinge, die oft in der Poetik von Stilleben skizziert werden. Chwins Roman schreibt sich damit in die Danziger Thematik ein, die auch von anderen namhaften polnischen und deutschen Schriftstellern, wie Paweł Huelle oder Günter Grass, literarisiert wurde.1 Was allerdings bei Chwin bedeutend ist und seine Erzählweise eigenartig macht, sind seine Bezugnahmen auf die Poetik der Romantik und seine Versuche, die semantischen Verbindungslinien zwischen dem Geist der deutschen (und der polnischen) Romantik und der Gegenwart seiner Danziger Geschichte zu ziehen. Er vergegenwärtigt auf diese Art und Weise existentielle Fragen, die eine der wichtigsten Dimensionen in »Tod in Danzig« darstellen. Chwin unterstreicht dadurch die romantisch gefärbte Brüchigkeit und Vergänglichkeit von jedem Dasein und bringt anhand dieser Perspektive die apokalyptische Dimension der Existenz von einzelnen Menschen, von Städten und von ganzen 1 Vgl. dazu: Huelle, Paweł: Castorp. Kraków: Wydawnictwo Znak 2009 und ders., Weiser Dawidek. Kraków: Wydawnictwo Znak 2006.

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Staaten zum Ausdruck. So wird unter anderem der Untergang der Stadt Danzig im Jahre 1945 geschildert und die Anfänge der polnischen Stadt Gdan´sk dargestellt, was die Kritiker oft dazu veranlasst hat, den heutzutage modisch gewordenen Bergriff des Palimpsest zu gebrauchen. Am Rande kann noch erwähnt werden, dass dieser Begriff auch auf die problematische Identität von anderen Gebieten bezogen wird, die infolge der Jalta-Beschlüsse ihre Staatsangehörigkeit gewechselt haben. Der Kontext der deutschen Romantik bildet einen bedeutenden Aspekt für die in »Tod in Danzig« evozierten Bilder der deutschen und polnischen Kultur. Bevor ausgewählte Schlüsselbilder der beiden Kulturen in diesem Beitrag kurz analysiert werden, soll stichpunktartig auf exegeseimmanente Schwierigkeiten hingewiesen werden, die dieser Roman bereitet. Zum einen sind es zahlreiche narrative Mängel, Unzulänglichkeiten im Aufbau des Romans, die seine Qualität weitgehend beeinträchtigen. Zum anderen ist es oft eine unbegründete Anhäufung Tausender zweit- und drittrangiger Details, die beim Rezipienten Verwirrung stiften und Disharmonie ausbreiten. Es ist zwar nicht direkt das Ziel dieser Betrachtung, literaturästhetische Qualitäten dieses Romans zu analysieren und mit einzelnen Literaturkritikern und Philologen zu polemisieren, aber da diese Frage auch ihre Signifikanz für die von Chwin subjektivierten Bilder und Klischees der beiden Kulturen zu besitzen scheint, sollen noch einige Probleme in diesem Kontext erwähnt werden. Vor allem sind es narrative Missklänge und logische Fehler, die den Autor und seinen Erzähler weitgehend in Frage stellen lassen. So wurde dieser Roman oft als ein Detektivroman mit ausgebauter Reflexion existentieller Art rezipiert, doch wenn dem so sei, dann sind einige Erzählstränge falsch aufgebaut und entziehen sich den Prinzipien der Logik. Auf diese Weise urteilt z. B. Piotr Pietrych, indem er Chwin einen »homerischen Schlummer« vorwirft: »Natürlich passieren homerische Schlummer auch den hervorragendsten Autoren seit der Antike. Aber bei Chwin ist es verwunderlich – wohlgemerkt gilt er oft als Autor, dessen literarischen Texten nicht selten hohe Erzählpräzision attestiert wurde – dass logische Erzählfehler so zahlreich sind. Hinzu kommen noch die Inkonsequenz und unklare Motivation auch für die wichtigsten Ereignisse in der Fabel seines Romans, was kraß im Kontrast zur Rhetorik des Details steht, insbesondere zum Reichtum an drittrangigen Informationen. Wie man vielen Rezensionen des Romans entnehmen kann, waren es gerade die vielfach multiplizierten Zweifel, sowie die geheimnisvollen und nur halbentwickelten Sinngehalte, die Chwins Werk eben im positiven Sinne so sehr fesselnd machen, desto mehr als dass sich ihnen eine bestimmte Funktion zuschreiben lässt: es ist die Signalisierungsfunktion der Erkenntnisprobleme in der Wiedergabe der Vergangenheit. Allerdings wird die Beurteilung dieser Verworrenheiten (auch der künstlerischen Werte) nicht so eindeutig, wenn man merkt, dass sie sich in »Tod in Danzig« teilweise aus handwerklichen Unzulänglichkeiten und aus Mangel an Präzision in der Beschreibung der dargestellten Welt ergeben. Was die Sache noch schlimmer

Deutsche und polnische Kultur in Stefan Chwins Roman »Tod in Danzig«

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macht: zwischen dem Bereich der handwerksbezogenen Fehler und Störungen einerseits und den Erkenntnisschwierigkeiten des Erzählers andererseits erstreckt sich eine graue Zone von Rätseln, deren Status unklar bleibt.«2

Ein bedeutendes Beispiel hierfür ist der Hauptprotagonist selbst – Doktor Hanemann, ein Danziger Ästhet mit intellektuellen Ansprüchen und Mediziner am anatomischen Institut, der den Untergang der Stadt überlebt und aus unerforschlichen Gründen die Stadt 1945 nicht verlassen hat, obwohl fast alle seine Landsleute auf unterschiedlichen Wegen entweder evakuiert wurden oder die Flucht ergriffen haben. Der Erzähler, der sein scheinbar intensives Interesse an Hanemann immer wieder betont, stellt dabei zwar das Rätsel seines Zurückbleibens in den Mittelpunkt, aber der Leser erhält nur wenig Stoff, um selbst die quasi detektivische Arbeit bewältigen zu können. Das Interesse des Erzählers an dieser Angelegenheit erweist sich jedoch schließlich als eher vorgetäuscht. Auch Hanemann versucht sich als Detektiv, der dem Geheimnis des Todes seiner Geliebten Luise Berger nachzugehen trachtete, aber seine Bemühungen erweisen sich als ebensowenig überzeugend. Dennoch ist die Figur des Hanemann als ein Erzählkonstrukt relevant als Träger von deutschen Kulturwerten, die im Weiteren hier noch besprochen werden sollen. Typisch ist für Chwins narrative Positionierung der Kardinalfragen und der wichtigsten Erzählstränge eine Szene im Kapitel »Die Vorladung«, in dem Hanemann von der SB – der Sicherheitspolizei der Volksrepublik Polen – wegen eines Briefes vorgeladen wird, der ihm von einem Bekannten aus Hannover auf einem nicht amtlichen Weg zugestellt wurde. Im Laufe des Verhörs wird Hanemann dabei die Frage gestellt, warum er in Gdan´sk zurückgeblieben sei: »›Herr Hanemann, es handelt sich hier nicht nur um den Brief‹ – der Mann wandte sich ab. Einen Augenblick lang drehte er in seinen Fingern den Federhalter. ›Sagen Sie mir doch, warum sind Sie damals nicht ausgereist?‹ Ach, das war also der Grund, weswegen er vorgeladen wurde… ›Sie lesen sicherlich unsere Zeitungen, Sie wissen also, daß ihr Vaterland sich nicht so verändert hat, wie es hätte sein sollen… Im Osten sind die Verwandlungen sichtbar und die freuen uns. Jedoch Hannover… An die Macht kehren Menschen zurück, die man vor Gericht stellen sollte… Und Sie erhalten Briefe von ihnen. Sollen Sie nicht etwa die Möglichkeit in Erwägung ziehen…‹ Hanemann schaute durch das Fenster hinaus. Der ausgebrannte Rathausturm war vom Gerüst aus Kieferbrettern umgeben. Ein paar Leute legten Dachziegel auf dem Haus in der OgarnaStraße, die frisch rot leuchteten. ›Hören Sie mir überhaupt zu?‹ – in der Stimme des Mannes klang Ungeduld. Hanemann schaute seine Hände an. ›Meine Schwester ist im

2 Pietrych, Piotr: Powies´c´ o porcelanie. Inne spojrzenie na »Hanemanna« Chwina. In: Literatura polska 1990–2000. Hrsg. von Tomasz Cies´lak und Krystyna Pietrych. Kraków: Wydawnictwo Zielona Sowa 2002, Bd. 2, S. 268–269 (Übersetzung vom Verf.).

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Januar 1945 bei Dirschau ums Leben gekommen. Jenseits der Oder habe ich keine Verwandtschaft mehr. Wozu sollte ich also ausreisen?‹«3

Der Leser erfährt auch bei dieser Gelegenheit nicht viel über die wirklichen Gründe seines Zurückbleibens in Danzig/Gdan´sk. Abgesehen davon, entsteht hier der falsche Eindruck, dass die deutschen Danziger selbst hätten darüber entscheiden dürfen, ob sie nach 1945 in Gdan´sk weiter leben wollten oder nicht. Solch ein Bild hat mit der historischen Realität jener Jahre allerdings nichts zu tun. Auch wenn vorausgesetzt werden sollte, dass es eine Art poetischer Lizenz sei, dann lässt sich diese Perspektive trotzdem nicht halten, wobei es sich hierbei nur um ein repräsentatives Exempel für die Darstellung der historischen Wirklichkeit in diesem Roman handelt. Im einzelnen komme ich noch später darauf zu sprechen. Und hier erscheint noch eine andere relevante Frage, die für das Thema dieser Betrachtung mit ins Gewicht fällt: es ist der (auto-)biographische Zusammenhang. Stefan Chwin wurde nämlich 1949 in Gdan´sk geboren. Seine Eltern sind 1945 nach Gdan´sk gekommen und auch dort geblieben. Der Autor ist also schon in der Nachkriegsrealität aufgewachsen, was bei der Profilierung seiner Bilder der deutschen und polnischen Kultur eine Rolle spielen mag. Für diese Thematik scheint zudem die Entstehungszeit dieses Romans wichtig zu sein: so soll im Folgenden auch geprüft werden, inwiefern der thematische Geist der 1990er Jahre in der polnischen Literatur das Profil der von Chwin evozierten Bilder der beiden Kulturen hätte beeinflussen können. Unter anderem waren es ja vor allem Heimatromane, die in der polnischen Prosa jener Jahre ziemlich zahlreich erschienen sind.4 Die Problemstellung enthält also einige Schlüsselperspektiven, die bei der Analyse der Bilder der beiden Kulturen behilflich sein können. Trotz der erwähnten Mängel erweist sich jedoch der Roman als Gegenstand dieser Betrachtung als äußerst ergiebig.

3 Chwin, Stefan: Tod in Danzig (poln. Hanemann). Warszawa: Wydawnictwo S´wiat Ksia˛z˙ki 1998, S. 97. [Im Folgenden unter der Sigle »T« mit Seitenzahl im Text; sämtliche Zitate wurden vom Verf. übersetzt.] 4 Vgl. dazu: Czaplin´ski, Przemysław: Wzniosłe te˛sknoty. Nostalgie w prozie lat dziewie˛c´dziesia˛tych. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2001, S. 103–160.

Deutsche und polnische Kultur in Stefan Chwins Roman »Tod in Danzig«

II.

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Ausgewählte Schlüsselbilder der deutschen und polnischen Kultur in »Tod in Danzig«. Zur Funktion der Subjektivierung der Klischees und Stereotype im Roman

In Stefan Chwins Roman werden viele Bilder der deutschen und polnischen Kultur präsentiert, die sich generell in zwei Gruppen einteilen lassen: zum einen in Menschen bzw. Protagonisten, die vom Autor spezifisch konstruiert wurden, und als Träger von subjektivierten Eigenschaften fungieren mit sich an ihnen offenbarenden Klischees und Stereotypen, wenn sie sich etwa als Vertreter von bestimmten Gesellschaftsschichten oder Nationen erweisen. Die zweite Gruppe bildet die materielle Kultur, denn in diesem Bereich sind architektonische Werke und Kunstwerke aus anderen Gebieten wie etwa der Malerei und Literatur und schließlich Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu nennen. Was aber dabei für das Thema dieser kurzen Analyse wohl am interessantesten zu sein scheint, ist im Berührungspunkt zwischen dem Deutschen und dem Polnischen enthalten. Der biographische Kontext – bei dieser Problemstellung handelt es sich um die Zugehörigkeit Chwins zu der Nachkriegsgeneration – eröffnet auch eine frappante Perspektive, die die Profilierung der Bilder der beiden Kulturen genauer verstehen lässt. Zuerst ist es also der Hauptprotagonist selbst – Doktor Hanemann, der als Titelgestalt (im polnischen Original heißt der Roman »Hanemann«) eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Hanemann ist im Roman die zentrale Erzählachse, um die sich die ganze Handlung dreht. Andererseits ist er ein narratives Konstrukt, das in der Perspektive des Erzählers entsprechend stilisiert wurde. Vor allem funktioniert er im Text als Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums in Danzig, dessen Ausbildung deutlich über das Notwendige für seinen Beruf hinausgeht, insofern er auch als sublimierter Ästhet und Kunstgenießer, Feinschmecker und sogar als Lebenskünstler im Sinne der Weimarer Klassik in Erscheinung tritt. Der Erzähler betont darüber hinaus Hanemanns hoch verfeinerte Sprache, die Ausdruck seiner geistigen Verfeinerung sein soll. Dank ihm wird die Danziger Realität ins Erhabene gesteigert, was vom Erzähler mit Bewunderung markiert wird. Hanemann wird u. a. in der Nachkriegsrealität von Polen besucht, die ebenso wie er Danziger Wurzeln aufweisen, und die zu ihm kommen, um sein exzellentes Deutsch zu geniessen: »Herr J. besuchte manchmal Hanemann. Zu Zeiten der Freien Stadt Danzig war Herr J. Lehrer auf dem Polnischen Gymnasium (später wurde er dafür in der Victoria-Schule verhört und schließlich ins KL Stutthof deportiert), nun war er wieder als Deutschlehrer im Lyzeum in der Topolowa-Straße tätig. Hanemann kannte ihn seit langem und obwohl er spürte, dass Herr J. ihn nicht so ganz ohne Grund besucht – wohl nicht nur mit der Absicht, Gedanken auszutauschen, aber auch mit dem Ziel, sein ordentliches Deutsch zu hören, mit dem er täglich nicht sehr viel zu tun hatte – nahm er ihn jedoch

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gerne auf, indem er auf Platz im Ledersessel wies und ihm ein bisschen Rotwein schenkte« (T, 116).

Hanemann ist Besitzer einer beachtlichen Hausbibliothek, die sein fein skizziertes Porträt wesentlich ergänzt. In der Nachkriegszeit besucht auch der Erzähler Hanemann, um Deutsch zu lernen. Hanemanns Hausbibliothek ist für ihn Gegenstand von Bewunderung. Außerdem kommt es zuweilen vor, dass der Erzähler von Hanemann in den Wald von Gutenberg eingeladen wird zur Exemplfizierung des Elements der Fraktur, die durch ihre spezifische Eigenart dem Erzähler seltsam anmutet. In Hanemanns Porträt taucht zudem eine politische Dimension auf, wenn der Leser erfährt, dass er in den 1930er Jahren sozialdemokratisch gewählt habe. Im Kapitel Fronleichnam wird hingegen erzählt, dass Hanemann evangelisch sei und für die katholische Konfession nicht nur nichts übrig habe, sondern ihr gegenüber sogar eine Art Abscheu empfinde (vgl. T, 145– 154). Die Gegenposition zu Hanemann bezieht im Roman ein anderer Danziger Deutscher, der eine deutlich negative Figur darstellt. Es geht um Erich Schultz, einen Bekannten von Hanemann, der sich für die Flucht 1945 entschieden hat. Bevor Schultz jedoch sein altes Zuhause verlässt, demoliert er alles in seiner noblen Wohnung, um den heranziehenden Polen nichts zu hinterlassen und beschimpft sie sogar in einem Wutanfall in einem unflätigen Nazijargon als »polnische Schweine« und »östliches Vieh« (T, 52). Und obwohl Schultz so dynamisch dargestellt wird, herrscht zwischen dem Positiven und Negativen kein qualitatives Gleichgewicht, denn die Begeisterung des Erzählers für Hanemann ist wesentlich größer als die kritische Exponierung des negativen Protagonisten. Die Konstellation der von Chwin kreierten Protagonisten ergänzen einige historische Gestalten aus dem Kunstbereich: auf der einen Seite Heinrich von Kleist und Adolphine Henriette von Vogel, die die deutsche Kultur (der Romantik) repräsentieren, und auf der anderen Stanisław Ignacy Witkiewicz – Witkacy mit seiner Geliebten Czesława Oknin´ska-Korzeniowska, die das polnische Pendant bilden.5 Wojciech Browarny erkennt darin einen mitographischen Kontext, den er als mitographische Konvention beschreibt, die die Romanproblematik um die erweiterte, historische Perspektive bereichere.6 Es scheint aber legitim, danach zu fragen, was die deutschen Romantiker mit Witkacy verbindet? Im Roman werden die Verbindungslinien vom Erzähler nämlich recht unüber5 Zur Geschichte der Beziehung zwischen Witkacy und Oknin´ska-Korzeniowska vergleiche eine quellenreiche Arbeit von Janusz Degler: Witkacego portret wielokrotny. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 2009. Degler zitiert in seiner Arbeit auch ein einschlägiges Briefmaterial, das diese Beziehung in neuen Aspekten erblicken lässt. 6 Vgl. dazu: Browarny, Wojciech: Opowies´ci niedyskretne. Formy autorefleksyjne w prozie polskiej lat dziewie˛c´dziesia˛tych. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2002, S. 172–174.

Deutsche und polnische Kultur in Stefan Chwins Roman »Tod in Danzig«

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zeugend gezogen, insofern sie bloß verbunden werden, weil sie Künstler seien, die Suizid begangen haben, wobei Oknin´ska-Korzeniowska nach ihrem Selbstmordversuch bekanntlich noch gerettet wurde. Wie schon angedeutet, mag es auch am Interesse des Autors selbst liegen, dass eben die deutschen Romantiker zum Gegenstand der Reflexion werden. Stefan Chwin, Professor für polnische Philologie an der Universität Gdan´sk, legt seinen Forschungsschwerpunkt auf die polnische und europäische Romantik. Kleists und Vogels Doppelselbstmord im Jahre 1811 am Wannsee erscheint dabei in »Tod in Danzig« als ein Kontext für die existentiellen Gedankengänge des Hauptprotagonisten, der sein persönliches Unglück (der Tod der Geliebten) und die Katastrophe der Heimatstadt Danzig 1945 durch Kunst (Anspielungen auf Gemälde von Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge) und spekulative Forschung, die nach dem Sinn des Daseins fragt, zu kompensieren sucht. (vgl. T, 110). Wenn der Kleist-Kontext aber wirklich zum Mitographischen beitragen kann, so ist die Funktion des polnischen Paares in diesem Bild ein Fremdkörper. Doktor Hanemann vertieft sich in die Bücher von Kleist und der Kleist-Stoff kann ohne Weiteres in den Erzählgang integriert werden, aber die vom Erzähler angeführten Schicksale Witkacys und Czesława Oknin´ska-Korzeniowskas erweisen sich unter diesem Aspekt als ein deutlicher literarischer Missgriff. Hanemann gegenüber stehen die Polen: bei denen allerdings zwischen den sogenannten »Altpolen« und »Neupolen« unterschieden wird. Altpolen sind diejenigen, die gebürtig aus der Freien Stadt Danzig stammen und auch nach 1945 in Gdan´sk blieben. Die Neupolen dagegen zogen mit der Roten Armee ein, um dort einen neuen Wohnsitz zu finden. Das Kulturkapital der Altpolen erscheint dem Erzähler dementsprechend größer als das der Neupolen. Auch für Hanemann gilt diese Unterscheidung mit derselben Konnotation. Er erlebt die beiden Gruppen, obwohl sein Bleiben in Gdan´sk mit der historischen Realität ja, wie erwähnt, nichts gemeinsam hat. Die Danziger Deutschen sowie alle Deutschen, die sich nach 1945 auf polnischen Gebieten befunden haben, wurden ausgesiedelt, wobei im Roman der Eindruck vermittelt wird, als ob es allein an ihnen gelegen hätte. Im deutsch-polnischen Berührungspunkt in Bezug auf die Kulturbilder, die durch einzelne Gestalten veranschaulicht werden, ergibt sich ein generell positives Bild der Deutschen, während die polnischen Protagonisten eher zu einem uneinheitlichen Bild der polnischen Kultur beitragen. Der zweite Sachbereich nun, der hier in Frage kommt, ist der der materiellen Kultur. In diesem Kontext wird der deutschen Kultur in Chwins Roman jedoch viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet als der polnischen, was zum Teil durch den Handlungsort Danzig/Gdan´sk verständlich ist. In zwei Kapiteln werden zahlreiche Gegenstände detailreich beschrieben, vor allem Gegenstände des täglichen

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Gebrauchs, aber auch Kunstgegenstände.7 So hängt z. B. in Doktor Hanemanns Arbeitszimmer eine farbige Lithographie mit dem Motiv von Caspar David Friedrichs »Das Kreuz im Gebirge«, was in Hinsicht der Darstellung der deutschen materiellen Kultur die Tendenz aufweist, apokalyptische Züge anzunehmen. Des Weiteren werden die Dinge anthropomorphisch stilisiert und im Hinblick auf ihren Untergang akribisch beschrieben, womit zugleich das Ende der ganzen Stadt Danzig pars pro toto angedeutet wird. Die deutsche materielle Kultur mit allen ihren langen Traditionen äußert sich in den Namen von traditionsreichen Firmen und Unternehmen, die der Erzähler alle kennt und mit großer Vorliebe benutzt. Das Danziger deutsche Großbürgertum und das Bürgertum mit ihrer materiellen Kultur stehen hier für die gesamte deutsche Alltagskultur und werden vom Erzähler durchaus positiv beurteilt. Auch die deutsche Kunst der Romantik fällt hier mit ins Gewicht – Heinrich von Kleist scheint in diesem Text die deutsche Kunst ins Erhabene zu heben, wodurch das Deutschlandbild eindeutig positive Züge annimmt. Die polnische Entsprechung fällt dagegen bescheiden aus, denn die Altpolen aus Danzig werden nur skizzenhaft präsentiert und die Neupolen nehmen Danzig einfach in ihren Besitz. Im Bereich der Kunst ist der Schriftsteller und Maler Witkacy mit seiner Geliebten das einzige wesentliche polnische Element in diesem Roman. Eigentlich steht hier sein Selbstmord am 17. September 1939 im Mittelpunkt, wogegen seine Kunst nicht thematisiert wird. Wie bereits erwähnt, ist der Freitod von Kleist und Witkacy ein einziges beabsichtigtes Bindeglied. Das subjektivierte und im Positiven eher klischeehafte Deutschlandbild als Folge der eben analysierten Bilder der deutschen Kultur fällt also insgesamt in »Tod in Danzig« viel facettenreicher und epischer aus als das Polenbild, das sich in diesem Roman ausschließlich aus Menschen zusammensetzt. Auf die Zweite Polnische Republik, sowie auf Kriegs- und Besatzungsrealität werden nur blasse Anspielungen gemacht. Im Endeffekt bewegt sich Chwins Subjektivierung in festen stereotypisierten Bildern, deren Semantik wohl bekannt ist (z. B. seine Vorstellung vom deutschen Bürgertum und dessen Lebensstil). Interessanterweise vollzieht sich diese Subjektivierung in geschichtlichen Räumen, deren historische Inhalte entweder sehr verschwommen sind oder gar nicht den historischen Tatsachen entsprechen. Z. B. fallen die Szenen der deutschen Evakuierung 1945 erstaunlich idyllisch aus, was sich auch von der Ankunft der Polen in Danzig/Gdan´sk im selben Jahr sagen lässt. Was dabei mitspielt, ist wohl auch die Generationsfrage, insofern ja auch Stefan Chwin – Jahrgang 1949 – generationsspezifische Erfahrungen gemacht hat. Die Grausamkeiten der Kriegs- und Besatzungszeit sind also die direkte 7 Vgl. dazu zwei Kapitel im Roman »Tod in Danzig«: Die Dinge und Aristokratie und Untergang.

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Erfahrungsbasis seiner Eltern. Er selbst gehört dagegen einer Generation an, die das Deutschtum in seiner teils verdeckten, teils unerwünschten Hinterlassenschaft vor Ort in Gdan´sk erblickt hat. Sein Wohnort hat ihn schließlich weiter inspiriert, die deutsche Kultur in allen ihren Erscheinungsformen kennenzulernen. In seinem Tagebuch schreibt er, dass er Gdan´sk/Danzig als eine Stadt der Gräber auf deutsch-evangelischen Friedhöfen entdeckt habe, die allerdings allmählich in der Nachkriegsrealität verschwunden seien.8 Seine generationsbedingten Lebenserfahrungen haben auch seine schriftstellerische Imaginationskraft mitgeprägt. Hinzu kommt in der polnischen Prosa der 1990er Jahre die Tendenz, die unerledigte Erinnerungsarbeit in Bezug auf schwierige Themen der neueren Geschichte nachzuholen. Zuletzt soll noch der apokalyptische Kontext der im Roman evozierten Deutschland- und Polenbilder fokussiert werden. Piotr Pietrych nennt »Tod in Danzig« mit Recht einen »Roman über Porzellan«, da im Erzählton die Überzeugung von der Brüchigkeit und Vergänglichkeit der Welt dominiert. Die Protagonisten glauben in einer Wirklichkeit zu leben, die ständig vom Zerstörungselement des geschichtlichen Prozesses bedroht sei. Die Zerstörung Danzigs im Jahre 1945 trägt auch im Roman apokalyptische Züge und weist deutlich eine Geistesverwandtschaft zu dem Bild des Engels der Geschichte bei Walter Benjamin auf: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«9

Allerdings muss konstatiert werden, dass generell die hier angesprochenen Bilder der deutschen und polnischen Kultur in ihrer ganzen Subjektivierung als mehr oder weniger klischeehaft zu diagnostizieren sind. Chwin bewegt sich in seiner imaginierten Welt seines Romans in einem Kreis wohlvertrauter und 8 Vgl. dazu: Chwin, Stefan: Kartki z dziennika. Gdan´sk: Wydawnictwo Instytut Ksia˛z˙ki 2004, S. 78. 9 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 697–698.

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überlieferter stereotyper Vorstellungen, die das Deutschlandbild überwiegend positiv gestalten. Interessant ist jedoch der (auto-)biographische Kontext dieser Konstrukte, der eine Generationsdimension besitzt und die Bilder beider Länder beeinflusst. Denn das Polenbild fällt lange nicht so episch aus wie das deutsche und steht eher im Schatten der Begeisterung des Erzählers für das Deutsche. Somit erweist sich Chwins »Tod in Danzig« als ein Roman über den anderen Deutschen, und zwar über Doktor Hanemann, dessen Figur bei ihrer nicht ganz überzeugenden Mehrdimensionalität einen Protagonisten erzeugt, der in vielerlei Hinsicht klischeehaft aufgebaut ist.

Karolina Prykowska-Michalak (Łódz´)

Deutschlandbilder in der jüngsten polnischen Dramatik am Beispiel der Dramen Małgorzata Sikorska-Miszczuks

Noch in der Zeit des Eisernen Vorhangs war es vergleichsweise still um die deutsch-polnischen Theaterkontakte. Dies änderte sich mit dem Niedergang des politischen Systems und der Auflösung der Volksrepublik Polen. In den letzten zwei Jahrzehnten nahm nicht nur die Intensität der Kontakte zwischen deutschen und polnischen Theaterschaffenden zu, auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung in der Theaterwissenschaft verstärkte sich. Die bilaterale Faszination der Theaterschaffenden voneinander, die Zusammenarbeit im Bereich der Regie, gemeinsame Koproduktionen oder auch der Kulturtransfer zwischen Deutschland und Polen wurden zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Als einer der Gründe für den diametralen Wandel in den bilateralen Theaterbeziehungen nach 1989 wird, besonders in Bezug auf die Rezeption des deutschen durch das polnische Theater, vor allem der Gesellschaftwandel in Polen nach der Systemtransformation gesehen. Dieser wird u. a. von folgenden Erscheinungen begleitet, deren Einfluss auf die Theaterbeziehungen ebenfalls hervorgehoben wird: die Einführung der freien Marktwirtschaft sowie die Aufhebung des sog. romantischen Paradigmas in Polen.1 Der ökonomische und der gesellschaftliche Wandel beeinflussten auch die Stereotype über Deutsche und Polen in der gegenseitigen Wahrnehmung der Gesellschaften. Doch Verallgemeinerungen und Versuche, aus diesen gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen vom anderen wissenschaftlich verwertbare Schlüsse zu ziehen, führen zur Herausbildung schwer widerlegbarer Kategorien. Unter anderem deshalb nahm in den vergangenen Jahren die Popularität von Untersuchungen zu solchen 1 Vgl. dazu Janion, Maria: Szanse kultur alternatywnych. In: »Res Publica« nr 3, 1991; vgl. auch dies.: »Czy be˛dziesz wiedział, co przez˙yłes´«. Wydawnictwo Sic! Warszawa 1996. An der Diskussion beteiligten sich u. a.: Mencwel, Andrzej: Przedwczesna abdykacja, In: »Polityka« nr 51/ 52, 1991; Drewnowski, Tadeusz: Propozycja nie do oparcia. »Polityka« nr 9, 1992; Czaplin´ski, Przemysław: Powrót centrali? Literatura w nowej rzeczywistos´ci. Kraków, 2007. Gegen den Text Maria Janions polemisierte Walas, Teresa: »Zmierzch paradygmatu i co dalej?« In: Dies.: Zrozumiec´ swój czas. Kultura polska po komunizmie – rekonesans. Wydawnictwo Literackie. Kraków 2003.

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Kategorien bzw. Kategorisierungen Deutscher und Polen bedeutend zu. Sie betonen die Bedeutung des sog. »sozialen Imaginariums« (also einer kollektiven Vorstellungswelt), verstanden als etwas Umfassenderes und Tiefergehenderes als intellektuelle Schemata. Charles Taylor, der den Begriff des »social imaginery« einführte, erklärt ihn wie folgt: »Es geht […] darum wie Menschen sich ihre soziale Existenz vorstellen, wie sie sich an andere anpassen oder welches Verhältnis sie zu ihnen nahestehenden Personen haben. Es sind auch die Erwartungen, die gewöhnlich erfüllt werden, sowie tiefere normative Konzeptionen und Bilder, die ihnen zugrunde liegen.«2

Die mir zugänglichen Arbeiten3 und Forschungsberichte zu den sozialen Vorstellungen der Deutschen und Polen übereinander umfassen neben qualitativen Auswertungen von Daten zu ausgewählten Phänomenen auch Versuche, diese in einer Synthese zusammenzuführen. Aus den qualitativen Daten ergeben sich Bilder von Polen als Land und den Polen als Nation aus Sicht der Deutschen sowie umgekehrt von Deutschland und den Deutschen in der Wahrnehmung der Polen. Diese »statistischen« Vorstellungen von Deutschen und Polen, die in den vergangenen 20 Jahren auf der Basis von Fragebogenuntersuchungen zusammengestellt wurden, haben sich im Laufe der Zeit verändert, und zwar vor allem aufgrund von aktuellen politischen Ereignissen wie dem Beitritt Polens zur EU oder dessen Beteiligung an NATO-Einsätzen im Nahen Osten. Dabei zeigt die Forschungserfahrung (und hier vor allem die des Instytut Spraw Publicznych4 (Institut für öffentliche Angelegenheiten) und anderer Meinungsumfrageinstitute), dass die wissenschaftliche Synthese von Schlussfolgerungen aus Daten verschiedener Dialogebenen (etwa der politischen, der sozialen oder der in den Medien dargestellten) im Ergebnis keine reliablen Daten bereitstellt. Denn jede der abgebildeten Dialogebenen wurde aus anderen Gründen und aus einer anderen Motivation heraus für eine Leserschaft aufbereitet oder hat andere Gründe für die Beschwörung eben des dargestellten und keines anderen deutsch-polnischen Verhältnisses. Es geht vor allem um abweichende Sichtweisen auf Erfahrungen, die sich aus dem historischen Verlauf ergeben und auf die Zukunft 2 Taylor, Charles: Nowoczesne imaginaria społeczne. Kraków 2010, S. 37. [Alle Zitate wurden, sofern nicht anders angegeben, aus dem Polnischen übersetzt. Anmerk. d. Übers.] 3 Vgl. dazu die Berichte des ISP zu den deutsch-polnischen Beziehungen, die die bilateralen Beziehungen seit 2001 abbilden, u. a. den Bericht von Dolin´ska, X.; Fałkowski, M.: PolskaNiemcy. Wzajemny wizerunek w okresie rozszerzenie Unii Europejskiej. Instytut Spraw Publicznych. Warszawa 2001; den Bericht von Łada, A.: Dwadzies´cia lat mine˛ło. Polacy o zjednoczeniu Niemiec i stosunkach polsko-niemieckich w dwudziesta˛ rocznice˛ zjednoczenia Niemiec. Instytut Spraw Publicznych. Warszawa 2010 sowie von Prykowska-Michalak, Karolina: Patrzymy w przyszłos´c´. Polacy o polsko-niemieckiej współpracy i o znaczeniu historii we wzajemnych stosunkach Instytut Spraw Publicznych. Warszawa 2011. 4 Im Folgenden abgekürzt als ISP.

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gerichtet sind. Einen festen Platz unter den oben genannten Diskursen um die deutsch-polnischen Beziehungen nimmt auch das Theater ein, insbesondere das Drama, das nicht nur potenzieller, sondern tatsächlicher Beteiligter im gesellschaftlichen Dialog ist.Im Folgenden soll an ausgewählten Beispielen, d. h. auf der Mikroskala gezeigt werden, wie der Diskurs um die Wahrnehmung der Deutschen im polnischen Drama umgesetzt und im Theater dargestellt wird. Dazu soll zur besseren Verortung der These zunächst auf den Wandel in der Vorstellung der Deutschen und Polen voneinander eingegangen werden, wie er sich u. a. aus den Berichten des ISP bzw. auf deutscher Seite des Instituts für Demoskopie Allensbach abzeichnet. Agnieszka Łada, Mitarbeiterin im ISP, stellt für die Jahre 2007–2010 eine Imageverbesserung fest: Die Polen bewerteten ihre Beziehungen zu Deutschland und den Deutschen bis zu 50 % weniger negativ. Die Verfasserin des Berichts »Patrzymy w przyszłos´c´. Polacy o polsko-niemieckiej współpracy i o znaczeniu historii we wzajemnych stosunkach« (In die Zukunft schauen: Polen über die deutsch-polnische Zusammenarbeit und die Bedeutung von Geschichte in den bilateralen Beziehungen) schreibt den Wandel in den gemeinsamen Beziehungen den partnerschaftlichen und konfliktfreien Treffen zwischen Politikern beider Länder zu. Das positive Bild der Deutschen und den deutsch-polnischen Beziehungen sei auch darauf zurückzuführen, dass in jüngster Zeit weder ein dominierendes Problem noch ein Konfliktherd zu erkennen seien, die diese Einstellung zum Negativen wenden könnten. Dass die Bedeutung der Geschichte, besonders die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs, bei der Beurteilung der deutsch-polnischen Beziehungen aus polnischer Sicht abnimmt, ergebe sich u. a. aus dem Generationenwechsel. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auf deutscher Seite 2011 auch die Monatszeitschrift »Point« in einem Bericht des Instituts für Demoskopie Allensbach. Aber auch wenn sich die sozialen Vorstellungswelten der Gesellschaften verändert haben, so scheint im Gegensatz zu beiden Bevölkerungen das zeitgenössische polnische Drama sein Bild vom Deutschen nicht aktualisiert zu haben – es entspricht, so meine These, noch immer der Summe von Stereotypen und historischen Verbildlichungen bestimmter Figurentypen. Als Beispiel seien die Figuren des Deutschen als Imperialist oder des Deutschen, der wegen seiner Erbschuld Buße tun muss, genannt. Dieses Gesamtbild ist jedoch keinesfalls aufgrund niederer chauvinistischer Beweggründe entstanden, sondern Element einer neuen dramatischen Struktur. Am Beispiel der Dramen Małgorzata Sikorska-Miszczuks kann diese Problematik in der zeitgenössischen polnischen Dramatik exemplifiziert und analysiert werden. Sikorska-Miszczuks wurde noch vor Kurzem der sogenannten Jungen Generation zugerechnet und ist heute eine anerkannte, mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin. Ihre Stücke werden ins Deutsche übersetzt und haben auf deutschen Bühnen bereits eine gewisse Berühmtheit erlangt. Während in der mo-

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dernen polnischen Dramatik zwar nicht das Bild des Deutschen, aber Fragen nach dem deutsch-polnischen Verhältnis ein Novum darstellen, ist für das Schaffen Sikorska-Miszczuks ein aktives Engagement im Bezug auf die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern charakteristisch.5Außer in Stasiuks »Nacht« trifft man nach 2004 selten auf Figuren des Deutschen. Diesen Schluss legt zumindest die Durchsicht von vier Anthologien des zeitgenössischen polnischen Dramas nahe, in denen weder ein breiter Themenfächer zu verzeichnen ist noch die deutsch-polnischen Beziehungen thematisiert werden oder Protagonisten mit deutschem Hintergrund auftreten. Nun könnte man von der Annahme ausgehen, dies sei Zufall, wenn nicht diese vier Anthologien maßgebliche und die moderne polnische Dramatik repräsentativ widerspiegelnde Publikationen darstellten, und zwar die »Antologia nowego dramatu polskiego« (Anthologie des neuen polnischen Dramas), 2006 herausgegeben von dem für seine Förderung innovativer Ideen bekannten Revuetheater TR (Teatr Rozmaitos´ci), dann die 2005 in Krakau herausgegebene Anthologie »Echa, repliki, fantazmaty. Antologia nowego dramatu polskiego« (Echos, Repliken und Phantasmen. Anthologie des neuen polnischen Dramas) und schließlich die beiden von Roman Pawłowski bearbeiteten Anthologien »Pokolenie porno« (Generation Porno) und »Made in Poland«. Eine Auseinandersetzung mit dem deutsch-polnischen Verhältnis scheint demnach kein naheliegendes Thema des Dramas zu sein. Warum also interessiert sich Małgorzata Sikorska-Miszczuk dafür? Es scheint, als nutze sie eine Konjunkturwelle in den deutsch-polnischen Beziehungen auf einer anderen Dialogebene sowie den stimulierenden Kulturtransfer zwischen beiden Ländern. Im Folgenden sollen daher Sikorska-Miszczuks Figuren der Deutschen vorgestellt werden, da sie als dramaturgisches Konstrukt besonders interessant sind. Dabei ist besonders auf die Divergenzen zwischen den Bildern vom Deutschen im Theaterdiskurs der Autorin und in den bereits erwähnten Meinungsumfragen einzugehen. Sikorska-Miszczuk verfasste 2006 das Stück »S´mierc´ człowieka wiewiórki« (Der Tod des Eichhörnchenmenschen) für einen Wettbewerb zu Ulrike Meinhof, den das Teatr Usta Usta/2xu in 5 Bezogen auf die Darstellung deutscher Figuren dominiert in der polnischen Nachkriegsliteratur die Prosa. Das Drama bot, außer in Leon Kruczkowskis berühmtem Stück »Rodzina Sonnenbrucków« (Die Sonnenbrucks), keine interessanten Typen, Modelle und Charaktere von Deutschen an. Anders dagegen in der Prosa, etwa in Andrzej Szczypiorskis »Die schöne Frau Seidenman« und in Stefan Chwins »Tod in Danzig«. Die Umsetzung der betreffenden literarischen Figuren der genannten Autoren bringt z. B. Przemysław Czaplin´ski wie folgt auf den Punkt: »Szczypiorski entnazifiziert den Deutschen, Chwin demilitarisiert ihn.« (vgl. dazu Przemysław Czaplin´ski, Dojczland. Obraz Niemców w literaturze polskiej. http://www.eurozine.com/articles/ 2010–02–25-czaplinski-pl.html). Aber auch wenn das polnische Drama Figuren des Deutschen als solche nicht aufgreift, so kann festgehalten werden, dass sich das Theater sehr wohl mit ihnen auseinandersetzt, wie etwa Jan Klata in seiner ungewöhnlich kontroversen Breslauer Inszenierung von »Transfer!« (2007) am Wrocławski Teatr Współczesny.

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Posen gemeinsam mit dem Warschauer Teatr Rozmaitos´ci und dem Centrum Artystyczne M25 (Zentrum für Kunst M25) veranstaltete. Das Wettbewerbsthema war vorgegeben: die Berücksichtigung historischer Personen wie U (also Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin). Sikorska-Miszczuk schuf darüber hinaus für ihr späteres Schaffen kennzeichnende Symbolfiguren, die den Typen der mittelalterlichen dramatischen Textsorte der Moralität ähneln. Der neue »Jedermann« ist hier beispielsweise der den Durchschnittsdeutschen repräsentierende »Eichhörnchenmensch«. Dieser ist emsig wie ein Eichhörnchen, stirbt täglich einmal und verliebt sich im Moment seines ersten Todes in U. Sikorska-Miszczuk äußert sich wie folgt über die Figur: »Der Eichhörnchenmensch legt sich einen Wintervorrat an, erzieht seine Jungen, kümmert sich liebevoll um sie, blickt mit Sorge in die Zukunft, verfolgt stets die Preisentwicklung, zahlt seine Kredite ab, macht sich Sorgen wegen seines Haarausfalls, springt hoch, schreibt Gedichte, ist nützlich, leicht auf dem Bett zu platzieren, auf einer Pritsche oder einem Grillrost und vermehrt sich schnell!«6

Eine weitere Moralitäten-Figur ist der Polizist, die die westdeutsche Polizei symbolisiert, besonders im Hinblick auf die Veränderung ihrer Handlungsprinzipien in der Zeit der RAF. Ebenfalls eine Figur aus der Moralität stellt der Anti-Mensch dar. Er ist der personifizierte Fanatismus und bereit, sein Leben für eine Utopie zu opfern. Der Figur des Glücklichen kommt dagegen nur eine kleinere Rolle zu: Der Sohn Gudrun Ensslins erzählt seine Lebensgeschichte. Sikorska-Miszczuks Figuren summieren die Stereotype und medial kreierten Vorstellungen vom durchschnittlichen Westdeutschen bzw. von der deutschen Polizei: »Vielleicht ist Anti-Mensch der Feind der Zivilisation, aber er macht Ausnahmen. Gerade rast er über eine ebene Straße, sodass ihm der Fahrtwind durch die Haare weht, […] er [f]liegt in seinem BMW über die Straßen, und der Konzern wird es ihm irgendwann still danken, denn offiziell gehört sich das nicht. Anti-Mensch lässt sich nicht vom Schein täuschen. Deutschland ist ein Polizeistaat, obwohl sich die Polizei des einen Bundeslandes nicht mit der eines anderen austauscht.«7

In Bezug auf die Polizei erklärte die Autorin in einem Interview,8 sie habe die Aufmerksamkeit auf folgenden Umstand lenken wollen: Es sei das Trauma der deutschen Polizei gewesen, dass man ein rücksichtsloses Durchgreifen ihrerseits mit dem Vorwurf beantwortet habe, »Gestapo-Methoden« anzuwenden. Das Aufeinandertreffen von für die Moralität typischen Figuren und mehr oder weniger fiktiven Dramenprotagonisten (also den Mitgliedern der Baader-Meinhof6 http://www.e-teatr.pl/pl/artykuly/38377.html. 7 Czerwona dekada, S. 136. 8 Mózg terrorystki, Joanna Derkaczew. In: Gazeta Wyborcza – Wysokie Obcasy vom 21. 04. 2007 (http://www.e-teatr.pl/pl/artykuly/38377.html).

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Gruppe) ist ein Verfahren, das auf die Groteske verweist. Sikorska-Miszczuk nutzt diese ästhetische Kategorie, um ihre eigene Einstellung der gesellschaftlich verpflichtenden Weltsicht provokativ gegenüberzustellen. Sie zeigt, wie sehr die Figuren ihres Dramas das normative Dekorum verachten – daher auch ihr parodistischer Charakter. Ihr Stück ist deshalb auch nicht als Apologie des Terrorismus zu verstehen, sondern lediglich als groteske Vorstellung einer besessenen Welt. In »Burmistrz« (Der Bürgermeister, 2008) tritt nur noch eine Figur des Deutschen auf, die von Sikorska-Miszczuk »Deutscher (Berufs-)Büßer« genannt wird. Das Erzählte rekurriert auf die Ereignisse von Jedwabne aus dem Jahr 1941, als ein Pogrom an den jüdischen Einwohnern der Ortschaft verübt wurde. Sikorska-Miszczuk fügt die Figur des Deutschen ein, um die Aggressoren während des Zweiten Weltkriegs zu symbolisieren. Die Handlung des Stücks ist durch einen zeitgenössischen Zugriff geprägt. Die Figur des »Deutschen (Berufs-)Büßers« soll dazu dienen, das Problem der Nachkriegsgeneration und ihrer geerbten Schuld darzustellen. Deshalb führt Sikorska-Miszczuk ein Zitat aus den Erinnerungen von Niklas Frank an, der sich erinnert, am Tag der Hinrichtung seines Vaters vor dessen Foto masturbiert zu haben: »Papa lebt nicht mehr Ich sehe mir gern sein Foto an Und onaniere dabei Darauf wäre ich selbst nicht gekommen Aber ich habe mal gelesen Dass das üblich ist unter Söhnen Die ihre Väter hassen«9

Pathos und Erinnerung an das Verbrechen vermischen sich in diesem Stück mit der Popkultur, was auf die Figuren abfärbt. Neben dem »Deutschen (Berufs-) Büßer« gibt es auch eine »Schönheitskönigin« sowie den »Bürgermeister von New York«. Diesmal ist die dramaturgische Konvention jedoch nicht die Groteske, denn »Der Bürgermeister« gleicht in seiner formalen Anlage eher Brechts »Dreigroschenoper«. Das Stück nutzt die Formen des Gesangs, um die Spannung zu zerschlagen. Eine ähnliche Technik verwendete Sikorska-Miszczuk, als sie ein Jahr später ihr Drama »Z˙elazna kurtyna« (Der Eiserne Vorhang, 2009) schrieb. Die Hauptheldin – »Drehbuchautorin« – will das Angebot, das Drehbuch für einen Film von Steven Spielberg zu verfassen, nicht annehmen, weil dieser Film die Geschicke eines Europas ohne Eisernen Vorhang zeigen soll, und zwar unter der Voraussetzung, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Das Stück beschreibt weitere Filmprojekte, die sämtlich die Folgen der Existenz des Eisernen Vorhangs

9 Wolna wola dramaty teatru na woli, »burmistrz« Sikorska-Miszczuk, S. 41.

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zum Gegenstand haben, z. B. der Eiserne Vorhang als Barriere, die Deutschland vom Einfluss der reichen polnischen Kultur isoliert und umgekehrt. Eine weitere Figur des Stücks ist der »Deutsche Regisseur«. Er stellt einen Film über die Expedition von drei Landsleuten vor, die direkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit der Mission nach Polen aufbrechen, die polnischen Sumpfgebiete zu zivilisieren, in denen Menschen wie Biber leben.10 Die Figuren des »Deutschen Regisseurs«, die Mitglieder der deutschen Expedition und die »Drehbuchautorin« stehen dabei für die jeweils anderen, subjektiven Vorstellungen von Geschichte. Sie sollen nicht nur den Entstehungsprozess von als wahr anerkannten Ereignisversionen gedanklich fassbar machen, sondern vor allem auch die Bedeutung, die der Gestaltung eines Selbstbildes, einer eigenen historischen Wahrheit sowie nationalen Stereotypen in diesem Prozess zukommt. »So wie Brecht«, schreibt Kinga Anna Gajda in der Einleitung zu ihrem Band »Opowiadanie historii« (Geschichte erzählen; der Band enthält auch das Theaterstück Sikorska-Miszczuks), »möchte die Autorin den Zuschauer in einen nüchtern beobachtenden Analytiker verwandeln. […] Der Zuschauer soll aufhören, sich auf die Handlung zu konzentrieren und sich mit der Authentizität der Figuren auseinandersetzen.«11

Der Leser12 beurteilt demnach die Figuren in einem bestimmten Kontext, der im Stück von Sikorska-Miszczuk in den Regieanweisungen erzeugt wird. Diese verweisen wiederum auf die Absurdität der Dramensituation. Das betrifft beispielsweise die Expedition nach Polen, deren Mitglieder direkt nach Grenzübertritt sterben, während ihr Bericht über die gar nicht stattgefunden habende Expedition erhalten ist. Es erweist sich daher als schwierig, die Protagonisten mittels der Kategorien des Realismus oder der Authentizität zu beurteilen, wohingegen den Rezipienten die Dechiffrierung der Groteske nicht schwerfällt. Die Figuren der Deutschen fungieren in den Dramen Sikorska-Miszczuks als Element der Dramenstruktur und sollten aus diesem Grund auch in der dramatischen Gesamtstruktur analysiert werden. Wesentlich erscheint dabei vor allem die Berücksichtigung der Adressaten. Aus Sicht der Autorin sind dies vor allem polnische Theaterzuschauer oder Leser. Die Identifizierung dieser Zielgruppe lässt sich anhand der beinahe in jedem Stück vorhandenen, ausgebauten Regieanweisungen erschließen, in denen in Polen wenig bekannte Informationen, z. B. über die Geschichte der RAF, erläutert werden. Wie die eingangs erwähnten Schriftsteller Szczypiorski und Chwin strebt auch Sikorska-Miszczuk danach, zu verdeutlichen, 10 Vgl. dazu Sikorska-Miszczuk, Z˙elazna kurtyna. In: Opowiadanie historii. Kraków 2009. 11 Opowiadanie historii. Kraków 2009, S. 19. 12 Sikorska-Miszczuks Intention in Bezug auf den Zuschauer, die Kinga Gajda beschreibt, kann bisher nur anhand der Lektüre ihres früheren Stücks überprüft werden, denn »Der Eiserne Vorhang« liegt noch nicht als Theaterfassung vor.

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Karolina Prykowska-Michalak

wie sehr das historische Bewusstsein von nationalen Stereotypen dominiert wird. Dazu nutzt sie jedoch nicht realistische Bilder, sondern die Provokation bzw. groteske Figuren von Deutschen – denn eine solche Botschaft erreicht den zeitgenössischen Zuschauer, d. h. den Adressaten ihrer Dramatik. In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, nach der Funktion dieser Figuren zu fragen. Eine mögliche Antwort bietet Przemysław Czaplin´ski in seinem Beitrag »Dojczland. Obraz Niemców w literaturze polskiej« (Deutschland. Das Bild der Deutschen in der polnischen Literatur) an, dem zufolge die Figuren der Deutschen dazu dienen könnten, »sich von der Kategorie ›Deutscher‹ zu befreien, die als nationale Kategorie die menschliche Subjektvielfalt begrenzt und ihr eine ethnische und historische Charakteristik aufzwingt«.13 Hier drängt sich im direkten Anschluss eine zweite Frage auf: Gelingt es Sikorska-Miszczuk selbst, sich von der genannten Kategorie zu befreien? Kann es ihr überhaupt gelingen? Eine ihrer Aussagen in einem Interview lässt diesbezüglich Zweifel aufkommen: »Der Krieg geht nicht vorüber, er wird weitergegeben.«14 Zweifel weckt auch die Lektüre ihres Dramas »Das Ende der Welt oder Ein Stück für die Deutschen«, das 2010 als Auftragsarbeit des Theaters Magdeburg entstand und erstmals – ebenfalls 2010 – beim Festival »OstOstOst – 20 Jahre Westen« vorgestellt wurde.15 Es handelt von dem polnischen Oppositionellen Doktor Roman Faust und seinem deutschen Pendant Doktor Jacob Faust, die beide von der Situation ›20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer‹ angeekelt sind. Wieder greift Sikorska-Miszczuk ein deutsch-polnisches Thema auf. Doch sei mir an dieser Stelle eine abschließende Bemerkung gestattet, die auf eine etwas andere, weiterführende Fragestellung als die des vorliegenden Beitrags verweist. »Das Ende der Welt oder Ein Stück für die Deutschen« entstand im Zuge der Ostalgie bzw. einer Konjunktur, die im deutschen Theater »Ostblockshow« genannt wird. Von einer entsprechenden Wahrnehmung ist jedoch nicht nur Sikorska-Miszczuk betroffen, denn bereits das Werk Dorota Masłowskas und Michał Walczaks wurde als »Ostblockshow« interpretiert. Ist das der Weg polnischer DramatikerInnen, den das deutsche Theater für sie vorsieht – vom Einbringen eigener Diskursbeiträge über ihre Vereinnahmung hin zu einer Bedienung deutscher Klischees vom ›Wilden Osten‹ im Theaterbetrieb? Doch das ist, wie erwähnt, ein ganz anderes Thema. Aus dem Polnischen übersetzt von Yvonne Belczyk-Kohl

13 Czaplin´ski, Przemysław: Dojczland. Obraz Niemców w literaturze polskiej. http://www. eurozine.com/articles/2010–02–25-czaplinski-pl.html. 14 Derkaczew, Joanna: Mózg terrorystki. In: »Gazeta Wyborcza – Wysokie Obcasy« vom 21. 04. 2007. http://www.e-teatr.pl/pl/artykuly/38377,druk.html. 15 Regie führte Nina Guhlstorff, die Übersetzung stammt von Andreas Volk. Auszüge aus dem Stück sind im dreisprachigen Portal »RADAR« zu lesen.

IV. Deutsch-Polnische Begegnungsräume

Werner Nell (Halle-Wittenberg)

Der Schneider Strapinski und der Stürmer Lewandowski – Über Selfmade-Konzeptionen in Deutschland und Polen und die Diagnosekraft einer kleinen Novelle aus dem 19. Jahrhundert

»Also das sollte ein polnischer Graf sein?«1 Welterfahren wie sie sich geben, »es waren diejenigen Mitglieder guter Häuser, welche ihr Leben lang zu Hause blieben, deren Verwandte und Genossen aber in aller Welt saßen, weswegen sie selbst die Welt sattsam zu kennen glaubten« (ebd.), stellt Gottfried Keller in seiner 1874 im zweiten Band der Seldwyler Geschichten erschienenen Novelle »Kleider machen Leute« erst einmal diejenigen vor, die – ein Beispiel auch für die von Aron Bodenheimer diagnostizierte »Obszönität des Fragens«2 – die prekäre und für den weiteren Fortgang der Geschichte maßgebliche Frage nach der vermeintlichen Identität des zunächst gerade nicht durch Kleider Machen, sondern durch Kleider gemachten fremden jungen Mannes in die Runde werfen. Damit beginnt ein Gesellschaftsspiel, das sich über soziale Konventionen, interpersonelle und durch nationale Stereotypen getragene Zuschreibungen und diverse teils ökonomische, teils imaginäre Wertsetzungen organisiert und das den wandernden, aus Schlesien stammenden Schneiderburschen Wenzel Strapinski, der gerade »wegen des Falliments irgendeines Seldwyler Schneidermeisters seinen Arbeitslohn mit der Arbeit zugleich« hatte verlieren müssen und folglich »auswandern« (KML, 4) musste, zunächst in den Abgrund einer völlig zerrütteten Existenz führt. Sein schon zu Beginn vorhandenes ökonomisches Desaster3 wird im Verlauf seiner Entlarvung als zunächst eher unfreiwilliger

1 Keller, Gottfried: Kleider machen Leute. In: Ders.: Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band. Basel: Birkhäuser 1978, S. 13 (Gottfried Kellers Werke. Im Diogenes Verlag Zürcher Ausgabe. Hrsg. von Gustav Steiner. Bd. IV). [Im Folgenden unter der Sigle »KML« mit Seitenzahl im Text.] 2 »Wer fragt, stellt sich jenseits von Wahrheit und Lüge. […] Darin liegt wiederum eins von den obszönen Elementen des Fragens. Diese Seligkeit, jenseits von Lüge und Wahrheit zu stehen, ist eine solche, die mit sachimmanenter Notwendigkeit auf Kosten anderer erworben wird und diese anderen noch tiefer in die Schuld kommen macht… Die Fragenden sind druntendraußen, nicht zu belangen und nie zu behaften: Das ist ihre Seligkeit. Selbst unsichtbar sehen sie alles und machen es um sich herum tanzen…« Bodenheimer, Aron: Warum. Von der Obszönität des Fragens. Stuttgart: Reclam 2012, S. 110f. 3 »Der Schneider trug in seiner Tasche nichts als einen Fingerhut, welchen er, in Ermangelung

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Hochstapler nur noch von der Unglaubwürdigkeit seiner Person und der mit seiner Armut verbundenen Lächerlichkeit seiner sozialen Stellung überboten. Auf personaler Ebene hat er eben jenen Kredit verspielt, der einem fremden Wanderarbeiter wie ihm in der Welt der Bürger von Goldach und Seldwyla gerade ökonomisch niemals gewährt worden wäre. Bilder und Faszinationen scheinen aber, so Kellers durchaus ideologiekritisch zu nennende Wendung4 in dieser Geschichte, Sinn und Gespür für ökonomische Fakten und realitätsbezogene Geschäftstüchtigkeit gerade auch bei jenen Schichten außer Kraft zu setzen, denen, wie Kaufleuten, seit je her »Geld wichtiger ist als alles andere.«5 Freilich sind es diesmal nicht die Ausgebeuteten und Unterdrückten, die einer idealistischen Täuschung seitens der sie dominierenden Schichten unterliegen. Vielmehr werden diese, die wohlhabenden und angesehenen Bürger der Kleinstadt Seldwyla, selbst zum Opfer ihrer eigenen Idealisierungen, deren Realitäten verstellender, Wirklichkeit überzuckernder Charakter nicht nur auf sie selbst zurückfällt, sondern zugleich auch einen Funktionsbereich für idealisierte Bilder, Verklärungen und Kitsch, ebenso aber auch für Stereotype und sinnhaft ausgerichtete Weltdeutungen belegt, wenn es darum geht, eine – eben durch den Eintritt eines Fremden – offenbar gewordene Leerstelle (und Chance) zu bestimmen, zu deuten und ggf. zu nutzen.

I. Zufall, Mutwillen, Unbestimmtheit und Verlegenheit auf der einen, Deutungsansprüche, Unterhaltungs- und Geschäftsinteressen sowie die Vorgabe überkommener und zeitgenössisch aktueller Stereotype auf der anderen Seite stellen dabei jene Faktoren dar, die bereits zu Beginn von Kellers Novelle aus dem Auftritt eines wandernden Schneiders die Erscheinung eines »polnischen Grafen«6 machen können: »Er nahm sich mit seiner bewölkten Stirne, seinem liebirgendeiner Münze, unablässig zwischen den Fingern drehte, wenn er der Kälte wegen die Hände in die Hosen steckte…« (KML, 4). 4 Zur Vorstellung, Ideologie stelle eine »verkehrte« Bilderwelt dar, vgl. Lenk, Kurt: Problemgeschichtliche Einleitung. In: Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Hrsg. und eingeleitet von Kurt Lenk. Darmstadt Neuwied: Luchterhand 61972, S. 17–59, hier: S. 24–31 (= Soziologische Texte 4); Boudon, Raymond: Ideologie. Geschichte und Kritik eines Begriffs. Reinbek: Rowohlt 1988, S. 98–109. 5 Adorno, Theodor W.: Fernsehen als Ideologie. In: Ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 81–98, hier: S. 93. 6 Vgl. dazu Orłowski, Hubert: Die Polen: Torso einer politischen Adelsnation. In: Ders.: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Der deutsche Polendiskurs im Blick historischer Stereotypenforschung und historischer Semantik. Wrocław/Görlitz: Neisse 2005, S. 94–107; zu »Kleider machen Leute« vgl. Ders.: »Polnische Wirtschaft«. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit.

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lichen, aber schwermütigen Mundbärtchen, seinen glänzenden schwarzen Locken, seinen dunklen Augen, im Wehen seines faltigen Mantels vortrefflich aus…« (KML, 18). Zum »Helden« kommt »sein Wetter«7 hinzu, »der Abendschein und das Säuseln der Bäume über ihm erhöhte den Eindruck…« (KML, 18), und schafft damit zugleich einen Stimmungsraum, in dem bereits vorhandene Vorstellungen über »feine Leute« und fremde Sitten aufgerufen werden und sich in aktuell historischen Umständen zu einem vermeintlich eindeutigen, die weiteren Handlungen und Einschätzungen motivierenden Bild verdichten können: »… denn um ebendiese Zeit wurden viele Polen und andere Flüchtlinge wegen gewaltsamer Unternehmungen des Landes verwiesen« (KML, 21). Letzten Endes sind es ein Radmantel, »der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh«, ein sorgfältig gepflegtes »Schnurbärtchen« und eine polnische Pelzmütze, »die er …mit großem Anstand zu tragen wusste« (KML, 4), die ihn als »Polen«8 erscheinen lassen. Mit Exotik, Glanz und Adel sind in der Erscheinung des vermeintlichen Grafen allerdings auch bereits drei Parameter angesprochen, die so auch schon in den aufklärerischen Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts zum Bild der Polen gehören9 und die in gewissen Transformationen noch bis weit ins 20. Jahrhundert, ja bis in unsere Gegenwart hinein eine Rolle spielen.10 Natürlich geht es, wie der Titel der Erzählung Kellers schon ausweist, um Sein und Schein, um die Rolle des Glanzes »einer schönen Erscheinung«11 und deren »handwerkliche« Erzeugung,12 um die damit verbundenen Korrespondenzen in den Erwartungen der Menschen und um deren Anteil wiederum am Zustandekommen und an der Macht der jeweils spezifischen Inszenierungen eines Selbstseins im Alltag.13 Nicht zuletzt geht es um die damit verbundenen Möglichkeiten,

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Wiesbaden: Harrassowitz 1996, S. 209f.: »Verkleidung und Rollenspiel machen es möglich« (ebd., S. 209). Vgl. Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus. München: Hanser 1971. Zur Imagologie des Polen-Bildes in den letzten Jahrhunderten vgl. Gerrits, André; Leerssen, Joep: Poles. In: Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Hrsg. von Manfred Beller, Joep Leerssen: Amsterdam/New York: Rodopi 2007, S. 216–219. Vgl. dazu Stanzel, Franz K.: Europäer. Ein imagologischer Essay. Heidelberg: Winter 1998, zu Polen bes. S. 52–54; Abbildungen von Völkertafeln um 1720 ebd., S. 15–17. Vgl. dazu Orłowski, »Polnische Wirtschaft«. 1996, S. 35–46. Sautermeister, Gert: Erziehung und Gesellschaft in Gottfried Kellers Novelle »Kleider machen Leute«. In: Der alte Kanon neu. Zur Revision des literarischen Kanons in Wissenschaft und Unterricht. Hrsg. von Walter Raitz, Erhard Schütz. Opladen: Westdeutscher Verlag 1976, S. 176–207, hier S. 183. Auf die Rolle ästhetischer Orientierungen in der Geschichte des Schneiderhandwerks geht Sautermeister mit Rückbezug auf Bernstein, Eduard: Die Schneiderbewegung in Deutschland. Bd. 1, Berlin 1913 ein; vgl. Sautermeister, Erziehung. 1976, S. 184, Anm. 10. So die einigermaßen wörtliche Übersetzung von Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday & Co 1959.

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Nötigungen und Verführungen zum Scheinen und Täuschen, zum Betrügen und Betrogenwerden vor dem Hintergrund vermeintlich stabiler, zugleich aber durch starke soziale Differenzierungen und deutliche Klassenunterschiede gekennzeichneter gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen Zugehörigkeit und Ausschluss, Anerkennung und Verachtung eben auch über das In-Erscheinung-Treten und eine entsprechend wertende Wahrnehmung dieser Selbstpräsentationen zustande kommen und entsprechend unterschiedlich (auch ggf. ungerecht) geregelt bzw. verteilt werden.14 Wie schon die Alltagsvernunft weiß, aber auch die moralistische Tradition und Literatur seit dem »Lazarillo« (1554), spätestens aber seit Gracians »Oraculo Manual« (1647) und »Criticón« (1651–57) es zeigen kann, gehören zum Betrügen » immer zwei«: derjenige, der betrügt, und derjenige, der – ob bewusst oder unbewusst – betrogen werden will. Keller hat hierbei das Zustandekommen von Erwartungen an den Eintritt eines ungewohnt Sensationellen und die Bereitschaft, daran in kleinstädtisch-bürgerlichen Verhältnissen zu glauben, ja sich faszinieren zu lassen, genau im Blick: »Diese Leute waren nichts weniger als lächerlich oder einfältig, sondern umsichtige Geschäftsmänner, mehr schlau als vernagelt; allein da ihre wohlbesorgte Stadt klein war und es ihnen manchmal langweilig darin vorkam, waren sie stets begierig auf Abwechslung, ein Ereignis, einen Vorgang, dem sie sich ohne Rückhalt hingaben« (KML, 22). Ausführlich schildert die Erzählung den Nutzen, die Macht und auch die sozioökonomischen Grundlagen und Bedürfnisse für einen Umgang mit Stereotypen und Bildern, wenn es darum geht, kollektiven und individuellen Erwartungen eine Gestalt zu geben. Kellers Erzähler weist darüber hinaus darauf hin, welche Rolle Erfahrungen und genauen, allerdings durch kollektive Vorgaben bzw. Vorstellungen getönten Beobachtungen gerade in Alltagsituationen zukommt, denn sie sind der Stoff, aus dem die Bilder – wie überzogen, verkehrt oder verzerrt auch immer – sich zusammensetzen und mit dessen Hilfe sie sich immer wieder auch legitimieren lassen: »Der vierspännige Wagen, das Aussteigen des Fremden, sein Mittagessen, die Aussage des Kutschers waren so einfache und natürlich Dinge, dass die Goldacher, welche keinem müßigen Argwohn nachzuhängen pflegten, ein Ereignis darauf aufbauten, wie auf einen Felsen (ebd.).15 14 Vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München/ Zürich: Piper 1983, bes. S. 153–188. 15 Kellers Wortwahl hebt hier auf den quasi-religiösen Charakter solcher auf »Images« bezogenen Glaubensüberzeugungen ab, ein Befund dem ggf. mit den Studien David Riesmans oder auch Eric Voegelins zu Außenleitung und politischen Religionen nachzugehen wäre. Vgl. Riesman, David; Denney, Reuel; Glazer, Nathan: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung von Helmut Schelsky. Hamburg: Rowohlt 1958, S. 137–152; Voegelin, Eric: Die politischen Religionen [1938]. Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter J. Opitz. München: Fink 1993, S. 50–55.

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Strapinskis öffentlichkeits- und zunächst auch marktwirksamer Erfolg, »so ward er rasch zum Helden eines artigen Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll arbeitete« (KML, 26; Kursivierung durch den Verf.), geht freilich über die von Erving Goffman im Rahmen seiner Theater-Metaphorik für die Analyse sozialen Verhaltens aufgeworfene Frage, »in wie weit der einzelne selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet«16, hinaus und führt – durchaus vorausschauend – auf den Weg einer teils noch geglaubten, teils bereits im Sinne aktueller Selbstvermarktung entworfenen Selbst-Inszenierung Strapinskis, der in dieser Rolle als kluger und durchaus wachsamer »Selfmademan«, mithin als Unternehmer seiner Selbst17 in Erscheinung tritt: »Nun war der Geist in ihn gefahren. […] Er lernte in Stunden, in Augenblicken, was andere nicht in Jahren. […] Er beachtete wohl die Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie während des Beobachtens zu einem Neuen und Fremdartigen um; besonders suchte er abzulauschen, was sie sich eigentlich unter ihm dächten und was für ein Bild sie sich von ihm gemacht. Dieses Bild arbeitete er weiter aus …« (KML, 26).

II. Wenn Ulrich Bröckling in seiner Studie zum »unternehmerischen Selbst« die »Real-Fiktion« des »Selbst-Unternehmers« als ein »höchst wirkmächtiges Alsob« bestimmt, das »einen Prozess kontinuierlicher Modifikation und Selbstmodifikation in Gang setzt und in Gang hält, bewegt von dem Wunsch, kommunikativ anschlussfähig zu bleiben, und getrieben von der Angst, ohne diese Anpassungsleistung aus der sich über Marktmechanismen assoziierenden gesellschaftlichen Ordnung herauszufallen«18,

so beschreibt er damit recht genau einen Rahmen, innerhalb dessen sich Strapinski zunächst als Wanderarbeiter, dann als Graf und Hochstapler wider Willen bewegt, um sich endlich – erneut hebt der Name die damit bezeichnete Sache in Richtung Werbung und Selbstrepräsentation – als »Marchand-Tailleur und Tuchherr« (KML, 54) doch noch und gegen Neid, Missgunst und Verachtung durchsetzen zu können. Doch anstatt als Schneider in deren Zunft einzutreten und so tatsächlich zu einem Ansässigen zu werden, nimmt Strapinski die mit der 16 Goffman, Theater. 1983, S. 19. 17 Ulrich Bröckling zitiert hier aus dem 2001 erschienenen Duden-Wörterbuch der New Economy zum Stichwort »Ich-AG«: »Dazu gehört vor allem, wie bei einer realen Aktiengesellschaft permanent am Kurswert der eigenen Person zu arbeiten: ›ich muss meine ich-Aktie unbedingt wieder nach oben treiben.‹«; vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 46. 18 Ebd., S. 46f.

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Rolle des Fremden gegebene Chance einer gesteigerten »Beweglichkeit« an, um sich als Schneider und Tuchhändler zum Unternehmer zu machen und sich selbst damit zugleich erneut zu distanzieren. Georg Simmels Hinweise zur besonderen Affinität zwischen Fremden und Händlern bezeichnen damit zugleich die Schnittstelle, auch den Ort der Unruhe und der Irritation, die von einem mit dem Fremden identifizierbaren Unternehmertum ausgehen kann, wenn »jene Angewiesenheit auf den Zwischenhandel und vielfach […] auf das reine Geldgeschäft, dem Fremden den spezifischen Charakter der Beweglichkeit [gibt]; […] denn der schlechthin Bewegliche kommt gelegentlich mit jedem einzelnen Element in Berührung, ist aber mit keinem einzelnen durch die verwandtschaftlichen, lokalen, beruflichen Fixiertheiten organisch verbunden.«19

Natürlich handelt es sich in Kellers Novelle um einen im Ganzen imaginierten Polen – in wieweit Strapinski als Schlesier zugleich Pole ist, mag und muss gerade vor den heute wieder in Oberschlesien aktuellen Debatten einmal dahingestellt bleiben20 –, so dass das hier mit Strapinski verbundene Polenbild – vielleicht wie alle Images – im eigentlichen Sinn ganz wenig über das jeweils im Bild gezeigte Kollektiv »der Anderen«, sehr viel aber über das jeweils »eigene« Kollektiv und sein »Denken« aussagt, über diejenigen also, die das jeweilige Bild nutzen, um sich selbst in Differenz und Vergleichbarkeit zu sehen oder zu zeigen. Insoweit sind die in Kellers Erzählung auf »den Polen« (KML, 35) bzw. den »Polacken« (KML, 17) bezogenen Zuschreibungen einer ebenso schillerenden wie unbestimmten, nur aus eigenem Antrieb dann sich selbst schaffenden Existenz nicht so sehr als Eigenschaft des Polen/der Polen zu sehen, sondern vielmehr als Mittel und Medium aufzufassen, um ein offensichtlich die Schweizer bzw. die deutschsprachige Gesellschaft auch schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegendes bzw. ansprechendes Problem zu markieren: Wer kann unter welchen Umständen »was« aus sich selbst machen? 21 Images sind in diesen 19 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Grundformen der Vergesellschaftung [1908]. Berlin: Duncker & Humblot 51968, S. 510. Dass sich Strapinski und die Welt der Bürger von Goldach hierzu noch im Übergang befinden, wird natürlich auch daran deutlich, dass sich durchaus über die Heirat mit Nettchen verwandtschaftliche Bindungen einstellen; der Tuchhändler ist immer noch Schneider, auch wenn der Marchand sicherlich bereits den größeren Anteil zum späteren Reichtum beitragen kann. Vgl. Keller, Kleider: »er wurde von Jahr zu Jahr geschäftserfahrener und gewandter und wußte in Verbindung mit seinem Schwiegervater […] so gute Spekulationen zu machen, daß sich sein Vermögen verdoppelte…« (KML, 55). 20 Vgl. dazu Karwat, Krzysztof: Der Marsch der schlesischen Autonomisten. In: Jahrbuch Polen 2012: Regionen. Wiesbaden: Harrassowitz 2012, S. 53–61 sowie Nell, Werner: Trapped in History: Invention, Recognition and Ideological Risks in Regional Literatures. The Case of Silesia [im Druck]. 21 Max Weber spricht mit Blick auf die Differenz zwischen Beamten und Unternehmern an dieser Stelle von »Selbständigkeit des Entschlusses und organisatorische(r) Fähigkeit kraft

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sozialhistorisch kodierten Zusammenhängen keineswegs die Bilder eines anderen Volkes oder eines bestimmten gegenüberstehenden Kollektivs, sondern vor allem eine nach Außen gewendete Form der Verhandlung eigener Identitätsfragen und -aspekte. Als »Selbst-Unternehmer« schafft Strapinski in der Erzählung den Aufstieg vom wandernden, Arbeit suchenden Schneidergesellen zum erfolgreichen Geschäftsmann. Die Chance zum Aufstieg und zur Anerkennung verdankt er zunächst sicherlich Irrtum, Zufall und den darauf aufbauenden Selbst-Täuschungen der Goldacher Bürger, dann aber vor allem seiner eigenen Klugheit, seiner zeitweiligen Entschlossenheit und später vielleicht auch seinem Fleiß, vor allem aber den in seiner Biographie gegründeten Erfahrungen der Verletzbarkeit und einer darauf gegründeten Furcht, Wachheit und Aufmerksamkeit, die es ihm ermöglicht, Situationen schnell zu erfassen und sich auf das Verhalten anderer Menschen einzustellen.22 Zusätzliche Beobachtungschancen und eine gerade auch aus der Erfahrung der Marginalität heraus gesteigerte Reflexivität, wie sie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Ernst Grünfeld für die Lage der »Peripheren« bestimmt hat,23 gehören somit ebenfalls zu den Voraussetzungen, die Strapinski zu einer genauen Beobachtung »der Anderen« nötigen und ihn mit einer damit verbundenen Intuition ausstatten, die sich freilich auch auf bereits seiner Umwelt vertraute Vorgaben und Annahmen stützen kann, die für die Fremdwahrnehmung seiner Person als »polnischer Graf« teils historisch überkommene, teils spekulativ entworfene Grundlagen und Leitvorstellungen bieten. »Der Mann dort«, so beobachtet der ihm gegenüber aufmerksam, vor allem aber kritisch eingestellte Melchior Böni, »hat mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht von Praga und Ostrolenka her«(KML, 16).24 Nicht allein durch schlichte Anpassung an die vorhandene Normalität vermag sich Strapinski damit einen Platz zu schaffen, sondern auch durch eine bewusst gestaltete Fremdheit und Distinktion – »[er] begann nun unwillkürlich, etwas gesuchter zu sprechen, und mischte allerhand polnische Brocken in die Rede…« (KML, 19) – und nicht eigener Ideen«. Weber, Max. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: J.C.B. Mohr 51980, S. 836. 22 Auf die in der Biographie Strapinskis angelegte Statusinkonsistenz und die darin begründete soziale und ökonomische Klugheit geht Sautermeister, Erziehung, S. 187–193 ausführlich ein. Zum theoretischen Rahmen vgl. Garfinkel, Harold: Studies of the routine grounds of everyday activities. In: Ders.: Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs N.J.: PrenticeHall 1967, S. 35–75. 23 »Vergleichen und Beobachten führen zu Entdeckungen, und wer sich im Vergleichen und Beobachten übt, sieht mit anderen Augen«. Grünfeld, Ernst: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. Amsterdam: Noord-Hollandsche Uitgevers 1939, S. 80. 24 Erst später werden die zerstochenen Finger mit den Tätigkeiten eines Schneidergesellen in Verbindung gebracht, zunächst hält der dem »schönen« Polen zugeschriebene melancholisch-heldische Gestus, der sich mit den historischen Orten und Ereignissen des Aufstandes von 1830/31verbinden lässt (Schlacht bei Ostrołe˛ka am 26. Mai 1831).

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zuletzt dadurch, dass er die bereits vorhandenen Bilder und Erwartungen erst zufällig (und dann durchaus bewusst) auszufüllen vermag. Diese historischen, u. a. durch die liberale Polenfreundschaft und Publizistik nach 183025 geschaffenen Voraussetzungen und situativen Rahmungen sowie seine eigene situationsbezogene Bewusstheit ermöglichen es Strapinski offensichtlich, jeweils Erwartungen und Marktwert, Situation und Handlungsoptionen so aufzunehmen und mit seiner Person sowie seiner Selbst-Herstellung abzugleichen, dass diese eine situationsgerechte Nachfrage, seien es die Liebeserwartungen Nettchens, seien es die Sensationsbedürfnisse der Goldacher oder die Mode-Torheiten der Seldwyler, zufriedenstellen. »Sein angeborenes Bedürfnis etwas Zierliches und Außergewöhnliches vorzustellen, wenn auch nur in der Wahl seiner Kleider…« hatte ihn nicht nur, wie der Erzähler an dieser Stelle erläutert, »in diesen Konflikt geführt« (KML, 26), mehr noch: »das Schneiderblütchen fing …an seine Sprünge zu machen und seinen Reiter davon zu tragen« (KML, 19). Damit bildet die Befähigung zur »Selbstherstellung«, zum Selbstmanagement, auch eine der Voraussetzungen dafür, dass der Schneider sich die vorhandenen Erwartungen an das Verhalten eines polnischen Grafen zunächst einmal einigermaßen passgenau auf den Leib schneidern und in dieser Hinsicht zum Unternehmer seines eigenen Bildes werden kann, das den Markterwartungen der Goldacher im Hinblick auf Sensation und Perzeption entgegenkommt. Kellers Erzählung bietet darüber hinaus weitere Zutaten: Glück beim Spiel, Nettchens Obsessionen, Glück in der Lotterie und nicht zuletzt die Zufälle des Lockenspiels bei der Erinnerung an die Kindheit im Gespräch zwischen Nettchen und dem inzwischen reumütig gewordenen Schneidergesellen: »so hoben sich ganz so, wie jetzt bei Ihnen, die schönen Haare um Stirne und Schläfe ein wenig aufwärts« (KML, 49). Es handelt sich um ein Moment, der im Aufrufen kindlicher und für Erwachsene durchaus sentimental-kitschig erscheinender Erinnerungen schließlich zur endgültigen Annäherung der beiden führt. Auch wenn der Erzähler gerade hier den durchaus fragwürdigen Charakter dieser Motivierung selbst hervorhebt: »Die allzeit etwas kokette Mutter Natur hatte hier eines ihrer Geheimnisse angewendet, um den schwierigen Handel zu Ende zu führen« (ebd.) 26, treten weitere Zufallselemente und irrationale Randbedingungen auch schon im Vorfeld dieser Szene zur Genüge auf, um das Glück des Schneiders (in der Erzählung) sowohl zu begründen als auch (im Bezug auf das Leben) von der Fragwürdigkeit und Unbestimmbarkeit eben dieser Faktoren zu berichten. Nicht zuletzt vermag der Erzähler mit dieser Anmerkung noch einmal 25 Vgl. dazu u. a. Spazier, Richard Otto: Geschichte des Aufstandes des polnischen Volkes i. d. J. 1830 u. 1831. 3 Bde. Altenburg: Literatur-Comptoir 1832. 26 Kellers Koketterie trifft natürlich auch ihn selbst an dieser Stelle, ermöglicht diese »Laune der Natur« doch dem Erzähler, »den schwierigen Handel« des Erzählens zu einem guten »Ende zu führen«.

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die realitätsbezogene Unwahrscheinlichkeit eines solchen Weges zu Glück und Erfolg herauszustellen. Freilich fokussiert er damit zugleich auch die Bedingungen für ein solches Gelingen, wenn denn die künstlich geschaffenen, von Vorurteilen und Verblendungsbereitschaft getragenen Voraussetzungen stimmen.27 Aktuelle soziologische Befunde stellen die Rahmenbedingungen gegenwärtiger Erfolgsgeschichten, zumal in den Bereichen der Finanzspekulationen und des Marketings, vor allem von Seiten ihrer Zufälligkeit und damit Unbestimmbarkeit dar. So notieren die Soziologen Sighard Neckel und Kai Dröge in einer Studie zum Thema »Leistung in der Marktgesellschaft«: »Alle Einkünfte (und Verluste), die die modernen Finanzmärkte gewähren, lassen sich kaum auf individuelle Leistungsbeiträge beziehen, sondern entstehen im Medium schwankender Börsenkurse, riskanter Spekulationen, zufälliger Mitnahmeeffekte und windfall profits – mithin durch all jene Kontingenzen einer reinen Ökonomie von Erwartungen, die dem Handel mit Anlagekapital von vornherein inhärent sind«28,

wobei diese Kontingenzen des Marktes dann die Anforderungen und die Leistungen der Individuen aufs Neue konturieren und ggf. auch legitimieren, allerdings ebenso entwerten können: »Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet – das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen.«29

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass auch Strapinskis Stellung zwischen den »Klassen« und »Nationen« nicht nur vom »gesellschaftlichen Unrecht« der Unterprivilegierten zeugt,30 sondern zugleich auf die mit einer solchen aus Marginalität und Zufall bestimmten Status-Inkonsistenz verbundenen Anforderungen hinweist.

27 Robert Merton hat diese soziale Funktion und Wirkmächtigkeit des Zusammenspiels von Vorannahmen und Wirklichkeitsmodellierung in die Formel der »self-fulfilling prophecy« gefasst. Vgl. Merton, Robert K.: The Self-Fulfilling Prophecy. In: Ders.: Social Theory and Social Structure. Revised and enlarged edition. Toronto: The Free Press 21957, S. 421–436. 28 Neckel, Sighard; Dröge, Kai: Die Verdienste und ihr Preis. Leistung in der Marktgesellschaft. In: Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus. Hrsg. von Axel Honneth. Frankfurt a. M./New York: Campus 2002, S. 101. 29 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin 1998, S. 182. 30 So noch Sautermeister, Erziehung. 1976, S. 186, der aber zurecht die soziale Signifikanz der Figur Strapinski hervorhebt: »Zur Humanität Kellers gehört es, dass er den Charakter in seiner Dynamik, seinem gesellschaftlichen Gewordensein aufzufassen vermochte, nicht als Zeugnis guten Willens, wie verblendete Ethiker vorgeben, oder als angeborene Natur, wie elitäre, für unüberbrückbare Rangunterschiede plädierende Ideologen wollen.« Ebd., S. 188f.

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In diesem Rahmen werden dann freilich auch die daraus sich ergebenden Fähigkeiten (Transformationspotentiale) erkennbar, die es dem fremden Schneidergesellen ermöglichen, durch genaue Beobachtung, Mimikry und durchaus auch aus Furcht geborener Selbstkontrolle und Anpassungsleistung sich in soweit selbst zu entwerfen, als dass ihm dann der Zufall und andere Unwägbarkeiten letztlich ins Glück einer handelsbürgerlichen, freilich weiterhin durch »Spekulationen« (KML, 55) gefestigten Existenz verhelfen können. Natürlich sind solche Annahmen auch auf das Vorliegen und die Glaubhaftigkeit, zumindest auf die Akzeptanz unterschiedlicher Vorstellungen angewiesen, zu denen neben den Ansprüchen auf individuelle Redlichkeit und Treue, kaufmännische Verlässlichkeit und professionelles Können auch – wie in der Erzählung nicht nur ausgeführt, sondern auch als erfolgreich geschildert wird – entsprechende Bilder des Fremden, anderer Völker, Sitten, Erfahrungen und Verhaltensweisen gehören.

III. »Images« bzw. Völkerbilder31 stellen in diesem Zusammenhang nur eine Variante, einen Teilvorrat von Versatzstücken dar, mit denen Wissbegehren und Erfahrungsarmut bzw.-mangel innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses so bearbeitet bzw. kompensiert werden, dass aus Vorannahmen und Wunschvorstellungen handlungsanleitende Vorhaben entstehen können. Diese vermögen dann zum Gegenstand unternehmerischen bzw. Interesse geleiteten Handelns und einer daran orientierten Selbstmodellierung zu werden, wobei sie selbst wiederum Schranken auferlegen bzw., anstatt Handlungsoptionen zu ermöglichen, diesen als »selbst« gemachte Hindernisse dann erneut im Weg stehen: »allein es war klar, dass er hier nur als Graf leben konnte« (KML, 27). Immerhin wird auf diese Weise auch erkennbar, wie und in welchem Maße das Wünschen oder Unterstellen von projektiven Erwartungen und die Orientierung an festen Bildern sich auf die Gestaltung, Modellierung, ja auf die Hervorbringung sozialer Realität selbst hin auswirken.32 Nicht nur die Köchin, die Strapinskis Unwissen, 31 Für eine erste Operationalisierung dieses Feldes aus einer spezifisch komparatistischen Sicht vgl. Guyard, Marius-François: La Littérature Comparée. Paris: Presses Universitaires de France 1951, S. 110–119. 32 Noch immer richtungsweisend das bereits zum Ende der 1920er Jahre formulierte ThomasTheorem: »If men define situations as real, they are real in their consequences«; vgl. Thomas, William Isaac: Person und Sozialverhalten. Hrsg. von Edmund H. Volkart. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1965, S. 114. Auf die ebenfalls für den hier in Rede stehenden Zusammenhang aufschlussreiche Studie: Der polnische Bauer in Europa und Amerika, ebd. S. 63–85 kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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wie er etikettengerecht einen Fisch zerlegen soll, als Hinweis auf eine besonders gute Herkunft und Erziehung auslegt33, greift in diesem Zusammenhang auf die ihr zur Verfügung stehenden Erfahrungen aus »zweiter Hand« zurück, der Erzähler selbst leitet diesen Umstand ebenso boshaft wie sozialhistorisch zutreffend aus der Kolportage-Lektüre ab: »Und wie schön und traurig er ist! Gewiss ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja, ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden!« (KML, 9f.)

Der Rolle und dem Anteil trivialer, populärkulturell geschaffener und ggf. über Trivialliteratur34 und andere Medien der Populärkultur verbreiteter bzw. auch verfestigter Muster35 beim Zustandekommen, dem Transport und der Popularisierung nationalkultureller Stereotypen (»images«) sowie den daraus sich ergebenden Schwierigkeiten, diese Festlegungen in aufklärerischer Weise aufzulösen oder wenigstens kritischer Reflexion zuzuführen,36 könnte im Anschluss an Kellers Text eine eigene Studie gewidmet werden.37 Immerhin aber sind darin alle Beobachtungen zusammengestellt, die aus Sicht der ihn aufs Genaueste beobachtenden Gesellschaft aus einem wandernden, Arbeit suchenden Schneidergesellen zumindest zeitweise einen polnischen Grafen »machen« bzw. ihm im Rekurs erlauben, in unternehmerischer Selbstmodellierung sich als ein solcher nicht nur zu inszenieren, sondern dann auch zumindest zeitweise selbst zu »sehen«,38 an sich selbst zu »glauben«. Neben seinem »Aussehen«, das als eigenständiges symbolisches Kapital auf zeitgenössische Darstellungen junger polnischer Helden aus den Aufständen 1831 und dann noch einmal um 1863/64 zurückgreifen kann und damit Vorstellungen bedient, die im vormärzlichen Deutschland auf breite Resonanz und Solidaritätsaktionen (bis zum Hambacher Fest) stießen,39 sind es vor allem seine Zurückhaltung, die als Distinktions33 »Der weiß noch einen feinen Fisch zu essen… Das ist ein Herr aus großem Hause, darauf wollt’ ich schwören, wenn es nicht verboten wäre« (KML, 9). 34 Vgl. Sautermeister, Erziehung. 1976, S. 198ff. 35 Vgl. dazu noch immer das Kapitel Stereotypen und Requisiten in Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. München: dtv 1977, S. 397–412. 36 Vgl. dazu Orłowski, Hubert: Stereotype der ›langen Dauer‹ und sozialhistorische Diskursanalyse. In: Ders.: Die Lesbarkeit von Stereotypen. 2005, S. 13–40. 37 Möglicherweise spricht dies für die Sperrigkeit künstlerischer Bearbeitungen, dass sie sich einem alltagsbezogenen Nutzen und Verbrauch von Images widersetzen, diesen zumindest im Wege stehen. 38 Dass ihm dabei Spekulationen und das Lotteriespielen, auch der Gewinn beim Kartenspiel (KML, 17) die Mittel an die Hand geben, um seine weitere Existenz unter Beweis zu stellen, muss als weiterer außerordentlich aktueller (und auch ironischer) Hinweis Kellers auf die spekulative Werte-Ordnung bürgerlich-marktwirtschaftlicher Gesellschaften verstanden werden. 39 Zur liberalen deutschen Polenfreundschaft vgl. Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft. Hrsg. von Peter Ehlen. München: Berchmans 1982;

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merkmal gewertet wird, sein »edles Benehmen«, sein Umgang mit Pferden und nicht zuletzt ein paar Polnischkenntnisse, die es ihm immerhin erlauben, ein polnisches »Volksliedchen« zu singen, auch ohne sich, »gleich einem Papagei«, seines »Inhaltes bewusst zu sein« (KML, 20). Es sind solche Zufälligkeiten, die historisch gerahmt und moralisch gewichtet, dann aus ihm (und ggf. auch für ihn selbst) einen »Polen« machen, nicht zuletzt weil die daraus abgeleiteten Verhaltensweisen sich in der sozialen Interaktion als erfolgreich erweisen: »Sobald Strapinski nur an seine Mütze griff und dieselbe demütig vor seine Brust nahm in seiner Überraschung, verbeugte sich das Mädchen rasch errötend gegen ihn, aber überaus freundlich […] Strapinski aber machte unwillkürlich ganze Wendung und kehrte getrost nach der Stadt zurück. Noch selben Tage galoppierte er auf dem besten Pferde der Stadt […] durch die Allee…« (KML, 25).

Im Zusammenhang dieser Entwicklung stellt der anfangs in der Gaststube verlegen sitzende und schwitzende, zum Hochstapeln verführte Schneider zunächst einmal eine Interpretationen erzeugende Leerstelle dar, d. h. er fungiert als ein Generator, der die vertrauten Muster der Fremd- und Selbstdarstellung der ihn beobachtenden Kaufleute herausfordert und die verwendeten Bestimmungen als erfahrungsenthobene Markenzeichen, werbetechnische Floskeln und übernommene Stereotype sowohl erkennbar werden lässt als auch dann selbst zu nutzen weiß: »Die Herren aus Polen lieben auch eine gute Zigarette, hier ist echter Tabak aus Smyrna, mein Kompagnon hat ihn gesandt. […] Versuchen Sie eine Pflanzerzigarre aus Virginia, selbstgezogen, selbstgemacht und durchaus nicht käuflich« (KML, 14).

Sein Hinweis steigert den Wert dieser Zigarre auf dem Markt schon deshalb, weil sie diesem ja gerade nicht zur Verfügung zu stehen scheint. Veblens40 Effekt, je teurer, desto größer die Nachfrage, deutet sich hier ebenso an wie die aktuell noch immer behauptete oder vermeintliche Marktferne und Marktkritik als zusätzliche markt- und marketingfähige Attribute.

Strobel, Georg W.: Die deutsche Polenfreundschaft 1830–1848. Vorläuferin des organisierten politischen Liberalismus und Wetterzeichen des Vormärz, in: Rainer Riemenschneider (Red.): Die deutsch-polnischen Beziehungen: 1831–1848, Vormärz und Völkerfrühling. XI. deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom 16. bis 21. Mai in Deidesheim (Rheinland-Pfalz). Hrsg. von Rainer Riemenschneider. Braunschweig: Georg-Eckert-Institut 1979, S. 126–147. 40 Vgl. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen [1899]. Frankfurt a. M.: Fischer 1986, S. 51f.; vgl. auch S. 46: »Reichtum, der einst nur als Beweis der Tüchtigkeit galt, wird nun in der öffentlichen Meinung zum Verdienst an sich; er ist seinem Wesen nach ehrenhaft und verleiht deshalb seinem Besitzer Ehre.«

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Schon an dieser Stelle zeigt sich die Gesellschaft, zumal wenn sie mit Luhmann als Kommunikationsfeld gesehen wird,41 als ein Interaktions- und Diskurszusammenhang, der über leere, also unterschiedlich zu füllende, auf Arbitrarität, also auch auf Wechselkurse und Transformationen hin angelegte Wertmarkierungen und deren Zirkulation nicht nur zu Stande kommt, sondern sich auch erhält, mehr noch: alle anderen Werte in seinen Sog zu ziehen vermag. Wörter und Bilder, auch Nationen bezogene Images erscheinen damit wie Münzen: Auch diese weisen historische Prägungen auf, repräsentieren bestimmte Zirkulationssysteme, lassen sich auf Realien beziehen, haben einen – wenn auch jeweils relativen, also prinzipiell auch schwankenden, ja unbestimmten – Wert42 und lassen sich immer wieder auch gegen andere Marken bzw. Markierungen43 tauschen. Dass Strapinski schnell lernt und sich so auch selbst in den angebotenen Bildern inszenieren kann, wird spätestens da deutlich, wo er den vermeintlichen Verlust seiner Habe und den Verzicht, dieser nachzuforschen, mit dem Hinweis auf politische Intrigen und Verfolgung, mit dem zeitgenössischen politischen Geschehen ebenso vertraut wie mit der diesbezüglichen Unterhaltungs- und Kolportageliteratur, begründet: »Man muss meine Spur verlieren für einige Zeit… […] Der Wirt … erzählte … den Fall und schloss mit dem Ausspruche, dass der Graf unzweifelhaft ein Opfer politischer oder der Familienverfolgung sein müsse« (KML, 21).

In Verbindung mit der zeitgenössischen Wahrnehmung Polens, seiner Flüchtlinge und der im Ausland Verfolgten nach dem November-Aufstand 1830 und der im Sommer 1831 einsetzenden Flucht vieler Beteiligter nach Westeuropa44 wissen die Zuhörer und Beobachter genug, um dank des ihnen vertrauten Bildes ihre Erfahrung zu ordnen und sich darauf einen (wenn auch falschen) Reim zu machen.

41 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 14, 39f. 42 Vgl. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900; 21907]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 238f. (= Georg Simmel Gesamtausgabe 6). 43 Siehe dazu bspw. die Liste der Feindbilder und deren wechselseitige Austauschbarkeit etwa im Katalog der Frankfurter Ausstellung: Feindbilder 1914–1918. Frankfurt a. M.: Saalbau 1989. 44 Vgl. Alexander, Manfred: Kleine Geschichte Polens. Stuttgart: Reclam 2003, S. 199–205; zu europäischen Reaktionen vgl. Jaworski, Rudolf; Lübke, Christian; Müller, Michael G.: Eine kleine Geschichte Polens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 265f.

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IV. Im Hinblick auf die bürgerliche Welt der Kaufleute berichtet Kellers Novelle von einer Zirkulation der Waren, freilich nicht auf der Basis ihres Gebrauchswertes, und auch nicht als Tauschwert allein, sondern vor allem unter Bezugnahme auf ihren Symbol- bzw. Zeichenwert. Strapinskis Glück und Ergebnis seiner durch Nettchen auf den Weg gebrachten Lebens- und Berufserfahrung besteht am Ende nicht darin, dass er als solider Handwerker aufgrund der Qualität seiner Produkte Anerkennung findet, vielmehr macht er sein Geld als Modeschneider: »Er machte ihnen ihre veilchenfarbigen oder weiß und blau gewürfelten Sammetwesten, ihre Ballfräcke mit goldenen Knöpfen… und alle waren sie ihm schuldig, aber nie zu lange Zeit. Denn um neue, noch schönere Sachen zu erhalten, …mussten sie ihm das Frühere bezahlen…« (KML, 54f.)

Es sind in dieser Novelle aber nicht nur Güter, die als Träger oder Referenzobjekte ihrer Etiketten sowohl zirkulieren als auch im einzelnen immer wieder entwertet bzw. umgewertet werden, also daraufhin in Erscheinung treten, dass sie »an sich« keinen Wert haben. Ebenso geschieht dies mit Gefühlen und Einschätzungen, Wertsetzungen moralischer Art und in kultureller Kodierung, nicht zuletzt mit eben jenen Zuschreibungen, die als Images/Nationenbilder innerhalb dieser Welt im Gebrauch sind und in ihrer Deutungen ermöglichenden, im Sinne Ricœurs präfigurativen Funktion (Mimesis I) ebenso angesprochen werden wie sie in ihrer Repräsentation im Text (Mimesis II) als Beispiele wechselseitiger Interpretation und Miss-Interpretation von Erfahrungen und Kodierungsmöglichkeiten zugleich das Material und den Anlass für Fehl-, Um- und Neudeutungen darstellen können. Auf diese Weise wirken sie als Bilder »aus der Erzählung« wieder auf die Modellierung der wirklichen Welt der Leserinnen und Leser im Sinne der Mimesis III (Refiguration) zurück.45 Wie Münzen und Designermarken von der Art der oben angesprochenen Virginia-Zigarre stellen Images (Nationenbilder) 46 damit eine Art Währung dar und fungieren als Zirkulationsmittel in einem Umlauf von Deutungen, die in ihrer Mehrdeutigkeit und Wechselhaftigkeit wie Geld und andere Zeichen selbst sowohl unfassbar sind als auch von einem zumindest prekären, fragwürdigen (und ggf. willkürlichen) Bezug auf die damit anvisierten Referenzobjekte berichten. Zugleich motivieren sie als Objekte der Kommunikation und Zirkulation aber auch die Gesellschaft selbst, halten sie in Gang, ja konstituieren sie und 45 Vgl. dazu Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München: Fink 1988. 46 Vgl. dazu Zijderveld, Anton C.: On the Nature and Function of Clichés. In: Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in der englischsprachigen Literatur. Hrsg. von Günther Blaicher. Tübingen: Narr 1987, S. 26–40.

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sprechen die Intentionalität der Individuen nicht nur an, sondern lassen diese selbst als Agens der Sinnorientierung und damit auch der Täuschbarkeit in Erscheinung treten. Vor diesem Hintergrund bietet Kellers Erzählung drei Befunde an, die nicht nur ihre zeitkritische Dimension47 ausmachen, sondern in ihrer Diagnosekraft auch als eine Art Scheinwerfer oder Lupe herangezogen werden können, um aktuelle Erscheinungen vermarktlichter Selbstdarstellung in unternehmerischer Hinsicht,48 in medialen Räumen und in einer vergleichenden Perspektive zu beleuchten. Innerhalb des hier in Rede stehenden Zusammenhangs soll dabei der Rolle und der Funktion nationalkultureller Bilder besondere Aufmerksamkeit zukommen, zumal diese am Ende mit einem kurzen Blick auf die Wahrnehmung und Inszenierung des polnischen Fussball-Superstars Robert Lewandowski noch einmal aufgenommen werden können.49 Zum ersten wird in Kellers Geschichte vom Nutzen, zumindest vom Gebrauch nationalkultureller Stereotypen berichtet, wenn es darum geht, Unbestimmtheit im Alltag abzubauen und aus der Sicht von Betrachtern, Interpreten und Akteuren Handlungs- und Zurechnungssicherheit zu gewinnen. Wie auch in anderen Spekulationen ist diese Sicherheit freilich nur über die Imagination von Vertrauen auf der Basis bereits vorhandenen Vertrauens zu gewinnen, das dann wie auch in anderen Spekulationsgeschäften hochgerechnet bzw. extrapoliert werden muss. Dementsprechend werden die weltfremd-welterfahrenen Stadtbürger nicht nur als diejenigen eingeführt, die der Stereotype (oder literaturwissenschaftlich »images«) bedürfen, um ihre Wahrnehmungen mit ihren Vorstellungen von der Welt abzugleichen. Vielmehr wird auch gezeigt, in welchem Maße diese darauf angewiesen sind, statt der Reflexion auf deren potentielle Unsicherheit, ja Unwahrheit die jeweils bereits als Hinweise zu deutenden Anzeichen für »bare Münze« zu nehmen: »Wenn er diese Redensarten auch nur sparsam, mit einer gewissen Bescheidenheit und stets mit einem schwermütigen Lächeln vorbrachte, so erreichte er damit nur eine größere Wirkung…« (KML, 16).

47 Selbstverständlich lässt sich dies auch anthropologisch tiefer legen, vgl. Jeziorkowski, Klaus: Gottfried Keller. Kleider machen Leute. Text, Materialien, Kommentar. München/Wien: Hanser 1984, S. 119. 48 Vgl. dazu Voß, Günther; Pongratz, Hans G.: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der »Ware Arbeitskraft«? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50/1 (1998), S. 131–158; Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 278–282: »Projekt Ich«. 49 Dass auch dies außerordentlich aktuell eine Rolle spielt, sei mit Hinweisen auf Ethnomarketing, Gründungsmessen mit spezifisch »migrantisch« bestimmten Ansprechpartnern und einer am Vergleich nationalkultureller Muster interessierten Mittelstands- und Entrepreneurship-Forschung belegt. Für erste Informationen siehe: (Zugriff am 29. 05. 2014).

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Allerdings gelingt dies nur, solange das Vertrauen auf eine bekannte Nahwelt besteht, an erster Stelle also sich auf den Wirt als Gewährsmann stützen kann, denn dieser »hatte … bis jetzt noch keine dummen Streiche gemacht« (KML, 13). Vertrauen, so auch bezüglich späterer Zeiten,50 bildet gerade in Spekulationsgeschäften die unverzichtbare Größe, wenn es darum geht, dasjenige der jeweils anderen zumindest insoweit und so lange zu nutzen, wenn nicht gar zu missbrauchen, als es nötig ist, um einen Profit zu erwirtschaften. Dessen personale, jeweils immer nur um den Preis der Regression zu erlangende Grundlage wird von Georg Simmel in der »Philosophie des Geldes« (1900) nicht nur angesprochen, sondern – passend für diesen Zusammenhang – am Beispiel der Mode exemplifiziert: »So glaubt das Kind jeden beliebigen Sachverhalt nicht aus inneren Gründen, sondern weil es den mitteilenden Personen vertraut; nicht etwas, sondern jemandem wird geglaubt. So sind wir in unserem Geschmack von der Mode, d. h. von der sozialen Verbreitung eines Tuns und Schätzens abhängig, bis wir, spät genug, die Sache selbst ästhetisch zu beurteilen wissen.«51

Einziger Widersacher Strapinskis, und dies durchaus nicht aus sittlichen Beweggründen, sondern aus Neid, eigenem Geschäftsinteresse und Sensationslust, ist Melchior Böni, der freilich nicht mit der Entschlossenheit und dem kindischen Hochmut Nettchens rechnet, bei ihrer romantischen Wahl zu bleiben und auf dieser Basis dann auch noch einen realitätsbezogenen Geschäftsgeist zu entwickeln: »Wir wollen«, so fasst sie ihren Entschluss, bei Strapinski zu bleiben, zusammen, »nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen« (KML, 50).52 Als zweiten Befund bietet Kellers Erzählung einen Einblick nicht nur in die Wirkung, sondern auch in die Zusammensetzung »erfolgreicher« Images: Denn für Strapinski – dies macht freilich die Welt, von der Keller berichtet, nicht besser – führt der Weg nach seinem aus bürgerlicher Sicht tiefen Fall in den Abgrund (Insolvenz, Lächerlichkeit, Ausschluss) auf der anderen Seite wieder nach oben in ein nach den Zufällen, die ihn in die Rolle des polnischen Grafen gebracht haben, ebenso willkürlich, zufällig und unverdientermaßen gewonnenes Glück, dessen unbegründetes, lediglich vor allem kindischem Eigensinn (siehe oben Simmel) zu verdankendes Eintreten Keller an mehreren Stellen hervorhebt. Zugleich werden damit die Arbitrarität nationaler Charakterzeichnungen und 50 Vgl. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 102– 126. 51 Simmel, Philosophie. 1989, S. 88. 52 Allerdings dürfte für den späteren Erfolg auch das »ganze Gut« (KML, 54), das Nettchen als Erbe ihrer Mutter zusteht, eine Rolle gespielt haben, nicht zuletzt als »der Anwalt ein paar Worte verlauten ließ von einem großen Vermögen, welches vielleicht nach Seldwyla käme durch diese Geschichte…« (KML, 53).

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entsprechender Zuschreibungen, aber auch aller anderen für die Rahmen setzende bürgerliche Gesellschaft maßgeblichen Wertsetzungen angesprochen, wenn Nettchens Vater deren (kindische) Disposition zum Exaltierten und Fremden folgendermaßen schildert: »Schon als Schulkind behauptete sie fortwährend, nur einen Italiener oder einen Polen, einen großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen Locken heiraten zu wollen« (KML, 29). War Nettchen schon beim Anhören des polnischen Liedchens mit der albernen Bemerkung »Ach, das Nationale ist immer so schön!« (KML, 20) aufgefallen, so kann sich ihr Entschluss zur endgültigen Parteinahme für den de facto in Schlesien gebürtigen Schneidergesellen doch nur zwischen einer Fortsetzung trivialliterarischer Reduktion53und einer dann freilich sich erfüllenden ökonomischen Kalkulation verorten54. Der Markt, so ließe sich zusammenfassen, fordert, nutzt und verbreitet, verfestigt und bricht die Stereotype, die zwischen Nationen, sozialen Gruppen flottieren, die aber, wie gesehen, auch die Individuen in ihren Haltungen zueinander bis in ihre Werteordnung und Gefühlswelt hinein bestimmen und ihnen zugleich die Chance, mithin Nötigung bieten, sich in entsprechender Weise selbst zu modellieren. Kellers Novelle lässt, auch hinsichtlich aller anderen Werte, wie gerade vom »erfolgreichen«, glücklichen Ende der Novelle her zu sehen ist,55 keinen Stein auf dem anderen, vielmehr werden alle tradierten und sozial beglaubigten Motive und Wertsetzungen im Sinne einer Kippfigur nach beiden Seiten hin bis in ihr Gegenteil ausgezogen, nicht zuletzt, wenn die bei Nettchen bereits angesprochene kindische Versessenheit auf einen Polen oder einen Pianisten »mit Locken« im weiteren Verlauf der Geschichte tatsächlich dazu führt, dass nun beide Protagonisten – durch »Locken« bewegt – zueinander finden,56 eine Setzung, ein Zufall, der sich, wie oben zitiert,57 seitens des heterodiegetischen Erzählers durchaus bewusst ein wenig unglaubwürdig kommentiert findet. Während Sautermeister an dieser Stelle vor allem die »Verzweiflung eines Menschen« hervorhebt, »der durch die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Kindheit und Jugend in eine Situation hinein53 »Keine Romane mehr! Wie du bist, armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zu Trotze dein Weib sein« (KML, 50). 54 »[E]r wurde von Jahr zu Jahr geschäftserfahrener und gewandter und wusste … so gute Spekulationen zu machen, dass sich sein Vermögen verdoppelte…« (KML, 55). 55 So der durchaus unbarmherzige Abschied aus Seldwyla: »Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber zurück, sei es aus Undank oder aus Rache« (KML, 55) und das ebenso rücksichtslose wie geschäftstüchtige und erfolgreiche Agieren am Markt, auch hier nicht mit Gebrauchs-, sondern bezeichnenderweise mit Symbolwerten: »Denn um neue, noch schönere Sachen zu erhalten, … mussten sie ihm das Frühere bezahlen, so daß sie untereinander klagten, er presse ihnen das Blut unter den Nägeln hervor« (KML, 54f.). 56 »In der Tat hatten sich die zunächst an den Schläfen und über der Stirne liegenden Locken Nettchens leise bewegt wie von einem ins Gesicht wehenden Lufthauche« (KML, 49). 57 Vgl. Anmerkung 26.

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geraten ist, für die ihn nun die Gesellschaft haftbar macht«58, und für die Lösung aus der Erstarrung nach der Entlarvung auf eine psychoanalytisch gedeutete Aufhebung der verdrängten Deklassierung durch die Erinnerung an eben die »Locken« der Jugendliebe hinweist, wären aus der hier entwickelten Perspektive deutlicher die – aus der Rolle und Erfahrung des Randständigen59 entwickelten – Fähigkeiten der genauen Marktbeobachtung und -analyse auf dem Feld der Erwartungen und Verhaltensmuster zu pointieren. Freilich handelt es sich hierbei um Voraussetzungen, die es später beiden ermöglichen, auf der Basis dieser Fähigkeiten und auf dem von Kontingenzen und Konjunkturen bestimmten Feld der Mode und eines von Konjunkturen abhängigen Marktgeschehens ein erfolgreiches Geschäft zu führen. Mit dieser Schilderung des Weges zu einem individuellen Glück, dessen ökonomische Dimension ebensosehr im Vordergrund steht wie die Unplanbarkeit zufälliger Umstände, Verkennungen und Entscheidungen zu seinem Gelingen beitragen, nimmt Keller allerdings nicht nur skeptisch, mithin ironisch auf die Ausprägungen eines damals zeitgenössischen Markt-Kapitalismus Bezug, der nach der Diagnose des »Kommunistischen Manifests« (1848) »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen« hat »als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹«.60 Die traditionellen ständischen Sicherungen des sozialen und individuellen Ranges erscheinen daher ebenso aufgelöst wie die bürgerlichen, an Leistung, Qualifikation, individuellem Verdienst und sozial gerechtfertigter Zumessung ausgerichteten Kriterien zur Wertschätzung und Rechtfertigung persönlichen Erfolgs. Vielmehr verweist die in dieser Erzählung zusammengestellte Mischung aus Zufall, Verkennung und irrationalen Empfindungen gerade in ihrem für den Schneidergesellen erfolgreichen Abschluss auf spätere Tendenzen martwirtschaftlicher Unterspülung sozialer und kultureller Sicherungssysteme und Sozialisationsmuster, die sich unter dem Stichwort der »Individualisierung«61 und weitergehender Vermarktlichung62 individueller und sozialer Leistungen dann erst zum Ende des 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen

58 Sautermeister, Erziehung. 1976, S. 192. 59 Vgl. Grünfeld, Die Peripheren. 1939, S. 83–85: Die Peripheren als Vermittler und Innovatoren. 60 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei [1848]. In: Marx, Karl: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut. Stuttgart: Kröner 1971, S. 528. 61 Vgl. dazu Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 205–220; Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth: Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Hrsg. von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 10–39. 62 Unter dem Stichwort einer »neuen Landnahme« wird dies von Klaus Dörre diskutiert. Vgl. Dörre, Klaus: Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus. In: Dörre, Klaus; Lessenich, Stephan; Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Unter Mitarbeit von Thomas Barth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 21–86.

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Tragweite gezeigt haben. »Den Prozessen sozialen Aufstiegs«, so die Beobachtung Sighard Neckels, »haftet mittlerweile etwas Willkürliches an […] Die Idealtypen sozialen Emporkommens in der Gesellschaft waren früher Fleiß, Protektion und die gut geplante Karriere. Vor allem in der jüngeren Generation treten heute kontingente Muster hinzu: die günstige Gelegenheit etwa oder die Chance, plötzlich entdeckt zu werden.«63

Wenn in aktuellen kritischen Reflexionen zum »unternehmerischen Selbst« der »Idealtypus eines Optionen maximierenden Selbstmanagers«64 umrissen wird, so bietet dies auch eine Folie, um Strapinskis Handeln und Glück, ja die gesellschaftliche Diagnosekraft und Prognosefähigkeit von Kellers Novelle aus dem 19. Jahrhundert herauszustellen: »Letztlich von der Suche nach basalen Sicherheiten angetrieben, ist dieser Selbstmanager beständig dabei, Optionen zu sondieren. Zu seinem Habitus gehört, dass er das Nein-Sagen verlernt hat.«65

Was unter den aktuellen Aktivierungsansprüchen als Ausdruck freier Selbstbestimmung und selbst entfalteter Kreativität gefordert und seitens der Individuen als Leistung erbracht wird,66 wird in Kellers Welt freilich noch von Außen zugeführt. Widerwillig und passiv gerät sein Held zunächst in den Sog der seitens der geschäftstüchtigen Beobachter angebotenen Zumutungen und Rollenzuschreibungen: »Dort«, so schildet der Erzähler die Rutschbahn Strapinskis, die ihn zum Abendessen und darüber als »polnischen« Grafen in die Gesellschaft Goldachs führt, »wurde er ohne ferneres Verweilen an den Tisch gebeten […] und da der Duft der kräftigen Suppe […] ihn vollends eines Willens beraubte, so ließ er sich in Gottes Namen nieder …« (KML, 9), um an späterer Stelle sich dann selbst in seine Rolle zu finden: »Das Schicksal«, so Keller im Vorgriff auf die Unbestimmbarkeit heutiger Glücks- und Erfolgsregime, »machte ihn mit jeder Minute größer« (KML, 23). Dies führt zu einem dritten Befund, der sich auf die Zusammengesetztheit der Images, ihre durchaus krude Mischung aus Beobachtung, Selbstinszenierung, Verkennung und Setzung stützen kann und der die Frage nach historischen Rahmungen und Kontinuitäten, auch Abweichungen und Veränderungen in 63 Neckel, Sighard: Neid. Nicht Können, sondern Zufall hat heute Erfolg. In: Die Zeit vom 08. 07. 1999, S. 45. 64 Dörre, Klaus: Die Selbstmanager. Biographien und Lebensentwürfe in unsicheren Zeiten. In: Neue Lebenslaufregimes. Hrsg. von Axel Bolder u. a. Wiesbaden: VS 2010, S. 139–149. hier: S. 143. 65 Ebd. 66 Vgl. Honneth, Axel: Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung. In: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Hrsg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch. Berlin: Kadmos 2010, S. 63–80.

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Bildern zwischen Deutschen und Polen unter aktuellen Rahmenbedingungen aufwirft. Warum ist es ausgerechnet ein »polnischer« Graf, an dessen schillernder Figur Keller das alte Sprichwort »Kleider machen Leute« und eine gehörige Portion Sozial- und Marktkritik in seiner Novelle von 1874 durchexerziert? Immerhin war Keller auch noch nach 1863/64, wie Adam Lewak es bereits 1927 zusammengestellt hat,67 eine der treibenden Kräfte im Schweizer Zentralkomitee für die Unterstützung der Polen und der polnischen Freiheitsbestrebungen, er wusste also wohl, dass er ein auch noch in den 1870er Jahren brisantes, freilich eben auch in der Unterhaltungsliteratur und Publizistik der Zeit gerne aufgenommenes Motiv nutzte,68 wenn er die Frage nach Schein und Sein, nach der Arbitrarität von Wertordnungen und Erfolgsmaßstäben ausgerechnet an einer »polnisch« in Erscheinung tretenden Figur aufwirft. Keller folgt dabei bezeichnenderweise nicht der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmenden, durch den preußisch-deutschen Nationalismus induzierten deutschen Polenfeindschaft,69 die sich u. a. in dem vielfach bemühten Stereotyp der »polnischen Wirtschaft« niederschlug,70 sondern verbleibt in den Spuren der nach 1830 und bis in die 1848er Jahre zumindest im Südwesten Deutschlands vorherrschenden liberalen Polenfreundschaft, wenngleich er vor allem deren populärkulturelle Resonanzebene herausstellt.

V. In welcher Weise lassen sich dabei nun aber im Bezug auf Kellers Text beide Ebenen, die innertextuelle Ebene der Mimesis II und die extratextuell bezogenen Ebenen der Mimesis I und III, also die gesellschaftlich-historischen Voraussetzungen für die Wahrnehmung und spätere Selbstdarstellung eines Schneidergesellen als »polnischen Grafen« und deren Rückkoppelung an Einstellungen und Interpretationsleistungen des Publikums als Verhandlungsebenen für das Polenbild der damaligen (mithin unserer) Zeit erkennen bzw. verstehen? Folgen wir den Angaben, die André Gerrit und Joep Leerssen in dem 2007 erschienenen Handbuch »Imagology« zusammenstellen, so besteht das Image der Polen seit dem 18. Jahrhundert aus den Komponenten Selbständigkeit, Adel (Sarmaten67 Vgl. Lewak, Adam: Gottfried Keller und der polnische Freiheitskampf vom Jahre 1863/64. Akten und Briefe. Zürich: Füssli 1927. 68 Sautermeister sieht in dem Keller zugeschriebenen Ziel, »die Verblendungsfunktion solcher Romangestalten ironisch zu enthüllen«, eine der »politischen Aufklärungsabsichten dieser Novelle.« Sautermeister, Erziehung. 1976, S. 200. 69 Vgl. Broszat, Martin: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970. 70 Vgl. Orłowski, »Polnische Wirtschaft«. 1996, S. 382f.

Zur Diagnosekraft von Gottfried Kellers Novelle »Kleider machen Leute«

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tum) und Widerständigkeit, verbunden mit Romantik und Melancholie sowie einer bestimmten, historisch begründbaren, vor allem aber ästhetisch verwendbzw. gestaltbaren Unwirklichkeit der mit Polen verbundenen Realitätsbezüge und der darauf bezogenen Einstellungen: »The loss of Polish political independence gave added poignancy to the reputation of impractical passion and honour. Poland became a virtual concept, an ideal nation without a state, carried in the hearts and idealism of its people rather than in institutions«.71

Damit wird freilich nicht nur ein Hintergrund angesprochen, vor dem sich die Status-Unsicherheit eines wandernden Schneidergesellen (als moralisches Problem und anthropologisch-moralistische Laborsituation) gestalten lässt. Vielmehr bietet dies auch, wie in der hier vorgestellten Lektüre versucht, eine Folie, um die im Polenbild verhandelte Inkonsistenz zeitgenössischen »Selbstunternehmertums« und eines von immer unwirklicher werdenden Spekulationen beherrschten Marktes vorzustellen.

VI. Natürlich ist der Fussballstar Robert Lewandowski ( Jahrgang 1988) kein Glücksritter in dem Sinne, in dem der Schneider Strapinski in den Geschehnissen der Novelle zumindest zeitweise erscheint, gleichwohl handelt es sich auch bei ihm und seinem Lebensweg ganz deutlich um die Entwicklung und Inszenierung eines Selfmademans. Lewandowski stellt in dieser Hinsicht das Beispiel eines Stars und Selbstunternehmers dar, an dessen Karriere und Glanz sich ein – auch in literarischen Texten und in der soziologischen Forschung – bemerkenswerter Trend zur Informalisierung, Randomisierung und Subjektivierung von Leistungsparametern und Erfolgskriterien ablesen lässt, eine Entwicklung, die allerdings auch schon den Glanz, den Niedergang und die Möglichkeiten zum Wiederaufstieg des Helden Strapinski in Kellers Novelle ausmachen. Wenn nach Sighard Neckel bereits im Jahr 1999 nur noch 40 Prozent aller Einkommen in Deutschland aus Arbeitseinkommen erzielt wurden,72 der Rest aus staatlichen Transfers, Glückspiel und Vermögenserlösen, so hebt dieser Befund, der sich vor allem auf die beträchtlichen Summen und Vermögenswerte bezieht, die nicht (mehr) durch Arbeitseinkommen erzeugt wurden, eine Tendenz hervor, die Keller an seiner Figur des »polnischen Grafen« Strapinski festmacht und für die in anderer Hinsicht – nicht in moralistischer Weise und auch nicht, um ihn 71 Gerrits/Leerssen, Poles. 2007, S. 217. 72 Neckel, Neid. 1999, S. 45.

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moralisch zu diskreditieren – auch ein Star wie Robert Lewandowski steht, dem im Sommer 2013 ein Jahreseinkommen von etwa zwei Millionen Euro (ca. 8 Millionen Zloty) zugerechnet wurde; mit einem zuletzt gebotenen Marktwert von ca. 40 Millionen Euro konnte er zugleich die Liste der bestverdienenden Prominenten im polnischen Show Business anführen.73 Lewandowskis Popularität, nicht zuletzt auch in deutschsprachigen Sportmedien,74 beruht aber nicht nur auf seiner Torgefährlichkeit als Stürmer, sondern eben auch auf der Möglichkeit, seine Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte vor der Deutungsfolie eines erfolgreichen Selbstunternehmertums lesen zu können: »Die Karriere des momentan vielleicht besten Stürmers in Europa begann in der polnischen Provinz und schien dreimal hoffnungslos beendet, bevor sie überhaupt Fahrt aufgenommen hatte. Es war ein steiniger Weg, den der damals noch schmächtige Robert zu meistern wagte.«75

Freilich werden hiermit auch Fähigkeiten zu individuellem Handeln, Selbsttätigkeit und Individualismus angesprochen, die schon in älteren Polenbildern vorhanden waren,76 dann aber auch die polnische Gesellschaft der Transformationszeit betreffen und bestimmten77 und – nicht zuletzt – aktuell auch den seit 1990 etwa im Rahmen vergleichender politischer Kultur- und Transformationsforschung erhobenen Daten zur Gründungsbereitschaft (»entrepreneurship«) und zur sozialen Mobilität in Polen entsprechen78 und in dieser Hinsicht 73 Vgl. dazu Forbes Bisznes 08/2013, S. 41 mit Robert Lewandowski auf dem Titel; Borussia Dortmund hatte 2010 noch eine Ablösesumme von 4,5 Millionen Euro bezahlt, sein Marktwert hat sich also in zwei Jahren verzehnfacht. 74 Vgl. das Special Feature des Spartensenders Sport1: Becht, Daniel u. a.: »Bobek – Die Lewandowski-Story« vom 7. August 2013: »Vielleicht spürt Robert schon damals, dass er anders ist als die anderen. Nicht, weil er der Kleinste ist, sondern, weil er bereit ist, mehr für seinen geliebten Sport zu opfern: Drei Mal in der Woche trainiert er. Wenn ihn niemand fahren kann, nimmt er den Bus – zwei Stunden hin und zwei wieder zurück.« (Zugriff am 29.05.2014) 75 Ebd. 76 Im Spiegel des »Sarmatentum« finden sich in aller Ambivalenz der dort zugeschriebenen Eigenschaften nicht nur Affinitäten zum Künstler, sondern eben auch zum Unternehmer und Selbstunternehmer. Vgl. Błon´ski, Jan: Sarmatismus – Zur polnischen Adelskultur. In: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. Hrsg. von Ewa Kobylin´ska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan. München Zürich: Piper 1992, S. 127–133, hier: S. 133. 77 Vgl. Rychard, Andrzej: Industrial Enterprise during Economic Reform: Factor of Stability or Change. In: The Polish Sociological Bulletin 86/2 (1989), S. 34–45. »Social revindication appears in the activity of self-management units… […] Activists of the self-management see themselves as inheritors of the true reformatory movement. I therefore think that these units are one of the main carriers of economic rationality in enterprises.« (ebd., S. 42). Vgl. auch Morawski, Witold: Industrial Democracy and System Reform. In: The Polish Sociological Bulletin 83/3 (1988), S. 5–18. 78 Vgl. dazu Pohoski, Michał; Mach, Bogdan W.: Trends in Social Mobility in Poland 1972–1982. In: The Polish Sociologcial Bulletin 83/3 (1988), S. 19–37; Wróblewska-Nell, Joanna; Nell,

Zur Diagnosekraft von Gottfried Kellers Novelle »Kleider machen Leute«

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die Außenwahrnehmung Polens, zumal in einer deutschen Perspektive, bestimmen.79 In keinem der ehemals realsozialistischen Länder war bereits in den 1970er und 1980er Jahren (und ist bis heute) die Bereitschaft, sein eigener Unternehmer zu werden bzw. dafür auch Arbeit und Existenz in einem anderen Land zu suchen, höher als in Polen, so dass die aktuell übergreifende Konjunktur selbstunternehmerischen Handelns in der Folge eines entgrenzten marktorientierten Denkens nunmehr Deutschland und Polen eher zu vereinen vermag als zu trennen. »Die Bevölkerung Polens zählte nach dem zweiten Weltkrieg zu den mobilsten Europas. Das lag einerseits an den Außen- und Binnenwanderungen im Zuge der Westverschiebung und andererseits an der Industrialisierung und Verstädterung. In der Zeit von 1945 bis 1964 wechselten beispielsweise im Zusammenhang mit dem Industrieaufbau über drei Millionen Beschäftigte vom Land in die Städte. Rein statistisch gesehen, hat jeder Einwohner Polens nach 1945 etwa dreimal seinen Wohnsitz gewechselt.«80

Sowohl im Hinblick auf die Selfmade-Konzepte als auch auf die beide Länder übergreifenden neoliberalen Marktbedingungen und die daraus folgenden Gründer-Perspektiven81 lassen sich in einem solchen Vergleich der Gesellschaften und der darauf bezogenen Bilder inzwischen eher Konvergenzen mit historisch unterschiedlichen Implikationen feststellen als Kontraste oder gar nationalcharakterliche Unterschiede hervorhebende Divergenzen erkennen, von Feindbildsetzungen älterer Art einmal ganz zu schweigen. Kellers Novelle vom Aufstieg eines Schneidergesellen zu einem vemeintlichen polnischen Grafen und darüber hinaus von einem vermuteten Heiratsschwindler und Nassauer zu einem angesehenen Tuchhändler mag hier als Lupe nützlich sein, um die mit der Vermarktlichung des Subjekts unter fortgeschrittenen kapitalistischen Verhältnissen verbundenen konstitutiven Merkmale des Selbstunternehmertums, auch

Werner: Verdeckte, erwünschte und gefürchtete Vielfalt in Polen. In: Nell, Werner; Yeshurun, Stéphanie-Aline: Arbeitsmarkt, Migration, Integration in Europa. Ein Vergleich. Schwalbach/ Ts.: Wochenschau 2008, S. 174–199, hier: S. 181–183. 79 Vgl. Werner, Lena: Polish Immigrants in Germany – A new shape of transnational entrepreneurship? Paper prepared for the »International Conference on Transnationalism and Migration«, November 4–5, 2010. Stockholm; Miera, Frauke: Polski Berlin – Migration aus Polen nach Berlin. Integrations- und Transnationalisierungsprozesse 1945 bis Ende der 1990er Jahre. Münster: Westfälisches Dampfboot 2007; Dies.: Transnational Strategies of Polish Migrant Entrepreneurs in Trade and Small Business in Berlin. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, 34/5 (2008), S. 753–770. 80 Bingen, Dieter: Gesellschaftliche Strukturen. In: Informationen zur politischen Bildung 273 (2001), S. 32–40, hier: S. 32. 81 Zur rasanten Entwicklung der Solo-Selbständigen in der Bundesrepublik vgl. Welter, Friederike: Der Mittelstand, Deutschlands Geheimwaffe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 10. 2013, S. 14.

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Werner Nell

durchaus in seinen Ambivalenzen und ideologischen Inszenierungen, im Spiegel darauf bezogener wechselseitiger Bilder erkennen zu können. Glücklicherweise sind es inzwischen Stars, berühmte Fußballspieler oder erfolgreiche Kaufleute und nicht mehr kriegerische Helden wie Kreuzritter oder Freiheitskämpfer auf der Flucht, die im Vordergrund der noch immer nationalsprachlich ausgerichteten Kommunikationsgemeinschaften und ihrer wechselseitigen Selbstwahrnehmung zwischen Polen und Deutschen stehen.

Stephan Wolting (Poznan´)

Deutschland, Polen, Russland, Norwegen oder der Kosmos? Formen multipler Identität in Dariusz Muszers Roman »Die Freiheit riecht nach Vanille«

I.

Literarische Mehrsprachigkeit: Schriftsteller mit »gespaltener Zunge« »Sleep after toyle, port after stormie seas, Ease after warre, death after life, does greatly please.« (Edmund Spenser, Inschrift auf dem Grabstein von Joseph Conrad in Canterbury)

Die Liste bekannter internationaler Schriftsteller, die (auch) in einer anderen als ihrer Muttersprache geschrieben haben, ist lang. Zu den international berühmtesten gehören Wladimir Nabokov, Joseph Conrad, Samuel Beckett, Paul Celan, Joseph Brodskij oder Milan Kundera. Nabokov hat das in einem berühmten Bonmot einmal so ausgedrückt: »Mein Kopf spricht englisch, mein Herz russisch und mein Ohr französisch.«1 Kommt in dem Zitat Nabokovs eher die Zerrissenund, psychologisch gesprochen, Abgespaltenheit in der Metapher seiner getrennten Körperteile zum Ausdruck, so betont Joseph Brodskij auch die Chance, die in diesem Schreiben in unterschiedlichen Sprachen liege: »[…] meine Gespaltenheit ist offenbar mein Schicksal, ich verfüge über zwei Sprachen, ich profitiere von meiner persönlichen Dualität.«2 In dieser Dialektik von Benachteiligung und Chance versucht dieser Beitrag die folgenden Überlegungen einzubetten. Letztendlich wird gemäß der alten psychologischen Einsicht, nicht zuletzt auch durch die Beeinflussung von Nietzsches Radikalisierung des Perspektivismus3 und der jeweils spezifischen Optik, davon ausgegangen, dass es auf die jeweilige eigene Bewertung ankommt, das Phänomen der Zwei- oder Drei-

1 Zitiert nach Fjodorowa, Anna: Vladimir Nabokov, »Mein Herz spricht Russisch.« In: Radio Stimme Russlands vom 22. 04. 2014. 2 Joseph Brodskij, zitiert nach Fjodorowa, Nabokov. 2014. 3 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Zur Geneaologie der Moral. In: Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino (Hrsg.): Nietzsches Werke: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Teil 2. Berlin: de Gruyter 1968, S. 4, 383; vgl. dazu auch: Kaulbach, Friedrich: Philosophie des Perspektivismus: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche. Tübingen: Mohr Siebeck 1990.

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sprachigkeit, wie im Falle von Nabokov, als Möglichkeit oder Stigma zu begreifen. In jüngerer Zeit hat sich diese Tendenz eines Schreibens jenseits der Muttersprache innerhalb der deutschsprachigen Literatur signifikant verstärkt, wenn wir etwa an AutorInnen wie Yoko Tawada, Melinda Nadj Abonji, den DeutschBrasilianer Zé do Rock oder an Terézia Mora mit ihrem deutsch-ungarischen bzw. deutsch-rumänischen Hintergrund denken. Erwähnt seien in diesem Kontext auch der auf Deutsch schreibende Russe Wladimir Kaminer4, die aus Baku stammende und im Kaukasus aufgewachsene Olga Grjasnowa mit ihrem Roman »Der Russe ist jemand, der Birken liebt«, die eher als Sachbuchautorin bekannt gewordene Lena Gorelik5, der Bosnier Sasˇa Stanisˇic´ oder die in jüngster Zeit hochgelobte und 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis prämierte Ukrainerin Katja Petrowskaja, die vor allem wegen ihrer »gelungenen Sprache« seitens der Kritik gefeiert wird.6 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang natürlich auch auf die deutsch-türkische bzw. die deutsch-arabische Literatur (allein die Liste im Internet weist über 230 Positionen auf), die zu eigenen Forschungsrichtungen innerhalb der germanistischen Forschung geworden sind, mit ihren Zugpferden Feridun Zaimoglu7 oder dem 1946 in Damaskus geborenen Rafik Schami. Einigen von ihnen ist ein Sonderheft der Zeitschrift, heute nur noch als Beilage des Schweizer Journals »Cicero« erscheinenden, »Literaturen« mit dem Titel »Interkulturelle Literatur« gewidmet8; viele sind der deutschsprachigen Öffentlichkeit gut bekannt, auch aus dem Grund, weil sie ein immer stärker anwachsendes Lesepublikum finden. Seit 1985 wird der Adelbert-von4 Kaminer ist nicht zuletzt wegen seines Romans »Russendisko« (2000), mit dem er ja auch für das Goethe-Institut in Teilen von Europa, Asien und Australien unterwegs war und als DJ Platten auflegte, innerhalb der deutschen Öffentlichkeit und Presselandschaft bekannt, und zwar so bekannt, dass er nicht mehr extra vorgestellt werden muss. Vgl. auch Kaminer, Wladimir: Mein deutsches Dschungelbuch. 7. Auflage. München: Manhattan 2003. 5 Vgl. Gorelik, Lena: »Sie können aber gut Deutsch!« Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft. München: Pantheon-Verlag 2012. 6 Petrowskaja etwa war Thema mit ihrem Werk »Vielleicht Esther« (2014), indem sie vor allem aufgrund ihrer »lebendigen Sprache« herausgehoben wurde; die Jury des Bachmann-Preises, unter ihnen Rüdiger Safranski und Elke Heidenreich, nannte das Werk »ein großartiges Geschenk an die deutsche Sprache« und bezeichnete ihren Roman als ganz besonders »lesenswert«. Erwähnenswert sei vielleicht auch noch, dass sie für das Werk eine Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung erhielt mit dem bezeichnenden Titel: »Grenzgänger-Stipendium. Kleine Geschichte des roten Traktors auf Ukrainisch«. 7 Feridun Zaimoglu (geboren 1964 in Bolu/Türkei) wurde vor allem mit seinem ersten Buch »Kanak Sprak – 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft bekannt« (2004) bekannt. Neben ihm sind sicherlich für die türkische interkulturelle Literatur noch der Schriftsteller, Kabarettist, Theaterregisseur und Musiker Serdar Somunҫu (geboren 1968 in Istanbul) oder die Schriftstellerin, Schauspielerin und Theateregisseurin Emine Sevgi Özdamar (geb. 1946 in der Nähe von Bursa) zu nennen. 8 Löffler, Siegrid (Hrsg.): Interkulturelle Literatur. In: Literaturen (2/2007). Hamburg.

Formen multipler Identität bei Dariusz Muszer

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Chamisso-Preis von der Robert Bosch Stiftung verliehen für »herausragende, auf Deutsch schreibende Autoren vergeben, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist.« Nicht zuletzt durch die kürzlich von Maxim Biller entfachte Literaturdebatte, auf die abschließend noch kurz eingegangen werden soll, werden sie selbst zu Themen eines aktuellen Diskurses. Wie lässt sich den Werken dieser AutorInnen aber kulturwissenschaftlich und methodisch nähern? Das soll im Folgenden an dem innerhalb dieser Entwicklung noch einmal besonderen Fall von Dariusz Muster analysiert werden. Bezogen auf eine der polnischen Kultur entstammenden und zweisprachige Literatur produzierenden Gruppe wäre hier neben Magdalena Felixa oder Alice Bota, Adam Soboczynski, Radek Knapp, Krzysztof Maria Załuski, Maria Kolenda auch Artur Becker zu nennen.9 Denn eine kulturwissenschaftliche Annäherung an Werke der genannten AutorInnen steht zum großen Teil noch aus.

II.

Methodische Grundvoraussetzungen

Dieser Beitrag basiert methodisch auf den Erkenntnissen der modernen Kulturwissenschaft(en), etwa der Unterscheidung zwischen personaler und kollektiver Identität sowie im Sinne Homi K. Bhabhas von multiplen oder pluralen Identitäten, dazu auf dem Kultur-Kollektiv-Diskurs, aber auch auf den Überlegungen zu einer interkulturellen Hermeneutik, ansatzweise sogar zu einer interkulturellen Literatur. Letztere ist trotz des Handbuchs von Chiellino (2007) 10 oder anderen Veröffentlichungen zu einer interkulturellen Literaturwissenschaft11 immer wieder diskutiert worden, kumulierend in der Frage, ob »Inter9 Artur Becker (geboren 1968 in Bartoszyce, früher Bartenstein, im Ermland) wird in der einschlägigen Literatur als deutsch-polnischer Schriftsteller oder als Schriftsteller, der heute in Deutschland lebt, bezeichnet. Er entstammt tatsächlich einer bi-kulturellen deutsch-polnischen Familie. Ähnlich wie Dariusz Muszer begann auch er seine literarische Laufbahn in der Polnischen Sprache, denn in der »Gazeta Olszynska« veröffentlichte er 1984 Lyrik, also auch darin Muszer ähnlich. Und genau wie dieser schrieb nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik irgendwann (von 1989 an) und bis heute ausschließlich in deutscher Sprache. Er lebt in Verden an der Aller und schreibt regelmäßig Essays für bedeutende deutschsprachige Zeitungen, zudem performt er seine Texte zusammen mit der Bremer Jazzband Swim to birds und ist Mitglied des deutschsprachigen PEN-Zentrums. 10 Chiellino, Carmine: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler 2007. 11 Vgl. Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. UTB 2006; Leskovec, Andrea: Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011; Dawidowski, Christian; Wrobel, Dieter (Hrsg.): Interkultureller Literaturunterricht. Konzepte – Modelle – Perspektiven. Hohengehren: Schneider 2006.

268

Stephan Wolting

kulturalität« überhaupt ein »Paradigma« ist,12 geschweige man es der Literatur so einfach unterlegen kann? Lässt sich auf der Produktionsebene überhaupt von »interkultureller Literatur« (später transkultureller Literatur13) sprechen oder bezieht sich dieses Paradigma vor allem auf die Rezeptionsebene, wie Dietrich Krusche schon in den 1980er Jahren mit der »Kategorie der Fremde« behauptete? 14 Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Es soll aber darauf hingewiesen werden, wie beliebig mit dem Begriff zum Teil auch in der literaturwissenschaftlichen Diskussion umgegangen wird.15 Zudem scheint oft der zugrundeliegende Kulturbegriff wenig aussagekräftig und äußert schwammig, etwa wenn Hofmann schreibt: »Als Ausgangspunkt dient ein dynamischer Kulturbegriff, der auf Homogenisierungen und Fixierungen verzichtet und auf diese Weise der Offenheit interkultureller Begegnungen gerecht zu werden in der Lage ist.«16

Damit ist alles und nichts gesagt, denn dieser Kampf um die Definition des Kulturbegriffs kann und soll hier nicht weiter geführt werden. Stattdessen scheint die einzige verbindliche Voraussetzung (gleichzeitig der kleinste gemeinsame Nenner), von der dabei heuristisch ausgegangen werden kann, diejenige zu sein, dass mit dem Begriff der »Interkulturalität« (übrigens ebenso wie mit dem Begriff der »Fremde« oder dem der »Fremdbilder«17) überaus vorsichtig operiert werden muss und nicht allein das Kriterium ausreichen kann, alles, was in einer fremden Sprache oder Kultur geschrieben ist18, schon gleich unter diesem Begriff zu subsumieren.19 Vor ähnlichen Problemen stehen im Übrigen ebenso andere 12 Haas, Helene: Das interkulturelle Paradigma. Passau: Stutz 2010; Hansen, Klaus P.: Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz 2009. Haas beantwortet die Frage dahingehend, dass »Interkulturalität« zwar ein Paradigma sei, seinen Ursprung aber in der amerikanischen Nationalpsychologie der 1920er Jahre habe und in deren Nachfolgern Ruth Benedict oder Margret Mead. 13 Wintersteiner, Werner: Transkulturelle literarische Bildung: Die Poetik der Verschiedenheit in der literaturdidaktischen Praxis. Innsbruck: Studien-Verlag 2006. 14 Vgl. Krusche, Dietrich: Die Kategorie der Fremde. Eine Problemskizze [1980]. In: Krusche, Dietrich; Wierlacher, Alois: Hermeneutik der Fremde. München: iudicium 1990, S. 13–23. 15 Vgl. z. B. Wojcik. 2013. 16 Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft. 2006, S. 10. 17 Vgl. ebd., S. 7. 18 Vgl. z. B. Müller, Peter; Cicek, Jasmin (Hrsg.): Migrantenliteratur. Arbeitstexte für den Unterricht. Stuttgart: Reclam 2007; Mayr, Otto: Migrationsliteratur: Neue Texte mit ausgearbeiteten Stundenbildern, Arbeitsblättern und Bildmaterial (5. Bis 10. Klasse). Auer-Verlag: 2013. 19 Definitionen von interkultureller Literatur bleiben im Gegensatz zu Migranten- oder Migrationsliteratur oft vage, wie etwa auch der Beitrag von Helga Rösch, »Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext«, beweist, so gut der Titel im Gegensatz zu vielen anderen auch ist, wenn sie ausführt, was für sie interkulturelle Literatur bedeute: »Literatur im interkulturellen Diskurs meint einerseits, dass sich Literatur im interkulturellen Diskurs befindet, was die Interkulturalität in der Literatur, konkret in den Texten verortet. Andererseits verweist der

Formen multipler Identität bei Dariusz Muszer

269

Wissenschaftsbereiche, wie etwa der Aufsatz von Földes für die Interkulturelle Kommunikation bzw. die Angewandte Linguistik beweist.20 Insofern könnte man hier, ebenso wie es für die Linguistik bzw. die Interkulturelle Kommunikation behauptet wird, von der »Sprachvergessenheit«21 der (interkulturellen) Literaturwissenschaftler sprechen. Der Sprache wird gerade im Hinblick auf die »Identitätsbildung« und -findung eine zum Teil nur marginale Rolle eingeräumt.22 Nicht von ungefähr wird hier Dariusz Muszer herangezogen, der dieses Problem sowohl im- als auch explizit ausführlich thematisiert und in seinen Werken expliziert, kumulierend in der simplen Frage: In welcher Sprache unterhalten sich eigentlich Romanhelden? 23 In der Regel wird sowohl in der Literatur und der Literaturwissenschaft dieses Problem in stillschweigender Übereinkunft so gelöst, diese Problematik überhaupt nicht zu thematisieren und davon auszugehen, dass die Verständigung schon »irgendwie« funktioniert. Wenn man so will, dann könnte man dies aber als eines der virulentesten Probleme »interkultureller Literatur« (wenn man den Begriff nun benutzen möchte) auffassen, dass die Sprache von den AutorInnen gerade auch im Hinblick auf die eigene und fremde Identität thematisiert wird. Damit sind einige Kriterien genannt, die methodisch für die folgende Untersuchung wichtig sind, zum einen die »Sprache- bzw. Fremdsprache«, zum anderen die »Kategorie der Fremde« sowie Formen von kultureller Identität oder hermeneutischer Fremdstellung und kultureller bzw. kollektiver Identität. »Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Identität heute als Produkt ständig sich modifizierender und erneuernder Zuschreibungen zwischen und in den Kulturen eines Individuums und der Machtgefüge in seiner Umgebung entsteht. Kulturen wiederum können nur durch diese Übersetzungs- bzw. Migrationsbewegungen überleben, indem sie immer wieder transformiert werden. Durch die Übersetzung zwischen den Kulturen entstehen »Dritte Räume« und hybride Menschen. Fremde, die anders und zugleich

20 21 22 23

Titel darauf, dass mittels Literatur ein interkultureller Diskurs angeregt« wird. Rösch, Helga: Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext. [Der Text basiert auf dem Vortrag zu der Tagung »Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge« an der TH Dresden 1998 (pdF-Datei), S. 3.] Vgl. Földes, Csaba: Interkulturelle Kommunikation: Positionen zu Forschungsfragen, Methoden und Perspektiven. Vezprem: Universitätsverlag Praesens Verlag 2007. Vgl. Ehrhardt, Claus: »It’s the language, stupid!« Zur Sprachvergessenheit der Interkulturalisten. In: Wolting, Stephan: Kultur und Kollektiv. Festschrift für Klaus P. Hansen. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2014, S. 61–88. Ähnliches war übrigens auch die Quintessenz bei einer Diskussion mit Franz Hohler anlässlich der Berliner Literaturtage 2013 im Haus der Berliner Festspiele. Vgl. Muszer, Dariusz: Die Freiheit riecht nach Vanille. München: A1 1999, S. 143f. und weitere Stellen: »Wir tranken Kaffee und sprachen auf Deutsch.« [Im Folgenden unter der Sigle »FV« mit Seitenzahl im Text.]

270

Stephan Wolting

ähnlich sind und deshalbinnerhalb vertrauter Denkmuster als Andere wahrgenommen werden können.«24

Natürlich kann in diesem Zusammenhang nicht der gesamte »Identitätsbegriff« unterschiedlichster wissenschaftlicher Provenienz diskutiert werden, deshalb soll sich hier in erster Linie auf den »kulturellen Identitätsbegriff« (und dessen Verweigerung und Absage) bezogen werden, weil er für das Werk oder Teile des Werkes von Dariusz Muszer von besonderer Bedeutung erscheint. An anderer Stelle wird zudem von »Zwischentexten« gesprochen25, also jenem »Inter«, das ja auch innerhalb der interkulturellen Hermeneutik eine besondere Rolle spielt. Nicht zuletzt war auch Homi K. Bhabha in der Übertragung eines psychologischen Subjektsbegriff auf kulturelle Prozesse davon ausgegangen, dass durch die Artikulation und dem Aushandeln kultureller Differenzen im »dritten Raum« bzw. im Zwischenraum die Kultur(en) neu verortet würden in der Anwendung kultureller und personaler Strategien des Auffindens von Selbstheit. »Selbstheit« ist dann in diesem Sinne nie bei sich, sondern immer schon im dynamischen Prozess des Aushandelns begriffen, fern von statischen ethnischen oder anderen bzw. ähnlichen Konzeptionen.26 »Anders als beim Multikulturalismus zielt der Begriff der Hybridität bei Bhabha also nicht auf kulturelle Vielfalt, sondern auf kulturelle Differenz und damit auf kulturelle Ambivalenzen, Selbstbehauptungen und Konzeptualisierungen ab, die in Verbindung mit den sozialen und historischen Praktiken stehen und verhandelbar sind. (Bachmann-Medick 2009,199) Kultur bietet somit keinen identitätsstiftenden Bedeutungskonsens, sondern ist vielmehr als unabgeschlossener Prozess des Aushandelns und der Neueinschreibungen zu verstehen, bedingt durch die Überschneidung verschiedener, oft widersprüchlicher Diskurse. (ebd.) Kulturelle Hybridität wird dabei auch auf Ebene der Sprache deutlich: Sie ist das Medium, durch das kulturelle Differenzen zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig die nach Homogenität und Eindeutigkeit verlangende Umwelt verunsichert werden können. Häufig kennzeichnet sich die Sprache hybrider Identitäten durch Mischgattungen und Mehrsprachigkeit.«27

Enger auf den zugrundeliegenden Untersuchungsbereich der Literaturwissenschaft fokussiert, sind bislang einige wenige Werke der Sekundärliteratur erschienen, die sich zum einen eher auf die Übersetzungen beziehen und zum anderen eher kulturkontrastiv als interkulturell erscheinen28, die »Osterweite24 Kuhn, Lina: Von Ost nach West: Migratorische Identitätskonzeption bei Czesław Miłosz und Iosif Brodskij Ein Vergleich zweier Dichter im Exil. PdF-Datei, Mainz Universitätsverlag 2011. 25 Vgl. Makarska, Zwischentexte. 2013, S. 240. 26 Vgl. Bhabha, Location of Culture. 2000, S. 73. 27 Kuhn, Von Ost nach West. 2011, S. 8. 28 Vgl. die Unterscheidung bei Barmeyer, Christoph; Genkova, Petra; Scheffer, Jörg: Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. Passau: Stutz 2010.

Formen multipler Identität bei Dariusz Muszer

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rung der deutschen Literatur« betonen oder die »Exilwelle in den 80er Jahren«. Diese Texte verbindet, dass sich die Verfasser oftmals kaum Rechenschaft darüber ablegen, von welchen (interkulturell) hermeneutischen Voraussetzungen sie ausgehen, allein die Titel verweisen zum Teil auf ein erstaunliches West–OstGefälle, dessen sich die Verfasser zum Teil nicht bewusst sind. Hilfreich wäre in diesem Kontext, sich des von Foucault im Zusammenhang mit Epistemen und Diskurs in die Diskussion gebrachten Begriff des »Dispositivs« zu bedienen, weil dieser Begriff in der Rekonstruktion geeignet erscheint, asymmetrische Machtverhältnisse zu analysieren.29

III.

Grenzgänger: Inter oder ein Zwischenreich bei Dariusz Muszer

Innerhalb jüngerer Veröffentlichungen der Kulturwissenschaft wird der Begriff eines »ethnischen Kollektivs« bzw. eines »nationalen Kulturbegriffs« immer stärker zur Disposition gestellt, durchaus eingedenk der Tatsache, dass sich in politischen und gesellschaftlichen Krisenzeiten (siehe: Ukrainekrise etc.) immer wieder gern und schnell auf eine »nationale Identität« bezogen wird. Ein Autor wie Dariusz Muszer, der auch biographisch in einem »regionalen Zwischenreich« bzw. Grenzgebiet groß geworden ist, hat dem schon lange zuvor in seinem Werk eine Absage erteilt. Nicht zuletzt in den Figuren seiner Werke stellt er diese Zwischenreiche von »Identität« dar, so etwa in der Schilderung einer absurden Familiengeschichte, in der der Vater des Protagonisten jahrzehntelang seine 29 Vgl. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978. (Neuaufl. 2000); Ders.: Archäologie des Wissens. 3. Auflage., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988; Ders.: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (Neuauflage 2008); Busch, Dominic: Im Dispositiv interkultureller Kommunikation. Bielefeld: transcript 2013; Bührmann, Andrea D.; Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv: Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript 2008; Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin: Diaphanes-Verlag 2008. Was ist ein Dispositiv? In: Ewald, François; Waldenfels, Bernhard (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 153–162; Lenk, Carsten: Das Dispositiv als theoretisches Paradigma der Medienforschung. Überlegungen zu einer integrativen Nutzungsgeschichte des Rundfunks. In: Rundfunk und Geschichte, 1996, Ausgabe 22, S. 5–17; Jäger, Siegfried: Dispositiv. In: Marcus S. Kleiner (Hrsg.): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2001, S. 72–89; Ders.: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster: Unrast Verlag 2004; Spieß, Constanze; Kumiega, Lukasz; Dreesen, Philipp: Mediendiskursanalyse. Diskurse – Dispositive – Medien – Macht. Aus der Reihe: Theorie und Praxis der Diskursforschung. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2012; Hoffarth, Britta; Kumiega, Lukasz; Caborn Wengler, Joannah: RaumBildung-Politik. Forschende Verortungen des Dispositiv-Begriffs. Aus der Reihe: Theorie und Praxis der Diskursforschung. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2011.

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jüdisch-polnische Identität durch einen verkappten Antisemitismus und kulturellen Selbsthass verbirgt, während die Mutter deutsch-sorbischer Herkunft ist (FV, 117). Über den Vater heißt es: »Seit meinen jüngsten Jahren war ich persönlich der Überzeugung, daß mein verschwommener, mein unbekannter, mein wandlungsfӓhiger Vater ein polnischer Zirkusakrobat war, was ich Warzenrunzel oft und deutlich sagte. Jedesmal, wenn sie das hörte, versuchte sie, mich mit verschiedenen Gegenstӓnden zu treffen. Manchmal gelang es ihr, und bis heute gibt es entsprechende Spuren auf meinem Kopf. Jedesmal, wenn ich behauptete, ein waschechter Pole zu sein, bekam ich von meiner Großmutter eine ordentliche Tracht Prügel. Bis ich endlich gelernt hatte, schneller als sie zu sein. Und das schaffte ich schon mit sechs.Sie mochte die Polen nicht, sie nannte sie stets Polacken oder Schweinehunde, nie anders. Sie hatte auch einen Grund dafür. Nach dem letzten Krieg hatten sie ihr alles genommen. Alles, das bedeutete zwei Kühe, sieben Hühner und zwei Fahrrӓder. Ich glaube, sie war selbst eine Polin, aber sie gab es nie zu. Nur die Polen besitzen diese erstaunliche und merkwürdige Fӓhigkeit, ihresgleichen richtig hassen zu können. In dieser Hinsicht sind andere Nationen im Vergleich mit Polen harmlose Anfӓnger. Mehr noch als Polen haßte Warzenrunzel Russen, wobei alle Menschen, die aus dem Osten kamen, für sie Russen waren« (FV, 17).

»Warzenrunzel« – der Name ist Programm – ist jene alte Frau, bei der der Protagonist Naletnik aufwächst, nachdem er von seiner Mutter verstoßen wird. Der Ich-Erzähler changiert dabei zwischen mythologischer Ernsthaftigkeit und beißender Ironie jenseits aller political correctness, bei der leitmotivisch surreale Wesen wie die »Gefiederten«, Mischwesen zwischen Menschen und Engeln, das »schwarze Loch« und der »Vanilleduft des Westens« auftauchen. In vielen Schilderungen sind dabei Traum und Wirklichkeit nicht voneinander abgetrennt, was schon bei Naletniks Geburt im sorbischen Grenzland oder Niemandsland zwischen Deutschland und Polen deutlich wird, d. h. bei seiner »Landung« aus dem Kosmos und der »Geburt auf einem Opferstein«: »Am letzten Tag des Winters im Jahre 1959 landete ich irrtümlich auf uralten sorbischen Gräbern. Auf einem Stein wurde ich geboren, von einer Frau, die von diesem Augenblick an verlangen konnte, daß ich sie Mutter nenne. Ich tat es selten, zum Glück für beide Seiten. Der Stein, auf dem, sich diese Frau gezeigt hatte, um ein wenig auszuruhen, war vor Tausenden von Jahren an diesen Ort gelangt durch einen riesigen Gletscher, der, langsam und behaglich kriechend, sich nach Skandinavien, meiner wirklichen Heimat, zurückzog. Die Sorben, angehörige eines westslawischen Volksstammes, verehrten einst den Stein und benutzten ihn für ihre zeremoniellen Zwecke als Opferaltar. Soweit ich mich erinnere, handelte es sich überwiegend um Getreidegaben und geschlachtete Tiere. Menschjen opferten sie nur gelegentlich, und wenn überhaupt, dann nur die diplomatischen Vertreter benachbarter Stämme, meistens Westgermanen. Wenn ich mich in dieser Richtung irre, bitte ich mein altes Volk um Vergebung […]. Mit meinem Erscheinen auf dem alten sorbischen Opferstein änderte sich alles. Die uralten Kräfte wurden aus ihrem Jahrtausende dauernden Schneewittchenschlaf ge-

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weckt. Zufällig lag der Stein an der Oder, genau an der deutsch-polnischen Grenze, allerdings auf polnischer Seite. War das nun Pech oder Glück? Hundert Meter weiter westwärts wäre meine Kindheit ganz anders verlaufen und ich ein anderer Mensch geworden. Selbstverständlich hätte es noch schlimmer kommen können, zum Beispiel eine Landung in Afrika, in Südostasien oder mitten im Atlantischen Ozean, ganz zu schweigen von der Schweiz« (FV, 8f.).

Es wird die Geschichte eines Mannes mit deutsch-polnischen, sorbischen und jüdischen Wurzeln erzählt, was aber erst im Laufe der Erzählung zum Vorschein kommt. Der Roman speist sich also aus Versatzstücken aus Muszers (auch Lese-) Biographie, ohne dass er deshalb als »autobiographisch« zu bezeichnen wäre. Er gebraucht Versatzstücke der Realität, die er dann beinahe klassisch surrealistisch neu zusammensetzt im Sinne der von Lévy-Strauss behaupteten »Bricolage«30. Motivische Beispiele wären z. B. das Großwerden im »Niemandsland« (Orte wie Slubitz, Reppen, Landsberg werden genannt, immer in der deutschen Form), das Flüchtlingsauffanglager Friedland, die Stadt Hannover, das Studium in Posen o. ä., dazu ist oben noch Muszers Lesebiographie angesprochen, insofern jedes Kapitel mit jeweils einem Zitat aus Werken der Weltliteratur (Poe, Swift, Defoe, Hamsun etc.) oder alltäglichen Phänomenen (Klosprüche etc.) eingeleitet wird. Der Autor selbst nennt das Werk eine »wahre Geschichte mit vielen Halbwahrheiten. Jedenfalls stimmen die Orte der Geschehnisse mit dem Stadtplan überein«. Es versteht sich von selbst, dass man von den Äußerungen des Ich-Erzählers oder der Schilderung einiger Figuren des Romans nicht direkt auf die Haltung des Schriftstellers Muszer schließen kann. Dennoch lässt sich hier festhalten, dass der Ich-Erzähler über die Darstellungsweise eine Verweigerung jeder »national-kulturellen Identität« deutlich macht, die selbst weit über neuere »nationale Identitätsdiskurse« innerhalb der Kulturwissenschaft hinausreicht.31 Wie vollzieht Muszer nun aber jene Absage an jede Form von ethnischem Kollektiv? Zunächst einmal erreicht er das durch eine maßlose Übersteigerung als formales Mittel, so dass jede Figur unweigerlich in ihren »nationalen Vorurteilen« (im Sinne des Vorurteils bei Allport32, nicht im Lipmannschen Sinne des Stereotyps33) »verzerrt und überzeichnet« präsentiert wird, allen voran der Protagonist.

30 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken [»La pensée sauvage«]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. 31 Selbst der Ansatz der Transkulturalität scheint zum Teil nicht radikal genug, es verbleibt immer noch der Glaube an ein zwar überstandenes, aber im Sinne des Begiffes des Palimpsestes doch einmal vorhanden gewesenes kulturethnische Gefüge. 32 Allport, Gordon: Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971; vgl. dazu auch Hahn, Eva; Hahn, Hans Henning: Nationale Stereotypen. In: Hans Henning Hahn (Hrsg.): Stereotyp. Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2002, S. 17–56.

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Es scheint an dieser Stelle für sich zu sprechen, dass ex negatione im Werk genau jene Position dargestellt wird, die seit einigen Jahren von führenden Vertretern der Kulturwissenschaften eingenommen wird, insofern kann man den hier vom Muszer vorgeführten Ansatz durchaus als (literarische) »Pionierarbeit« auch für die Kulturwissenschaft bzw. als eine Art von Migrantenliteratur bewerten.34 Dass dies aber nicht allein aus theoretischer Überlegung, sondern aus künstlerischer Verarbeitung einer »erlittenen Biographie« herstammt, das soll im Folgenden weiter ausgeführt werden. Dazu sind allerdings einige biographische Bemerkungen zum Werk und der Person Dariusz Muszers unablässig.

IV.

Biographische Bemerkungen zu Dariusz Muszer

»Ein fremdes Auge kommt in ein fremdes Land -mit dieser Feststellunggeben sich viele zufrieden, außer mir. Denn diese Tatsache ist nicht der Grund für den Fremden Blick. Ich habe ihn mitgebracht aus dem Land, wo ich herkomme und alles kannte.« Herta Müller

Eine Besonderheit des Werkes von Dariusz Muszers besteht darin, dass er erst mit 29 Jahren Deutsch gelernt hat (darin Katja Petrowskaja ähnlich) und inzwischen ausschließlich auf Deutsch schreibt und seine Werke inzwischen selbst ins Polnische übersetzt. Muszer hatte zuvor in Polen schon einige bedeutende Werke verfasst, insbesondere Gedichte. Seinen Wechsel zur deutschen Sprache kommentiert der Autor mit der ihm eigenen Süffisanz im Bezug auf »Die Freiheit riecht nach Vanille« wie folgt: »Dies ist mein erster Roman ganz auf Deutsch. Früher habe ich eine andere Sprache benutzt, um mit den Erdlingen zu kommunizieren: Man nennt sie Polnisch, eine Sprache, die leider aus der Mode gekommen ist. Aus diesem Grund musste ich den holperigen Weg eines Schriftstellers deutscher Zunge wählen. Es war grauenvoll, aber wir – die deutsche Sprache und ich – haben auch viel Spaß dabei gehabt.«35

Bemerkenswert an diesem Zitat ist nicht allein der Wechsel von der polnischen Sprache, sondern auch von der früheren Lyrik zu der jetzigen Prosa, d. h. zum Roman. In Polen hatte sich Muszer vor allem einen Namen als Lyriker gemacht, die Artur Becker in die Tradition Zbigniews Herbert stellt.36 Muszer studierte 33 Vgl. Lippmann, Walter; Noelle-Neumann, Elisabeth (Hrsg.): Die öffentliche Meinung [Originaltitel: Public Opinion]. Bochum: Brockmeyer)1990. 34 Man beachte die Unterscheidungen zwischen Gastarbeiterliteratur, Migranten- und Migrationsliteratur etc. bei Rösch 1988. 35 Muszer, Website des Verlages: www.a1-verlag.de/AlleBücher/Literatur/Muszer/DieFreiheitriechtnachVanille. 36 Zbigniew Herbert (1924–1998) gehört zu den bedeutendsten Dichtern polnischer Sprache

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Jura am der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan´ und siedelte nach seinem Studium in die BRD über, ohne dabei länger in seinem Ausbildungsberuf zu arbeiten, wobei er nach der Aussage seines Verlags (des kleinen Münchner Verlages A1) schon in diversen Berufen als Staatsanwalt, Schlosser, Taxifahrer, DJ, Totengräber, Beleuchtungstechniker oder Kellner tätig gewesen sei. Mit der Übersiedlung nach Deutschland (die, wie Becker im »Langen Abend der polnischen Literatur« bemerkt, vor allem berufliche Gründe hätte, wodurch Muszer zum Wanderer bzw. zum Migranten geworden sei) verabschiedet sich Muszer gleichzeitig von seinen früheren Werken, seiner Sprache, seiner Kultur und seiner ersten Identität. Er selbst äußert sich zu seinem Umzug nach Deutschland wie folgt: »Mit meinen polnischen Büchern hab ich einen Teil abgeschlossen, von meiner Geschichte, d. h. ich hab mich von der Heimat verabschiedet. Als Kind hat das mich schon beschӓftigt, dass es andere Lӓnder gibt. Es klingt ein bisschen bescheuert, aber damals durften wir nicht reisen. Ganz als Kind, habe ich DDR gesehen, weil ich wohnte in der Nӓhe von der Grenze, ich war einer von wenigen Polen, die aus Lebuser Land kommen (Ziemia Lubuska), ich gehöre zu den Übersiedlern bzw. zu den Vertriebenen aus der Ukraine ( jetzt). Und, selbstverstӓndlich, wenn man so eine Geschichte hat, eine riesige Geschichte, wenn man gehört zu den Nomaden, die immer vertrieben wurden, und wenn man ein wenig intellektuell wach ist, und wenn man Bücher liest, was ich leider getan habe, ich sollte das nicht tun, aber trotzdem hab ich das getan, dann fӓngt man an zu tun, was ein Mann nie tun sollte, und zwar man fӓngt an, anzudenken. Dann ist alles einfach klar, plötzlich ist alles klar.«37

Dariusz Muszer scheint demzufolge zwei literarische Leben gelebt zu haben bzw. zu leben, künstlerisch wie geographisch: eines lange vor der Wende in Polen und das andere in der Bundesrepublik Deutschland. Die polnische Phase ist dabei eher durch Lyrik, die deutsche eher durch Romane und Erzählungen geprägt. Insofern erscheint es nur konsequent, in Beiträgen zur Übersetzungswissenschaft »Die Freiheit riecht nach Vanille« und dessen polnische Übersetzung, »Wolnos´c´ pachnie wanilia˛«, als zwei verschiedene Werke anzusehen. Was an den wenigen methodischen Bemerkungen deutlich wird, ist, dass eine solche wie auch immer geartete Literatur nicht allein mit formalästhetischen bzw. »literarischen« oder »literaturwissenschaftlichen Kriterien zu begreifen ist. Dietmar Dathe nimmt diesen Punkt in der von Maxim Biller angestoßenen »Literaturdebatte«38 im Hinblick auf die unangemessene Anpassung nichtund wird oft im Hinblick auf seine ironische Darstellungsweise und die Verwendung neuartiger Metaphern als Pendant zu Czesław Miłosz gesehen. 37 Muszer, Website. 38 Am 20. 02. 2014 trat Maxim Biller mit seinem Aufsatz »Letzte Ausfahrt Uckermark« in »Die Zeit« eine neue Literaturdebatte los, indem er den »Schriftstellern mit Migrationshintergrund« eine übergroße Anpassung an die zeitgenössische deutschsprachige Literatur vorwarf,

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deutscher Schriftsteller an die »langweilige und schlappe, den Standard vorgegebene deutschsprachige Gegenwartsliteratur« auf, indem er behauptet, »dass das »allerbeste an der Literaturdebatte ist, dass sie sich als Literaturdebatte allein gar nicht führen lässt«.39 Selbstverständlich spielen auch hierbei Phänomene kultureller Identität wie Assimilation oder Integration im Sinne von Berry40 eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll eine mögliche Lesart jenes Werks vorgestellt werden, das jenes Phänomen der (kulturellen) Identität explizit berührt.

V.

Entweder zumindest in den Kosmos oder ab nach Norwegen – Zur Konstruktion ethnischer Nicht-Identität bei Muszer

»Meine Eisenbahn aus Holz war längst zertrümmert und verbrannt und auch Norwegen erschien mir so wie jedes andere Land. Und auch Vater kam nach Hause, ein Jahr später, irgendwann, was er sagte, wie er aussah, ich erinn’re mich nicht dran.« (Hannes Wader, Erinnerung)

Muszers schriftstellerische Radikalität kommt in vielen Bereichen zum Ausdruck, in der Zerstörung der polnischen Sprache, wie Artur Becker es nennt, der ihn hierin viel radikaler als Gombrowicz (der ja für die kritische Distanz zur eigenen Sprache und Kultur steht) sieht, aber vor allem auch in seiner radikalen Auffassung von Identität: »Die Frage nach der Identität, ob er nun Pole oder Deutscher sei, stellt sich für ihn nicht so. Selbst der Begriff des Europäers ist für ihn zu kurz gefaßt. Muszer vertritt eine planetarische Position: die Menschen seien aus einem großen schwarzen Loch gekommen und werden dorthin wieder verschwinden. Und überhaupt: er habe bisher in Deutschland nur Mischlinge getroffen, was bedeute es, wenn man sich da als Deutscher oder Pole, als Europäer im traditionellen Sinne bezeichne? Der Gastaufenthalt auf der Erde sei ein Zwischenspiel, wo die Frage der nationalen Zugehörigkeit in den Hintergrund trete. So verkehrt er nebenbei den gängigen Zeitvektor Zukunft in die Zukunft der Vergangenheit um. Und das scheint logisch: ein Emigrant denkt öfter an die Ver-

die langweilig und nicht innovativ sei und von den Nazi-Enkeln verwaltet würde. Seine Zielrichtung wird aber schon im Untertitel deutlich, wo es heißt: »Warum ist die deutsche Gegenwartsliteratur so unglaublich langweilig? Weil die Enkel der Nazi-Generation noch immer bestimmen, was gelesen wird. Was hier fehlt, sind lebendige literarische Stimmen von Migranten. Die aber passen sich an und kassieren Wohlfühlpreise.« 39 Diethmar Dath antwortet auf Biller, Maxim: Wenn Weißbrote wie wir erzählen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 02. 2014. 40 Berry, J. W.: Immigration, acculturation, and adaptation In: Applied Psychology, 1997, 46(1), S. 5–34.

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gangenheit als ein Eingeborener, sind die unterschiedlichen Lebenssituationen krass getrennt, jedenfalls gilt da für den Helden des Buches Naletnik.«41

Gerade auch Konzepte aus den Naturwissenschaften (insbesondere der Chemie), wie z. B. der übernommene Begriff der Hybridität, des 3. Raumes, von FuzzyKulturen42 oder der Multikollektivität43 von Kultur, tragen einer solchen Auffassung Rechnung, wonach Kulturen dynamische, diskontinuierliche Gebilde seien, die sich durch prinzipielle Offenheit auszeichnen. Damit soll selbstverständlich nicht einer Position moderner Kulturwissenschaft das Wort geredet werden, insofern deren Vertreter Muszer gelesen oder gekannt hätten (genauso gut könnte man dann behaupten, dass Ödipus Freud gelesen hätte). Zumindest aber lässt sich festhalten, dass Muszers beinahe seismographische Art und Weise, die Veränderung in der Auffassung von nationaler oder ethnischer Identität wahrzunehmen, selbst eingedenk der Tatsache, dass sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchaus Gegenbewegungen zu solchen Positionen bilden und sich gerne schnell wieder auf nationale Identitäten bezogen wird (siehe oben), einen Sonderfall in der Literatur darstellt. »Wie eingangs gezeigt, beherrscht die traditionelle Annahmen, dass jeder von uns primär einer Kultur, üblicherweise einem Land oder einer Ethnie, zuzurechnen sei (Primärkollektiv) und dass unter den Mitgliedern einer Kultur weine gewisse Ähnlichkeit herrsche (Merkmalskongruenz) immer noch unser alltägliches Denken und Handeln in Bezug auf Kultur. In der Folge führte dies […] zu einer Essentialisierung von Kultur. Der Einzelne wird auf bestimmte, einer Gruppe unterstellte kulturelle Merkmale aufgrund seiner Mitgliedschaft festgeschrieben […].«44

Rathje weist nach, dass dies in hochspezialisierten, Multiidentität stiftenden Gesellschaften nicht mehr der Fall und es unzulässig sei, den Menschen bzw. das Individuum in seiner Teilhabe an multikollektiven Einheiten allein auf die ethnische Kultur zu reduzieren, die zudem wissenschaftlich bis auf (gleichfalls mythologische) Begriffe wie »Schicksalsgemeinschaft« o. ä. kaum nachweisbar sei. D. h., auch wenn dies heute nach wie vor von einem Großteil angenommen wird, wird es dadurch nicht richtiger. Deshalb kommt Rathje auch konsequenterund richtiger Weise zu dem Schluss:

41 Foedrowitz, Michael: »Wunden und Verwunderung oder: Wie die Freiheit riecht.« PDF-Datei. 42 Vgl. Bolten, Jürgen: Unschärfe und Mehrwertigkeit: »Interkulturelle Kompetenz« vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. In: Hoessler, Ulrich; Dreyer, Wilfried (Hrsg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. [auch als PDF-Datei.] 43 Vgl. Rathje, Stefanie: Multikollektivität. Schlüsselbegriff der modernen Kulturwissenschaften. In: Wolting, Kultur. 2014, S. 39–59. 44 Ebd., S. 53.

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»Aufgrund ihres geradezu absurden Mangels an Realitätsbezug ist die Vorstellung von kulturellem Essentialismus in hochmodernen Gesellschaften einerseits kaum abbildbar, andererseits hält sie sich vermutlich gerade aufgrund ihrer Einfachheit hartnäckig und führt zu bekannten gesellschaftlichen Konfliktsymptomen wie z. B. Stigmatisierung und Diskriminierung.«45

Dabei beruft sie sich zentral auf Klaus P. Hansen, der in eine ähnliche Richtung argumentiert und deshalb eine Neubesinnung innerhalb der modernen Kulturwissenschaft auf das Kollektiv fordert, und zwar im Hinblick darauf, wie etwa Gruppenbildung geschieht: »Da ethische Kollektive bei der traditionellen Kulturwissenschaft im Zentrum standen und bei vielen Disziplinen heute immer noch stehen, muss diese Form der Kollektivität gründlicher untersucht werden als alle anderen. Sie wird sich als diffiziler Sonderfall herausstellen, auf den der Kulturbegriff nur mit vielen Einschränkungen und unter der Auflage mannigfaltiger Differenzierungen anwendbar ist.«46

Damit ist bereits die in Muszers Protagonisten figurierte Auffassung multipler Identitäten markiert, egal, ob sie nun – und das ist im Sinne des Autors nicht immer ganz ernst gemeint – Sorben, Polen, Juden, Deutsche, Russen, Fremdlinge, Außerirdische, Erdenbewohner, Penner, Mütter, Väter, Großmütter, Soldaten, Polizisten, Taxifahrer, Massenmörder oder Schriftsteller sind (dabei nicht zu vergessen die Darstellung von personaler bzw. individueller Identität, die auch im Eingangszitat deutlich wird). In dem Sinne, wie das Ganze immer mehr als die Summe seiner Teile gilt, geht der Einzelne niemals in allen Gruppenzugehörigkeiten auf, und schon gar nicht in rein »nationalen« Zuschreibungen. Dafür stehen in Muszers Roman nicht zuletzt Phänomene wie Mischsprachigkeit47 und Mischkultur, wenn von Polen, Deutschen, Sorben, Russen oder Juden buchstäblich kaum etwas übrig bleibt, etwa in der absurden Geschichte des Großvaters Bernhard Naletnik, der im Krieg den Großvater mütterlicherseits, Henryk Servas, »am hellichten Tag in Czortkow tötet« (FV, 114). Im Grunde genommen lässt sich Muszers Roman zwischen den Zeilen als die Darstellung einer Migrationsbiographie lesen, die schließlich zu einer Auslöschung jeder Form von Identität oder Zugehörigkeit führt. Seine Familie (die Frau und seine zwei Kinder) wird unter dubiosen Umständen ermordet, woraufhin er selbst wie der Massenmörder K.K. unter Verdacht geraten, die sich daraufhin in einem alten Luftschutzbunker verstecken müssen (FV, 202ff.). An verschiedenen Stellen wird die problematisierte (kulturelle) Nicht-Identität oder,

45 Ebd. 46 Klaus P. Hansen: Kultur, Kollektiv, Nation. Passau: Stutz 2010. 47 In der Sekundärliteratur wird wie oben bereits erwähnt in Bezug auf die Übersetzung des Romans von zwei verschiedenen Werken gesprochen.

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mit einem anderen Wort, die Fremdheit der Protagonisten betont, was ebenso als Indikator seiner Herkunft im Namen »Naletnik« eine Rolle spielt: »Wissen Sie, was Naletnik auf sorbisch bedeutet? Bestimmt wissen sie das nicht. Sie können das nicht wissen. Naletnik bedeutet März. Eigentlich sollte ein Vögelchen über dem E stehen. Ich heiße Nale˘tnik, nicht Naletnik, und ich bin Sorbe. Haben sie gewusst, daß ich Sorbe bin? Die Sorben sind das älteste Volk, das zwischen den Deutschen und den Polen lebt. Ihr habt alle möglichen Völker ausgerottet, aber mit den Sorben habt ihr es nicht geschafft. Und wissen Sie, warum? Weil die Sorben anpassungsfähiger waren als andere Slawen« (FV, 188).

Bereits zu Anfang – und das ist exemplarisch – wird die »kosmische Relation« des Protagonisten dargestellt, auch das »Verschlungenwerden« durch das Universum bzw. durch sich selbst, was unter bestimmten Voraussetzungen zusammenfällt und identisch ist: »Ich bin das kleinste schwarze Arschloch im Universum. Seit meiner Geburt verschlinge ich alles, was mir in die Finger kommt, sogar mich selbst« (FV, 5).

Dieses schwarze Loch ist dabei durchaus im doppelten Sinne konkret gemeint, was sich jedoch nicht sofort erschließt. Zu Beginn stellt der Ich-Erzähler einen Bezug zum Phantastischen oder zum Genre des Kriminalromans her, getreu jenes Einflusses der Science-Fiction, in die Muszers Roman seitens der Literaturkritik ja auch eingeordnet wird. Im Weiteren finden sich mediale Anspielungen auf Road- oder Born-to-Kill-Movies (»Natural-Born-Killers«, 1994; Drehbuch: Quentin Tarantino) im Sinne eines Oliver Stone (»Dressed to kill«): Die Medien vermitteln eigentlich erst die »Identität« – gestatten, von Beruf: Massenmörder, ein paar Kose- oder Spitznamen, sonst nichts, der wahre Name, d. h. auch die wahre Existenz oder Identität, wird dabei nie zum Vorschein kommen, wie z. B. in Goffmans Masken- oder Theaterspielen bezüglich gesellschaftlicher »frames«.48 »Für die Medien bin ich ein Massenmörder. Man nennt mich den ›Mörder mit der Fliegerhaube‹ oder ›Grünkӓppchen‹. Keine ausgefallenen Spitznamen, ich mag sie nicht besonders. Aber niemand kennt meinen richtigen Namen, und über mein Aussehen sind verschiedene widersprüchliche Gerüchte im Umlauf. Kein Mensch weiß, wo ich mich zur Zeit aufhalte, mit Ausnahme von K.K. Doch der wird schweigen wie ein Grab. Er hat kein Interesse daran, daß die Wahrheit ans Licht kommt. Eigentlich hat niemand Interesse daran. Die heutige Welt dürstet ausschließlich nach Lügen und nach Lügnern« (FV, 5).

Auch die Stadt, in der sich Naletnik und der Massenmörder K.K. befinden, zeichnet sich durch ihre Nicht-Identität aus (in die Naletnik zufällig im Sartr48 Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974.

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eschen Sinne »geworfen« wird, weil er fälschlicherweise in Hannover aus dem Zug steigt; FV, 33) und ist damit dem modernen Menschen verwandt, der verschiedenen Kollektiven angehört: »Momentan befinde ich mich irgendwo in Hannover. Es ist eine Stadt, die niemals schlӓft, aber immer schlӓfrig ist. Es ist eine Stadt wie die Menschen von heute: ohne Eigenschaften, ohne Charakter, ohne Gesicht. Aber im Laufe der Jahre ist sie meine Stadt geworden. Kein Zufall hat mich hierher geführt, sondern die ›Grausamkeit der Gefiederten‹, wie Skunk die Karotte das einmal ausdrückte. Er irrte sich nicht« (FV, 5).

Heimgesucht wird der Ich- Erzähler von K.K., der immer nur dann auftaucht, um ihn zum Arbeiten, also zum Schreiben anzutreiben. Dabei besteht eine eigenartige Verbindung, besser: Komplizenschaft zwischen dem Massenmörder K.K. und dem vermeintlichen Schriftsteller, so dass man geneigt ist, an Quinceys »Der Mord als schöne Kunst betrachtet«49 zu denken. Zudem werden beide in und von der Öffentlichkeit miteinander verwechselt, wie das obige Zitat deutlich macht: Der Ich-Erzähler wird für den Massenmörder K.K. gehalten. »Gestern besucht mich K.K. und brachte einen Laptop und zwei Akkus. ›Jetzt wird aber geschrieben‹, sagte er. ›Über vier Jahre habe ich geduldig gewartet, bis du deinen Teil unseres Vertrages erfüllst. Mir reicht’s, ich möchte dich endlich los werden. Du hast sechs Monate Zeit, mach daraus das Beste. Entweder du schreibst, oder ich komme nicht wieder. Du weißt, was das bedeutet. Ein Seil für dich ist lӓngst gekauft, doch wenn du nicht arbeitest, bekommst du es am Nimmerleinstag. Die Entscheidung liegt diesmal ausschließlich bei dir‹« (FV, 5f.).

Der Protagonist scheint sich zudem immer wieder Gedanken über seine Herkunft zu machen: Das Motiv des Kosmos bzw. des Weit-Fort-Seins, was dann auch ein anderes Land wie Norwegen meinen kann (als Projektionsfläche seiner Sehnsucht, wie das ebenfalls in einem Lied von Hannes Wader anklingt), wird dann auch am Ende noch einmal aufgenommen: »Noch immer befinde ich mich auf dem Planeten Erde. Wieder habe ich durchdringende Trӓume von meiner alten Heimat, vom Schwarzen Loch. Ich will weg. Ich will endlich wieder fliegen« (FV, 7).

Dieses Motiv des schwarzen Lochs, des mythischen Eingehens in die Erde und in den Kosmos wird bis zum Ende des Romans durchgehalten. Der Ich-Erzähler bleibt ein Fremdling auf Erden, ein »kosmischer Gast«, der vielleicht irgendwann zurück auf die Erde kommen wird. »Ich hoffe, daß, wenn ich wieder auf die Erde komme, keine Panne mehr passiert und ich dort lande, wo ich immer wollte: in Svingen, Südnorwegen. Als Andenken an die

49 Thomas de Quincey: Der Mord als schöne Kunst betrachtet. Hg. v. Gerhild Tieger. Berlin: Autoren-Haus-Verlag 2004.

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schöne Erde nehme ich meine grüne Fliegerhaube mit und eine Handvoll Vanilleduft aus dem Abendland« (FV, 213).

VI.

Fazit »Ja, klingt süß, der tittel des buches von Dariusz Muszer. Der inhalt widerum is bitter, grau, regnerisch und grau, der held oder antiheld oder erzäler wont in Hanover. Es gibt einige autoren, die ich nich verstee, einer davon hat sogar neulich ein schwedischen literaturpreis gewonnen, wärend Dariusz Muszer nur ein literaturpreis weiter südlich von Schweden gewonnen hat, nämlich in Nidersaxen. Und wenn ich die beiden so vergleich, da muss ich schon sagen, der pole is lustiger.« zé do rock

Es ist in diesem Beitrag der Frage nachzugehen versucht worden, wie sich Erkenntnisse der modernen Kulturwissenschaft mit Dariusz Muszers Roman »Die Freiheit schmeckt nach Vanille« in einen Zusammenhang bringen zu lassen. Muszer, selbst ein Wanderer zwischen den Welten Polen und Deutschland, gehört zur Gruppe der hauptsächlich in einer Fremdsprache schreibenden Schriftsteller, wobei er mit einer grandiosen und unbeirrbaren Radikalität jede auch noch so kleinen Spuren einer rein nationalen oder ethnisch-kulturellen Identität verwirft. Nicht dass Muszer nicht von Konstrukten wie den »Polen«, den »Russen« bzw. den »Deutschen« sprechen bzw. jene seinen Figuren unterlegen würde, im Gegenteil, sie werden aber auf eine absurde und ironische Weise verzerrt und führen sich somit selbst ad absurdum, dass sie sich kaum noch als Identifikationsfläche anbieten: die Großmutter, die alles Polnische hasst, wahrscheinlich aber selbst Polin ist (was nahegelegt wird), der Vater des Protagonisten, der als Antisemit mit einer Jüdin verheiratet ist, die Mutter, eine im wahrsten Sinne des Wortes Grenzgängerin im Niemandsland zwischen der deutschen und polnischen Grenze, und schließlich der Naletnik selbst, der nur wenige Meter von der deutschen Grenze aus dem Kosmos abgelegt wurde. Es handelt sich um ein Kaleidoskop fremdelnder Figuren, die nicht einmal mehr um ethnische Kollektivität ringen in der Darstellung einer Welt, in der – nicht ganz ernst zu nehmen – allein der Massenmörder K.K. über eine wirkliche Identität verfügt. Damit lässt sich abschließend festhalten, dass Muszer in seinem Roman jedweden Kulturalismus, verstanden als jene problematische »Konstruktion, bei der

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bestimmten Kulturen feste Eigenschaften zugewiesen werden,50 auf den Kopf stellt, durch das Changieren mit Identitäten einem offenen und dynamischen Kulturbegriff das Wort redet und in Form des Durchspielens unterschiedlicher fiktiver kultureller Kollektive eine Art Multiperspektivität aushandelt, die durch Vieldeutigkeiten, Ambiguitäten und Mehrfachkodierung die Polyvalenz persönlicher wie kultureller Identitäten vorführt.

50 Vgl. Hofmann, 2006, S. 11.

Katarzyna S´liwin´ska (Poznan´)

»Ich, Mischling«. Literarisches Sprechen aus der Position des Dazwischen in »Wieczny Grunwald« und »Morphin« von Szczepan Twardoch

»Morphin«, 2012 erschienen und sogleich mit dem prestigeträchtigen Literaturpreis des Nachrichtenmagazins »Polityka« ausgezeichnet, ist der siebte Roman des heute 35-jährigen Szczepan Twardoch, von dem außerdem drei Erzählbände vorliegen, und der erste, der eine derart große Beachtung in der Literaturkritik wie bei den Lesern fand.1 Im Jahr darauf folgten die Nominierungen für die bedeutendste literarische Auszeichnung Polens: den Nike-Preis, für den Literaturpreis der Stadt Gdynia sowie den Mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus der Stadt Wrocław. Der Schriftsteller – bis dahin politisch dem konservativen Spektrum zugeordnet2 und als Verfasser von Genreliteratur rezipiert – fand damit endgültig den Weg aus der Nische der parahistorisch-phantastischen Literatur3 in den literarischen Mainstream. Auf großes, wenn auch nicht genuin literarisches Interesse in der Öffentlichkeit stießen zugleich sein Bekenntnis zur schlesischen Nationalität und die Selbstverortung als schlesischer Schriftsteller polnischer Sprache.4 1 Twardoch, Szczepan: Morfina. Warszawa: Wydawnictwo Literackie 2012. [Im März 2014 erschien die deutsche Übersetzung von Olaf Kühl: Morphin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014. Eine Verfilmung ist geplant.] 2 Dafür spricht Twardochs publizistische Mitarbeit an Zeitschriften wie »Fronda«, »Arcana«, »Christianitas« oder an der neomessianistischen Vierteljahresschrift »44/Czterdzies´ci i Cztery«; Twardoch schreibt aber auch für das auflagenstärkste Nachrichtenmagazin Polens – die sozialliberale »Polityka«. 3 Zu den Begriffen u. a. Helbig, Jörg: Der parahistorische Roman. Ein literarhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1988; Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur. Frankfurt a. M.: Fischer 1992; Rodiek, Christoph: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt a. M.: Klostermann 1997; Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Korrigierte und erweiterte Neuausgabe. Berlin: Lit 2007. 4 Bei der Volkszählung von 2011 gaben insgesamt 809.000 polnische Bürger an, schlesischer Nationalität bzw. Schlesier zu sein. Dabei ist die Zahl derer, die sich sowohl zur polnischen als auch zur schlesischen Nationalität bekennen, mit 415.000 höher als die Zahl derjenigen, die sich ausschließlich als Schlesier bezeichnen (362.000). Twardoch präzisiert in einem Interview: »oczywis´cie jestem S´la˛zakiem, […] to mnie okres´la jakos´, opisuje, buduje. Moz˙e to w ogóle jest

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Als dann bekannt wurde, dass Twardochs neuer Roman im besetzten Warschau des Jahres 1939 spielen soll, stand unausgesprochen die Erwartung im Raum, der Schriftsteller werde dieses Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte aus seiner Position des Dazwischen – des Draußen und Drinnen zugleich – in den Blick nehmen und damit neu lesbar machen. In diese Richtung schien auch der Vorgänger-»Roman von jenseits der Zeit« (so die Gattungsangabe im Peritext) zu weisen, dessen polnischer Titel »Wieczny Grunwald« als »Ewiges Tannenberg« zu übersetzen ist.5

I.

Geschichte: ein »ewiges Tannenberg«?

»Wieczny Grunwald« erschien 2010 zum 600. Jahrestag der Schlacht bei Tannenberg6 in der vom Narodowe Centrum Kultury initiierten Reihe zur Alternativweltgeschichte »Zwrotnice czasu« (Zeitweichen). Szczepan Twardoch nimmt hier die ahistorische, im populären Bewusstsein gleichwohl bis heute nachwirkende Vorstellung einer jahrhundertelangen Feindschaft zwischen Deutschland und Polen gleichsam beim Wort und verdichtet sie im titelgebenden Bild des »ewigen Tannenberg«7 – eines immerwährenden Kampfes, den der Roman in einem dystopischen Endzeitszenario über die menschliche Zeit hinaus perpetuiert. Ein Rückblick vom angenommenen Ende der Menschheit her auf frühere und gleichzeitige Konstellationen zeigt die Wirkungen einer Hypertrophierung cecha S´la˛zaków, z˙e jestes´my narodowo nieokres´leni. Nie zgadzam sie˛ z niektórymi s´la˛skimi autonomistami – S´la˛zacy nie wydaja˛ mi sie˛ byc´ narodem. Nie sa˛ tez˙ Polakami, sa˛ etnosem jakos´ przednarodowym czy narodowo indyferentnym.« Vgl. Twardoch, Szczepan: Cenie˛ sobie z˙ycie w Kryształowym Pałacu. In: Krytyka Polityczna vom 28. 11. 2011; ders.: Identität der Einsamkeit. Mein Jahr 2011. In: Jahrbuch Polen 2012. Bd. 23: Regionen. Hrsg. vom Deutschen Polen-Institut Darmstadt. Wiesbaden: Harrassowitz 2012, S. 107–122. Der Essay erschien zunächst auf Polnisch unter dem Titel »Toz˙samos´c´ samotna« in der Januarausgabe 2012 (Nr. 680) der Monatsschrift »Znak«. 5 Twardoch, Szczepan: Wieczny Grunwald. Powies´c´ zza kon´ca czasów. Warszawa: NCK 2010 (= Zwrotnice Czasu. Historie alternatywne. Bd. 3). [Zitate aus dem Roman beziehen sich auf eine korrigierte Neuauflage von 2013 und werden in der Übersetzung der Verfasserin im Folgenden unter der Sigle »WG« mit Seitenzahl im Text nachgewiesen.] Siehe Twardoch, Szczepan: Wieczny Grunwald. Warszawa: Wydawnictwo Literackie 2013. 6 Aus diesem Anlass sind 2010 auch andere Texte erschienen, die als »(para)historische Fantastik« rubriziert werden können, u. a. »Krzyz˙acka zawierucha« von Jacek Komuda und der dreibändige »Cykl krzyz˙acki« von Dariusz Domagalski (beide in der Reihe »Fabryka historii« im Lubliner Verlag Fabryka Słów). 7 Zu Tannenberg/Grunwald im deutschen und polnischen Erinnern vgl. u. a. den Beitrag von Frithjof Benjamin Schenk in: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von Etienne François und Hagen Schulze. München: C. H. Beck 2001. Bd. 1, S. 438–454; Traba, Robert: Konstruowanie pamie˛ci. Analiza semantyczna obchodów rocznic grunwaldzkich. In: Ders.: Historia – przestrzen´ dialogu. Warszawa: ISP PAN 2006, S. 206–226.

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des Nationalen im Raum des Phantastischen. In jenem »ewigen Krieg«, dem der Roman globale Dimensionen verleiht, ist ein »Endsieg« nicht möglich: »Mutter Polen« und »Germania« liegen miteinander im Clinch und gründen gerade darauf ihre Existenz. Der Antagonismus, der sich in der fiktionalen Welt des Romans in unzähligen Szenarien mit alternativen Verläufen ausprägt, wird jenseits aller politischen oder moralischen Bestimmungen verortet. Der Roman vermeidet es gleichwohl, den Konflikt ins Metaphysische zu verschieben,8 obwohl er das Geschehen zuletzt aus jeder konkreten raumzeitlichen Situierung löst und dadurch transzendiert. Aus der Kollision unvereinbarer nationaler Prinzipien, wie sie der Text inszeniert, lässt sich keine Legitimation für einen der Kontrahenten ableiten. »Polen« und »Deutschland« sind in der Welt des »ewigen Tannenberg« ebenbürtige, in polarer Entgegensetzung aufeinander bezogene Kräfte, die der Krieg ebenso voraussetzt wie hervorbringt.9 Der Roman konstruiert somit Gegensätze, ohne diese in eine politisch oder ideologisch gefasste Antithetik von Gut und Böse einzuordnen. Er ruft hierfür die einschlägigen Topoi aus dem Fundus der deutschen und polnischen Imagologie auf: Vorstellungen, vornehmlich romantischer Provenienz, von deutscher und polnischer »Wesensart«, Kollektivsymbole, die diese verbildlichen sollen, Elemente der jeweiligen nationalen Mythographie. Wichtiger als die Konfrontation und womöglich Dekonstruktion nationaler Selbst- und Fremdbilder erscheint jedoch die Konsistenz des Bildbereichs, der den fiktiven Raum des »ewigen Tannenberg« konstituiert. Wie schon in der komplexen zeitlichen Struktur des Romans, die sich aus der Überblendung verschiedener Zeitschichten ergibt, wird hier historisch weit auseinander Liegendes ineinander gespiegelt und in zahlreichen Variationen mit der Vorstellung einer nachmenschlichen Zukunft verknüpft. Als paradigmatisch für diese narrative Strategie kann die Schilderung der Germania gelesen werden. Twardoch rekurriert hier, wie auch in der Imagination der »Mutter Polen«, auf das Konzept des Volkskörpers, den er in Anlehnung an einschlägige Traditionen als die organische Form einer Blutsgemeinschaft präsentiert – ein Gedanke, der im Programm einer »rassenpolitischen« Neuordnung Europas seinen politischen Niederschlag fand.10 Das Deutschlandbild des Romans ist damit – vordergründig 8 Anders Nowacki, Dariusz: Mistrz Szczepan z Pilchowic. In: Tygodnik Powszechny vom 08. 08. 2013. 9 »Mys´li o tym, jak rozpocze˛ła sie˛ Wojna Przezwieczna […], i jak trwała, jak pulsowała, jak hartowała jedne i unicestwiała inne narody, jak wychowała sobie narody aantropiczne, narody osobne, Niemców i Polaków, dla których Wojna jest jedyna˛ znana˛ forma˛ istnienia« (WG, 59). 10 Zur Verbildlichung von politischer/nationaler Gemeinschaft als Körper vgl. u. a. Baxmann, Inge: Der Körper der Nation. In: Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Hannes Siegrist, Jakob Vogel und Etienne François. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 353–365.

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betrachtet – vom Nationalsozialismus her konzipiert.11 Willkürlich, aber atmosphärisch stimmig, werden hier Elemente unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Diskurse über Deutschland und die Deutschen, im populären Gedächtnis abgelagerte Zeichen und Klischees miteinander kombiniert, ohne dass die Bruchstellen zwischen den heterogenen Vorstellungskomplexen in jedem Fall kaschiert werden. So ist die Germania nach dem Bild des menschlichen Körpers als ein funktional differenziertes Ganzes (mit Relikten der vormodernen, ständisch gegliederten Gesellschaft aus der Zeit des »ersten, wirklichen Tannenberg«12) konstruiert, das auf das Zusammenwirken spezialisierter Organe angewiesen ist. Twardochs Roman zeichnet in der narrativen Ausfaltung dieser Körpermetaphorik die imaginäre Topographie »Deutschlands«, die er in einer nachmenschlichen Zukunft verankert und zugleich in einen synthetischen Raum mit realgeographischen Landmarken einschreibt. In ihrem Mittelpunkt situiert er Nürnberg – nicht als Inbegriff der mittelalterlichen Stadt oder Heimat einer besonderen Kunst- und Lebensform, als die es von den Romantikern stilisiert wurde, sondern als die »deutscheste aller deutschen Städte«, von Hitler zur »Stadt der Reichsparteitage« der NSDAP bestimmt.13 In Nürnberg wurden 1935 die Rassengesetze verkündet, die »deutsches Blut« als juristischen Begriff festschrieben; hier schließlich mussten sich führende Vertreter des NS-Regimes für ihre Verbrechen verantworten. Twardoch macht die Nürnberger Burg zur Residenz des Hauses Hohenzollern, das in einem der zahlreichen Erzählstränge seines Romans nach wie vor die Kaiser stellt, und zum Sitz der »aanthropischen« Hirne der Obersten Heeresleitung. Die Stadt figuriert damit als das symbolische und strategische Zentrum der Germania. Der Roman verkoppelt hier zwei Bildtraditionen: die Symbolik des Heiligen Römischen Reiches, dessen Herrschaftszeichen von 1424 bis 1796 in Nürnberg aufbewahrt und 1938 auf Weisung Adolf Hitlers wieder dorthin gebracht wurden, und eine spezielle Ausprägung der nationalsozialistischen Germanen- und Ariervorstellungen im »Dritten Reich«.14 So bildet die Anordnung der Fabriken an 11 Begriffe wie »Ewiges Tannenberg«, »Oberste Heeresleitung«, »Endsieg«, »Götzendämmerung«, »Blut« und dessen Derivate »Blutfahne«, »Blutfabrik« oder »Blut und Boden«, »Lebensborn«, »Sonnenrad« und »Schwarze Sonne« werden im Roman konsequent auf Deutsch wiedergegeben. 12 Die Einteilung in eine Oberschicht der Aanthropoi und eine Unterschicht der nicht transformierten menschlichen Knechte erinnert an H. G. Wells’ Trennung der Eloi und Morlocks in »The Time Machine« von 1895; Twardoch entwirft allerdings eine Welt, in der die Machtverhältnisse sich ständig verschieben. 13 Vgl. u. a. Kosfeld, Anne G.: Nürnberg. In: Deutsche Erinnerungsorte. 2001. Bd. 1, S. 68–85; Münkler, Herfried: Zertrümmerter Stolz. Nürnberg und Dresden als mythische Orte. In: Ders.: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009, S. 363–388. 14 In einer genretypischen Verklammerung von Fakten und Fiktion wird die Gestaltung der

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der unteren Säule des Burgturmes das aus zwölf in Ringform gefassten, gespiegelten Sigrunen zusammengesetzte Muster der »schwarzen Sonne« nach – ein Symbol für die germanische Licht- und Sonnenmystik, das als ein Kennzeichen esoterischer Kreise der SS gedeutet wird.15 »Schwarze Sonne« ist zugleich ein Emblem der Schwermut,16 die spätestens seit dem 19. Jahrhundert als »typisch deutsch« gilt. In »Wieczny Grunwald« findet jene Melancholie in den Liedern Franz Schuberts, namentlich in »Der Tod und das Mädchen«, ihr musikalisches Substrat, wie überhaupt ganz Germania geradezu »in Musik getaucht« ist (WG, 57). Im Kernbezirk der »deutschen Seele«, wie sie der Roman entwirft, wird damit die romantische Todessehnsucht situiert und nicht etwa ein unstillbarer »Drang nach Osten«, den der Romantitel nahezulegen scheint. Die Verrückung realer Orte und Landschaften macht den synthetischen Charakter dieses Raumkonstrukts deutlich. In der Welt des »ewigen Tannenberg« liegt die »Stadt an der Pegnitz« am Rhein – dem Kristallisationspunkt zahlreicher Mythen, der selbst zum Mythos wurde.17 Die Vorstellung, dass Deutschland sich primär als eine Einheit des Blutes konstituiert, findet ihre Umsetzung in der Imagination einer zentralen Blutfabrik im Herzen der Germania (der Roman verortet sie im gleichfalls mythisierten Hexenberg Brocken), in der hypertrophierte aanthropische Organe Blut produzieren, mit Nährstoffen anreichern, reinigen und wieder verwerten. Twardoch entwirft damit eine betont industrielle Landschaft mit romantischen Ingredienzien, in der auch die Fortpflanzung, von erotischer Lust abgekoppelt und in Lebensbornen organisiert, als Erfüllung der Pflicht gegenüber dem Blut verstanden wird.18 Es ist zugleich ein wie von Männerhand sinnhaft konstituierter und symbolisch geordneter Raum, wie überhaupt »Deutschland« in der fiktionalen Welt des Romans als eine Idee figuriert, die das Materielle bewegt und mit Sinn erfüllt.19 In

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Reichsinsignien (Blutfahne, Reichsschwert mit einem Sonnenrad im Knauf) Karl Diebitsch zugeschrieben, der die Uniformen der SS sowie zahlreiche Embleme (u. a. für das »Ahnenerbe«) (mit-)entwarf. Auch in der Symbolik der Blutfahne wird die Amalgamierung heterogener Elemente (die Blutfahne des Alten Reiches und die Hakenkreuzfahne, die beim Marsch auf die Feldherrnhalle am 9. November 1923 mitgeführt worden war) sinnfällig. Die Nürnberger Burg und ihre Umgebung erinnern damit an die zentrale Kultstätte des SS»Ordens«: die westfälische Wewelsburg, womit der Roman einen Bogen zum Deutschritterorden der historischen Schlacht bei Tannenberg schlägt. Vgl. u. a. Kristeva, Julia: Soleil noir. Dépression et mélancolie. Paris: Gallimard 1987. Dazu u. a. Münkler, Herfried: Weinseligkeit und Kriegsgeschrei. Rheinmythen und Mythen am Rhein. In: Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen. 2009, S. 389–410. Die erotische Komponente wird als die mystische Vereinigung mit der Idee der Nation während der (rituellen) Waschung im Rhein realisiert (WG, 108). »[U] nich wszystko jest ułoz˙one me˛ska˛ re˛ka˛ w znaki i symbole – w runy i rozety sonnenrad. Wiez˙e zamków maja˛ znaczenie, ogien´ ma znaczenie, i pomniki maja˛ znaczenie, i bauerskie pola z romantycznego malarstwa maja˛ znaczenie, chociaz˙ wygla˛daja˛, jak re˛ka˛ natury wyznaczone« (WG, 110).

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der »Mutter Polen« hingegen scheint »Polen« unmittelbar verkörpert – sie wird somit als Idee in einem besonderen Aggregatzustand vorgestellt. Die Einswerdung mit der Nation wird hier als leibliche Erfahrung radikalisiert: »Mutter Polen« – als ein riesiger weiblicher Körper, von einer dünnen Erdschicht überzogen, geschildert – kann begangen, berührt, penetriert, in ihrem Verlangen nach dem Opfer befriedigt oder verletzt werden.20 Solche Metaphern und Personifikationen unterstreichen die Verkoppelung von Todeslust und Sexualität, die in einem stets wiederholten, individuellen wie kollektiven »thanatischen Orgasmus« ihren Höhepunkt zu finden scheint.21 So wird der millionenfach multiplizierte Schoß der »Mutter Polen« mit einer Fleisch fressenden Pflanze verglichen, deren Blätter ein Sekret ausscheiden – wie Polen seine Befehle (WG, 114). Der Roman scheint damit den Beziehungen zwischen Deutschland und Polen die binäre Geschlechter-Matrix zu unterlegen: Den phallisch in den Himmel ragenden schwarzen Burgen der Germania stehen Gutshäuser und breite, aus warmem Sandstein erbaute Schlösser gegenüber (WG, 111); die bei aller mittelalterlich-romantischen Staffage moderne, rational geordnete deutsche Landschaft findet ihren Kontrast in der polnischen Bukolik; die patriarchale Ordnung mit einem Kaiser an der Spitze und der Obersten Heeresleitung, in der sich das strategische Denken Deutschlands konzentriert, steht im Gegensatz zur Herrschaft der »Mutter Polen«, die – zu jeglicher kognitiven Leistung unfähig – keinerlei Ziele oder Interessen, sondern allenfalls Begierden zu kennen scheint (WG, 155).22 Diese Gegensätze werden in der Vorstellung zweier im unerbittlichen Kampf wie in einem Liebesakt ineinander verschlungener Körper aufgehoben (WG, 113, 119), die der Roman an einer anderen Stelle in das Bild des Yin und Yang fasst (WG, 203). Twardoch lässt keinen Zweifel daran, dass er im Bereich jener kollektiven Selbst- und Fremdimaginationen operiert, durch die sich ein politischer Verband erst konstituiert.23 Er baut Gegensätze auf, um sie in der Figurenrede für letztlich 20 »Niemcy były wspólna˛ Krwia˛ z Blutfabrik, były wodami Renu, […] były lieder Schuberta, były Czarnym Słon´cem, […] były noca˛ i mgła˛, były wszechogarniaja˛ca˛ zasada˛, były idea˛ wszechporuszaja˛ca˛, były jedyna˛ tres´cia˛ z˙ycia i jedynym jego sensem […]; ale przeciez˙ nie były z˙ywe. […] A Matka Polska była z˙ywa […], i rosła Matka Polska swoim wielkim pie˛knym ciałem, wypełniaja˛cym Polske˛ tak blisko powierzchni gruntu, z˙e ziemia delikatnie falowała, jak faluja˛ piersi kobiety, kiedy ja˛ mocno cudzic´ […], i otwierała sie˛ w kaz˙dym z mnoz˙nych dworków milionem swoich łon, […] i pachniała Rozkazami […]. Niemcy były idea˛, zasada˛, sensem – Matka Polska była fizycznie […]« (WG, 108f.). 21 Dieser Zusammenhang ist auch in der Kritik bemerkt worden; vgl. Kapela, Jas´: Matka Polska. In: Krytyka Polityczna vom 24. 09. 2010. 22 Vgl. die essayistische Ausfaltung dieses Vorstellungskomplexes in: Twardoch, Szczepan: Aksolotl narodów. In: Czas Fantastyki 2009, H. 4. 23 Dies wird in den Zusatzmaterialien zur Erstausgabe des Romans auch explizit formuliert: »[W] ›Ewiger Tannenberg‹ liczy sie˛ to, co trwa nie na kartach specjalistycznych ksia˛z˙ek, lecz w powszechnej, popkulturowej s´wiadomos´ci« (im Roman ›Ewiges Tannenberg‹ zählt nicht, was

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irrelevant zu erklären.24 Auf der elementaren, anthropologischen Ebene – so scheint der Roman zu proklamieren – seien alle Menschen, Polen wie Deutsche, gleich. Sie könnten somit allenfalls im phantastischen Chronotopos des »ewigen Tannenberg«, d. h. nach ihrer »aanthropischen Verwandlung«, eine Nationalität haben.25 In der historischen Welt hingegen, vor allem in der vormodernen Zeit des »wirklichen Tannenberg«, bevor die Ordnungsvorstellung »Nation« sich durchgesetzt und die Statushierarchien der nach Berufsgruppen und Ständen gegliederten Feudalgesellschaft überlagert habe, seien alle Merkmale, die eine Zugehörigkeit zu einer Nation herstellen und das Nicht-Identische ausschließen, als kontingent zu betrachten.26 Darüber hinaus werden beide Nationen als Produkte »romantischer Sublimierung« (WG, 116) einander gleichgesetzt: Beide hätten sich in einer Epoche konstituiert, die nicht die Vernunft, sondern den »Volksgeist« zum Prinzip erhoben und in einer vorgestellten Gemeinschaft verankert hatte – ein Glaube, der Hekatomben von Menschenopfern gefordert und diese mit Erfolg verherrlicht hätte. Es hieße allerdings, die wirkungsvoll inszenierte Polyvalenz des Romans zu verkennen, wenn man »Wieczny Grunwald« auf dieses, in seinen Grundzügen aus der Forschung zur Nationenbildung vertraute, diskursive Substrat festlegen wollte. Schon mit dem ersten Satz meldet sich nämlich ein Ich-Erzähler zu Wort, der nicht nur aus der Perspektive »von jenseits der Zeit« spricht, sondern als »Bastard« und »Hurenkind« eine irritierende Position zwischen den Ständen, Nationen und Sprachen einnimmt. Twardoch greift hier die im gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurs, aber auch in der Phantastik beliebte Figur des in der einschlägigen Fachliteratur festgehalten ist, sondern das, was im allgemeinen, popkulturellen Bewusstsein fortdauert). 24 »A w tej waszej płaczliwej historii w ogóle jestes´cie identyczni. Wy i Niemcy. Wydaje sie˛ wam, z˙e jestes´cie zupełnie inni, ale to nieprawda. Przez˙ywacie bardzo te róz˙nice: Polakom wydaja˛ sie˛ Niemcy wynios´li, agresywni, wrodzy, ale tez˙ porza˛dni i solidni, […] to strach wymieszany z nienawis´cia˛ i podziwem. Polacy zas´ Niemcom wydaja˛ sie˛ brudni, niezorganizowani, skłonni do szalen´stwa, to pogarda wymieszana z odraza˛ i jednoczes´nie z podziwem […]« (WG, 115f.). 25 »[C]złowiek nie moz˙e byc´ prawdziwie Polakiem ani Niemcem, za wiele maja˛ wspólnego ludzie Polacy i ludzie Niemcy, przeciez˙ kiedy ich zwlec z mundurów i insygniów, i kiedy s´pia˛, kiedy kopuluja˛, kiedy sraja˛, kiedy sie˛ poca˛, to niczym sie˛ nie róz˙nia˛ […]. [P]rawdziwa˛ narodowos´c´ maja˛ tylko aantropy […]« (WG, 189). 26 »[W] istnem ´swiatowaniu nie bardzos´m rozumiał, kto jest Polak, a kto Niemiec, bardziej sie˛ liczyło, czy ktos´ jest handlerz, czy sedlak wiejski, czy luz´ny człowiek, jak ja, czy pan, czy cham. […] A nie było jeszcze wtedy […] narodu. Narodu jako tego, co za waszych czasów stało sie˛ rzeczywistos´cia˛ absolutyzuja˛ca˛ cała˛ kulture˛, bo i muzea macie narodowe, i muzyke˛ narodowa˛ […], i narodowy charakter, […] i narodowe je˛zyki […]. A w moim istnem ´swiatowaniu byli Polacy i Niemcy, i Czesi, i Szla˛zacy, i Francuzi tacy czy inni, ale to ich okres´lało niejako przygodnie, mniej niz˙ to, z˙e byli rymarzami, handlerzami albo rycerzami, poddanymi swoich króli i synami swoich ojców i, potrafia˛c sie˛ odróz˙nic´ od innych po kryterium je˛zyka, nie czuli przeciez˙ ze swoimi z˙adnej wspólnoty szerszej niz˙ granice własnej pozycji społecznej« (WG, 89f.).

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Anderen oder Fremden auf,27 jedoch nicht, um in der polar strukturierten Welt seines Romans ein anarchisches Gegenprinzip zu etablieren, sondern um Ressentiment, Hass und Gewalt als einen wesentlichen Antrieb der Geschichte auszuweisen. Paszko – illegitimer Sohn des polnischen Königs Kazimierz Wielki und der Tochter eines Nürnberger Kaufmanns, in einem Gewaltakt gezeugt – fällt aus der jeweiligen Ordnung von Staat und Gesellschaft heraus und gefährdet diese sowohl in ihrer symbolischen Konstitution als auch in ihrem Bestand. In allen Varianten seiner Biographie, die er in Rückblicken erzählt, bleibt er Außenseiter, der seinen prekären Status als »Mischling« zu überwinden sucht. Twardoch lässt diesen Erzähler auf dem Schlachtfeld des »wirklichen« Tannenberg gegen alle antreten und in diesem Kampf sterben, um ihn dann in veränderten Konstellationen immer wieder aufwachen zu lassen.28 Er setzt damit ein Erzähler-Ich ein, das die verschiedensten Stränge der realen und der möglichen Geschichte in der notwendig lückenhaften Synthese seines subjektiven Blicks ordnet. Die Erzählerstimme ist dadurch gleichsam synthetisch: Paszkos »Ich« ist als ein »Wir« konstruiert, in dem vielerlei Stimmen – durch sprachliche Stilisierung kenntlich gemacht – zusammenfließen.29 Die Gültigkeit des Berichts, den der Erzähler an die »fernen Zeugen« seines Lebens adressiert (WG, 14), wird dadurch fortwährend unterminiert,30 auch dort, wo der Roman seinen Sinn explizit und diskursiv auszusprechen scheint. Dieser Erzähler stellt aus der variantenreichen Vielfalt des Durchlebten nur einige, subjektiv bedeutsame Verläufe heraus. Das »ewige Tannenberg«, in dem der deutsch-polnische Antagonismus, von seinen menschlichen Trägern abgelöst, idealtypisch ausgeprägt scheint, ist somit nur eine, wenn auch stets reproduzierte Konstellation, in der das Töten keines legitimatorischen Rückhalts mehr bedarf, sondern als das zelebriert wird, was es ist (WG, 36, 41). Bei aller Herausstellung des Konstruktcharakters von Geschichte, die »Wieczny Grunwald« 27 Hierzu u. a. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 28 »Potem zas´ mnie zabili i spadłem w ciemnos´c´, i umierałem z radosna˛ nadzieja˛, z˙e spadam w ciemnos´c´ przezwieczna˛, w przezwieczne i wszechogarniaja˛ce nic-nie-ma, nigdy-nie-bycie. A potem zbudzili jesmy, nadzy, przeraz˙eni i smutni, bo gdaz˙ nas zbudzono, to juz˙ wszystko wiedzieli jesmy i rozumieli jesmy, my, wszyscy Paszkowie, którzy byli jesmy i którzy byc´ mogli jesmy, zlani w Paszka jednego, we Wszechpaszka, przezwiecznie umieraja˛cego miliony przezwiecznych umieran´ w milionach wa˛tków Historii – iluzji, tego stosu pastiszów i parodii istnych ´swiatowan´« (WG, 106). 29 »[ J]estem wie˛c i z˙ywy, i martwy, i dobry, i zły, i zwycie˛ski, i przegrany, i godny, i niegodny […], i tylko soba˛ samym nie jestem, nie ma ›ja‹, jest tylko ›my‹, my, Paszkowie, zlani w jedno« (WG, 177f.). 30 U. a. durch Modalisation und Auffächerung der Erzählperspektive. Vgl. stellvertretend: »Wie˛c jak było w istnem s´wiatowaniu? Na pewno zabiłem machlerza, prawie na pewno zabiłem machlerza, raczej zabiłem machlerza, chyba zabiłem machlerza, moz˙e zabiłem machlerza« (WG, 133).

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als einen metahistorischen Roman31 ausweist, insistiert der Erzähler auf die Realität dessen, was in den Mythen der Nationen letztlich vergessen bleibt, und spricht von seinem Leiden unter physischer und symbolischer Gewalt.32 Zugleich nimmt er unterhalb der Oberflächenwirklichkeit eine Tiefe an, aus der numinose Mächte (»schwarze Götter«) hervorbrechen, um die Menschen zu ihren Werkzeugen zu machen. Er hält damit, angesichts der Scheinhaftigkeit dieser Welt, explizit die Möglichkeit offen, dass alles Leiden letztlich nichtig sei.33 Die Chronologie seines Berichts über sein »wahrhaftes Welten« (istne s´wiatowanie), das Paszko vom nachfolgenden »ewigen Sterben« (przezwieczne mrzenie) abhebt, wird durch eine zyklische Zeitstruktur überlagert, bis schließlich im »ewigen Tannenberg« alles Historische zum Stillstand kommt. Darin prägt sich erzählstrukturell der den Roman kennzeichnende Geschichtspessimismus – die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr der Geschichte als Krieg – aus. Diese Konstruktion scheint keinerlei Perspektive des Widerstands zu bieten, keine Hoffnung auf einen Ausbruch aus dem Kreislauf der Gewalt oder zumindest darauf, darin einen Sinn zu erkennen. Die naturalisierende Deutung des Historischen unterstreicht die negative epistemologische Einsicht, dass in der Welt des Leidens keine Logik zu finden sei (WG, 185). Paszko phantasiert sich denn auch in eine Nichtexistenz, die der Roman – auf vermittelte Weise oder explizit zahlreiche Philosopheme (vornehmlich östlicher Herkunft) zitierend34 – im Bild des großen, schwarzen Nichts fasst. Umso überraschender ist der Schluss des Romans, in dem der Erzähler aus der Logik nationaler Zuschreibungen und 31 Hierzu Nünning, Ansgar: Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion: Bausteine für eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorie, Typologie und Geschichte des postmodernen historischen Romans. In: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp. Berlin, New York: de Gruyter 2002, S. 541–570. 32 »A wy, przekle˛ci, z˙yjecie w kłamstwie, w którym moje z˙ycie wydaje sie˛ wam nalez˙ec´ do historii, do tego, co było kiedys´, a to, co było kiedys´, to jakby nie było, i moje cierpienie zdaje sie˛ wam cierpieniem nieistnieja˛cym, bo nie waszym, […] pamie˛tacie tylko o pomnikach i ksia˛z˙kach, które zbudowali i napisali wasi dziadowie […], ale to wszystko nieprawda.« 33 »Czy wtenczas tan´cowali na niebie czarni bogowie sa˛? Czys´m ich przys´nił w tym s´nie s´miertelnym, tak jak s´nie˛ Wieczny Grunwald, to jest raczej s´ni go wszechboz˙ek, ten sam, co s´ni mnie, który jestem tylko widziadłem sennym wszechboz˙ka? Ale widziadła, mary senne, iluzje cierpia˛ i to cierpienie jest juz˙ prawdziwe, bo boli, boli mnie, Wszechpaszka, który jestem przeciez˙ złuda˛, ale boli tego pseudomnie, co nie jest mna˛, boli po stukroc´, po tysia˛ckroc´, miriady cierpien´ we wszystkich moich z˙yciach, jestem wie˛c ten, który nie jestem, a boli, jakbych był« (WG, 133). 34 Dem Roman ist ein Vers aus dem zweiten Gesang der Bhagavadgita als Motto vorangestellt (»Die Kundigen trauern weder über die Toten noch über die Lebenden«); die zugehörige Szene – Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, ermahnt darin Arjuna, der mitten in einer Schlacht zögert, gegen die Feinde vorzugehen, seine Pflicht als Krieger zu tun – wird auf vielfältige Weise mit der Geschichte Paszkos verwoben, explizit auf S. 129f. Der Text integriert damit zahlreiche indische Philosopheme, die in ein Netz von Bezügen unterschiedlichster Herkunft eingebettet sind.

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Vereinnahmungen aussteigt und das Schlachtfeld verlässt, um ins ersehnte Nichts einzugehen.35 »Wieczny Grunwald« stellt damit die Frage nach der Dialektik von Selbst- und Fremdbestimmung, die der Roman »Morphin« auf realhistorischer Folie inszeniert.

II.

»Morphin«. (Nationale) Identität als Performanz

»Morphin« verzichtet auf phantastische Elemente und richtet den Fokus auf einen historisch und topographisch genau situierten Schauplatz jenes »ewigen« Krieges: Warschau im Oktober 1939, zwei Wochen nach der Kapitulation. Letzte versprengte Truppenteile kämpfen noch, Regierung und Armeeführung sind aber längst nach Rumänien geflüchtet und das Besatzungsregime beginnt, seine Macht einzurichten. Der Roman hält somit eine Übergangszeit nach dem Zusammenbruch des polnischen Staates fest, als »die Welt noch flüssig ist, zu keiner Form geronnen« (M, 316), und eine neue »Ordnung der Dinge« (M, 8) allmählich Gestalt gewinnt.36 Die Topographie der Hauptstadt ist im Detail recherchiert, ebenso der Alltag und die Reaktionen der Bevölkerung auf die Niederlage, die die Siegeszuversicht der Staats- und Armeeführung, aber auch die patriotische Hochstimmung im Zeichen der Mobilmachung als Selbsttäuschung entlarvte.37 Kriegszerstörungen, Versorgungsschwierigkeiten, Preise für die Lebensmittel, Straßenhandel und der entstehende Schwarzmarkt, amtliche Mitteilungen und die Bekanntmachungen der Besatzungsmacht – all dies wird sorgfältig registriert. Dem Leser aber erschließen sich solche Details fast ausschließlich in der subjektiven Wahrnehmung eines Süchtigen, der Warschau auf der Suche nach Morphin oder im Auftrag des sich formierenden Untergrunds durchstreift. Protagonist und Ich-Erzähler des Romans ist der 30-jährige Konstanty Willemann, Sohn der deutsch akkulturierten Schlesierin Katherine Willemann, die in einem Akt »absolute[r] Überschreitung« (M, 161) beschließt, Polin zu werden, und diese »Transgression« vervielfacht, indem sie ihren Körper einsetzt. Twardoch lässt diesen voluntativen Akt nicht zufällig in einer psychiatrischen Anstalt 35 »I nagle rozumiem: nie powinienem robic´ tego, co chce˛ zrobic´ i co zawsze robie˛. Odpinam miecz, zrzucam kapalin, chwytam wodze konia […] i jade˛. Odrywam mojego sztukasa od klucza. Zawracam pume˛. Odchodze˛ spomie˛dzy szeregów […]. I bitwa zostaje za mna˛ […]« (WG, 209). 36 Zitate aus dem Roman beziehen sich auf die E-Book-Ausgabe: Twardoch, Szczepan. Morphin. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014. [Im Folgenden unter der Sigle »M« mit Seitenzahl im Text nachgewiesen.] 37 Twardoch verarbeitet hier mehrere Quellen, u. a. die monumentale Chronik von Bartoszewski, Władysław: 1859 dni Warszawy. Kraków: Znak 2008 (zuerst 1974). Zur Wahrnehmung der Septemberniederlage in den Aufzeichnungen der Zeitzeugen vgl. Zaleski, Marek: Zagubiona szansa. In: Ders.: Formy pamie˛ci. Gdan´sk: słowo/obraz terytoria 2004, S. 120–139.

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stattfinden, in der die Nymphomanin hospitalisiert (sprich: von ihrem bürgerlichen Umfeld isoliert) wird. Nach ihrer Entlassung verführt sie den preußischen Aristokraten Baldur von Strachwitz; die skandalträchtige Ehe endet aber, als dieser 1914 in den Krieg zieht, um mit verstümmeltem Gesicht und ebensolchem Geschlecht zurückzukehren. Katarzyna Willemann geht mit ihrem Sohn nach Warschau, erzieht ihn zum Polen und verleugnet vor ihm den Vater, indem sie vorgibt, Strachwitz sei im Kampf gegen die schlesischen Aufständischen am St. Annaberg gefallen. Die Engführung von »Nation«, »Sexualität« und »Wahnsinn«, die sich hier andeutet, prägt sich in »Morphin« – mit unterschiedlicher Intensität und im Einzelfall teilweise wieder aufgelöst – auf allen Ebenen aus: in der Plotstruktur wie in der Figurenkonstruktion und -konstellation, auf der Ebene des Erzähldiskurses und seiner sprachlichen Manifestation,38 schließlich in der dichten intertextuellen Verweisstruktur des Romans. Es liegt nahe, die Beziehung zwischen Mutter und Sohn – und damit das Verhältnis Konstantys zu Polen, denn in seinen Augen sind Mutter und Polen eins – psychoanalytisch als eine Fusion von Subjekt und Objekt zu begreifen, die die Entwicklung eines Selbst beim Sohn nicht zulasse.39 Für die hier unternommene Lektüre soll jedoch ein theoretischer Rahmen vorgeschlagen werden, der darüber hinausgehend wichtige Aspekte des Romans in den Blick zu nehmen erlaubt. Mit dem Begriff der Performativität bzw. Performanz sollen Diskurse über Identität aufgegriffen werden, die linguistische Ansätze der Sprechakttheorie mit Theatralitätskonzepten verknüpfen.40 Hier ist u. a. Judith Butlers konstruktivistische Auffassung von Performativität zu nennen, die die Vorstellung eines autonomen, intentional agierenden Subjekts verabschiedet und annimmt, dass Identität sich durch wiederholte performative Akte als Effekt regulativer Diskurse der Gesellschaft (wie »Geschlecht« oder »Rasse«) konstituiert. Die Subjekte wählen demnach keine Identität aus, die sie dann in Handlungen zur Aufführung bringen, sondern erfahren eine »Anrufung« zu einer Identität.41

38 So wird beispielsweise das besiegte Warschau mehrfach als Opfer sexueller Gewalt metaphorisiert; vgl. u. a.: »Warschau atmet schwer […], die Weichsel wäscht Warschaus wunde Scham« (M, 87). 39 Vgl. Bielik-Robson, Agata: »Morfina«, albo psychoanaliza polskos´ci. In: Krytyka Polityczna vom 06. 01. 2013. 40 Hierzu vgl. u. a. Friedman, Susan Stanford: Das Sprechen über Grenzen, Hybridität und Performativität. Kulturtheorie und Identität in den Zwischenräumen der Differenz. In: Mittelweg 36 (2003), Nr. 5, S. 34–52. Siehe auch: Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Hrsg. von Christoph Wulf, Michael Göhlich und Jörg Zirfas. Weinheim, München: Juventa Verlag 2001. 41 Vgl. u. a. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (= Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. 1990); dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag 1995 (= Bodies That Matter: On the Discursive Limits of »Sex«. 1993).

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Twardoch schafft in der Figur des Konstanty Willemann einen Protagonisten, der in eben diesem Sinn angerufen wird: Sein Name soll hervorbringen, was er benennt, doch gerade das ist Konstanty nicht. Während Katherine ihr Selbst in nietzscheanischer Manier aus dem Willen formuliert, ein Selbst – als Polin – zu sein, steht es ihrem Sohn nicht frei, sich selbst zu erschaffen. Er muss Pole werden, denn dies ist der Wille seiner Mutter, die sein Leben finanziert: »Ihr Wille hat dich geformt, sie hat deinen weichen Stoff in die polnische Form gegossen und dich im Ofen gebrannt, und jetzt bist du ein unverformbarer, ausgehärteter Pole. Ihr Wille hat das bewirkt« (M, 117).

Der Begriff der Form erweist sich damit als Dreh- und Angelpunkt des Romans, der sein Thema auf vermittelte Weise schon im Titel ankündigt: Der lexikalische Stamm in »Morphin«, »Morphe«, bedeutet »Form« oder »Gestalt«.42 Morphin ist zugleich ein Anästhetikum, mit dem Konstanty die Angst betäubt, wie sein Vater, in dessen Namen das polnische Wort »strach« anklingt, Gesicht und Geschlecht zu verlieren, die im Zusammenhang des Romans als Chiffren für soziale Anerkennung, Zugehörigkeit und Macht zu verstehen sind. Es ermöglicht dem Protagonisten die ihm einzig zugängliche Form der Selbstüberschreitung, die er selbst als Flucht begreift.43 »O Macht der Form!«, ruft der Erzähler in »Ferdydurke«, einem Roman von Witold Gombrowicz aus dem Jahr 1937, den Twardochs »Morphin« an zahlreichen Stellen implizit zitiert. Der Einzelne, so Gombrowicz, sei nur fähig, sich dem Druck des Gesellschaftlichen auf das Individuum zu widersetzen und sich als Subjekt zu bewahren, wenn er zu seinem tiefsten Ich gelangen und sich darauf stützen könne.44 Gerade das bleibt dem Protagonisten in Twardochs Roman 42 Twardoch bestätigt diesen Zusammenhang in einem Interview; vgl. Polskos´c´ jest kobieca. Ze Szczepanem Twardochem rozmawia Justyna Sobolewska. In: Polityka vom 29. 01. 2013: »Zamiast tej formy wole˛ słowo, którego nauczyłem sie˛ od Jacka Dukaja – morfa.« 43 Konstantys Wollen ist primär als Begehren modelliert – geschlechtlich, zugleich unverkennbar dem Willen Schopenhauers nachgebildet: grundlos, durch nichts endgültig zu befriedigen und damit eine Quelle von Leiden, die der Protagonist mit Morphin betäubt. Vgl. »Warschau erlischt. Mein Leben erlischt. […] Nichts mehr da, ich bin in der Mitte der Dunkelheit, ohne Körper, ohne Gedanken, ohne alles, das reine, passive Ich, das Nicht-Ich, das nicht da ist.« (M, 25, 27). 44 Für Gombrowicz hat diese Argumentation allerdings »einen fatalen Haken. Denn wenn ich immer künstlich bin, definiert durch eigene formale Notwendigkeiten sowie durch andere Menschen und die Kultur – wo ist denn dann dieses mein ›Ich‹ zu suchen? Wer bin ich wirklich, und in welchem Grade ›bin‹ ich überhaupt?« So prägt er als »armseliges Palliativ« die Formel: »Mein ›Ich‹, das ist lediglich mein Wille, ich selber zu sein, nichts weiter.« Vgl. Gombrowicz, Witold: Dialog über die Form. In: Ders.: Eine Art Testament. Gespräche und Aufsätze. Frankfurt a. M.: Fischer 1998, S. 51–67, hier: S. 62. Zum Ich-Begriff bei Witold Gombrowicz vgl. den Beitrag von Olaf Kühl in: Gombrowicz in Europa. Deutsch-polnische Versuche einer kulturellen Verortung. Hrsg. von Andreas Lawaty und Marek Zybura. Wiesbaden: Harrassowitz 2006, S. 279–288.

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verwehrt. Die gesellschaftlichen Formen geben ihm Halt, stabilisieren sein Ich zumindest zeitweise in einer Rolle: als Bonvivant, Gentleman und Sportsmann mit Verbindungen zur Unterwelt,45 als Ehemann und Vater, als Künstler, als Reserveleutnant in einem Ulanen-Regiment, als Pole und zuletzt als Deutscher – »alles halb, zum Verführen reicht es gerade, zum glaubwürdigen Versprechen, aber nicht, um die Versprechen einzuhalten« (M, 48). Seine Identitätskonstitution ist somit als schillerndes Wechselspiel zu begreifen, das einen für den Erzähler fundamentalen Mangel verdeckt. Dessen »Ich« konstituiert sich nämlich als das Ergebnis einer Individuation mit vorgegebenem Ziel – »Mein ganzes Leben unter diesem Zeichen: Pole sein. Pole sein« (M, 324) –, die allenfalls als selffashioning im Sinne Stephen Greenblatts wie auch wörtlich46 bestimmt werden kann. Wiederholt ist in »Morphin« explizit vom Imperativ der Form in den Beziehungen zwischen den Menschen die Rede – eine Formel, die Gombrowicz für das unablässige Sich-selbst-Erschaffen von Menschen in Interaktionen, im gegenseitigen Sich-zueinander-Verhalten benutzte. Der Protagonist des Romans ist damit als ein Mann ohne Eigenschaften konturiert,47 der angesichts der eigenen Unbestimmtheit auf die performative Ausformung eines Ich angewiesen ist – als Pole und als Mann. Twardoch stattet ihn zugleich mit einer grundsätzlichen Schwäche aus: Konstanty ist nicht fähig, in der Berührung mit der Form anderer seine eigene, ohnehin schwach ausgeprägte, aufzuzwingen, sondern erliegt der Dynamik jeder sozialen Situation, in der er sich gerade befindet.48 Der Krieg konfrontiert den Erzähler mit einer umfassenden Veränderung seiner Lebenswelt(en). Die bekannte Ordnung löst sich auf, die sozialen Strukturen geraten ins Gleiten.49 Auch die äußeren Statussymbole, die ihn definierten, gelten nicht mehr: Sein Auto ist konfisziert, die Mode verändert, in den Cafés wird auf Anordnung der Besatzer Eintopf serviert. Twardoch schöpft hier das Potential der Theatermetaphorik aus, nicht nur dort, wo Konstanty die unge45 Darin wird ein weiteres Moment der Performanz ins Spiel gebracht – der Trieb zur Imitation, den die Theorie als interkulturelle Mimesis beschreibt (vgl. explizit M, 111, 211). 46 Greenblatt verwendet diesen Begriff in »Renaissance. Self-Fashioning« (1980) für die theatralische Selbstinszenierung namentlich der frühneuzeitlichen höfischen Menschen. Bei Twardoch geht es vornehmlich um den explizit herausgehobenen Aspekt der öffentlichen Performanz, aber auch um identitätsstabilisierende Praktiken des Sich-Kleidens, die der Erzähler wiederholt und ausführlich beschreibt. 47 Vgl. Majmurek, Jakub: Kimkolwiek jestes´, panie Willemann. In: Krytyka Polityczna vom 21. 11. 2012. 48 »Die Sache läuft von allein weiter, wie alles in deinem Leben, angetrieben nicht von deinem Willen, sondern von den Anziehungs- und Schwerkräften, die jeder gesellschaftlichen Situation innewohnen, in die du gerätst und denen du dich nicht widersetzen kannst […]« (M, 242). 49 »Die Gesellschaft zerfallen, es gibt jetzt weder Juden noch Griechen, weder Damen noch Huren, weder Professor noch Dieb« (M, 8).

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wohnten Regeln des gesellschaftlichen Umgangs und die neuen Kostüme registriert. Szenen, in denen der Erzähler der Macht der »polnischen Form« erliegt und sich dem Widerstand anschließt, sind nach dem Muster Gombrowiczscher Grimassenschneiderei modelliert, die in »Morphin« mit den Worten »Polen«, »Ehre« und »Verrat« in Gang gesetzt wird – wie überhaupt Konspiration als Theater mit eigener Dramaturgie verstanden wird. Ein wesentlicher Aspekt von Performanzen deutet sich hier an: das besondere Verhältnis zwischen Akteur und Betrachter. Aufschlussreich sind die Blickarrangements, die der Roman inszeniert. Sie zeigen, dass Konstanty in anderen Menschen sich selbst anschaut, weil er der Anerkennung im Anderen und durch Andere bedarf. Die Frage »Wer bin ich?« lautet somit: »Wer bin ich in ihren Augen?« Die narzisstische Selbstbetrachtung in den Augen der Anderen scheint somit für die Konstitution seines Ich eine ähnliche Funktion zu erfüllen, wie sie in der einflussreichen Konzeption von Jacques Lacan dem Spiegelstadium zukommt. So führt Lacan aus, wie sich beim Kind die psychische Funktion des Ich mit der Verschiebung der Selbstwahrnehmung vom fragmentierten Bild des Körpers zu einer ganzheitlichen Oberfläche konstituiert: Das Kind sieht sich im Spiegelbild erstmals als Einheit; dies führt zur Setzung eines Ideal-Ich, mit dem das Kind sich identifiziert. Da es im Spiegel nicht einfach nur sich, sondern sich in seiner Umwelt sieht, impliziert diese Identifikation, dass das Kind immer auch den Blick der anderen übernimmt.50 Twardochs »Morphin« inszeniert diese dialektische Synthese zwischen »Innen« und »Außen« in der unablässigen Selbstbespiegelung des Protagonisten, der in jedem Gegenüber nach Bestätigung sucht.51 Zugleich droht der Blick anderer stets, den Rollenspieler zu entlarven. Die für ihn konstitutiven Gefühle Angst und Scham erweisen sich damit als Spielarten der Sorge um die eigene Subjektposition, die Konstanty als selbstbezogen und fremdbestimmt ausweist. Bereits die erste Szene führt das Spiegelmotiv ein: Als der Erzähler aus seinem Rausch aufwacht, muss er sich wiederholt der eigenen Identität vergewissern, zunächst in dem elementaren Sinn, dass er mit dem Abbild identisch sei: »Er hebt den Kopf. Sieht mich im dreckigen Spiegel. Das bin ich. Konstanty Willemann« (M, 5). Dieser Identitätssatz wird im Roman fortwährend neu ausbuchstabiert, als müsste jenes »Ich« performativ, in wiederholten Akten der Selbstinterpre50 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. Aus dem Französischen von Peter Stehlin. In: Ders.: Schriften. Olten, Freiburg 1973. Bd. 1. 51 »Alles für ihre Augen, für das Bild, das sich in diesen Augen spiegelt. Um zu zeigen, dass ich würdig bin« (M, 52). Konstantys Blick auf die zerstörte Stadt zeigt diese ebenfalls als ein Medium narzisstischer Selbstbespiegelung: »Ich bin draußen. Die Stadt ist nicht meine. Keine Scheiben in den Fenstern, stattdessen ist Papier eingeklebt […]; öfter noch als Papier blindes Sperrholz und die schwarzen Augenhöhlen leerer Rahmen, herausgeschlagener Scheiben« (M, 7).

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tation, überhaupt erst modelliert werden.52 Seine Wiederholungen und Variationen zeigen die psychische Dynamik des Erzählers an, der sich selten Illusionen über die eigene Nichtigkeit macht: »Ich bin ich. Ich bin Konstanty Willemann, ich mag Autos und elegante Anzüge, ich mag keine Pferde, keine Uniformen, keine Versager. Ich – das ist nicht irgendwer. Und dennoch« (M, 7).

Die zitierte Passage ist paradigmatisch für die narrative Strategie Twardochs: Alle Ansätze, die auf die Gewinnung eines Selbst und dessen Stabilisierung zielen, alle Annäherungen an eine Gewissheit, wer man eigentlich sei, werden auf der Erzählebene vor ihrer möglichen Verfestigung wieder dissoziiert: »Ich betrachte mich im Spiegel, ich, das bin ich, aber die Welt ist nicht mehr da, und ohne die Welt bin ich nicht mehr ich, und selbst wenn, dann bin ich nur noch irgendwer« (ebd.). Die Schilderung des Geschehens ist somit an die Perspektive eines erzählenden Ich gebunden, das sich in fortlaufender Variation ohne feste Basis konstituiert. Zugleich wird auf der makrostrukturellen Ebene seine Erzählhoheit über das eigene Leben fortwährend unterminiert. Nicht immer lässt sich zweifelsfrei ermitteln, wer eigentlich spricht. Bereits der Beginn des Romans lässt angesichts der permanenten Verschiebung der grammatischen Bezüge vom »Ich« zum »Du« und »Er« Zweifel an einem gesicherten Erzähler-Ich aufkommen. Man 52 Eine Synopse relevanter Textauszüge macht dies deutlich: »Ich bin Konstanty Willemann, ich mag Autos und elegante Anzüge, ich mag keine Pferde, keine Uniformen, keine Versager« (M, 7); »Ich bin ein Niemand. […] Ich, Nicht-Ich, Niemand-Ich« (M, 38); »Ich: Zivilist. Ich: Nicht registrierter Reserveoffizier, besiegter Kostek, zerschlagener Kostek, […] Kostek der Hurenbock, Kostek der Morphinist, ausgehöhlter Kostek […]« (M, 89); »ich bin kein Deutscher, ich bin Konstanty Willemann und habe nur einen polnischen Pass, sonst nichts« (M, 109); »Ich bin Konstanty Willemann und bin ein guter Sohn meiner Mutter. Bin ich nicht. […] Ich bin Konstanty Willemann und hasse meine Mutter. […] Ich bin Konstanty Willemann, und mir ist scheißegal, ob ich Deutscher oder Pole bin« (M, 302); »Ich bin Konstanty Willemann und ich bin Warschauer« (M, 302); »In Wirklichkeit bin ich nicht Konstanty Willemann. Nicht Baldur von Strachwitz. Ich bin nicht. In Wirklichkeit bin ich nicht« (M, 303); »Ich bin Baldur von Strachwitz, ich mag Frauen […], ich habe Angst vor Frauen, der Welt, vor den Menschen, ich habe Angst vor allem« (M, 308; im Original deutsch); »Ich bin Strachwitz. Ich bin schlesischer Uradel. Ich bin kein Strachwitz. Ich bin Konstanty Willemann […], ich ward von meiner Mutter unbefleckt empfangen« (M, 353); »Ich weiß nicht, wer ich bin« (M, 369); »Ich bin Konstanty Willemann, und es ist nicht wichtig, was ich mag und was ich nicht mag. Wichtig ist, dass ich da bin« (M, 382); »Ich bin. Ich bin Konstanty Willemann oder – Konstanty Willemann ist ich? Konstanty Willemann ist ich – das heißt, mein ganzes Sein erschöpft sich in Konstanty Willemann, während Ich bin Konstanty Willemann bedeutet, dass dies eine Rolle ist, die mein Ich spielt, das auch andere Seiten hat, die nicht Konstanty Willemann sind« (M, 383); »Ich bin Konstanty Willemann, und das ist schon etwas, aber immer noch zu wenig […]« (M, 388); »Ich bin Konstanty Willemann und fertig, mehr nicht« (M, 389); »Ich bin Konstanty Willemann, und das heißt nicht mehr, als dass ich Konstanty Willemann bin […], das definiert mich vollständig und beschreibt mich zur Gänze. Ich bin auf dieser Welt nur da, um zu sein« (M, 390); »Ich will nichts. Ich bin Konstanty Willemann« (M, 398); »Ich bin Konstanty Willemann Lüge. Ich mag Autos Lüge. Ich mag keine Pferde Lüge« (M, 405).

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ist zunächst geneigt, in dieser Instabilität der Verbformen den Ausdruck einer Ich-Dissoziation zu sehen, wie sie durch Morphin ausgelöst wird. Im Fortgang des Romans schält sich aber immer deutlicher eine weitere Erzählinstanz heraus, die für den Leser erst allmählich Konturen gewinnt: »Jemand geht mir nach, ich kenne ihn. Kostek kennt mich, weiß, wer ich bin, dreht sich nicht um. Hat Angst, mich zu sehen, aber er kann mich gar nicht sehen. […] Ich spüre, ich weiß: Der, der hinter mir geht, nähert sich, gleicht seinen Schritt meinem an […], legt mir die Hände auf die Schultern, […] und so gehen wir, meine Linke, seine Linke, meine Rechte, seine Rechte […], auf Armlänge, und er umgibt mich mit diesen Armen, und wir gehen, er geht direkt auf die Streife zu, […] der da hinter mir geht, macht, dass sie vor mir auseinandertreten, vor ihm, stehen bleiben, ich frage mich, ob sie salutieren? Sie salutieren nicht, stehen nur verblüfft da, ich gehe vorbei, der hinter mir geht, verliert sich irgendwo, und ich gehe wieder allein und doch nie allein, einsam, nicht allein. […] Der oder die?« (M, 28f., 50)

Twardoch stattet jene Erzählinstanz mit einem olympischen Überblick aus: Sie bewegt sich souverän in der biographischen Zeit der Figuren wie in der historischen Zeit, greift vor, präsentiert sich als eine ironisch-überlegene Kommentatorin des Geschehens, die die Selbstinszenierungen Konstantys als Selbsttäuschungen entlarvt. Die Doppelung der Erzählerstimme mit ihrer Struktur von Abfolge und Überlagerung bewirkt so eine offene Kollision zwischen Schein und Sein, ohne Letzteres essentialistisch zu fixieren.53 Der Roman belässt diese Instanz letztlich im Ungreifbaren. Auch die intertextuelle Referenz auf T. S. Eliots »Waste Land« in der Figur des »Dritten, der neben dir geht«54 löst die Ambiguität nicht auf; vielmehr wirft sie die Frage nach dem ontologischen Status der zweiten Erzählerstimme auf. Einiges spricht dafür, sie als das »Es« – diejenige psychische Instanz, die in Freuds Topologie das Triebhafte repräsentiert – zu verstehen. Die Stimme redet beständig auf den Protagonisten ein, treibt ihn an, warnt ihn, und was sie sagt, gelangt unter-

53 Vgl. u. a.: »Ich sehe dich an und überlege, wie leicht sich jemand täuschen lassen könnte, sogar jemand, der alles weiß: Der weiß von deinem kristallenem Champagner Wodka Morphin Kokain von den Frauen von Salomé Iga Dzidzia von den Autos und Pferden und der polnischen Uniform von dem Zivilanzug dem ausgeschälten Auge der Lemberger Kanaille, […] von der deutschen Uniform und deiner Mutter und deinem Vater ohne Gesicht […], doch ich weiß, Kostek, ich weiß, weiß alles. Denn was gibt es hier schon zu wissen. Dich gibt es nicht; du bist leer, im Innern leer, ein hohler Mensch […]« (M, 359f.). 54 Der Roman zitiert im inneren Monolog des Protagonisten die betreffenden Verse wörtlich und weist sie im Kommentar der übergeordneten Erzählstimme explizit als Eliots Denkbild aus: »Wer ist dieser Dritte, der immer neben dir geht? […] Wessen Worte sind das, die des Dichters, dessen Namen du vergessen hast, Kostek, […] und sie klingen dir im Kopf, weil ich sie gerade ausspreche« (M, 191). Das mehrfach wiederholte dreifache »Shanti« (»Der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft«) zitiert die Schlussformel der Upanischaden, mit der auch Eliots Poem schließt.

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schwellig in das Bewusstsein Konstantys, der sich selbst als gedoppelt und widersprüchlich erlebt: »Wie schlecht und wie gut, Kostek, dass du mich nicht hören kannst, dass nur das Echo meiner Stimme dich irgendwo unter dem Schädeldach erreicht, schwarze Tropfen entfließen mir irgendwo dort, wo du geboren wirst, Kostek, wo DU geboren wirst, in jedem Bruchteil jeder Sekunde, und deshalb bin ich du, Kostek« (M, 191).

In der Aufspaltung der Erzählinstanz wird zugleich die Dialektik von selbständigem und unselbständigem Bewusstsein inszeniert, wie sie Hegel im Gleichnis von Herr und Knecht beschreibt.55 Hegel schildert darin die sukzessive Entfaltung der Freiheit des Selbstbewusstseins im Durchgang durch die Erfahrung der inneren Zerrissenheit – ein Prozess, der im »unglücklichen Bewusstsein« und seiner schließlichen Überwindung kulminiert. So bildet die »Logorrhö« des Erzählers (M, 359) die Reflexionsbewegung nach, die er im Erkennen der eigenen Unvollständigkeit vollzieht, um schließlich in der Aufgabe obsolet gewordener Bestimmungen sein Selbstbild und sein Verhältnis zur Realität neu zu justieren. Dies gilt zunächst für seine Mutter, nicht weniger aber für die beiden konträren Frauenfiguren: Konstantys polnische Frau Helena und seine jüdisch-russische Geliebte Sala. Sie erweisen sich als Projektionen des männlichen Protagonisten, der Frauen grundsätzlich verkennt, indem er ihre Subjektivität auslöscht und sie dadurch in Stereotype verwandelt: die entsexualisierte (nationale) Heilige und die Hure. Die Verzerrung liegt im pornographischen Blick des Erzählers, der in Sala Salomé imaginiert,56 vor allem aber in seinem Selbstentwurf als Mann.57 Twardoch operiert hier im zeittypischen Geschlechterdiskurs der modernisti55 So der explizite Hinweis Twardochs in: Polskos´c´ jest kobieca. 2013: »To moz˙e byc´ matka, Polska, czarna bogini, s´mierc´. Ten ›ktos´ trzeci‹ z ›Ziemi jałowej‹ Eliota, przez która˛ jakos´ przyszedł mi do głowy cien´, który idzie za Konstantym. W konspekcie zapisałem: ›ta, która idzie za mna˛‹. Albo jeszcze jungowska anima, albo Polska, sam nie wiem. Jest w kaz˙dym razie na pewno Kostka niewola˛, jego kajdanami. Daje mu to taka˛ heglowska˛ s´wiadomos´c´ nieszcze˛s´liwa˛, która go pe˛ta, jest Konstantego niedokonaniem, niedopełnieniem. A potem, po wszystkim – przechodzi na naste˛pna˛ ofiare˛.« 56 Der Protagonist versichert sich in der Erotisierung des weiblichen Körpers seiner Maskulinität. Aufschlussreich ist der Bezug zu Joseph Conrads Roman »Heart of Darkness« und seiner kolonialen Topik in der Beschreibung Salas: »Salomé schläft, nackt, entblößt […], im schwarzen Dickicht verborgen die weichen Falten der unheilvollen Scham, Kern der Dunkelheit« (M, 77). In Olaf Kühls deutscher Übersetzung fehlt die Passage, in der der sexuelle Akt in Analogie zu Marlowes Expedition ins Innere Afrikas als Reise in eine archaische Wildnis imaginiert wird. Vgl. Twardoch, Morfina. 2013, S. 103. 57 Dieser ist mit den konstitutiven Begriffen »Wille«, »Stärke«, »Tatkraft« und »Macht« als phallisch zu bezeichnen: »Ich simuliere plötzlich männlichen Aufbruch, männliche Eile, zupackende Tatkraft, Entscheidungsstärke […]« (M, 38). Ähnlich, im Nietzscheanischen Gestus: »[Sie] steht vor mir, die Hure, […] also gebe ich ihr schon im Flur eins ins Gesicht, so muss man mit ihr reden, habe die Peitsche nicht vergessen, da ich zur Frau gehe, ich bin Konstanty Willemann, und mein ist die Kraft, und sie, Salomé, muss diese Macht anerkennen […]« (M, 76).

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schen Literatur von Stanisław Przybyszewski über Karol Irzykowski bis Witkacy, und er macht dies durch ausgeprägte Referenzgesten deutlich. Zu Recht ist in einer Besprechung des Romans auf den »ästhetischen Historismus« als Prinzip hingewiesen worden,58 das sich sowohl in der sprachlichen Stilisierung als auch in zahlreichen, expliziten wie impliziten, intertextuellen Bezügen (u. a. zu Georges Batailles »L’histoire de l’oeil«) manifestiert. Der Erzähler wird damit zum Helden eines rudimentär ausgebildeten Entwicklungsromans, der ihm in der Figur einer autonom handelnden Frau (Dzidzia) zumindest die Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz vorführt: »Ich schaue in den Spiegel. Ich bin Konstanty Willemann und bin kein Morphinist. Ich bin Konstanty Willemann und befinde mich nicht in der Gewalt meine Mutter. Ich bin Konstanty Willemann und befinde mich weder in der Gewalt meines Vaters noch seines Geistes, des Gespenstes, das über meiner Kindheit und Jugend schwebte. […] Ich bin Konstanty Willemann und keine Frau herrscht über mich. Ich bin Konstanty Willemann und niemandem zu Diensten. Ich bin Konstanty Willemann und diene weder Polen noch den Deutschen, weder Gott noch dem Teufel, ich diene niemandem. Ich bin Konstanty Willemann und kein Soldat, bin kein Offizier. Ich bin nicht gut. Ich bin nicht böse. Ich bin Konstanty Willemann […]. Ich bin glücklich. Ich lebe« (M, 383).

Für diese, von Twardoch selbst explizit vorgeschlagene Interpretation spricht, dass die Stimme im selben Maß, in dem der Protagonist an Autonomie gewinnt, in ausgeprägt auktorialem Gestus die Grenzen ihrer Allmacht markiert,59 um im Schlusskapitel deutlich zurückzutreten. Der übergeordnete Wissenshorizont jener Instanz und ihre auktoriale Omnipotenz, die sie demonstriert, indem sie ihr Wissen und ihre Entscheidungen, dieses dem Protagonisten preiszugeben oder vorzuenthalten, ausführlich thematisiert, erlauben andererseits, sie als eine Erzählerfigur eigenen Rechts, wenn auch nicht personal-anthropomorph, zu begreifen. Sie artikuliert sich, über das tertium comparationis »schwarz« mit der Melancholie und dem Tod verknüpft, als »schwarze Göttin« (M, 141) und »dunkle Substanz«, die unterhalb der Geschichte wirkt (M, 139, 141, 188, 409) – als Moira (M, 251, 256ff.), die buddhistische Weltseele oder Morphin. Es ist jedenfalls – dies ist in der Rezeption ausdrücklich hervorgehoben worden – eine weibliche Instanz (die Flexionsformen polnischer Verben erlauben eine eindeutige Genuszuweisung).60 Es handelt sich 58 Vgl. Apel, Friedmar: Diesen Mann ohne Eigenschaften treiben allein die Sucht und der Sex um. In: FAZ vom 27. 02. 2014, S. 26. 59 »Ich […] weiß es, aber ich kann es dir nicht sagen, Lieber, denn du hörst mich nicht mehr, hörst nicht mehr auf mich, brauchst mich nicht, willst mich nicht […]« (M, 360). Ähnlich S. 296: »In dir geht etwas vor, das mich abstößt, als wüchse etwas in dir, das mich herauspresst, mich aus deiner Nase und deinen Ohren sickern lässt.« 60 Vgl. Twardoch, Polskos´c´ jest kobieca. 2013; Bielik-Robson, »Morfina«, albo psychoanaliza polskos´ci. 2013; Iwasiów, Inga: Głos Pani. In: Tygodnik Powszechny vom 23. 01. 2013.

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somit um eine hybride, philosophisch und mythologisch grundierte Konstruktion, deren Elemente in der Vorstellung eines unfassbaren Grunds der Geschichte konvergieren, die Hegels erkenntnistheoretischen Optimismus dementiert. An zahlreichen Stellen des Romans scheint sich ein mythisches Geschichtsbild zu konstituieren, vor allem dort, wo die Stimme eine Tiefe unterhalb der Oberflächenwirklichkeit setzt und das Geschehen Kräften zuschreibt, die der Einwirkung des Menschen entzogen sind. Während aber der Mythos die Welt als tiefenstrukturell sinnvoll geordnet fasst, stellt die Stimme explizit das Zufällige und Unberechenbare der singulären Ereignisse aus, die erst aus einer gleichsam kosmischen Perspektive ein Muster ergeben: »Doch was hat diese Geschichte mit dir zu tun, Kostek […]? Nichts. […] Und doch alles: Denn sie alle und du und dein Vater und alle Menschen und die Leben eurer Vorfahren und Affenmenschen und Nachkommen, alle bildet ihr ein Mosaik aus kleinen, bunten Steinchen, und niemand, nicht einmal ich, steht weit genug über diesem Mosaik, um es ganz zu erfassen, seinen Rhythmus, seine Ordnung und Schönheit. Niemand, oder fast niemand. Denn irgendeine Ordnung, einen Rhythmus und eine daraus hervorgehende Schönheit muss es in diesem unendlichen Kunstwerk zweifellos geben« (M, 238).

Im »Chaos des Lebens« – räsoniert die Stimme – »hat alles eine Bedeutung, alles zählt, aus allem setzt sich der Kosmos dieses Chaos zusammen, alles ist wichtig« (M, 240). Zugleich suspendiert sie historisches Sinnverstehen, indem sie in einer paradoxen Wendung Geschichte zum Spielfeld numinoser Mächte und die Menschen zu deren Werkzeugen erklärt: »Was ist Geschichte, Kostek? Dünger, Futter für die schwarzen Götter, Summe von Jammer und Tränen, Staub und Asche« (M, 164). »Morphin« wiederholt damit die negative Erkenntnis Paszkos in »Wieczny Grunwald«, dass in der historischen Welt keine Logik zu finden sei (M, 360). Der Vergleich mit dem Vorgängerroman lässt konstante Motivkomplexe und wiederkehrende Figuren hervortreten wie die Eliotsche Figur des »hollow man« oder die wesentlich Schopenhauer verpflichtete Anthropologie des Leidens, die aus dessen Geschichtspessimismus resultiert. Gleichwohl erzeugen die narrativen Strategien Twardochs – vor allem die kunstvoll arrangierte Vielstimmigkeit, die die Geltung des jeweils Erzählten abschwächt oder verstärkt – ein derart hohes Maß an Polyvalenz, dass einsinnige Lektüren erschwert werden. Die weibliche Erzählstimme relativiert aus ihrer übergeordneten Position die Identitäts- und Loyalitätsdilemmata, die sich aus der doppelten Zugehörigkeit des Protagonisten ergeben: Dieser dramatisiere sein Leben, fühle sich »tragisch zerrissen« zwischen einem deutschen Vater und einer polnischen Mutter, komme sich in dieser Tragik erhaben vor und phantasiere sich aus diesem Grund aus der »Welt der erklärten, totalen Nationalitäten« in eine Zeit zurück, in der die modernen Nationalismen noch nicht existierten (M, 189ff.). Die Stimme dementiert

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Katarzyna S´liwin´ska

damit die existenzielle Bedeutsamkeit solcher Fragen61 und eröffnet zugleich eine Perspektive der Befreiung, die an Paszkos Einsicht erinnert: »[W]enn du wüsstest, wie unwichtig dein Polnisches und dein Deutsches ist, […] wie unwichtig deine Würden und Ehren und dein eigener Wert und der widergespiegelte … Wie frei es dich machen würde […] …« (ebd.).

Sie scheint damit zu verkennen, was der Roman in seiner Gesamtstruktur, vor allem aber an der Figur Salas, sinnfällig macht: dass in einer konkreten historischen Konstellation die Logik nationaler Zuschreibung nicht durch einen Willensakt suspendiert werden kann. Auf der Handlungsebene wird der Protagonist vor eine Bewährungsprobe gestellt: Er muss den ultimativen Beweis seiner Loyalität zu Polen liefern, indem er Deutscher wird. Er bekommt den Auftrag, sich unter dem Namen Strachwitz als deutscher Volkszugehöriger registrieren zu lassen und nach Budapest zu reisen, um dort Kontakte zur internierten Armeeführung zu knüpfen. Dies führt ihn unerwartet mit seiner Mutter zusammen, die inzwischen ebenso souverän wie einst beschlossen hat, wieder Deutsche zu sein. Sie bestätigt seine Identität und macht ihn dadurch, gleichsam die Stimme Gottes imitierend (»Das ist mein Sohn« – M, 159; im Original auf Deutsch), zu einem Deutschen. Es ist kennzeichnend für die Erzählstrategie Twardochs, dass er in der Konkretisierung dessen, was dies bedeutet, vordergründig an die gängigen polnischen Imaginationen des Deutschen appelliert,62 um sie in einem zweiten Schritt zu dekonstruieren. Konstanty verliert eine Aktentasche, die ihm anvertraut wurde, und damit potentiell sich selbst als Polen – in den Augen der Anderen. Die Stimme flüstert ihm ein, er müsse den Dieb foltern, denn nur so könne er erfahren, wo dieser die Tasche verstecke. Um sich als Pole zu bewähren, müsse er Deutscher werden. »Sei ein Deutscher« (M, 101) – ein direktiver Sprechakt im Sinne Judith Butlers. Die Erzählung springt hier mit einem harten Schnitt von der Gegenwart in die erinnerte Vergangenheit des Protagonisten und schildert einen väterlichen Erziehungsakt: Strachwitz liest dem Fünfjährigen aus der berühmten Hunnenrede von Kaiser Wilhelm II. vor, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges ihre größte Wirkung entfaltete:

61 »Als wäre das Schwarz, das zwischen ihm und der Welt gähnt, die Tatsache der Existenz von Nationalitäten und seine Zerrissenheit zwischen diesen Nationalitäten« (M, 190f.). 62 Zum Stereotyp des deutschen »Folterknechts« in der polnischen Literatur nach 1945 vgl. u. a. Szewczyk, Wilhelm: Hitleryzm i Niemcy we współczesnej literaturze polskiej. Opole: Instytut S´la˛ski 1966; Dmitrów, Edmund: Niemcy i okupacja hitlerowska w oczach Polaków. Pogla˛dy i opinie z lat 1945–1948. Warszawa: Czytelnik 1987; Wizerunek Niemca i Rosjanina we współczesnej literaturze polskiej. Rekonesans. Hrsg. von Tadeusz Błaz˙ejewski und Heinz Kneip. Łódz´: UŁ 2006. Buryła, Sławomir: Portret oprawcy. In: Ders.: Tematy (nie)opisane. Kraków: universitas 2013, S. 241–422.

Literarisches Sprechen aus der Position des Dazwischen bei Szczepan Twardoch

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»Furcht und Entsetzen sollen wir […] hinterlassen. Hunnen sollen wir sein. […] Damit sie für immer Angst vor uns haben, bis in die Ewigkeit« (M, 102).

Die Stimme präzisiert dies wie folgt: »So musst du jetzt sein, Konstanty. […] [D]u musst Deutscher sein, musst sein wie der deutsche Pilot, der aus dem Bord-MG auf kartoffelklaubende Frauen geschossen hat. […] Oder wie der deutsche KZ-Wächter, den es noch nicht gibt – doch SS-Oberführer Arpad Wigand steht gerade in diesem Augenblick schon an der Weichsel, irgendwo oberhalb Soła, und überlegt, dass hier ein guter Ort wäre. Hier wäre es schön, klug, wirtschaftlich und logistisch geeignet« (M, 102–104).

Die Reihe wird fortgesetzt – die Stimme öffnet sie gleichsam nach hinten und verlängert sie ins Naturgeschichtliche hinein, um Gewalt als eine anthropologische Konstante und überzeitliche menschliche Erfahrung hinzustellen: »Oder so wie der englische Wächter im KZ für die Buren. Oder du musst sein, wie in vier Jahren der vieläugige Marschall Harris sein wird […], der Dresden bombardierte […]. Oder wie der, der schwarze Schlammklumpen auf japanische Papierstädte abwirft. Oder der, der zum Wettkampf antritt: Wer schlägt in derselben Zeit mehr Köpfe von einer Reihe kniender Chinesen ab. Oder wie Julius Cäsar und seine toten Gallier […]. Wie die Mutter, die ihr eigenes Kind tötet: es mit der Decke erstickt, […] im Wald zurücklässt wie die Löwin das Löwenjunge, damit der Löwe es frisst, vor tausend und fünftausend Jahren und gestern und vorgestern und in tausend Jahren« (M, 103f.).

Die Stimme formuliert somit in einer Klimax aus, »wozu ein zu allem entschlossener Deutscher fähig ist«, und lässt sie in der Aufforderung gipfeln, dies als die »Wahrheit über den Menschen« zu erkennen: »Sei jetzt ein Deutscher, Konstanty. Sei ein Mensch« (M, 104). Die Polonistik fängt erst an, den in seiner Erzählstruktur äußerst komplexen Roman auf seine Quellen, Querverweise und intertextuellen Bezüge zu untersuchen. Doch bereits in der bisherigen Rezeption wird gewürdigt, was der Literaturkritiker Dariusz Nowacki mit Blick auf die polnische Literatur nach 1989 als Zeichen einer »Normalisierung« festhält: Die konfliktreiche Geschichte der Deutschen und Polen wird zunehmend aus der »martyrologischen Matrix« befreit und als ein Stoffreservoire für unterschiedliche Schreibstrategien genutzt, die Fragen der Identität und Alterität unter veränderten Vorzeichen verhandeln.63 So scheint denn auch das eigentliche Skandalon des Textes nicht in seinem Sujet zu liegen (auch nicht darin, dass er Fragen der nationalen Identifikation als Teil eines psychiatrischen Syndroms beschreibt); die Provokation wird vielmehr darin gesehen, dass alle männlichen Figuren als schwach entworfen sind.

63 Vgl. Nowacki, Dariusz: O polsko-niemieckim pojednaniu (w literaturze). In: Poznan´skie Studia Polonistyczne. Seria Literacka 2003, Bd. 10, S. 71–85.

Artur Pełka (Łódz´)

»Warschau besser nicht« – Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen

Oliver Klucks Theatertext »Zum Parteitag Bananen«, uraufgeführt im Oktober 2009 im Theater Chemnitz,1 krönt folgende Zukunftsvision als Wunschvorstellung: »[…] stark sein und sich nicht unterkriegen lassen Invalidenrente beantragen klingt gut und dann irgendwo hinfahren, London, Lissabon, Paris, Warschau Warschau besser nicht Kopenhagen vielleicht ja, das wäre was Zukunft & Perspektive und Bananen manchmal Bananen Bananen Bananen«2

Dass man besser nicht nach Warschau fährt, ist für die Figuren in Klucks pessimistischer, theatertextueller Bilanz zum Nachwende-Deutschland genauso selbstverständlich wie die Tatsache, dass, wenn man – den Genossen in der DDR ähnlich – viel stiehlt, schlicht »wie die Zigeuner [klaut]«3 oder, wenn man nachts noch Tabak benötigt, eben »beim Neger«4 kauft. Vor diesem Hintergrund er-

1 UA: 03. 10. 2009 Schauspiel Chemnitz (Kleine Bühne), R: Max Claessen. Dieses im Auftrag vom Theater Chemnitz geschriebene Stück war nach »Das Prinzip Meese«, mit dem Kluck im Mai 2009 den Förderpreis für Junge Dramatik gewann, der zweite Theatertext des 1980 auf Rügen geborenen Schriftstellers. Inzwischen wurde der Autor auch mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker (2010) und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft (2011) ausgezeichnet und gehört zu den führenden Dramatikern der jungen Generation. 2 Kluck, Oliver: Zum Parteitag Bananen. In: Theater heute 1, 2010, (Stückabdruck-Beilage) S. 12. 3 Ebd., S. 5. 4 Ebd., S. 10.

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Artur Pełka

scheint das im Finale des Stücks genannte Warschau als eine metonymische Chiffre des ominösen bzw. unerwünschten Fremden. Das negative Polenbild in Klucks Theatertext stellt in der Landschaft der jungen deutschen Dramatik, die in den letzten Jahren polnische Figuren erstaunlich zahlreich bevölkern, eher einen Ausnahmefall dar. Das östliche Land und seine Leute erscheinen in den Gegenwartstheatertexten ausgewogen und differenziert, eine Schwarz-Weiß-Malerei wird vermieden und die Polarisierung ›Wir‹ (Deutsche) contra ›Sie‹ (Polen) verwischt, bzw. die polnischen Figuren dienen gar als ein Quasi-Kontrastschirm, wodurch die Neurosen bzw. Psychosen der eigenen Landsleute diagnostizierbar werden. Besonders deutlich wird dies in Claudia Grehns Theaterstück »Ernte. Arbeit«, in dem die Autorin polnische Saisonarbeiter in Deutschland mit den Einheimischen konfrontiert.5 Die Fremdwahrnehmung des östlichen Nachbars als Selbstwahrnehmung im Sinne einer identitätsstiftenden Alterität vermag sogar zu einer positiven Rückkoppelung zu mutieren in dem Sinne, dass die jungen deutschen Theatertexte für Polen als Spiegel fungieren können – als fremde Spiegel, in denen man mehr oder deutlicher sehen kann als in den eigenen.6 In dem im Auftrag des Osnabrücker Theaters 2009 geschriebenen Stück »zu jung, zu alt, zu deutsch« von Dirk Laucke erzählt Sascha, eine ukrainische Emigrantin jüdischer Abstammung, ihrer Freundin Gitte von der Fahrt nach Deutschland: »Auf der Busfahrt von zu Hause nach hier, irgendwo in Polen war auf jede Bushaltestelle ein Davidstern aufgemalt. Er hing an einem Galgen. Valli, mein Sohn fragte mich, was das ist. Andrej hat Luft geholt. Ich sagte, wir fahren nach Deutschland, das gibts in Deutschland nicht. Gibts hier nicht. Hatte ich recht.«7

Lauckes texttheatralische Anspielung auf den polnischen Antisemitismus ist kein Sonderfall in der deutschen Nachkriegstheatergeschichte. Am 13. Oktober 1967 fand im Berliner Maxim-Gorki-Theater die Uraufführung von Reiner Kerndls »Die seltsame Reise des Alois Fingerlein« statt. Die Titelfigur – ein junger deutschstämmiger Bauer aus einem Dorf bei Lublin – soll, nachdem die Deut5 Vgl. Grehn, Claudia: Ernte. Arbeit. Unveröffentlichtes Manuskript (Fassung vom August 2009), Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2009. Zum ersten Mal wurde das Stück als dramatische Miniatur im Rahmen des Autorenfestivals »ohne alles 2« im Schauspielhaus Bochum 2008 präsentiert. UA: 19. 12. 2010 am Maxim-Gorki-Theater Berlin, R: Dominic Friedel. Die 1982 in Wiesbaden geborene Claudia Grehn erhielt 2010 für ihre »Ernte. Arbeit« den Förderpreis des Stückemarkts für neue Dramatik. 6 Zu polnischen Motiven in neuesten deutschen Theatertexten vgl. ausführlich: Pełka, Artur: Bananen und »Nolacken«. (Nationale) Symbole und Stereotype in Theatertexten junger AutorInen. In: Junge Stücke. Theatertexte junger Autoren und Autorinnen im Gegenwartstheater. Hrsg. von Andreas Englhart und Artur Pełka. Bielefeld: transcript 2014, S. 135–148. 7 Laucke, Dirk: zu jung, zu alt, zu deutsch. Unveröffentlichtes Manuskript (3. Fassung vom 27. 04. 2009), Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb 2009, S. 21. UA: 15. 05. 2009 Städtische Bühnen Osnabrück, R: Jens Poth.

Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen

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schen Polen besetzten, nach Płock umgesiedelt werden und im Warthegau – der neuen Provinz des Großdeutschen Reichs – einen polnischen Hof übernehmen. Er weigert sich, läuft schließlich zu polnischen Partisanen der Heimatarmee über und »beschließt, Pole zu werden, weil Pole sein heißt, gegen die bösen Deutschen zu kämpfen.«8 Schließlich gelangt er mit seiner Partisanengruppe zur Zeit des dortigen Ghetto-Aufstands nach Warschau und wird vor Ort mit polnischem Antisemitismus konfrontiert. Hierfür steht plakativ die Aussage eines Jugendlichen, der »voll Haß« feststellt: »Wegen denen sind die Deutschen gekommen! Die Juden sind Schuld an unserem Unglück!«9 Bezeichnenderweise betrifft die antisemitische Gesinnung bei Kerndl nicht nur die Warschauer Zivilbevölkerung, sondern auch die Heimatarmee. Der Anführer der Partisanen, Leutnant Skorniecki, der die widerständischen Juden im Stich lässt, deutet die nationalistischen Ressentiments als nationales Schicksal um: »[…] Aber wenns für Leutnant Skorniecki einmal soweit ist, dann bitte schön nicht ausgerechnet zwischen Nathan und Abraham. […] Keiner kann aus seiner Haut. Keiner läuft seinem Volk davon. Das ist Schicksal.«10

Das Motiv der nationalistisch gesinnten und judenfeindlichen Heimatarmee kehrte 2013 mit voller Wucht in einer deutschen Filmproduktion wieder und sorgte diesmal für einen politischen Skandal. In dem dreiteiligen ZDF-Film »Unsere Mütter, unsere Väter«11, den der öffentlich-rechtliche Fernsehsender im März dieses Jahres ausstrahlte, wird episodenhaft die Geschichte von fünf jungen Berliner Freund/innen erzählt, die 1941 auf verschiedenen Wegen an die Ostfront geraten. Einer der Freunde namens Viktor wird wegen seiner jüdischen Abstammung ins Konzentrationslager deportiert, doch auf wundersame Weise gelingt es ihm, zusammen mit der polnischen Zwangsarbeiterin Alina aus dem Zugtransport zu entfliehen. Beide schließen sich polnischen Untergrundsoldaten der Heimatarmee an. Viktor muss, ähnlich wie in Berlin, verheimlichen, dass er Jude ist, denn die Partisanen zeichnet ein bissiger Antisemitismus aus. Wenn sich ein Bauer, der sie mit Lebensmitteln versorgt, versichert, dass sich keine Juden unter ihnen befinden, wird ihm beteuert: »Juden ertränken wir wie Katzen«. Bei einem gelungenen Überfall auf einen Güterzug finden die Partisanen in den Waggons nicht nur Waffen vor, sondern auch KZ-Häftlinge. Sie verriegeln mit Abneigung die zuvor geöffneten Türen und vollstrecken somit das von deutschen 8 Linzer, Martin: Reiner Kerndls »Die seltsame Reise des Alois Fingerlein«. In: Kerndl, Reiner: Die seltsame Reise des Alois Fingerlein. Berlin: Henschel 1968, S. 77–80, hier: S. 78. 9 Kerndl, Die seltsame Reise. 1968, S. 41. 10 Ebd., S. 32. 11 Regie: Philipp Kadelbach, Drehbuch: Stefan Kolditz, Produktion: Nico Hofmann; Erstausstrahlung: in Deutschland (ZDF) am 17./18./20. 03. 2013 und in Polen (TVP1 = das Erste Programm des Polnischen Fernsehens) am 17./18./19. 06. 2013.

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Artur Pełka

Nationalsozialisten verhängte Todesurteil. Dabei kommt es zu einem Wortgefecht zwischen Viktor, der sich für die Todgeweihten einsetzt, und einem der Partisanen (Abb. 1): »Partisan: Die meisten sind Juden. Juden sind genauso übel wie Kommunisten oder Russen. Besser tot als lebendig. Viktor: Sie sollen so krepieren? Partisan: Ja.«12

Abb. 1: Viktor im Gespräch mit dem Partisanen (00:48:01).

Indem Viktor gegen diese grausame (antisemitische) Unmenschlichkeit protestiert und letztlich die Häftlinge aus den Waggons befreit (Abb. 2), verrät er seine jüdische Identität. Infolge dessen wird er diffamiert, und nur dank der Gnade des Truppenanführers entkommt er dem Tod. An diesen suggestiven Filmszenen entzündete sich in Polen eine heftige Kritik, die allerseits – von der Diplomatie bis zur Boulevardpresse – geäußert wurde.13 Man warf dem Regisseur und den Produzenten skandalöse Geschichtsklitterung oder gar Revisionismus vor und empörte sich primär über die Diffamierung der polnischen Heimatarmee, deren Mitglieder als primitive Nationalisten und brutale Antisemiten, sprich als Mittäter des Holocausts konturiert würden. Offensichtlich verletzte der Film die polnische nationale Identität, da für sie die Heimatarmee als der größte militärische Untergrundverband im besetzten Europa eine konstituierende Rolle spielt. Darüber hinaus wurden geschichtliche Ungereimtheiten – der Film erwecke den Eindruck, als habe der Krieg erst 1941 begonnen – und evidente Filmfehler – etwa Partisanen, die mit starkem deut12 Transkription der deutschen Untertitel im dritten Filmteil (00:48:01–00:48:11). Das Skandalöse dieses Dialogs besteht in erster Linie in der verbal-performativen Vollstreckung des Todesurteils durch den polnischen Partisanen. Die Ungeheuerlichkeit dieser antisemitischen Tat wird als unerhörter Skandal des Drehbuchs durch die Suggestion, dass sich in den Waggons auch Andere, d. h. Nicht-Juden (Polnische Patrioten? Kommunisten? Geistliche? Homosexuelle? Zigeuner?), befinden, noch potenziert. 13 Zu den Kontroversen vgl. den sachlichen Eintrag mit umfangreichen Quelleneingaben in: http://straeter-it.de/erinnerungen/unsere_muetter_unsere_vaeter.pdf bzw. http://de.wikipe dia.org/wiki/Unsere_Mütter,_unsere_Väter (Zugriff am 20. 01. 2014).

Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen

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schem Akzent Polnisch sprechen und Armbinden des Warschauers Aufstands tragen – bemängelt.14

Abb. 2: Viktor befreit die KZ-Häftlinge (00:51:27).

Was aber bezweckten die deutschen Autoren des Films? Worauf zielen diese Polenbilder ab? Was intendieren sie? Wird hier, wie der Historiker Tomasz Szarota bemerkt, das Stereotyp der ›Polnischen Wirtschaft‹ durch das ›Stereotyp des Polnischen Antisemitismus‹ ersetzt? 15 Oder schreiben sich »Unsere Mütter, unsere Väter« einfach in eine entlastende Mythologisierung ein, die, wie Bert Rebhandl eruiert, die zeitgenössischen deutschen Geschichtsfilme kennzeichnet, die die Deutschen als Opfer darstellen? 16 Oder aber handelt es sich bei dem Eklat doch um ein gezieltes aufstörendes Moment, das zur Verstärkung des Perspektivenwechsels in den deutsch-polnischen Beziehungen verhelfen soll? Signifikanterweise gab es in Polen auch einige nicht oder nicht völlig negative Stimmen zu dem umstrittenen Film. In seiner Kritik in der »Gazeta Wyborcza« erkennt Paweł Wron´ski den Vorteil des Films darin, dass dank diesem »[ junge] Deutsche etwas von der deutschen Besatzung erfuhren«, z. B., dass die Deutschen nicht nur Juden, sondern auch Polen ermordet hätten. Seine Ausführungen schließt Wron´ski mit folgender Botschaft: »Die deutsche Serie sollte doch etwas Wichtiges in der polnischen Seele bewegen. [A]ls die zweite Folge [im polnischen Fersehen – der Verf.] ausgestrahlt wurde, hat jemand in Warschau […] auf das Bunker-Denkmal, das ein Grab der Führung des Getto-Auf-

14 Vgl. z. B. Wielin´ski, Bartosz T.: Kto wytłumaczy Niemcom, z˙e AK to nie SS. In: Gazeta Wyborcza vom 23. 03. 2013. 15 Tomasz Szarota während einer Fernsehdebatte nach der Ausstrahlung des 3. Filmteils am 19. 06. 2013 (im Rahmen der Sendung »Na pierwszym planie«, TVP 1). Neben Szarota (Professor am Institut für Geschichte an der Polnischen Akademie der Wissenschaften) nahmen Szewach Weiss (Politiker, Diplomat, Professor für Politikwissenschaft) und Thomas Weber (Geschichtsprofessor an der Universität Aberdeen) an der Diskussion teil. 16 Vgl. Rebhandl, Bert: Das Glück der Deutschen. Ein Essay über das deutsche Geschichtskino zwischen Faktizität und Farce. In: Theater heute 4, 2009, S. 16–22.

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stands ist, ›Jude Raus‹ geschrieben. […] Es lohnt sich manchmal sich in einem Spiegel zu besehen, auch wenn er etwas verzerrt ist.«17

Während der Rezipient es in der anfangs zitierten Passage aus Lauckes Stück mit einer Evidenz zu tun hat – denn antisemitischen Symbolen begegnet man im Gegenwartspolen zuhauf – und diese Einsicht zudem durch die Figur eines Dritten, d. h. einer jüdisch-ukrainischen Emigrantin, vermittelt wird, stellt sich das Repräsentationsproblem bzw. die Spiegelhaftigkeit in Kadelbachs Film äußerst problematisch dar. Die zeitliche Distanz und mit ihr die irreversible Unerreichbarkeit der historischen Fakten, der Zusammenprall von zwei unterschiedlichen kollektiven Gedächtnissen sowie nicht zuletzt die Ambivalenz der Wahrheit bzw. des Menschen selbst verhindern offensichtlich die Kristallisation der »Fiktion von Faktendarstellungen«18 zu einem objektiven Spiegelbild. Der Clou des Skandals, den Kulmbachs Film auslöste, liegt aber nicht – wie mir scheint – in der Unmöglichkeit einer angemessenen und allgemeingültigen Repräsentation der Geschichte, sondern in der Verletzung der hypersensiblen polnischen Identität in ihrer Opferhaftigkeit, die im sog. Romantischen Paradigma verankert ist,19 zumal diese Opfer-Mythologie gerade der deutsche Angriff 1939 mit allen seinen späteren Konsequenzen nachhaltig besiegelte. »Unsere Mütter, unsere Väter« wird von einer Art Gedächtnis dominiert, das offensichtlich zwischen dem »Lexikon« und »Familienalbum« schwankt. Dies implizieren deutlich die Statements der Filmemacher: Der Produzent Nico Hofmann bekannte, dass er durch die Kriegstagebücher seines Vaters inspiriert worden sei und der Drehbuchautor Stefan Kolditz unterstrich, dass »jeder, der [im Krieg – der Verf.] war, seine eigene Wahrheit und Erinnerung [habe].«20 17 Wron´ski, Paweł: Warto popatrzec´ nawet w krzywe zwierciadło. In: Gazeta Wyborcza vom 21. 06. 2013. 18 Im Sinne von Edward E. Young, der in seiner Studie das Problem der Überlagerung von eigenen und fremden Erinnerungen an die Schoah sowie den hierauf folgenden Einfluss kultureller Erzählmuster analysiert. Vgl. Young, Edward E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. 19 Es handelt sich um die durch die Geschichte fundierte, in der Romantik geprägte und durch den Katholizismus bestärkte nationale Mythologie mit einem dominanten (Geschichts-) Opfer-Aspekt, die die polnische Identität fast zwei Jahrhunderte lang formte. Hierbei wird dem polnischen Volk ein Sendungsbewusstsein zugesprochen, insofern es, analog zu Christus und seinem Leiden, auserwählt sei und für die Sünden der gesamten Menschheit zu leiden habe. 20 Goertz-Ulrich, Sabine: Die verlorene Generation. Der Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« zeigt, wie grausam es war, in der dunkelsten Epoche Deutschlands erwachsen zu werden. Wie erbarmungslos der Zweite Weltkrieg war, wie eine ganze Generation junger Menschen ihrer Jugend und aller Normalität beraubt wurde, sei das Thema in dem »brillanten« Dreiteiler. In: Fernsehmagazin Hörzu Nr. 11 vom 08. 03. 2013, S. 12–14. Zit. nach: http://straeter-it.de/erinnerungen/unsere_muetter_unsere_vaeter.pdf, S. 4 (Zugriff am 20. 01. 2014).

Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen

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Julius H. Schoeps verteidigte als einer der wissenschaftlichen Berater des Films die Produktion in einem Interview für das polnische Fernsehen mit dem Argument, dass es sich hierbei nicht um Geschichtsdeutung handelt, sondern um einen Film – »ein Spielfilm, kein Dokumentarfilm«21. Als Historiker scheint er zwar zwischen Nichtfiktion und Fiktion differenzieren zu können, aber in der Rolle des Filmberaters oszilliert er nichtsdestotrotz zwischen Historiographie und historischer Fiktionalität und nimmt im Prinzip eine Position ein, die Hyden White folgendermaßen beschreibt: »Wie eine bestimmte historische Situation anzuordnen ist, hängt von der Geschicklichkeit des Historikers ab, mit der er eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, der er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpaßt. Das ist im wesentlichen ein literarisches, d. h. fiktionsbildendes Verfahren.«22

Gerade die spezifische »Menge« der Darstellungen der polnischen Heimatarmee, die eine »bestimmte Bedeutung« bekommt, weckt in der Konfrontation mit dem polnischen Gedächtnis notwendigerweise die Dämonen der Vergangenheit, die am nachhaltigen Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen zwangsläufig rütteln. Ob Schoeps, der sich selbst als »Jude und deutscher Staatsbürger«23 bezeichnet, bei dieser Rüttelei als ein konstruktiver Dritter oder eher als advocatus diaboli fungiert, sei nunmehr dahingestellt. Ein ganz anderer Effekt wird generiert, wenn man das Gedächtnis des Anderen auf dieselbe Ebene mit dem eigenen Gedächtnis stellt, insofern beide miteinander konfrontiert und so effizient künstlerisch genutzt werden. Am 18. November 2006 fand im Breslauer Teatr Współczesny die Premiere des Projekts »Transfer!« statt, das in Kooperation mit dem Berliner Hebbel-am-Ufer durchgeführt wurde. Die Inszenierung wurde von Jan Klata in Zusammenarbeit mit deutschen (Dunja Funke) und polnischen (Sebastian Majewski) Dramaturgen vorbereitet, die nach der Konvention des Verbatim-Theaters anhand von Gesprächen mit Vertriebenen – Polen, die aus der Ukraine fliehen mussten, und Deutschen, die aus Breslau vertrieben wurden – die Aufführung konzipierten. Als Zeitzeugen werden die Vertriebenen zu Experten der Geschichte und in dieser Rolle selbstdarstellerisch in Szene gesetzt. In dieser Hinsicht fungieren sie als »Hyper-Historiker« im Sinne Freddie Rokems, d. h. als Bindeglieder »zwischen

21 In einem Interview mit dem Journalisten Marcin Antosiewicz (TVP1), ausgestrahlt während der Fernsehdebatte (vgl. Anmerkung 15). 22 White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Situation. Hrsg. von Christoph Conrad und Martina Kessel. Stuttgart: Reclam 1994, S. 123–160, hier: S. 131 [Kursivierung durch den Verf.]. 23 Vgl. Anmerkung 21.

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der historischen Vergangenheit und dem ›fiktionalen‹, aufgeführten Hier und Jetzt des Theaterereignisses«24. In Klatas Inszenierung sitzen die Zeitzeugen auf Stühlen im Halbdunkel des Bühnenhintergrunds wie im metaphorischen Schatten der Geschichte, zugleich wirken sie aber in dieser Positionierung wie Geschworene in einem Geschichtsgericht.25 Einzeln und deutlich mühevoll – denn es handelt sich um Menschen im hohen Alter – legen sie über die auf der Bühne zerstreute schwarze Erde die Strecke zu der Bühnenrampe zurück, um aus dieser Nah-Perspektive ihre Erinnerungen jeweils in der eigenen Sprache ad spectatores dem Publikum mitzuteilen. Kein einziges Mal wird – auch wenn sich die Agierenden gemeinsam auf der Vorderbühne befinden – ein Gespräch zwischen ihnen angeknüpft. Nach jedem Auftritt kehrt die/der Sprechende auf ihren/seinen Platz zurück, um auf den nächsten Einsatz zu warten. So werden fragmentarisch Lebensgeschichten erzählt, die von den Vertreibungen als Folge des Zweiten Weltkriegs beherrscht werden, wobei sie aber auch auf die Zeit davor und danach rekurrieren. Auf diese Weise bildet die historische Vergangenheit einen Rahmen für persönliche Bekenntnisse, die komplementär Authentizität bestätigen und letztlich, ohne jedoch am subjektiven Charakter einzubüßen,26 zu einer Kollektiverzählung von Betroffenen bzw. einer Vertriebenengeneration addiert werden. Damit tritt auch die nationale Zugehörigkeit in den Hintergrund, die den Platz der Opferhaftigkeit einräumt. Alle Beteiligte dieser theatralen Geschichtsbeichte treten als Opfer der Geschichte auf, was durch die Einführung einer historischen Dreifaltigkeit symbolisch potenziert wird. In der Mitte der Bühne steht eine Plattform, auf der Sta [lin], Chu[rchill] und Roo[sevelt], die von Berufsschauspielern gespielt werden, thronen. In grotesken Zwischenspielen entscheiden sie als zynische Geschichtspopanze über die neue Teilung Europas, über Grenzverschiebungen und die Umsiedlung von Millionen von Menschen. Die Inszenierung oszilliert zwischen Erinnern und Vergessen und dreht sich permanent um eigene Mütter und Väter, die aus verschiedenen Perspektiven – vorwiegend als Opfer der Geschichte oder des Regimes – beurteilt werden. Diese Entlastung erreicht ihren Höhepunkt in einem äußerst emotionalen Statement einer deutschen Zeugin (Ilse Bode):

24 Rokem, Freddie: Geschichte Aufführen. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater. Berlin: Neofelis 2012, S. 38 [Hervorhebungen im Original]. 25 Vgl. Makarczyk-Schuster, Ewa: ÜberLeben. Róz˙ewicz und Klata. In: Wendezeiten: historische Zäsuren in Drama und Film. Hrsg. von Alfred Gall. Tübingen: Francke 2011, S. 259–279, hier: S. 276. 26 Die Subjektivität wird durch die sehr reduzierte Bühnenausstattung, die freie, »subjektive« Handlungsräume schafft, unterstützt. Vgl. auch ebd., S. 277.

Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen

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»Ich kann es nicht mehr hören und ich will es nicht mehr hören. Schuld oder NichtSchuld. Weder mein Vater noch meine Mutter haben Schuld. Und ich werde es auch hier nicht sagen. Sie sind nicht schuldig. Sie haben in diesem System gelebt und dafür können sie nichts. Ich will nicht hören, meine Eltern wären Nazis gewesen.«27

Erinnern und Vergessen bilden die notwendige Prämisse für die Gründung der Theater-Gemeinschaft, was gleichermaßen die Darsteller/innen und das Publikum betrifft. In diesem Trauerritual – denn der Verlust der Heimat wird ununterbrochen betrauert – bekommt das Private und Intime nicht nur eine gemeinschaftsschaffende, sondern auch eine ausgesprochen politische Dimension der Versöhnung. Dazu tragen in erster Linie Erzählungen vom friedlichen Zusammenleben zwischen Polen und Deutschen in Schlesien direkt nach dem Krieg bei – es ist sogar von einem innigen Verhältnis zwischen ihnen die Rede.28 Der Konsens über die Greuel des Zweiten Weltkriegs und ein gemeinsames OpferSein wird – trotz eines ausbleibenden Dialogs – auf der Bühne erreicht,29 auch wenn sich die Gemeinschaft der Inszenierung, wie Magdalena Marszałek konstatiert, auf die »Verschwörung des Schweigens«30 stützt. Jedoch nicht Verdrängung als Befreiung von Schuld oder Nostalgie, die möglicherweise zum Ressentiment wird,31 zeichnet das Spektakel primär aus, sondern eine positive »schöpferische Energie«, die Freddie Rokems den Aufführungen von Geschichte schlechthin attestiert, eine Energie, »die zu einem dialektischen Gegenmittel gegen die zerstörerischen Energien der Geschichte und ihre schmerzlichen Momente des Scheiterns wird.«32 Ein relevanter und komplementärer Faktor dieser Theaterenergetik ist die subtile Beschwörung der Figur des Dritten, des Abwesenden, des Juden. In den einzelnen Erinnerungen – sowohl der polnischen wie der deutschen Zeugen – werden immer wieder die jüdischen Nachbarn und ihre Vernichtung heraufbeschworen sowie die Frage nach dem Mitwissen und der Mitschuld verhandelt. Besonders eindrücklich erscheint in dieser Hinsicht das Bekenntnis von einem 27 Transkribtion gemäß der Aufnahme der Aufführung (00:28:05–00:28:25) in: (Zugriff am 20. 01. 2014). 28 Dafür steht eindrucksvoll der Satz »Wir haben die Deutschen gemocht« (01:25:13), mit dem Karolina Kozak ihre Erzählung über die Aussiedlung der deutschen Mitbewohner einleitet. 29 Vgl. Makarczyk-Schuster, ÜberLeben. 2011, S. 276. 30 Vgl. Marszałek, Magdalena: Zur Ästhetik des Authentischen in Jan Klatas »Transfer!«. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies 45, 2009, H. 3, S. 299–315, hier: S. 304–306. 31 Dieser Meinung ist z. B. Zofia Smolarska, die in »Transfer!« »eine Befreiung von dem Schuldkomplex« feststellt und kritisch hinterfragt. Vgl. Dies.: O tych, którzy chca˛ pamie˛tac´ i o tych, którzy nie moga˛ zapomniec´. Pamie˛c´ i historia pogranicza zachodniego w polsko-niemieckich projektach teatralnych. In: Teatr – literatura – media. O polsko-niemieckich oddziaływaniach w sferze kultury po 1989 roku. Hrsg. von Małgorzata Leyko und Artur Pełka. Łódz´: Primum Verbum 2013, S. 107–119. 32 Rokem, Geschichte Aufführen. 2012, S. 251f.

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polnischen Zeugen (Zygmunt Sobolewski), der sich an die Deportationen der jüdischen Nachbarn aus seiner Heimatstadt Borszczów (Borschtschiw) in Podolien erinnert: »Die Juden sahen [bei ihrer Deportation – der Verf.], wie ihre Nachbarn ihr Vermögen raubten. Und ich sah zwei Frauen, die wechselseitig an einem Federbett rissen. Sie balgten herum, schrien, fluchten. Eine war wohl Ukrainerin, die andere Polin. Ich weiß es genau, weil sie die Mutter meines Klassenkameraden war…« (00:17:45–00:18:08).

Nach dieser Aussage wird auf einer Leinwand im Bühnenhintergrund das Wort »PIERZYNA« [Federbett] eingeblendet, während vom Theaterhimmel Federn – wie Schnee- oder Ascheflocken – hinunterfallen (Abb. 3).33 Die auf der Bühne verstreuten Federn fungieren nicht nur als Zeichen der zerrissenen Bettdecke aus einem geplünderten jüdischen Haus, sondern stehen eindrucksvoll für die – so Rokem – »Stummheit der ›eigentlichen Zeugen‹, die das Theater, wenn es Geschichte aufführt, ständig zu retten versucht.«34

Abb. 3: Federn auf der Bühne

Klata setzt die Geschichte nicht als eine schwarzweiße Narration von Tätern und Opfern in Szene, sondern verweist auf Ambivalenzen der Geschichtsdeutung und -erinnerung sowie nicht zuletzt auf die Ambivalenz des Menschen selbst. Dabei hält er eine konstruktive Proportionalität ein, die permanent die Vieldimensionalität der Geschichte und des Gedächtnisses vor Augen führt und schließlich mentale Veränderungsprozesse veranschaulicht. Dirk Pilz fasst die Inszenierung wie folgt zusammen:

33 Es ist ein sonderbarer Zufall, dass die bereits angeführte Filmszene der Befreiung der KZHäftlinge durch Viktor ebenfalls ein symbolischer Schnee/Aschefall begleitet. Die Wiesen an den Bahngleisen sind dicht mit Bocksbart bewachsen, dessen üppiger Pappus bzw. die in der Luft fliegenden federartigen Samen deutlich in den Fokus geraten. 34 Rokem, Geschichte Aufführen. 2012, S. 19.

Deutsch-polnische Konfrontationen und Transformationen

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»Klata […] stellt die Diskrepanz zwischen Gedächtnis und Geschichte aus. Seine Laien sind damit […] keine Statthalter des Echten; sie sind die Seismografen für mentale Transformationen.«35

Darin liegt im Gegensatz zu dem Film »Unsere Mütter, unsere Väter« und dessen massiver polnischer Polemik gegen diesen die Stärke von »Transfer!«, denn jene beharren auf einer unproportionalen Eindimensionalität der Geschichte und des Menschen, die letztlich verkrustete Stereotype bzw. Mythologeme auf beiden Seiten konservieren. Indessen vermag das Aufzeigen von Ambivalenzen sowie das Anrufen der Figur des Dritten neue Wahrnehmungsperspektiven zu ermöglichen. Diese Strategie, der sich Klata in seiner Inszenierung offensichtlich bewusst bedient, wird immer öfter von Künstlern, zumal der jüngeren Generation, angewendet. Als eines von vielen Beispielen können in dieser Hinsicht die Arbeiten von Tomasz Kozak dienen, der sich der Vertauschung von Täter- und Opfer-Rolle als einer künstlerischen Taktik mit Vorliebe bedient. In seinem multimedialen Projekt »Zmurzynienie« (Verniggerung) 36 aus dem Jahre 2006 führt er die von den Schriftstellern Ernst Jünger und Tadeusz Borowski vertretene Diagnose über die Barbarisierung Europas nach dem Krieg mit seiner Theorie der »Verniggerung« – womit die schwarzen US-Soldaten gemeint sind – zusammen und bringt damit die Ansichten des Wehrmachtoffiziers Jünger mit denen des AuschwitzHäftlings Borowski auf einen gemeinsamen menschenverachtenden Nenner. Der schwarze Barbar als Inbegriff des Bösen ersetzt hier im Prinzip die Figur des zwangsläufig abwesenden Juden. Auf diese Weise macht Kozak nicht nur auf mental-kulturelle deutsch-polnische Affinitäten aufmerksam, sondern provoziert einen tiefen Einblick in das Unbewusste der europäischen Kultur. Im Zusammenhang mit dem Eklat, den »Unsere Mütter, unsere Väter« hervorrief, äußerte sich der Filmproduzent Nico Hofmann in der 3Sat-Kultursendung »Kulturzeit« zu dem umstrittenen Dreiteiler.37 Er beteuerte, dass er auf die 35 Pilz, Dirk: Gemeinsam vertrieben. Jan Klata zeigt in Wrocław »Transfer!«, ein deutsch-polnisches Theaterprojekt. In: Neue Züricher Zeitung vom 29. 12. 2006. Die gravierendste mentale Transformation markiert bereits die Möglichkeit einer gemeinsamen Behandlung des heiklen Themas ›Vertreibungen‹. Als eine deutliche Veränderung ist aber auch »eine paradigmatische Wandlung des Heimatbegriffs« zu verzeichnen. Vgl. Kandinskaja, Natalia: Flucht, Vertreibung und Heimatverlust infolge des Zweiten Weltkriegs im Theaterprojekt »Transfer!«. In: Heimat als Erfahrung und Entwurf. Hrsg. von Natalia Donig, Silke Flegel und Sarah Scholl-Schneider. Berlin/Münster: Lit 2009, S. 136–145, hier: S. 145. 36 Ein wesentlicher Bestandteil des Projekts ist eine dreiteilige Video-Installation nach der Konvention found footage, abrufbar unter: 1. , 2. , 3. (Zugriff am 20. 01. 2014). 37 Nico Hofmann im Gespräch mit Jutta Louise Oechler in: »Kulturzeit« am 26.08. 2013, aufge-

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Artur Pełka

polnische Sensibilität »durchaus vorher Rücksicht« hätte nehmen müssen und dass er die Reaktion habe verstehen können, zumal er »sehr viele Freunde in Warschau« habe.38 Diese ›Liebeserklärung‹ des deutschen Filmproduzenten – »Ich habe eine ganz große tiefe Zuneigung zu Polen. […] Ich liebe Polen« – wird allerdings mit einer Verteidigung der im Film dargestellten Tatsachen, die durch »Spitzenhistoriker« bestätig worden seien, vermengt. Auf den Vorschlag des polnischen Publizisten Adam Krzemin´ski, einen gemeinsamen deutsch-polnischen Film über den Warschauer Aufstand zu drehen,39 reagierte Hofmann mit Begeisterung: »Es wäre spannend, sich mit wenigen Vorurteilen zu begegnen.« Angesichts der in den letzten Jahren zu verzeichnenden Flut von deutschpolnischen Kooperationen auf dem künstlerischen Gebiet wäre solch eine Konfrontation im Rahmen eines gemeinsamen Projekts durchaus denkbar. Ihr würde aber eine große Gefahr zugrunde liegen, die zum einen die für die polnische Nationalmythologie wunden Punkte des Warschauer Aufstands betrifft. Zum anderen würde solch eine filmische Aussöhnung notwendigerweise ein für beide Parteien bequemes und lukratives Kommerzgedächtnis transponieren. Das Ausbleiben des Dritten schließlich würde – wie zu erahnen – ein solches Unterfangen durch seine Unproportionalität zu einem leeren Zeichen ohne jegliche Möglichkeit einer radikalen mentalen Transformation verflachen lassen.

zeichnet in der 3Sat-Mediathek, (Zugriff am 20. 01.2014). Alle Zitate von Hoffmann in diesem Absatz wurden gemäß dieser Aufnahme transkribiert. 38 Mit diesem Bekenntnis scheint Warschau als eine negativ konnotierte Metonymie – wie dies bei Kluck der Fall ist – entdämonisiert zu sein, was als eine mentale Transformation bezeichnet werden könnte. Zu fragen wäre allerdings, ob das Beharren auf der historischen Wahrheit der umstrittenen Filmszenen die »Freundschaften« letztlich nicht doch relativiert. 39 Krzemin´ski, Adam: Nakre˛c´my film o powstaniu warszawskim wspólnie z Niemcami! In: Polityka 31, 2013, S. 16–18.

Andreas Englhart (München)

Theatrales Mimikry in der Glokalisierung – René Polleschs transkulturelle Produktion »Jackson Pollesch« am Warschauer Teatr Rozmaitos´ci

I.

Transnationale Vernetzungen im globalen Theater

Deutschsprachiges Regietheater ist vielen unverständlich, es gilt als verrückt und doch interessant, zumindest scheint es an- und aufzuregen. Mutmaßlich ist es deshalb oft spannend, weil es außerordentlich offen für die Integration von Ästhetiken anderer Länder, Regionen und Kulturen erscheint, wobei es Teil interoder transnationaler Beziehungen, Vernetzungen und kultureller Mobilität ist. Weitgehend einig ist man sich darüber, dass in der deutschsprachigen Theaterlandschaft das Inter- oder Transnationale zur lokalen Eigenheit zählt. Beeindruckt ist man von Inszenierungen Luk Percevals, Katie Mitchells, Barbara Wysockas, Nurkan Erpulats, Dusan Davids Parizeks, Alvis Hermanis, Jan Klatas, Susanne Kennedys, Yannis Houvardas und Lola Arias. Performatives Theater wie das des Nature Theater of Oklahoma, von Jan Lauwers, Forced Entertainment, Rosas und Romeo Castellucci ist eine gewohnte Erscheinung im Festivalbetrieb zwischen Berlin, Hamburg, Wien und München. Ein transnationales Ensembletheater wie die Münchner Kammerspiele unter Johan Simons oder das postmigrantische Maxim Gorki Theater von Shermin Langhoff sind nichts Besonderes mehr, und die Spielpläne der Plattformtheater, etwa des »HAU 1–3«, von Festivals wie »euroscene Leipzig« und theatraler Netzwerke wie »Mitos21« sind programmatisch global ausgerichtet. Der Titel der Ausgründung der Berliner Festspiele als Veranstalter des Berliner Theatertreffens für internationales performatives Theater, »Foreign Affairs«, spricht für sich. Auch das wichtigste deutschsprachige Festival für junge Theatermacher, »Radikal Jung« am Münchner Volkstheater, beschränkt sich nicht mehr auf den deutschsprachigen Nachwuchs, sondern präsentiert ein weites Spektrum an Ästhetiken und Regisseuren, seit 2011 aus dem europäischen Raum und seit 2013 aus der globalen Theaterlandschaft. Die heute vorherrschenden transnationalen Vernetzungen und kulturellen Mobilitäten sind jedoch keine Einbahnstraße. Theatermacher und Ensembles wie das der Berliner Volksbühne, des Thalia Theaters, der Münchner Kammerspiele oder freie Gruppen wie Rimini Protokoll, She She Pop

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oder René Pollesch stellen ihre Arbeiten auch im Ausland vor, werden zu Festivals eingeladen oder inszenieren selbst außerhalb des deutschsprachigen Raums.

II.

Globale Diversität und transnationale Perspektive nach der Hochglobalisierung der 1990er Jahre

Diese generelle und globale Diversität fordert heute grundsätzlich einen globaloder transnationalperspektivischen Blick auf die theatralen Phänomene ein, zumal der Prozess der Globalisierung mit der Entwicklung, Einrichtung, Verbreitung und Ausdifferenzierung von offeneren ökonomischen Feldern, interdependierenden Organisationen, global ausgerichteten Medien, Technologien, besseren Verkehrswegen und – Stichwort Containerökonomie – effizienteren Transportmöglichkeiten verbunden ist. Dies bedeutet zum einen eine dichtere und lebendigere globale Vernetzung, zum anderen eine tatsächliche oder angebliche Verringerung politischer, kultureller sowie letztlich geographischer Unterschiede und Distanzen. Selbstverständlich hat das Auswirkungen auf die Theaterwelt, auf den von ihr mit performten Raum von regionaler bzw. lokaler und translokaler, wenn nicht transnationaler Öffentlichkeit, auf den Austausch bzw. die Migration von Ästhetiken, Künstlerpersönlichkeiten, Inszenierungsstile und Institutionsformen. Diese Dimensionen, Entwicklungen und Dynamiken – wir fügen hinzu: Performanzen – hat Arjun Appadurai u. a. mit den Begriffen »Mediascapes«, »Technoscapes« oder »Econoscapes« beschrieben.1 Transnationale Phänomene ereignen sich hierbei vor diesem Hintergrund auf der Basis einer entsprechenden Mobilität, nicht umsonst eines der wichtigsten Schlagworte in der letzten Zeit. Dies betrifft sowohl materielle Güter und Artefakte als auch Habitus, Lebensstile, Ästhetiken und Akteure auf den verschiedensten Qualifikationsebenen. Hierbei kann man bekanntermaßen paradoxe Entwicklungen feststellen: Während für hochqualifizierte Akteure wie international ausgerichtete Künstler und Regisseure die Grenzen eher fallen, nehmen die Schwierigkeiten bei der Grenzüberwindung für Migranten ohne hohe Qualifikationsausweise eher zu, wachsen sich an einigen Brennpunkten gar zu lebensgefährlichen Unternehmen aus. Das Lokale erweist sich als (zu) enger Raum für sogenannte »untere Schichten«, während es zugleich den jeweiligen Lebens- und Arbeitsraum einer künstlerischen Elite bildet – Ghettoisierung ist eine Tendenz in der zunehmenden Differenzierung nach Oben wie nach Unten. Dies trifft 1 Vgl. Appardurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalisation. Minneapolis: University of Minnesota Press 1996.

René Polleschs transkulturelle Produktion »Jackson Pollesch«

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umso mehr auf das regional verankerte Stadt- und Staatstheater in der deutschsprachigen Theaterlandschaft zu. Im globalen Vergleich ist das deutschsprachige, hochsubventionierte Theater aufgrund der Entwicklung Deutschlands aus der historischen Kleinstaaterei heraus und der Kulturhoheit der Länder bzw. kommunalen Verankerung als institutionelle Vorbedingung per se regional und lokal verortet. Im Gegensatz etwa zum angelsächsischen Raum besitzt es zudem die institutionelle Eigenheit, dass es neben der Integration global agierender Künstler wie Regisseure, Schauspieler und Bühnenbildner auch die Grenze zur sogenannten Freien Szene schon seit Jahren weit geöffnet hat und hält. Dies betrifft sowohl Ästhetiken wie auch Theatermacher; wir haben es also im Moment in der deutschsprachigen Theaterlandschaft mit mehreren Arten von Mobilität zu tun. Zu der Mobilität von Ästhetiken, sowohl auf der Produktionsebene als auch auf der Rezeptionsebene, gesellt sich u. a. die Mobilität von Intendanten, Schauspielern, Regisseuren, Dramaturgen, Bühnen- und Kostümbildnern und nicht zuletzt der Kulturkritik sowie eines polyglotten Publikums. Hierzu gehört ebenso die globale Mobilität von im deutschsprachigen Raum erfolgreichen, innovativen Regisseuren wie René Pollesch.

III.

Eigen- und Fremdanmutungen vor Zuschreibungen

Das diskutierte Medium wird im Folgenden nicht die Literatur im engeren Sinne sein, sondern die Inszenierung als Struktur ästhetisch organisierter Zeichen oder – noch schwieriger wissenschaftlich in den Griff zu bekommen – die Aufführung als Ereignis, Präsenz, Genotext, als ein nur im Moment existierendes und zugleich verschwindendes Artefakt. Natürlich gehört in der deutschsprachigen Theaterlandschaft auch die Literatur bzw. der mehr oder weniger dramatische Text (meistens) zum Theater, geht in den theatralen Text ein und grundiert das in verschiedenste Ausprägungen eingerichtete Rollenspiel. Insbesondere im deutschsprachigen Regie- und Regisseurtheater ist das Spannungsverhältnis zwischen Theatertext und präsentischer Aufführung eine der zentralen ästhetischen Leistungen und ein Aufreger im doppelten Wortsinn. Psychologisch evident, aber in der Kunstwissenschaft immer noch kaum über die abstrakt-begriffliche Fassung hinaus reflektiert ist die direkte Wirksamkeit von Aufführungen, die aber erst im zeitlichen wie auch kausalen Nachhinein in der Figuration, im performativen Akt der Zu-Schreibung gänzlich und gestalthaft erkannt und in den wissenschaftlichen Be-Griff transponiert werden kann. Dem unmittelbar begegnenden Phänomen noch ferner steht die Reflexion, Analyse oder gar Erklärung der entstehenden Gestalt, Figur oder Dramaturgie und des damit verbundenen ästhetischen Erlebnisses. Zuschauer (und Schauspieler sowie sonstige Beteiligte) lassen sich von der

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Atmosphäre der Aufführung anregen, werden von ihr aufgeregt oder bleiben gelangweilt und uninteressiert. Früh und leider unbewusst wirksam sind auf intuitiver Ebene hierbei Eigen- und Fremdbilder im Sinne von Eigen- und Fremdeindrücken oder Eigen- und Fremdanmutungen. Diesen Fremdanmutungen korrespondieren auf verschiedenen Ebenen und in differenten Verflechtungen gleich- sowie gegenläufig zu Eigen- und Fremdzuschreibungen auf dramatisch-dramaturgischer Ebene. Während sich das Dramatische insbesondere in der Gestalt der Figuren, in der mehr oder weniger kausalen Handlung, im Dialog sowie in Ort und Zeit zum theatralen, auf semiotischer Ebene erörterbaren Ausdruck bringt, führt das über die Anmutung Spürbare, Erlebbare und entscheidend Affizierende ein fast gefährlich zu nennendes Eigenleben. Dies umso mehr, wenn es um Fremd- oder Andersheit geht, die auf der Ebene der Anmutung unbewusst wirkt.

IV.

Hybridisierungen in Theaterkulturen

Besonders auffallend sind solche Eigen- und Fremdanmutungen, wenn sie dem Zuschauer in direktem Kontrast aufgrund eines je unterschiedlichen Aufführungsstils in verschiedenen ›Theaterkulturen‹ begegnen. Selbstverständlich ist der hier heuristisch benutzte Begriff ›Theaterkultur‹ keineswegs unproblematisch – dies nicht nur mit dem Rückblick auf Johann Gottfried Herders homogenisierenden, exkludierenden, ethnisch grundierten Kulturbegriff im Zusammenhang mit einem je differenten Stand innerhalb eines Entwicklungsprozesses der jeweiligen Völker.2 Denn gerade in der heutigen deutschsprachigen Theaterlandschaft und deren Geschichte ist von transnationalen Verflechtungen sowie transkulturellen Überlagerungen und Verschichtungen auszugehen.3In der momentanen Selbstverständlichkeit des transnationalen Blicks, in der entspannt erscheinenden Integration globaler Multiperspektivität eröffnet sich jedoch die Frage nach der Differenz zum jeweils Anderen bzw. Fremden. Dies umso mehr, als ›originäre‹ Figuren oder sonstige Bühnenverweise auf das Fremde generell mit dem Problem der Vorstellungen, Projektionen und Stereotypisierungen verbunden sind: Für jede Inszenierung, etwa von Shakespeares Othello, Shylock 2 Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Riga: Hartknoch 1774. 3 Transkulturalität soll hierbei nach Wolfgang Welsch in Abgrenzung von den alten Modellen der Multikulturalität, mit deren Gefahr der Ghettoisierung, und der Interkulturalität, verstanden als um Verstehen des Anderen bemühter Dialog in sich abgeschlossener Kulturen, als eine neue Dimension in der globalen, transnationalen Theaterlandschaft verstanden werden. Vgl. Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Hrsg. von Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold. Bielefeld: transcript 2010, S. 39–66.

René Polleschs transkulturelle Produktion »Jackson Pollesch«

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oder Caliban, stellt sich erneut die Frage: Was ist fremd? Wie sieht der Fremde aus? Wie wirkt das Fremde? Fremdheit, so die seit Jahrzehnten vorherrschende Meinung, ist keine Essenz, Substanz oder Wesenheit, sondern Resultat eines relationalen Verhältnisses, und: Fremdheit und mentale Stereotype sind nicht voneinander zu trennen. Spätestens seit Edward Said sein weltweit einflussreiches Buch »Orientalismus« 1978 als Gründungsdokument postkolonialer Theorie vorgestellt hatte, in dem kulturelle Beschreibungssysteme des Westens als Teil von Machtdiskursen offengelegt wurden, war die abendländische Wissensproduktion und damit die Darstellung des Fremden im Theater nicht mehr unschuldig.4 Aus kulturanthropologischer Sicht ging es um die Darstellung kultureller Spezifität, wobei jeglicher Form transkultureller Verallgemeinerung eine Absage erteilt wurde, bis hin zu Homi K. Bhabhas Liminalitätsraum der Hybridization bzw. des In-Between.5 Dieser Liminalitätsraum könnte, auf den Ort der theatralen Aufführung übertragen, also sogenannter »dritter Raum« (third space) erfahren werden. Bhabhas durchaus utopische Vorstellung wäre, dass dieser dritte Raum, wie auf einer soziologisch-politischen Ebene Jürgen Habermas’ herrschaftsfreie Kommunikation, Differenzen hierarchiefrei begegnen lässt, wobei nach Jacques Rancière wohl eher Missverständnisse und nicht dialogische Verständigungen am Horizont zu erwarten wären.6 Hybridisierung bedeutet keine Synthese, sondern offen gehaltene Räume für Differenz, offene Übergänge, Performanzen und richtungsunbestimmte Bewegungen im grauen Bereich zwischen identitätsstiftenden Polen. Wenn das Fremde Resultat einer Zuschreibung und einer relationalen Beziehung in einem mehr oder weniger toleranten dritten Raum ist, wie verdeutlicht sich theatral oder performativ diese Beziehung? Oder anders und etwas vereinfacht gefragt: Wie oder was wären die ästhetischen Zeichen, die wirksam werdenden Anmutungen oder medialen Merkmale für den Fremdeinfluss? Dass dies eine anhaltend virulente Frage ist, zeigen die aktuelle Blackfacingdebatte und die Diskussion um das »Disabled Theater« von Jerome Bel/Theater HORA. Kann und darf heute noch etwas als ›anders‹, gar ›fremd‹ bezeichnet werden, gerade in einer transnationalen Welt des Neben- und Miteinanders von Lokalisierung, Regionalisierung und Globalisierung? Welche prägenden Einflüsse auf inhaltlicher und/oder formaler Ebene aus dem transnationalen Raum auf die hiesige Bühnenästhetik wären überhaupt zu verzeichnen und welche innovativen Formen sind daraus entstanden? Zumal nicht erst seit den 1990er Jahren als, so Arjun Appardurai, Epoche der ›Hochglobalisierung‹7 transnationale Verflech4 Said, Edward: Orientalism. N.Y.: Pantheon Books 1978. 5 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London: Routledge 1994. 6 Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981; Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. 7 Appardurai, Arjun: Die Geographie des Zorns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 14.

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tungen und Überlagerungen die Kultur- und damit die Theatergeschichte bestimmen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei nur an den Einfluss der italienischen Commedia dell’Arte auf das französische klassische Theater oder die Autorität Shakespeares für das deutsche Theater erinnert – Shakespeare wurde gar zum ›Dritten deutschen Klassiker‹ –, was relativ offen auf die paradoxe Konstellation von Kulturbildung hinweist.

V.

Glokalisierung einer affirmativen Ästhetik

Im Folgenden verlagert sich das die Tagung einleitende Motto von Uwe Johnson, »Die andere Seite mit ihren eigenen Augen sehen«, auf die Ebene der Erfahrung, Wahrnehmung, Verarbeitung und Reflexion von Theateraufführungen. Die jeweils andere Seite als diejenige einer mehr oder weniger ›fremden‹, ›anderen‹ Theaterkultur wird im direkten Vergleich scheinbar deutlicher, insbesondere wenn ein Parameter als Basis gleich (der Regisseur und dessen Textproduktion), der andere von seiner Herkunft her verschieden (der Schauspielstil aus historisch unterschiedlichen Theaterkulturen) ist. Dabei geht es jedoch nicht allein um bewusst erfassbare Zuschreibungen, sondern insbesondere um die mutmaßlich relevanteren evozierten Anmutungen. Man kann sich hierbei auf zwei Aufführungen René Polleschs beziehen, die ich Anfang März 2012 anlässlich einer Gastdozentur kurz hintereinander in Łódz´ auf dem »International Festival of Pleaseant and Unpleseant Pieces« gesehen habe. Zum einen am 1. März ein Gastspiel der Volksbühne Berlin, »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!«, im Club Manufacturing Company. Zum anderen am 3. März »Jackson Pollesch«, ein Gastspiel des Teatr Rozmaitos´ci (TR) Warschau im Common Theatre in Łódz´. Für lineare Dramaturgien und eindeutige Gestalten, den Dialog als das, was das klassische Drama definiert, und erkennbare Zeiten und Orte sind Polleschs pop- und volksbühnenästhetische Einrichtungen nicht bekannt. Dramatische Konstituentien werden weitgehend dekonstruiert, Zuschauerbedürfnisse nach Sinn subvertiert und Identitäten in Korrelation zur Ähnlichkeit in der Gestaltung per se als Trugschluss ausgewiesen. Schon auf der Diskursebene, aber auch in der Performanz bzw. im Bühnenspiel werden die Unähnlichkeiten der Körper im Sinne einer affirmativen Ästhetik, wie sie Lyotard definiert8, ständig in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Ohne Zweifel dürften dramatische und theatrale Texte von René Pollesch ähnlich wie die von Elfriede Jelinek Stereotype am wenigsten zulassen und das Typische in der Figuration generell möglichst vermeiden, wenn nicht dekonstruieren. Damit wäre, so könnte man behaupten, eine Eigen- und Fremd8 Vgl. Lyotard, Jean-François: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin: Merve 1977.

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zuschreibung von vornherein kaum möglich, schon gar nicht könnten sich nationalistische Eigen- und Fremdstereotype von polnischen und deutschen Schauspielern ausbilden. Mehr oder weniger offensichtlich wäre jedoch die Differenz im dramatischen Stil oder in der theatralen Ästhetik im Sinne von ›typisch deutschsprachiges Regietheater‹, ›typisch Volksbühne‹, ›typisch Polleschprojekttheater‹. Immerhin gelingt es dem geübten Theatergänger meist, Eigen- und Fremdzuschreibungen anzuknüpfen, wenn es um das verrückte deutschsprachige Regietheater geht, das im globalen Vergleich für sogenannte »Ausländer« doch irgendwie ›anders‹, ›seltsam‹ und ›fremd‹ erscheint. Demensprechend vermittelte sich mir in der vergleichenden Rezeption beider Aufführungen der Eindruck bzw. hatte ich die Anmutung, dass mir eine von zwei Polleschaufführungen in Łódz´, ohne dass ich das sofort begründen konnte, irgendwie, wie man im Deutschen sagt, ›spanisch vorkam‹ (eine Redewendung nicht ohne diskriminierenden Beiklang9), also eigentümlich fremd war. Die erste Aufführung, »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!«, war mir erst mal vertraut, eine ›typische‹ Produktion der Volksbühne Berlin mit dem langjährigen, ›typischen‹ Polleschschauspieler Fabian Hinrichs. Neben einem hintereinander gestaffelten zweifachen Vorhang fiel die weitgehend leere Bühne auf, die bis zu den Füßen der in der ersten Reihe auf Kissen sitzenden Zuschauer reichte. Hinrichs bespielte, den Text in einem ihm eigenen, immer etwas anders als erwartet betonenden Rhythmus mit seiner angerauten Stimme skandierend, mit weitausholenden Gesten und den Raum ausfüllenden Touren ohne Anstrengung das weite Feld, das von Bert Neumann eingerichtet wurde. Er spielte Schlagzeug, Gitarre und Klavier, sang, strippte, spielte Tischtennis mit einem Statisten und sprach in Jeans und Holzfällerhemd, nur im schwarzen Slip und lange mit nacktem Oberkörper in einer schwarz-hybriden Strumpfhosenträgerhose als Allround-Entertainer jeweils das Publikum direkt an und benutzte vereinzelte, meist schon im Raum herumstehende oder -liegende Requisiten wie einen barocken Taktstock, eine volle Sektflasche, schwebende Luftballons, einen Stuhl, Reclamhefte, ein Gasanzünder oder eine Riesengirlande als Spielmaterial mit direktem oder indirektem Bezug zu einem mehr oder weniger, klar oder vermeintlich verstandenen Themenfeld. Höhepunkt war Hinrichs artistischer Akt an einer riesigen Leuchterkugel vor der Präsentation einer übergroßen, brennenden Jahreszahl 1971 als das Jahr, in dem die USA den Goldstandard verabschiedeten – unschwer zu verstehen als ironi9 Vgl. hierzu etwa das 15. Kapitel (»Simplicii Reiterleben, und was er bei den Kroaten gesehen und erfahren«) in Grimmelshausens »Simplicissimus« von 1668: »Bei diesem Herrn kam mir alles widerwärtig und fast spanisch vor, die hanauischen Schleckerbißlein hatten sich in schwarzes grobes Brot und mager Rindfleisch, oder wenns wohl abging, in ein Stück gestohlnen Speck verändert.« Mutmaßlich speist sich dieses Stereotyp aus der Kritik an der Einführung des spanischen Hofzeremoniells durch Kaiser Karl V.

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sche Kritik des Beginns einer neoliberalen Geldpolitik und Wirtschaftsordnung. Auch wenn das Publikum sicher nicht alles auf der inhaltlichen Ebene verstanden haben dürfte, gelang es dem Ausnahmeschauspieler Hinrichs in einer extrem beweglichen, furiosen athletisch-unangestrengten One-Man-Show das Publikum zu fesseln. Die andere Aufführung – zwei Tage später – , »Jackson Pollesch«, des TR Warschau, Polleschs zweite Arbeit nach »Ragazzo dell’Europa« am TR Warschau, wie üblich in der Regie des Autors, erarbeitete, wie von Pollesch gewohnt, den Theatertext im Probenprozess mit den polnischen Schauspielern vor Ort. Dies wie auch die strikte Vorschrift des Autors, seine Texte dürften nur von ihm selbst als Regisseur auf die Bühne kommen, sorgten für einen lokalen Charakter der Aufführung im global verbreiteten Inszenierungsstil des gefragten Regisseurs. Polleschs Produktionen sind infolgedessen gute Beispiele für die »Glokalisierung«, die Robert Robertson als Eigenart der ausgreifenden Globalisierung beschreibt.10

10 Vgl. Global Modernities. Hrsg. von Featherstone, Mike, Scott Lash, Roland Robertson. London: Sage 1995.

René Polleschs transkulturelle Produktion »Jackson Pollesch«

VI.

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Diskurstheater und die Auflösung des stereotyp Dramatischen

Pollesch ist als Regisseur wie als Autor ein besonders auffälliger Vertreter des Diskurstheaters.11 Postmoderne Erfahrungswelten, Anlehnungen an die Ästhetik der Performance Art und neostrukturalistische Philosophien führen bei ihm zu einer theatral-dramatischen Vorstellung, dass die dargestellte Wirklichkeit oft nicht nur ohne soziale Realität als Referenten auskommt, sondern sich gar selbst in Anführungszeichen setzt. Letztlich leite der Diskurs und herrsche eine performative An-Ordnung von Praktiken, die das produzieren, von dem sie sprechen. Während sich Diskurse in der Performanz der Theatralität auf der Bühne wie auch im Alltag sprachlich ausprägen, grundieren sie eine diskursive Praxis, von der eine Assemblage an Institutionalisierung, Organisation, Historisierung, Hierarchisierung und Medialisierung der ›Subjekte‹ eingerichtet würde. Polleschs Theatertexte und Inszenierungen analysieren kritisch-performativ die herrschenden diskursiven Praktiken. Auf der Bühne und in den entsprechenden Theatertexten steht nicht die Abbildung im Sinne einer naiven Mimesis im Vordergrund, sondern eine wie nebenbei dekonstruierende Praktik der (Wieder-)Aufführung von selektierten Ausschnitten, Gestalten und Diskurselementen. In diesem Sinne stellt sich die Frage, ob diese theatrale Ästhetik eine politisch-kritische sein kann? Die Grundannahme dieses Theater orientiert sich mit Godard, der meinte, es gehe nicht darum, politische Filme, sondern Filme politisch zu machen, mit Brechts sozialem Gestus und mit Richard Schechners Modell einer Aufführung als rituelle Erfahrung an einer Ästhetik, der es weniger um den Dialog im inneren Kommunikationssystem des Gespielten auf der Bühne geht, sondern mehr um den Dialog zwischen Spielenden und Zuschauern. Da im Theater wie im Alltag den Diskursen nicht zu entkommen sei, könne fundamentale Kritik in einem so verstandenen politischen Theatermachen nur in der De-Konstruktion, also in der konsequenten Verweigerung der dramatischen Ordnung und in der entlarvenden Montage der Diskursfragmente möglich werden. Die assoziative Montage, die als ästhetische Methode dem Surrealismus entnommen ist, spiegelt die Erfahrung in der Introspektion, dass also im gewöhnlichen Spiel von Bewusstem und Unbewusstem Gedanken assoziativ montiert durch den Kopf jagen. Diese Diskurs- oder Gedankenfragmente bilden keine linear-kausale aristotelische Dramaturgie aus, sondern in Anlehnung an Deleuze/Guattari eine Dramaturgie der Assemblage. Somit stehen weder Schauspiel- noch Rollensubjekt im Mittelpunkt, sondern die performativ-bewegliche Archi-Textur der Assemblage sowie die in der Montage sichtbar ge-

11 Vgl. zum Diskurstheater Englhart, Andreas: Theater der Gegenwart. München: C. H. Beck 2013.

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machten Bruch- und Leerstellen zwischen den Diskursfragmenten, die sich noch zusätzlich in dem in Szene gesetzten Widerspruch gegenseitig in Frage stellen. Polleschs stilistisch mit hohem Wiedererkennungswert versehene Inszenierungen werden, ausgehend vom Prater der Berliner Volksbühne, an vielen anderen Häusern quer durch den deutschsprachigen Theaterraum gemeinsam mit den Schauspielern, deren Situation und Anregungen er direkt vor Ort in den entstehenden Theatertext hineinschreibt, sozusagen »just in time« produziert. Das Produktionsverfahren beruht auf der Intertextualität der symbolischen Ordnung der Kultur. Angenommen wird, Text oder Sprache seien dialogisch und zitierend zu verstehen, sie stünden immer in Bezügen zu anderen und fremden Texten, Intentionen und Bedeutungszuweisungen. Mit theatralem Rekurs auf Julia Kristeva, die die Thesen Michail Bachtins radikalisierte und von einer dialogischen Relation aller Texte untereinander in dem Sinne ausging, dass tatsächlich jeder Text Integration und Transformation anderer Texte sei, bauen Polleschs dramatische Situationen und Konflikte nicht mehr auf Intersubjektivität, sondern auf den performativen Dialog von Texten. Eine so verstandene theatrale Dialogizität provoziert auch Kritik, etwa von Frank Castorf: Es verschwände das sinnliche Ereignis, Theater wäre doch kein Seminarraum der Universität. Tatsächlich verbindet Polleschs Ästhetik jedoch geschickt das theatral-sinnliche Ereignis mit trocken-begrifflichen Thesenfragmenten und in den vorgeblichen Dialog bruchlos integrierten philosophischen, soziologischen, nachfragetheoretisch-volkswirtschaftlichen und naturwissenschaftlich-biologischen Zitatausschnitten. Erzählt werden keine Geschichten über spezielle Lebenssituationen und dramatisch-existentielle Konflikte, vielmehr wird die sinnliche Darstellung eines Theorieapparates präsentiert, der auf das Leben eines jeden einzelnen Akteurs und Zuschauers angewendet werden könnte. Der Theorieapparat weist reflektierend auf die eigene theatrale Methode: zur Sprache im Spiel kommen primär neostrukturalistische Denker wie Lacan, Agamben, Foucault oder Preciado. Letztlich ist es konsequent, aber nicht unbedingt seit den 1960er Jahren mehr innovativ oder gar avantgardisch, wenn Pollesch im bürgerlichen Medium Theater bürgerliche Subjektpositionen bzw. deren Repräsentationsmuster unterläuft, was ja schon der junge Peter Stein mit seinem Bremer »Torquato Tasso« 1969 fulminant vorgeführt hatte. Als getriebene Akteure in einer globalisierten Mediengesellschaft mit ständig zunehmendem Austausch an kulturellem Kapital sind die Figuren/Schauspieler bei Pollesch grundsätzlich in Bewegung. Performance hat bei Pollesch tatsächlich eine ästhetische und ökonomische Seite, wobei in einer solchen affirmativen Ästhetik unklar bleibt, wo die inhaltlich formulierte Kritik am Neoliberalismus formal ansetzen kann. Die komplexen Sprechtexte mit wenig Berührungsängsten vor dem Trashfilm, dem Slapstick, der billigen Soap, dem Melodram und der knalligen Boulevardkomödie werden von

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den Schauspielern rasend schnell gesprochen und verhaspelt, der Souffleur wird fast zum gleichberechtigten Performer auf der Bühne. Die Institution des Theaters, die Proben und Produktionsbedingungen sowie die Arbeitsverhältnisse der beteiligten Schauspieler werden ständig mitreflektiert. Es ergeben sich durch die ständige Verweigerung einer sinnvollen Replik Brüche, die aufgrund des plötzlichen Kontrasts zwischen Zuschauererwartung und Gebotenem sehr komisch wirken können. Polleschs Theatertexte verweigern offensichtlich einen naturalistischen Stil, sie deuten wie Peter Handkes »Publikumsbeschimpfung« (1966) als Sprechstücke auf die Struktur der Gesellschaft und des Theaterbetriebs mit seinen Systemzwängen im engeren Sinn. Somit hätten Schauspieler, die auf der Grundlage eines Stanislawskischen Erlebens in der Rolle oder einer gespielten Natürlichkeit arbeiten, wenig Anknüpfungspunkte an den geforderten Habitus eines Akteurs in einer Polleschproduktion. In dieser werden die Zuschauer über die partielle Infragestellung der vierten Wand zwischen Kunst- und Real-, also Zuschauerraum direkt angegangen, wie es gerade Hinrichs in Polleschs »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!« virtuos präsentierte.

VII.

Der Zuschauer als Künstler, Kreativität als Zwang

In »Jackson Pollesch« drängt sich schon mit dem Titel ein Bezug auf die Kunstgeschichte auf. Und mit etwas zusätzlicher Einbildungskraft, Assoziationsmotivation und bildungsbürgerlichem Allgemeinwissen wird man auf die Ähnlichkeit zwischen dem abstrakten Expressionismus Jackson Pollocks, seinem Drip- oder Action-Painting und der assoziativen Montage des Dialogs in René Polleschs Arbeit aufmerksam. Polleschs und Pollocks performative Gesten verweisen beide auf das Unbewusste – hier im gestaltverweigernden, abstrakten Bild, dort in der Gestaltung der nichtdramatischen Dramaturgie. Angespielt wird zudem der thematische Zusammenhang zwischen Kunstszene und Gesellschaftsstruktur, die beide – so ein Grundthema des Autors – heute nicht mehr so einfach oder vielleicht gar nicht mehr zu trennen seien – wir sind irgendwie alle Künstler, frei, mehr oder weniger schlecht bezahlt, aber möglichst schöpferisch und einfallsreich. Die geforderte Kreativität verbindet den Performancekünstler mit dem Unternehmensberater, den Schauspieler mit dem Unternehmer, den arbeitslosen Designer mit dem freigestellten Betriebswirt. Im konkreten Fall der Aufführung bringt die Kreativität gleichermaßen auf gesellschaftspolitischer Ebene Schauspieler und Zuschauer sowie auf produktionsästhetischer und zugleich wirkungsästhetischer Ebene Schauspieler und Zuschauer zusammen. Im performativen Vorgang der Kreativität ist eine unbewusst-intuitive mit einer insbesondere von Pollesch provozierten medien- und gesellschaftsreflexiven Ebene verbunden. Im Genotext der

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performativen Kreation kommt man ohne aristotelisch-kausale Handlung aus, zumindest variiert Pollesch sein übliches Spiel der Verwechslungen und Fehlbesetzungen, das die grundlegende Theatralität und Performanz der ›Identität‹ in einer Inszenierungsgesellschaft thematisiert. Polleschs Akteure ›repräsentieren‹ – entgegen mancher poststrukturalistischer Forderungen an die Dramaturgie – durchaus die existenzielle Situation der Alltagsakteure im Zuschauerraum. Man ist sich von vornherein programmatisch unklar darüber, ob die Bühnenakteure als Schauspieler in der Rolle oder neben der Rolle mitwirken. Insofern ist es kein Wunder, dass sich auch die sechs Schauspieler plus obligatorisch mitlaufendem Souffleur des TR Warschau, Aleksandra Konieczna, Agnieszka Podsiadlik, Tomek Tyndyk, Roma Ga˛siorowska, Jan Dravnel, Rafał Mac´kowiak und Wojciech Sobolewski, in »Jackson Pollesch« gleich nach dem ersten Auftritt im falschen Stück, im falschen Bühnenbild und in der falschen Rolle wähnen. Man kann dem undialogischen, zu Einzelmonologen tendierenden ›Dialog‹ zumindest rudimentär entnehmen, dass die Auftretenden nicht die vorgesehenen seien, weil die ›richtigen‹ Schauspieler streiken würden. Darüber hinaus agieren die Gestalten der Akteure vor einem fremden Hintergrund – eigentlich hätten die Akteure das Bühnenbild einer französischen Boulevardkomödie erwartet. Statt dessen sieht man im Bühnenraum von Chasper Bertschinger links eine untapezierte, rohe Kulissenwand aus Holz mit drei Türen und Klingeln, die, wie oft bei Pollesch, für ein am Slapstick orientiertes Klingel-Tür-auf-Tür-zu-Spiel genutzt wird. Eine breite Mitte des Bühnenraums bleibt leer, während hinten die volle Kleiderstange einer Modenschau und mitte-rechts-hinten kreisrunde, architektonische Gebilde auf Säulen zu sehen sind, die an Buckminster Fullers Dymaxionhouse erinnern.12

12 »Dymaxion« sollte angeblich für »dynamic maximum tension« stehen. Das Haus war von Fuller aus ökonomischen Gründen dezidiert für eine nomadische Familienexistenz vorgesehen; es ließ sich leicht auf- und abbauen, einpacken und transportieren.

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Die Schauspieler agieren in theatral-willkürlich aus dem Fundus zusammengewürfelten, soziologisch uneindeutigen und geschlechtsunspezifischen Kostümen (von Svenja Gassen) ohne eindeutige Rollenzuweisung in einer mehr oder weniger typischen Polleschschen Erlebnislandschaft, die wie üblich keine Synthese im Kopf des Zuschauers im Sinne einer Orts- oder Zeitlokalisation bzw. eine Handlungsableitung zulässt. Zudem wird das traditionelle Verhältnis Bühne–Zuschauerraum und die alte Theaterformel, Theater sei, wenn Schauspieler A die Rolle B spiele, während C zuschaue, in Frage gestellt, wenn von vornherein nicht so recht klar sei – so auf der Aussageebene des Stücks –, wer hier im Raum eigentlich die ›wahren‹ Künstler und Kreativen seien, wo doch das ganze Publikum, neoliberal angetrieben, kreativ sein müsse, um wirtschaftlich und gesellschaftlich zu überleben. Was bitte sollten Schauspieler und das Theater heute noch inszenieren, wenn die ganze Gesellschaft eine Inszenierungsgesellschaft sei? Noch nicht einmal der Theatertext gibt Halt, denn er ist vom Autor just in time im Probenprozess erstellt worden, inklusive der Erfahrungen und Beiträge der Akteure selbst. Der Theatertext bekommt somit einen selbstreflexiven Charakter. Auf der Ebene der Aufführung werden Fehler, Aussetzer, Verhaspelungen und Abbrüche zum intendiert-normalen Teil der Inszenierung, verweisen sie doch im Verfehlen auf die ansonsten unsichtbare Medialität des Vorgangs. Im postdramatischen Gestus nach Brecht »wechseln« die Akteure oder Performer ständig und abrupt Perspektiven, Identitäten, sexuelle Neigungen, Verhalten, Stimmung, Haltung und Geschlecht. Sie sprechen allein, in der Gruppe und im Chor. Eine üblich tragende Ebene in Polleschs Dramaturgie sind die unterschiedlichsten Diskurse mit, was die Philosophie betrifft, neostrukturalistischer, was die Wirtschaftspolitik betrifft, meist linker Perspektive. Zudem ist eine thematische Thesenhäufung rund um die Frage nach der Identität, Figur und gesellschaftlichen Funktion des Künstlers zu registrieren, wobei es mit Rekurs auf Beuys soziale Plastik und die Pop-Art der 1960er Jahre um eine Nivellierung der ehemaligen Grenzen zwischen High- und Low-Art geht. Kunst sei heute keineswegs mehr elitär, vielmehr durchdrängten künstlerische Ästhetiken, Verfahren, Erfahrungen und Strukturen die Gesellschaft als Ganzes. Kreativität entspreche gegenwärtig der Normalitätserwartung, sie sei nicht Teil der beruflichen Identität und des privaten Habitus der gesellschaftlich kleinen Gruppe von Künstlern, sondern werde von jedem Bürger, Arbeitnehmer und Gesellschaftsmitglied verlangt. Auch die Schauspieler der Polleschproduktion sehen sich nun keineswegs einem Publikum gegenüber, dessen Lebensinhalt originär entfremdete Arbeit wäre, sondern ebenfalls professionell Kreativen. Kreativität als gemeinsames Merkmal reduziert die Vierte Wand zwischen Kunst- und Realraum. In der Institution des Theaters funktioniert der Kreative ganz ähnlich wie der Werbedesigner in der Agentur, der Lehrer in der Schule, der Makler an der Börse und

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der Bäcker in einem Lebensmittelkonzern als Teil eines, wie es bei Pollesch heißt, »gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs«. Man erkennt als Zuschauer den listigen Geist des Neoliberalismus und der gesellschaftsdurchdringenden Performance mit dem ständigen Zwang zur Erreichbarkeit, Mobilität, Flexibilität, Eigenmotivation und Anpassung in der jeweilig geforderten Identität. Es gehe nicht mehr um divergierende Interessen, um Hybris, unstatthaftes, amoralisches Begehren oder gar um Leben und Tod, um Gut und Böse, um Demütigung und Rache, um Herr und Knecht, den Konflikt von Protagonist und Antagonist. Damit ist auch der alte dramatische Konflikt unzeitgemäß, das Tragische wäre nicht, mit Jacques Derrida, durch die alte Konfliktdramaturgie eingelöst. Tragisch wäre vielmehr, der Geschlossenheit der Repräsentation nicht entkommen zu können. – Das hat immense Folgen: Zwar gäbe es keine Entfremdung mehr in den verschiedensten Projekten im und außerhalb des Theaters, aber es herrsche ein performativer Leerlauf auf allen theatralen Ebenen. Und: Im jeweils performativ Verfehlten, so könnte man folgern, wäre die De-Konstruktion der Stereotype bereits inhärent und damit grundlegend garantiert. Zugleich wäre eine neue Norm, ein neuer Strukturzwang zur Kreativität auf der Ebene des Diskurses eingerichtet. Diese entspräche einem bestimmten, heute fast verbindlichen Menschenbild, das Richard Sennett als »flexiblen Menschen«13 bezeichnet. Auf theaterpraktischer Ebene und konkret in der Aufführung einer Polleschinszenierung besteht der Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum gerade darin, dass die Kreativität des Zuschauerraums gefordert wird, weil nur sie eine mehr oder weniger inhaltliche und formale Gestalt, letztlich also (theatrale) Wahrnehmung ermöglicht. Damit wird die Arbeit der Produktion zusätzlich in den Zuschauerraum verlagert, die Akteure auf der Bühne wie im Alltag sind, ähnlich wie seit einiger Zeit der Bankkunde beim Onlinebanking, der Bahnkunde beim Fahrkartenkauf und der Buchkäufer bei Amazon, gleichermaßen zur kreativen Eigeninitiative gezwungen – die Individuen wähnen sich frei, tragen jedoch freiwillig zur Effizienzsteigerung der jeweiligen Institutionen bei.

VIII. Kulturhegemonie, Mimikry und performativer Widerstand Polleschs Inszenierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Situationen, Motivationen, Befindlichkeiten und Ästhetiken der ortsansässigen Schauspieler jeweils mit in das just in time fabrizierte Stück integrieren. Eigenartig bleibt nur, dass die Beteiligung der Schauspieler am Produktionsprozess, die Anlehnungen an die Produktionspraxis der freien Szene, die partielle Mitbestimmung gegen 13 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Berlin: Siedler 1998.

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die Entfremdungsmechanismen der Institution bei Pollesch immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen führen. Der Stil des Regisseurs wird leicht identifiziert, auch wenn Pollesch an unterschiedlichen Theatern mit verschiedenen Schauspielern arbeitet. Diese Konvergenz zwischen Regie- und Schauspielerästhetik lässt sich gut auf das Spannungsverhältnis von Lokalität und Globalität projizieren, wenn der deutsche Regisseur an einem Warschauer Theater mit polnischen Schauspielern arbeitet. Immerhin trifft hier ein Vertreter des verrückten deutschsprachigen Regietheaters auf eine traditionell reiche polnische Theaterkultur. Wie eine Theaterkultur definiert werden kann, bleibt generell ein Problem und wird – so eine der hier vertretenen Thesen – gerade von der Polleschinszenierung am TR Warschau in Frage gestellt, die vom Goethe-Institut und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert wurde. Nur: Kann man hier tatsächlich von einer gleichberechtigten Zusammenarbeit ausgehen? Oder handelt es sich um einen avantgardistisch verkleideten deutschen Kulturimperialismus? Muss man nicht von einer kulturellen Hegemonie auf theatraler oder theaterästhetischer Ebene sprechen? Wäre also mit Gramsci und Said neben der politischen und wirtschaftlichen insbesondere eine kulturelle Vormachtstellung zu verzeichnen, diesmal aber nicht als Vorrausetzung und Folge des historischen Kolonialismus, sondern aufgrund der ›Angleichung‹ des Ostens an westeuropäische Kultur- bzw. Theaterstandards? Zumindest scheint im Moment vor allem das deutschsprachige Theater in Polen als Vorbild attraktiv zu sein, so dass es zu einer deutlich asymmetrischen Machtkonstellation und einem etwas einseitigen Kulturtransfer kommt, der die historisch längerfristigen eigentlichen Kulturmobilitäten verdeckt.14 Schon der Titel »Jackson Pollesch« könnte bei einem Deutschen Fremdschämen provozieren, denn dass die polnischen Kollegen diese vielleicht ironisch gemeinte, aber trotzdem kaum zu übersehende Selbstermächtigung und Überhöhung eines Deutschen klaglos akzeptieren, ist durchaus bemerkenswert und verwunderlich. Ist der Aufführungstitel eventuell nur eine besonders ehrliche Reflexion der institutionellen Macht des Regisseurs im deutschsprachigen Theater? Und hat sich der Widerstand gegen diese Anmaßung unbewusst auf korporalmotorischer und damit auf intuitiv erfahrbarer Ebene formiert? Mit Bhabhas Konzept der kolonialen Mimikry betrachtet, könnte man die Schauspieler als ›kolonisiertes Subjekt‹ betrachten, das sich dem Übergriff einer fremden, hegemonialen Schauspielästhetik als kulturelle Autorität durch Renitenz in aufrechterhaltender Differenz halb anpasst, halb subversiv verweigert. Intuitiv spüren die Zuschauer, dass Konieczna, Podsiadlik, Tyndyk, Ga˛siorow14 Vgl. zu Kulturmobilität Greenblatt, Stephen: Cultural Mobility. A Manifesto. Cambridge: Cambridge University Press 2009.

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ska, Dravnel, Mac´kowiak und Sobolewski etwas steifer agieren, den Raum nicht selbstverständlich besetzen, dem Tempo nachhängen, unschlüssig im Raum verharren, die Geschmeidigkeit vermissen lassen. Das Berliner Vorbild wird zwar gespiegelt, aber nicht perfekt. Der Volksbühnenstil wird nachgeahmt, aber die polnischen Schauspieler assimilieren sich nicht vollständig, verfehlen das Bild des für sie fremden Schauspielstils. Die Spiegelung auf der Ebene der Aufführung wird mit einer auffallenden Markierung versehen, nämlich der intuitiv wahrnehmbaren Andersheit des Schauspielstils, der Präsenz und korporalmotorischperformativen Eigenart der Schauspieler. In der performativen Aushandlung des gespiegelten, nachgemachten Objekts der prominenten Theaterästhetik Polleschs und der Identität der polnischen Schauspieler entsteht kreativ etwas Neues, das sich im Verfehlen des idealen Volksbühnenstils, den Hinrichs virtuos in seiner Performance in »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!« vorstellt, ausprägt.

IX.

Fremdanmutungen als Hinweis auf die Transkulturalität von Theaterkulturen

Ähnlich wie Martin Wuttke, Katharina Schubert oder Katja Bürkle ist auch Hinrichs ein volksbühnenerfahrener Schauspieler. Dessen Schauspielstil wird mit theatraler Dekonstruktion, intelligenter Dialektik und zugleich mit dem trivialsten Materialismus, ungebundener Improvisation und bodenlosem Klamauk assoziiert. Die Schauspielerästhetik bleibt in der Tradition von Brecht illusions(unter)brechend, das sogenannte Natürliche wird als Diskursphänomen so ausgestellt, dass die Eigenart des Schauspielers neben die Rolle tritt, die Rolle vorgeführt und nicht gespielt wird. Die Theatralität des Rituals, das das performative Theater grundiert, forciert den Dialog zwischen Bühnen- und Zuschauerraum zuungunsten der Interaktion innerhalb des inneren Kommunikationssystems des Gespielten. Daher kann zum einen nicht unterschieden werden zwischen der Person Hinrichs und der Rolle, die er spielt oder die er eben ist. Zum anderen wird diese Rolle wiederum als Diskurs ausgewiesen und zugleich auf inhaltlicher wie formaler Ebene dekonstruiert. Das Ziel der Ästhetik von Pollesch ist letztlich, die subjektive und objektive Identität, essentielle Wahrheit oder Authentizität, die natürliche Erscheinung und den Charakter des Anderen sowie dessen Seele als Stereotyp und damit als Diskursphänomen zu präsentieren und zu entlarven. Das Menschenbild Polleschs ist ein (neo-)strukturalistisch grundiertes: Die Ähnlichkeit bzw. die Strukturähnlichkeit der Gestalten des Anderen garantiert innerhalb der symbolischen Ordnung die Kreation und Einordnung des Eigenen, Anderen und

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Fremden. Diese Ähnlichkeit der Gestalt des Anderen besitzt einen performativen Charakter, so dass der Genotext vor den Phänotext tritt und man besser von Ähnlichkeit der Gestaltungen reden müsste. Das Verbindende in der Gesellschaft ist somit der Strukturähnlichkeit in der Gestaltung und den Gestalten des jeweils Anderen geschuldet. Es bildet sich hierbei das, was Jacques Lacan ähnlich unter »Schirm« versteht – auf diese paradox-strukturalistische Wahrnehmungskonstellation spielt Pollesch mit dem Titel »Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!« direkt an. Ein Schauspielstil in der Tradition von Brecht setzt darüber hinaus immer auch den zeigenden Körper voraus. Neben den Diskursen wirkt die Eigenart, die Präsenz und, mit Emmanuel Levinas gesehen, die radikale Fremdheit des Anderen als ganz Anderem. Die Realpräsenz des Anderen stört, irritiert oder unterbricht die Zuweisung von Gestalten, Stereotypen und Bedeutungen zur Erscheinung des Anderen und subvertiert damit die Einordnung in den gesellschaftspolitischen Kontext sowie die Zuweisung einer ›nützlichen‹ Funktion. Die, wie es bei Pollesch heißt, tatsächlich grundlegende Unähnlichkeit des Realen, der Körper, das nicht der Norm entsprechende Erleben und Verhalten des Einzelnen und die radikale Fremdheit des Anderen stellt die automatische Funktion von Stereotypen infrage. Die Schauspieler sind also ständig angehalten, ein Paradox vorzuführen oder/und zu spielen. Sie stellen den Versuch, eine eindeutige Subjektivität und eine Rollenidentität herzustellen, als grundlegende und unhintergehbare Entfremdung aus, womit sie die Grundlagen der modernen Existenz an sich unterminieren. Für die Schauspieler in Polleschs Produktionen ergibt sich hierbei das Problem, dass sie zum einen die Widersprüche einer modernen Existenz vorführen, hierfür aber auf der Bühne einen glaubwürdigen Ausgangspunkt finden müssen. Das führt notwendigerweise auch auf der Ebene einer Beobachtung zweiter oder höherer Ordnung zu einem Selbstwiderspruch in ihrem eigenen Tun sowie in der ästhetischen Produktion – auf logischer Ebene ist der Weg in den unendlichen Regress unvermeidbar. Zum anderen öffnen sich auf der dramatisch-dramaturgischen Ebene durchgehend Brüche in den Dialoganschlüssen und in der Handlung, die, wenn die Schauspieler diese Vorgaben geschickt nutzen, durch die Brechung der Erwartung der Zuschauer spannend und zum Teil komisch, auf jeden Fall amüsant wirken können. Dies erklärt, wieso die Mehrzahl der Zuschauer einer Polleschaufführung kaum etwas versteht und trotzdem nicht gelangweilt sein muss. Die Gefahr dieses Schauspielstils ist allein, dass er selbst zum Phänotext, zur Gewohnheit, zum Stereotyp oder gar zum Klischee wird. Diese Gefahr ereilt generell Avantgarden, wenn der Bruch der Erwartungshaltung nicht mehr funktioniert, weil auf der Produktions- wie Rezeptionsseite alle Beteiligten zu Eingeweihten geworden sind. Damit hat sich das System jeweils stabilisiert und eine innere Kohärenz aufgebaut, zugleich mit dem Abschluss nach Außen und Innen den ›Zauber des Anfangs‹ und das Fremdkörpergefühl verloren.

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Dieses Fremdkörpergefühl stellt sich eigentümlich in der Produktion des TR Warschau wieder ein, zugleich wird hierbei die Transkulturalität von Theaterkulturen erfahrbar, die in der eingefahrenen Volksbühnenproduktion in der Routine der Selbstbestätigung weitgehend unsichtbar geworden ist. Im Vergleich mit der Virtuosität Fabian Hinrichs scheinen die Akteure des TR Warschau, Aleksandra Konieczna, Agnieszka Podsiadlik, Tomek Tyndyk, Roma Ga˛siorowska, Jan Dravnel, Rafał Mac´kowiak und Wojciech Sobolewski, mit etwas Abstand zum kulturellen ›Zentrum‹ der Volksbühne den ursprünglichen Gedanken des Fehlers, des Verfehlens in der Spannung zwischen Rolle und Eigenart des Schauspielers, durch ihre Mimikry wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Virtuosität bedeutet in diesem Fall, dass Volksbühnenschauspieler in ihrem Habitus die postmoderne Vorstellungswelt und das Lebensgefühl der mittleren Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren ihre zentrale ästhetische Sozialisation erfuhr, eingelagert haben. Ihnen fällt es leichter, jeden Wahrheitsanspruch, jede treffende Charakterzuweisung, jede Natürlichkeit und umso mehr jedes Pathos ironisch zu brechen. Aufgewachsen in und mit der Institution des deutschsprachigen Theaters, mit dessen Regie- bzw. Regisseurtheater, sind sie den Umgang mit verrückt-ausgefallenen Forderungen der Regisseure gewohnt. Das Vorführen einer Rolle auf der Basis der Brechtschen Ästhetik ist ihnen von vornherein vertraut. Dieses ständige Neben-Sich-Herlaufen im Schauspielen, diese ausgestellte Ambivalenz zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit kann durchaus zum performativen Stereotyp werden, der eine eigene Theaterkultur begründet, deren transkulturelle Wurzeln unsichtbar geworden sind. Die Mimikry der polnischen Schauspieler, der lebendige Widerstand, die performative Differenz im Verfehlen und der intuitiv bemerkbare Fehler schmuggeln hingegen eine Fremdanmutung ein. Weitgehend unbewusst eröffnet »Jackson Pollesch« einen von Bhabha beschriebenen Liminalitätsraum der Hybridization, einen Grenzraum der partiellen Aneignung des Anderen, ohne die Ursprungskomposita zu verschleiern. Die Aufführung wird zum »Dritten Raum« transnationaler, hybrider Kulturverflechtung und -überlagerung. In diesem Sinne weist die Aufführung des TR Warschau weit mehr auf die Brüche, inneren Widersprüche und letztlich auf die inhärenten Differenzen jeder Theaterkultur hin, weil sie dem status nascendi, dem Genotext näher ist und die Transkulturalität der deutschsprachigen, ja jeder Theaterkultur sichtbar werden lässt.

Cheryl Dueck (Calgary)

Der Schnee von Gestern – Interkulturelles Gedächtnis in der deutsch-polnischen Koproduktion »Wintertochter«

Durch das Zusammenwachsen der Europäischen Union einerseits und den Zusammenbruch der unter sozialistischen Regierungen vorherrschenden staatlich finanzierten Filmproduktion andererseits veränderten sich nach 1989 die gesamte europäische Filmlandschaft und die Filmfinanzierung maßgeblich. Vor allem Fördereinrichtungen der Filmindustrie ist es zuzuschreiben, dass polnische Filme zunehmend in Koproduktion mit internationalen Partnern produziert werden, unter denen Deutschland eine Vorrangstellung zukommt. Der sich parallel entwickelnde Trend, national-historische Filme zu produzieren, legt im Zusammenhang mit dem Wandel der Produktionsbedingungen die Frage nahe, welchen Effekt die internationale Zusammenarbeit auf das in den Geschichten präsentierte interkulturelle Gedächtnis hat, und ob Koproduktionen kulturübergreifende Werdegänge widerspiegeln oder sogar initiieren. Der Jugendfilm »Wintertochter«, eine deutsch-polnische Koproduktion, behandelt einerseits eine nuancierte Weitergabe kulturellen Gedächtnisses von einer Generation auf die nächste. Zwei historische Zäsuren finden in subjektiver Erfahrung Ausdruck: die Flucht der Ostpreußen im Jahr 1944/45 und, als Kennzeichen der Wende, der Rückzug der russischen Besatzungsmacht im Jahr 1994. Das Projekt eines gemeinsamen kulturellen Erinnerns von Deutschen und Polen, ein Wunschkind der Projektleiter, erweist sich jedoch andererseits in der Filmrezeption als heikel. Eine Untersuchung der Produktionsbedingungen sowie eine Analyse der Repräsentation von Erinnerung im Film wird dies deutlich machen. Internationale Koproduktionen sind kein Novum, ihr Anteil auf dem internationalen Filmmarkt wächst jedoch stetig. In Europa hat sich der Filmmarkt seit 1990 maßgeblich verändert. Die verstaatlichte Filmproduktion unter sozialistischen Regierungen der zentral- und osteuropäischen Länder wurde demontiert, und Finanzmittel der Europäischen Union, wie im Fall von Eurimages, wurden bereitgestellt, um gesamteuropäische Kulturprojekte und europäisches Identitätsbewusstsein zu fördern.1 Ein Untersuchungsbericht für das Europäische 1 Siehe Untersuchung von Jäckel, Anne: European Film Industries. London: BFI 2003.

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Filmpolitik-Forum stellte 2008 die Vorteile für Filmemacher mit internationalen Koproduktionen klar heraus: Zahlen aus 20 Ländern zufolge, die zwischen 2001 und 2007 erhoben wurden, können europäische Koproduktionen »on average 2.7 times as many admissions as their national peers« erzielen und diese Filme »travel better than their 100 % national counterparts in the sense that on average (mean) co-productions get released in more than twice as many markets as national films.«2 Während die wirtschaftliche Überlegenheit der Koproduktionen unumstritten ist, wird die Wirkung der Koproduktionen auf Filmnarrative, ihren weltweiten Appeal im Vergleich zu ihrer spezifischen Ortsbezogenheit kontrovers diskutiert. Vor den Gefahren einer Globalisierung des Films wurde während der Umgestaltung der europäischen Filmlandschaft in den vergangenen zwanzig Jahren laut gewarnt. Chantal Akerman warnte zum Beispiel 1992 vor einem »monolithic European cinema, as this would rob people of the ability to make strategic connections between things that are of value across boundaries and territories and would leave us without some idea of what a possible site of memory could be.«3 Die Globalisierung des Kinos impliziert die Suche nach »globalen« Geschichten und »gemeinsamer Geschichte«, die auf Verbraucher jenseits nationaler Grenzen eine Anziehungskraft ausüben.4 Während Kritiker wie Akerman den Verlust lokaler Spezifität sowie räumlicher kultureller Erfahrung und kulturellen Gedächtnisses befürchten, befürworten Minoritätenkritiker wie Luisa Rivi eine neue Europäizität im Kino und argumentieren mit Koproduktionen, die »effectively show how a film can attain and retain its specificity and integrity in spite of – or rather, because of – the intervention of multiple financial sources and correlated restrictions. Ultimately, co-productions destabilize the too-facile opposition of the supranational versus the national and local.«5

Die Liste der besten europäischen Filme seit Einführung der europäischen Filmpreise, von denen viele Koproduktionen sind, liest sich, laut Rivi, »like a possible repository of imagings and imaginings for post-1989 Europe and Eu2 Kanzler, Martin, Susan Newman-Baudais und André Lang: The Circulation of European CoProductions and Entirely National Films 2001 to 2007. Bericht an den Council of Europe Film Policy Forum. Krakow: COE 2008. http://www.coe.int/t/dg4/cultureheritage/culture/film/ paperEAO_en.pdf (Zugriff am 04. 03. 2014). 3 Akerman, Chantal: Screening Europe. Image and Identity in Contemporary European Cinema. Hrsg. von Duncan Petrie. London: BFI 1992, S. 69. 4 Baltruschat, Doris: Globalization and International TVand Film Co-productions. In Search of New Narratives. Media in Transition 2: Globalization and Convergence. Cambridge 2002. http://cmsw.mit.edu/mit2/Abstracts/DorisBaltruschat.pdf. 5 Rivi, Luisa: European Cinema After 1989. Cultural Identity and Transnational Production. New York: Palgrave Macmillan 2007, S. 41.

Interkulturelles Gedächtnis in dem Jugendfilm »Wintertochter«

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ropean cinema.«6 »Wintertochter« betritt das umkämpfte Terrain der gemeinsamen deutschen und polnischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte und entwirft diverse Strategien, um diese Geschichte einem jungen, zeitgenössischen Publikum nahe zu bringen. Zu welchem Grad, so möchte man fragen, erreicht dieser Film also die ›Destabilisierung‹ festgefahrener Vorstellungen über die jüngste Vergangenheit? »Wintertochter«, oder »Wintervater« auf Polnisch (Zimowy ojciec), wird als Familiendrama oder, laut Regisseur, als Generationenfilm lanciert. Der Film erzählt die Geschichte der 12-jährigen Katharina, oder Kattaka, die, als sie am Heiligabend den Telefonhörer in ihrer Berliner Wohnung abnimmt, erfährt, dass ihr leiblicher Vater ein anderer ist als sie dachte. Ihr russischer biologischer Vater, Alexej, arbeitet auf einem Containerschiff und hat ihre Mutter vom Stettiner Hafen aus angerufen. Als Katharina durch ihren Freund Knäcke herausfindet, dass Stettin, anders als von ihren Eltern behauptet, nicht sehr weit weg ist, besteht sie darauf, umgehend dorthin zu fahren, und zwar am liebsten ohne ihre Eltern. Die 75-jährige Nachbarin Lene bietet an, sie nach Stettin zu fahren, and Knäcke gelingt es, als blinder Passagier mitzufahren. Da Alexejs Schiff bereits von Stettin Richtung Danzig abgelegt hat, entwickelt sich die Fahrt zu einer Reise in die Vergangenheit, und zwar nicht nur für Katharina, die ihren Vater kennenlernen möchte, sondern auch für Lene, die als Kind aus dieser Region vertrieben worden war. Zwei geschichtliche Zeitabschnitte berühren sich in dieser Geschichte, die Zeit nach der Wende und die letzten Phasen des Zweiten Weltkrieges. Dabei wird die jüngere Vergangenheit nach der Wende durch die Geschichte von Kattakas Mutter repräsentiert. Sie unterhielt im wiedervereinigten Berlin eine Beziehung zu dem russischen Soldaten Alexej, der nach Wladiwostok zurückkehrte, nachdem 1994 die Truppen zurückgezogen wurden, ohne von der Schwangerschaft seiner Freundin zu erfahren. Die Geschichte von Lene, einer Deutschen, die als Kind in Olsztyn (dt. Allenstein) wohnte, steht für die Kriegsvergangenheit. Im bitteren Winter gegen Kriegsende, vermutlich im Januar 1945, musste sie mit ihrer Mutter zu Fuß vor den vorrückenden russischen Truppen von Allenstein nach Danzig fliehen, eine Strecke von etwa 170 Kilometern. Unmittelbar bevor sie an Bord gehen sollten, lässt Lene für einen Augenblick die Hand ihrer Mutter los, um von einem Jungen ein Stück Brot zu bekommen. Im Gewühl wird sie von ihrer Mutter getrennt, gerät an Bord des Schiffes und sieht ihre Mutter, die völlig außer sich auf dem Pier zurückbleibt, erst wieder, als das Schiff ablegt. Jahre später wird Lenes Mutter für tot erklärt. Der Film, unter Regie von Johannes Schmid, Drehbuch von Michaela Hinnenthal und Thomas Schmid, wurde mit Preisen gekürt, darunter dem Deutschen Filmpreis für den besten Kinderfilm (2011), dem Goldenen Spatz für das beste 6 Ebd., S. 61.

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Drehbuch (2011) auf dem Kinder-Film- und Fernseh-Festival, dem »Kindertiger« der Filmförderungsanstalt für das Drehbuch und dem Jurypreis des Chicago International Children’s Film Festival (2011) 7. 2014 war der Film für den AdolfGrimme-Preis nominiert. Mehr als zwanzig Jahre nach der Wende und mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fungiert der Film als Gedächtnisstütze für zwei Generationen. Während die Zahl der Zeitzeugen und damit der Zugang zu ihrer mündlichen Überlieferung unwiderruflich abnimmt, konserviert »Wintertochter« kulturelles Gedächtnis.8 Um Entstehung und Rezeption des Films nachvollziehen zu können, lohnt sich ein Blick auf das Umfeld der Filmindustrie. Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1991 unterzeichneten Deutschland und Polen den »Nachbarschaftsvertrag«. Ein erklärtes Ziel dieser Übereinkunft war die Integration der Kulturen9, die auf dem Gebiet der Filmproduktion auch explizit genannt ist und finanziell gefördert wird. In Deutschland unterliegt dieses Anliegen der Zuständigkeit des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Eines der erklärten Ziele dieser Integration geht zurück auf ein Gesetz von 1953, Paragraph 96 des Bundesvertriebenengesetzes: Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und Förderung der wissenschaftlichen Forschung10, die beinhaltet, dass Archive, Museen und Büchereien sowie die Förderung der Künste in und um die Vertriebenengebiete deutscher Bürger aus dem Osten unterstützt werden sollen. In Polen, wie auch in anderen zentraleuropäischen Ländern, musste die Filmindustrie nach 1989 neu geordnet werden, da die zuvor existierende staatliche Finanzierung wegfiel. Die Anfänge waren von zahlreichen Herausforderungen geprägt, und erst 2005 wurde durch die Gründung des Polnischen Filminstituts eine gewisse Stabilität der Filmlandschaft gewährleistet, die vor allem auf zuverlässige Finanzierung und Bewerbung zurückzuführen ist. Das Polnische Filminstitut (Polski Instytut Sztuki Filmowej) schüttet jährlich ca. 32 Millionen Euro zur Förderung polnischer Filme und internationaler Koproduktionen aus, darüber hinaus 7 Millionen Euro für Filmpädagogik und 7 Preise aufgeführt unter www.filmportal.de (Zugriff am 04. 03. 2014). 8 Wie Aleida Assmann erklärt: »Solange Erinnerungen nicht veräußerlicht und in externen Speichern fixiert sind, sind sie labil und fragil.« Dies.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck 2006, S. 53. 9 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. http://www.auswaerti ges-amt.de/DE/AAmt/PolitischesArchiv/HistorischeDokumente/Deutsch-Polnischer_Nach barschaftsvertrag_node.html (Zugriff am 04. 03. 2014). 10 Das Gesetz ist online verfügbar unter http://www.gesetze-im-internet.de/bvfg/BJNR002 010953.html (Zugriff am 04. 03. 2014), und die Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien verweist darauf auf ihrer Website: http://www.bkge.de/5843.html (Zugriff am 04. 03. 2014).

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Filmkulturförderung, und zeichnet sich verantwortlich für nationale und europäische Filmkultur11. Internationale Koproduktionen sind unter den ausgewiesenen Förderkategorien aufgeführt und werden darüber hinaus häufig von »Eurimages«, dem europäischen Kinofonds, unterstützt. Eurimages wurde während der europäischen Übergangszeit von 1988/89 mit dem Ziel gegründet, europäische Koproduktionen zu fördern, »for the purpose of stimulating European cultural identity.«12 Einen wichtigen Faktor für die Entstehung deutschpolnischer Filme stellte der 200613 gegründete »Deutsch-Polnische Co-Development Fonds« dar, der auf die im Nachbarschaftsvertrag von 1991 erklärten Ziele zurückgeht: »Der Fonds unterstützt dabei gezielt die Entwicklung vielversprechender Filmstoffe, die für ein Publikum auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze, aber auch für ein europaweites Publikum attraktiv sind.«14 Dieser Fonds wird vom Medienboard Berlin Brandenburg und dem Polnischen Filminstitut getragen und stellt Mittel für die Entwicklung deutsch-polnischer Stoffe zur Verfügung. Diese neu-eingerichteten Finanzierungsmittel haben die Zusammenarbeit im Vergleich zu früher ohne jeden Zweifel deutlich verstärkt. Kurz vor Polens EUBeitritt im Jahr 2004 äusserte sich Randall Halle 2002 zur filmischen Repräsentation der deutsch-polnischen Grenze (»Halbe Treppe« von Andreas Dresen, »Lichter« von Hans-Christian Schmid, »Julie Walking Home« von Agnieszka Holland, »Der Pianist« von Roman Polan´ski) und stellte fest, dass die Repräsentation Polens aus verschiedenen Gründen in späten Filmen der DDR Seltenheitswert hätte15. Beispiele für eine kulturelle Auseinandersetzung von Deutschen mit ihren polnischen Nachbarn gab es kaum. Wie von Halle beschrieben, änderte sich das erst um die Jahrtausendwende und im darauffolgenden Jahrzehnt, als plötzlich ein starker Anstieg von Projekten zu verzeichnen war, die die gemeinsame deutsch-polnische Vergangenheit und Gegenwart auf der Leinwand abbilden.

11 Finanzierungsbericht des Polnischen Filminstituts: http://www.pisf.pl/en/polish-film-instiu te-operational-programmes/operational-programmes; Ziele des Polnischen Filminstituts: http://www.pisf.pl/en/about (Zugriff am 04. 06. 2014). 12 Resolution (88) 15, einen europäischen Hilfsfonds zur Unterstützung von Koproduktionen und den Vertrieb kreativer cinematographischer und audiovisueller Arbeiten einzurichten (»EURIMAGES«) http://conventions.coe.int/Treaty/EN/PartialAgr/Html/Eurim8815.htm (Zugriff am 04. 06. 2014). 13 Medienboard Berlin Brandenburg http://www.medienboard.de/WebObjects/Medienboard. woa/wa/CMSshow/2668311?mode=cms2669580 (Zugriff am 04. 06. 2014). 14 Medienboard Berlin Brandenburg http://www.medienboard.de/WebObjects/Medienboard. woa/wa/CMSshow/2731519 (Zugriff am 04. 06. 2014). 15 Halle, Randall: German Film After Germany. Toward a Transnational Aesthetic. Urbana: University of Illinois Press 2008.

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Dieser Kontext stellte einen fruchtbaren Boden für den Film »Wintertochter« dar. Das Drehbuch von Michaela Hinnenthal, in Zusammenarbeit mit Regisseur Johannes Schmid und den Produzenten Philipp Budweg (Deutschland) und Mikołaj Pokromski (Polen), gehört zu den ersten Projekten, die mit Mitteln des Deutsch-Polnischen Co-Development Fonds gefördert wurden (27.125 Euro im Jahr 2007). Ohne diese Förderung und einen Zuschuss des Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) von 250.000 Euro hätte sich dieses Projekt wohl nicht verwirklichen lassen. Weitere Finanzierungsspritzen kamen vom Polnischen Filminstitut, der Bundes-Filmförderungsanstalt und dem Medienboard Berlin-Brandenburg. Zu guter Letzt stand dem Film ein Gesamtbudget von 1.940.000 Euro zur Verfügung. Er wurde von Schlicht-und-Ergreifend und Pokromski-Studio produziert in Zusammenarbeit mit den deutschen Funk- und Fernsehanstalten RBB, BR, MDR, NDR und SWR. Pokromski weist auf die Vorteile des Koproduktionsmodells hin, die vor allem in einem größeren Budget und einer erweiterten Zielgruppe zu sehen sind: »For companies like ours it is a chance to make our films on a level that is professional and not half-amateur because the money wasn’t there. It is significant in order to create a certain level of comfort for everyone involved and make a good film. Lastly, a coproduction is a great way to instantly get another market for your film, a place that is ready for it and where people are willing to show it to the audiences.«16

Offensichtlich fand der Inhalt des Films bei Sponsoren sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene Anklang und konstruiert als persönliche, die deutsch-polnische Grenze überwindende Geschichte wirksam länderübergreifendes kulturelles Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis, um das es hier geht, impliziert die Flucht und Vertreibung von Deutschen aus dem heutigen Polen und den Rückzug der russischen, vormals sowjetischen Truppen vor fast fünfzig Jahren. Einzelne fiktive Rückblicke auf historische Ereignisse unterrichten das öffentliche Bewusstsein, vielleicht besonders dann, wenn sie sich, wie in diesem Fall, an ein jüngeres Publikum richten. 1950 stellte Maurice Halbwachs fest, dass Erinnerung nie die Vergangenheit widerspiegeln kann. Jan Assmann hat diesen Gedanken folgendermaßen weiterentwickelt: »What remains is only that ›which society in each era can reconstruct within its contemporary frame of reference.‹ (Halbwachs) Cultural memory works by reconstructing, that is, it is always in immovable figures of memory and stores of knowledge, but every

16 http://filmneweurope.com/news/poland/108215-efp-producers-on-the-move-2014-mikolajpokromski/menu-id-158 (Zugriff am 05. 06. 2014).

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contemporary context relates to these differently, sometimes by appropriation, sometimes by criticism, sometimes by preservation or transformation.«17

Dabei ist es charakteristisch für Literatur und Film, dass sie beide Ebenen des kulturellen Gedächtnisses beeinflussen können, das individuelle und das kollektive Gedächtnis. Auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses können, wie Astrid Erll und andere herausgestellt haben, Filme und Bücher als einflussreiche Medien fungieren, deren Repräsentationen von Vergangenheit weite Verbreitung finden; man denke an »Im Westen nichts Neues« oder »Vom Winde verweht«18. Für »Wintertochter« sind in Deutschland und Schottland Lehrmaterialien entwickelt worden und der Film wurde an einigen deutschen Schulen in den Lehrplan aufgenommen, wie auch in die Initiative »SchulKinoWoche«19 2011– 2012. Da »Wintertochter«, finanziert über die Bundeszentrale für politische Bildung, didaktisch aufbereitet wurde, kann der Film als Bestandteil eines staatlich legitimierten, offiziell anerkannten kollektiven Gedächtnisses betrachtet werden. Seit seiner Premiere wurde der Film an vielen internationalen Veranstaltungsorten gezeigt, von Indonesien bis Chile. Der Film kann als Versuch betrachtet werden, Erinnerung für das Publikum zu schützen, zu vergegenwärtigen und zu erneuern und eine grenzüberschreitende Neu-Rezeption gemeinsamer Vergangenheit zu ermöglichen. Zahlreiche Filmtechniken werden in »Wintertochter« eingesetzt, um Körpergedächtnis zu aktivieren, Erinnerungen von einer Generation auf die nächste zu übertragen und interkulturelles Gedächtnis zu vermitteln. Die Redewendung »Der Schnee von gestern«, die 1533 von dem Poeten François Villon geprägt wurde (»mais oừ sont les neiges d′antan?«) 20, verweist – vielleicht mit einem Hauch Melancholie – heute auf etwas Vergangenes, das irrelevant oder nicht länger von Bedeutung ist. In diesem Film tauchen Ereignisse, die lange totgeschwiegen wurden und für die Gegenwart bedeutungslos schienen, wieder auf und entfalten ihre Wirkung sowohl auf die direkt Betroffenen als auch auf Nebenspieler. Dies gilt sowohl für 17 Assmann, Jan; Czaplicka John: Collective Memory and Cultural Identity. New German Critique No. 65, Cultural History/Cultural Studies (Spring-Summer, 1995), S. 125–133. 18 Siehe Erlls Untersuchung über den Beitrag von Film und Literatur im Hinblick auf kulturelles Gedächtnis: Erll, Astrid: Literature, Film and the Mediality of Cultural Memory. In: Cultural Memory Studies: An International Handbook. Eds. A. Erll and A. Nünning. Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 389–398. 19 »SchulKinoWoche« ist eine Art Wander-Filmverleih, der Deutschland bundesländerübergreifend bedient. Schulkindern werden die Filme im Unterricht gezeigt. Teilweise schließt sich eine Diskussion mit Mitgliedern der Filmcrew an. Auszug aus einer Broschüre der Bavaria SchulKinoWoche: http://www.schulkinowoche-bayern.de/userfiles/Broschuere.Uber_Vision_ Kino.pdf (Zugriff am 04. 06. 2014). 20 Sein Gedicht, »Ballade des dames du temps jadis«, wurde von Carl Fischer als »Ballade der Frauen von einst« übersetzt. Fischer, Carl (Hrsg.): François Villon. Sämtliche Werke. Zweisprachige Ausgabe. München: DTV 1992.

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den Vater, von dem Kattaka nichts wußte, als auch für die traumatische Trennung von Lene und ihrer Mutter, von der der Zuschauer erst spät im Film erfährt. Der Film versucht, den Vorgang des Erinnerns und an Orte, Gegenstände und Lebensmittel geknüpfte Emotionen über die Sinne transparent zu machen. In seiner Untersuchung »Die Phänomenologie des Körpers« beschreibt der Psychiater Thomas Fuchs unterschiedliche Formen des Körpergedächtnisses, wie zum Beispiel »procedural, situational, intercorporeal, incorporative, pain, and traumatic memory.«21 In »Wintertochter« wird ein traumatisches Erlebnis zunächst sinnlich über Anblick, Berührung und Klang der Winterlandschaft erinnert. Der Film wurde im Winter 2010, einem außergewöhnlich harten Winter, gedreht. Die winterliche Stimmung trägt sehr zur Atmosphäre auf der Suche nach dem Vaterland des Mädchens und zur Erinnerung der historischen Ereignisse des Winters 1944/45 in dieser Region bei. Die schneebedeckte Landschaft ermöglicht vergleichbare Erfahrungen der Menschen, die sie durchwandern22. Eine Einstellung auf dem Weg nach Danzig zeigt beispielsweise Schneewehen, die bei Lene eine traumatische Erinnerung an die strapaziöse Reise ihrer Kindheit auslösen. Ohne jegliche Rückblende gelingt im Film hier das Heraufbeschwören einer situationsbezogenen Erfahrung: Lenes langer Marsch durch die Kälte. Während ihr Blick durch die gefrorenen Scheiben des heruntergekommenen Transporters fällt, über die weitläufigen, verschneiten Felder schweift und die vom Wind gepeitschte Straße wahrnimmt, spüren wir, wie dieser Blick sich langsam nach innen richtet. Wie in Trance wiederholt sie die Worte: »Weiter. Nicht liegen bleiben. Wer liegen bleibt, erfriert.« In die Vergangenheit entrückt entgleitet ihr die Kontrolle über den Wagen, der von der Straße abkommt und in einer Schneebank steckenbleibt. Der Zuschauer hat währenddessen, verpackt in einen Dialog, von Lenes Flucht zu Fuß aus Olsztyn erfahren und registriert die Aktivierung der Erinnerung. »Der Schnee von gestern« zollt damit dem Schweigen der älteren Generation Tribut. Vielen der durch die Kriegserlebnisse im Zweiten Weltkrieg Traumatisierten gelingt es erst viel später im Leben, eine Verbindung zu ihrer eigenen Geschichte zu knüpfen, und nicht selten wird dadurch ein posttraumatisches Stresssyndrom ausgelöst23. Assmann stellte in diesem Zusammenhang fest, dass kommunikatives Gedächtnis, mündlich überliefert, maximal drei Generationen überdauert, nicht mehr als 80 bis 21 Fuchs, Thomas: The phenomenology of body memory. In: Body, memory, metaphor and movement. Ed. Sabine C. Koch. Amsterdam: John Benjamins 2012, S. 9–22. hier: S. 9. 22 Im »Making of«-Video erwähnen Regisseur und Schauspieler, wie die Kälte zum Zusammenhalt von Cast und Crew beigetragen hat. Das Resultat dieses Gemeinschaftsgefühls bildet sich auf der Leinwand ab. 23 Siehe beispielsweise Glaesmer, H., Brähler, E.: Die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Bevölkerung: Epidemiologische Befunde und deren klinische Bedeutung. Psychotherapeutenjournal 2011 (4), S. 346–353.

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100 Jahre24, und mit seinen Trägern erlischt. So bietet sich für Lene eine letzte Gelegenheit, die Geschichte ihrer Flucht, als Einzelperson und als Generation, an die, die nach ihr kommen, weiterzugeben. Ihre Heimat Allenstein war zu dieser Zeit deutsches Militärprotektorat mit einer mehrheitlich deutschen Bevölkerung, die fast vollständig vor der russischen Armee geflohen ist oder kurz darauf ausgesiedelt wurde. Halbwachs hat, vor Assmann, auf die Bedeutung des Generationendreiecks kollektiver Erinnerung hingewiesen und die älteste Generation mit der jüngsten verkettet: »Both are, for different reasons, uninterested in contemporary events that engross the parents.«25 Durch die Wiedergabe der eigenen Erinnerung werden die Meinungen und Überzeugungen der älteren Generation weitergegeben und als Erinnerung fixiert.26 Auch die Berührung verschiedener Gegenstände und durch sie ausgelöste Tastempfindungen aktivieren Erinnerungen. Als Kattaka Berlin verlässt, steckt ihre Mutter ihr das einzige Erinnerungsstück zu, das sie noch von Alexej besitzt, ein mit einem Monogramm versehenes Feuerzeug, und erwähnt, dass Alexej ein sehr guter Mechaniker war, der auch ihr Fahrrad reparierte. Als Kattaka Alexejs Kajüte auf dem Schiff betritt, findet sie ein Buch mit einer Widmung von Margarethe, ihrer Mutter. Eine Nahaufnahme lässt das Gewicht dieser Entdeckung in Kattakas Händen deutlich werden. Während der Autofahrt greift Lene reflexartig nach einem silbernen Schlüssel, den sie um den Hals trägt. Gegen Ende des Films wird klar, dass dieser Schlüssel zu einem kleinen Schmuckkästchen aus Lenes Kindheit gehört. Sie bewahrt darin die einzige überlieferte Fotografie ihrer Mutter auf. Der Anblick des Schmuckkästchens mit dem Foto transportiert Lene augenblicklich zurück in ihre Kindheit und ›triggert‹ überwältigende Erinnerungen an ihre Mutter, die sie seit 60 Jahren gerne um Vergebung bitten würde27. Timm Starl hält dazu fest: »Even blurry, under-exposed or in other ways failed photographs can do service insofar as they are tied physically to the event that produced them.«28 Das verblichene und zerknickte Foto zeigt Lenes Mutter, ihre Gesichtszüge sind kaum erkennbar, während sie das Kleinkind Lene auf dem 24 25 26 27

Assmann/Czaplicka, Collective Memory. 1995, S. 127. Halbwachs, Maurice: The Collective Memory. New York: Harper & Row 1980, S. 63. Ebd., S. 64. Dank gebührt Nedzmina Mehmedovic, die über das Verhältnis von Erinnerung und Sinneswahrnehmung in »Wintertochter« Auskunft gibt. Eine Analyse zum Einsatz von Sinneswahrnehmungen im Film findet sich in ihrer Master’s thesis, Universität Manitoba: Die Funktion der Sinne in der filmischen Erinnerung an die neuere deutsche Vergangenheit: Schwochows Novemberkind, Schmids Wintertochter und Petzolds Barbara, http://mspace. lib.umanitoba.ca/handle/1993/23544 (Zugriff am 04. 06. 2014). 28 Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. Berlin: Koehler & Amelang 1995, S. 23. Siehe die Diskussion in Ruchatz, Jens: The Photograph as Externalization and Trace. In: Cultural Memory Studies. 2008, S. 367–378.

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Arm hält; somit ruft die Aufnahme nicht den Augenblick ihrer Entstehung wach, sondern enthüllt ein Bildnis der längst verstorbenen Mutter, deren Gesicht Lene wohl nur noch vage erinnern kann. Das Foto ruft Erinnerungen an die Kindheit in Allenstein hervor, die zeitlebens mit dem Schmerz, der durch die traumatische Trennung von der Mutter entstanden ist, gekoppelt sind. Lene und Kattaka betrachten das Foto gemeinsam, wobei das Framing und die lange Aufnahme den außergewöhnlichen Moment betont, in dem Erinnerung an eine jüngere Generation weitergegeben wird. Nicht nur Lene, sondern auch Kattaka ist eine »Wintertochter«, unterwegs auf der Suche nach Familienidentität und Heimat. Lene spricht über ihre Erinnerungen, die sie bisher ganz für sich behalten hatte, mit der nächsten Generation und Kattaka entdeckt einen Vater, der ein zweites Leben und eine zweite Familie in Wladiwostok hat. Und doch scheint Kattaka ein besseres Verständnis ihrer eigenen Identität und Lebensgeschichte erworben zu haben. Interkulturelles Gedächtnis ist ein wichtiger Bestandteil des deutsch-polnischen Koproduktionsprojekts. Mindestens drei Elemente dieses Films sollen ein gegenseitiges deutsch-polnisches Verständnis fördern. So wird die Unkenntnis der Deutschen über ihre polnischen Nachbarn mehrfach im Film angesprochen. Kattakas Eltern sprechen über Polen und Stettin, als würde es sich um weit entfernte Orte handeln, obwohl die Entfernung zwischen Berlin und Stettin kürzer ist als die zwischen Berlin und Hamburg. Kattakas Freund Knäcke weiß, dass es nicht weit nach Stettin ist, macht sich aber ununterbrochen Sorgen, dass ihr Transporter in Polen gestohlen werden könnte – ein weit verbreitetes Klischee, das hier im Film als solches repräsentiert wird. Darüber hinaus wird die Figur Waldeck in einem Restaurant in Danzig eingeführt. Waldeck ist ein Teenager, dessen Eltern ein Frachtschiff unterhalten, und der sehr gut Deutsch spricht. Er dolmetscht für die anderen, vermittelt kulturelles Wissen über Polen und macht sarkastische Bemerkungen über Klischees. Der polnische Produzent, Pokromski, weist darauf hin, dass ihm das Hinzufügen einer polnischen Perspektive zum Drehbuch sehr am Herzen lag, und nennt als Beispiel die Einführung der Figur von Waldecks Großvater, einem aus Lwow Vertriebenen. »Ich wollte damit zeigen, dass es sich bei dieser Problematik nicht nur um eine deutsche handelt, was viele fälschlicherweise annehmen.«29 Der dritte Bestandteil, der interkulturelles Gedächtnis etablieren soll, ist eine Filmsequenz, die im Anschluss an die Probleme mit dem Wagen gezeigt wird. Die Gruppe kämpft sich durch den Schnee zu einem alten, herkömmlichen Bauernhaus, wo Waldecks Dolmetscherfähigkeiten gebraucht werden. Die vier Rei29 »Vertreibung ist nicht nur eine deutsche Problematik.« Ein Gespräch mit dem polnischen Koproduzenten Mikołaj Pokromski über den Film »Wintertochter«. www.kinofenster.de (Zugriff am 04. 06. 2014).

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senden werden ins Haus gebeten, damit sie sich aufwärmen können, während der alte Bauer mit seinem Traktor den Transporter aus dem Straßengraben zieht. Knäcke bemerkt, als sie Schmalzbrote serviert bekommen, dass der Frau die Finger der rechten Hand fehlen. Durch Waldeck erfahren sie, dass die Finger der Frau, als sie während des Kriegs in einer deutschen Fabrik arbeitete, in eine Maschine geraten waren und die deutschen Aufsichtsbeamten sich weigerten, das Gerät abzustellen. Auf die Frage nach seiner Meinung über den Umgang des Films mit deutsch-polnischer Geschichte erläutert Schmid in einem Interview, dass diese Filmsequenz für ihn ein wichtiges Gegengewicht zur Darstellung deutscher Fluchterlebnisse bilde, weil er die polnische Version der Kriegsgeschichte in dieser Region transparent mache30. Der Produzent Philipp Budweg weist, als er nach seiner Zusammenarbeit mit der Drehbuchautorin Hinnenthal gefragt wird, dieser Szene auch dramaturgisch eine Schlüsselfunktion zu, da sie seiner Meinung nach den Ton für den ganzen Film vorgibt und die Rezeption des erwachsenen Publikums steuert31. Obwohl die Szene gut gespielt ist, entrückt sie den Zuschauer aufgrund der Inszenierung des Farmhauses, das wie ein Museum anmutet, der langen Einstellungen und der über der Szene liegenden Gespanntheit doch teilweise aus der zeitgenössischen Perspektive, in der die Stärke des Films liegt. Aufgrund dieses erzählerischen Handgriffes gewinnen die deutschen Kinder Kattaka und Knäcke zwar Einblicke in die deutsch-polnische Geschichte der Region, die polnischen Versionen dieser beiden historischen Wendepunkte, 1945 und der Wende nach 1989, wirken jedoch nebensächlich in einer Darstellung, der die Erfahrung zweier deutscher Protagonisten zugrunde liegt. Während der Drehzeit kam es unter der Filmcrew zu einem gegenseitigen kulturellen Erinnerungsaustausch. Für die Drehbuchautorin Michaela Hinnenthal, eine Theater-, Film- und Fernsehschauspielerin aus Rheinhessen, war »Wintertochter« ihr erstes, auch von der eigenen Familiengeschichte geprägtes Drehbuch, das verfilmt wurde: Ihre Mutter floh als Kind von Masuren über Danzig32. Hinsichtlich der Entstehung des Drehbuchs weist Hinnenthal darauf hin, dass die Stadt Danzig als Drehort – eine Idee, die auf einem Drehbuch30 »Der Film will einen emotionalen Zugang zur deutschen oder europäischen Geschichte eröffnen.« Johannes Schmid über seinen Film »Wintertochter« und wie er damit für Geschichte sensibilisieren möchte. www.kinofenster.de (Zugriff am 04. 06. 2014). 31 Lukasz-Aden, Gudrun; Strobel Christel: Vom klanglich attraktiven Titel »Wintervater« zur heller anmutenden »Wintertochter«. Gespräch mit Johannes Schmid (Regie) und Philipp Budweg (Produzent) über ihren neuen Film »Wintertochter«. Kinder Jugend Film Korrespondenz 125–1, 2011. http://kjk-muenchen.de/archiv/index.php?id=2141 (Zugriff am 04. 06. 2014). 32 Taylor, Kirstin: Interview mit Johannes Schmid, »Der Film will einen emotionalen Zugang zur deutschen oder europäischen Geschichte eröffnen.« www.kinofenster.de (Zugriff am 04. 06. 2014).

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Workshop entstand – als wichtiger Trigger für das Ausgraben von Familienerinnerungen und die Entwicklung des Drehbuchs fungierte: »Da war die erste Konfrontation mit meiner Geschichte, denn meine Familie ist mit einem der großen, restlos überfüllten Schiffe über Danzig in den Westen geflohen. Das war natürlich horrend, was da passiert ist. Die Reise selber nach Rügen war nicht so lang, aber die Menschen waren dann fast vierzehn Tage kurz vor Rügen in dem Boot gefangen, weil der Hafen so vermint war, dass sie in Saßnitz nicht ans Ufer konnten. Nachts fielen immer die Bomben, und irgendwann sagten die Verantwortlichen, das geht nicht, die Leute verhungern auf dem Boot; die Flüchtlinge wurden dann in kleinen Beibooten ans Ufer gebracht. Das heißt, Danzig war für mich schon sehr früh ein Inbegriff von dieser Geschichte, weil meine Mutter, im Gegensatz zu vielen Anderen doch viel erzählt hat. Auf dem Schlag wußte ich, wo das Buch, wo diese Reise hingeht: Kattaka ist auf der Suche nach ihrem leiblichen Vater und Lene auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Sie begegnen vielen Widerständen, inneren wie äußeren, aber am Ende können sie sich gegenseitig helfen. Die Kleine führt die alte zurück in die Vergangenheit, und die Alte führt die Kleine in die Zukunft.«33

Hinnenthals Wiedergabe der Geschichte ihrer Mutter, und ihre fiktive Geschichte, die Lenes Erfahrungen im Drehbuch erzählt, steht im Einklang mit zahlreichen Berichten, die von Millionen deutscher Flüchtlinge überliefert sind, die zu Kriegsende aus Ostpreußen flohen oder vertrieben wurden. Einzelne Abschnitte des Skripts, wie die Trennung von Mutter und Tochter, entsprechen detailgetreu historischen Dokumenten; so erinnert ein Flüchtling das Chaos im Hafen, als Eltern ihre Kinder ins Wasser warfen, in der Hoffnung, dass sie von einem Schiff aufgenommen würden, oder als desertierende Soldaten fremde Kinder aufgriffen und als die eigenen ausgaben, um sich einen Platz auf dem Schiff zu sichern.34 Die Stadt Olsztyn/Allenstein in Masuren war mehrmals Germanisierungsperioden ausgesetzt und besaß seit dem frühen 19. Jahrhundert eine mehrheitlich deutsche Bevölkerung.35 Während des Naziregimes war Allenstein deutsches Militärprotektorat. Als die sowjetische Armee die Stadt am 22. Januar 1945 eroberte, große Teile niederbrannte und Massenvergewaltigungen verübte, wurden viele Deutsche vom schnellen Vorrücken der Streitkräfte überrascht. Da die Bahngleise zerstört worden waren, war dieser Fluchtweg abgeschnitten, so dass die meisten zu Fuß oder mit einem Pferdefuhrwerk fliehen mussten. Gemeinsam mit Johannes Schmid, der sich mit der Region vertraut machen wollte, und Mikołaj Pokromski unternahm Hinnenthal eine Forschungsreise in 33 Hinnenthal, Michaela: Interview mit Cheryl Dueck vom 04. 07. 2014. 34 Nitschke, Bernadetta: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. München: Oldenbourg 2003, S. 69. 35 Labuda, Gerard: Historia Pomorza (1815–1850), Poznan´: Poznan´skie Towarzystwo Przyjaciół Nauk 1993, S. 157.

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das Gebiet, der, wie sie sagt, eine Katalysatorfunktion für die Zusammenarbeit im Projekt des kulturellen Gedächtnisses zukam. Die Gruppe fuhr gemeinsam in einem Kleinbus zu dem Bauernhof, von dem Hinnenthals Großmutter 1945 geflohen war, der aber noch erhalten ist: »Danach sind wir auf den Friedhof gegangen und ich habe ihnen unter dem Efeu das Grab meiner Urgroßmutter gezeigt. Das war mir alles sehr vertraut, weil ich schon mittlerweile zweimal da gewesen bin. Mikołaj hat dann etwas Schönes gemacht: Bevor wir in das Dörfchen gefahren sind, das heißt Neu Bartelsdorf, hat er Blumen gekauft, die er dann auf das Grab meiner Urgroßmutter gelegt hat. Das war eine ganz wundervolle Geste. Seine Großmutter wurde ebenfalls von den Russen vertrieben und war dann auch nie wieder in ihrer Heimat. Darum trägt er den gleichen Schmerz in sich.«36

Pokromski hat in einem Interview ebenfalls auf dieses Verbindungsglied hingewiesen. Er fühlte sich aufgrund des Drehbuchs zu dem Projekt hingezogen und setzte es in Bezug zu seiner eigenen Familiengeschichte: »Meine persönliche Motivation war aber auch, dass meine Großmutter eine Vertriebene aus dem heutigen Weißrussland ist, was für sie bis heute ein riesiges Trauma ist. Die Figur der Lene ist für mich sozusagen das Alter Ego meiner Großmutter.«37

Pokromski gibt an, dass er bereits zu einem frühen Zeitpunkt an der Entwicklung des Drehbuchs beteiligt war und sich bemühte, die polnische Perspektive zu integrieren, u. a. durch die Einfühung der Figur von Waldecks Großvater als Vertriebener aus Lwów. Obwohl fast alle Szenen ursprünglich von Hinnenthal entworfen worden waren, hatte das polnische Produktionsteam nachhaltigen kreativen Einfluss auf die Dramaturgie am polnischen Drehort, auf Dialogdetails und Settings. Ryszard Barycz und Aleksandra Górska, die das alte Bauernpaar spielen, und Daniel Olbrychski, der die Rolle von Waldecks Großvater übernimmt, zählen zu Polens renommiertesten Schauspielern. Julia Kamin´ska, die eine Nebenrolle als Waldecks Cousine spielt, ist eine bekannte Fernsehschauspielerin und Waldeck wird von einem jungen Polen-Deutschen dargestellt, der die gleiche grenzüberschreitende Biographie besitzt wie seine Figur. Obwohl der Umfang und die Qualität des polnischen Inputs außer Frage stehen und das Koproduktionsteam bewusst die kulturübergreifenden Dimensionen der Geschichte hervorhebt, fand der Film von Anfang an vor allem in Deutschland Resonanz. Wie bereits erwähnt, gewann der Film eine Reihe von Preisen und wurde auf internationalen Filmfestivals gezeigt. Er wird weiterhin in deutschen Programmkinos gezeigt und hatte im Dezember 2013 in der ARD seine

36 Hinnenthal, Interview. 2014. 37 Taylor, Kirsten: Interview mit Mikołaj Pokromski: »Vertreibung ist nicht nur eine deutsche Problematik.« Ein Gespräch mit dem polnischen Koproduzenten Mikołaj Pokromski über den Film Wintertochter. www.kinofenster.de (Zugriff am 04. 06. 2014).

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Cheryl Dueck

Fernsehpremiere. Es stehen bereits dreierlei Lehrmaterialien für diesen Film38 zur Verfügung, die in erster Linie die Überlieferung kulturellen und historischen Gedächtnisses thematisieren. Dagegen gibt es keine einzige polnische OnlineRezension des Films; »Wintertochter« wurde im Umfeld des Polnisch-Deutschen Film Festivals (Opole, Gdan´sk, Wrocław) gezeigt, auf dem 36. Polnischen Film Festival in Gdynia, auf dem Kinder Film Festival in Kraków und vor der Presse auf dem Most-Brücke Festival in Słubice, aber ein kommerzieller Kinostart fand nicht statt. Der polnische Produzent, Pokromski, bestätigte per e-mail39, dass für den Film kein Verleih gefunden werden konnte und Bemühungen, ihn in Schullehrpläne zu integrieren, bisher erfolglos verliefen. Trotz vergleichsweise hoher Fördergelder durch das BKM und der ausdrücklichen Zielsetzung, ein Publikum auf beiden Seiten der Grenze anzusprechen, stieß der Film »Wintertocher« in Polen bisher auf wenig Resonanz. Das kann sehr verschiedene Gründe haben, und ohne Einblick in das Auswahlverfahren der einzelnen Filmverleiher und Bildungsbehörden muss jede Einschätzung Spekulation bleiben. Es liegt jedoch nahe, dass die begrenzte Rezeption mit der Tatsache zutun hat, dass es sich um eine deutsche Geschichte handelt, erzählt aus einer weitgehend deutschen Perspektive in deutscher Sprache, obwohl sie Elemente kultureller Integration aufweist. Der Film beinhaltet Momente interkultureller Verständigung, speziell im Zusammenhang mit der Figur Waldeck, seinem Großvater und Kattakas russischem Vater Alexej, sie sind aber unter Umständen nicht nachdrücklich genug, um festgefahrene, national-geschichtliche Vorstellungen eines polnischen Publikums oder seiner Wächter in Handel, Verleih und Lehrplanentwicklung aufzubrechen. Die Flucht und Vertreibung der Deutschen östlich der Oder war in den vergangenen zwanzig Jahren seit dem Ende der sozialistischen Regierungen auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze ein wichtiger Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und wurde beträchtlich gefördert, wenngleich auf deutscher Seite vergleichsweise umfangreicher. Beata Halicka weist darauf hin, dass das deutsche kulturelle Gedächtnis vor allem von den Eindrücken und Bildern der winterlichen Flüchtlingstrecks und des Leidens 38 Die drei didaktischen Unterrichtsmaterialien sind Online verfügbar: Boyd, Marilyn; Chehade Elena: Learning Resource. Winter’ s daughter (Wintertochter). Hrsg. vom Goethe-Institut Glasgow; Glasgow Youth Film Festival. http://www.glasgowfilm.org/assets/0001/8126/Win ters_Daughter2.pdf (Zugriff am 04. 03. 2014); Hornung, Jana; Wäsch, Josephiene; Brettschneider, Jürgen: Filmernst-Unterrichtsmaterial Wintertochter. Filmernst 2011. http://www. filmernst.de/media/files/Materialien/Wintertochter_ES.pdf. (Zugriff am 04. 03. 2014);Wetekam, Burkhard; Kirsten Taylor: Kinofenster.de Film des Monats Oktober 2011. Wintertochter. Hrsg. vom Kinofenster.de; Bundeszentrale für politische Bildung; Vision Kino 2011. http:// www.kinofenster.de/film-des-monats/archiv-film-des-monats/kf1110/ (Zugriff am 04. 03. 2014). 39 Email an Cheryl Dueck, 30. September 2013. Er schreibt auch, dass es Pläne gibt, gemeinsam mit der Universität Wroclaw ein Buch zum Film herauszugeben.

Interkulturelles Gedächtnis in dem Jugendfilm »Wintertochter«

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geprägt sei, wodurch sich die Komplexität der historischen Lage manchmal reduziere. Halicka macht u. a. auf die Begegnungen zwischen polnischen Zwangsarbeitern und Deutschen aufmerksam, die heute erstaunlich nuanciert erinnert werden. Viele polnische Arbeiter flohen zusammen mit den Deutschen – eine Tatsache, der vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde – und andere räumten ihnen nach dem Krieg in den eigenen vier Wänden Wohnrecht ein. Weniger differenziert gestaltete sich jedoch die offizielle Darstellung durch die sozialistischen Historiker Polens, die in der Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung eine verdiente Strafe für die Verbrechen des Nazi-Regimes sahen.40 Darüber hinaus waren viele derer, die sich nach 1945 in vormals von Deutschen dominierten Regionen niederließen, selbst aus anderen Gebieten vertrieben oder zwangsumgesiedelt worden. Pokromskis eigene aus Lwów vertriebene Familie ist ein Beispiel dafür. Solche Gruppen hatten keine persönlichen oder familiären Bindungen zu den vorherigen Einwohnern, und ihr Kollektivgedächtnis erzählt eine andere Geschichte. Selbst 65 Jahre nach Kriegsende muss sich jede Darstellung leidvoller deutscher Erfahrung im Jahr 1945 dem Vergleich mit dem polnischen Leid während des vorangegangenen Zeitraums stellen. Der Film »Wintertochter«, der unter neuen Produktionsbedingungen, die grenzübergreifende Projekte favorisieren, entstanden ist, dient dabei einer länderübergreifenden Verbindung: Er stellt eine deutsch-polnische Koproduktion dar, integriert Vorgaben und Beiträge beider Länder und inkorporiert sinnträchtige Details im Bezug auf Inszenierung und Filmnarrativ. So werden Verbindungen zwischen den einzelnen Figuren angelegt, die über die Interna des Films hinaus wirksam sind und z. B. als Katalysator für eine gemeinsame Erinnerung der Filmcrew fungierten. Sie leisten zudem einen Beitrag zur Ausbildung des kulturellen Gedächtnisses bei Besuchern internationaler Filmfestivals und einer beachtlichen Zuschauerschaft deutscher Kinder, die den Film gemeinsam mit ihren Lehrern und Familien rezipierten. Während das geringe polnische Publikum die Bandbreite des Beitrags zu einer grenzübergreifenden kulturellen Erinnerung limitiert, erwarb sich der Film Verdienste, festgefahrene Vorstellungen hinsichtlich deutsch-polnischer Vergangenheit aufzubrechen und zu weiteren Darstellungen aus anderen Perspektiven einzuladen.

40 Halicka, Beata: Polens Wilder Westen. Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945–1948. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013.

Paula Wojcik ( Jena)

Translating Identity – Narrative Identitätskonstruktionen in der deutschsprachigen Literatur aus Polen

I.

Einleitung

Identitäts- wie Alteritätsdiskurse in der Literatur zu untersuchen, bedeutet in einer komparatistischen Perspektive auch, sich mit der kulturellen Bedingtheit dieser Diskurse und der ihnen inhärenten Narrative auseinanderzusetzen. Die Verankerung in kulturellen Kontexten wird besonders dort wichtig, wo das Werk selbst eine interkulturelle Perspektive im Sinne kultureller Aneignung, Differenz und Bidirektionalität aufweist. Dann ist das Schreiben ein Akt des Übersetzens, dessen Gegenstand nicht mehr nur Sprachen und Texte sind, vielmehr »öffnet sich [der Übersetzungsbegriff] immer stärker für Fragen kultureller Übersetzung und sogar für die Analyse der vielschichtigen und spannungsreichen kulturellen Lebenswelten selbst«.1 Übersetzen wird demgemäß nicht als eine Übertragung von Informationen zwischen Kulturmonolithen verstanden, die in binärem Verhältnis zueinander stehen, sondern kann als ein grundlegendes Konzept der Inter- und Transkulturalität gelten.2 Ein derart weites Verständnis, das von der Übersetzung von Begriffen hin auf die Übersetzungen von diskursiven Strukturen und Handlungen zielt, steht jedoch wie jede konventionelle Übersetzungspraxis vor Problemen der Inkommensurabilität einzelner Phänomene, kultureller Praktiken, Werte, Normen oder Topoi. So begriffen, gilt Übersetzen vor allem in den Postcolonial Studies auch immer als ein politischer Akt, gerade weil die Momente der Aneignung, Differenz und Bidirektionalität diskursiven Machverhältnissen unterliegen oder diese sogar herstellen. Der Prozess des kulturellen Übersetzens ist also nicht frei von inhärentem und externem Störungspotenzial und anfällig für konstruktivistische Kritik oder Hegemonievorwürfe. 1 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 4. Aufl. 2006, S. 239. 2 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Translation – A Concept and Model for the Study of Culture. In: Travelling Concepts for the Study of Culture. Hrsg. von Birgit Neumann/Angar Nünning. Berlin: De Gruyter 2012, S. 23-44, hier: S. 23.

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Paula Wojcik

In den folgenden Ausführungen, möchte ich das Narrativ der Identitätsbildung in der Perspektive des kulturellen Übersetzens anhand zweier Romane von Autoren untersuchen, deren Verortung im kulturellen Interferenzraum ihre Werke als Übersetzungshandlungen sowohl facettenreich als auch – durch exponierte Differenz beispielsweise – gelegentlich provokativ macht. Sie sind durch ihre Kenntnis beider Kulturen dazu prädestiniert, »die andere Seite mit ihren eigenen Augen zu sehen« und Akteure der Kulturtechnik des kulturellen Übersetzens zu sein. Am Beispiel der Romane »Zeit der Stinte« von Artur Becker aus dem Jahr 20063 und »Die Freiheit riecht nach Vanille« von Dariusz Muszer von 19994 sollen Identitätsbildungsnarrative im deutschen und polnischen Raum einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. Beide Autoren sind in den 1980er Jahren, als nach der Ausrufung des Kriegszustands die zweite große Migrationswelle aus Polen einsetzte, nach Deutschland ausgewandert und leben zur Zeit in Niedersachsen – Becker in Verden an der Aller und Muszer in Hannover. Mag ihre Kenntnis der polnischen und deutschen Kultur vermuten lassen, mit ihren Werke, die beide auf Deutsch erschienen, betrieben sie eine Form der Verständigungspolitik, die dem deutschen Lesepublikum Polen erklären soll, wie dies beispielsweise auf humoristische Weise Steffen Möller unternimmt, so geht diese Annahme an der Komplexität des Materials vorbei. Wie sich zeigen wird, werden in den Romanen keinesfalls repräsentative Abbilder des jeweiligen Landes erschaffen, weil sich hier nicht homogene Kulturgebilde diametral gegenüberstehen, sondern vielmehr dynamische Diskurse der Selbst- und Fremdkonstituierung in der Breite ihrer Bedingtheit und Widersprüchlichkeit ausgelotet. So vermessen die Texte aus dem sich in ihrer Perspektive eröffnenden Interferenzraum heraus kulturelle Narrative der Identitätsbildung beider Länder, zeigen Missverständnisse auf, ohne sie aufzuklären, und weisen auf Lücken und Inkohärenzen hin, ohne sie zu schließen oder zu erklären. Das Übersetzen wird dabei auch zu einem metanarrativen Akt. Der Fluchtpunkt des Identitätsbildungsnarrativs liegt in beiden Romanen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das entspricht einerseits dem treffenden Befund, dass »[d]ie Thematisierung deutscher Vergangenheit […] als das Paradigma der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und des medialen Diskurses erachtet werden [kann]. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg erlebt nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Generationenschwelle eine ungemein rege Konjunktur.«5 3 Becker, Artur: Zeit der Stinte. Novelle. München: dtv 2006. [Im Folgenden unter der Sigle »ZS« mit Seitenzahl im Text.] 4 Muszer, Dariusz: Die Freiheit riecht nach Vanille. München: A1 1999. [Im Folgenden unter der Sigle »FV« mit Seitenzahl im Text.] 5 Gansel, Carsten; Herrmann, Elisabeth; Zimniak, Paweł: Entwicklungen in der deutschspra-

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Für den vorliegenden Fall spezifiziert, gilt diese Zeit nicht nur in der jeweiligen Kultur als Zäsur, sondern markiert zugleich den Beginn einer Form negativer Symbiose – um hier eine Wendung von Hannah Arendt aufzugreifen6 –, in der sich Polen und Deutsche seitdem befinden: Sie sind durch die Erfahrung des Krieges, durch die sich gegenseitig bedingenden Rollen von Opfern und Tätern verbunden. Auf der Grundlage dieser Symbiose werden Selbst- und Fremdbilder, Konstruktionen der Vergangenheit und Gegenwart sowie die Bedeutung kultureller Erinnerungsdiskurse bis heute verhandelt, wovon beispielsweise die Auseinandersetzung um das von deutscher Seite initiierte Vertriebenenzentrum ein anschauliches Zeugnis ablegt. Sowohl in »Zeit der Stinte« als auch in die »Freiheit riecht nach Vanille« werden Identitätsnarrative im Spiegel ihrer historischen Konstituierung, ihres nationalkulturellen Kontexts sowie der individuellen Geschichten der jeweiligen Figuren gezeichnet. Eine solche Darstellung kann den Eindruck einer kommunikativen Situation mit dem Lesepublikum erwecken, wie dies beispielsweise Dirk Uffelmann für Muszers Roman konstatiert,7 doch geht die Auseinandersetzung über diese Funktion hinaus. Die kulturelle Übersetzung verläuft bidirektional, weil es eben nicht darum geht, zu erklären, sondern Missverständnisse und Bilder vom Eigenen wie vom Fremden produktiv werden zu lassen. Beide Romane erzählen unter anderem von den Versuchen ihrer Figuren, den durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen Kontinuitätsbruch zugunsten bewährter Identitätsnarrative – wie beispielsweise der Erzählung von den Polen als romantische Widerstandskämpfer oder von den Deutschen als Philosophen und Bewahrer des Humanitätsideals – zu überwinden, wodurch die Auseinandersetzung auch im Feld der Vergangenheitsbewältigungs- bzw. Vergangenheitsaufarbeitungsstrategien verläuft. Nicht zuletzt sind beide Romane auch Migrationsgeschichten und verhandeln unterschiedliche Wege der Identitätskonzeption in der Diaspora. Besonders auffallend sind die Parallelen in der Konstruktion der Hauptcharaktere. In beiden Romanen sind die Protagonisten erklärte Antihelden; Chrystian Brodd in »Zeit der Stinte« ist ein arbeitsloser Akademiker, der seine Ehe ruiniert hat und von den Möglichkeiten, die sich ihm chigen Gegenwartsliteratur und Medien nach 1989. In: Akten des XII. internationalen Germanistikkongresses Warschau 2010. Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Hrsg. von Franciszek Grucza. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2012 (= Publikationen der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG); Bd. 8), S. 267–269, 267. 6 Vgl. Arendt, Hannah; Jaspers, Karl: Briefwechsel 1926–1969. Brief vom 17. 8. 1946. München: Piper 1993, S. 90f. 7 Vgl. Uffelmann, Dirk: »Wa˛tek z˙ydowski w literaturze polskiej wobec niemieckiego adresata« [Das jüdische Thema in der polnischen Literatur für deutschen Lesers – Übersetzung von der Verf.]. In: Pisarze Polsko-Z˙ydowscy XX wieku. Hrsg. von Mieczysław Da˛browski und Alina Molisak. Przybliz˙enia [Polnisch-Jüdische Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Annäherungen – Übersetzung von der Verf.]. Warszawa: Elipsa 2006, S. 454-473.

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bieten, keinen Gebrauch macht. Er lehnt das Angebot seines Professors, in Geschichte zu promovieren, ab und verbringt seine Tage lieber mit Freunden im Bremer Steintorviertel und beim Stinteangeln. Der Protagonist aus »Die Freiheit riecht nach Vanille«, der dem Leser nur unter seinem Nachnamen Naletnik bekannt ist, ist ein noch schwierigerer Fall. Seine Selbstbekenntnisse müssen daher im Verdacht des unzuverlässigen Erzählens stehen, das nur gelegentlich durch Fremdkommentare Rückschlüsse auf den Charakter der Figur erlaubt. Diese stilisiert sich selbst als Spitzel, Krimineller, Vergewaltiger und Mörder. Dabei wird der Leser meist im Unklaren darüber gelassen, wer tatsächlich für die Taten verantwortlich ist. Die Versuche, sich in seiner Lebensbeichte als brutaler Krimineller darzustellen, werden durch plötzliche Gefühlsausbrüche und innere Monologe relativiert. Brodd und Naletnik verbindet ihre Unfähigkeit zu dem, was die soziologische Biographieforschung als eine erfolgreiche Biographie bezeichnet, denn ihre Lebensgeschichten sind Geschichten des privaten und beruflichen Scheiterns. Beide scheinen von ihrem Leben wenig zu erwarten, als Unerwartetes in dieses Leben einbricht.

II.

Das Jüdische als ›der Dritte‹

Die Handlung der Romane wird durch das Thema des Jüdischen strukturiert, dessen Erscheinen – als literarischer Charakter und als Denkfigur – einen Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Identitätsfragen und eine Störung der gewohnten Denkweisen darstellt. In Artur Beckers »Zeit der Stinte« durchbricht der Besuch der jüdisch-amerikanischen Journalistin, Mona Juchelka, die Alltagsroutine des Protagonisten Chrystian Brodd und veranlasst ihn dazu, den Ort seiner Kindheit in den Masuren aufzusuchen und sich dabei mit der Geschichte seiner Familie auseinanderzusetzen. In »Die Freiheit riecht nach Vanille« erzählt Dariusz Muszer dagegen, wie der migrierte Antiheld Naletnik unerwartet von dem jüdischen Teil seiner Identität erfährt. In beiden Fällen stört das Jüdische das gewohnte Narrativ auf und erweitert das Verhältnis Deutsche–Polen als Nachkriegskonstellation zu einer Trias, in der sich von nun an Identitätsbildungsprozesse neu formieren müssen. Der im sorbischen Grenzland geborenen Naletnik in Dariusz Muszers Roman ist in Fragen hybrider und multipler Identitäten mit allen Wassern gewaschen. So sieht er sich nicht nur als ein deutsch-polnisch-sorbischer Mischling, sondern als ein Außerirdischer, der zudem im falschen Teil das Licht der Welt erblickte: »Es wurde sorgfältig geplant, daß ich in Svingen, Telemark, Südnorwegen, hinabstürze. […] Aber etwas ist damals schiefgelaufen. Das angepeilte Ziel wurde verfehlt. […] Am

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letzten Tag des Winters im Jahre 1959 landete ich irrtümlicherweise auf uralten sorbischen Gräbern« (FV, 8).

Doch als er durch einen Zufall erfährt, sein Vater sei ein polnischer Jude, so erschüttert ihn dies nachhaltig: »Obwohl ich es nicht wußte, obwohl ich bis jetzt davon keinen blassen Schimmer gehabt hatte, war ich seit meiner Geburt Jude. Da sträuben sich einem die Haare, wenn man so etwas unvorbereitet erfährt« (FV, 110).

Die Entdeckung stößt die Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte an, die paradigmatisch für die Komplexitäten und Ambivalenzen der deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen im und seit dem Krieg steht. Im Verlauf der Nachforschungen stellt sich heraus, dass seine Genealogie in einer ungeheuren Begebenheit gründet: Als Zehnjähriger in einem jüdischen Ghetto beobachtet Naletniks Vater, Jakub Servas, wie sein eigener Vater von einem Nazi, Bernhard Naletnik, grundlos hingerichtet wird. Nachdem der mittlerweile junge Mann den Krieg überlebt, spürt er, von Rachegedanken getrieben, den Wohnort des Mörders auf. Dort findet er zwar nicht den in russischer Gefangenschaft weilenden Naziverbrecher, dafür aber dessen Ehefrau und junge Tochter, in die er sich verliebt. Als die Begehrte jedoch die Avancen des »verfluchten Findlings« (FV, 116) ohne »richtige Wurzeln« (ebd., 115) abweist, vergewaltigt er sie und zeugt damit den Protagonisten. In Naletniks Figur fallen damit sowohl die kulturellen als auch individuellen Rollen von Opfer und Täter zusammen: Sein Vater macht sich als Repräsentant des Opferkollektivs als Vergewaltiger schuldig, während die Mutter als Deutsche und damit Vertreterin des Täterkollektivs zum Opfer der Schändung wird. In »Zeit der Stinte« ist der Protagonist, ebenso wie Becker selbst, ein aus den Masuren stammender Angehöriger der dortigen deutschen (polonisierten) Minderheit. Bereits als Kind ausgewandert, verliert er zunehmend die Beziehung zum Ort seiner Kindheit am Geserichsee ( Jezioro Jeziorak). Monas Besuch bei der Familie Brodd, die als »[d]ie unheimlichste Neuigkeit« (ZS, 21) angekündigt wird, verändert den ereignislosen Alltag des Gescheiterten von Grund auf: »In den nächsten Tagen fand auf seinem bremischen Planeten eine Umpolung statt: Nichts war mehr so wie früher, nichts stand an seinem richtigen Ort, weder bei ihm zu Hause noch in seinem Viertel« (ZS, 46). Und wie Naletnik, so veranlasst auch Chrystian diese Störung dazu, sich mit der Geschichte seiner Familie im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, die Brisantes bereithält, weil der Großvater Johann als Koch eines Nazis, Richard Schmidtke, arbeitete, der auf seinem Hof ein kleines Außenlager des KZs Stutthof betrieb. Beide Autoren zitieren mit der Figur eines jüdischen Dritten, der die gewohnten Verhältnisse stört, ein Stereotyp. Der Soziologe Klaus Holz sieht die Ursache des modernen Antisemitismus vorwiegend in dem Status der Juden als

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solche ›Dritte‹ in der nationalen, dualistisch organisierten Ordnung der Welt. Nach Holz passe der Jude als Konzept nicht in das Schema von Freund und Feind, da er keiner anderen Nation angehöre und in der nationalen Ordnung nicht zu verorten sei.8 Auch in den Romanen steht das Jüdische zwischen den Nationalidentitäten von Polen und Deutschen. Doch ist die nationale Ordnung mittlerweile brüchig geworden und weist zahlreiche Interferenzphänomene auf. Dieses Dritte bei Muszer und Becker ist also geradezu positiv besetzt, ohne funktionalisiert zu werden: Als Störmoment verweist es zwar auf Tabuisiertes, erscheint aber wie ein fehlendes Glied, das Kontinuität und Kohärenz zu stiften vermag. Sowohl durch Monas Auftauchen als auch durch die Entdeckung des jüdischen Vaters wird das bis dahin gepflegte Selbstverständnis beider Protagonisten problematisiert. Zum einen wird auf die konfliktbehaftete Vergangenheit der beiden Nationen verwiesen, während zum anderen das individuelle Identitätsnarrativ von nun an im Licht eben dieser Geschichte erzählt werden muss. Denn die Hybridität von Brodd und Naletnik ist ein gelegentlich fauler Kompromiss, der über Aporien und dunkle Geheimnisse hinweggeht, um, wenngleich hybride, so doch kohärente Identitätsentwürfe gestalten zu können. Genau diese großen Aporien ebenso wie kleinen Widersprüche und Brüche kommen durch das unerwartete Eintreten des Jüdischen in das Leben der Protagonisten zutage, die ins Dunkel verbannten Geschichten werden an das Licht der Gegenwart gezerrt. So ist Naletnik gezwungen, seine bisherigen Erfahrungen neu zu ordnen: Die aus gesundheitlichen Gründen erfolgte Beschneidung bekommt von nun an einen neuen Stellenwert, die Beziehung zu seiner jüdischen Ehefrau erscheint in einem vollkommen anderen Licht: »Damals verstand ich noch nicht, daß Schadaj, ihr jüdischer Gott, seit einiger Zeit versuchte, mir verschiedene Zeichen zu geben, mich auf den richtigen Weg zu bringen, einen Weg, der zu meinem Vater führte« (FV, 26). An diesem Zitat wird deutlich, dass die Rolle des Jüdischen nicht nur als ein Irritationsmoment zu verstehen ist, vom dem ausgehend neue Perspektiven auf die gewohnten Weisen, die eigene Identität zu denken, entwickelt werden. Sein Hereinbrechen in die Gegenwart stiftet zugleich Verbindungen sowohl in die individuelle Vergangenheit der Charaktere als auch in die große Geschichte des jeweiligen Landes und die gemeinsame beider Länder. Die Protagonisten sind von ihrer Vergangenheit weitestgehend abgeschnitten, und dies nicht nur geographisch. Sie haben auch keine Vorstellung davon, wer sie eigentlich sind oder sein wollen. Auf Monas Frage »Aber wer bist du, Chrystian Brodd?« antwortet dieser nur ad negativum »[k]ein Großmaul und Querulant wie Michail. Kein 8 Vgl. Holz, Klaus: Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt. In: Soziale Systeme 1, 2000, S. 269-290; Ders.: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Ed. 2001.

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Künstler wie Rudi« und gesteht schließlich »[e]ines schönen Tages werde ich erfahren, wer ich wirklich bin« (ZS, 88f.). Auch Naletnik konstruiert seine Lebensgeschichte erst im Akt des Schreibens. Aus der Rahmenhandlung geht hervor, dass er von dem geheimnisvollen K. gezwungen wurde, die dem Leser vorliegende Biographie zu verfassen. Seine Identität konstruiert sich im Akt des Schreibens und mit dem Wissen um seine jüdische Identität, was durch Prolepsen und Anspielungen des autodiegetischen Erzählers sichtbar wird: »Später erwies sich alles über meinen Vater Erzählte als eine riesengroße Lüge. Er war kein Deutscher, kein Russe und kein Pole. Über dreißig Jahre lang jagte ich meinem Vater nach, und als ich ihn fand, war ich so müde, daß ich nicht mehr wußte, was ich machen sollte« (FV, 17).

Sowohl Naletnik als auch Brodd beginnen durch die Begegnung mit dem Jüdischen, sich mit ihrer eigenen familiären Vergangenheit auseinanderzusetzen, und so erzeugt das Störende die Kontinuität eines Narrativs, an dessen Ende sie selbst bzw. ihre Kinder – Brodds Sohn Boreas – stehen. Zwar konfligieren die individuellen Geschichten untereinander und auch mit den ›großen Geschichten‹ beider Länder und deren nationalen Selbstbildern, jedoch bietet sich das jüdische Thema zwischen den unterschiedlichen kulturellen und individuellen Narrativen als eine gemeinsame Sprache an. Es fungiert als eine Art Esperanto, auf das sich alle verständigen können, gerade weil es dieses Disruptionspotential besitzt, dank dem die Geschichten überhaupt in ein Verhältnis zueinander gestellt werden, an dem sich die Differenz entfalten kann. Und so verdeutlicht das Störungsmoment, dass die unterschiedlichen Narrative einer Nachkriegsidentität die gleiche aber eben nicht dieselbe Geschichte erzählen.

III.

Eine Historie – unterschiedliche Geschichten

Die amerikanische Jüdin Mona ist auf der Suche nach der Geschichte ihrer Familie, die zwar mit der Familiengeschichte der Brodds aufs Engste verwoben, aber doch eine ganz andere ist. Die Geschichten berühren sich an einem Konvergenzpunkt, der erwartungsgemäß in der Zeit des Zweiten Weltkriegs liegt. Einer der Gefangenen in Richard Schmidtkes Außenlager war Monas jüdischer Großvater, Gerald Juchelka alias Samuel Goldbaum. Nachdem es ihm zu überleben gelang, kehrte er 1947, von Rachegedanken getrieben, mit zwei Mitstreitern, den Litauern Maks und Vladislav, zurück, um den Naziverbrecher hinzurichten. Monas Wunsch, nach Polen an den Geserichsee zu reisen, um von Chrystians Onkel Erwin mehr über diese Vergangenheit zu erfahren, verstört Chrystians

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Vater, der dem Auftauchen der jungen Frau ablehnend gegenübersteht: »Wir Brodds brauchen uns nichts vorzuwerfen. Unser Gewissen ist rein« (ZS, 18) und »[i]ch werde ihr schon zeigen, wo der Pfeffer wächst! […] Wir sind anständige Leute! Wir haben nichts zu verbergen!« (ZS, 21)

Der Trotz und die Ablehnung gründen also in der »Angst, dass du [Mona] durch deine Recherchen etwas Ungeheures ans Licht bringen könntest, und ein Schandfleck auf seiner Ehre würde ihn empfindlicher treffen als ein Torpedo, sein Untergang wäre dann beschlossene Sache« (ZS, 105). Dass die eigene Familiengeschichte ein Korrektiv durch die Geschichte von Monas Familie erfahren und die Kohärenz seiner Identitätserzählung beeinflussen könne, ist eine Angst, die von der individuellen Lebenserfahrung abzuhängen scheint. Bei Becker werden unterschiedliche Strategien der Konstruktion des Identitätsnarrativs bei den Daheimgebliebenen einerseits und den Auswanderern andererseits geschildert. Während der migrierte Gustaw offensichtlich stark um ein einheitlich positives Selbstbild bemüht ist, bezieht Gustaws Bruder, der in Polen verbliebene Erwin, eine deutlich kritischere Position und lässt Negativbilder zu: »Ich habe nichts gegen meine Landsleute, aber was geschehen ist, kannst du nicht mehr ungeschehen machen« (ZS, 161f.). Das Bedürfnis nach einer einheitlichen und positiven Identitätskonstruktion – so insinuiert »Zeit der Stinte« – ist für diejenigen, die ihre Heimat verloren haben, dringlicher. Gustaw übernimmt unhinterfragt das Bild von den Polen als Opfer, obwohl er als Pole eine deutsche Herkunft hat, und identifiziert sich mit ihm. Die Figuren der Brüder Erwin und Gustaw stehen als Repräsentanten einer Differenz, die sich zwischen den Daheimgebliebenen, die ihre Identität haben, und den Emigrierten, die sich ihrer Identität immer aufs Neue selbst vergewissern müssen, eröffnet. Gustaws vom tiefen Misstrauen durchdrungenes Verhältnis zu Mona steht beispielhaft für den polnischen Opfermythos und die daraus resultierende Opferrivalität gegenüber dem jüdischen Kriegsleid. Dieses nationale Narrativ, das eine der wichtigsten Quellen des polnischen Nachkriegsantisemitismus ist,9 wird im Identitätsnarrativ des Bruders individualisiert. Eine solche Individualisierung ist eine Übersetzungsleistung auf der extradiegetischen Ebene, weil hier ein abstraktes gesellschaftliches Phänomen nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Geschichte bekommt, weshalb es jedoch nicht weniger kritikwürdig erscheint. Es 9 Vgl. Piotrowski, Piotr: Auschwitz vs. Auschwitz. In: Zerstörer des Schweigens. Formen künstlerischer Erinnerung an die Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa. Hrsg. von Frank Grüner, Urs Heftrich und Heinz-Dietrich Löwe. Köln et al: Böhlau 2006, S. 515-530; Konicz, Tomasz: Der Zweite Weltkrieg im Geschichtsbild der polnischen Rechten. In: Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuum und Wandel. Hrsg. von Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß. Wiesbaden: VS 2011, S. 75-88.

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zeigt die Schwäche und Verzweiflung des Vaters, auf dem das familiäre Geheimnis lastet. Eine solche Darstellung leistet aber den Bruch mit der stereotypen und zunehmend populären Fremdbildkonstruktion von Polen als Antisemiten, indem sie die Abwehrhaltung als verzweifelte Praxis der Identitätserhaltung, die mit einer konkreten Lebenserfahrung zusammenhängt, präsentiert. Gegenfigur ist nicht nur Erwin, sondern auch Chrystian, der als Kind migrierte und keine Schwierigkeiten hat, die inhärenten Ambivalenzen in seine Familiengeschichte zu integrieren: »Das Bedürfnis, unschuldig zu sein, war idiotisch. Zum Schluss würde er genau wie Gustaw Angst davor haben, dass Mona bei ihm […] etwas entdeckte, was ihn disqualifizierte, bei diesem Wettlauf mit der Geschichte« (ZS, 125). Doch auch die Familiengeschichte, die Mona verfolgt, ist keine, die ihre ganze Familie teilt. Sie berichtet davon, dass ihre Mutter ihre Europareise ablehnte, weil die Entdeckungen den Ruf des Großvaters schädigen könnten: »Mein Opa habe niemanden umgebracht, sagt man bei uns. Es sei eine militärische Aktion gewesen. Sauber und ordnungsgemäß ausgeführt.«

Rache als Motiv für diese Operation wird von der Familie ausgeschlossen. Dies wird jedoch in den Passagen, in denen die Vergangenheit zu Wort kommen darf, negiert. Dort erklärt Juchelka dem gefesselten Schmidtke, sie hätten durch eine spiritistische Sitzung erfahren, dass er noch am Leben sei, und sich »sofort entschlossen, hierher zu kommen und dich zu töten« (ZS, 65) – eine geplante Militäroperation sieht anders aus. Damit eröffnen sich neue Konstellationen des Narrativs. Denn während sowohl bei den Brodds als auch in der Familie Juchelka unterschiedliche Geschichten über die Beteiligung der Vorfahren kursieren, nähern sich die Geschichten von Mona und Christian an. Denn auch wenn die Identität der polnisch-deutschen Migranten auf einem anderen Narrativ als dem der amerikanischen Jüdin basiert, so begegnen sich doch beide an einem Konvergenzpunkt: Als Mona verkündet, sie sei nach Europa gekommen, um ihre Familiengeschichte aufzuschreiben, reagiert Chrystian heftig: »Deine Familiengeschichte? Nix da! Unsere Geschichte! Sind wir nicht verwandt durch die Schicksale, die uns mit dem Geserichsee verbinden, mit dem, was dort geschehen ist?« (ZS, 88)

Die kulturelle Übersetzung kann hier wirksam werden, weil narrative Identitätskonstruktionen dynamisch sind und Neuordnungen zulassen. Die unterschiedlichen Geschichten der Deutschen, Polen und Juden stehen nicht unvereinbar nebeneinander, sondern sind durch Überschneidungen, parallele Verläufe und Fluchtpunkte vernetzt. Das Entdecken dieser Knotenpunkte erfordert von den Protagonisten eine Neuordnung ihrer Genealogie und Biographie, aus der dann ein verändertes Identitätsnarrativ entspringt.

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Paula Wojcik

Das Problem der Neuordnung wird in Muszers »Die Freiheit riecht nach Vanille« besonders deutlich, weil hier durch die Aufdeckung des Geheimnisses ein vollkommen anderes Identitätsnarrativ konstruiert werden muss. Er, der sich über die jüdische Herkunft seiner Frau nicht nur lustig gemacht hat, sondern sie obszön mit der Vermutung, »[i]ch dachte die Muschis von Jüdinnen sind anders gebaut« (FV, 27), beleidigte, muss sich nun mit der eigenen auseinandersetzen. Als er auf der Suche nach seinem Vater dessen ebenfalls jüdische Nachbarin, Frau Singer, trifft, so schlägt der obszöne und provokative Ton plötzlich um, und Naletniks Reaktionen stehen im Gegensatz zu seiner sonstigen Empathieunfähigkeit. Nachdem Frau Singer erklärt, sie möchte nicht mehr über ihre Erlebnisse bei dem Pogrom von Kielce 1946 reden, konstatiert er: »Mir ging es genauso, denn heute hatte ich mich schon genug für die anderen geschämt« (FV, 144): »Söhne und Töchter des ostjüdischen Volkes hingen über mir, und ihre Blicke drangen in meinen Kopf wie ein Gewissenswurm. Aber warum gerade ich? Ich hatte doch gar kein Gewissen, es war schon vor Jahren ausgeschaltet worden. Aus welchem Grund sollte ich überhaupt über diese Sache nachdenken? Es war doch nicht mein Bier! […] Sie wollten mich nicht loslassen, wollten mich zwingen zu sagen, daß ich zu ihnen gehöre, daß ich einer von ihnen sei. Alte Menschen, Leichen, Leichen, nichts als Leichen« (FV, S. 143).

Als Jude kann er sich einer Vergangenheit nicht entziehen, die er als Pole, Deutscher oder Sorbe noch ignorieren konnte. Bis er Frau Singer trifft, ist ihm das 1946er Pogrom – das immerhin größte Pogrom der polnischen Nachkriegsgeschichte – kein Begriff. Dass »Kielce 1946« (FV, 143) eine Chiffre ist, die er nicht versteht, ist eine deutliche Anspielung auf diese ungleichen Geschichten, im Rahmen derer sich Identitätsnarrative bewegen. Im polnischen Selbstverständnis wurde das Pogrom, ebenso wie viele andere antisemitisch motivierte Übergriffe auf Juden, nicht thematisiert.10 In einigen nationalistisch geprägten Deutungen, wurde die Schuld an dem Pogrom der sowjetischen Obrigkeit oder sogar den Juden selbst, die im Stereotyp der Judäokommune mit ihr gleichgesetzt wurden, gegeben.11 Die Entdeckung der jüdischen Identität lässt dieses Ereignis, vom dem er als Pole nicht einmal wusste, zum Teil des eigenen Narrativs werden, von dem er förmlich eingefangen wird (»Sie wollten mich nicht loslassen«). Die Integrationsnotwendigkeit der jüdischen Geschichte in seine Biographie führt dabei nicht nur zu einem veränderten Narrativ, sondern zu einer (wenngleich

10 Vgl. Kersten, Krystyna: Polacy, Z˙ydzi, komunizm. Anatomia pòłprawd 1939–1968 [Polen, Juden, Kommunismus. Anatomie der Halbwahrheiten 1939–1968 – Übersetzung von der Verf.]. Warszawa: Niezalez˙na Oficyna Wydawnicza 1992. 11 Vgl. Pufelska, Agnieszka: Die »Judäo-Kommune«. Ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948. Paderborn: Schöningh 2007.

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kurzlebigen) Katharsis, die er als »moralischen Katzenjammer« (FV, 143) wahrnimmt. Die kulturelle Übersetzung innerhalb des Identitätskonstruktionsnarrativs eröffnet sich also in der Differenz in Räumen der Interferenz zwischen den drei Kulturen. In diesem Rahmen der kulturellen Interferenz verläuft auch die Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildern.

IV.

Selbst-, Fremdbilder und die Erzählung von hybrider Identität

Auto- und Heterostereotype können durch literarische Mittel besonders effektiv auf ihre Validität hin geprüft werden, wobei damit kein Abgleich mit der Realität gemeint sein soll. Vielmehr können Erzählstrategien wie unzuverlässiges Erzählen oder konfligierende narrative Ebenen, die Wahl des Genres, rhetorische Mittel wie Ironie oder Groteske, Dichotomien in der Textstruktur oder auch einzelne Motive dazu dienen, den Konstruktionscharakter von Selbst- und Fremdbildern (worunter hier sämtliche Formen von Klischee- und Stereotypenbildung verstanden werden) offenzulegen. Sie rauben ihnen jene Überzeugungskraft, die sie durch ihre Verankerung im kollektiven Bewusstsein ebenso besitzen wie durch den komplexitätsreduzierenden Charakter, mit dem sie einfache Weltbilder kreieren und anschaulich repräsentieren.12 Es wurde bereits dargelegt, dass in beiden Romanen die Darstellung des Juden als Dritten ein solches Stereotyp ist, das durch historische Dekontextualisierung eine Umwertung erfährt. Das Moment, in dem Selbst- und Fremdkonstruktionen in »Zeit der Stinte« eine deutliche Thematisierung erfahren, ist das, in dem sich die kulturelle Differenz durch Deterritorialisierung zeigt – wenn der Deutschpole Chrystian mit der amerikanischen Jüdin Mona in die masurische Provinz fährt. Dort treffen sie nicht nur Erwin, der mit seiner offenen Haltung der Vergangenheit und den schuldhaften Verstrickungen des Großvaters gegenüber einen Kontrapunkt zu Vater Gustaw bildet, sondern sie stellen sich auch dieser Vergangenheit bzw. dem, was davon übriggeblieben ist. Dabei findet eine Konfrontation der Erinnerungsdiskurse statt, die von Juden, Polen und Deutschen unterschiedlich geführt werden. Der polnische Erinnerungsdiskurs verläuft im Roman oral über Märchen und Mythen, und so war »Richard Schmidtke […] nach dem Krieg zu einem bösen Märchen geworden. Sein Name diente den Erwachsenen als Schreckgespenst, als letztes Mittel gegen Ungehorsam und Aufsässigkeit« (ZS, 141f.). 12 Vgl. Wojcik, Paula: Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Transcript 2013.

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Schmidtkes Grab, das Mona sehen möchte, ist kaum mehr erkennbar, »die meisten deutschen Friedhöfe waren verschwunden. Die Bagger hatten Erde, Grabsteine und Skelette eingeebnet wie eine Müllhalde. Man musste Häuser bauen und machte Platz« (ZS, 141).

Mona hingegen möchte die Symbole der Vergangenheit musealisiert sehen. Es irritiert sie, dass das Materielle keine Rolle für das historische Narrativ zu spielen scheint, es überwunden, indem es bis zur Unkenntlichkeit restauriert oder eingestampft. Für sie ist Schmidtke nicht nur ein Teil der Familiengeschichte, sondern auch der jüdischen Geschichte in Polen. Die beschriebene Nachlässigkeit, mit der solche Zeugnisse der Vergangenheit in Polen behandelt werden, beschwört das Stereotyp der polnischen Wirtschaft, was jedoch nicht unkommentiert stehenbleibt: »Es sind keine Soldatengräber von irgendwelchen Helden. Von den heutigen interessiert sich niemand, wer all diese Menschen hier einmal gewesen sind. Wir haben doch unser Leben und neue Sorgen« (ZS, 161),

erklärt Onkel Erwin und konstatiert damit einen Pragmatismus, der geradezu gegenläufig zur stereotypen Vorstellung ist und zugleich darauf verweist, das Musealisierung ein Luxus ist, den sich nicht alle leisten können. Auf Schmidtkes ehemaligem Hof, der vollständig restauriert ist und nun als Erholungsort dient, wird das auf die Spitze getrieben: »Urlaub auf dem Bauernhof«, verkündet ein Schild, »[d]ort, wo einmal die Häftlinge untergebracht worden waren, gab es jetzt Fremdenzimmer« (ZS, 147), kommentiert lakonisch der Erzähler. Es ist auffällig, dass die meisten Charaktere beider Romane das besitzen, was man heute mit Homi K. Bhabha als »hybride Identitäten« bezeichnen kann: Die Brodds sind in Polen lebende Deutsche, die teilweise nach Deutschland ausgewandert sind, Mona ist eine amerikanische Jüdin mit polnischen Wurzeln, Naletnik versteht sich gar als Sorbe, Pole, Deutscher und Jude zugleich. Am Beispiel des Letzteren wird in »Die Freiheit riecht nach Vanille« demonstriert, dass solche Identitäten als soziale Konzepte zu komplex sind und besonders dann an die Grenzen der Vorstellungskraft stoßen, wenn die Herkunft unterschiedliche Stereotype evoziert. Naletnik wird von zwei Polizisten aufgegriffen und als Pole unsanft verhört, bis er seine jüdische Identität als Argument ins Feld führt: »›Ich bin Jude‹, sagte ich leise. […] ›Oh Scheiße!‹ schrie der Mollige. ›Scheiße, Scheiße, Scheiße!‹ schrie der mit dem Bart. ›Was machen wir jetzt?‹ sagte der Dritte. […] ›Mensch, warum hat du das nicht früher gesagt?‹ der Mollige war betrübt. ›Wir dachten, du bist ein Scheißpole, ein Autoknacker, ein Dieb oder so was.‹ Die hatten jetzt richtig Schiß, und es machte mir Spaß, sie auf dem Boden winseln zu sehen. Zum ersten Mal spürte ich am eigenen Leibe, daß es überhaupt nicht schlimm ist,

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in Deutschland ein Jude zu sein. Jedenfalls tausendmal besser als ein beschissener Polacke« (FV, 132).

Sarkastisch wird hier auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung angespielt, deren Bestandteil ein einseitiges Opferbild ist, weshalb zwischen guten und schlechten Ausländern unterschieden wird. Die Tragweite der historischen Verstrickung von Deutschen, Juden und Polen wird hier stark überzeichnet, wobei sich dabei die historische und soziale Bedingtheit von Stereotypen deutlich zeigt. Fremdbilder sind Produkte nicht nur ihrer Zeit, sondern auch der jeweiligen Politik, ephemere Konstruktionen, die eine völlige konnotative Umwertung erfahren können. Um diesen Befund zu verdeutlichen, soll ein kurzer Blick auf die Konstruktion der jüdischen Figuren – Naletniks Vater und Monas Großvater – geworfen werden. In beiden Beispielen rächen die jüdischen Figuren das ihnen zugefügte Leid und hebeln damit gleich zwei antisemitische Stereotype aus. Zum einen das des ›feigen Juden‹, der wegen seiner effeminierten Psyche und körperlichen Konstitution nicht zum (männlichen) Kampf taugt und in Kriegszeiten ein Drückeberger ist.13 Dieses Klischee korreliert zum zweiten mit dem des ›durchtriebenen Juden‹, der durch Intrige und Hinterlist zu Macht und Reichtum gelangt. Ein sehr ausdrückliches Beispiel für dieses Stereotyp sind die »Protokolle der Weisen von Zion«,14 eine Erfindung, die suggeriert, reale Aufzeichnungen eines geheimen Treffens von den Vertretern der zwölf Stämme zu beinhalten, in denen hinterhältige Pläne dargelegt werden, um die Weltherrschaft an sich zu reißen und das Christentum in die Sklaverei zu bannen. Die beiden Rächer aus »Zeit der Stinte« und »Die Freiheit riecht nach Vanille« sind Gegenkonstruktionen zu diesen Vorurteilen, weil sie aktiv gegen das Unrecht ankämpfen. Dabei sind sie aber nicht über menschliche Regungen erhaben, was einem weiteren Klischee zuwiderläuft: dem ›edlen Juden‹, der in verschiedenen Gestalten in der Nachfolge von Lessings »Nathan der Weise« (1779) die Bühnen und die Literatur flutete. Dagegen werden sowohl Bernhard Naletnik als auch Gerald Juchelka als vielschichtige und auch ambivalente Charaktere konzipiert, die die Eindimensionalität des Stereotyps sprengen. Diese Formen der Arbeit gegen das Stereotyp sind ein transnationales Phänomen, das sich neben der Literatur beispielsweise in Comics wie den Superheldengeschichten der Marvelreihe oder in Filmen wie Quentin Tarantinos »Inglorious Basterds« (2009) nachweisen lässt. Ein Grund für die Persistenz von Stereotypen ist der hohe Grad der Wandelbarkeit, dank der sie 13 Vgl. Gilman, Sander A.: The Jew’s Body. New York: Routledge 1991. Im Kapitel »The Jewish Foot« beschreibt Gilman die Verbindung zwischen der Vorstellung eines degenerierten jüdischen Körpers und der angeblichen Untauglichkeit der Juden zum Wehrdienst. 14 Sammons, Jeffrey L.: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen: Wallstein 22001.

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in verschiedene kulturelle Kontexte adaptierbar sind. Demnach sind sie ein besonders günstiger Gegenstand des kulturellen Übersetzens, weil in der Regel nicht nur ihre Existenz vorausgesetzt werden kann, sondern auch ihre Funktion die gleiche ist. Weil Stereotype komplexitätsreduzierende Weltbilder erschaffen, in denen das Fremde an einen außerhalb der Gemeinschaft liegenden diskursiven Ort verwiesen wird, dienen sie zugleich der positiven Selbstverortung innerhalb dieser Weltbilder. Zwar variiert ihr Eingebundensein in kulturspezifische Diskurse je nach historischem, sozialem oder auch religiösem Kontext, doch ist die Konstruktion bezüglich der Wertkonnotation, transkulturell gesehen, kohärent: Heterostereotype als Versuche, Alterität in eindimensionale Bilder zu bannen, werden in der Regel mit Angst, Bedrohung und Ablehnung konnotiert. Figuren zu erschaffen, die stereotype Vorstellungen zwar zitieren, sie jedoch dabei zugleich demontieren, ist eine Strategie, um vereinfachte Wir–Ihr-Dualismen zu unterminieren, auf denen die Herausbildung nationaler Identität zumeist basiert. Im deutsch-polnischen Kontext kann die Dekonstruktion von jüdischen Stereotypen geradezu als programmatisch begriffen werden, weil beide Länder auf eine Tradition der nationalen Selbstkonstruktion gegen das Bild vom ›Juden‹ zurückblicken.15

V.

Fluchtpunkt »Osten« – Utopie und Dystopie

Das Abgrenzungsbedürfnis zwischen dem Selbst und dem Fremden wird gerade dort als besonders ausgeprägt geschildert, wo verschiedene ethnische und kulturelle Gruppierungen auf engstem Raum koexistieren. So schreibt der Erzähler in »Die Freiheit riecht nach Vanille« über seine Großmutter, die sich in dem multiethnischen Grenzland als Deutsche versteht: »Jedesmal, wenn ich behauptete, ein waschechter Pole zu sein, bekam ich von meiner Großmutter eine ordentliche Tracht Prügel«, aber »[m]ehr noch als Polen haßte Warzenrunzel [der ›Kosename‹ des Erzählers für seine Großmutter – die Verf.] die Russen, wobei alle Menschen, die aus dem Osten kamen, für sie Russen waren« (FV, 17). In beiden Romanen wird die Bedeutung von geographischen Orten bei der Identitätsbildung anhand der Dichotomie von Ost und West thematisiert, die seit der Aufklärung die Verortung von Fortschritt und Barbarei prägt. Dabei wird die Vorstellung der Rückständigkeit ebenso auf die Probe gestellt wie die eines urtümlichen Ostens, in dem kulturelle Wurzeln zu verorten seien. Im 18. Jahr15 Vgl. Bärsch, Claus-Ekkehard: Die Konstruktion der kollektiven Identität der Deutschen gegen die Juden in der politischen Religion des Nationalsozialismus. In: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden. Hrsg. von Peter Alter, Claus-Ekkehard Bärsch und Peter Berghoff. München: Fink 1999, S. 191–223.

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hundert werden den in Polen lebenden orthodoxen Juden von assimilierten Juden wie Salomon Maimon oder David Friedländer mangelnde Zivilisation und Barbarei attestiert, im 19. Jahrhundert verschärft sich die aufklärerische Kritik der religiösen Praktiken zu einer regelrechten Angst vor den ›Ostjuden‹.16 Darstellungen moralischer und körperlicher Deformationen, bei denen sich Dariusz Muszer gelegentlich einer Tier- und Insektenmetaphorik wie »Schimpanse« (FV, 25) oder »Ungeziefer« (FV, 48) bedient – wobei Letzteres offenkundig eine nationalsozialistische Rhetorik aufgreift –, lassen die häufiger als »Asiaten« titulierten Osteuropäer in »Die Freiheit riecht nach Vanille« gemäß diesem Stereotyp als vollkommen unkultiviert wirken.17 Dabei finden in beiden Beispielen auf mehreren Ebenen Reisen zwischen den beiden Polen Ost und West statt: In Artur Beckers »Zeit der Stinte« stellt die progressive Reise in die Masuren, die Chrystian mit Mona unternimmt, zugleich eine regressive in die Vergangenheit dar. Während Chrystian seine Vergangenheit be-sucht, sucht Mona im Osten eine, die sich in ihr Identitäts-Puzzle fügen könnte. Dieser Wunsch wird deutlich, wenn Chrystian sich als Kind des Geserichsees bezeichnet und Mona daraufhin fragt: »[u]nd was ist mit mir? Bin ich eine Waise?« (ZS, 88). Dieser Topos der Suche der eigenen kulturellen Wurzeln im Osten erlebt in der Umbruchphase zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert eine Konjunktur durch die intellektuellen »Westjuden« wie Franz Kafka, Joseph Roth oder auch Karl Emil Franzos, die die urtümliche Vorstellung der eigenen Assimilation entgegensetzen.18 Seit dem späten 20. Jahrhundert wird dieser Aspekt besonders in der US-amerikanischen Literatur wieder aufgegriffen. Insbesondere Autoren der zweiten und vor allem dritten Generation schicken ihre Protagonisten auf Reisen in den unbekannten Osten, wie in Jonathan Safran Foers »Everything Is Illuminated«19, erwecken die östlichen Vorfahren wieder zum Leben, wie in Steve Sterns »Der gefrorene Rabbi«20, oder lassen in unwirtlichen Gegenden wie Alaska neue Enklaven des jüdischen Lebens nach dem Vorbild der osteuropäischen 16 Vgl. Maurer, Trude: Ostjuden in Deutschland 1918–1933. Hamburg: Christians 1986; Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden. München: dtv ²1990. 17 Vgl. Uffelmann, Dirk: Konzilianz und Asianimus. Paradoxe Strategien der jüngsten deutschsprachigen Literatur slavischer Migranten. In: Zeitschrift für slavische Philologie 62, H. 2, 2003, S. 277–309. 18 Vgl. Brenner, Michael: Wie jüdisch war die jüdisch-intellektuelle Kultur der Weimarer Republik? In: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland: 1871–1933. Hrsg. von Wilfried Barner und Christoph König. Göttingen: Wallstein 2001, S. 131–140, S. 137; Raffel, Eva: Vertraute Fremde. Das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig. Tübingen: Gunter Narr 2002; Theisohn, Philipp: Die Urbarkeit der Zeichen: Zionismus und Literatur: eine andere Poetik der Moderne. Weimar/Stuttgart: Metzler 2005, S. 214. 19 Foer, Jonathan Safran: Everything is Illuminated. London/New York: Penguin 2003. 20 Stern, Steve: The Frozen Rabbi. Chapel Hill: Algonquin. Books 2010.

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Stettl entstehen, wie in Michael Chabons »The Jewish Policemen’s Union«21. Foers Roman verdeutlicht dabei, dass die Suche nach den Wurzeln der Jagd nach Phantasmen gleicht. Als der Protagonist Jonathan mit seinem schrägen Gefolge den Geburtsort der Großeltern findet, steht er buchstäblich vor dem Nichts: »I implore myself to paint Trachimbrod, so you will know why we were so overawed. There was nothing. When I utter ›Nothing‹ I do not mean there was nothing except for two houses, and some wood on the ground, and pieces of glass, and children’s toys, and photographs. When I utter that there was nothing, what I intend is that there was not any of these things, or any other things. ›How?‹ the hero asked. ›How?‹ I asked Augustine. ›How could anything have ever existed here?‹«22

Auch bei Becker wird die semantische Überfrachtung des »Ostens« thematisiert. Der Osten fungiert als Chiffre für Vergangenes als ein Imaginationsort für Deutsche, Juden und Polen gleichermaßen – er verbindet sie alle, und sie alle tragen unterschiedliche Vorstellungen und Sehnsüchte an ihn heran.23 Dem entspricht auch die Vergänglichkeit des Ostens – bei dem man nicht einmal weiß, wo er beginnt und wo er endet – als Herkunftsort bei Muszer: »Im Laufe der Zeit zivilisierte man uns Sorben und deutschte uns ein […]. Allmählich vergaß man auch die Sorben, so wie man alles vergißt, was man nicht versteht oder nicht benötigt« (FV, 9).

Der Osten ist in dieser Ambivalenz ein transkulturelles Konzept, weil er den Konvergenzpunkt und Interferenzraum aller Identitätsbildungsnarrative bildet.

VI.

Grenzen und Differenzen

In den vorangegangenen Abschnitten wurde gezeigt, welche Themenbereiche im Feld der Identitätsbildungsnarrative in den Fokus kultureller Übersetzung gelangen, welche Strategien und Diskurse der Identitätsbildung von den Texten ausgelotet werden und welche Konvergenzpunkte dabei entstehen. Dabei wurde deutlich, dass es bei den Übersetzungsprozessen keinesfalls um Programme zur Nivellierung kultureller Unterschiede geht. Um gänzlich der Falle zu entgehen, die Texte und ihre Autoren als Akteure eines Dialogs zwischen den Kulturen zu verstehen, der teleologisch auf kulturelle Konformität, einen störungsfreien Informationsfluss oder ein umfassendes Verständnis des ›Anderen‹ abzielt, soll im Folgenden an zwei Momenten verdeutlicht werden, wie Übersetzen auch dazu 21 Chabon, Michael: The Yiddish Policemen’s Union. New York/London: Harper Perennial 2008. 22 Foer, Everything. 2003, S. 184. 23 Vgl. Wojcik, Stereotyp. 2013, S. 170–178.

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dienen kann, Differenzen herauszuarbeiten. Denn darin besteht eine entscheidende Rolle des kulturellen Übersetzens, insofern »Übersetzungen erst dann die interkulturelle Dynamik [bereichern], wenn sie an Differenzen, Bedeutungskämpfen und Übersetzungswiderständen ansetzen, statt sich von vornherein auf (harmonisierende) Brücken des Kulturverstehens zu stützen«24. Prozesse des kulturellen Übersetzens verlaufen nicht notwendigerweise nur interkulturell, sondern auch zwischen den Generationen oder allgemeiner zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In beiden hier vorgestellten Romanen tritt auf der metadiegetischen Ebene die Vergangenheit in ein kontrastives Verhältnis zur Gegenwart. In »Zeit der Stinte« wird nicht eindeutig, wer die Geschichte von Richard Schmidtke und den jüdischen Rächern erzählt. Die personale Perspektive fokussiert den Verbrecher Schmidtke und gibt einen Einblick in seine Gedankenwelt im Angesicht des eigenen Todes. Dieser präsentiert sich darin im Sinne der ›Banalität des Bösen‹ nicht als skrupelloser und berechnender Mörder, sondern als ein Rädchen in der Maschinerie des Todes: Er versteht seine Taten nicht als Unrecht, denn er »hatte einen Auftrag gehabt« (ZS, 59), eine »Methode gefunden, sich nützlich zu machen« (ZS, 58), und »doch nichts Böses gewollt, als er auf seinem Hof das Außenlager baute« (ZS, 63). Dieses Psychogramm wäre dazu geeignet, Sympathie oder zumindest Bedauern mit der Figur aufzubauen, wozu es aber nicht kommt.25 Eine Identifikation mit ihm ist nicht möglich, so niedrig sind seine Motive der Geltungssucht und Gier, so groß der Opportunismus und die emotionale Kälte, wenn er resümiert, dass er »[e]rst im Krieg […] ganz zu sich selbst gekommen« sei (ZS, 59). So steht diese Schilderung aus der Täterperspektive auch im Gegensatz etwa zu Bernhard Schlinks Erfolgsroman »Der Vorleser«26, der durchaus Identifikations- und Empathiemomente zu der ehemaligen KZ-Aufseherin Hannah Schmitz anbietet und deshalb – vor allem im Ausland – heftig in die Kritik geriet.27 Das Moment der kulturellen Übersetzung 24 Bachmann-Medick, Doris: Übersetzung in der Weltgesellschaft. Impulse eines ›translational turn‹. In: Kultur. Übersetzung. Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Adreas Gripper und Susanne Klengel. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 141-160, hier: S. 150. 25 Vgl. Wojcik, Paula: Interkulturelle Literatur aus Polen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. In: Germanica 51, La littérature interculturelle de langue allemande, 2012, S. 177–190. 26 Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Zürich: Diogenes 1995. 27 Vgl. Donahue, William Collins: Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung. Geschichtsschüchternheit in Bernhard Schlinks »Der Vorleser«. In: Rechenschaften: juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen. Hrsg. von Stephan Braese. Göttingen: Wallstein 2004, S. 177–197; Ders.: Holocaust Lite. Bernhard Schlinks »NS-Romane« und ihre Verfilmungen. Bielefeld: Aisthesis 2011; Matthias N. Lorenz: ›Political Correctness‹ als Phantasma. Zu Bernhard Schlinks ›Die Beschneidung‹. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Weimar/Stuttgart: Metzler 2007. Hrsg. von Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz. Weimar/Stuttgart: Metzler 2007, S. 219–242.

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zwischen den Generationen produziert folglich eine Differenz, weil es die Identifikation unmöglich macht. Es wird deutlich, dass der ideologische Fanatismus Schmidtkes, der von Naivität in Realitätsverschiebung mündet, keine Anknüpfungsmomente bietet, an die ein gegenwärtiges Identitätsbildungsnarrativ anschließen könnte, als das Moment der Abgrenzung. Auch bei Muszer erzeugt die kulturelle Übersetzung der nationalsozialistischen Vergangenheit gezielt eine Differenz und hebt damit vorherige Parallelisierungen auf. In zahlreichen Passagen ruft der Erzähler nationalsozialistische Codes auf, indem er sich selbst als einen »Mischling, einen slawisch-germanischjüdischen Köter« (FV, 213) oder »Ungeziefer« (FV, 48) bezeichnet, wenn er Überlegungen anstellt, ob er nun ein Viertel-, Fünftel- oder Zehnteljude sei (FV, 110), oder sich seine Registrierscheinnummer eintätowieren lässt und dabei an seinen Großvater mütterlicherseits erinnert, auf dessen Unterarm eine Nummer eintätowiert war, »[d]ie […] aber kürzer [war]. Und er hatte auch zwei Runen« (FV, 76). Doch als er von dem Durchgangslager von Friedland berichtet, auf die Zustände dort hinweist und den dort herrschenden Assimilationsdruck beschreibt, macht er dennoch ganz deutlich, dass er damit nicht die Singularität der Verbrechen der Nationalsozialisten zu nivellieren beabsichtigt: »Es [Friedland – die Verf.] ist keines der weltbekannten Lager, auf die manche rechts orientierte Eingeborene noch bis heute so stolz sind, o nein! Man darf das Lager von Friedland mit anderen Lagern aus Deutschlands Geschichte unter keinen Umständen verwechseln! […] Man vernichtet dort keine Menschen, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie man das früher, in jüngster Geschichte gemacht hat« (FV, 47).28

Hier dient der Akt des kulturellen Übersetzens dazu, auf die grundlegende Andersheit historischer Phänomene hinzudeuten und gleichzeitig mit den Ähnlichkeiten zu provozieren. Wenn es im Text weiter heißt »Friedland ist ein Lager, in dem man aus normalen, gewöhnlichen Menschen, zur Zeit hauptsächlich aus dem östlichen Europa und Asien, richtige Deutsche macht, egal, wer du bisher, also eigentlich dein ganzes Leben lang, warst« (FV, 48), dann ist dies eine Polemik gegen den Assimilationsgedanken, der auf homogenen Identitätsvorstellungen beruht und davon ausgeht, Menschen könnten ihre Vergangenheit auslöschen und ihre Identität von einem Nullpunkt aus gestalten. Das Spiel mit den nationalsozialistischen Codes verweist auf das Unmenschliche einer solch falsch verstandenen Assimilationspraktik,29 ohne sich auf eine revisionistische Rhetorik einzulassen.

28 Vgl. Uffelmann, Konzilianz und Asianismus. 2003, S. 288. 29 Ein erneuertes Verständnis des Assimilationsbegriffs legt Rogers Brubaker dar. Brubaker, Rogers: The Return of Assimilation? In: Ethnicity Without Groups. Cambride/Mass./London: Harvard Univ. Press 2004, S. 116–131, insbesondere S. 119ff.

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VII.

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Sprache in kultureller Übersetzung

Zuletzt soll noch ein Aspekt der Identitätsbildung angesprochen werden, der nur in »Die Freiheit riecht nach Vanille« auffällig inszeniert wird: Die Sprache. Dirk Uffelmann attestiert Muszers Roman einen »rhetorischen Asianismus«, der gegen sprachliche Normen wie Redewendungen als ein »Akt hegemonialer Gewalt« mit »Neologismen und Barbarismen« als Formen »antikolonialer Gegengewalt« verstoße.30 Muszer beschreibt diese Hegemonie des Deutschen explizit, wenn sich alle im Durchgangslager von Friedland untergebrachten »schämten […], offen russisch oder polnisch zu reden, weil wir doch hierher als deutschsprachige und deutschstämmige Personen gekommen waren, keiner von uns aber fließend Deutsch konnte« (FV, 59). Und als die Kinder einer »Mongolin« gegen dieses nicht artikulierte Gebot verstoßen, tadelt sie sie: »Ich hab euch doch tausend mal gesagt, ihr sollt kein Russisch sprechen. Hier, in Deutschland, sprich man nur Deutsch. Wenn ich euch noch einmal Russisch sprechen höre, mache ich euch fertig! Was sollen die Deutschen von uns halten.«

Nachdem sie ihre Standpauke – freilich auf Russisch – vollendet, »bekamen die Kinder, was ihnen zustand: zweimal von links, zweimal von rechts. Klatsch, klatsch« (ebd.). Abgesehen von dem Bild der osteuropäisch-asiatischen Barbarin, das hier aufgerufen wird, zeigt dieser Ausschnitt, wie Sprache zur Demarkationslinie zwischen dem Wir und dem Ihr wird und in diskursive Machtgefüge eingeschrieben ist. Die fehlerhafte Aneignung der Sprache bedeutet einen Verstoß gegen dieses Machtgefüge und ist zugleich ein Beharren auf dem Status zwischen dem Ihr und dem Wir, in dem sich der Migrant befindet: »Ein Portier, der in einem kugelsicheren Raum saß und die weiße Decke so gespannt betrachtete, als ob er dort nackte Weiber sehen würde, begrüßte mich zurückhaltend und befahl mir mit tiefer, ernster Stimme, eine Nummer zu ziehen. Was er damit meinte, wußte ich beim besten Willen nicht. ›Ich ziehe hier keine Nummer ab‹, sagte ich. ›Ich bin ganz legal gekommen und möchte mich anmelden‹« (FV, 49)

Hier ist das Missverständnis nicht nur ein Akt der Verletzung von Sprechkonventionen, sondern auch der gängigen (bürokratischen) Praxis. In Muszers Roman wird der Status von Sprache als einem identitätskonstituierenden Merkmal durch Irritationen wie Neologismen, Belebung toter Metaphern oder Metaphorisierung von wörtlichen Ausdrücken hinterfragt. Unter anderem lassen sich in dem Roman materialisierte Metaphern, wie der Titel des Buches, nachweisen, der letztendlich auf die tatsächliche Vorliebe des Protago30 Uffelmann, Konzilianz. 2003, S. 303.

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nisten für Vanillepudding (FV, 61) verweist.31 Frisch in Deutschland angekommen, riecht er den Duft auf dem Bahnsteig und stellt fest, »[d]raußen merkte ich sofort, wonach die Freiheit roch. Sie roch nach Vanille« (FV, 34). Der Umgang des Protagonisten mit dem Deutschen ist weniger eine Vereinfachung der Normsprache, wie es Pidgin-Sprachen sind, vielmehr entsteht in der Aneignung durch den Subalternen etwas Neues im Sinne der Kreolisierung, und die Normverletzung wird zu einem schöpferischen Akt. Die Sprache im Zeichen der Differenz verdeutlicht darüber hinaus, dass sie kein homogenes und unveränderliches Ding an sich ist, sondern immer nur im Akt und Prozess ihrer aktiven oder passiven Verwendung eine Identitätsbildungskonstituente sein kann. Darin aber ist sie immer individuell und dynamisch, vor allem ist sie nie die eine, sondern besitzt viele Ausprägungen. Im obigen Zitat kollidieren zwei Formen des Sprachgebrauchs, der bürokratische einerseits und der umgangssprachliche andererseits, und die Frage bleibt unbeantwortet, ob eine dieser Sprachen Identität stiftet oder nur dazu geeignet ist, Differenz zu betonen.

VIII. Fazit Wenn »Hybridität […] weniger als Vermischungsraum, eher hingegen als Handlungsraum von Übersetzungsprozessen zu verstehen« ist,32 dann sind Identitätsbildungsnarrative kulturelle Praktiken, die dabei in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden, aus dem Konvergenzen und Differenzen hervorgehen. Das Beispiel der beiden Romane, deren Autoren und Protagonisten sich als Träger hybrider Identitäten bezeichnen lassen, zeigt, wie gängige, statische Identitätsbildungsparameter wie Herkunft, geographischer Raum oder Sprache zunehmend unhaltbarer werden und anderen Kategorien weichen, die verschiedenen Lebensweisen entspringen. So kann die Zugehörigkeit zu einer Generation oder die Migrationserfahrung Identität stiften und auf Nationalzugehörigkeit basierende Konstrukte schwächen oder ersetzen. Narrative der Identitätsbildung müssen notwendigerweise neu geordnet werden, um plötzlich entstehende Inkohärenzen zu integrieren. Diese treten im Prozess der kulturellen Übersetzung zwischen polnischen, deutschen, sorbischen, jüdisch-amerikanischen und deutsch-polnischen Narrativen dann besonders deutlich hervor, wenn individuelle und kollektive Identitätsbildungsnarrative untereinander konfligieren, Phantasmagorien und Imaginationsorte

31 Ebd., S. 296. 32 Bachmann-Medick, Übersetzungen. 2008, S. 150.

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mit der Realität konfrontiert werden, Vergangenheit auf Gegenwart stößt oder Selbst- und Fremdbilder sich als unstete Konstruktionen erweisen. Der Zweite Weltkrieg als Fluchtpunkt ist zugleich das Moment, von dem ausgehend die Genealogien in den Romanen erzählt werden, wodurch die Bedeutung dieser historischen Zäsur für die Protagonisten unterstrichen wird. Im Unterschied zu US-amerikanischen Romanen, die eine Welt davor imaginieren, in denen ein zwar konfliktbeladenes, aber dennoch ein Zusammenleben der Juden mit Deutschen und Polen existierte, gibt es diese gemeinsame Vergangenheit weder bei Muszer noch bei Becker. Das Jüdische ist so gründlich getilgt, das Chrystian Brodd und Naletnik kaum eine Vorstellung davon haben, bis es mit voller Wucht in ihr Leben bricht und sie zwingt, sich mit ihrer Familiengeschichte in der europäischen Geschichte neu zu verorten. Nicht nur Naletnik hat keinen Schimmer davon, was 1947 in Kielce geschah, auch der (immerhin) Historiker Chrystian kann mit der Zahl 1968, die das Jahr meint, in dem die wenigen in Polen verbliebenen Juden im Zuge politischer Propaganda vertrieben wurden, nichts anfangen (ZS, 168). Als schicksalhafter Teil des europäischen Selbstverständnisses, bleiben die jüdischen Figuren Phantasmagorien von schönen Jüdinnen aus dem fernen Amerika und von racheübenden Vätern und Großvätern aus einer vergangenen Welt. Zugleich aber bleiben sie ein unauslöschbarer Teil derjenigen Geschichten, die den Protagonisten erzählen, wer sie sind.

Olena Komarnicka (Poznan´)

Das Bild der polnischen Provinz im Roman von Artur Becker »Der Lippenstift meiner Mutter«

»1985 standen in den polnischen Läden Flaschen mit Essig, in Holzregalen lagen Brotlaibe. Milch und Butter gab es noch. Und manchmal schlechte Wurst.«1

Mit diesen Worten fasst in einem Interview mit Florian Mosig der Autor Artur Becker die Situation in Polen zusammen, bevor er 1985 »hungrig poetisch und körperlich« nach Deutschland gekommen war. Der Autor äußert sich aber nicht einmal melancholisch über diese Zeiten: »Das Land, in dem ich gelebt habe, gibt es nicht mehr. Das neue, demokratische Polen ist für mich ein fremdes Land geworden, das ich voller Staunen besuche und das ich neu kennen lerne. Ich bin ein Kind des Sozialismus. Des Kriegsrechts.«

In seinen Prosawerken greift Artur Becker immer wieder nach der Beschreibung Polens der sozialistischen Zeiten. Das Leben in der masurischen Provinz hat ihn und sein Schreiben geprägt. In diesem Beitrag soll daher das Bild der polnischen Provinz in den späten 1970er, Anfang der 1980er Jahre anhand Beckers Roman »Der Lippenstift meiner Mutter« dargestellt werden. Der Fokus liegt dabei auf folgenden Themen: Lebensbedingungen/Alltagsleben, Nahrungsmittel (Tauschhandel, Schwarzmarkt), Medizin, Bild der Frau, des Mannes, Jugendliche, Religion und Arbeitswelt. Im Unterschied zu anderen Prosawerken Beckers wie z. B. »Der Dadajsee«, »Wodka und Messer« oder »Kino Muza«, in denen seine Protagonisten zwischen »zwei Welten«, zwischen West und Ost pendeln, spielt die Handlung des Romans »Der Lippenstift meiner Mutter« in der polnischen Provinz Dolina Róz˙ (Rosenthal): »Im stürmischen Herz von Masuren liegt Dolina Róz˙, ein Städtchen, das es in sich hat. Wer hier lebt und arbeitet, gehört definitiv zu den schrägen Vögeln dieser Erde.«2

1 http://www.arturbecker.de/Presse/varia/artikel001.html (Zugriff am 15. 09. 2013). 2 Becker, Artur: Der Lippenstift meiner Mutter. Frankfurt a. M.: Weissbooks 2010, Buchumschlag. [Im Folgenden unter der Sigle »L« mit Seitenzahl im Text.]

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Die Provinz mit ihrer räumlichen Enge und öffentlichen Privatheit war für den Autor immer vom großen Interesse und Bedeutung: »Der Schuster kennt alle Schuhe der Stadt«3, sagt Becker. Im Unterschied zur Anonymität der Großstadt – so Becker –, gibt es in der Provinz keine Distanz zu den erlebten Ereignissen, weil man sich untereinander gut kennt: »Dort finde ich viel interessantere Typen, weil sie sich ganz anders durchschlagen müssen, ganz andere Talente haben, um existieren zu können. Doch das Ermland ist keine typische polnische Provinz, denn dort leben sehr verschiedene Typen, nicht nur Katholiken, auch Deutsche, Ukrainer, Russen und sogar jüdische Menschen, kurz: Das ist eine multikulturelle Region.«4

Nicht zu übersehen, wie auch in anderen Romanen des Schriftstellers, sind in diesem Werk die Stereotype, die Becker häufig zum Ausdruck bringt. Zu erwähnen sind vor allem der polnische Katholizismus, Alkoholismus oder Nationalismus. Von besonderer Relevanz ist die Beziehung zwischen der Kategorie des Nationalcharakters und den Stereotypen. Worin besteht aber der Unterschied? Im Falle des Nationalcharakters wird versucht, »die Motive, die den Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft einig sind und die gemeinsame Gewohnheiten und eine gemeinsame Kultur sichtbar werden lassen, zu isolieren und zu beschreiben«5. Dabei wird der Versuch unternommen, alle signifikanten Angaben zur Beschreibung spezifischer Eigenschaften der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft auszunutzen. Es kann sowohl die kollektive Vorstellung einer Gesellschaft von sich selbst als auch die Vorstellung von Fremden als Stereotyp sein, wobei die Darstellung des Nationalcharakters an sich kein Stereotyp ist, weil sie sich auf die systematische Analyse stützt und verändert werden kann, sobald sich die Wirklichkeit ändert. Im Unterschied zum Nationalcharakter weisen nationale Stereotype große Widerstandsfähigkeit auf; Veränderungen sind ein Ausdruck von Unkenntnis.6 An dieser Stelle soll die Frage beantwortet werden: Wie definiert man eine Nation? Smith versteht darunter die »Bevölkerung eines historischen Territoriums, die ein kollektives Gedächtnis und gemeinsame Entstehungsmythen besitzt, eine einheitliche Breitenkultur, eine gemeinsame Wirtschaft, räumliche Mobilität sowie gemeinsame Rechte und Pflichten für alle Angehörigen der Gemeinschaft.«7 Nicht zu bezweifeln ist, dass eine Verbindung zwischen der natio3 Grünefeld Hans-Dieter: Über die polnische Provinz und die deutsche Literatursprache. Ein Porträt des Schriftstellers Artur Becker. http://www.arturbecker.de/Presse/varia/artikel003. html (Zugriff am 15. 09. 2013). 4 Ebd. 5 Berting, Jan; Villain-Gandossi, Christiane: Rolle und Bedeutung von nationalen Stereotypen in internationalen Beziehungen: ein interdisziplinärer Ansatz. In: Stereotypen und Nationen. Hrsg. von Teresa Walas. Kraków: Antykwa 1999, S. 18. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 21.

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nalen Identität und den nationalen Stereotypen besteht. Die erste ist stark von den zweiten abhängig. Nationale Identität ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das das Leben der Nation durchdringt und sich sowohl auf eigene als auch vor allem benachbarte Nationen bezieht. Die nationalen Stereotype haben einen funktionalen Charakter, indem sie Grundeigenschaften einer Nation auszudrücken helfen. Sie sind immer ein Teil des nationalen Identitätsgefühls. Stereotype leiten sich aus der Tradition, der Überlieferung und der Vermittlung ab. Ein Stereotyp8 ist ein negatives oder positives Urteil, das sich auf Überzeugung stützt und als Ausdruck der öffentlichen Meinung übermittelt wird. Es kann vollständig den Tatsachen widersprechen oder der Wahrheit nur teilweise entsprechen und bleibt lange Zeit unverändert.9 Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist gesellschaftlich konstruiert. Die Stereotype entstehen aus Gerüchten und Anekdoten und nicht aus tatsächlichen Daten und Fakten und sind von den tatsächlichen Erfahrungen der Menschen unabhängig. In jeder Nation gibt es mehr oder minder historisch bedingte kollektive Verhaltensmuster. Die Stereotype werden von Generation zu Generation weitergegeben und ununterbrochen reinterpretiert und rekonstruiert. Sie sind sich durch große Dauerhaftigkeit und Beständigkeit gekennzeichnet. Zu betonen ist außerdem, dass Stereotype nicht isoliert existieren, sondern ein Teil der kollektiven Weltanschauung, d. h. nicht spezifische Eigenschaften eines Einzelnen sind, sondern Denk- und Verhaltensmuster, die die Mehrheit der Bevölkerung charakterisieren.10 Man unterscheidet grundsätzlich zwei Stereotypeforschungsrichtlinien: Die erste Richtung ist an historischen Prozessen und am kulturellen Kontext interessiert, die zweite untersucht die Stereotype in der Perspektive des individuellen Wesens. Stroebe und Insko unterscheiden zwei Gruppen von Theorien: die erste bezieht sich auf individuelle Prozesse, die zweite erklärt Stereotype in den Kategorien soziokultureller Ursachen. Demnach handelt es sich einerseits um Theorien, die Stereotype und Vorurteile als »Ergebnis sozialer Konflikte (Konflikttheorien) oder Sozialisierung (Theorie sozialen Lernens)« verstehen, und andererseits um solche, die Stereotype und Vorurteile »in der Terminologie individueller Motive und Charakterzüge« erklären.11 Stereotype, die hier besprochen werden, haben vorwiegend einen soziokulturellen Hintergrund. Der 8 Die »Encarta Enzyklopädie Professional 2003« versteht unter Stereotyp »die Verewigung eines vereinfachten Bildes einer Kategorie von Personen, Institutionen oder Kulturen […]. Der Ausdruck Stereotyp hat im Allgemeinen negative Bedeutung. Es degradiert das individuelle Denken zur Repetition vorgeformter Auffassungen, die sich der kritischen Beurteilung verweigern. Es ist eng mit dem Vorurteil verbunden.« Orłowski, Hubert: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Wrocław: Atut 2004, S. 14. 9 Vgl. Berting/Villain-Gandossi, Rolle und Bedeutung. 1999, S. 14–15f. 10 Siehe Da˛browska, Jarochna: Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999, S. 28–29 (= Studien zur deutschen Sprache, Bd. 17). 11 Vgl. Orłowski, Die Lesbarkeit von Stereotypen. 2004, S. 15.

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Begriff des »Stereotyps der langen Dauer« wurde von dem Zivilisationshistoriker Marcin Kula eingeführt, der darin Fernand Braudel, der Schöpfer des Interpretationsmodells der »Longue durée«, folgte: »Die Kategorie der ›langen Dauer‹, der ›kurzen Zeit‹, der ›kapriziösesten, irreführendsten Form der Dauer‹ (Braudel) gegenüberstellt, steigert das Erkenntnispotential nicht nur in Bezug auf Epochenübergreifende soziale Strukturen oder zivilisatorische Formationen, sondern auch in Bezug auf die Kategorie der Wahrnehmung der Welt, wie beispielweise das Denken in der Opposition von in-group – out-group, die Mythenbildung oder das Formen von Werthierarchien.«12

Kula zählt bestimmte Stereotype zu den Strukturen der »langen Dauer«: »Die Strukturen der ›langen Dauer‹ werden von Überlagerungen der Folgen historischer Vorkommnisse gebildet, die viel dauerhafter sind als die Ursachen, auf die sie zurückzuführen sind. Gewiss, zu den ursprünglichen Ursachen kommen sich wiederholende Verstärkungen hinzu.«13

Hubert Orłowski spricht ebenfalls von Stereotypen der »langen Dauer«. Die Beschaffenheit von diesen Stereotypen liege nicht darin, dass sie lange und ununterbrochen funktionieren, sondern dass sie in einem geeigneten Moment wieder zum Leben berufen werden können.14 Berting und Villian-Gandossi nennen folgende wichtige »Funktionen« der nationalen Stereotype15: – Sie verstärken die Bindung zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft, indem sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit betonen. – Sie artikulieren die Wertegemeinschaft, indem sie die eigenen Werte und Gewohnheiten mit anderen konfrontieren. – Sie verschaffen die Möglichkeit, zu unterstreichen, was »unsere« Nation von anderen unterscheidet. Stereotype und nationale Vorurteile gehören zweifellos zum festen Bestandteil des Wertesystems jeder kulturellen Gruppe. »Sie sind so wahr wie die Überlieferung und so überzeugend wie Märchen und Sagen.«16 Wie schon vorher angedeutet wurde, sind die Verhaltensweisen nationaler Gruppe historisch bedingt, das bedeutet, sie liegen nicht »im Blut«, sondern besitzen geschichtliche Ursachen. Für die Entstehung von Stereotypen spielen die Informationslage der Bevölkerung und zwischenstaatliche Beziehungen eine wesentliche Rolle. Informationsmangel, politische, soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten im eigenen Land tragen zur Bildung und Aufrechterhaltung der Stereotype bei, während feindliche Bezie12 13 14 15 16

Ebd., S. 148. Ebd., S. 148f. Mehr dazu siehe: ebd., S. 15ff. Berting/Villain-Gandossi, Rolle und Bedeutung. 1999, S. 21. Da˛browska, Stereotype. 1999, S. 20.

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hungen zwischen den Völkern negative nationale Stereotype auslösen. Obwohl die Position von Völkern und Nationen von den internationalen Beziehungen abhängig ist und sich ständig ändert, sind die nationalen Stereotype hinsichtlich der Charaktereigenschaften eines Volkes sehr stabil. Artur Beckers Roman ist ein sorgfältig komponiertes, in allen Schattierungen ausgemaltes Wimmelbild von Biographien. Der Autor nimmt den Leser mit in die kleine Stadt und zu ihren Bewohnern. Hier gibt es alles: den buckligen Dorftrottel Norbert, die Dorfprostituierte Marzena, die verruchte Dorfschönheit Mariola, die rosenkranzbetende Grossmutter Olcia, den ehemaligen Wehrmachtsoldaten Monte Cassino, den prügelnden Vater Krzysiek, die stalinistische Dichterin Natalia, den warmherzigen Schuster Lupicki und die rebellierende Jugend, die verbotene Platten hört und Pläne zu einer Revolution schmiedet. Der Hauptprotagonist Bartek ist ein nicht besonders guter Schüller, eher ein Träumer, ein Rebell, der erkenntnis- und liebeshungrig nach jeder verbotenen Frucht schnappt, die ihm der masurische Kosmos, von ihm »Lunatal« genannt, zu bieten hat. Bartek leidet unter einer Identitätskrise. Er spricht mit seiner imaginierten Freundin Meryl Streep und weiß nicht mehr, ob er ein Homo- oder Heterosexueller ist. Wenn keiner zuhause ist, schminkt er sich mit dem Lippenstift seiner Mutter und tanzt nackt in der Wohnung. Überhaupt scheint Lippenstift im Text als Symbol für das Begehren der Frau zu fungieren. Die Werkstatt des Schusters Lupicki ist Barteks Lebensmittelpunkt, der lebendigste Ort des traurigen Masurenstädtchens. Jeden Tag geht er vorbei, um auf dem Laufenden zu sein, weshalb man ihn auch das »Schusterkind« nennt. Jeder ist in der Werkstatt willkommen, wie das einmal Herr Lupicki ausdrückte, denn »alle Schuhe in Dolina Róz˙ müssen gerecht behandelt werden«. Auch der Opa »Franzose«, Barteks Großvater, der Französisch spricht, viele Bücher liest und als gebildet gilt, wird in der Werkstatt freundlich aufgenommen, obwohl er regelmäßig aus dem Städtchen verschwindet und seine Familie und die zahlreichen Geliebten verlässt. Die Protagonisten versuchen mit ihren gebrochenen Biographien in der gebrochenen Stadt zurechtzukommen. Hier herrscht eine sozialistische Ordnung. Der Leser erlebt das polnische Provinzleben aus der Perspektive des fünfzehnjährigen Bartek. Man lebt in schlecht konstruierten Plattenbauten, häufig fällt der Strom aus, die Winter sind lang und dunkel: »Solche Träume waren nicht leicht zu verwirklichen, denn der Staat von Zeit zu Zeit den Strom abschaltete, um Steinkohlebestände zu sparen, und es passierte nicht selten, dass auch das Wasser abgestellt wurde. Dann saß man in den Plattenbauquartieren im Dunklen und hoffte, dass keines der gefrorenen Rohre der erkalteten Heizkörper platzen würde« (L, 24).

Im Städtchen gibt es eigentlich auch keine Sommer und Frühlinge – die gibt es nur an den großen masurischen Seen. Die Städte Masurens schlafen »im grauen Bett oder besser gesagt im grauen Tal des Sozialismus« (L, 51). Große Strecken

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legt man in Dolina Róz˙ zu Fuß zurück, da fast keiner ein Auto besitzt, und mit dem Fahrrad möchte niemand fahren, da man Fahrräder nur den Erstkommunionskindern schenkt. Die Frauen, Männer und Kinder gehen jeden Morgen zu ihren Fabriken, Schulen, Büros, um am späten Nachmittag wieder auf die Straße zurückzukehren, wo sie dann stundenlang in den Warteschlangen vor den Lebensmittelgeschäften stehen, um z. B. Seife, Toilettenpapier oder schlesische Wurst zu kaufen. Der regelmäßige Klatsch und Tratsch beim Schuster Lupicki, indem man über die Ehepartner oder Sprösslinge klagt oder über Regierung und Inflation diskutiert, gehören zum Alltag der Einwohner. Anfang der 1980er Jahren war das zweitgrößte sozialistische Land Polen durch den Prozess der gesellschaftlichen »Erneuerung« gekennzeichnet. Aus vielen Städten wurden Proteststreiks gemeldet und soziale und später auch politische Forderungen formuliert. Konsumgüter und Lebensmittel wurden knapper und Fleisch war schwieriger als zuvor zu erhalten. Dieser Mangel führte zu langen Wartereihen vor den Geschäften. Schon Ende der 1970er Jahren herrschte in Polen eine ökonomische Krise: hohe Verschuldung im Ausland, fehlendes Warenangebot, Entstehung eines Schwarzmarktes, sinkende Arbeitsproduktivität, schlechte Versorgung des Gesundheitswesens.17 Aber was löste diese Wirtschaftskrise aus? Seit Beginn der 1970er Jahren verfolgte die polnische Regierung ein hohes industrielles Wachstumstempo. Es wurde auf neue Techniken aus dem Westen gesetzt und auf den Bau hochmoderner Produktionsanlagen, die mit Krediten bezahlt werden sollten, was sich jedoch als Illusion erwies. Hinzu kam eine anhaltende Agrarkrise. Genau diese gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Krise wird von Becker in seinem Roman beschrieben, wobei er besonders den Einfluss der politischen und gesellschaftlichen Situation auf das Alltagsleben der provinziellen Bewohner apostrophiert. Die alten Frauen stehen mitten in der Nacht auf und quälen sich in der Kälte, um am frühen Morgen nach ein bisschen Schweinefleisch, Koteletts und Mett zu jagen. Oma Olcia nimmt ihre Enkel zum Aufstehen gerne mit, damit sie sie hin und wieder vertreten können. Wochenlang muss man sich z. B. nur mit Käse oder Geflügel begnügen, weil es in den Läden nichts anderes zu kaufen gibt. Es entwickelt sich in Polen eine Kluft zwischen Massenkaufkraft und Warenangebot. Die Arbeiter haben zwar Geld, können aber dafür nur wenig erwerben, weil die Regale in den Geschäften fast leer stehen. Wer zudem über wenig Geld und keine Beziehungen verfügt oder keine Verwandten auf dem Land hat, muss in den unendlich langen Schlangen stehen. Der Tauschhandel blüht mit Marken für Fleisch, Wodka, Zigaretten und Zucker. In der Stadt kann sich jeder, dessen Portemonnaie mit viel Geld angefüllt ist, auf dem Schwarzmarkt Dollar oder D-Mark besorgen. Im »Pewex«, dem Geschäft der 17 Mehr dazu siehe Haren, Werner van; Sommerfeld, Franz (Hrsg.): Polen: Kirche, KOR, Kommunismus. Bonn: Weltkreis-Verlag 1981, S. 17–18.

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verbotenen Marken, die die Bewohner aus dem Kino, dem Fernsehen oder aus einer Auslandsreise in den Westen kennen, kann man alles kaufen. Dort gibt es keine Schlangen, und jeder bekommt, was das Herz begehrt: Schweizer Schokolade oder französischer Cognac. Die Soldaten und Arbeiter können bei ihren Arbeitgebern wertvolle und rare Artikel zu günstigen Preisen erwerben, z. B. Schlittschuhe, Fernsehapparate, Kühlschränke und allgemein Lebensmittel. All diese Waren lassen sich auf dem Schwarzmarkt bestens verkaufen und sind dazu ein vorteilhaftes Tauschprodukt. Ein solcher Appetit auf Leckerein ist für die Partei allerdings gefährlich. Die leeren Regale der Lebensmittelläden machen die Frauen schlank und begehrenswert, die Männer dagegen fühlen sich von in den Läden herrschender Leere bedroht, da sie ihren Familien keinen angestrebten Wohlstand bieten können. Außerdem würden die Ärzte nur der Partei dienen, während sie das Volk mit Schweinleber und Zuckerrüben füttern und eigentlich immer nur eine Heilmethode anwenden: das Verschreiben von Antibiotika. Dem Hauptprotagonisten Bartek zufolge gleichen diese Rezepte einer Sterbeurkunde. Die Frau wird einerseits als eine Märtyrerin gezeigt, die viel arbeitet und sich um die Familie kümmert, andererseits findet sie aber auch Zeit für Ausgehen und Flirten. Die Frauen schminken sich übertrieben und müssen derartig geschminkt sein – egal ob zu Hause, bei der Arbeit oder selbst beim Putzen: »Die meisten Frauen des Städtchens gingen wie Giraffen, wackelten in engen Röcken mit ihren Hintern, warfen ständig selbstverliebte Blicke auf ihre rosa lackierten Zehennägel und die neuen Stöckelschuhen, und im Winter machten sie große Sorgen um ihre Schminke, dass der Schnee oder Regen sie zerstören oder verschmieren könnte« (L, 27).

Womit sie aber nach der Arbeit zu kämpfen hat, bringt folgendes Zitat zum Ausdruck: »Sie [Stasia – die Verf.] holte aus dem Badezimmer ein Handtuch, das sie kurz ins kalte Wasser getaucht hatte, um Krzysieks brennende Stirn zu kühlen – es würde gar nicht so einfach sein, ihn wieder zum Schlafen zu bewegen, solche Nächte konnten dann plötzlich sehr kurz werden, die sinnlosen Diskussionen mit dem Trunkenbold unerträglich lang und ermüdend« (L, 83).

Am frühen Morgen sind demnach Kopfschmerzen und schlechtes Gewissen vorprogrammiert. In seinem Roman greift Becker auf das Bild eines Mannes zurück, der als Betrüger und Trinker dargestellt wird: »Aber Stasia verteidigte ihren Sohn nicht, weil sie Angst vor ihrem Mann hatte, Angst vor seinen cholerischen Wutattacken, wenn sein Adamsapfel wieder einmal zu zittern begann, die Augäpfel sich mit roten Äderchen bedeckten, weshalb er von Sekunde zu Sekunde geistesabwesender und wutentbrannter wirkte. Diese Väter waren keine Freunde der Menschheit. Im ganzen Haus, auf jeder Etage des orange gestrichenen Wohnblocks im Plattenbauquartier, in dem Bartek mit seinen Eltern und seinem Bruder

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Quecksilber wohnte, waren sie anzutreffen, und einmal in der Woche zogen diese unberechenbaren Väter ihre von Herrn Lupicki gelochten Ledergürtel genüsslich aus der Hose, um ihre Söhne zu verprügeln. Ja, solche Weltmeister der cholerischen und alkoholgesteuerten Wutattacken bewohnten ganze Plattenbausiedlungen[…]« (L, 16– 17).

Wenn der Vater betrunken ist, muss die Familie die ganze Zeit im Flüsterton sprechen und bei jeder Bewegung und jedem Schritt leise sein, weil Krzysiek nicht geweckt werden darf. Obwohl Barteks Vater ein Trinker ist, gibt es auch Tage, an denen er nüchtern ist. Er hat die Entscheidung getroffen, sein Abitur zu verbessern, um seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu vergrößern, und hat in diesen Tagen fleißig zu Hause gelernt. Vor den Wohnblöcken auf den Bänken sitzen betrunkene Männer, die die vorbeigehenden Frauen und Kinder mit vulgären Bemerkungen terrorisieren: »In Barteks Augen waren sie keinen Pfifferling wert, wie sein Vater, der jeden dritten Tag schon am frühen Mittag stockbesoffen im Eingangsfoyer ihres orangefarbenen Wohnblocks lag und über dessen Körper die Nachbarn kopfschüttelnd stiegen, um zur Treppe zu gelangen. Keiner der Nachbarn half dem armen Mann auf die Beine, niemand machte sich die Mühe, seinen besinnungslosen Leib in eine Ecke zu bugsieren, damit der Durchgang frei würde« (L, 40).

Bartek schämt sich für seinen Vater, wenn er von der Schule nach Hause kommt und Krzysiek stark betrunken im Eingangsfoyer liegt. Das Schusterkind packt den Vater am Arm und steigt die Treppe hinauf. »Auf jeder Etage blieb Krzysiek stehen und sprach mit Geistern und Dämonen, beschimpfte seine Frau Stasia und seine Mutter Hilde und sagte zu seinem Sohn Dinge, die man eigentlich zu niemanden sagt, da sie die Seele eines Menschen vergiften und aufspießen, um sie überm Feuer braten. »Du Hurenkind! Was willst du von mir? Ich bringe dich um!« (L, 40).

Aus diesem Grund beschließt Bartek, keine Kinder zu haben, um ihnen diese Demütigung zu ersparen. Doch am nächsten Tag nimmt Krzysiek seinen Sohn beiseite, bittet ihn um Verzeihung und sagt, dass er ihn liebe. Der Autor stellt den Vater als eine Person dar, die sich zwar ihrer Fehler bewusst ist, jedoch nichts dagegen unternehmen kann. Der Alkoholismus mit seinen gefahrvollen und ernsthaften Folgen ist demnach eine Krankheit des Sozialismus, insbesondere in der Provinz. Von Anfang an versucht die Partei, der jungen Generation die sozialistische Ordnung beizubringen. Jeden Montag werden im Technikum, das Bartek besucht, immer zur ersten Unterrichtsstunde lange Schulappelle vollzogen – zu Ehre der im Krieg gefallenen Soldaten, zu Ehren der Arbeiter, die sich viel Mühe gaben, das sozialistische Haus aufzubauen, zu Ehren des Schuldirektors und schließlich zu Ehren der zukünftigen Techniker und Ingenieure: »Für diese Appelle holte man die Schulfahne und die Nationalflagge aus dem

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sogenannten Gedenkzimmer hervor und sang die Nationalhymne, um sich anschließend lange Monologe und statistische Berichte des Schuldirektors anzuhören« (L, 22–23). Dieses Ritual impft Bartek ein, dass nicht nur die Kirche, sondern auch der Staat ein Monopolist bezüglich Ethik und Moral sei. In der Freizeit hört Bartek mit seinen Freunden Musik, trinkt Bier, raucht Zigaretten, beschimpft die Lehrer und lässt den Kommunismus in einem Atompilz explodieren. Die Jugendlichen träumen davon, Dolina Róz˙ zu verlassen, um ein neues besseres Leben im Ausland zu beginnen. So will z. B. der Denker Marcin in die USA, also in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten fliehen. Auch das Schusterkind trägt sich mit dem Gedanken, das Städtchen zu verlassen. Opa Franzose erwidert seinem Enkel jedoch: »Deine Fluchtpläne habe ich längst durchgeschaut! Lass dir nur eines sagen: Die Flucht aus unserem Städtchen wird dir nicht gelungen. Ich habe auch versucht, Dolina Róz˙ zu vergessen und aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich bin praktisch ein lebendes Beispiel dafür, dass die Erinnerung uns Menschen töten kann!« (L, 65).

Für die meisten Polen verkörperte die katholische Kirche die polnische Nation und die polnische Geschichte. Alfons Dalma, ein persönlicher Freund Karol Wojtylas, schrieb in seinem Beitrag vom 09. Juni 1979 Folgendes: »Kirche und Christentum sollen – wie in Polen – […] zu einer geistigen und moralischen Solidaritätskraft werden, die es den Menschen und Völkern ermöglicht, mit Hilfe des Glaubens die Zeiten der Bedrängnis bis zur fernen, aber historisch unvermeidlichen Stunde der Befreiung durchzustehen.«18 In Beckers Roman werden die älteren Personen als Gläubige dargestellt, insofern die Jugend eher »kirchenfeindlich« aufzutreten scheint. Oma Olcia ist ebenso eine gläubige Person, denn sie gehört zu denjenigen Bewohnern, die jeden Tag beten und während der Sonntagmesse in bester Kleidung in der ersten Reihe sitzen. Ihres Erachtens würde ein Gebet nicht nur die Seele reinigen und ihr Flügel verleihen, sondern sei zugleich ein gutes Mittagessen, das satt- und zufrieden mache. »Oma Olcia betete nie nur für sich selbst, um Gesundheit oder eine bessere Zukunft, sondern immer auch um das Wohl der anderen; sie betete für ihre schwarzhaarigen Töchter und blonden Schwiegersöhne, für die Enkel und selbst für den Franzosen, Gott möge ihm gnädig sein, und für die Stalinistin Natalia Kwiatkowska betete sie. Sie habe schon oft erlebt, vor allem im Krieg, dass selbstsüchtige und eigennützige Menschen weniger Glück gehabt hätten als gottesfürchtige und selbstlose Zeitgenossen« (L, 104).

Der fünfzehnjährige Anton dagegen droht damit, eines Tages die St.-JohannKirche, am Besten nachts kurz vor Weihnachten, in Brand zu stecken, um zu beweisen, dass es keinen Gott gäbe, »weil nach dem Brand mit hundertprozen18 Eichhorn, Volker; Randow, Gero von: Polen in der Zerreißprobe. Dortmund: Weltkreis-Verlag 1982, S. 101.

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tiger Sicherheit kein Wunder aus der Hand des Allmächtigen geschehen würde« (L, 106). Ohnehin fällt Anton aufgrund dieser seiner theologischen Experimenten auf: Mehrmals spuckt er z. B. in das Weihwasserbecken oder nimmt bei der Kommunion die Hostie nach ihrer Verabreichung heimlich aus dem Mund, um später vor den Augen seiner Freunde die Oblate zu verbrennen. Und auch Bartek fühlt sich in der Kirche unwohl und besucht sie nur dann, wenn er mit seiner Oma zusammen ist. Barteks Großeltern bewohnen eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einem alten, mit Jugendstilornamenten geschmückten Haus, das bis 1945 einer deutschen Familie gehörte. Auch mehrere Jahre nach dem Krieg ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, besonders bei den Großeltern, also bei der Kriegsgeneration, noch lebendig. Monte Cassino behauptet, dass sich in den Kellern und auf dem Dachboden immer noch Juden und Deutsche verstecken würden, wie auch im Keller Juden wohnten und die Ostpreußen auf dem Dachboden untergebracht seien, wo es wenigstens ein bisschen gemütlicher sei als in den Katakomben. Während eines Streits mit seiner Ehefrau Hilde wiederholt Monte Cassino immer wieder: »Freu dich, dass du überhaupt ein neues Zuhause und eine Arbeit von den Polen bekommen hast, dass du nicht betteln musstest. Ihr habt den Krieg verloren, die Polen hätten dich 1945 auch steinigen können – ich weiß doch, was wir im September 1939 mit meinen Landsleuten angestellt haben, ich bin ja dabei gewesen« (L, 151).

Der Autor beschreibt im Roman jedoch noch eine andere Situation, die die Einstellung gegenüber den Deutschen zum Ausdruck bringt. Ein deutscher Tourist wird von den Offizieren der Miliz gefasst und eingesperrt, weil er den Bahnhof und die gelbe und schwarze Kaserne fotografiert hat. Bartek kommentiert: »Ein Idiot! Weiß er nicht, dass wir Feinde sind? Hüben wie drüben!« (L, 114) Der polnische Katholizismus war eng mit einer anderen Ideologie verknüpft, und zwar mit dem Nationalismus, einer dezidiert bürgerlichen Ideologie, die dem Herrschaftsstreben des Kapitalismus eines Landes entspringt, zur Sicherung seines nationalen Marktes und zur Festigung seiner Position im internationalen Konkurrenzkampf.19 Die Ke˛trzyn´ska ist die längste und geschäftigste Straße in Dolina Róz˙. Bartek, Marcin und Anton nennen sie »Broadway«. Sie führt bis an die äußerste Stadtgrenze und mündet in eine Bundesstraße, wo sich eine namenlose und geheimnisumwobene Fabrik befindet: »In dieser Fabrik verbrachten die Arbeiter ihr ganzes Leben, als wären sie zum Tode verurteilte Häftlinge. Es war ein streng gehütetes Staatsgeheimnis, welche Produkte die Arbeiter in ihrem Werk herstellten. […] Die Menschen mussten nur gehorchen, schweigen und schuften – die Pläne der Partei erfüllen. Ab und zu traten die Arbeiter in

19 Haren/Sommerfeld, Polen: Kirche, KOR, Kommunismus. 1981, S. 115.

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den Streik, obwohl ihnen klar war, dass sie gegen den Tod und die Partei nie gewinnen würden« (L, 180).

Alles was aus dem eigenen Land kommt, wird von der Partei gelobt und als beste Ware dargestellt, d. h. es existiert eine Propaganda für die eigenen Produkte, denn alles was aus dem Westen kommt, gilt als schädlich: »Die Amerikaner haben zusammen mit ihrem Geheimdienst das Gift Coca-Cola und die Atombombe erfunden und sind als erste Menschen auf dem Mond gelandet – wir sind aber stolz auf unser polnisches Leinen und auf unsere Dirnen, die neben den tschechischen die schönsten der Welt sind!« (L, 209)

Der Franzose, der Eisenbahner, ist aber von diesen Reden nicht überzeugt, da er schon viel gereist ist und daher viel gesehen hat: »Alles kommt aus dem Ausland! Unsere heimischen Autos und Fernseher sind ein Haufen Schrott oder Lizenzen aus dem Ausland, und gäbe es Westeuropa nicht – und ich meine nicht irgendein Westeuropa, vom dem sie uns ständig irgendetwas erzählen, sondern ein richtiges Abendland, das mit dem Ostblock nichts zu tun haben will –, würde der polnische Mann auf einem Esel reisen: in der linken Hand ein Stück Wurst, in der rechten eine Zigarette, und an seinem Leib ein Bauernrock aus Leinen!« (L, 211)

Artur Becker beschreibt die ostpolnische Provinz als einen mehrkulturellen und traditionsreichen Ort, an dem sich die Folgen von Krieg und Vertreibung widerspiegeln. Der Schuster Lupicki ist ein Jude, Oma Hilde ist eine Deutsche, die regelmäßig aus Westdeutschland »Hilfspakete« erhält. Aber eines steht fest: Jeder junge Mensch in Dolina Róz˙ will den Sozialismus so schnell wie möglich verlassen, sei es in der Fantasie oder in der Wirklichkeit. Becker betont nicht einmal, dass »Der Lippenstift meiner Mutter« kein autobiographischer Roman sei. Häufig greift der Prosaiker in seinen Romanen zur stereotypischen Darstellung der polnischen Gesellschaft. So werden die Polen als gläubige Katholiken, Trinker und Diebe präsentiert. »Der Lippenstift meiner Mutter« macht dabei keine Ausnahme und versammelt viele Beispiele für die Gläubigkeit und den Alkoholismus des polnischen Volkes. In seinen anderen Prosawerken wie »Dadajsee«, »Wodka und Messer« oder »Kino Muza« versucht Becker hingegen die herrschenden Stereotype mit seiner tradierten Erzählweise zu dekonstruieren. Im »Lippenstift seiner Mutter« hebt er dagegen die beiden Seiten eines Phänomens hervor und bilanziert: In Dolina Róz˙ leben nicht nur gläubige Bewohner, die betrunkenen Väter kümmern sich trotzdem um ihre Familie und die fronenden Frauen finden auch Zeit für sich selbst.

V. Autorengespräche

Olga Tokarczuk im Gespräch mit Stephan Wolting (Poznan´)

»Seit diesem Moment hat sich die Welt erneuert, sie ist jetzt für immer anders«

Stephan Wolting: Wie und warum wählten Sie diese und nicht andere Orte aus, aus denen sich die Werke entwickelten? Ich denke dabei vor allem an Werke wie »Taghaus Nachthaus«, »Letzte Geschichten« und »Der Gesang der Fledermäuse« und auch an Geschichten aus dem Erzählband »Spiel auf vielen Trommeln«, deren Handlungen in Schlesien spielen. Olga Tokarczuk: Das ist nicht unbedingt eine Frage der Wahl. Das sind eher Orte, die mich auf irgendeine Weise berührten, die mich interessierten. Einige von ihnen sind sehr private Räume (»Taghaus, Nachthaus«). Ich würde sagen, das ist mein »Habitat« (Lebensraum). Die Deutschen haben dafür den schönen Ausdruck »Heimat«. Ein solches Wort täte uns im Polnischen gut. Stephan Wolting: »Taghaus Nachthaus« wurde gelesen als ein »Verwurzelungsroman«, ein Werk, das die Suche nach den Wurzeln der 60er-Jahre-Generation darstellt, eben genau in diesem Gebiet. War das Ihre Absicht? Olga Tokarczuk: So wurde es von der Mehrheit der Kritiker gelesen. Das erscheint mir als geradezu paradox, denn ich schrieb es eher aus dem Bewusstsein der Verlorenheit, der Unmöglichkeit, sich zu verwurzeln. Ich schrieb über das eigene (das individuelle wie kollektive) Nomadentum, was ich danach noch genauer in »Unrast« thematisierte. Dieses Buch ist eigentlich ein Vertrautwerden des Raums in einem topografischen, historischen und symbolischen Sinn, was auf die Erfahrungen der polnischen Schlesier antwortet. Stephan Wolting: Ging es Ihnen vielleicht auch um die Schaffung mythischer Orte, um das Ausfüllen leerer Räume durch fiktive Geschichte(n), damit unausgesprochene Orte ihren Ausdruck finden können? Olga Tokarczuk: Ich habe immer wiederholt, dass eine solche Art beschriebener Orte, die in der Kultur und Sprache nur schwach anwesend sind, ein großes

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Olga Tokarczuk und Stephan Wolting

Geschenk für einen Schriftsteller ist. Sie erfordern eine Beschreibung, die Verleihung einer Ursprungsbedeutung von Anfang an. Das ist ein Schöpfungsprozess, bei dem einem schwindlig werden kann. Als ich »Taghaus Nachthaus« schrieb, hatte ich oft genau diese Empfindung einer schuldfreien Einbildungskraft, indem ich, von einem kleinen Faktum ausgehend, eine ganze Geschichte darum bauen könnte, dass ich auf einem Motiv die ganze Geschichte aufbauen konnte. Und genau das tat ich. Zum Beispiel: Das Bild der Kummernis, der heiligen Frau Kummerniß, das sich auf einem der Nebenweg der Kreuzwege von Wambierzyce befindet, regte so meine Vorstellungskraft an, dass ich es riskierte, ein Apokryph der Heilige Kummernis neu zu schreiben. Vielleicht erscheint das gewagt, aber gerade deswegen bin ich Schriftstellerin geworden, und nicht Wissenschaftlerin, Historikerin oder Kulturwissenschaftlerin. Dann müsste ich die Fakten beachten, eine fremde Methodologie gebrauchen und eine fremde Sprache, so bin ich frei. Stephan Wolting: In Ihren Essay, veröffentlicht in dem Buch »Der Moment des Bären« (Moment niedz´wiedzia), geben Sie nationalen Problemen und sprachlicher Identität viel Raum. Die Thematik der Essays verbinden Sie mit ihren literarischen Texten. Sie sprechen dort von der Kraft der Literatur, von der Fähigkeit der Verwandlung der Fiktion in Fakten, von der Kraft der Literatur, die Wirklichkeit zu modellieren. Woher kommt diese Überzeugung und woher entstand dieses Bedürfnis? Olga Tokarczuk: Weil Literatur meiner Ansicht nach eine besondere und exponierte Art zwischenmenschlicher Kommunikation ist. Man erwartet von ihr keine Fakten orientierte Präzision in der Darstellung der Ereignisse, und dennoch ist die Welt, die in einem guten Roman entsteht, eine ungeheure Illusion, und dabei ist sie fähig, den Leser in seine Welt zu ziehen, ihn zu ergreifen und ihn zu verändern. Eine Erzählung ist ein sehr geheimnisvoller psychologischer Prozess, der die Perspektive auf die Welt verändert, und die Welt selbst verändert. Meiner Meinung nach ist Literatur vor allem Kommunikation, eine geschickt komponierte Art, die Welt darzustellen. Stephan Wolting: In Ihrem Schreiben wird der Fokus vom Menschen auf etwas verschoben, das nicht mehr Mensch ist, bemerkt Oksana Weretiuk. Genau so geschieht es in »Taghaus, Nachthaus«, was eine Erzählung über einen bestimmten Ort ist. In einem Essay über die Oder erscheint die Oder als »lebendiges Wesen, das nicht die Rechte der Menschen respektiert«. Woher kam das Bedürfnis nach einem Schaffungsprozess, wo der Raum selbst zum Protagonisten wird?

Gespräch mit Olga Tokarczuk

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Olga Tokarczuk: Ich habe die tiefe Überzeugung, dass die Welt, die uns umgibt, lebendig ist, hauptsächlich wenn man auf sie aus einer bestimmten Perspektive anschaut – aus einer kindlichen, atavistischen. Es ist schwer, das anders als durch die Literatur zu erzählen, die sich um eine genaue Begrifflichkeit nicht zu scheren braucht, sondern eher in einer skizzenhaften Bildlichkeit imstande ist, eine solche Überzeugung wieder zu geben. Immer hat mich beim Schreiben die Grenze zwischen dem Realen und Nichtrealen angezogen, was auch immer diese Unterscheidung meint. Stephan Wolting: Der Meinung von Andrzej Zawada nach sind die heutigen Charakteristika der Niederschlesier eine Empfindung von Heimatlosigkeit und Fremdheit. Er nennt Niederschlesien ein »Nomadenland«, eine »Republik von Mischlingen« oder einen Begegnungsort von Völkern, Religionen und Kulturen. Es scheint mir, dass diese Position der Ihres Schreibens nah ist, das thematisch auf dem schlesischen Gebiet angesiedelt ist. Olga Tokarczuk: Ich denke auch so und gerne würde ich mich dieser Feststellung als Person und Schriftstellerin anschließen. Das ist eine Art im Verborgenen gebliebener Kindheit. Aber man muss guten Willens sein und eine offene Einstellung haben, um diesen Mangel als Auszeichnung zu erleben, was uns Niederschlesier verbindet. Schade, dass dieses Charakteristikum in der Kunst wenig Ausdruck findet. Wir sollten zu diesem Thema schon einige epochale Romane haben, Serien, und viele Meter Filmmaterial, und wir haben eigentlich nur den Film »Sami swoi«1. Ich denke, erst von den nächsten Generationen wird das ganz reflektiert werden und diese ganze Geschichte wird so weit sein, dass es einfacher wird, sie zu erzählen und zu mythologisieren. Stephan Wolting: Die Suche nach adäquaten Worten, um Niederschlesien zu beschreiben, äußert sich in Ihrer Prosa in der Erfindung einer »gebrochenen«, »zerbrochenen« Sprache, in der Neuschöpfung palimpsestierter Namen, dem Vorfinden und Erinnern wiedergefundener deutscher Namen, dem Zitieren früherer Bezeichnungen. In »Taghaus, Nachthaus« übertragen sie die deutsche Legende von der Gründung von Nowa Ruda. Dabei stellen Sie die deutschen sprachlichen Wurzeln heraus sowie einige neue polnische. Der Name des Gründers der Stadt Tunczil – verweist auf tschechische Wurzeln. Welches Ziel verfolgen Sie damit? 1 »Sami Swoi« ist ein schon 1967 gedrehter Film, der in Polen zum Kulturgut gehört und eine Geschichte über zwei verfeindete Familien Kargul und Pawlak erzählt, die aus den ehemaligen Ostgebieten Polens nach Schlesien ziehen. Der Film ist in Lubomierz (früher: Liebenthal) gedreht worden, wo sich auch ein kleines Museum zu dem Film befindet (Muzeum Kargula i Pawlaka).

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Olga Tokarczuk und Stephan Wolting

Olga Tokarczuk: Ich weiß nicht, ob ich diese Frage adäquat beantworten kann. Ich bekenne mich hier nicht zu einem Ziel. Gut möglich, dass ich mit der Erzählung über Nowa Ruda einige eingleisige kulturelle »Legenden« überschreiten wollte, auch gut möglich, dass ich ihre Einseitigkeit dekonstruieren wollte und aufzeigen, dass eine solche mythologisierte Erzählung sich von selbst entwickelt, und gattungsmäßig eine Mischform darstellt, solange sie nicht politisch, national oder gesellschaftlich in ihren Aufgaben vereinnahmt wird. Stephan Wolting: Ein wichtiges Element in Ihrem Schreiben sind Geschichten der legendären Vorfahren, der Repatrianten und Siedler der ersten Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene aus den an die UdSSR angeschlossenen polnischen Ostgebieten nach Niederschlesien kamen. Warum interessierten Sie die Geschichte und Geschichten der Deutschen, die aus Schlesien vertrieben wurden? Olga Tokarczuk: Weil sie faszinierend sind. Das sind die Geschichten der Gründer des zeitgenössischen Schlesiens. Jeder von ihnen ist nach einem ähnlichen Schema der Geschichte der Gründung aufgewachsen: da war vor dem Krieg irgendein Status quo, der zerstört wurde. Es entstand ein Chaos. Aus diesem Chaos entstanden neue Gesetze, völlig andere als zu jener Zeit. Die Protagonisten mussten sich in der neuen Situation zurechtfinden oder sie kamen darin um. Seit diesem Moment hat sich die Welt erneuert, sie ist jetzt für immer anders. Eine solche Art von Geschichte betrifft die Familiengründung jedes Niederschlesiers, auch meine. Das Bedürfnis, sie zu erzählen und ihr zuzuhören, scheint mir sehr natürlich, weil es eine bedeutsame Komponente eines jeden von uns ist. Es gibt eine Menge von Projekten, die sich mit dem Schreiben und der Aufnahme solcher Art von Geschichten beschäftigen, aber nach wie vor gibt es von ihnen noch zu wenig, Sehr gern möchte ich einmal ein großes Epos darüber schreiben… Das Gespräch fand am 20. 02. 2015 im Edith-Stein-Haus in Wrocław statt.

Artur Becker im Gespräch mit Robert Jonczyk (Wrocław)

»Ich lebe auf einer Insel…«

Robert Jonczyk: Sie bezeichnen sich selbst als den »polnischen Autor deutscher Sprache«. Seit 1989 schreiben Sie auch konsequent nur auf Deutsch. Was brachte Sie zu diesem Entschluss, nur in einer Sprache zu schreiben? Artur Becker: Ich kam am 15. März 1985 nach Westdeutschland, und am 7. Mai 1985 wurde ich 17. Die deutsche Sprache musste ich erst erlernen, und es war eine Qual, ich brauchte dafür ein halbes Jahr, den Duden auswendig gelernt, sonst hätte ich kein Abi machen und auch nicht studieren können. Aber die psychologische Identifikation mit der Sprache kam sehr schnell, weil ich noch jung war, da war ich auf einmal unter die Deutschen gegangen. Einmal las ich meine Gedichte in Los Angeles vor. Sie waren auf Deutsch. Danach kamen amerikanische Lyriker zu mir und bedankten sich für die großartige polnische Lyrik. Dann ist mir auf einmal bewusst geworden, welche Arbeit Czesław Miłosz in den USA geleistet hat. Diese Situation war ein wenig absurd, ich las doch nicht auf Polnisch. Sie hörten ja die Übersetzung auf Englisch, aber trotzdem war diese Lyrik für sie polnisch. Die Sprache ist also ein Verräter. Robert Jonczyk: Nach so vielen Jahren in Deutschland greifen Sie immer auf die Motive aus Ihrer Kindheit zurück. Warum? Nicht zu verkennen ist auch der mysteriöse See, Dadaj. Sie schenken ihm sehr viel Aufmerksamkeit, auch einen Romantitel. Artur Becker: Es war eine allmähliche Neuentdeckung der Mythen der uralten Pruzzen (und auch der uralten Ostpreußen). Mich hat gewundert, dass der See Dadaj in ihrer alten Sprache viel gemeinsam mit dem Wort »Milch« hat. Diese Verbindung zwischen Himmel und See, also Milchstraße, ist daher ganz klar. Der Fluss in meiner Geburtsstadt, Łyna, heißt im Pruzzischen Hirsch. Ich assoziiere den Namen mit dem lateinischen Wort »Luna«. Diese Überlegungen führten mich zu der Grundfrage, wie man es symbolisch auseinandernehmen und ausbauen könnte. Also eine ziemlich fatalistische Ausgangsposition, ob der Ge-

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Artur Becker und Robert Jonczyk

burtsort den Menschen irgendwie determiniert. Es war mir wichtig, all diese mysteriösen Orte zu entschlüsseln, denn sie sagen sehr viel über uns selbst. Łyna heißt auf Deutsch Alle und dort, wo ich in Deutschland wohne, fließt der Fluss Aller. Deutschland fügte mir das R hinzu, das ich nicht richtig aussprechen kann. Für mich ist es ein fränkisches R … Und auf einmal beginnt man zu fragen, was dies mit einander zu tun hat: Alle-Aller. In einem neuen Gedichtband, der 2015 erscheinen soll, habe ich bereits nach neuen Antworten auf diese Frage gesucht. Bis zu meinem 15. Lebensjahr traf ich auf dem Nachhauseweg von der Schule die beiden uralten pruzzischen Steinskulpturen, die Bartki aus Bartoszyce. Und wir haben sie immer angefasst und eigentlich das gemacht, was auch die Buddhisten in Tibet mit ihren Gebetsmühlen machen, wir haben ihre steinernen Bäuche gestreichelt. Es hatte an sich etwas Sakrales. Der Sozialismus und Katholizismus in Polen waren eher konventionell, aber überall gab es sakrale Elemente. Ähnlich dem, was auch Czesław Miłosz in »Dolina Issy« beschreibt, in seinem sakralen Tal. Robert Jonczyk: In Ihren Werken, z. B. »Wodka und Messer« oder »Kino Muza« kommen Figuren vor, die zwischen zwei Welten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart leben. Kann man Ihre Identität bestimmen? Artur Becker: Das Thema Identität ist sehr komplex. Wenn man darüber nachdenkt, kommt die nationale Identität mit ihrem eigenen Leben gewissermaßen gut klar. Wenn man aber im Ausland lebt wie ich, als Pole, stellt man sich viele Fragen, auch nach der Ontologie. Und das Leben in Deutschland hat mich zu den ontologischen Aspekten der Identität mehr oder weniger hingeprügelt. Diese Tatsache hat mir gezeigt, dass es nicht möglich ist – Miłosz schrieb auch mal darüber –, die irdische Identität zu finden und zu akzeptieren, denn der Mensch ist ein durch und durch dialektisches und geheimnisvolles Wesen, zumindest was seinen durch sein Tun materialisierten Geist angeht (Ideen!). Ich wollte etwas mehr machen, als andauernd Ermland und Masuren zu beschreiben, und deswegen habe ich solche Bücher geschrieben, wie ich sie geschrieben habe, und ich stellte dabei andauernd die Frage: Wer bin ich? Eine Frage für alle, um auch den anderen zu zeigen, ja, es ist zwar Masuren, Bartoszyce, Allenstein, stimmt, aber die Frage betrifft absolut uns alle. In diesem Moment wurde mir klar, dass man eine Identität nicht bauen kann. Ich sei ein deutscher – deutschsprachiger – Autor, was heißt das aber genau? Welche kulturgeschichtliche Tradition vertrete ich eigentlich? Und ich dachte mir, Kosmopolen, ich werde eher ein selbstbewusster Autor aus Kosmopolen, einem Raum also, wo diese Frage ständig im Vordergrund steht.

Gespräch mit Artur Becker

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Robert Jonczyk: Diese Überlegung kam also erst mit der Begegnung mit dem Fremden, als Sie begannen auf Deutsch zu schreiben und mussten sich selbst definieren? Artur Becker: Ja. Es begann damit, dass ich kein richtiger deutscher Autor sein konnte. Man hat mich zwar akzeptiert, meine Zugehörigkeit zur deutschen Gegenwartsliteratur, aber in Deutschland lebe ich auf einer Insel. Artur Becker ist zugleich eine Insel. Also, es existiert eine moderne deutschsprachige Literatur, dann eine Emigrantenliteratur, es existiert aber auch Artur Becker … Robert Jonczyk: Die Erfahrung der Emigration spielt in Ihren Romanen eine besondere Rolle. Sie selbst nutzten dabei den Vergleich mit einer Fünf-StufenRakete im Roman »Wodka und Messer«. Wie viel von Ihren Eindrücken steckt dahinter? Artur Becker: Der Satz erschien im Roman, stimmt, und hat sich unglaublich schnell verbreitet. Es ist die Erfahrung eines Emigranten, keine literarische Projektion, sondern die einfache Wahrheit. Die fünfte Stufe bedeutet eine Niederlage beim Versuch, in die alte Heimat zurückzukehren. Und dies kommt nie zustande aus einem Grund: Wenn man in die alte Welt zurückkommt, da versteht man sie auf einmal nicht mehr. Und man merkt es auch nicht einmal richtig. Man sucht alte Begebenheiten – Dinge per se – oder Personen, die es nicht mehr gibt. Die neuen zu finden ist sehr schwer, man hört dann, »du wohnst hier nicht, du versteht es nicht«. Diese Rakete ist ein gelungenes Bild, denke ich mir, da auch tatsächlich viele von meinen Eindrücken dahinter stecken. Vor allem ist die Emigrantenrakete universell, und viele Emigranten aus anderen Ländern können sich mit ihr identifizieren: nicht nur in Deutschland, dazu gehören mittlerweile auch Frankreich und Italien, wo ich auch auftrete und lese: aus meinen Büchern. Robert Jonczyk: 2009 wurden Sie mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. Dieser Preis wird an die Autoren vergeben, die auf Deutsch schreiben, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Die Journalisten und Literaturkritiker versuchen das Werk solcher Autoren wie Sie zu definieren, z. B. als interkulturell oder auch transkulturell. Bringen diese Bezeichnungen etwas Positives oder sind sie eher ein Hindernis für Ihr Schaffen? Artur Becker: Ständig debattiert man über die »Chamisso-Literatur«, was sei sie denn für ein Phänomen, diese Literatur derjenigen, die also wie ich auf verschiedenen, identitätsstiftenden, daher geistigen Inseln leben. Ich lebe auf einer »totalen« Insel, seit über 25 oder 30 Jahren lese ich die »Kultura«-Hefte und somit

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Artur Becker und Robert Jonczyk

habe ich mir mein Kosmopolen erschaffen. Gleichzeitig lebe ich in der deutschen Literatur, neben anderen sehr guten Schriftstellern und Schriftstellerinnen, wie z. B. einer guten Freundin von mir, der Ulrike Draesner, die neulich ein Buch über Breslau veröffentlichte. Der Chamisso-Preis wird aber an die Autoren vergeben, deren Muttersprache anders ist als Deutsch, und allein diese Tatsache steckt einen sofort in eine bestimmte, großzügig geöffnete Schublade. Aber zugleich verleiht das Einordnen solcher Literatur dem Autor eine gewisse Funktion. Ich erinnere mich an ein Gespräch vor über 25 Jahren mit dem andalusischen, Deutsch schreibenden und im Schwarzwald lebenden Lyriker und Essayisten José F. A. Olivier. Wir sprachen über die sog. »Gastarbeiterliteratur« und kamen schnell zu dem Entschluss, dass wir sie nicht mehr mitgestalten und endlich ganz normale Gedichte oder Prosa schreiben wollen. Und das hat sich dann auch so entwickelt. Ich bin zum Beispiel der Meinung, dass Feridun Zaimoglu eine hervorragende poetische Prosa auf Deutsch schreibt. Er ist als ein einjähriges Kind nach Deutschland gekommen, aber sein Schreibstil ist ganz anders als der deutschen Muttersprachler. Diese Literatur ist sehr vielseitig, so viele Leute kamen nach Deutschland und begannen zu schreiben, es existieren außerdem auch zwei deutsche Literaturen – die westliche und die östliche. Robert Jonczyk: Sie konstruieren bestimmte Bilder der polnischen Gesellschaft. Was ist dabei für Sie am wichtigsten? Artur Becker: Vor allem dass es wahr ist. Nicht, dass mir jemand vorwirft, der Autor Artur Becker macht aus einem Polen den Alkoholiker. Der Alkoholismus war ein Riesenproblem in meinem Polen, und es ist eine der größten Sünden des Sozialismus, dass diese Ideologie Millionen von Männern hierzulande total auf die schiefe Bahn geraten ließ. Ich wurde von Frauen erzogen, denn die Männer haben entweder gestreikt oder sie waren im Ausland und in den Fabriken, in denen sie dieses Land kaputt machten, denn sie hatten aufgrund der unerfüllten Wünsche bestimmte Komplexe und tranken sich zu Tode. Es ist in der Tat ein unglaubliches Problem, Polen ist dabei noch die westliche Welt, Mitteleuropa, und wenn man die Länder der ehemaligen Sowjetunion betrachtet, da besteht dieses Problem nach wie vor. Und der Autor muss etwas daraus machen. Der Autor muss etwas schreiben, was antiliterarisch und antipoetisch ist, was auch in diesem Sinne schwarz-weiß ist. Aber das ist nur ein kleiner Aspekt meiner Bücher. Sie existieren auf mehreren Ebenen. Denken Sie an die Totenfeier von Mickiewicz, an die Apostasie, an die Parusie. Denken Sie an das Problem der Freiheit.

Gespräch mit Artur Becker

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Robert Jonczyk: Als ein Autor, der in zwei Ländern, Polen und Deutschland seine Werke veröffentlicht, was wollen Sie den deutschen und polnischen Lesern mitteilen? Artur Becker: Ganz am Anfang habe ich gar nicht überlegt, wie es sein könnte. Ich habe 17 Bücher geschrieben, und im letzten, dessen Handlung in Venedig spielt, geht es auch um das Kriegsrecht in Polen. Ich hatte große Sehnsucht, so etwas Ähnliches wie bei Norwid In das Land… (das Gedicht von C.K. Norwid »Mein kleines Lied« – R. J.), ich bin ausgereist als polnischer Dichter, also ohne die konkrete Absicht, irgendwann nur auf Deutsch zu schreiben, damit jemand über mich wissenschaftliche Abhandlungen schreiben könnte. Gleichzeitig ist es gefährlich, solche Sehnsucht zu empfinden, vor allem wenn man aus so einer folkloristischen und historisch schwierigen Region stammt, mit einer so schwierigen Geschichte wie Ermland und Masuren, wo sich alles anhäuft, wo man den Gałczyn´ski spielen kann (silberne Seen, Muscheln am Himmel und Bach!). Und doch als mir bewusst wurde, was das Gedächtnis des Schriftstellers eigentlich ist, ging mir ein Licht auf, und es begann die Entdeckung dessen, was Kosmopolen heißt. Der Begriff wurde so gut aufgenommen, dass manche deutschen Schriftsteller sich Kosmopolen nennen. Robert Jonczyk: Als ein Brückenbauer zwischen zwei Kulturen und zwei Staaten werden Sie oft mit politischen Fragen konfrontiert. Wo sehen Sie die Schwächen und die Stärken der deutsch-polnischen Beziehungen? Artur Becker: Für mich ist der Dialog, auch im politischen Diskurs, sehr wichtig. Es gab aber in den deutsch-polnischen Beziehungen eine Zeitlang Probleme damit. Die polnische Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) hat das Bild von Polen in der BRD stark beeinträchtigt, indem sie so erzkonservativ vorgegangen ist, dass im Westen einem manchmal der Atem stockte … Ich habe in Deutschland vieles sehr »diplomatisch« erklären müssen, dass diese Partei sich einfach so ein Ziel vorgenommen habe und dass dieses eigentlich im Widerspruch stehe zu den Polen, die sich um andere, eigentlich bodenständige Probleme kümmern würden und nicht um eine rechtskonservative Ideologie, zumal im Westen niemand Dmowski kennt. Es war aber auf einer ganz anderen Ebene problematisch. Es handelte sich um diese Aufteilung in Polen A und Polen B, sozusagen, ob man für oder gegen den »Runden Tisch« ist: nach 1989. Ob man diese Gespräche anerkenne oder nicht. Dies zu erklären war ein Spagat, da man die Geschichte nicht dämonisieren sollte, das haben schon die Kommunisten getan. Und die Nazis auch. Hier denke ich wie Popper. Es käme noch hinzu, was in der Zeit der Regierung von Olszewski geschehen war – das müsste ich auch erklären, und ich beschränkte mich auf im Westen soziologisch plausible verständliche Prozesse.

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Das Problem mit dem Umgang mit der Dekommunisierung betraf jedoch nicht nur die Parteien PiS und PO (Bürgerplattform), sondern bezog sich im weiteren Sinne auf einen Konflikt zwischen Jerzy Giedroyc und Gustaw Herling-Grudzin´ski, der für die totale Dekommunisierung gewesen war, Giedroyc hingegen für einen Dialog. PiS beanspruchte damals und beansprucht bis heute das Recht auf Wahrheit, und überall wo das geschieht, kommt immer die Ideologie zutage. Die heutigen Politiker haben leider die sozialistischen Atavismen übernommen, denn sie verfügen über keine Erfahrung der demokratischen Machtausübung. Man spürte in dieser Zeit kurz nach 1989 das ideologische Chaos – die vermeintliche Tradition, Überlegungen zu der Zweiten Polnischen Republik, die mögliche Entstehung der Vierten Republik. Ich stand daneben und habe mich gewundert, warum die Menschen hierzulande die historischen Prozesse gar nicht begreifen. Und dazu noch die allgegenwärtige Instrumentalisierung der Geschichte und auch der westlichen Denkweise – der EU. Ich dachte, es würde sehr lange dauern, bis sich das Ganze ändern, normalisieren würde. Deswegen versuche ich, im Westen vor allem darauf aufmerksam zu machen, wie schwierig, wie dynamisch die Prozesse der Säkularisierung und Demokratisierung in Polen nach 1989 sind, weil mir die vorschnellen, moralisierenden Stimmen gehörig auf die Nerven gehen. Polen muss doch nicht nur die Verbrechen des Sozialismus verarbeiten, sondern auch Dmowski. Italien ist schon einen kleinen Schritt weiter, genauso wie Deutschland. Robert Jonczyk: Was ist mit der heutigen polnischen Gesellschaft? Die politische Transformation in den 1990ern sowie der Beitritt zu der Europäischen Union im Jahre 2004 waren wichtige Faktoren für ihre Entwicklung in den letzten Jahren. Artur Becker: Die polnische Gesellschaft ist, wie gesagt, sehr dynamisch. Sie säkularisiert sich auch rapide, was natürlich selbstverständlich ist, in den letzten 25 Jahren musste sie all das nachholen, was im Westen sehr lange dauerte. Der größte Verlierer ist die Kirche, das klare Feindbild ist verschwunden, und der polnische, sehr spezifische Katholizismus leidet sehr unter der Verwestlichung und zeigt deshalb eklatante Schwächen. Doch das Christentum insgesamt muss im 21. Jh. dem modernen Menschen sehr entgegenkommen, damit das Angebot Eschatologie in Jesus Christus wieder eine Renaissance erleben kann. Politisch und wirtschaftlich: Ich bin der Meinung, dass die kommenden 25 Jahre entscheidend sein werden. Bereits an den jüngeren Generationen bemerkt man mehr Distanz. Was ja nicht bedeutet, dass es keine konservativen Kräfte mehr in Polen geben wird. Sie müssen demokratisch gezähmt werden, genauso wie die allzu sehr liberalen, radikal liberalen.

Gespräch mit Artur Becker

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Robert Jonczyk: Paradoxerweise könnte man sagen, dass die Emigration Ihnen ermöglicht hat, der polnische Autor zu werden, der Sie, wären Sie in Polen geblieben, eigentlich nicht sein könnten? Artur Becker: Genau! Wieszcz! Der große Nationaldichter! Aber dass ich nicht lache … Erst mal, ich kann jede Zeit Stopp sagen. Zweitens, keiner hat irgendwelche Macht über mich und drittens, ich bin objektiv und einfach vernünftig – kantisch, zumal Kant mein Nachbar gewesen ist … Ich dämonisiere und mythologisiere keine historischen Inhalte, dabei schreibe ich jedoch gerne Romane, in denen der Gegensatz von alldem vorzufinden ist – sprechende Messer, romantische Themen, schöne gebrochene Frauen. Dabei muss ich kein dummer Patriot sein, und ich kümmere mich trotzdem um einen guten Ruf von Polen im Ausland. Robert Jonczyk: Sie nannten mehrmals den Begriff »Kosmopolen«. Ist es eine Antwort auf die vielen Fragen, die sich ein polnischer Emigrant stellt? Artur Becker: Ganz sicher. Aber ich verweise auf meinen großen und mittlerweile berühmten Essay »Im Zug durch Deutschland« von 2012. Der Kosmopole kann jeder sein, der weiß, wie zerbrechlich und geheimnisvoll unsere Existenz ist, und trotzdem ist sie ein schöpferischer Ausdruck, materialisierter Ausdruck unserer kreativen Kraft – unseres Geistes, um mal Stanisław Brzozowski zu zitieren … Robert Jonczyk: Vielen Dank für das Gespräch. Artur Becker: Ich danke Ihnen auch herzlich!

Beiträgerinnen und Beiträger

Bluhm, Lothar, Prof. Dr.: Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Publikationen zum Gesamtbereich der deutschen Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Forschungsschwerpunkte insbesondere in der Historischen Erzähl- und Märchenforschung, der Literatur um 1800, der Klassischen Moderne sowie der Zeitgenössischen Literatur. Gfr. Herausgeber der Zeitschrift Wirkendes Wort; Sprecherratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur. Letzte Veröffentlichungen: Auf verlorenem Posten. Ein Streifzug durch die Geschichte eines Sprachbildes. Trier 2012; Untergangsszenarien. Apokalyptische Denkbilder in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Hg. Ders./Markus Schiefer Ferrari/Hans-Peter Wagner/Christoph Zuschlag. Berlin 2013. Braun, Matthias, Dr.: langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU); Redakteur der wissenschaftlichen Reihe der BStU in Berlin und Lehrtätigkeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Beiratsmitglied des ChristaWolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur; Forschungsschwerpunkte: Zensurforschung, Arbeits- und Wirkungsweise der Stasi im Kulturbereich. Publikationen u. a.: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit (2007); Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Hg. Carsten Gansel/ Ders. 2012; Die Anthologie von den jungen Leuten lässt mich nichtmehr schlafen. Der Mentor Franz Fühmann. 2014; Zensur in Literatur und Kunst der DDR. 2015. Braun, Peter, PD Dr.: Leiter des Schreibzentrums »SchreibenLernen« der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Promotion 1996, Habilitation 2003; unterrichtet wissenschaftliches, journalistisches und kreatives Schreiben an der Universität Jena und ist als Schreibberater tätig. Lehrt zudem in der Germanistik und Medienwissenschaft – mit einem speziellen Interesse für schreibintensive

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Beiträgerinnen und Beiträger

Lehrformate und Portfolioarbeit. Beiratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur; Aktuelle Veröffentlichungen: Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart. Hg. Ders./ Bernd Stiegler. Bielefeld: transcript 2012., Hilbigs Bilder. Essays und Aufsätze. Hg. Ders./Stephan Pabst. Göttingen: Wallstein 2013., Objektbiographie. Ein Arbeitsbuch. Weimar: VDG-Verlag 2015. Dueck, Cheryl, Prof. Dr.: Associate Professor of German an der Universität Calgary. Forschungsfelder: der Europäische Film, DDR- und Nachwendeliteratur sowie -film und Kulturelles Gedächtnis. Jüngste Publikationen: Beiträge zu Filmen wie »Yella«, »Das Leben der Anderen«, »Jakob der Lügner« und »Strajk«. Gegenwärtiges Forschungsprojekt: Untersuchung zur nationalen Vergangenheit und transnationalen Gegenwart am Beispiel aktueller Filme, die die Zäsuren des Kalten Krieges und der Wendezeit behandeln. Egger, Sabine, Dr.: Dozentin im Fachbereich German Studies, Mary Immaculate College, Universität Limerick, Leiterin des Irish Centre for Transnational Studies (ICTS); Promotion an der Humboldt-Universität Berlin; Beiratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur; Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, kulturwissenschaftliche Ansätze/Cultural Studies, Spatial Turn, Europabilder, Erinnerungsdiskurse nach 1945 und 1989, Migration, Fragen der Inter-/Transkulturalität, Intermedialität; Publikationen: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den »europäischen Osten« in der Lyrik Johannes Bobrowskis. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2009; Polish-Irish Encounters in the Old and New Europe. Hg. Dies./ John McDonagh. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011; Cultural/ Literary Translators: Irish-German Biographies II, Hg., 2015; Magical Realism and Polish-German Postmemory: Reimagining Flight and Expulsion in Sabrina Janesch’s Katzenberge (2010). In: Interférences littéraires / Literaire interferenties 14 (2014). ›The East‹ as a Transit Space in the New Europe? Transnational Train Journeys in Prose Poems by Kurt Drawert, Lutz Seiler and Ilma Rakusa. In: German Life and Letters 68/2 (2015). Englhart, Andreas, PD Dr.: Privatdozent für Theaterwissenschaft und Mediendramaturgie am Department Kunstwissenschaften der Ludwig-MaximiliansUniversität München und an der Bayerischen Theaterakademie, Gastprofessor an der Universität Lódz´. Forschungsschwerpunkte:Theater der Gegenwart, Mediendramaturgien, Theater- und Mediengeschichte der Moderne sowie das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Ästhetik und Theorie des Theaters. Veröffentlichungen: Einführung in die moderne Theaterwissenschaft. Hg. Ders./ Jörg v. Brincken. Darmstadt: WBG 2008; Einführung in das Werk Friedrich

Beiträgerinnen und Beiträger

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Schillers. Hg. Darmstadt: WBG 2010; Junge Stücke. Junge Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater. Hg. Ders./Artur Pełka. Bielefeld: transcript 2014; Das Theater des Anderen. Theorie und Mediengeschichte einer existentiellen Gestalt von 1800 bis heute. Hg. Bielefeld: transcript (im Erscheinen). Gansel, Carsten, Prof. Dr.: Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturund Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 19.–21. Jahrhunderts, System- und Modernisierungstheorie, Popkultur und Adoleszenzforschung, Narratologie und Gedächtnis, Evolution und Literatur; Mitherausgeber der Reihe »Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien (Vandenhoeck & Ruprecht), der Reihe »G. E. Lessing im kulturellen Gedächtnis« (Vandenhocek & Ruprecht). Mitglied des PEN. Sprecherratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur. Letzte Buchpublikationen: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Hg. Ders./Markus Joch/Monika Wolting. Göttingen: V&R 2015; Störungen in Literatur und Medien. Hg. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4/2014, Göttingen 2014; Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hg. Göttingen: V&R 2014; Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistesund Sozialwissenschaften. Hg. Ders./Norman Ächter. Berlin/New York: de Gruyter 2013. Haase, Michael, Dr.: wissenschaftlicher Mitarbeiter am IDF der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur nach 1945 und österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Letzte Veröffentlichungen: Erzählen in der breiten Gegenwart – drei exemplarische Lektüren aus dem Jahre 2009. In: Zwischen Einnerung und Fremdheit. Hg. Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting. Göttingen: V&R 2015; Christa Wolfs letzter Selbstversuch – Zum Konzept der subjektiven Authentizität in »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud.« In: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hg. Carsten Gansel. Göttingen: V&R 2014. Jonczyk, Robert, mgr: seit 2011 Doktorand am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wrocław. Forschungsinteressen: Literatur und Theater der DDR, der literarische Diskurs der deutschen Einheit sowie Translations Studies. Publikationen zur DDR-Dramatik sowie zu Autoren wie Jürgen Becker, Volker Braun und Georg Seidel. Letzte Veröffentlichung: Auf der Suche nach der vergangenen Wende – »Trotzdestonichts oder Der Wendehals« von Volker Braun. In: Zwischen Einnerung und Fremdheit. Hg. Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting. Göttingen: V&R 2015.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Klimczak, Peter, Dr. phil.: Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Angewandte Medienwissenschaften der Brandenburgischen Technischen Universität. Forschung auf dem Gebiet der Analytischen Medienwissenschaft, der kinematografischen Semantik und der Mediensemiotik. Aktuelle Veröffentlichung: Formale Subtextanalyse. Modallogische Grundlegung der Grenzüberschreitungstheorie von Jurij M. Lotman. Münster: Mentis 2015. Komarnicka, Olena, dr: Literaturwissenschaftlerin, Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Exilliteratur nach 1933, Migrationsliteratur im 20. und 21. Jahrhundert. Letzte Publikationen: Die Darstellung der Eltern-Kinder-Generation in Eugen Ruges Deutschlandroman »In Zeiten des abnehmenden Lichts«. In: Kristin Eichhorn (Hg.): Neuer Ernst in der Literatur? Frankfurt a.M. 2014; Zwischenstationen: Vladimir Vertlib w poszukiwaniu straconej ojczyzny i toz˙samos´ci. In: Liliana Sikorska, Anna Chudzin´ska-Paskosadze (Hrsg.): Clash (es) and new beginnings in literature and culture. Poznan´ 2014. Kopacki, Andrzej, dr hab.: Literaturwissenschaftler am Institut für Germanistik der Warschauer Universität, Mitarbeiter der Literaturzeitschrift »Literatura na S´wiecie«. Buchveröffentlichungen zur Lyrik Hans Magnus Enzensbergers (1999), zur Komparatistik und Problematik der deutsch-polnischen Kommunikation (2002), zur neueren deutschsprachigen Prosa (2009), zur modernen Literatur und Übersetzungspraxis (2012). Herausgebertätigkeit – Sammelbände zu Enzensberger (2001) und Brecht (2012). Übersetzungen u. a. von Benjamin, Benn, Brecht, Grünbein. Auszeichnungen – u. a. Robert-Bosch-Stiftung-Preis (2000, als Übersetzer), Mörike-Förderpreis (2006, als Lyriker). Ludorowska, Halina, prof. dr hab.: Professorin und Leiterin des Lehrstuhls für Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Komparatistik an der Maria-CurieSkłodowska-Universität in Lublin. Lehrt und forscht im Bereich deutsche Literaturgeschichte des 20. und 21. Jhs. und allgemeine Literaturwissenschaft. Beiratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur. Buchveröffentlichungen: Adieu, NRD! Biografie pisarzy z perspektywy postenerdowskiej. Lublin 2009. Bliz˙ej pełni. Póz´na twórczos´c´ Christy Wolf (1990–2010). Lublin 2013. Letzte Publikationen: Wendepunkte und Selbstvergewisserung in Christa Wolfs »Mit anderem Blick«. In: Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Hg. Carsten Gansel. Göttingen: V&R 2014. Nell, Werner, Prof. Dr., lehrt seit 1998 an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik); Adjunct Associate Professor an der Queen’s University ON (Kanada). Vorstand des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Veröf-

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fentlichungen zur Literatur- und Kulturgeschichte sowie zu diversen sozialwissenschaftlichen Themen. Letzte Publikationen: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Populärkultur. Hg. Ders./ Marc Weiland, Bielefeld: transcript 2014. Für weitere Informationen: http://nell.germanistik.uni-halle.de/ Pełka, Artur, dr: Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Łódz´; Humboldt-Stipendiat. 2004 Promotion zum Körperdiskurs in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Werner Schwab. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Drama im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt, gender- und queer-studies. Herausgeber diverser Sammelbände. Zuletzt erschienen: Das Drama nach dem Drama. Bielefeld: transcript 2011; Junge Stücke. Junge Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater. Hg. Ders./Andreas Englhart. Bielefeld: transcript 2014. Prykowska-Michalak, Karolina, dr hab.: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für gegenwärtige Kultur an der Universität Lódz´. Habilitation an der Philologischen Fakultät der der Universität Lódz´. Forschungsschwerpunkte: Deutsches Theater, Kulturtransfer, Theatermanagment. Letzte Buchveröffentlichungen: Kurtyna w góre˛! Relacje mie˛dzy teatrem polskim i teatrem niemieckim po 1990 roku. Łódz´ 2012., Teatr niemiecki w Łodzi. Sceny-Wykonawcy-Repertuar (Deutsches Theater in Lodz. Bühnen – Schauspieler – Repertoire). Łódz´ 2005; Teatr niemiecki w Polsce XVIII–XX wiek, (Deutsches Theater in Polen 18.– 20. Jahrhundert). Hg. Łódz´ 2008., Felix Austria Dekonstruktion eines Mythos? Das Österreichische Drama und Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. Dies./Małgorzata Leyko/Artur Pełka. Łódz´ 2009. Slipp, Richard, MA: Lektor an der University of Calgary und Athabasca University (Kanada), Doktorand an den Universitäten Calgary und Gießen (Cotutelle). Forschungsschwerpunkte: DDR-Literatur, Erinnerungsdiskurse, Narratologie; derzeit Arbeit an einer Dissertation zur narrativen Inszenierung von Erinnerung bei Christoph Hein. S´liwin´ska, Katarzyna, dr: Studium der Germanistik in Poznan´ und der Sozialwissenschaften in Berlin; seit 1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´. Forschungsschwerpunkte: deutsch-polnische Literaturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Erinnerungskulturen sowie Krieg, Zwangsmigrationen und Gewalt in der deutschen und polnischen Literatur. Neueste Veröffentlichungen zu Flucht und Vertrei-

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bung u. a. in Exilforschung, Bd. 31: »Dinge des Exils« (2013), Studia Germanica Posnaniensia XXXIV (2013), Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego (2015). Trepte, Hans-Christian, Dr.: studierte Russisch und Englisch in Greifswald und Leipzig, danach Polonistik in Leipzig, Warschau und Wrocław. 1979 Promotion mit einer Arbeit über Jarosław Iwaszkiewiczs Epochenroman »Sława i chwała« (Ruhm und Ehre). Von 1995 bis 2001 Mitarbeiter an einem Forschungsprojekt zu Exilliteraturen Ostmitteleuropas am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmiteleuropas (GWZO, Berlin-Leipzig); seit 2002 am Institut für Slavistik der Universität Leipzig tätig im Bereich Westslawische Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Kultur und Literatur, Exilliteratur, deutsch-polnische kulturelle und literarische Beziehungen. Walkowiak, Maciej, prof. dr hab.: Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanische Philologie an der Adam-MickiewiczUniversität in Poznan´. Forschungsschwerpunkte: Gottfried Benn und die Kontroversen der Moderne, Literatur der Weimarer Republik, insbesondere die Literatur und das Schriftum der Konservativen Revolution 1918–1933, deutschsprachige Exilliteratur 1933–1945 und die Literatur der inneren Emigration im Dritten Reich, deutsch-polnische Wechselbeziehungen 1918–1939, Politisierung der Literatur im 20. Jahrhundert, zum literarische Schaffen von W.G. Sebald, historisches Gedächtnis in der Literatur. Letzte Publikationen: »Teils-teils« das Ganze – zur Frage Berlins und der norddeutschen Provinz bei Gottfried Benn mit einem Pariser Exkurs. Frankfurt am Main 2009; Zu Ernst von Salomons autobiographischen Selbstgestaltungsstrategien im Roman »Der Fragebogen«. Szczecin 2012; Kommentar zum Roman Nataly von Eschstruths »Polnisch Blut«. Berlin 2015. Wojcik, Paula, Dr.: Leiterin der Nachwuchsforscherinnengruppe »Klassik-Popularität-Krise« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: deutsch-jüdische Literatur, transnationale Perspektiven auf deutsche und polnische Literatur, interkulturelle Literatur und Literatur des 18. Jahrhunderts. Letzte Veröffentlichungen: Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Transcript Verlag, 2013. Wolting, Monika, prof. dr hab.: Literaturwissenschaftlerin am Germanistischen Institut der Universität Wrocław und Professorin für Germanistik an der WSPiA in Poznan´. 2002 Promotion in Warschau mit der Arbeit »Das Motiv des Brunnens

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in der deutschen Kultur« (2006) und 2010 Habilitation mit der Schrift »Der Garten als Topos in dem Werk von Marie Luise Kaschnitz, Undine Gruenter und Sarah Kirsch.« Sprecherratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur; Vizeräsidentin der Goethe-Gesellschaft-Polen. Forschungsschwerpunkte: Intellektuellenforschung; Kulturpolitik, Realismus, Feldtheorie, Transkulturalität. Letzte Buchpublikationen: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur. Hg. Carsten Gansel/Markus Joch/Dies. Göttingen: V&R 2015; Erzählen zwischen geschichtlicher Spurensuche und Zeitgenossenschaft. Hg. Edward Białek/Dies. Dresden: Neisse Verlag 2015; Opcja niemiecka. O problemach z toz˙samos´cia˛ i historia˛ w literaturze polskiej i niemieckiej po 1989 roku. Hg. Wojciech Browarny/Dies., Kraków: Universitas 2014; Die Mühen der Ebenen. Aufsätze zur deutschen Literatur nach 1989. Hg., Poznan´: Wydawnictwo Naukowe 2013. Wolting, Stephan, prof. dr hab.: Professor, Leiter des Lehrstuhls für Interkulturelle Kommunikation am Institut für Angewandte Linguistik der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Hermeneutik, Interkulturelle Trainings, Kreatives und Biografisches Schreiben, kulturelle und literarische deutsch-polnische Beziehungen, Akademische Wissenskulturen. In jüngster Zeit Veröffentlichungen zum Kulturbegriff und Studien zu einer kulturwissenschaftlich orientierten Thanatologie; Letzte Veröffentlichung: Kultur und Kollektiv. Festschrift für Klaus. P. Hansen. Hg. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2014. Zielin´ska, Mirosława, dr: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Wrocław. Forschungsschwerpunkte: Literatur – Erinnerung – Identität und Kulturtransferprozesse. Letzte Buchveröffentlichungen: Transfer und Vergleich nach dem cross-cultural-turn. Studien zu deutsch-polnischen Kulturtransfer-prozessen. Hg. Dies./M. Kopij-Weiss. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015.

Weitere Bände dieser Reihe Band 15: Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting (Hg.)

Zwischen Erinnerung und Fremdheit Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989 2015. 460 Seiten, gebunden 59,99 € Preis D ISBN 978-3-8471-0382-0

Band 14: Michaela Nicole Raß

Bilderlust – Sprachbild: Das Rendezvous der Künste Friederike Mayröckers Kunst der Ekphrasis 2014. 473 Seiten, gebunden 69,99 € Preis D ISBN 978-3-8471-0162-8

Band 13: Dominika Borowicz

Vater-Spuren-Suche Auseinandersetzung mit der Vätergeneration in deutschsprachigen autobiographischen Texten von 1975 bis 2006

Band 12: Kerstin Germer

(Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte Uwe Timms narrative Ästhetik 2012. 311 Seiten, gebunden 49,99 € Preis D ISBN 978-3-8471-0042-3

Band 11: Carsten Gansel/Matthias Braun (Hg.)

Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung 2012. 408 Seiten, gebunden 44,99 € Preis D ISBN 978-3-89971-997-0

Band 10: Carsten Gansel/Elisabeth Herrmann (Hg.)

Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 2013. 304 Seiten, gebunden 49,99 € Preis D ISBN 978-3-89971-952-9

2013. 410 Seiten, gebunden 59,99 € Preis D ISBN 978-3-8471-0134-5

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