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German Pages 172 Year 1985
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 46
Determinanten politischer Entscheidung Von Johann Baptist Müller
Duncker & Humblot · Berlin
JOHANN BAPTIST MÜLLER
Determinanten politischer Entscheidung
Beiträge zur P o l i t i s c h e n Wissenschaft Band 46
Determinanten politischer Entscheidung
Von
Johann Baptist Müller
DUNCKER
&
HUMBLOT
/
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Müller, Johann Baptist: Determinanten politischer Entscheidung / von Johann Baptist Müller, — Berlin: Duncker und Humblot, 1985. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 46) I S B N 3-428-05780-5 NE: G T
Alle Rechte vorbehalten © 1985 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1985 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05780-5
Inhaltsverzeichnis I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
7 23
1. Das Verhältnis von Politik und Ökonomie als Gegenstand wisschaftlicher Forschung
23
2. Die ökonomische Bestimmung der Politik bei Piaton, Aristoteles und James Harrington
26
3. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Marxismus
32
4. Die Interdependenz ökonomischer und politischer Ordnung im Neoliberalismus
48
I I I . Die geopolitische Lage als Determinante politischer Entscheidung
55
1. Geopolitik, Politische Geographie und Politikwissenschaft
55
2. Deterministische und voluntaristische Geopolitik
56
3. Die Geopolitik im Spannungsfeld politischer Ordnungsvorstellungen
70
I V . Die politische Entscheidung als Funktion ethnischer Bestimmungsfaktoren
80
1. Politikwissenschaft und Ethnopolitik
80
2. Der eindimensionale Determinismus der rassischen Politikanalyse
81
3. Die Kritik an der rassischen Politikerklärung
89
V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses 1. Biopolitik und Politikwissenschaft
101 101
2. Die deterministische und eindimensionale Analyse der Biopolitik 105 3. Die Biopolitik im Spannungsfeld politischer Ordnungsvorstellungen 110
6
Inhaltsverzeichnis
V I . Die psychologische Analyse des politischen Prozesses
118
1. Politikwissenschaft und Politische Psychologie (Psychopolitik) . . 118 2. Clio auf der Couch: Die Psychohistorie
120
3. Adornos Faschismusanalyse
128
4. Die Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus
133
V I I . Die Religion als Bestimmungsfaktor des politischen Handelns
139
1. Geschichte und Religion
139
2. Die religiösen Grundlagen der modernen Demokratie
142
3. Luther und der deutsche Obrigkeitsstaat
147
4. Katholizismus und Nationalsozialismus
152
Bibliographie
156
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung Wer sich damit abgibt, die menschlichen Handlungen zu beurteilen, ist nirgends in größerer Verlegenheit, als wenn es gilt, sie unter einen Hut zu bringen. Sie widersprechen sich gemeinhin so sonderbar, daß es uns unmöglich dünkt, daß sie alle aus demselben Laden stammen sollen. „ , . Montaigne Ursache und Wirkung: Eine solche Zwei-heit gibt es wahrscheinlich nie — in Wahrheit steht ein Kontinuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschließen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es gibt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Sekunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen. Nietzsche
E i n B l i c k i n die h e u t e g e b r ä u c h l i c h e n L e h r b ü c h e r d e r P o l i t i k w i s s e n schaft l e h r t , daß d e r F r a g e nach d e n B e s t i m m u n g s g r ü n d e n p o l i t i s c h e n H a n d e l n s k a u m m e h r b z w . ü b e r h a u p t k e i n e B e a c h t u n g m e h r geschenkt w i r d . W e n n die e i n z e l n e n D e t e r m i n a n t e n d e r p o l i t i s c h e n E n t s c h e i d u n g e r w ä h n t w e r d e n , d a n n geschieht dies o f t i n e i n e r eher e k l e k t i z i s t i s c h e n Weise 1 . D e r einzige A u t o r , der u m f ä n g l i c h d e n B e s t i m m u n g s g r ü n d e n p o l i t i s c h e n H a n d e l n s n a c h s p ü r t , ist M a u r i c e D u v e r g e r . M i n u z i ö s u n t e r scheidet e r zwischen d e n „ f a c t e u r s b i o l o g i q u e s " 2 , d e n „ f a c t e u r s psychologiques"3, den „facteurs démographiques" 4, den „facteurs géographiques"5, den „facteurs socio-économiques"6 u n d den „facteurs culturels" 7. 1 Das gilt beispielsweise für die Abhandlung von Otto Heinrich von der Gablentz: Einführung in die politische Wissenschaft. Köln und Opladen 1965, S. 30 ff. und passim. Vgl. auch dazu Kurt Lenk: Politische Wissenschaft. Stuttgart 1975, S. 44. 2 Maurice Duverger: Introduction à la politique. Paris 1964, S. 31 ff. 3 Ebd., S. 53 ff. 4 Ebd., S. 71 ff. 5 Ebd., S. 85 ff. 6 Ebd., S. 101 ff. 7 Ebd., S. 127 ff. Ähnlich unterscheidet Georges Burdeau zwischen den soziologischen, den geographischen, den demographischen, den wirtschaftlichen
8
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
Wie vielfältig auch immer die Gründe für die weitgehende Vernachlässigung der Determinantenanalyse i n der heutigen Politikwissenschaft sein mögen, sicher ist, daß vor allem die Rezeption des Strukturfunktionalismus die Frage i n den Hintergrund gedrängt hat, wie denn die politischen Entscheidungen Zustandekommen. Er begnügt sich mit der funktionalen Erklärung, während er die kausale weitgehend außer acht läßt 8 . Es handelt sich dabei u m das „Programm zur Erforschung gegenseitiger Abhängigkeiten" 9 . Es demonstriert, wie ein Merkmal oder eine Institution A nicht ohne ein Merkmal oder eine Institution B operieren oder „funktionieren" kann. Die strukturfunktionalistische Erklärung geht aber nicht der Frage nach, „ w a r u m B überhaupt entstanden ist und noch fortbesteht 10 ." Wenn sich auch überdeutlich die Grenzen andeuten, die einer politikwissenschaftlichen Kausalanalyse gezogen sind, so wäre es geradezu illegitim, die Suche nach Kausalbeziehungen aufzugeben. Zu den legitimen Problemstellungen der Politikwissenschaft gehört ohne Zweifel die Frage nach dem Warum von Institutionen und Ideen. So fragt Jean Blondel: „ W h y do some regimes prevail i n certain parts of the world and not i n others, which experience different forms of government? There are at present liberal democracies and dictatorships, each w i t h their several sub-categories, such as, among the latter, various types of monarchial rule, single-party rule, military rule. Some countries are stable, others change, more or less frequently, the regime under which they live. What explanation can be given for these patterns 11 ?" Dabei ist das Studium der Entstehungsbedingungen illiberaler Regime durchaus nicht nur von akademischem Interesse. Wenn es der Zweck der Politikwissenschaft ist, sich auch u m menschenwürdige Politikverhältnisse zu kümmern, dann gehört es zu den vorrangigsten Aufgaben dieser Forschungsrichtung, die Ursachen moderner Diktaturen zu ergründen. Dabei muß die Forschungsperspektive notwendigerweise auch auf die Frage gerichtet sein, welche Bedingungen vorhanden sein müssen, u m eine funktionierende Demokratie zu gewährleisten. und den technischen Gegebenheiten (Einführung in die politische Wissenschaft. Aus dem Französischen. Neuwied und Berlin 1964, S. 286 ff.). Vgl. dazu auch Julien Freund: L'essence du politique. Paris 1965, S. 41. 8 Vgl. dazu Howard A. Scarrow: Comparative Political Analysis. A n Introduction. New York 1969, S. 66; Robert E. Dowse: A Functionalist's Logic. In: World Politics 19 (1955/56), S. 61. 9 Stanislav Andreski: Die Hexenmeister der Sozialwissenschaften. Aus dem Englischen. München 1977, S. 52. 10 Ebd. Eine scharfsinnige und temperamentvolle Kritik an der funktionalen Erklärung findet sich bei George C. Homans (Was ist Sozialwissenschaft? Aus dem Amerikanischen. Köln und Opladen 1969, S. 64 ff.). 11 Jean Blondel: Introduction to Comparative Government. A Reader. Ed. by Jean Blondel. Garden City New York 1969, S. X I .
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
Die Reflexion der Kausalvoraussetzungen liberaler und illiberaler Regime hat einherzugehen mit einem geschärften Bewußtsein für die Schwierigkeit der Kausalanalyse i n der Politikwissenschaft überhaupt. Komplementär zur Einsicht, daß Kausalanalyse betrieben werden muß, hat die Erkenntnis zu stehen, daß sie zu den intrikatesten Aufgaben überhaupt gehört. Jeder der sich auf dieses Terrain begibt, muß wissen, daß sich hinter seiner Forschungsabsicht ein gewaltiges Unsicherheitspotential verbirgt. Schon Edmund Burke hat darauf hingewiesen, daß unter dem ordnenden, gesetzessuchenden Blick des naturwissenschaftlich inspirierten Historikers und Politikwissenschaftlers die Wirklichkeit allzu schnell auf das Prokrustesbett einer realitätsverzerrenden Sichtweise gelegt wird. Gerade eine skeptische Politikanalyse mache deutlich, daß sich keineswegs die gesamte Wirklichkeit den strengen kategorialen Netzen des Forschers fügt. „The nature of man is intricate; the objects of society are of the greatest possible complexity; and therefore no simple disposition or direction of power can be suitable either to man's nature or to the quality of his affairs 12 ." Ohne daß der Respekt vor dem Versuch aufgegeben wird, auch i n der Kulturwissenschaft Kausalanalyse zu betreiben, spricht sich Burke unüberhörbar dafür aus, bei der Aufdeckung von historischen Ursachen größte Vorsicht walten zu lassen. „The real effects of moral causes are not always immediate; but that which in the first instance is prejudicial may be excellent i n its remoter operation; . . . Very plausible schemes w i t h very pleasing commencements have often shameful and lamentable conclusions 13 ." Ähnlich geht Max Weber i m Horizont der neukantianischen Erkenntnistheorie 14 von der komplexen Struktur der sozialen und politischen Realität aus. Er spricht von der „schlechthin unendlichen Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden Vorgängen ,in' uns und ,außer 4 uns" 1 5 . Aus diesem Grunde beruhe „alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist . . . auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil desselben Gegenstand wissenschaftlicher Erfahrung" 1 9 bilden könne. Dabei habe sich der Wissenschaftler gegen diejenige Tendenz zu wehren, die Weber als „monistischen Zug" 1 7 bezeich12
S. 59. 13
Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France. London 1967,
Ebd., S. 58. Heinrich Richert hat die historische Wirklichkeit als „heterogenes Kontinuum" bezeichnet (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Dritte und vierte Auflage. Tübingen 1921, S. 321, Fn. 1). 15 Max Weber: Die Objektivität der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis. In: Max Weber: Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Stuttgart 1956, S. 212. 19 Ebd. 17 Ebd., S. 208. 14
10
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
net. Seinem Verdikt verfällt dabei jeglicher Versuch, die komplexe Wirklichkeit einem Ursachenfaktor zuzuschreiben. Weber wendet sich dagegen, „das konstante M i t - und Aufeinanderwirken der einzelnen Elemente des Kulturlebens i n eine kausale oder funktionelle Abhängigkeit des einen von den anderen oder vielmehr aller übrigen von einem" 1 8 zu bringen. Auch zeitgenössische Historiker, Soziologen und Politologen weisen auf die Schwierigkeit hin, die dem kausalanalytisch forschenden Geist i m Bereich von Gesellschaft, Politik und Geschichte entstehen. I n Übereinstimmung mit Edmund Burke und Max Weber warnt Herbert Butterfield davor, die unüberschaubare historischpolitische Wirklichkeit aus einem Punkt heraus zu erklären, schnurstracks für einen bestimmten Erklärungsfaktor zu votieren. „ I n history things become so entangled w i t h one another, forces and factors intricately interwoven, that it is difficult to take even the first steps i n the delicate work of their unravelling. When I look at the complicated network of history, when I put the microscope at any point i n the story and observe the multiplicity of the interactions, I wonder how anybody can dare to say that he can put his finger on a given thread i n the tangle and claims i t as the ,essential' one 19 ." Auch für F. A. Hayek stellt sich das gesellschaftliche und politische Beziehungsgeflecht als ein Arrangement dar, dessen Komplexität es kaum zuläßt, eine zureichende Ursachenanalyse zu unternehmen. Für Hayek sind die „konkreten Umstände, von denen die individuellen Ereignisse abhängen, in der Regel so zahlreich . . d a ß w i r sie praktisch nie alle ermitteln können" 2 0 . Alfred Grosser zeigt am Beispiel des Nationalsozialismus, wie schwierig es ist, die Ursachen für dessen Siegeszug und Machtantritt ausfindig zu machen. „Den Triumph des Nationalsozialismus i n Deutschland ,erklären', heißt eine Vielzahl von Elementen analysieren, angefangen von der deutschen politischen 18
Ebd., S. 210. Herbert Butterfield: History and Human Relations. London 1951, S. 81. 20 F. A. von Hayek: Die Theorie komplexer Phänomene. Aus dem Englischen. Tübingen 1972, S. 25. Hans-Hermann Hoppe behauptet, daß viele nationalökonomische Hypothesen den Kriterien der modernen Wissenschaftstheorie kaum standhalten. „In jedem Fall läßt sich . . . mit Sicherheit sagen, daß Hypothesen, die, als empirisch-kausalwissenschaftliche Hypothesen mißverstanden, heute noch regelmäßig als ehrenwerte, empirisch überprüfte oder zu überprüfende Behauptungen vorgetragen werden (können), dann reihenweise endgültig zu Grabe getragen werden müssen, wenn man die tatsächlich zuständigen Spielregeln aprioristischer Wissenschaften auf sie anwendet: Cost-push-Inflationstheorien, das (gewerkschaftliche) Kaufkraftargument, Keynessche Widerlegungen des Sayschen Gesetzes, Mindestlohntheorien, die Theorie des Ricardo-Effektes, nicht-monetaristische Konjunkturtheorien — dies sind nur einige Stichworte für Theoreme, die logisch das nicht leisten, was sich die entsprechenden Proponenten regelmäßig selbst von ihnen versprechen" (Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung. Opladen 1983, S. 84). 19
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
K u l t u r bis zu Papens Umschwung, über die Inflation von 1923 und die Krise von 1929, die Soziologie der Richter, die Struktur der wirtschaftlichen Macht, das Wahlgesetz, Hitlers Persönlichkeit und so fort 2 1 ." Aus der Einsicht i n die Komplexität des politischen und sozialen Wirkprozesses folgt notwendigerweise, daß das überkommene lineare Ursache-Wirkungsmodell zugunsten eines komplizierteren aufgegeben werden muß. Die allein auf die simple Kausalitätsbeziehung eingeengte Forschungsperspektive verhindert offenbar, daß die Interdependenz von Ursachen und Wirkungen erkannt wird. Der Psychologe Paul Watzlawick spricht i n diesem Zusammenhang zu Recht von einer kreisförmigen Kausalität. „Es besteht . . . guter Grund zur Annahme, daß die Kausalität von Beziehungen zwischen Organismen (vom Menschen bis hinunter zum Einzeller) kreisförmig ist und daß genauso, wie jede Ursache eine Wirkung bedingt, jede Wirkung ihrerseits zu einer Ursache w i r d und damit auf ihre eigene Ursache zurückwirkt 2 2 ." W i l l man die kausale Grundstruktur eines derartigen kreisförmigen Systems erschließen, gilt es, von überkommenen Begriffen und Vorstellungen Abschied zu nehmen. „Während es bei linearen, progressiven Kausalketten durchaus sinnvoll ist, von Anfang und Ende einer Kette zu sprechen, sind diese Begriffe i n Systemen mit Rückkoppelung bedeutungslos. E i n Kreis hat weder Anfang noch Ende. Das Denken i n Begriffen solcher Systeme zwingt dazu, die Auffassung abzulegen, daß z. B. Ereignis a vor Ereignis b stattfindet und daher dessen Eintreten bedingt, denn mit derselben fehlerhaften Logik könnte man annehmen, daß Ereignis b vor Ereignis a kommt — je nachdem, wo man willkürlich die Kontinuität des Kreises bricht und diesen Punkt ,Anfang' oder ,Ursache' nennt 2 3 ." Gunnar Myrdal hat den i n Rede stehenden Tatbestand zum Anlaß genommen, von einer zirkulären Verursachung zu sprechen. Die Quintessenz eines bestimmten sozialen Problems besteht Myrdal zufolge „aus einem Komplex von interdependenten, zirkulären und kumulativen Veränderungen" 24 . Die Variablen jedes sozialen Systems „sind i n zirkulärer Verursachung so miteinander verbunden, daß eine 21 Alfred Grosser: Politik erklären. Aus dem Französischen. Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1974, S. 86. 22 Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? 3. Auflage. München und Zürich 1976, S. 74. Vgl. dazu auch Franz M. Wuketis: Wissenschaftstheoretische Probleme der modernen Biologie. Berlin 1978, S. 202 und passim. 23 Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/ Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Vierte Auflage. Aus dem Amerikanischen. Bern, Stuttgart und Wien 1974, S. 47 f. Als Beispiel führten die Autoren die Streitfrage an, ob „die Kommunikationsformen einer bestimmten Familie pathologisch sind, weil ein Familienmitglied psychotisch ist, oder ob dieses Individuum psychotisch ist, weil die Kommunikationen pathologisch sind" (ebd., S. 48). 24 Gunnar Myrdal: ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen. Aus dem Englischen. Frankfurt/Main 1974, S. 28.
12
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
Veränderung der einen Variablen bei anderen i n der Weise sekundär Veränderungen hervorruft, daß diese wiederum die erste Veränderung verstärken, und dieser Prozeß setzt sich i n tertiären Effekten auf die zuerst bewegte Variable fort usw. usw." 2 5 . Wie sehr die Veränderung eines Faktors eine Veränderung eines anderen Faktors mit sich bringt und damit einen kumulativen Prozeß „der gegenseitigen Beeinflussungen und Veränderungen" 26 auslöst, wie sehr daraus ein circulus vitiosus von Ursachen und Wirkungen entsteht, hat Gunnar M y r d a l am Beispiel der amerikanischen Schwarzen verdeutlicht. Er geht von einem Modell aus, das er auf zwei Verursachungsfaktoren reduziert. Der erste Faktor sind die „weißen Vorurteile", die zu einer Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung führen. Der andere Erklärungsfaktor ist der „niedrige Lebensstandard" der schwarzen Bevölkerung 27 . Myrdal zufolge sind beide Faktoren interdependent. „Der niedrige Lebensstandard des Negers w i r d durch die Diskriminierung, die i h m von Seiten der Weißen widerfährt, niedrig gehalten, während auf der anderen Seite Armut, Unwissenheit, Aberglaube, Slum-Wohnungen, schlechter Gesundheitszustand, schmutziges Äußere, schlechter Geruch, schlechtes Benehmen, ungeordnete Familienverhältnisse und Kriminalität des Negers die Antipathie des Weißen gegenüber dem Neger verstärken 28 ." A u f diese Weise verursachen sich also „weiße Vorurteile und niedriges Niveau der Neger . . . gegenseitig" 29 . Nach Myrdal schließt die zirkuläre Verursachung jegliche monokausale Sozial- und Politikanalyse aus. Es sei sinnlos, „nach einem dominierenden ,Grundfaktor 4 zu suchen wie z. B. dem ,wirtschaftlichen Faktor'" 3 0 . Da i m System der zirkulären Verursachung jeder Faktor für jeden anderen i n einer zirkulären Weise die Ursache ist, sei es kaum einsehbar, „wieso dieser Faktor der ,Grundfaktor' sein soll" 3 1 . Die i n Rede stehende Komplexität des politisch25
Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 30. 30 Ebd., S. 32. 31 Ebd. Ähnlich warnt David Hackett Fischer vor demjenigen Schlußverfahren, das er als „reductive fallacy" bezeichnet (Historian's Fallacies. Toward a Logic of Historical Thought. London 1971, S. 172 ff.). Bei dieser Art von historischem Trugschluß werde versucht, die politischen und historischen Grundstrukturen und Entwicklungsphasen auf eine Ursache zurückzuführen, die komplexe Wirklichkeit so auszuleuchten, daß hinter dem kaum übersehbaren Ursachen-Wirkungs-Gespinst die Kardinalursache sichtbar wird. „The reductive fallacy reduces complexity to simplicity, or diversity to uniformity, in causal explanations" (ebd., S. 172). Als Beispiel für ein derartig illegitimes Schlußverfahren führt Fischer den türkisch-griechischen Krieg von 1920 an. „In 1920, King Alexander of Greece died of blood poisoning, having been bitten by a pet monkey. This event was followed by a plebiscite, and a new king, and a bloody war with the Türks" (ebd., S. 174). Selbst Winston 26
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
historischen Erkenntnisgegenstandes verbietet eindeutig die eindimensionale Analyse, die Reduktion des heterogenen Kontinuums auf einen Wirkfaktor. So sehr allenthalben gegen das eindimensionale Analyseverfahren zu Felde gezogen wird, so wenig ist es doch aus der wissenschaftlichen Literatur verschwunden. Hans Kammler schreibt zu Recht: „,Multikausale Betrachtungsweise' w i r d . . . öfter empfohlen als praktiziert, und ,Ein-Faktor-Theorien' haben zwar inzwischen einen schlechten Ruf, sind aber bei weitem noch nicht ausgestorben 82 ." Z u den Schwierigkeiten, die sich der historischen Kausalanalyse entgegenstellen, zählt nicht nur die überaus komplexe Struktur ihres Erkenntnisgegenstandes, sondern auch die Unmöglichkeit, das Verhalten der Menschen auf ein radikal deterministisches Modell zu bringen. Was das menschliche Handeln über das Niveau des instinktgebundenen tierischen hinaushebt, ist die unumstößliche Tatsache, daß der Mensch eine bestimmte Handlung begehen kann, keineswegs aber muß. Hans Lenk zufolge stellt sich das Handlungsgefüge von Politik und Gesellschaft als ein Arrangement dar, i n dem deterministische und voluntaristische Momente miteinander korrespondieren. Aus diesem Grunde gehorcht es einer Dynamik, über die sich deterministisch allein nicht verfügen läßt. Daß i n der sozialen und politischen Entscheidung des Menschen ein voluntaristisches Moment zu respektieren ist, w i r d i m Vergleich mit dem Reflexverhalten deutlich. „ I m Gegensatz zum Reflexverhalten, das i n seinem Ablauf allein durch biologisch-physiologisch-neurologische Gesetze determiniert ist, kann das menschliche Handeln nicht als ausschließlich von solchen Gesetzen beherrschtes Verhalten (law-governed behaviour) verstanden werden 3 3 ." Während jeder gesunde Mensch den Gesetzen der Neurophysiologie ausgeliefert sei, stehe dem sozial und politisch handelnden Individuum ein Spielraum zur Verfügung, der beispielsweise bei der Patellarsehnenreaktion gänzChurchill habe diesen Krieg auf den eben erwähnten Affenbiß zurückgeführt. „A quarter of a million persons died of that monkey's bite" (Winston Churchill: The World Crisis: The Aftermath. London 1929, S. 386). Fischer warnt allerdings auch davor, jeden kausal-analytischen Erklärungsversuch ins Reich der Trugschlüsse zu verweisen. „As long as historians teil selected truths, their causal models must be reductive in some degree. But some causal models are more reductive than others" (Historian's Fallacies. S. 172). 82 Hans Kammler : Logik der Politikwissenschaft. Wiesbaden 1976, S. 131. Schon Alltagsereignisse seien auf mehrere Faktoren zurückzuführen. „Daß ein Ziegel vom Dach fällt, ein Auto am Straßenrand stehenbleibt, ein Mann sich entschließt ins Kino zu gehen oder andere mehr oder weniger alltägliche Ereignisse — sie sind regelmäßig nicht auf ein, sondern mehrere frühere Ereignisse zurückzuführen" (ebd.). 38 Hans Lenk: Interpretatorische Handlungskonstrukte. Zur Anwendung einer interpretationstheoretischen Handlungsphilosophie in der Sozialwissenschaft. In: Hans Albert und Kurt H. Stapf (Hrsg.): Theorie und Erfahrung. Beiträge zur Grundlagenproblematik der Sozialwissenschaften. Stuttgart 1979, S. 230.
14
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
lieh ausgeschlossen ist. A l l e i n methodisch-wissenschaftliche Ignoranz rubriziere das gesamte Verhalten des Menschen unter bestimmte invariable Gesetze. „Ich kann eine begonnene Handlung plötzlich abbrechen, von der Regel des Handlungsablaufs abweichen, Handlungs,Gesetze* und -Vorschriften brechen, eine Situation anders auffassen, aus einem Handlungszusammenhang (etwa einem geregelten Spiel) aussteigen' usw. 34 ." Lenk macht darauf aufmerksam, daß zum Handeln notwendigerweise gehört, „daß der Handelnde in gleichen Umständen anders hätte handeln können" 3 5 . Aus diesem Grunde könne „die Orientierung des Handelns an Regeln nicht strikte Gesetzesdetermination bedeuten" 88 . I m Gegensatz zu den Gesetzen der Naturwissenschaften könne der Mensch die Regeln des sozialen und politischen Verkehrs grundsätzlich brechen. Aus diesem Grunde entraten sie der streng deterministischen Qualität, die naturwissenschaftliche Gesetze auszeichnen. „Regeln, von denen man absichtlich abweichen kann, die man brechen kann, sind Vorschriften für Standardverhaltensweisen, sind Normen, keine Verhaltensgesetze i m naturwissenschaftlichen Sinne des Ausdrucks »Gesetz' 37 ." Die überragende Bedeutung des menschlichen Willens i n der Politik zeigt sich Julien Freund zufolge, wenn man den Ursachen der Kriege nachspürt. „Les causes que l'analyse découvre ne sont . . . pas capables de rendre compte du phénomène de l'hostilité dans sa totalité n i dans son essence. Elles peuvent nous aider à mieux comprendre des situations historiques, mais le déclenchement de la guerre dépend invariablement de la volonté des gouvernements 38 ." Nicht die naturwissenschaftlichen Zwänge kommen beim Ausbruch eines Krieges zum Zuge, er basiere letzten Endes auf dem Willen des Kriegsauslösers. „ L a vérité est que la politique est toujours et avant tout un problème de volonté 39 ." I n ähnlicher Weise lehnt es Weldon ab, dem politischen Handeln rein deterministische Zwänge zu imputieren. So führt er zu Recht an, daß die Stimmabgabe des Bürgers keineswegs determiniert ist. „Niemand ist gezwungen, sozialistisch oder konservativ zu wählen, damit Dr. Gallups Voraussagen sich bewahrheiten, aber es kann sich dennoch herausstellen, daß sie wirklich stimmen 4 0 ."
34
Ebd., S. 230. Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Julien Freund: L'essence du politique. S. 602. 39 Ebd. 40 T.D.Weiden: Kritik der politischen Sprache. Aus dem Englischen. Neuwied 1962, S. 87. 35
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
Skepsis gegenüber dem Versuch, Gesetze i m Politik- und Gesellschaftsleben aufzuspüren, ist vor allem gegenüber all den Autoren angebracht, die die Geschichte auf Verlaufsgesetze reduzieren. A n diesem Punkte gilt immer noch, was Alexis de Tocqueville vor 150 Jahren geschrieben hat. „Ich für mein Teil verurteile diese absoluten Systeme, die den gesamten Gang der Geschichte von großen, schicksalhaft m i t einander verketteten Grundursachen abhängig machen und die Menschen mehr oder weniger aus der Geschichte des Menschengeschlechts streichen. Ich finde sie eng i n ihrer angeblichen Größe und falsch unter ihrem Anschein mathematischer Wahrheit 4 1 ." Nach Marrou entbehren alle von der Geschichtswissenschaft aufgestellten Gesetze jener Wirklichkeitsadäquanz, die aufzuweisen sie besonders hartnäckig und glaubensstark vorgeben. „Die Beobachtungen vom vorgeblich allgemeinem Charakter, die man als ,Gesetze der Geschichte* hinzustellen sucht, sind nur partielle Ähnlichkeiten, bezogen auf den augenblicklichen Gesichtspunkt, unter dem der Blick des Historikers diese oder jene Aspekte der Vergangenheit ausgewählt hat 4 2 ." Bei den Gesetzen von Spengler und Toynbee haben „ w i r es nicht mit Gesetzen von wissenschaftlichem Charakter zu tun, d. h. mit Bestimmungen von allgemeinem Charakter, die von der Beobachtung wohldefinierter Phänomene abgeleitet wären — sondern allein mit zweifellos legitimen Vergleichen; sie unterstreichen partielle Ähnlichkeiten, die durch den besonderen Standort evident gemacht worden sind, den der Autor mit i h m einzunehmen uns einlädt" 4 3 . Christian Watrin weist am Beispiel der ökonomischen Entwicklungsgesetze nach, wie wenig wissenschaftliche Substanz derartige Kon41
Alexis de Tocqueville: Erinnerungen. Aus dem Französischen. Stuttgart 1954, S. 108. Schon Chateaubriand hatte sich zum Anwalt derjenigen gemacht, deren Freiheit unter dem angeblichen Zwang historischer Gesetze in Gefahr geriet. „II faut que l'historien dans ce système raconte les plus grandes atrocités sans indignation et parle des plus hautes vertus sans amour; que d'un oeil glacé il regarde la société comme soumise à certaines lois irrésistibles, de manière que chaque chose arrive comme elle devoit inévitablement arriver. L'innocent ou l'homme de génie doit mourir, non pas parce qu'il est innocent ou homme de génie, mais parce que sa mort est nécessaire et que sa vie mettroit obstacle à un fait général placé dans la série des événements." (François René Chateaubriand: Etudes ou discours historiques. Préface. In: Oeuvres complètes. Tome I V . Paris 1831, S. X C I I . ) Auf den Zusammenhang zwischen dem historischen Determinismus und der politischen Unduldsamkeit hat nicht zuletzt Alain aufmerksam gemacht. Der Determinismus ist für ihn eine „idée funeste d'un avenir inévitable" (Mars ou la guerre jugée. Sixième édition. Paris 1921, S. 111). Der Determinismus läßt sich gegen die freiheitliche Politikordnung mißbrauchen. „Car il ne s'agit pas ici d'un jeu d'idées abstraites, mais d'une funeste règle de pratique qui met le bon sens en interdit" (ebd., S. 112). 42 Henri-Irénée Marrou: Über die historische Erkenntnis. Aus dem Französischen. Freiburg und München 1973, S. 236. 43 Ebd., S. 238.
16
I. Politikwissenschaft und Ursachenforschung
strukte aufweisen. Die Zweifel an der Ergiebigkeit dieser Geschichtskonstruktionen würden dann unabweisbar, wenn ihre fortschrittsorientierte Grundtendenz i n den Blick genommen werde. „Der Endpunkt, auf den die ökonomische Entwicklung angelegt ist — bei List die Universalökonomie, bei Hildebrand die neue Sittlichkeit des Kreditsystems, bei Marx und Engels die klassenlose Gesellschaft — spielt . . . nicht nur eine Rolle i m Hinblick auf die Lokalisierung der Gegenwart, sondern w i r d gleichzeitig mit einer positiven Wertung versehen; in den genannten drei Fällen handelt es sich um einen erstrebenswerten Zustand, der alle Züge einer echten sozialen Utopie trägt 4 4 ." Alle übrigen Wirtschaftsstufen werden als „ethisch inferiore Zustände" 45 bewertet. Der utopische Charakter dieser Entwicklungstheorien enthülle auch ihren mangelnden prognostischen Gehalt. „Die Vorhersagen i m H i n blick auf die künftige Entwicklung haben sich nicht bewahrheitet. So hat der historische Prozeß bisher weder zur Listschen Universalökonomie aller Nationen geführt, noch ist der Verfall des sog. Kapitalismus gemäß den Andeutungen von M a r x und Engels . . . eingetreten, noch ist die ideale Kreditwirtschaft i m Hildebrandschen Sinne entstanden 46 ." Die Skepsis gegenüber jeglicher Form von historischen Ablaufgesetzen hat Herbert Butterfield bewogen, die sog. „progressive Geschichtsschreibung" liberaler Provenienz kritisch unter die Lupe zu nehmen. Durch die Konzentration auf den Gedanken des Fortschritts bleibe bei der „Whig Interpretation of History" 4 7 unberücksichtigt, daß das Gestern durchaus nicht nur illiberale Bestimmungsmerkmale aufweist und das Heute auch Schattenseiten besitzt. Der Repräsentant der fortschrittlichen Historiographie schiebe seine Geschichtsdeutung wie eine Folie 44
Christian Watrin: ökonomische Entwicklungsgesetze. In: Beiträge zur Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Festgabe für Müller-Armack zum 65. Geburtstag. Hrsg. von F. W. Meyer und Hans Willgerodt. Köln 1966, S. 72. 45 Ebd., S. 73. 46 Ebd., S. 75. Während Watrin die ökonomischen Entwicklungsgesetze ablehnt, akzeptiert er die sog. „empirischen Gesetze". Sie lassen sich als „allgemeine Hypothesen über sozialökonomische Phänomene" (ebd., S. 77) auffassen. Zu ihnen zählt etwa die Quantitätstheorie. Diese besagt: „Immer wenn eine Geldvermehrung in einer Volkswirtschaft stattfindet, dann steigen die Güterpreise in ungefähr gleichem Maße" (ebd.). Dabei unterscheiden sich die empirischen Gesetze in ihrer logischen Struktur grundlegend von den Entwicklungsgesetzen. Jene „knüpfen das Eintreten bestimmter Folgen oder Wirkungen an die Realisierung bestimmter Voraussetzungen oder Bedingungen an" (ebd., S. 77 f.). Die Gesetzmäßigkeit „wird nur für den Fall behauptet, daß an einer bestimmten Raum-Zeitstelle die . . . angegebenen Bedingungen realisiert sind" (ebd., S. 78). Ganz anders bei den Entwicklungsgesetzen: „Hier wird die Entwicklung nicht auf die Verwirklichung bestimmter Bedingungen zurückgeführt, sondern als unabhängig von irgendwelchen Voraussetzungen angesehen, oder anders ausgedrückt, es wird behauptet, daß gleichgültig welche Ereignisse eintreten, Ereignisfolgen im Objektbereich Wirtschaft einen bestimmten charakteristischen Verlauf zeigen bzw. einem Endziel zustreben" (ebd., S. 78). 47 Herbert Butterfield: The Whig Interpretation of History. London 1959.
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unter die Aktionsmuster des historischen Geschehens und komme damit zu einer Ablehnung des Gestrigen und der Verherrlichung der Gegenwart. „The total result of this method is to impose a certain form upon the whole historical story, and to produce a scheme of general history which is bound to converge beautifully upon the present — all demonstrating troughout the ages the workings of an obvious principle of progress 48 ." K r a f t seiner produktiven u n d vorurteilsbehafteten Phantasie erscheint dem „Whig-Historian" der geschichtliche Prozeß als eine Kausalkette, deren einzelne Ereignisse unweigerlich dem liberalen Höhepunkt zutreiben. „Working upon the same system the w h i g historian can draw lines through certain events . . . and if he is not careful he begins to forget that this line is merely a mental trick of his; he comes to imagine that i t represents something like a line of causation 49 ." Die Geschichtsschreibung w i r d bei ihren progressiven Vertretern zum Vehikel, auf dem der Protest gegen das Überholte, geschichtlich Illegitimierte transportiert wird. Von der Basis dieser Fortschrittsgläubigkeit aus werde allerdings übersehen, daß der Protestantismus auch konservative Bestimmungsmomente aufwies. „Our most secular historians . . . are inclined to write sometimes as though Protestantism i n itself was somehow constituted to assist that process. I t is easy to forget how much Luther was i n rebellion against the secularisation of Church and society 50 ." I m Lichte des auf diese einseitige Weise gewonnenen Erkenntnishorizontes erscheint alles Protestantische als fortschrittlich und das Katholische als progressivitätsfeindlich. „The Protestants and whigs have been the perennial sillies while Catholics and tories have perpetually formed obstruction 51 ." Nach Butterfield darf die Vergangenheit nicht i m Horizonte der angeblich besseren und fortgeschritteneren Gegenwart interpretiert werden. Z u 48
Ebd., S. 12. Ebd. Diese Kausalanalyse ist angesichts der Komplexität der historischpolitischen Wirklichkeit jedoch kaum möglich. „The historian is faced with more unravelling than a mind can do, and finds the network of interactions so intricate, that it is impossible to point to any thing in the sixteenth century as the cause of one thing in the twentieth" (ebd., S. 19 f.). Die Komplexität der Welt macht jede historische Prognose zu einem wissenschaftlichen Abenteuer. „Perhaps the greatest of all the lessons of history is this demonstration of the complexity of human change and the unpredictable character of the ultimate consequences of any given act or decision of men" (ebd., S. 21). 60 Ebd., S. 37. Ebenso einseitig wird der Beitrag des Calvinismus zur Moderne gewertet. Dabei habe dieser durchaus auch illiberale Züge aufzuweisen. „The whig historian is fond of showing how much Calvinism has contributed to the development of modern Liberty. I t is easy to forget that in Geneva and in New England, where Calvinism founded its New Jerusalem, and so to speak had the field to itself, the result was by no means entirely corroborative of all that is assumed in the whig thesis" (ebd., S. 40). Butterfield zufolge sollte man dankbar dafür sein, daß die Puritaner so lange in der Minderheit blieben (ebd., S. 41). 61 Ebd., S. 12. 49
2 J. B. Müller
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den unabdingbaren Voraussetzungen einer vorurteilsfreien Interpretation der Geschichte gehöre die Einsicht, „daß vergangene Generationen i m Vergleich zu späteren keineswegs als minderwertig abgetan werden können, daß sie nicht nur bloße Sprossen einer Leiter sind, die bis an die heutige Zeit heranführt, nicht nur Vorstufe oder Experiment für die eigentliche Leistung, die noch kommen soll" 5 2 . I n Übereinstimmung mit Leopold von Ranke fordert Butterfield, „daß w i r jede Generation sozusagen als Selbstzweck betrachten, als eine Menschenwelt, die ihre eigene Daseinsberechtigung hat" 5 3 . Folgerichtig weist Butterfield die Behauptung zurück, die Menschheitsgeschichte sei i n stetem Fortschritt begriffen, sie entwickele sich laufend zum Besseren. „Der Fortschritt, soweit er i n der Geschichte der Menschheit festzustellen ist, bietet kein Prinzip, auf dem eine endgültige Bewertung der Geschichte fußen könnte 5 4 ." Damit w i r d auch der Evolutionismus abgelehnt 55 . I n wie starkem Maße der gesellschaftliche Evolutionismus m i t seinen gesetzeszentrierten Verlaufsmodellen das Denken der Sozialwissenschaftler bestimmte, wurde immer wieder unter Beweis gestellt. So schreibt David C. McClelland: „ E i n Jahrhundert lang standen w i r unter dem Einfluß des Sozialdarwinismus, indem w i r ausdrücklich und implicite annahmen, der Mensch sei das Produkt seiner Umgebung, seiner natürlichen wie seiner sozialen. So dachte Marx, als er den ökonomischen Determinismus und die Auffassung vertrat, das Wesen eines Menschen werde letztlich durch die Bedingungen, unter denen er arbeiten muß, bestimmt. Sogar Freud offenbarte solches Denken mit seiner Lehre, nach der die Zivilisation eine Reaktion primitiver menschlicher Impulse auf den hemmenden Druck sozialer Institutionen . . . ist 5 6 ." Ähnlich heißt es bei Norman Jacobson: „Should simple forces prove inadequate, developmental factors were ready to hand; when simple logic failed to point the way, victory could still be snatched by dialectics. Marx and the Marxians might offer one type of explanation, the classical economists, the orthodox school of German sociologists, or the Darwinians s t i l l others. But whether the device was the classstruggle or individual interest, whether social w i l l or instinctual competetiveness, the goal was identical-explanation 57 ." 62
Herbert Butterfield: Christentum und Geschichte. Aus dem Englischen. Stuttgart 1952, S. 78. 63 Ebd. 54 Ebd., S. 77 f. 5f l Ebd., S. 78. 66 David C. McClelland: Die Leistungsgesellschaft. Aus dem Englischen. Stuttgart 1966, S. 336. 57 Norman Jacobson: Causality and Time in Political Process: A Speculation. In: The American Political Science Review 65 (1971), S. 15. Vgl. dazu auch August Nitschke: Zum Wandel in der Geschichte. In: A. Nitschke (Hrsg.):
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I n diesem Zusammenhang darf auch der Hinweis auf den Zufallscharakter der Geschichte nicht fehlen 58 . So hat schon Tocqueville darauf aufmerksam gemacht, daß „viele bedeutende historische Tatsachen nur durch zufällige Umstände erklärt werden" können und daß „viele andere unerklärlich bleiben und daß der Zufall oder besser die verwickelte Folge untergeordneter Tatsachen, die w i r Zufall nennen, w e i l w i r sie nicht entwirren können, bei allem, was w i r auf dem Theater der Welt erblicken, eine große Rolle spielt" 5 9 . Ein augenfälliges Beispiel für die entscheidende Bedeutung des Zufalls i n der Geschichte bietet die regionale Herkunft Napoleons. Georges Burdeau schreibt zu Recht: „Wäre Korsika nicht von Genua an Frankreich abgetreten worden, hätte Napoleon wahrscheinlich nicht die Gelegenheit gehabt, der französischen Gesellschaft seine Prägung aufzudrücken. Zwar hat Engels uns versichert, daß dann ein anderer seine Stelle eingenommen hätte. Das heißt ein wenig leichtmütig zugeben, daß die Geschichte Männer wie Napoleon auf Lager habe 60 ." Hans Kammler macht darauf aufmerksam, daß es der Wissenschaftscharakter moderner Gesellschaften verbiete, ihren künftigen Verlauf exakt vorauszusagen. „Dem Argument liegen die Annahmen zugrunde, daß 1. der Geschichtsverlauf vom wissenschaftlichen Fortschritt stark beeinflußt wird, 2. es unmöglich ist, vorweg auszumachen, welche Ergebnisse der künftige wissenschaftliche Fortschritt erbringen w i r d 6 1 . " Da der Informationsstand der Systeme sich laufend verbessert, ihre Lernkapazität und -möglichkeit also dauernd zunimmt, ist die „Wiederholung gleicher Zustandszyklen und damit die exakte langfristige Vorhersage ohne konditionale Einschränkung" 62 ausgeschlossen. Kammler weist darauf hin, daß „die Entdeckung der Kernspaltung und der Bau von Kernwaffen den Ablauf des internationalen Systems seit 1945 i n unvorhersehbarer Weise verändert hat" 6 3 . I n gleicher Weise könnten „künftige Entdeckungen z. B. auf dem Gebiete der Biologie" 6 4 alle Zukunftsprognosen falsifizieren. Spürt man die vielfältigen Beziehungen innerhalb des geschichtlichpolitischen Entscheidungsprozesses auf, so ist doch auch unschwer zu erkennen, daß eine wirklichkeitsnahe Politikanalyse von der limitierten Kontingenz ihres Erkenntnisgegenstandes auszugehen hat. Verhaltenswandel in der Industriellen Revolution. Beiträge zur Sozialgeschichte. Stuttgart 1975, S. 140 und passim. 68 Wenn die Nase der Kleopatra länger gewesen wäre, hätte nach Pascal die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen. 59 Alexis de Tocqueville : Erinnerungen. S. 108. 60 Georges Burdeau : Einführung in die politische Wissenschaft. S. 144. 61 Hans Kammler: Logik der Politikwissenschaft. S. 167. M Ebd., S. 168. w Ebd., S. 168 f. 84 Ebd., S. 169. 2*
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Hans Morgenthau schreibt: „ A historical situation always contains only a limited number of potentialities into which i t might develop 65 ." E i n augenfälliges Beispiel hierfür sei Deutschland i m Jahre 1932. Weit davon entfernt, seine politische Zukunftsordnung radikal frei gestalten zu können, blieben Deutschland drei Wahlmöglichkeiten. „The German situation i n 1932, for instance, contained essentially three . . . germinal developments: parliamentary democracy, military dictatorship, and nazism 66 ." Die Entscheidung darüber, welches Regime die Deutschen nun wählen würden, hing durchaus von kontingenten Faktoren ab. „Which one of these three possibilities would finally materialize dependend upon the contingent elements of the situation and therefore could not be foreseen 67 ." Der Geschichts- und Politikprozeß ist nur vordergründig bar aller Strukturen und Entwicklungsrichtungen, i n Wahrheit lassen sich bei einer unvoreingenommenen Analyse durchaus Zusammenhänge und Tendenzen ausmachen. Gleich weit entfernt von Gesetzesdogmatik und radikal nominalistischem Analysebegeriff geht Henri-Irenee Marrou davon aus, daß es „intelligible Beziehungen zwischen den aufeinanderfolgenden Augenblicken der Zeit gibt" 6 8 . Für i h n ist der „Ablauf der Augenblicke keine bloß diskontinuierliche Linie von Atomen der W i r k lichkeit, isoliert wie die Perlen eines Rosenkranzes, die der unerforschliche Wille Gottes i n willkürlicher Ordnung durch die Finger gleiten läßt" 6 9 . Ganz i m Gegensatz zur radikal nominalistischen Ansicht, die den Geschichtsprozeß als ein „wirres Gewimmel" 7 0 interpretiere, beharrt Marrou darauf, bei der Analyse des historisch-politischen Entscheidungsgespinstes „ m i t Sicherheit Erscheinungen von Koordination, Strukturen" 7 1 entdecken zu können. Dabei kommt dem Historiker und dem Politologen die Aufgabe zu, historisch-politische Zusammenhänge zu beweisen und nicht zu postulieren. Auch T. D. Weiden konzediert, daß i m politischen und gesellschaftlichen Prozeß beobachtbare d.h. „statistische Häufigkeiten" 7 2 ausgemacht werden können. Versicherungsgesellschaften und Werbefirmen vertrauen darauf, daß die Menschen i m Durchschnitt ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Die Er65 Hans J. Morgenthau: The Purpose of Political Science. In: A Design for Political Science: Scope, Objectives and Methods. Ed. by James C. Charlesworth. Philadelphia 1966, S. 64. 66 Ebd. Deutschland konnte sich 1945 kaum für ein „Primitives politisches System" entscheiden; auch die Rückkehr zum hochpreußischen Ideal der Patrimonialherrschaft war ausgeschlossen. 67 Ebd. 68 Henri-Irinee Marrou: Über die historische Erkenntnis. S. 209. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 199. 71 Ebd., S. 200. 72 T. D. Weiden: Kritik der politischen Sprache. S. 86.
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fahrung zeige, „daß die Menschen i m allgemeinen die Wahrheit sagen, tun was sie versprochen haben und was sie als i n ihrem Interesse liegend erachten" 73 . Die moderne Politikwissenschaft kann kaum das Produkt eines Denkens sein, das jegliche Wissenschaft als Aberglauben 74 zurückweist. So sehr Erich Voegelin mit seiner Warnung vor einem unreflektierten und iiiimitierten „Szientifismus" 75 zuzustimmen ist, so sehr ist doch auch davor zu warnen, illegitime Rekurse auf die Wissenschaft der wissenschaftlichen Tradition des Abendlandes i n die Schuhe zu schieben. So sind dogmatisch konzipierte Entwicklungsgesetze nicht das Produkt einer aus skeptischem Geiste geborenen Forschungseinstellung, sondern rühren gerade von jener „Wissenschaftstollheit" 78 her, die dem Geiste des echten Szientismus diametral gegenübersteht. Die skepsisbestimmte Analysekonzeption verdankt sich dezidiert der Anstrengung, alle jene Interpretationsversuche zurückzuweisen, die i m illegitimen Rückgriff auf einen falsch verstandenen Wissenschaftsbegriff w i r k lichkeitsfremde Gesetze konstruieren. Die Intention dieses Buches erschöpft sich allerdings nicht i m minuziösen Nachweis von Fehlurteilen und Falschprognosen. Von der Basis dieser Anstrengung aus soll der Blick für die ordnungspolitischen Momente der Politikwissenschaft geweitet werden. Gerade die Verwurzelung des politologischen Denkens i n Ordnungsfragen 77 gilt es i m Auge zu behalten, w i l l man einen zureichenden Begriff von den Aufgaben der modernen Politikwissenschaft herausarbeiten. I m Nachweis der „Unwissenschaftlichkeit" des dogmatisch-eindimensionalen Denkens bekundet sich zugleich auch die Einsicht, daß dem wissenschaftlichen auch der politische Dogmatismus entspricht. Das „pars pro toto"-Denken zeitigt i n der politischen Praxis Folgen, die eindeutig freiheitswidrig sind. Ohne die Verankerung i n der „Ordnungspolitik" droht die rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des Gemeinwesens i n ein Fahrwasser zu gleiten, in dem auf höchst artifizielle Weise die existentiellen Fragen jeglicher Politie als „Störfaktor" bewertet werden. Leo Strauss hat diesen Tatbestand ingeniös formuliert: „One cannot get rid the spurious elements i n prescientific political thought except by breaking altogether w i t h prescientific thought or by acting 73
Ebd., S. 87. Erich Voegelin: Wissenschaft als Aberglaube. Die Ursprünge des Szientifismus. In: Wort und Wahrheit 6 (1951), S. 341 ff. 75 Ebd., S. 358. 76 Ebd. 77 I n wie starkem Maße gerade die Politikwissenschaft Ordnungswissenschaft ist, hat neuerdings wieder Heinrich Bußhoff unter Beweis gestellt (Politikwissenschaft und das Problem der Freiheit. Freiburg im Breisgau und München 1983, S. 156 und passim). 74
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on the assumption that prescientific thought does not have the character of knowledge at all 7 8 ." Zum Grundmuster der vorliegenden Abhandlung gehört der Versuch, sechs besonders oft i n Anwendung gebrachte Erklärungsvarianten zu untersuchen. Dabei w i r d jede dieser Varianten unter folgenden methodologischen Aspekten analysiert: Es w i r d zunächst gefragt, ob die These des jeweils i n Rede stehenden Autors deterministisch oder probabilistisch strukturiert ist. Darüber hinaus w i r d das Forschungsinteresse auf das Problem gerichtet, ob der i n Rede stehende Erklärungsansatz einen oder mehrere Bestimmungsfaktoren aufweist, ob er monokausal oder multikausal strukturiert ist. Die vorliegende Arbeit interessiert sich auch für die politische Einstellung der die einzelnen Erklärungsansätze repräsentierenden Politikanalytiker. A u f diese Weise w i r d ins Bewußtsein gehoben, daß es auch linke Vertreter der Geopolitik gibt, daß linke Autoren auch ethnozentrische Ansichten vertreten haben und rechte Politikwissenschaftler dem ökonomischen Moment durchaus bestimmende W i r k k r a f t i m Staate einräumen. I n diesem Zusammenhange ergibt sich auch die Frage, wie die Vertreter der einzelnen politischen Ideologien auf die einzelnen Erklärungsansätze reagieren. Die Untersuchung dieses Problemkomplexes zeigt überdies, in welcher Weise die besagten Erklärungsmodi i n die Weltanschauungssyndrome der ideologischen Ordnungsvorstellungen aufgenommen w u r den bzw. werden.
78 Leo Strauss: A n Epilogue. In: Essays on the Scientific Study of Politics. Ed. by Herbert J. Storing. New York 1962, S. 317.
I I . Die Ökonomie als Bestimmungefaktor der Politik Wer nur mittels des ökonomischen Bewegungsgesetzes die gesellschaftliche Wirklichkeit erkennen will, kann die Eigengesetzlichkeit der politischen Sphäre genausowenig kennen, wie man durch eine rote Brille blau sehen kann. Hermann Heller So ist eben die Welt immer gewesen, und der Marxismus hat unrecht: nur ökonomisch ist es eben nicht zu erklären . . . Diese Sozialisten haben keinen Funken Psychologie und verstehen nichts, aber auch nichts von der Struktur des Menschen. Kurt Tucholsky
1. Das Verhältnis von P o l i t i k u n d Ökonomie als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung D i e systematische E r f o r s c h u n g des V e r h ä l t n i s s e s v o n W i r t s c h a f t u n d P o l i t i k , d i e U n t e r s u c h u n g d e r wechselseitigen V e r s c h r ä n k u n g b e i d e r W i r k b e r e i c h e g e h ö r t e i m m e r schon z u d e n z e n t r a l e n T h e m e n s o w o h l d e r P o l i t i k w i s s e n s c h a f t als auch der N a t i o n a l ö k o n o m i e 1 . D a b e i k o n n t e b i s l a n g k e i n e E i n i g u n g d a r ü b e r e r z i e l t w e r d e n , w i e dieser Forschungsbereich ü b e r h a u p t z u bezeichnen ist. M a r x i s t i s c h a r g u m e n t i e r e n d e T h e o r e t i k e r sprechen sich d a f ü r aus, diesen Gegenstandsbereich als „ P o l i t i s c h e Ö k o n o m i e " 2 z u benennen. D a b e i m u ß a l l e r d i n g s bedacht 1 Vgl. dazu Josef Gruntzel: Wirtschaft und Politik. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 133 (1930), S. 641 ff.; Herbert von Beckerath: Politische und Wirtschaftsverfassung. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 56 (1932), S. 258 ff.; Edgar Salin: Wirtschaft und Staat. Berlin 1932; Richard Behrendt: Wirtschaft und Politik im „reinen Kapitalismus". Zur Problematik des Zusammenhanges zwischen Politik und Wirtschaft. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 57 (1933), S. 63 ff.; Charles A. Beard: The Economic Basis of Politics. New York 1945; F.M.Powicke: The Economic Motive in Politics. In: The Economic History Review 16 (1946), S. 85 ff.; Franz Neumann: Ökonomie und Politik im Zwanzigsten Jahrhundert. I n : Zeitschrift für Politik 2 (1955), S. 1 ff.; Michael Hereth: Freiheit, Politik und Ökonomie. München 1974; Ernst Nolte: Ökonomie und Politik. I n : Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 228, 1. Okt. 1977. 2 Karl Marx nannte sein Hauptwerk: „Das Kapital. K r i t i k der politischen Ökonomie." Dabei schließt er sich bei der Bestimmung des Begriffs der „Politischen Ökonomie" an die „bürgerliche" Klassik an. „Um es ein für allemal
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
werden, daß der Begriff der „Politischen Ökonomie" 8 von Anfang an 4 einen ausgesprochen nationalökonomischen Bedeutungshof aufgewiesen hat. Dazu kommt, daß bei der marxistischen Verwendung dieses Begriffes die Politik letzten Endes als Appendix, als Epiphänomen des ökonomischen aufgefaßt wird. Eine nichtmarxistische Analyse des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik sollte sich also keiner Begrifflichkeit bedienen, die i m Vorhinein eine Priorität des ökonomischen über das Politische stipuliert. Auch nichtmarxistische Autoren, die den Begriff der „Politischen Ökonomie" verteidigen, versehen diesen mit einem eher ökonomischen Bedeutungshof. So fordert Edgar Salin 5 i m Rückgriff auf Friedrich List eine „Politische Ökonomie", d. h. eine „Wirtschaftslehre" 6 , die das Spektrum des Politischen stärker berücksichtigt als die reine Theorie der „Economics" und der ökonometrik. Die Vertreter der „Politischen Ökonomie" seien immer schon i n der Lage gewesen, das politische Element richtiger zu würdigen, „ w e i l sie als wirkende Kräfte i n ihre Überlegungen einstellten, was die Anderen als festen Datenkranz betrachteten" 7 . I n Übereinstimmung mit Salin wendet sich Bruno S. Frey gegen eine „Nationalökonomie, die sich als Lehre vom Preissystem auffaßt" 8 und den gesamten staatlichen Bereich i n den „Datenkranz" verweist, also analytisch unberücksichtigt läßt 9 . I n immer stärkerem Maße werde eine „unpolitische Ökonomie als unbefriedigend empfunden" 1 0 . Heute würden „Wirtschaft und Politik . . . vermehrt wieder als zu bemerken, verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht" (Das Kapital. Band I. Berlin 1957, S. 87). Auch zeitgenössische marxistische Autoren verwenden den Begriff „Politische Ökonomie", um ihre Werke zu betiteln. Paul A. Baran schrieb die Abhandlung: The Political Economy of Growth (New York 1962). Oskar Lange macht darauf aufmerksam, daß der Begriff heute gegen die sog. „bürgerliche Nationalökonomie" ins Feld geführt wird (Politische Ökonomie. Band I. Berlin 1963, S. 44). 8 Zur Geschichte des Begriffes „Politische Ökonomie" vgl. Heinz Dieter Mundorf: Der Ausdruck „Politische Ökonomie" und seine Geschichte, Köln 1957. 4 Ebd., S. 66 ff. 5 Edgar Salin: Politische Ökonomie — Heute. Wirtschaftswissenschaft als Theorie und als Lehre von den bewegenden Kräften. In: Frankfurter Hefte 13 (1958), S. 30. Lists Hauptwerk trägt den Titel: Das nationale System der politischen Ökonomie. 6 Ebd., S. 27. 7 Ebd., S. 30. 8 Bruno S. Frey: Wirtschaft und Politik — Zur heutigen Situation der Nationalökonomie als Politische Wissenschaft. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Kultur. 29 (1974), S. 786. • Ebd. 10 Ebd.
1. Politikwissenschaft, Politik und Ökonomie
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Einheit gesehen . . . wie dies bei den Klassikern (Smith, Ricardo, Marx) der Fall war" 1 1 . Frey unterscheidet dabei verschiedene Varianten der modernen Politischen Ökonomie. Eine Richtung versuche, „eine Verbesserung wirtschaftspolitischer Entscheidungen zu erreichen" 12 . Eine andere, die sich als „Neue Politische Ökonomie" bezeichnet, zeichne sich „durch die Anwendung der Denkweise und des Instrumentariums der modernen Wirtschaftstheorie auf politische Prozesse" 13 aus. Sie werde „ökonomische Theorie der P o l i t i k " 1 4 genannt. Diese Richtung untersuche „Prozesse jenseits des Preissystems" 15 . Dieser Ansatz unterscheide sich gegenüber „der oft einseitig philosophischen oder umgekehrt naivempirischen Politikwissenschaft . . . durch strengere Gedankenführung und eine enge Verknüpfung von Theorie und empirischer Überprüfung" 1 6 . Er trage dazu bei, „die gegenseitige Verknüpfung von W i r t schaft und Politik besser zu erkennen" 17 . Dabei würden „sowohl die Einflüsse der Wirtschaft auf den politischen Prozeß (zum Beispiel i n Form von Interessengruppen) als auch umgekehrt der Einfluß politischer Faktoren auf die Wirtschaft untersucht" 18 . Z u den Autoren, die dem Begriff der „Politischen Ökonomie" eine zugleich ökonomische und politische Bedeutungsnote verleihen, gehört James S. Coleman. Eine wirklichkeitsadäquate Analyse müsse sich heute sowohl der ökonomischen als auch der politischen Aspekte eines gegebenen Untersuchungsgegenstandes vergewissern. „Political economists are concerned not only w i t h how political variables and constraints affect economic development, but also with, how the latter, as an independent variable, affects political behavior and institutions 1 9 ." Dabei haben Coleman zufolge vor allem der moderne Keynesianismus 20 11
Ebd. Ebd., S. 787. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 788. 15 Ebd. 19 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 James S. Coleman : The Resurrection of Political Economy. In: Norman T. Uphoff and Warren F. Ilchman (eds.): The Political Economy of Development. Berkeley Cal. 1972, S. 36. 20 Coleman schreibt dazu: „Those comparatively unique historical situations of fairly pure laissez-faire which once encouraged and perhaps even gave some justification for sharp differentiation between the two disciplines have long since been transcended by varying but substantial forms of etatisme, either of the 'developed' welfare state, or of the modernizing state variety. I n either type of polity — indeed, in all intermediate types as well — sound and successful policy requires the specialized competence and collaboration of both groups of disciplinarians. The interdependence of political, administrative and economic aspects of modern statecraft must be matched by an interdisciplinary perspective" (ebd., S. 31). 12
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
und die Gründung sozialistischer Staaten 21 zur „Resurrection of Political Economy" 2 2 beigetragen 23 . Carl Bohret spricht sich dafür aus, die „systematische Beschäftigung mit den Ursachen und Wirkungen politisch relevanter Ereignisse und Prozesse" 24 als „Politische Wirtschaftslehre" 2 5 zu bezeichnen. Diese Forschungsrichtung zeichne sich durch die Verbindung von wirtschaftswissenschaftlichen und politologischen Fragestellungen aus. „Wenn sich Erkenntnisse und Fragestellungen der Politischen Ökonomie, der theoretischen Volkswirtschaftspolitik und der Politischen Wissenschaft i n besonderer Weise verbinden — und nicht nur vermengen — entsteht die spezielle Politologie: die Politische Wirtschaftslehre 26 ." Böhrets Konzeption einer „Politischen Wirtschaftslehre" zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß i n ihr der politologische Aspekt den Primat über den ökonomischen besitzt. „Die Politische Wirtschaftslehre ist also Politische Wissenschaft, weil ihre Fragestellung politologisch ist; sie ist spezielle Politologie, weil sie hauptsächlich Objekte und Prozesse aus dem wirtschaftlichen und sozialen Bereich gemäß dieser besonderen Fragestellung untersucht 27 ." Es ist also der Politologe, der die „frühere Zusammenschau von Politik, Ökonomie und E t h i k " 2 8 realisiert. 2. Die ökonomische Bestimmung der Politik bei Piaton, Aristoteles und James Harrington So neuzeitlich die Reflexion über das Verhältnis zwischen der politischen Sphäre und dem System der Bedürfnisse anmutet, so alt ist in Wirklichkeit ihre Geschichte. Schon bei Piaton stellt sich der Rückgriff auf distributionskausale Fragestellungen als ein Versuch dar, Orien21 „The impact of the Soviet Union and other socialist systems, and more recently the developing areas, has led to a greater convergence of scholarly interest and concern in the two disciplines. The interdependence of economy and polity in such systems is in theory and fact so close that the nature of relationships could not be ignored even by the arch purists in both disciplines" (ebd., S. 31). 22 Coleman macht darauf aufmerksam, daß in der merkantilistischen Theorie der politische Aspekt mit dem ökonomischen verbunden war (ebd., S. 31). 23 Ebd. 24 Carl Bohret: Politische Wirtschaftslehre — Porträt einer Disziplin. In: Interdependenzen von Politik und Wirtschaft. Beiträge zur politischen Wirtschaftslehre. Festgabe für Gert von Eynern. Hrsg. von Carl Bohret und Dieter Grosser. Berlin 1967. S. 11. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 18. 27 Ebd., S. 35. 28 Für Bohret war die „ »Policey- und Cameralwissenschaft' . . . auch Politische Wissenschaft, da sie die Wirtschaft weitgehend unter politischen Aspekten begriff: sie war insoweit ,Politische Wirtschaftslehre' " (ebd., S. 13).
2. Ökonomie und Politik bei Piaton, Aristoteles und Harrington
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tierungshilfen i m Bereich der praktischen Politik zu finden. Die Frage nach der Stabilität des politischen Gemeinwesens zieht Piaton zufolge nämlich unweigerlich auch die Frage der Besitzverteilung des i n Rede stehenden Staates mit sich. Ein Staatswesen, das extreme Vermögensdistanzen kennt, ist i n Gefahr, an seinen sozialen Widersprüchen zu zerbrechen. „ I n einem Staat, behaupten wir, der vom größten Siechtum, welches w i r Aufstand oder richtiger A u f r u h r nennen, frei bleiben soll, darf sich weder bei einigen Bürgern drückende Armut, noch dagegen auch Reichtum finden, da beide jenes Beide erzeugen 29 ." Dabei geht Piaton von einem bestimmten M i n i m u m an Besitz aus, das nur bis zum Vierfachen überschritten werden darf. Die „Grenze der A r m u t . . . bestimme der Wert eines Loses, welches Jedem bleiben muß und dessen Verringerung die Obrigkeit niemals gestatten darf, so wenig wie einer der übrigen Bürger, welcher den Ruhm der Tugend erstrebt. Indem der Gesetzgeber diesen Wert als Maßstab annimmt, w i r d der das Doppelte, Dreifache, ja Vierfache zu besitzen gestatten 80 ." Transzendiert ein B ü r ger diese Reichtumsgrenze, so ist er gehalten, den überschüssigen Reicht u m an den Staat abzutreten. „Erlangt Einer aber mehr als das, indem er das das Maß Überschreitende fand, oder geschenkt bekam, oder erwarb, oder durch einen anderen Glücksfall der A r t gewann, der dürfte wohl, wenn er an den Staat und die über denselben waltenden Götter es abgibt, einen guten Ruf erlangen und keiner Strafe unterliegen 31 ." Widersetzt sich der zu illegitimem und illegalem Reichtum Gekommene, so t r i f f t ihn die Strafe des Gemeinwesens 32 . Die Auswirkungen der Eigentumsverteilung auf die Stabilität des politischen Gemeinwesens hat auch Aristoteles untersucht. Seine Überlegungen werden dabei von dem Gedanken beherrscht, daß sowohl die extreme A r m u t als auch der extreme Reichtum destabilisierende W i r kungen auf die politische Sphäre zeitigen. Was die Reichen anlangt, so fürchtet Aristoteles vom Besitz einer Überfülle an weltlichen Gütern den Verlust an staatsbürgerlicher Fügsamkeit. Der Motivationshorizont der Überreichen w i r d von anarchischen Überlegungen bestimmt, der Reiche ist in Gefahr, der Hybris anheimzufallen. „Überdies . . . wollen diejenigen, welche mit einer Überfülle von Glücksgütern ausgestattet sind, von Macht, Reichtum, Freunden und was weiter dahin gehört, sich nicht regieren lassen 33 ." Dagegen gebricht es den i n extremer A r m u t Lebenden an dem nötigen Sinn für Bürgerwürde und Unabhängigkeits29 Piaton: Gesetze. In: Platon's sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Steinhart. Band V I I . Leipzig 1859, S. 154 f. 30 Ebd., S. 155. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Aristoteles : Politik. Hrsg. von Nelly Tsouyopoulos und Ernesto Grassi. Hamburg 1965, S. 145.
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
streben. „Diejenigen dagegen, welche übermäßigen Mangel an allen diesen Dingen leiden, sind allzu unterwürfig 3 4 ." Während also die Reichen sich den Gesetzen der Polis überhaupt entziehen wollen, legen die Armen ein zu großes Unterordnungsbewußtsein an den Tag. „So daß denn also die letzteren nicht zu regieren . . . verstehen, sondern nur i n der Weise des Sklaven sich beherrschen zu lassen, die ersteren aber sich überhaupt nicht regieren lassen, sondern nur zu regieren verstehen, und zwar despotisch 35 ." Das Mißverhältnis zwischen A r m u t und Reichtum verursacht politische Unordnung, i n der die zwei dichotomisch voneinander geschiedenen Schichten einander die Anerkennung verweigern. Die Spannung zwischen oben und unten, anstatt einem freien Gemeinwesen Raum zu geben, resultiert i n politischer Unterdrückung. „ U n d so entsteht denn ein Staat nicht von Freien, sondern von Herren und Sklaven, wo die einen beneiden und die anderen verachten 36 ." A u f dem Hintergrund der auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen schlägt Aristoteles vor, für eine ausgeglichene, d. h. mittelständische Eigentumsverteilung zu sorgen. Diese Einsicht ist aus seiner Lehre heraus entwickelt, daß nur derjenige der Vernunft zu gehorchen imstande ist, dem die wirtschaftlichen Extreme der A r m u t und des Reichtums unbekannt sind 37 . Aus diesem Grunde fordert Aristoteles seine Mitbürger auf, für ausgeglichene Vermögensverhältnisse zu sorgen. „ U n d so ist es demnach das größte Glück, wenn die Staatsbürger ein ausreichendes Vermögen von mittlerer Größe haben 38 ." Der Staat w i r d also von Aristoteles aufgerufen, Ordnungspolitik zu betreiben, dafür zu sorgen, daß eine ausgeglichene Vermögensstruktur die politische Stabilität garantiert. „Vielmehr muß der wahrhafte Volksfreund darauf sehen, daß überhaupt die große Menge nicht gar zu arm ist, denn darin liegt die Schuld, wenn die Demokratie schlecht ist3®." Die Regierung muß „auf M i t t e l sinnen, einen dauernden Wohlstand zu begründen" 40 . Dabei schlägt Aristoteles vor, „die Überschüsse der Staatseinkünfte anzusammeln und sie i n großen Summen unter die Armen zu verteilen" 4 1 . Das beste sei, wenn man so viel zusammenbringen kann, daß es für einen jeden zum Kauf eines kleinen Gutes reicht. Ist dies nicht möglich, so sollte die Summe wenigstens „zur Begründung eines Handels oder einer Landwirtschaft ausreichen" 42 . 34 36 39 37 38 39 40 41 41
Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd. Ebd.
S. 145. S. 144. S. 145. S. 217.
2. Ökonomie und Politik bei Piaton, Aristoteles und Harrington
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I m aristotelischen Politiksystem behauptet der Staat trotz seiner Abhängigkeit von ökonomischen Bestimmungsfaktoren ein entscheidendes Quantum an Selbständigkeit. Aristoteles bürdet i h m nämlich die Aufgabe auf, i n das System der Bedürfnisse einzugreifen, um eine ausgeglichenere Eigentumsverteilung zu erreichen. Aristoteles lehnt den radikalen ökonomischen Determinismus auch deswegen ab, w e i l er neben dem wirtschaftlichen auch andere Bestimmungsfaktoren der Politik kennt. Er ist dezidiert der Ansicht, daß sowohl die geographische Lage eines Landes, insbesondere sein Klima, einen entscheidenden Einfluß auf seine Politik ausüben 43 . Aristoteles vertritt also keine monokausale, sondern eine multikausale Politikerklärung. Daß Piaton und Aristoteles durchaus realitätsbezogen über das Verhältnis von Ökonomie und Politik nachgedacht haben, beweist die Geschichte Athens. Plutarch weist nach, wie schon zu Zeiten Solons die Spannungen zwischen den Reichen und den Armen die athenische Polis erschütterten. Viele waren der Auffassung, daß nur die Monarchie i n der Lage sein würde, den Klassenkämpfen ein Ende zu bereiten. „Da u m eben die Zeit . . . die Ungleichheit zwischen den Armen und Reichen aufs höchste gestiegen war, so befand sich die Stadt . . . i n einer gefährlichen Lage, und die Einführung der Alleinherrschaft schien das einzige M i t t e l zu sein, diesen Verwirrungen ein Ende zu machen und die Ruhe wiederherzustellen 44 ." Einsichtsvolle Athener erkannten, daß „Solon allein ganz außer Schuld war und weder an den Ungerechtigkeiten der Reichen teilnahm, noch von der Not der Armen gedrückt wurde" 4 5 . Sie boten i h m an, „die Regierung des Staates zu übernehmen und dieser Zwietracht ein Ende zu setzen" 48 . Alle waren zufrieden; „die Reichen, weil er ein wohlhabender, die Armen, w e i l er ein rechtschaffener Mann war" 4 7 . Dabei nahm Solon bei den Gesetzen, die er gab, „weder auf die Gunst der Reichen, noch auf die Absichten derer, die ihn gewählt hatten, irgendwelche Rücksicht" 48 . I m 17. Jahrhundert hat sich vor allem James Harrington darum bemüht, den Einfluß der Ökonomie auf die Politik nachzuweisen. Dem Bewunderer von Machiavelli und Bodin ging es vor allem darum, i m Rekurs auf antike Autoren 4 9 und i m Gegensatz zu Thomas Hobbes 43
Vgl. dazu F N 39, S. 61. Plutarchs vergleichende Lebensbeschreibungen. Hrsg. von Otto Güthling. Band I. Leipzig o. J., S. 18. 46 Ebd., S. 19. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 21. 49 Über die Bedeutung von James Harrington für die politische Ideengeschichte schreibt G. P. Gooch: „Hume pronounced ,Oceana' the only rational model of a Commonwealth and Coleridge ranked its author with Thucydides, 44
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
die politische Ordnung für ihre ökonomischen Bestimmungsfaktoren transparent zu machen 60 . Hobbes bewege sich innerhalb eines Vorstellungssystems, das die Ökonomie weitgehend ausspare. Untrügliches Zeichen dessen sei seine Herrschaftslehre. „As he (Hobbes; J. B. M.) said of the law: that without this sword i t is but paper, so might he have thought of this sword, that without a hand i t is but cold iron. The hand which holds this sword is the m i l i t i a of a nation, and the m i l i t i a of a nation is either an army i n the field or ready for the field upon occasion. But an army is a beast that has a great belly and must be fed; wherefore this w i l l come unto pastures you have, and what pastures you have w i l l come unto the balance of property, without which the public sword is but a name of mere spit-frog 5 1 ." I m Lichte dieser „realistischen" Politikbetrachtung stellt sich Harrington die Frage, welche Beziehungen zwischen den Eigentumsformen und den Herrschaftstypen bestehen. Es gehört dabei zu den Eigentümlichkeiten seines Denkens, daß er allein den Grundbesitz berücksichtigt. Wenn der Besitz des Bodens sich i n der Hand eines Einzelnen befindet, dann emaniert aus dieser Eigentumsdistribution die Staatsform der Monarchie. „ I f one man be sole landlord of a territory, or overbalance the people, for example, three parts i n four, he is Grand Signior: for so the T u r k is called from his property; and his empire is absolute monarchy 52 ." Wenn dagegen das Land unter mehrere Bürger verteilt ist, dann entsteht eine Staatsform, die Harrington als „gemischte Monarchie" bezeichnet. „ I f the few or a nobility, or a nobility w i t h the clergy be landlords, or overbalance the people unto the like proportion, it makes the Gothic balance . . . and the empire is mixed monarchy 53 ." Als Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen Besitzdistribution und Herrschaftsform führt Harrington Polen und Spanien an 54 . I m Gegensatz zur Monarchie und zur „gemischten Monarchie" ist die Eigentumsverteilung i n demjenigen Machiavelli and Bacon . . . His writings were even more read and admired beyond the Atlantic. The Constitutions of Carolina, New Jersey and Pennsylvania reflected his thought, and a century later his authority was freely quoted in the discussions which preceded and followed the elaboration of the American Constitution. His works formed the political bible of Otis and John Adams, and Jefferson's copy is preserved in the libraray of Congress. Translated into French during the Revolution, they supplied Sieyes with many of his ideas" (Political Thought in England from Bacon to Halifax. London 1937, S. 120 f.). 50 Nach George H. Sabine wurde der ökonomische Determinismus Harringtons von Aristoteles beeinflußt (A History of Political Theory. Third Edition. New York 1961, S. 499). 51 James Harrington: The Commonwealth of Oceana. In: The Political Writings of James Harrington. Ed. by Charles Blitzer. Indianapolis and New York 1955, S. 47. 52 Ebd., S. 44 f. 53 Ebd., S. 45. 64 Ebd.
2. Ökonomie und Politik bei Piaton, Aristoteles und Harrington
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politischen Regime, das Harrington als Commonwealth bezeichnet, weitgehend egalitär. „ A n d if the whole people be landlords, or hold the lands so devided among them that no one man or number of men w i t h i n the compass of the few or aristocracy overbalance them, the empire . . . is a commonwealth 55 ." Harrington verleiht seiner Theorie von der Beziehung zwischen Ökonomie und Politik einen ausgesprochen deterministischen Zug, wenn er eine strenge Zuordnung zwischen ökonomischem „Unterbau" und politischem „Überbau" stipuliert. Nur eine weit- und politikfremde Politikanschauung könne davon ausgehen, d,aß das i n Rede stehende Verhältnis zwischen den beiden Sphären willkürlichem Kombinationswillen unterliege. „ I f force be interposed i n any of the three cases, it must either frame the government to the foundation, or the foundation to the government 58 ." Den Charakter des Dogmatisch-Deterministischen seiner Theorie unterstreicht Harrington m i t dem Hinweis, daß jegliche voluntaristische Verbindung von Eigentumsstruktur und Herrschaftsform das Verdikt der Widernatürlichkeit verdiene. Harrington siedelt also seine Analyse i n einem begrifflichen Umfeld an, das jegliche Negation der strengen Zuordnimg von Eigentumsdistribution und Politikform als gegen die Gesetzlichkeit des Universums gerichtet verurteilt. „Holding the government not according to the balance, i t is not natural but violant 5 7 ." Sollte diese widernatürliche Zuordnung aus dem Machtwillen des Alleinherrschers resultieren, dann schlägt die Monarchie i n Tyrannei um. Der Versuch der oligarchischen Herrscher, sich dieser natürlichen Ordnungsgesetze zu entziehen, führt zur Despotie. Und wenn die Volksmenge sich dieser deterministischen Zwänge entledigt, entsteht die Anarchie 58 . So groß auch die Unterschiede zur Marxschen Lehre über das Verhältnis von Unterbau und politischem Überbau sein mögen, ganz falsch wäre es nicht, Harrington wegen dieser deterministischen Bestimmung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik als Vorläufer von M a r x anzusehen. Was Harrington allerdings diametral von Marx unterscheidet, ist die Selbständigkeit, die der Engländer i m Gegensatz zu dem Deutschen dem politischen Überbau imputiert. Obgleich Harrington sogar für den politischen Überbau den Begriff der „superstructure" verwendet, verleiht er i n direktem Gegensatz zu Marx dem politischen Herrscher die Fähigkeit, die Besitzdistribution zu beeinflussen. Harringtons Vorschlag, eine Agrarreform durchzuführen, ist aus dem genuin reformistischen Denkansatz heraus geboren, dem 55
Ebd. Ebd. « Ebd. 58 Ebd. 56
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
politischen Gemeinwesen Stabilität und Kontinuität zu verleihen. „ A n equal Agrarian is a perpetual law establishing and preserving the balance of dominion by such a distribution that no one man or number of men w i t h i n the compass of the few or aristocracy can come to overpower the whole people by their possessions i n lands 59 ." Diese Reformkonzeption steht i m Widerspruch zum ökonomischen Determinismus der Harringtonschen Lehre vom Verhältnis zwischen Eigentumsverteilung und Herrschaftsform. Dieser Baustein des Harringtonschen Ideengebäudes weist einen ausgesprochen antideterministischen, d. h. voluntaristischen Charakter auf. I m Gegensatz zur Marxschen Lehre bestimmt der Unterbau den Überbau auch nicht i n einem totalen Sinne. Nicht die gesamte „superstructure", sondern nur die Herrschaftsform w i r d aus dem ökonomischen Unterbau bestimmt. Harrington ist weit davon entfernt, auch die Religion und die Philosophie aus der jeweiligen Ökonomiestruktur heraus zu erklären. 3. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Marxismus Dezidiert und umfänglich w i r d i m Marxismus das Verhältnis von Ökonomie und Politik bestimmt: Es sind die ökonomischen Realfaktoren, die den Überbau determinieren. K a r l Marx errichtet sein Gedankengebäude auf der Behauptung, daß der „Unterbau" letzten Endes das primum movens der Geschichte und der Politik ist. „ I n der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen 60 ." Diesem ökonomischen Unterbau entspricht ein Überbau, dessen Struktur sich weitgehend den i m Unterbau wirkenden Kräften verdankt. „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt 6 1 ." Revolutionäre Ereignisse zeichnen sich dabei dadurch aus, daß mit der Veränderung der ökonomischen Basis auch der Überbau eine andere Gestalt annimmt. Er paßt sich dem veränderten Unterbau an. „ M i t der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um 6 2 ." 69
Ebd., S. 71. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Vorwort). In: Karl Marx und Friedrich Engels. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band I. Berlin 1951, S. 337 f. 61 Ebd., S. 338. 60
3. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Marxismus
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Z u den interessantesten Streitfragen bei der Analyse des Marxschen Determinismus gehört, ob bzw. wie Friedrich Engels das Denkmodell seines Freundes voluntarisiert hat. Engels hat i n der Tat entscheidenden A n t e i l an der Ausbildung einer Lehre, die davon ausgeht, daß auch der Überbau auf den Unterbau zurückwirkt. „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren aufeinander und auf die ökonomische Basis 68 ." Wie sehr der politische Faktor auf den ökonomischen wirke, das habe Marx selber m i t aller Deutlichkeit betont. Gegen Paul Barth argumentierend, weist Engels darauf hin, daß besonders i m „Achtzehnten Brumaire" von Marx die eigenständige Rolle der Politik betont werde 64 . I m „Kapital" habe Marx die E i n w i r kung der Gesetzgebung auf die Arbeitszeitregelung betont 65 . Darüber hinaus zeige die Forderung nach der „Diktatur des Proletariats", daß dem Marxismus die eigenständige Rolle der politischen Sphäre durchaus nicht unvertraut sei. „Oder warum kämpfen w i r denn u m die politische Diktatur des Proletariats, wenn die politische Macht ökonomisch ohnmächtig ist? Die Gewalt (d. h. die Staatsmacht) ist auch eine ökonomische Potenz 66 !" Es bedarf nach Engels der Besinnung auf die realen Determinanten von Politik und Geschichte, um das wissenschaftlich exakte Verhältnis zwischen den beiden Sphären zu erschließen. Von dieser Warte aus sieht Engels die „ökonomischen Verhältnisse" als „bestimmende Basis der Geschichte der Gesellschaft" 67 an, spricht 62 Ebd. Marx sind allerdings Bedenken darüber gekommen, ob der Unterbau total den gesamten Uberbau bestimmt. Er fragte sich nämlich, warum er sich im 19. Jahrhundert immer noch an der Kunst der Griechen, die aus einem gänzlich unterschiedlichen Unterbau hervorgeht, erfreut. „Die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichte Muster gelten" (Grundrisse der K r i t i k der politischen Ökonomie. Frankfurt am Main 1953, S. 31). Schließlich muß sich auch die Kunst mit der Änderung des Unterbaus radikal ändern. Warum aber dauert die Attraktionskraft der griechischen Kunst fort? „Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?" (ebd.). Wie kann die griechische Mythologie mit dem ethnisch-ökonomischen Unterbau von heute überhaupt in Ubereinstimmung gebracht werden? „Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen (Mythologie) zugrunde liegt, möglich mit selfactors und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt V u l kan gegen Roberts & Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier?" (ebd., S. 30). M Friedrich Engels: Brief an H. Starkenburg. 25. Januar 1894. In: K a r l Marx Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe. Berlin 1953, S. 560. 84 Friedrich Engels: Brief an C. Schmidt. 27. Oktober 1890. In: Ebd., S. 510. « Ebd. 66 Ebd. 67 Friedrich Engels: Brief an Starkenburg. S. 558.
3 J. B. Müller
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er davon, daß die ökonomischen Kräfte „doch i n letzter Instanz die entscheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden" 6 8 . Ohne Abstriche stellt er fest: „Die schließliche Suprematie der ökonomischen Entwicklung steht mir fest 89 ." Daß die Dialektik zwischen Überbau und Unterbau letztendlich ihre Bestimmung aus dem Unterbau empfängt, das ist auch die Auffassung des Austromarxisten Max Adler. Erst auf dem Grunde eines ökonomisch bestimmten Geschichtsverständnisses lasse sich die i n Rede stehende Beziehimg ausreichend beschreiben und bestimmen. I m Rekurs auf Engels und M a r x hält Max Adler dafür, daß die „Politik jederzeit eine Funktion der ökonomischen Struktur der Gesellschaft" 70 ist. Genau so dezidiert fährt er fort: „ U n d die alte Frage, i n welchem Verhältnis Ökonomie und Politik stehen, beantwortet sich dahin, daß die Politik, soziologisch betrachtet, stets ein sekundärer Faktor ist 7 1 ." Aus der Tatsache, daß die Politik „ i n gewissem Maße ein Eigenleben gegenüber den ökonomischen Verhältnissen und Interessen führt", dürfe keineswegs geschlossen werden, „daß sie ein selbständiger und zuweilen sogar stärkerer Faktor als die Ökonomie ist" 7 2 . Niemals habe die materialistische Geschichtsauffassung die „ E i n w i r k i m g der politischen Gewalttätigkeit auf das Wirtschaftsleben" 73 geleugnet. Sie sei aber i m Gegensatz zu den antimaterialistischen Geschichtsinterpreten nicht „bei dieser Gewalttätigkeit als letzter, nicht weiter abzuleitender Ursache der Geschichte stehengeblieben" 74 . 68
Ebd., S. 560. Friedrich Engels: Brief an C. Schmidt. S. 510. Friedrich Engels hat dabei keineswegs immer eindimensional argumentiert und theoretisiert. Er kennt neben dem ökonomischen durchaus auch den geographischen Bestimmungsfaktor. So schreibt er: „Mit dem Eintritt der Barbarei haben wir eine Stufe erreicht, worauf sich die verschiedene Naturbegabung der beiden großen Erdkontinente geltend macht. Das charakteristische Moment der Periode der Barbarei ist die Zähmung und Züchtung von Tieren und die Kultur von Pflanzen. Nun besaß der östliche Kontinent, die sogenannte alte Welt, fast alle zur Zähmung tauglichen Tiere und alle kulturfähigen Getreidearten außer einer; der westliche, Amerika, von zähmbaren Säugetieren nur das Lama . . . und von allen Kulturgetreiden nur eins, aber das beste: den Mais. Diese verschiedenen Naturbedingungen bewirken, daß von nun an die Bevölkerung jeder Halbkugel ihren besonderen Gang geht, und die M a r k steine an den Grenzen der einzelnen Stufen in jedem der beiden Fälle verschieden sind" (Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. I n : M E AS Band I I . Berlin 1952, S. 175). 70 Max Adler: Natur und Gesellschaft. Wien 1964, S. 160. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 161. M a x Adler kennt neben dem ökonomischen Wirkfaktor auch die psychologischen Antriebsmomente. Schon Marx habe den „psychoanalytischen Grundsatz einer ökonomischen Erklärung der politischen Erscheinungen" gekannt (ebd., S. 159). Die Analysen der politischen Bewußtseinsformen 69
3. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Marxismus
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Heute w i r d die Abhängigkeit der politischen Ordnung vom ökonomischen Unterbau von der Lehre des „staatsmonopolistischen Kapitalismus" i n einer Weise interpretiert, die dem politischen Überbau mehr Selbständigkeit zugesteht als dies bei K a r l Marx und Friedrich Engels der Fall gewesen ist. Dabei rücken die neuen Aufgaben des Staates ins Zentrum eines Erklärungsansatzes, der auf der Suche nach dem Verhältnis von Ökonomie und Politik i m heutigen Kapitalismus erwächst. A u f diese Weise entstehen Gedankengänge, die dem klassischen Marxismus als eine Abkehr von der überkommenen Überbau-Unterbau-Lehre erscheinen, die aber bei näherem Hinsehen doch i m Horizonte des Marxschen Theorieansatzes zu interpretieren sind. Die Repräsentanten der Lehre vom sogenannten staatsmonopolitischen Kapitalismus gehen zunächst davon aus, daß die Rolle des Staates i n der heutigen kapitalistischen Wirtschaft i m Vergleich zu früheren kapitalistischen Entwicklungsstufen eine Steigerung erfahren hat. „Die jüngste Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus z e i g t . . . , daß es notwendig ist . . . vor allem auf die Tendenz zur Verstaatlichung, sowie auf die Tatsache zu achten, daß der Staat mit der Verstärkung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte i n wachsendem Maße w i r t schaftlich-organisatorische und ideologische Funktionen übernehmen muß 7 5 ." Dem Staate kommt dabei eine Steuerungsaufgabe zu, die als Schritt von der partiellen zur totalen Regelungsfunktion interpretiert werden kann. „Die ökonomische Tätigkeit des Staates, die früher noch mehr partiell war, ist heute allumfassend und beeinflußt unmittelbar alle Bereiche des kapitalistischen Wirtschaftslebens 76 ." Vor dem Hintergrund der Einsicht, daß der Staat heute ungleich größere Ordnungsaufgaben als früher zu unternehmen hat, bemühen sich die Theoretiker des sogenannten staatsmonopolitischen Kapitalismus, das Verhältnis zwischen Unterbau und Überbau auf den Begriff zu bringen. Eine Ordnung, die dem Staat so umfängliche Ordnungsaufgaben überträgt, muß auch das Verhältnis von Unterbau und Überbau neu bestimmen. Dabei schließt das Bekenntnis zur marxistischen Interpretation durchaus das Bekenntnis ein, daß sich die Politik von der Ökonomie entscheidend, wenn auch niemals gänzlich emanzipiert hat. „ I n den ökonomischen Beziehungen w i r d durch die staatliche Monopolisierung ein ganz neues, den kapitalistischen ökonomischen Bedingungen bisher durch K a r l Marx wiesen „ziemlich lange vor Freud viel Ähnlichkeit mit der Psychoanalyse" auf (ebd.). Dieser Rekurs auf die Psychoanalyse bedeutet jedoch keineswegs, daß Adler einer zweifaktoriellen Betrachtung von Kultur und Politik das Wort redet. Der psychologische Faktor ist bei ihm letzten Endes Teil des ökonomisch bestimmten Überbaus. 75 Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus. Aus dem Russischen. Berlin 1972, S. 384. 76 Imperialismus heute. Der Staatsmonopolismus in Westdeutschland. Berlin 1967, S. 141. 3*
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
ganz unbekanntes Element wirksam. Erstmals w i r k t i m kapitalistischen Regulierungssystem eine Form, die selbst keine Form des Privatkapitals ist, die an sich eine ,außerökonomische Macht* darstellt, die nur zur Unterstützung der Privateigentumsverhältnisse w i r k t und wirken muß 7 7 ." Die Politik t r i t t mit einer gewissen Selbständigkeit der Ökonomie gegenüber. „Damit w i r d i n der Ökonomik ein an sich dem kapitalistischen Wirtschaftssystem fremder Faktor wirksam, der i n seinen gesamten Funktionen zunächst selbst nicht der kapitalistischen Konkurrenz und deren Verwertungsbedingungen unterliegt 7 8 ." Da der staatsmonopolistische Kapitalismus i m Gegensatz zum früheren Kapitalismus seine eigenen Gesetze entfaltet, halten es seine Theoretiker sogar für angebracht, auf eine eher unmarxistische Terminologie auszuweichen. Sie sprechen von einer Interdependenz von Überbau und Unterbau. A l l e i n die Analyse der „Wechselbeziehungen zwischen Basis und Überbau" 7 9 i m heutigen Monopolkapitalismus sei i n der Lage, die heutige politisch-ökonomische Realität i n den heuristischen Griff zu kriegen. Bei dieser „engen Wechselbeziehung" 80 zwischen „den Monopolen und dem Staat" 8 1 spiele jedes Machtzentrum seine eigene Rolle. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, wennschon sie eine gewisse Selbständigkeit der Politik von der Ökonomie betont und von voluntaristischen Impulsen gespeist wird, t r i t t dennoch nicht aus dem konzeptionellen Umkreis der überkommenen marxistischen Gesellschaftslehre hinaus. Letzten Endes w i r d das Politische unzweideutig auf das „System der Bedürfnisse" zurückgeführt. Staat und Ökonomie, beide verfolgen sie das gleiche Ziel: Sie sind darauf aus, das Wesensgesetz des Kapitalismus zu vollstrecken, beabsichtigen „die Erhöhung der Akkumulation von Kapital und der Konzentration, die Verstärkung der kapitalistischen Ausbeutung und die Steigerung des Profits der Monopole" 82 . Letzten Endes sind die Monopole die treibende Kraft, der Staat ist mehr oder weniger i h r Erfüllungsgehilfe. Nirgends wäre man weiter vom Wesensgehalt der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus entfernt, wenn man die Verflechtung von Staat und Monopolen zum Anlaß nähme, den Staat als Exekutionsorgan einer i m Vergleich zu früher völlig veränderten Wirtschaftsform zu interpretieren. Dezidiert w i r d die Auffassimg verworfen, „daß entweder die Monopole verschwunden seien und daß der Kapitalismus schließlich 77 Rudi Gündel/Horst Heininger/ Peter Hess/Kurt Zieschang: Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Berlin 1967, S. 323. 78 Ebd. 79 Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus. S. 384. 80 Der staatsmonopolistische Kapitalismus. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main 1972, S. 22. 81 Ebd. 82 Der staatsmonopolistische Kapitalismus. S. 22.
3. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik im Marxismus
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seinen Charakter verändert habe oder daß der Staat zu einem passiven Instrument geworden ist, das sich i n keiner Weise von den Monopolen unterscheidet" 83 . I n zunehmendem Maße w i r d i m 19. Jahrhundert von sozialistischen Autoren darauf hingewiesen, daß der Kapitalismus gezwungen ist, überschüssige Waren außerhalb seiner unmittelbaren Machtgrenzen abzusetzen, da die Kaufkraft der einheimischen Bevölkerung, insbesondere die der Arbeitermasse, die problemlose Abnahme der Warenproduktion nicht mehr gewährleistet. Die Unterkonsumtion führe also zur kolonialen Expansion. Diese Version der Imperialismustheorie w i r d von John A. Hobson und Rosa Luxemburg vertreten 84 . Hilferding und Lenin haben dann später den Imperialismus als den Versuch gedeutet, Extraprofite i m Außenbereich zu verdienen. Der Imperialismus w i r d dabei als der Versuch angesehen, der angeblich sinkenden Profitrate entgegenzuwirken® 5. Bei Rosa Luxemburg und Lenin folgt der Imperialismus naturnotwendig aus den Imperativen des kapitalistischen W i r t schaftssystems. Nach Rosa Luxemburg walten unter dem „Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses" 88. Dem Kapitalismus bleibt keine andere Wahl, als sich i n die unentwickelten Länder auszudehnen. „ A l l e nichtkapitalistischen Schichten und Gesellschaften müssen für das Kapital zu Warenabnehmern werden und müssen i h m ihre Produkte verkaufen 8 7 ." Der Kapitalismus benötigt sie, um seine eigene Existenz auf Dauer zu stellen. „Ohne ihre Produktionsmittel und Arbeitskräfte kann er nicht auskommen, so wenig wie ohne ihre Nachfrage nach seinem Mehrprodukt® 8 ." Genau so notwendig ist auch die Zerschlagung der sozialen und politischen Selbständigkeit der unterentwickelten Gemeinwesen. „ U m ihnen aber Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu entnehmen, u m sie i n Warenabnehmer zu verwandeln, strebt er zielbewußt danach, sie als selbständige soziale Gebilde zu vernichten 89 ." Die imperialistische Politik der entwickelten Industriestaaten emaniert aus ihrem Kapitalakkumulationsbedürfnis. Wie früher die Bauern i n den Industrialisierungsprozeß einbezogen wurden, so geschieht dies jetzt mit der außereuropäischen, vorkapitalistischen Welt. „Historisch aufgefaßt, ist die 83
Ebd., S. 22 f. Vgl. dazu: Hans-Christoph Schröder: Sozialistische Imperialismusdeutung. Göttingen 1973, S. 7. 85 Vgl. dazu: Hans-Christoph Schröder: Sozialismus und Imperialismus. Teil I. Hannover 1968, S. 40 und 44 ff. 88 Rosa Luxemburg: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Berlin 1913, S. 430 f. 87 Ebd., S. 359 f. 88 Ebd., S. 343. 89 Ebd. 84
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Kapitalakkumulation ein Prozeß des Stoffwechsels, der sich zwischen den kapitalistischen und den vorkapitalistischen Produktionsweisen vollzieht. Ohne sie kann die Akkumulation des Kapitals nicht vor sich gehen, die Akkumulation besteht aber, von dieser Seite genommen, i m Zernagen und Assimilieren jener 9 0 ." Rosa Luxemburg macht mit Nachdruck darauf aufmerksam, daß die vom kolonialistischen Imperialismus angewandte politische Gewalt genau so aus dem Unterbau emaniert wie die Gewalt, die innerhalb der kapitalistischen Staaten gegen die Arbeiter angewandt wird. Die politische Gewalt hat sich also keineswegs verselbständigt, sich von der Produktionsweise des Kapitalismus „emanzipiert". Aus diesem Grund w i r d der Imperialismus als der „politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation" 9 1 bezeichnet, „die politische Gewalt . . . als das Vehikel des ökonomischen Prozesses" 92 angesehen93. Ebenso deterministisch argumentiert Lenin. Der Imperialismus ist eine notwendige Durchgangsstufe des Kapitalismus auf dem Weg in die sozialistische Gesellschaft. Er repräsentiert das „höchste Stadium des Kapitalismus" 9 4 . Seinem ökonomischen Wesen nach ist der Imperialismus Lenin zufolge Monopolkapitalismus. „Dadurch allein schon ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation 95 ." Die Höchststufe des Kapitalismus trägt dabei den K e i m ihres eigenen Zerfalls in sich. Sie ist eine moribunde Durchgangsstufe zu einer noch höheren Gesellschaftsform: zum Sozialismus. Beim Imperialismus handelt es sich um den „parasitären oder i n Fäulnis begriffenen Kapitalismus" 9 0 . Er muß als „Übergangskapitalismus" 97 , d. h. als „sterbender Kapitalismus" 9 8 charakterisiert werden. Die K r i t i k e r der marxistischen Imperialismustheorie haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß die kapitalistischen Länder nur einen geringen Teil ihres Kapitalstocks i n den Kolonien angelegt hatten. So schreibt Walter Sulzbach: „Als das englische Imperium seine 90
Ebd., S. 392. Ebd., S. 423. 92 Ebd., S. 431. 93 Ebd. und passim. 94 W.I.Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. In: Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Band I. Moskau 1946, S. 767 ff. 95 Ebd., S. 870. 96 Ebd., S. 871. 97 Ebd., S. 873. 98 Ebd. 91
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größte Ausdehnimg hatte, sind englische Kapitalien i n großem Umfang i n den Vereinigten Staaten und Argentinien investiert worden. Die englischen Anlagen . . . die i n Kanada, Australien und anderen Dominions gemacht wurden, können unmöglich dahin verstanden werden, daß sie der kolonialen Ausbeutung dienten 99 ." Sulzbach behauptet zu Recht, daß „von den erheblichen deutschen Auslandsanlagen . . . nur ein minimaler Teil i n den damals 30 Jahre alten deutschen Kolonien" 1 0 8 arbeitete. Jean Ganiage weist darauf hin, daß sich der koloniale Handelsverkehr Frankreichs zur Zeit der imperialistischen Hochphase dieses Landes verhältnismäßig gering erhöhte. „De 1882 à 1913, la part du commerce colonial était passée de moins de 7 %> à près de 1 1 % des exportations françaises. Ces progrès méritaient d'être soulignés, mais on pouvait se demander s'ils répondaient au développement d'un empire qui avait décuplé depuis trente ans 101 ." Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die expansionistische Kolonialpolitik der Industriestaaten beflügelte, dann waren es keineswegs ökonomische Überlegungen, sondern die Überzeugung, die Geltung der eigenen Nation gegenüber anderen i m weltpolitischen Konzert stärker zu Gehör zu bringen. Es hieße, den imperialistischen Patriotismus der für die koloniale Expansion verantwortlichen Politiker mißzuverstehen, wollte man wirtschaftliche Überlegungen als ihren ursprünglichen und eigentlichen Beweggrund ansehen. Völlig zu Recht schreibt Wolfgang J. Mommsen: „Vielmehr erweist sich, daß gerade auch i m Bereich des wirtschaftlichen Handelns nichtökonomische Faktoren, insbesondere die nationalistische Empire-Begeisterung der englischen Öffentlichkeit von großer Bedeutung gewesen sind. I n dem nationalistischen K l i m a der achtziger und neunziger Jahre, das i n der Bewegung für ein ,Greater Britain' und für einen engeren Zusammenschluß der weiten Gebiete des British Empire gipfelte, nahm auch die englische Wirtschaft imperialistische Züge an 1 0 2 ." 99 Walter Sulzbach: Imperialismus und Nationalbewußtsein. Frankfurt am Main 1959, S. 209 f. 100 Ebd., S. 210. 101 Jean Ganiage: L'expansion coloniale de la France sous la troisième république (1871—1914). Paris 1968, S. 415. Die französischen Kolonialabenteuer zahlten sich ökonomisch nicht aus. Nur eine falsch informierte Öffentlichkeit bestand auf der Auffassung, daß sich die koloniale Expansion wirtschaftlich lohne. „La thèse de la rentabilité de l'expansion ne fut cependant . . . qu'un mythe. I l se forma, comme il arrive souvent, en dépit des témoignages contraires, sous la pression de l'opinion publique, qui refusa la réalité. Les hommes politiques et les économistes clairvoyants démontraient à la tribune et dans la presse que l'expansion coloniale n'était pas payante. Mais la passion nationaliste des uns et la passion partisane des autres, qui, dans l'opposition, reprochaient aux capitalistes de tirer profit de l'exploitation coloniale, exigeaient le contraire." (Henri Brunschwig : Mythes et réalités de l'impérialisme colonial français 1871—1914. Paris 1960, S. 186.)
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
Michael Hereth zufolge war „die Errichtung des englischen Empire i n den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weniger vom Motiv der Aufrechterhaltung einer ökonomischen Ordnimg . . . als vom Ziel politischer Machtausweitung zum Zwecke der Stabilisierung der internationalen Ordnung" 1 0 3 bestimmt. Das internationale Gleichgewicht schien „durch die neu auftretenden Nationalismen i m Vorderen Orient und i n A f r i k a ernsthaft gefährdet" 104 . Ganz i m Gegensatz zu den panökonomisch argumentierenden marxistischen Imperialismustheoretikern behauptet Hereth, daß „Machtpolitik und strategisch-sicherheitspolitische Interessen . . . einen viel größeren Stellenwert beim britischen Imperialismus gehabt" 1 0 5 haben als ökonomische Antriebsmomente. Die führenden Kreise Englands hätten geopolitisch argumentiert und gehandelt und die Sicherung der Seewege nach Indien über eventuelle ökonomische Nützlichkeitserwägungen gestellt 108 . Was den französischen Imperialismus anlangt, so kommt Henri Brunschwig zum Schluß, daß es zuvörderst nationale und nicht ausschließlich ökonomische Überlegungen waren, die die Kolonialpolitik Frankreichs bestimmten. „C'est dans la poussée de fièvre nationaliste consécutive aux événements de 1870—1871 q u ' i l faut rechercher la vraie cause de l'expansion. La France, qui, depuis 1815, considérait la colonisation comme u n élément important de son prestige national en face de l'Angleterre, se montra plus jalouse encore de ce prestige au lendemain de sa défaite 107 ." Der Zweifel an der Ergiebigkeit der marxistischen Imperialismusanalyse stellt sich auch dann ein, wenn die angeblich bellizistische und imperialistische Einstellung der Unternehmer ins Fadenkreuz der wissenschaftlichen Analyse gerückt wird. Die Marxisten legen die politischen Entscheidungen der Unternehmer i n einem so dogmatischen Horizont aus, daß sie deren Handeln einen antipazifistischen Charakter verleihen. Dies läßt die Frage aufkommen, ob es nicht auch Unternehmer gegeben hat, die an friedlichen Beziehungen zu anderen Nationen interessiert waren und sich gegen koloniale Abenteuer wandten. Richtet man sein Forschungsinteresse ohne dogmatische Scheuklappen auf die politischen Einstellungen und Entscheidungen der Unternehmer der einzelnen Länder, so w i r d man zu der Feststellung gelangen müssen, daß ausgesprochen pazifistische Einstellungen vielen Unternehmern io2 Wolfgang S. 52.
J. Mommsen: Der europäische Imperialismus. Göttingen 1979,
108 Michael Hereth: Als Staaten außer sich gerieten. Kritik an neumodischen Theorien. In: Die Zeit Nr. 26, 23. Juni 1978. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Henri Brunschwig: Mythes et réalités de l'impérialisme colonial français. S. 185 f.
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keineswegs fremd waren. So schreibt der amerikanische Historiker Charles Beard: „The idea of imperial expansion was not a business mans's creation. The principal weight of ,Wall Street* was against the war on Spain i n 1898. American bankers did not originate the movement to force American capital on China under the administration of President Taft; it is truer to say that they were ,dragooned 4 into i t by the politicians . . . Loyalty to the facts of historical record must ascribe the idea of imperialist expansion mainly to naval officers and politicians rather than to business men 1 0 8 ." Ähnlich fragt David Schoenbaum, warum der Stahlkönig Andrew Carnegie nicht für eine imperialistische Politik der USA plädiert und stattdessen jeglicher territorialen Expansion seinen Kampf angesagt hat? Es sei eine historische Tatsache, daß „sich der ,Überkapitalist 4 Carnegie und der ,Papst' der Sozialdarwinisten, Sumner, mit dem literarischen Establishment an der antiimperialistischen F r o n t " 1 0 9 vereinten, um gemeinsam den Imperialismus zu bekämpfen. Sie führten durchaus ökonomische Argumente an, u m ihren Kampf zu legitimieren. Für sie rentierten sich koloniale Abenteuer einfach nicht. Nicht zuletzt wurde die Behauptung, daß allein das kapitalistische Wirtschaftssystem expansionistisch-imperialistische Tendenzen aufweist, von nichtmarxistischen Gelehrten scharf zurückgewiesen. Sie verweisen auf die Tatsache, daß die Staaten schon i n der Antike dies Bestreben hatten, sich auszudehnen. Walter Sulzbach schreibt: „Daß der dynamische Imperialismus . . . das Ergebnis der Interessenlage und Machinationen einer verhältnismäßig neuen Klasse von geschäftlichen Unternehmern sein sollte, ist von vorneherein sehr unwahrscheinlich, da doch die indischen und persischen Könige, Alexander der Große, K a r l der Große, K a r l V. und Napoleon auf die Erweiterung ihrer Territorien ebenso erpicht waren wie die Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts und wie Mussolini und Hitler 1 1 0 ." Gegen die marxistische Imperialismustheorie w i r d auch ins Feld geführt, daß sich auch bei sozialistischen Staaten Expansionsbestrebungen nachweisen lassen. Charles P. Schleicher behauptet: „Both the Soviet Union and Communist China, w i t h socialistic systems, appear to be imperalistic 1 1 1 ." Zu den friedlichsten Staaten der Erde zähle die erz108 Charles A. Beard: A Foreign Policy for America. New York and London 1940, S. 71 f. A n einer anderen Stelle schreibt Beard: „It was a Republican politician, President Taft, not Wall Street bankers, who took the initiative in trying to force American capital into China by direct action on the Chinese government" (ebd., S. 72). 109 David Schoenbaum: Die gesammelten Paradoxien des Imperialismus. Wirtschaftsdeterminismus oder Primat der Politik? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 3. April 1980. 110 Walter Sulzbach: Imperialismus und Nationalbewußtsein. Frankfurt am Main 1959, S. 209.
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kapitalistische Schweiz. „ I t would be difficult to envisage a more peaceful State than capitalistic Switzerland 1 1 2 ." Dagegen sei das ebenfalls kapitalistisch strukturierte nationalsozialistische Dritte Reich ausgesprochen aggressiv gewesen 113 . Was die Vereinigten Staaten anlangt, so haben sie trotz ihrer durchgehend kapitalistischen Grundstruktur isolationistische und imperialistische Phasen ihrer Außenpolitik aufzuweisen 114 . Die panökonomische Überbauinterpretation marxistischer Provenienz findet ihre Grenzen i n dem Umstand, daß sich der Bereich des Politischen kaum vollständig aus dem ökonomischen Unterbau erklären und ableiten läßt. Nichts kennzeichnet das Politische mehr als die Tatsache, daß es eine W i r k k r a f t sui generis besitzt. Es läßt sich nicht auf einen ökonomischen Kern reduzieren, verweigert sich all denjenigen Interpretationsversuchen, die hinter allen politischen Entscheidungen ökonomische Interessen wittern. Es waren nicht zuletzt linke Politologen, die der marxistischen Politikerklärung gegenüber auf dem Primat des Politischen beharrten. So hat Franz Neumann darauf hingewiesen, daß gerade die Machtergreifung der Sowjets den Sieg der Politik über die Ökonomie darstellt. Die Oktoberrevolution ist für i h n nicht mehr und nicht weniger als „der Sieg des politischen Elements" 1 1 5 über die Ökonomie eines „Agrarstaates mit kleinem aber hochkonzentriertem Industriesektor" 1 1 8 . Auch i n der Frühphase der UdSSR hat nicht die Ökonomie die Politik der Sowjetunion bestimmt, sondern die Politik den von ihr dekretierten ökonomischen Unterbau geschaffen. Franz Neumann schreibt: „Die totalitäre Politik sucht sich i n den Vierjahresplänen das ökonomische Element zu schaffen, das die Erhaltung der totalen Politik erst ermöglicht 1 1 7 ." Die „monopolisierte politische Macht" 1 1 8 kreierte das von ihr konzipierte Wirtschaftssystem. „Die totale Politik des Bolschewismus schafft sich ein neues ökonomisches Machtsystem 119 ." Machtübernahme und Herrschaftsausübung der chinesischen Kommunisten stellen ebenfalls augenfällig unter Beweis, wie 111
Charles P. Schleicher: International Relations. Cooperation and Conflict. Englewood Cliffs N.J. 1965, S. 109. 112 Ebd. 113 „On the other hand, a capitalistic Germany was aggressive under National Socialism, but it was certainly no more than other capitalistic states with the restoration of democratic institutions after 1949" (ebd.). 114 Ebd. 115 Franz Neumann: Ökonomie und Politik im Zwanzigsten Jahrhundert. In: Zeitschrift für Politik 2 (1955), S. 8. 118 Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd.
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wenig bei Mao und seinen Schülern der angebliche Primat der Ökonomie politikbestimmend ist. Maos politisches Instrument war seine monolithische Partei. „Mao then proceeded, as Stalin had done, to impose intense doctrinal discipline on the party, mobilize intellectual work i n the direct service of the party, eliminate all expression of individual opinion, and establish unquestionable ideological justification for the party's acts 120 ." Dabei war die chinesische kommunistische Partei entgegen allen marxistischen Lehrsätzen kaum proletarisch bestimmt. N u r zwei von 44 Mitgliedern des Zentralkommittees hatten i m Jahre 1945 eine proletarische Abstammung aufzuweisen 121 . Entscheidend war für die chinesischen Kommunisten die richtige Gesinnung, auf die richtige Abstammung legten sie keinen großen Wert. „The Chinese have never regarded a man's social background as a serious impediment to his reconstruction as a devout Communist 1 2 2 ." Maos Revolution widersprach allen marxistischen Voraussetzungen. „Mao has not only carried out a proletarian revolution without a proletariat; he has waged a class struggle i n large part without a struggle of the classes 123 ." Wenn es auch nicht möglich ist, die Vielfalt aller an der sowjetischen und chinesischen Revolution beteiligten Faktoren genau aufzuschlüsseln, sicher ist doch auch, daß die beiden politischen Ereignisse kaum auf den Primat ökonomischer Antriebskräfte zurückzuführen sind. Zu den entscheidenden Determinanten zählen sicherlich das politische Ingenium von Lenin und Mao. Nicht so sehr die Produktivkräfte bestimmten den Gang der Ereignisse, sondern der Führungswille von Führern, die sich als Machtinstrument eine schlagkräftige Einheitspartei geschaffen hatten. So schreibt C y r i l E. Black: „The victory of Communism i n Russia and China may be regarded as i n no sense inevitable but rather as a largely personal achievement of Lenin and Mao 1 2 4 ." Der Ausgang dieses Politikexperimentes war i n keiner Weise bestimmt. „No general historical interpretation could predict the outcome 126 ." Der Kampf zwischen divergierenden Parteien und Führern verlief durchaus kontingent. Die 120 Robert Vincent Daniels: The Chinese Revolution in Russian Perspective. In: World Politics 13 (1961), S. 215. 121 Ebd., S. 217. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 218. Daß Mao Tse-tung seinen Sozialismus radikal voluntarisierte, hat ihm die Kritik von orthodoxen Marxisten eingetragen. Seine „anarchistischen Tendenzen . . . äußerten sich in der einseitigen Hervorhebung politischer Mittel im Klassenkampf, in der Unterschätzung des ökonomischen Inhalts und der ökonomischen Analyse des Klassenkampfes." (Kritik der theoretischen Auffassung Mao Tse-tungs. Frankfurt am Main 1973, S. 260 (Verlag Marxistische Blätter). 124 cyril E. Black: Political Modernization. In: Kurt London (ed.): Unity and Contradiction New York 1962, S. 5. 125
Ebd.
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K u n s t d e r p o l i t i s c h e n F ü h r u n g entschied, welche P e r s ö n l i c h k e i t u n d welche R i c h t u n g d e n Sieg e r r i n g e n k o n n t e . „ I f a g e n e r a l t r e n d exists, t h e role of p o l i t i c a l l e a d e r s h i p m a y w e l l d e t e r m i n e t h e specific m a n n e r i n w h i c h t h i s t r e n d is i m p l e m e n t e d 1 2 8 . " D a n i e l s zufolge s t e l l e n alle k o m m u n i s t i s c h e n S t a a t e n v o n h e u t e d e n S i e g d e r P o l i t i k ü b e r die Ökonomie u n t e r Beweis. „ I n present-day communism, the political s u p e r s t r u c t u r e is n o t a r e f l e c t i o n of t h e economic base, b u t i t s c r e a t o r ; p o l i t i c a l p o w e r a n d i n s p i r e d w i l l f u l l e a d e r s h i p become t h e p r i m e m o v e r s of h i s t o r y 1 2 7 . " N a c h H e r b e r t J. S p i r o zeichnen sich n i c h t z u l e t z t die p o l i t i s c h e n G e m e i n w e s e n d e r D r i t t e n W e l t d u r c h d e n P r i m a t d e r P o l i t i k ü b e r die Ö k o n o m i e aus. E i n e politische O r d n i m g , d e r e n k o n s t i t u t i v e s P r i n z i p d e r e r k l ä r t e W i l l e d e r S t a a t s f ü h r u n g ist, das S o z i a l p r o d u k t entscheid e n d z u e r h ö h e n u n d die E n t w i c k l u n g a u f D a u e r z u stellen, m u ß d e m U n t e r b a u , d . h . d e m S y s t e m d e r Bedürfnisse, u n z w e i d e u t i g seinen W i l l e n a u f z w i n g e n . „ P o l i t i c s i n t h e d e v e l o p i n g areas is i n t h e m a i n n o t a secondary r e s u l t of economic, social, c u l t u r a l , a n d o t h e r s u b s t a n t i v e d e v e l o p m e n t , o r of m o d e r n i z a t i o n . W h a t has b e e n s t u d i e d as t h e p o l i t i c s of d e v e l o p m e n t s h o u l d i n s t e a d be s t u d i e d as t h e d e v e l o p m e n t of p o l i t i c s 1 2 8 . " 126
Ebd. Robert Vincent Daniels: The Chinese Revolution in Russian Perspektive. In: World Politics 13 (1961), S. 229 f. Nicht zuletzt das nordkoreanische Beispiel zeigt, in wie starkem Maße die politische Wirkkraft eines marxistischen Einparteienstaates in der Lage ist, sich den gewünschten ökonomischen Unterbau zu schaffen. Glenn D. Paige weist darauf hin, daß die politische Führung zunächst eine ökonomische Struktur schuf, die sich durch eine breite Streuung des Bodenbesitzes auszeichnete. „In agriculture, purposive political action first created a highly dispersed system of ownership through a land reform in 1946 which gave ,land to the tiller in perpetuity' (The Rediscovery of Politics. In: J.D.Montgomery and W . J . Siffin [eds.]: Approaches to Development: Politics, Administration and Change. New York 1966, S. 54.) Zwischen 1953 und 1958 zerstörte dann die Staatsführung das private Besitzsystem und zwang alle Bauern, sich den Staatsgütern anzuschließen. Auf diese Weise wurde überdeutlich der Primat der Politik über die Ökonomie demonstriert. „The North Korean case illustrates . . . that it is possible to achieve major socioeconomic changes w i t h dramatic swiftness through purposive political action." (Ebd.) Umgekehrt zeige das südkoreanische Beispiel, wie ein und dieselbe ökonomische Struktur drei verschiedene politische Ordnungen aufweisen könne. „The politics of South Korea . . . seem to support the other side of argument for the theoretical autonomy of politics, i. e. not that politics can bring about major social changes but that substantial changes may take place in the political sphere without the occurences of correspondingly marked changes in the socioeconomic characteristics of a society." (Ebd.) Von April 1960 bis zum M a i 1961 wurde die politische Ordnung Koreas durch die autoritäre Herrschaft Rhees, durch ein parlamentarisches System und durch ein Militärregime geprägt. 128 Herbert J. Spiro: The Primacy of Political Development. In: Africa. The Primacy of Politics. Ed. by Herbert J. Spiro. New York 1966, S. 153. 127
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Beziehen sich die soeben vorgebrachten Einwände gegen den Primat des ökonomischen auf die unmittelbare Gegenwart, so hat Robert Michels insbesondere die deutsche Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts i m Visier, um den marxistischen Interpretationsmodus von Politik und Historie zurückzuweisen. Leuchte man den Prozeß der deutschen Einigung bis i n die Detailstrukturen und ohne dogmatische Befangenheit aus, so komme man kaum u m die Erkenntnis herum, daß auch nichtökonomische, d. h. vor allem genuin politische Faktoren, zur Bildung des deutschen Einheitsstaates beigetragen haben. Sicherlich hätten „wirtschaftliche Wünsche, insbesondere die Sehnsucht nach einem zur Entwicklung eines großen Handels und einer mächtigen Industrie nötigen einheitlichen weiten Zollgebiet, das Bedürfnis, alle dem A u f blühen von Handel und Wandel i m Wege stehenden Schranken der Kleinstaaterei niederzureißen . . ." 1 2 9 eine wichtige Rolle gespielt. Michels weitet seine Überlegungen ins Grundsätzliche, wenn er darauf verweist, „daß das auf vorzugsweise linguistischer Grundlage entstandene Vaterlandsgefühl und die nur sehr lose mit wirtschaftlichen Motiven zusammenhängende A k t i o n des Nationalitätenprinzips ebenfalls i n stärkster Weise" 1 8 0 diese i n Rede stehende Entwicklung bestimmten. Wie sehr sich die marxistische Geschichtsinterpretation ins allzu Konstruierte, Wirklichkeitsfremde verflüchtigt, beweisen auch die historischen Entwicklungen i n anderen europäischen Ländern. Was die Loslösung Belgiens von Holland anlange, so sei die „wirtschaftliche Triebkraft besonders spürbar" 1 3 1 gewesen. „Immerhin hätte sie allein nicht genügt, wäre i h r nicht der Umstand zu Hilfe gekommen, daß das französische oder französisierte Bürgertum der belgischen Provinzen durch sprachlichen und persönlichen Kontakt m i t dem nahen Frankreich einen Teil der liberalen Grundideen der französischen Revolution und der Ä r a Napoleon i n sich aufgenommen hatte, während das abgeschlossene lebende Holland noch ganz überwiegend konservativen Gedankenrichtungen zugetan war 1 3 2 ." Aus diesem Grunde habe sich zwischen den beiden Völkern außer dem wirtschaftlichen Gegensatz ein mentaler herausgebildet. Dieser sei aus der „Geographie sowie der politischen Geschichte" 133 entstanden. 129 Robert Michels: Probleme der Sozialphilosophie. Leipzig und Berlin 1914, S. 193. 130 Ebd. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 193 f. 133 Ebd., S. 194. Michels führt sogar den wirtschaftlichen Niedergang Spaniens auf „die Vertreibung der dortigen Juden" (ebd., S. 194) zurück. Es sei kaum möglich, „die Judenauswanderung aus Spanien oder den Hugenottenzug aus Frankreich als Glieder in der Kette der materialistisch-historischen Phänomene im Marxschen Wortsinne einzureihen" (ebd., S. 197).
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I m Lichte des durch seine Studien über die altgermanische Sozialverfassung gewonnenen Wissenshorizontes geht Max Weber davon aus, daß schon i n der Vorzeit das Politische und Religiöse über die Sphäre der Wirtschaft triumphierte. „Die älteste soziale Differenzierung der germanischen wie der mittelländischen Vorzeit ist . . . vorzugsweise politisch teilweise religiös, nicht aber vorzugsweise ökonomisch bedingt. Die ökonomische Differenzierung muß jedenfalls eher als Folge und Begleiterscheinung, oder . . . als ,Funktion' der ersteren verstanden werden, als umgekehrt 1 3 4 ." Ein augenfälliges Beispiel dafür, wie eindimensional und total der gesamte kulturelle Überbau aus dem Unterbau heraus erklärt wird, bietet die Analyse der deutschen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts durch Georg Lukäcs 1 3 5 . So hat Lukäcs zufolge Nietzsche „für die ganze imperialistische Periode ein methodologisches Modell der indirekten Apologetik des Kapitalismus geschaffen, hat den Weg aufgezeigt, wie man aus einer extrem agnostizistischen Erkenntnistheorie, aus einer Theorie des äußersten Nihilismus ein faszinierendes, farbenprächtiges Symbolreich des imperialistischen Mythos entwickeln kann" 1 3 6 . Dabei reflektieren die Mythen Nietzsches direkt die Strukturen des ökonomischen Unterbaus des 19. Jahrhunderts. „Sie sind Mythen der imperialistischen Bourgeoisie zur Mobilisierung aller Kräfte gegen ihren Hauptfeind. Daß der von Herren und Herde, von Vornehmen und Sklaven ein mythisch-karikaturistisches Gegenbild zum Klassenkampf ist, ist nicht allzu schwer zu dechiffrieren 137 ." Ebenso ist die Konzeption des Übermenschen aus den objektiven Bedürfnissen der Unternehmer abgeleitet, sozialistische Ideologien widerlegen zu können. „Und auch das ist nicht allzu schwer einzusehen, daß der Übermensch dazu entstanden ist, u m die aus der Problematik des kapitalistischen Seins, aus seiner Verzerrung und Verstümmelung der Menschen spontan entsprießende Sehnsucht i n die Geleise des Kapitalismus zurückzuleiten 138 ." I n ähnlicher Weise w i r d Heideggers Existenzialismus auf die Struktur der spätkapitalistischen Gesellschaft zurückgeführt. Heideggers K r i t i k am außengeleiteten Menschen seiner Zeit, am „Man", reflektiere kapitalistische Sozialprobleme. „Diese Bilder sind suggestiv, w e i l sie — auf dem Niveau der Beschreibung — ein echtes und lebenswahres B i l d jener Bewußtseinsre/iexe geben, die die Wirklichkeit des imperialisti134 Max Weber: Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung. I n : Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1924, S. 554. 186 Georg Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft. Berlin 1955. 186 Ebd., S. 316. 187 Ebd. 188 Ebd.
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sehen Kapitalismus i n denen auslöst, welche nicht fähig und gewillt sind, über die Erlebnisse ihres individuellen Daseins . . . i n der Richtung auf ein Erforschen ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Ursache hinauszugehen 189 ." Heideggers Philosophie ist also nicht mehr als der Reflex kapitalistischer Probleme. „Das, was Heidegger beschreibt, ist die subjektiv-bürgerlich-intellektuelle Kehrseite der ökonomischen Kategorien des Kapitalismus, selbstverständlich i n der Form einer radikal idealistischen Subjektivierung und deshalb Verzerrung 1 4 0 ." Sein Denken ist der „seelische Reflex der ökonomisch-sozialen Wirklichkeit" 1 4 1 . Seine Philosophie ist die „Ideologie des Katzenjammers des Individualismus der imperialistischen Periode" 142 . Wie die panökonomische Politikerklärung so geriet auch die panökonomische Kulturanalyse ins Fadenkreuz all derjenigen K r i t i k e r , die die Eigenständigkeit der kulturellen Sphäre gegenüber der ökonomischen betonen. Schon Max Weber hat gegen die ökonomische Ableitung kultureller Phänomene Protest eingelegt. „Die Reduktion auf ökonomische Ursachen allein ist auf keinem Gebiet der Kulturerscheinungen je i n irgend einem Sinne erschöpfend, auch nicht auf demjenigen der »wirtschaftlichen 4 Vorgänge 143 ." Die Grenzen, die einer radikal ökonomischen Kulturanalyse gezogen sind, deuten sich dann besonders augenfällig an, wenn Werke der bildenden Kunst aus dem Wirtschaftlichen erklärt werden. So stelle „die »Erklärung 4 der Sixtinischen Madonna aus den sozial-ökonomischen Grundlagen des Kulturlebens zur Zeit ihrer Entstehung" 1 4 4 eine dogmatische Scheuklappentaktik unter Beweis, die jegliche wirklichkeitsadäquate Erkenntnis a priori verhindere. Wie waghalsig sich der Versuch darstellt, die gesamte Religions- und Geistesgeschichte ökonomisch zu rubrizieren, darauf hat George B u r deau mit kaum zu überbietender Ironie hingewiesen. „ U n d wie soll man nicht . . . feststellen, daß Homer, Plato, Jesus oder der hl. Paulus Scheuklappen angehabt haben mußten, da sie gesungen, philosophiert oder das menschliche Gewissen geformt haben, ohne sich des w i r t schaftlichen Vorganges bewußt zu werden, dessen Werkzeug sie waren 1 4 5 ?" Die marxistische Kulturinterpretation wurde nicht zuletzt Gegenstand der K r i t i k unorthodoxer linker Autoren. Die Wirklichkeit fließe 139
Ebd., S. 398. Ebd., S. 399. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 389. 148 Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. In: Soziologie. Weltgeschichtliche Betrachtungen. Politik. S. 210 f. 144 Ebd., S. 210. 145 Georges Burdeau: Einführung in die politische Wissenschaft. S. 144. 140
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beim marxistischen Theoretiker durch den Filter eines dogmatischen Bewußtseins, das sowohl alle voluntaristischen Momente ausschließe als auch dem ökonomischen Unterbau eine zu bedeutende Wirkkraft beimesse. Z u den scharfsinnigsten linken K r i t i k e r n des Marxismus zählt Gustav Landauer. Er lehnt die marxistische Geschichtsauffassung als ökonomistisch ab 146 . Die Marxisten „behaupten nämlich, entdeckt zu haben, die politischen Zustände, die Religionen, die geistigen Strömungen insgesamt, ihre eigene Lehre und ihr ganzes Agitieren und Politisieren natürlich nicht ausgenommen, seien nur der ideologische Überbau, so eine A r t nachträgliche Doppelgängererscheinung der wirtschaftlichen Zustände und gesellschaftlichen Institutionen und Prozesse" 147 . A u f diese Weise entstehen Landauer zufolge Gedankengänge, die dem Geistigen nur noch epiphänomenalen Charakter beimessen. „Wie viel Geistiges, Seelisches mit dem unabschälbar verwachsen ist, was sie wirtschaftlich und gesellschaftlich nennen, daß vor allem das Wirtschaftsleben nur ein Teil des Gesellschaftlebens ist und daß dieses von den großen und kleinen geistigen Gebilden und Bewegungen des Mitlebens gar nicht zu trennen ist, stört diese Oberflächlichkeit nicht 1 4 8 ." 4. Die Interdependenz ökonomischer und politischer Ordnung im Neoliberalismus Die neoliberalen Autoren ordnen Wirtschaftssystem und politische Ordnung einander i n dem Sinne zu, daß dem Sozialismus die politische Unfreiheit, der Marktwirtschaft die politische Freiheit entspricht. Die politische Freiheit ist engstens mit dem, was die Neoliberalen als w i r t schaftliche Freiheit bezeichnen, verknüpft. „Das demokratisch-liberale Staatssystem (verlangt) seine ökonomische Ergänzung i n der M a r k t wirtschaft, das kollektivistische Wirtschaftssystem jedoch seine politische Ergänzung i m undemokratisch-illiberalen Herrschaftssystem 149 ." Henry C. Simons argumentiert ähnlich, wenn er behauptet: „There is an intimate connection between freedom of enterprise and freedom of discussion 150 ." Die politische Freiheit bedarf also der ökonomischen: „Political liberty can only survive w i t h i n an effectively competitive economic system 151 ." Rüstow zufolge ist die „Wirtschaftsfreiheit die notwendige, die unentbehrliche Grundlage der politischen Freiheit" 1 5 2 . 146
Gustav Landauer: Aufruf zum Sozialismus. Köln 1923. Ebd., S. 36. 148 Ebd. 149 Wilhelm Röpke: Civitas Humana. Erlenbach - Zürich 1946, S. 67. 150 Henry C. Simons: A Positive Program for Laissez-faire. Some Proposals for a Liberal Economic Policy. Chicago 111. 1934, S. 4. 147
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Die Freiheit ist unteilbar. Herrscht sie i n der Wirtschaft, dann bestimmt sie auch die Politik. Fehlt sie i n der Sphäre der Ökonomie, so enträt auch der Staat des liberalen Geistes. „Die ökonomische Diktatur kann auf die Dauer so wenig die politisch-geistige ausschließen, wie umgekehrt die politisch-geistige Diktatur die ökonomische. Es ist eine kaum entschuldbare Naivität zu glauben, daß ein Staat i m Bereich der Wirtschaft total sein kann, ohne es zugleich i m politischen und geistigen Bereich zu sein, und umgekehrt 1 5 8 ." Die Zuordnimg von Liberalismus und Marktwirtschaft einerseits und Planung und Totalitarismus andererseits gehorcht einer Dynamik, über die auch von noch so wohlmeinenden Politikern nicht frei verfügt werden kann. Hier handelt es sich u m „zwangsläufige Interdependenzen, zwangsläufige wechselseitige Zuordnungen und Abhängigkeiten" 1 5 4 . Jeder, der gegen die „totalitäre Staatsform" 1 5 5 ist, muß auch für „Wirtschaftsfreiheit" 1 5 6 sein. N u r ein irregeleiteter politischer Idealismus könne verkennen, daß diesen ausschließlichen Interdependenzen keinerlei Gesetzmäßigkeit zukomme, übersehen, daß Planwirtschaft und politische Freiheit ihrem tiefsten Wesen nach inkommensurabel sind 1 5 7 . So schreibt Hayek: „Wirtschaftliches Kommando ist nicht nur das Kommando über einen Sektor des menschlichen Lebens, der von den übrigen getrennt werden kann; es ist die Herrschaft über die M i t t e l für alle unsere Ziele 1 5 8 . Eucken weist darauf hin, daß „zur Durchführung wissenschaftlicher, literarischer und künstlerischer Pläne meist w i r t schaftliche M i t t e l erforderlich sind, über die die zentralen Planstellen verfügen" 1 5 9 . Eucken gibt ein konkretes Beispiel: „ U m ein Buch zu drucken, muß die zuständige Planstelle das Papier genehmigen. Oder es sind Devisen nötig, um für gewisse Forschungen Apparate und Bücher einzuführen. Stets prüfen die Planstellen die Dringlichkeit des 151
Ebd. Alexander Rüstow: Hede und Antwort, Ludwigsburg o. J. (1963), S. 78. 153 Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. 5. Auflage. Erlenbach - Zürich 1948, S. 147. Bruno Seidel weist darauf hin, daß diese Verbindung von Politik und Ökonomie typisch für die neoliberale Position ist. „Diese Verbindung lag den klassischen nationalökonomischen Theoretikern des englischen Liberalismus wesentlich ferner. Denn innenpolitisch war für sie die wirtschaftliche Freiheit durchaus nicht ohne weiteres mit entsprechend politischer Freiheit identisch" (Industrialismus und Kapitalismus. Meisenheim/Glan 1955, S. 409). 154 Alexander Rüstow: Rede und Antwort. S. 221. 156 Ebd. 156 Ebd. 157 Ebd. 168 F. A. Hayek: Der Weg zur Knechtschaft. Aus dem Englischen. 3. Auflage. Erlenbach - Zürich 1952, S. 123. 159 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Hamburg 1959, S. 92 f. 152
4 J. B. Müller
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Bedarfs; und sie müssen es tun, auch wenn sie es anfänglich nicht wollen. Sie bewerten also die geistige Leistung 1 6 0 ." Für die neoliberalen Autoren gerät i n der geplanten Wirtschaft das kulturell-wissenschaftliche Leben notwendigerweise i n Gefahr, unter die Botmäßigkeit derjenigen zu kommen, die über die Verwendung der ökonomischen M i t t e l verfügen. I m Gegensatz zu Hans Kelsen, der der Auffassung ist, daß „nicht die wirtschaftliche, sondern die geistige Freiheit . . . für die Demokratie wesentlich" 1 6 1 ist, vertreten die Neoliberalen dezidiert die Auffassung, daß es ohne ökonomische Liberalität auch keine politische Freiheit gibt. Die Planwirtschaft führt neoliberaler Auffassung zufolge auch zum Abbau des Rechtsstaates. Während i n diesem Hayek zufolge dafür Sorge getragen wird, den „Ermessensspielraum der Exekutivorgane so klein wie möglich" 1 6 2 zu halten, könne i m planwirtschaftlichen Maßnahmestaat die Verwaltung nach eigenem Gutdünken über das Schicksal der ihr anvertrauten Bürger schalten und walten. Die Planwirtschaft könne sich nicht i m vorhinein „an allgemeine und formelle Normen binden, welche die W i l l k ü r ausschließen" 163 . Die Planwirtschaft gefährdet nicht nur den Rechtsstaat, sondern auch das demokratisch-parlamentarische System. Wirtschaftsplanung und demokratische Kontrolle schließen sich neoliberaler Auffassung zufolge aus. Rüstow schreibt: „Es ist ein Unding, diesem Menschen, der die ganze Machtfülle einer total geplanten Staatswirtschaft i n der Hand hat, und dem die unlösbare Aufgabe ihrer Leitung übertragen ist, wenn man dem auch noch zumuten wollte, demokratische Prinzipien anzuwenden, Abstimmungen zu veranstalten, Gremien zu befragen . . . Das ist völlig unmöglich, es geht j a schon mit Diktatur kaum, geschweige denn mit Diskussion und Demokratie und Abstimmung 1 6 4 ." I n dieser Blickweise erscheint der Totalitarismus stringent an die planwirtschaftliche Ökonomie gebunden, während sich die liberale Politikordnung marktwirtschaftlichen Prinzipien verdankt. Diese Interdependenz gehorcht einer quasi-gesetzmäßigen Notwendigkeit. So heißt es bei Eucken: „ M i t der Gesamtentscheidung für weitgehende Realisierung der Zentralverwaltungswirtschaft ist die Gesamtentscheidung für den Rechtsstaat nicht vereinbar. Hier besteht eine ganz straffe Interdependenz der Ordnungen 165 ." Auch für Alexander Rüstow ist die „ W i r t 160
Ebd., S. 93. Hans Kelsen: Verteidigung der Demokratie. In: Demokratie und Sozialismus. Darmstadt 1964, S. 61. 162 F. A. Hayek: Der Weg zur Knechtschaft. S. 102. 1M Ebd., S. 103. 164 Alexander Rüstow: Wirtschaftsethische Probleme der Sozialen Marktwirtschaft. In: Patrick Boarman (Hrsg.): Der Christ und die soziale Marktwirtschaft. Stuttgart und Köln 1955, S. 59. 185 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 92. 161
4. Neoliberale Analyse des Verhältnisses von Ökonomie und Politik
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schaftsfreiheit die notwendige, die unentbehrliche Grundlage der politischen Freiheit" 1 8 8 . I h m zufolge ist die „Marktwirtschaft das einzige Wirtschaftssystem . . . , das mit demokratischer Freiheit . . . auf die Dauer vereinbar ist" 1 8 7 . M i t gutem Grund weist der Neoliberalismus auf die Freiheitsgefährdung durch die totale Wirtschaftsplanung hin. Seine Repräsentanten behaupten aber darüber hinaus, daß auch der Partialplanung totalitäre Potenzen innewohnen. Da jegliche nicht-marktkonforme Planmaßnahme umfänglichere Eingriffe i n das System der Bedürfnisse nötig mache, sich also wie ein Ölfleck ausbreite, evoziere jegliche Partialplanung naturnotwendig die zentrale Planwirtschaft. Die Herrschaft über die Wirtschaft bedeutet aber auch Kontrolle der politischen Macht. Zur Gefahr für die freiheitliche Ordnung w i r d nicht zuletzt die wohlfahrtsstaatliche Fürsorge. Sie lähme die Eigeninitiative und zwinge auf diese Weise den Staat, den sozialpolitischen Interventionsgrad zu erhöhen. Pathetisch warnt Rüstow: „ U n d wenn i n einer Brave New World jeder Staatsbürger, Frau und K i n d von der Wiege bis zum Grabe gegen jedes nur denkbare Risiko staatlich versichert ist, so befindet sich der Staat zwar i n der Vorleistung; aber früher oder später . . . w i r d er nicht umhin können, die Rechnung zu präsentieren und einzutreiben. Denn da die persönliche Initiative und Selbstverantwortlichkeit so ihren stärksten und letzten Antrieb verliert, so w i r d stattdessen der Staat, wie die Sicherung, so mehr und mehr auch die Initiative, d. h. das K o m mando über das Arbeitsleben jedes Einzelnen übernehmen müssen 188 ." Auch Hayek zufolge führt der moderne Wohlfahrtsstaat notwendigerweise zum „Sozialismus und seinen Zwang anwendenden und i m wesentlichen willkürlichen Methoden" 1 8 9 . Die freiheitsgefährdenden Tendenzen des modernen Wohlfahrtsstaates lassen sich neoliberaler Auffassung zufolge auch i n den USA aufzeigen. Insbesondere der New Deal rückt ins Zentrum eines Interesses, das auf der Suche nach den illiberalen Tendenzen unserer Zeit erwächst. So schreibt Alexander Rüstow: „Auch dieser Weg einer Wirtschaftsordnung, wie sie z. B. zur Zeit noch i n Amerika herrscht, führt über New Deal und dgl. i n seiner letzten Konsequenz . . . teils auf Umwegen, teils mit sehr eleganten Kurven letztendlich nach Moskau 1 7 0 ." Während der 186
Alexander Rüstow: Rede und Antwort. S. 78. Alexander Rüstow: Wirtschaftsethische Probleme der Sozialen M a r k t wirtschaft. S. 58 f. 188 Alexander Rüstow: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus. Bonn Bad Godesberg 1950, S. 97 f. 199 F. A. Hayek: Die Verfassung der Freiheit. Aus dem Englischen. Tübingen 1971, S. 331. 170 Alexander Rüstow: Rede und Antwort. S. 234. 167
4«
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
amerikanische Sozialkonservative Peter Viereck der Auffassung ist, daß der New Deal eine soziale Revolution verhindert hat 1 7 1 , erblickt Rüstow i n diesem Sozialexperiment einen Generalangriff auf die freiheitliche Gesellschaft. Die Grundlage jeglichen Verstehens des New Deal bildet aber i m Kontrapunkt zu Rüstow die Tatsache, daß Präsident F. D. Roosevelt mit seiner Sozialpolitik den Freiheitsgrad vieler amerikanischer Bürger erhöht und damit die liberal-demokratische Politie gestärkt hat. Die Neoliberalen übersehen, daß ökonomische Unsicherheit keimhaft die Gefahr politischer Instabilität enthält. Seymour M a r t i n Lipset weist darauf hin, daß arbeitslose Arbeiter dazu tendieren, kommunistische und faschistische Ordnungskonzeptionen zu akzeptieren 172 , ökonomische Unsicherheit schaffe eine „besondere Empfänglichkeit für extreme chiliastische Ideologien" 173 . Walter Eucken beklagt sicherlich zu Recht, daß i n der jüngsten Vergangenheit „weltanschauliche Heilslehren . . . ganze Völker ergriffen" 1 7 4 haben, übersieht aber, daß eine umfängliche Sozialpolitik zu den wirksamsten Antidota gegen die Attraktionskraft der politischen Eschatologie gehört. I m Neoliberalismus w i r d zu wenig erkannt, daß Rechtsstaat und Sozialstaat 175 zwei gleichberechtigte Prinzipien sind, daß allein deren wechselseitige Verschränkimg die liberale Politik auf Dauer stellt. N u r eine K r i t i k , welche die grundsätzliche Legitimität der modernen Sozialpolitik bejaht, kann auch die Auswüchse des modernen Wohlfahrtsstaates i n Frage stellen. Wenn es stimmte, daß die Erhöhung des sozialpolitischen Interventionsgrades mit der Einschränkung der politischen Freiheit einhergeht, dann müßte auch die Bundesrepublik Deutschland illiberaler sein als das Kaiserreich vor 1918. Wie immer man den politischen Stellenwert der deutschen konstitutionellen Monarchie beurteilt, fest steht, daß die parlamentarische Republik von heute mindestens so viele Freiheitsräume gewährt, wie das Reich, das 1918 untergegangen ist. Der Pluralismusgrad hat sich gegenüber früher eindeutig erhöht. Unsere Gewerbeordnung kennt keine die freien Gewerkschaften diskriminierenden Paragraphen mehr. Das Pluralwahlrecht Preußens gehört seit der Weimarer Republik der Vergangenheit an. Das Wahlrecht der Bundesrepublik ist eindeutig gerechter als das des Kaiserreiches. Der stetige Ausbau des Sozialstaates hat, anstatt die politische Liberalität gradweise abzubauen, das Fundament der liberalen Ordnung verstärkt. 171
S. 259.
Peter
Viereck:
Shame and Glory of the Intellectuals. Boston 1953,
172 Seymour Martin Lipset: Soziologie der Demokratie. Aus dem Amerikanischen. Neuwied am Rhein und Berlin-Spandau 1962, S. 11. 173 Ebd., S. 110. 174 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 24. 176 Vgl. dazu auch T. H. Marshall: Citizenship and Social Class. In: Sociology at the Crossroads and other Essays. London 1963, S. 67 ff.
4. Neoliberale Analyse des Verhältnisses von Ökonomie und Politik
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Darüber hinaus ist auch der Untergang der Weimarer Republik nicht einem Zuviel an Sozialpolitik anzulasten. Die Besinnung auf die U r sachen ihres Untergangs fördert höchstwahrscheinlich auch die Unfähigkeit ihrer Wirtschaftspolitiker zutage, den ökonomischen Wechsellagen fiskalpolitisch begegnen zu können. Eine moderne Vollbeschäftigungspolitik hätte dieses Staatswesen sicherlich eher stabilisiert denn gefährdet. Die strenge Zuordnung von ökonomischer Ordnung und politischem System hat den Neoliberalen zu Recht auch den Vorwurf eingetragen, bei ihrem weltanschaulichen Gegner, dem Marxismus nämlich, ideologische Anleihen gemacht zu haben 176 . Carl Brinkmann bezeichnet die These von der „absoluten gegenseitigen Bedingtheit der politischkulturellen ,Freiheit' und des wirtschaftlichen Konkurrenzsystems" 177 als „Ökonomismus" 1 7 8 . Der Aufstieg des Nationalsozialismus habe seine Ursache nicht so sehr i n der Abkehr vom liberalen Wirtschaftsideal, sondern i n der „unheimlichen Verbindung deutschen Könnens und deutscher Verlorenheit an bloße Theorie und Ordnung" 1 7 9 . Der V o r w u r f des Ökonomismus t r i f f t Autoren, die selber m i t aller Entschiedenheit der ökonomischen bzw. ökonomistischen Politik- und Geschichtsbetrachtung den Kampf angesagt haben 180 . I n wie starkem Maße das antiökonomistische Politdenken den Neoliberalismus letzten Endes doch bestimmt, beweist dessen emphatischer Rekurs auf die Notion des Rechtsstaates. I h m kommt i m neoliberalen Denken zu Recht überzeitliche Würde zu. Walter Eucken schreibt: „Die Idee des Rechtsstaates als Gegensatz zum Zwangsstaat ist eine dauernde . . . Die Formen wechseln, und es gibt verschiedene Typen des Rechtsstaates. Aber er ist ein geschichtlich-universales Phänomen, das überall erscheint, wo mit der 176 Carl Brinkmann: Soziologische Theorie der Revolution. Göttingen 1948, S. 101. Bruno Seidel spricht bei der Beurteilung der neoliberalen Position ebenfalls von „Ökonomismus" (Industrialisierung und Kapitalismus. S. 409). 177 Ebd. 178 Ebd., S. 103. 179 Ebd. Der Aufstieg Hitlers läßt sich auch nicht dadurch erklären, daß man wie Hayek Fichte, Rodbertus und Lassalle zu den „wichtigsten Vorläufern des Nationalsozialismus" rechnet (Der Weg zur Knechtschaft. S. 211 f.). 180 So schreibt Eucken: „Falsch wäre die Ansicht, die Wirtschaftsordnung wäre gleichsam der Unterbau und darauf erhöben sich die Ordnungen der Gesellschaft, des Staates, des Rechtes und andere Ordnungen" (Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 125 f.). Die Geschichte habe gelehrt, „daß auch die staatlichen Ordnungen oder die Rechtsordnungen Einfluß auf die Gestaltung der Wirtschaftsordnung" ausüben (ebd., S. 126). Zwischen dem ökonomischen System und den anderen Ordnungen bestehe eine „wechselseitige Abhängigkeit", die jegliche deterministische Betrachtungsweise als unwissenschaftlich erweise (ebd.). Paläoliberalismus und Marxismus stimmen nach Röpke in ihrer „charakteristischen Überschätzung des rein ökonomischen, die wir als Ökonomismus bezeichnen" überein (Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. S. 49).
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I I . Die Ökonomie als Bestimmungsfaktor der Politik
Realisierung der Freiheit Ernst gemacht w i r d 1 8 1 . " Nicht zuletzt das Postulat eines starken, gruppenunabhängigen Staates beweist das antiökonomistische Denken der Neoliberalen. Der politische Bereich ist neoliberaler Auffassung zufolge grundsätzlich i n der Lage, sich vom ökonomischen zu emanzipieren und als eigenständiger Wirkfaktor gegenüber dem System der Bedürfnisse zu agieren. Die Idee des interessenunabhängigen Marktpolizisten trägt alle Züge einer Politikvorstellung, i n der der ökonomische Bereich i n eine Objektrolle gedrängt wird. Obgleich sich die neoliberale Lehre als ein Gedankenarrangement darstellt, i n dem ökonomistische Bestimmungsmomente existieren, werden diese durch kontrastierende Denkweisen doch so erfolgreich überlagert, daß das neoliberale Gesamtsystem sich als ein Bekenntnis zum Primat der Politik dechiffrieren läßt.
181
Walter
Euchen: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. S. 50.
I I I . Die geopolitische Lage als Determinante politischer Entscheidung „Warum haben die Wissenschaften und Künste, die nach und nach von verschiedenen Völkern bearbeitet und wieder vernachlässigt worden sind, nach und nach fast alle Himmelsgegenden durchwandert?" Helvetius
1. Geopolitik, Politische Geographie u n d Politikwissenschaft D e r „ P o l i t i s c h e n G e o g r a p h i e " 1 u n d d e r „ G e o p o l i t i k " 2 g e h t es h a u p t sächlich u m die Frage, i n w e l c h e r Weise d e r geographische R a u m , d i e geographische D e t e r m i n a n t e ü b e r h a u p t , d e n p o l i t i s c h e n Prozeß b e s t i m m e n b z w . m i t b e s t i m m e n . I n dieser A b h a n d l u n g w i r d d a v o n ausgegangen, daß die b e i d e n B e g r i f f e w e i t g e h e n d i d e n t i s c h s i n d 3 . A u s d i e s e m G r u n d e w i r d f ü r d e r h i n ausschließlich v o n G e o p o l i t i k 4 b z w . g e o p o l i tischen F r a g e s t e l l u n g e n die Rede sein. 1 Walther Vogel zufolge erforscht die „allgemeine politische Geographie . . . die Wechselwirkung zwischen den menschlichen Gemeinschaften, die wir Staaten nennen, und dem Boden, oder richtiger: der Erdoberfläche" (Politische Geographie. Leipzig und Berlin 1922, S. 6 f.). Dabei stehe „die Einwirkung der Erdoberfläche auf die Staaten voran, und man kann es als den eigentlichen Kern der allgemeinen politischen Geographie betrachten, die geographischen Bedingungen der Staatsentwicklung zu erforschen" (ebd., S. 7). 2 Rudolf Kjellön, der Schöpfer des Begriffs Geopolitik, definiert ihn so: „Die Geopolitik ist die Lehre über den Staat als geographischen Organismus oder Erscheinung i m Raum. Als politische Wissenschaft hat sie beständig die staatliche Einheit im Auge" (Der Staat als Lebensform. Zweite Auflage. Leipzig 1917, S. 46). 3 Vgl. dazu auch Otto Maull: Politische Geographie und Geopolitik. I n : Geographischer Anzeiger 27 (1926), S. 245 ff. 4 I n dem Maße, in dem man sich innerhalb der Disziplinen „Politische Geographie" und „Geopolitik" mit den Wechselwirkungen von Raumdaten und politischen Entscheidungen beschäftigte, wurde das Problem diskutiert, welche Rolle diesem Wissenszweig im Rahmen der Politikwissenschaft zukommen soll. Adolf Grabowsky, einer der entscheidenden Anreger und Befürworter der geopolitischen Forschungsrichtung, ordnet die Geopolitik der Politikwissenschaft, die politische Geographie der allgemeinen Geographie zu. Man muß „politische Geographie und Geopolitik unterscheiden, jene ist . . . ein Teil der Geographie, diese ein Teil der Staatswissenschaften, im besonderen der politischen Wissenschaft. Der politische Geograph kommt von der Geographie und gelangt zur Politik, der Geopolitiker kommt von
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I I I . Die geopolitische Interpretation politischer Entscheidungen 2. Deterministische und voluntaristische Geopolitik
Fast alle R e p r ä s e n t a n t e n d e r G e o p o l i t i k gehen d a v o n aus, daß b e i d e r A n a l y s e des h i s t o r i s c h - p o l i t i s c h e n Beziehungsgeflechts verschiedene Bestimmungsfaktoren 5 zu respektieren sind. U n z w e i d e u t i g weist Grab o w s k y d a r a u f h i n , daß n e b e n d e n geographischen E i n f l ü s s e n auch andere F a k t o r e n d i e p o l i t i s c h e n E n t s c h e i d u n g e n b e s t i m m e n . „ N i c h t n u r d e r R a u m b e s t i m m t das Schicksal d e r Staaten. F a n a t i k e r d e r Geop o l i t i k m ö c h t e n a m l i e b s t e n alles a u f die r ä u m l i c h e Seite des Staates abstellen, m ö c h t e n d e n R a u m m ö g l i c h s t als alleinigen Faktor (kursiv v o n m i r ; J. B . M.) d e r G e s c h i c h t s e n t w i c k l u n g g e l t e n lassen 6 ." I m V e r such, die K o m p l e x i t ä t des p o l i t i s c h - h i s t o r i s c h e n Prozesses a u f e i n e n F a k t o r z u r ü c k z u f ü h r e n , d e u t e n sich G r a b o w s k y zufolge die G r e n z e n der Geopolitik und gelangt zur Geographie, bedient sich der Geographie als eines Mittels, um den Staat besser zu begreifen" (Adolf Grabowsky: Staat und Raum, Berlin 1928, S. 18). Dabei faßt Grabowsky die Geopolitik durchaus als Basiswissenschaft der Politik auf. „Erhält die Geopolitik dadurch, daß sie eine politische Wissenschaft ist, erst ihre besondere Färbung, so wird umgekehrt die Politik nicht zum wenigsten gerade durch die Geopolitik erst zur Wissenschaft" (ebd., S. 19). Auf die grundlegende Rolle von politischer Geographie bzw. Geopolitik weist auch K a r l Haushof er hin: „Es wird eine Zeit kommen, die nicht begreift, wie es möglich war, die Politische Geographie als Grundstein (kursiv J. B. Müller) der Ausbildung zur Wissenschaft und Kunst der Politik, der die Geopolitik als Propädeutik dient, zu verkennen" (Karl Haushof er: Nachschrift zu Otto Maull: Politische Geographie und Geopolitik. In: Geographischer Anzeiger 27 (1926), S. 254). Walther Vogel zufolge kann die „politische Geographie" der Politik „gleichfalls als Unterabteilung eingegliedert werden" (Politische Geographie. S. 7). Als derjenige Teil der Politik, der sich mit dem Zusammenhang von Staat und Erdboden befaßt, kann sie auch als Geopolitik bezeichnet werden. — Für den Marxisten K. A. Wittfogel sind die Grenzen zwischen den beiden Wissensfeldern „strittig" (Geopolitik. Geographischer Materialismus und Marxismus. In: Unter dem Banner des Marxismus 3 (1929), S. 21). „Da aber nach der Auffassung des Marxismus die theoretische Analyse . . . mit den daraus zu folgernden Schlüssen ohnehin zusammengehört, und da wir ohnehin beide Seiten der bürgerlichen politisch orientierten Geographie betrachten wollen, so kann uns der Grenzstreit, der nur wegen der methodologischen Unexaktheit und undialektischen Starrheit der Herren Geopolitiker überhaupt existiert, hier völlig gleichgültig sein" (ebd., S. 21 f.). 6 Der Verfasser dieser Abhandlung hat außer Friedrich Ratzel keinen geopolitisch argumentierenden Autor gefunden, der sich dogmatisch auf die Behauptung zurückzog, allein der geographische Wirkfaktor bestimmte das historisch-politische Geschehen. Ratzel zufolge können wirtschaftliche Determinanten und ethnische Faktoren als vermittelnde Kräfte wirken, letzten Endes bestimmt aber doch die Wirkkraft geographischer Faktoren die Politik. „Die meisten Wirkungen der Natur auf das höhere und geistige Leben vollziehen sich z. B. durch das Medium der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, welche ihrerseits auf das innigste miteinander verbunden sind" (Anthropo-Geographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte. Stuttgart 1882, S. 84). Auch ethnische Faktoren „können das Medium werden, durch welches die Natur des Landes mächtige Wirkungen auf die gesamte Nation ausübt" (ebd., S. 82). 8 Adolf Grabowsky: Staat und Raum. S. 20.
2. Deterministische und voluntaristische Geopolitik
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an, die einem zu rigide-naturwissenschaftlich ausgerichteten Forscherbewußtsein i m Bereich der „Kulturwissenschaft" gezogen sind. Auch i m Forschungsprozeß hat sich jene Vielfalt widerzuspiegeln, die sich in der zu analysierenden Wirklichkeit manifestiert. Diese Einsicht breche sich aber erst i n neuerer Zeit Bahn. „Es ist für den ordnenden Geist des Menschen charakteristisch, daß er sofort die geschichtliche Entwicklung auf eine letzte Ursache (kursiv von mir; J. B. M.) zurückzuführen suchte, daß er gleichsam einen Gottersatz begehrte . . . Erst eigentlich i n unseren Tagen beginnt man zu spüren, daß die große Einheit allen Geschehens, die ungeheure Einheit alles Lebendigen ein Aufeinander bezogensein (kursiv von mir; J. B. M.) der verschiedenen Entwicklungsfaktoren bedingt 7 ." Dabei weisen Grabowsky zufolge die einzelnen Wirkfaktoren durchaus verschiedene W i r k k r a f t auf. Als geopolitisch argumentierender Politologe ist er davon überzeugt, daß die Raumbetrachtung der Politik heuristisch wertvoller ist als die radikal ökonomische Sichtweise. „Immerhin darf, auch wenn man alle Übertreibungen beiseite läßt, behauptet werden, daß die räumliche Geschichtsauffassung tiefer hinabsteigt als etwa die materialistische Geschichtsauffassung 8." Ähnlich verweisen Richard Hennig und Leo Körholz auf die Determinationskomplexität des politischen und historischen Geschehens. „Das menschliche Leben und die Beziehungen der menschlichen Gemeinschaft zueinander sind zu vielgestaltig, zu buntscheckig bewegt, als daß ihr Ablauf sich i n starre und seelenlose Formeln einzwängen ließe, von denen keinerlei Abweichungen gestattet sind 9 ." Neben dem geopolitischen Wirkfaktor sind eine Reihe anderer zu respektieren, w i l l man eine wirklichkeitsadäquate Analyse der Realität erreichen. So sind auch die wirtschaftlichen zu berücksichtigen 10 . Darüber hinaus w i r d die Politik auch noch durch andere Determinanten bestimmt. „Dem geschichtlich rückschauenden wie dem unser heutiges politische Geschehen musternden Blick zeigen sich jedoch noch weitere, rein geistige Triebkräfte, die sich den geopolitischen Einflüssen wie den rein w i r t schaftlichen Beweggründen i m staatlichen Geschehen i n sehr bedeutsamer und zuweilen ausschlaggebender (kursiv von mir; J. B. M.) Weise hinzugesellen 11 ." Henning und Körholz führen i n diesem Zusammenhang die Religion an. Das „religiöse Element" 1 2 sei i n „früheren Zeiten 7
Ebd. Ebd., S. 22. 9 Richard Hennig/Leo Körholz: Einführung in die Geopolitik. 5. Auflage. Leipzig und Berlin 1938, S. 164. 10 Ebd., S. 156. 11 Ebd. 12 Ebd. „Ihre stärkste Ausbildung als politischer Faktor von überragender Bedeutung hat die Religion im Papsttum und im Kirchenstaat erfahren" (ebd., S. 157). 8
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I I I . Die geopolitische Interpretation politischer Entscheidungen
oft ein politischer Faktor ersten Ranges" 18 gewesen. Auch die „ w e l t anschauliche Bewegung" bestimme i n entscheidendem Maße den politischen Entscheidimgsprozeß mit. Sie lasse „ i n unseren Tagen immer häufiger politische Kräfte miteinander ringen" 1 4 . Zur einflußreichsten weltanschaulichen Bewegung zählten heute der „Bolschewismus" und der Nationalsozialismus 15 . Z u den „geistigen Strömungen", die das politische Geschehen prägten, gehöre auch das „Nationalbewußtsein" 1 9 . Vom Zeitgeist beflügelt, behaupten die beiden Autoren: „ W i r Deutschen haben es ja i n den letzten fünf Jahren zu unserer Freude und Genugtuung verspürt, wie stark die Gesundheit des Staates durch ein kraftvoll entwickeltes und sorgsam gepflegtes Nationalbewußtsein gefördert werden kann 1 7 ." Nicht zuletzt K a r l Haushof er war es, der eine eindimensionale, monofaktorielle Politikanalyse ablehnte. Er spricht von der „Vielseitigkeit aller biologischen, wirtschaftlichen, technischen, sozialen politischen Dynamik" 1 8 , von den „wirtschaftlichen" und „technischen" 19 Antrieben, die den Politikprozeß mitbestimmen. Unter den „biologischen" Faktoren hebt er besonders den „steigenden, stehenden oder sinkenden Volksdruck" hervor 2 0 . Aus dieser Einsicht heraus erwächst die Warnung Haushofers, die geopolitische Betrachtungsweise nicht als Instrument einer monofaktoriellen Erklärung des politischen Prozesses zu mißbrauchen. „Man darf eben überhaupt nicht vergessen, daß die geopolitische Betrachtungsweise . . . nur etwa ein Viertel der Fragen menschlicher Entwicklung aus erdbestimmten Ursachen ableiten kann, wenn sie den Menschen aus seiner Umwelt erklärt — ganz ohne Berücksichtigung der anderen drei Viertel, die aus seinem und seiner Rasse inneren, seinem sittlichen Willen und dem bewußten zwingenden Gegensatz zu dieser Umwelt erklärt werden müssen 21 ." I n merkwürdigem Gegensatz zu der skeptischen Einsicht i n die vielfaktorielle Natur des Politikprozesses steht die unbekümmerte Behauptung, bei den geopolitischen Einflüssen handele es sich u m quasinaturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten. Die Gesetzesbetrachtung 13
Ebd. Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Karl Haushof er: Weltpolitik von heute. Berlin 1934, S. 15. 19 Ebd., S. 16. 20 Ebd. 21 Karl Haushof er: Einleitung zu James Fairgrieve: Geographie und Weltmacht. Eine Einführung in die Geopolitik. Aus dem Englischen. BerlinGrunewald 1925, S. 6. Wittfogel bemerkt: „Wie Haushofer gerade zu dieser Ziffer kommt, verschweigt er diskret" (Unter dem Banner des Marxismus 3 [1929,] S. 18). 14
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bleibt für viele geopolitische Theoretiker die verbindliche Richtschnur ihrer Anstregungen; kaum ein Autor, der ein wenig probabilistischen Wein i n seine deterministischen Schläuche gösse. Dieser Rekurs auf die Gesetzmäßigkeit des politisch-geographischen Geschehens spiegelt den Versuch der Geopolitiker wider, ihrer Disziplin wissenschaftliche Dignität zu verleihen, den Bereich der Spekulation zu verlassen, u m den festen Boden naturwissenschaftlicher Solidität zu erreichen. Trotz gegenläufiger probabilistischer Ansätze bleibt gerade K a r l Haushofer einer Blickrichtung verpflichtet, die der Geopolitik die Würde einer strengen Naturwissenschaft geben w i l l . Was der Geopolitik ihr Signum gibt, ist ihre unumstrittene Möglichkeit, Gesetzesrelationen aufzuspüren, bestimmten Wirkungen bestimmte Ursachen zuzuordnen. Der Geopolitik obliegt die „gesetzmäßige Erfassung politisch-geographischer Vorgänge" 22 . Sie melde unüberhörbar den Anspruch an, „ m i t greifbaren Tatsachen und erweisbaren Gesetzen" 23 der politischen Führung dienstbar zu sein. Das Motiv für seine dogmatisch-deterministische Haltung ist i n der Ansicht begründet, daß die voluntaristischen Bestimmungsmomente den deterministisch-geopolitischen auf die Dauer unterlegen sind. „Wohl wissen wir, daß der gewaltige Wille des einzelnen großen oder starken Menschen auch Massen und Völker zeitweilig über die Erdbedingungen empor i n andere, als die ursprünglich naturbestimmten Bahnen reißen kann; aber auch die Folge Wirkungen solcher Taten sinken zuletzt doch wieder auf ein mittleres Maß und eine mittlere Leistung i m Verlauf des ganzen geschichtlichen Geschehens zurück, i n dem sich die dauernden, erdgebundenen Züge mit einem beträchtlichen Anteil durchzusetzen pflegen 24 ." Vor allem die geopolitisch orientierten Autoren, die die Raumgröße i n den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, konstatieren einen naturnotwendigen Trieb zur Expansion. Hinter allen raumarmen Staaten stecke ein mehr oder weniger ausgeprägtes Expansionspotential, dessen Aktualisierung mehr oder minder zwangsläufig vonstatten geht. So heißt es unzweideutig bei Rudolf Kjellen: „Lebenskräftige Staaten auf begrenztem Raum gehorchen dem kategorischen politischen Imperativ, ihren Raum durch Kolonisation, Zusammenschluß oder Eroberung verschiedener A r t zu erweitern 2 5 ." Früher habe sich England i n dieser Lage befunden, heute seien Japan und Deutschland diesem expansionistischen Trieb unterworfen 2 8 . Bei dem Versuch, die Grenzen eines Staates aggressiv zu verändern, handele 22 Karl Haushofer: Politische Erdkunde und Geopolitik. In: Freie Wege vergleichender Erdkunde. Erich v. Drygalski zum 60. Geburtstag. München und Berlin 1925, S. 92. 23 Ebd., S. 93. 24 Ebd., S. 90. 25 Rudolf KjelUn: Der Staat als Lebensform. S. 81. 26 Ebd., S. 81 f.
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es sich um keinen „rohen Eroberertrieb", sondern um „ein natürliches, notwendiges Wachstum um der Selbsterhaltung willen" 2 7 . Auch noch so ausgeprägte probabilistische Zweifel an der zwanghaften Natur dieses Expansionsdranges könnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die führenden Politiker letzten Endes als Erfüllungsgehilfen der i n der Raumlage objektiv angelegten Gestaltungskräfte zu agieren haben. „Die Freiheit der Staatsmänner beschränkt sich i m ganzen darauf, einen Ausweg zu ihrer Verwirklichung ausfindig zu machen 28 ." Auch nach Otto Maull liegt dem Expansionsstreben der Staaten eine naturgesetzliche Notwendigkeit zugrunde. „Es gibt keine Raumzelle, die nicht das Bestreben hätte, größer zu werden . . . Denn Raumgewinn bedeutet erhöhte Wirtschafts- und Siedlungsmöglichkeit . . . bedeutet Schutz und Erweiterung des politischen Horizontes 29 ." Ausgesprochen deterministisch argumentieren auch diejenigen Autoren, die den Bewohnern der Gebirge und des Flachlandes bestimmte Bewußtseinsinhalte bzw. politische Attitüden imputieren. Schon Georg Simmel meinte darauf hinweisen zu müssen, daß die Gebirgsbewohner sich durch i h r eigentümliches „Ineinsbringen von Freiheitssinn und Konservatismus, von Sprödigkeit des Verhaltens gegeneinander und leidenschaftlicher A n hänglichkeit an den Boden" 3 0 auszeichnen. Dabei sei „der Konservatismus . . . i n Gebirgstälern sehr einfach aus der Erschwerung des Verkehrs mit der Außenwelt und dem daraus hervorgehenden Mangel an Anregungen zur Veränderung erklärt" 8 1 . Ähnlich behauptet Richard Hennig, daß „das Gebirge . . . trotzige, freiheitsliebende Herrenindividuen und stolze, eigenwillige, hartschädlige Völker von ungebändigtem Unabhängigkeitsdrang" 82 züchte. I m Gebirge lebt nach Hennig „das konservative Element, das zäh, oft eigensinnig die von den Vorfahren überkommene Eigenart wahrt" 8 8 . Typische Repräsentanten dieses Selbständigkeitsdranges der Gebirgsbewohner seien die „Schweizer, die Basken, die Korsen, die Albanier, die Walliser . . . die Tibetanier, Abessinier" 84 . Auch die Staatsform der Gebirgsbewohner bestimmt sich nach den geopolitischen Gesetzen ihrer Landschaft. „ I m Gebirge bilden viele Persönlichkeiten von starkem Eigenwillen eine konservat i v eingestellte Demokratie, wie sie etwa die alten Norweger und Isländer mit ihren Things darstellten und wie sie i n der Gegenwart 27 28 29 30 81 32 88 34
Ebd., S. 82. Ebd. Otto Maull: Politische Geographie. Berlin 1956, S. 34. Georg Simmel: Soziologie. Leipzig 1908, S. 622. Ebd. Richard Hennig: Geopolitik. Leipzig und Berlin 1928, S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 62.
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nirgends charakteristischer ausgeprägt ist als i n der Schweiz 35 ." Die Bewohner der Ebenen dagegen sind unterwürfig, wenig auf ihre Selbständigkeit bedacht. Es sind „oft anpassungsfähige, unterwürfige, mehr auf Handelsvorteil als auf stolze Eigenart bedachte Naturen und Nationen" 3 6 . Sie „setzen sich gegen fremdes Joch nur wenig zur Wehr" und dienen „ w i l l i g jedem Herren" 3 7 . Derart unterwürfige Volkstypen haben hauptsächlich die „unendlichen, schlecht zu verteidigenden Ebenen Rußlands", und die „Ebenen Indiens und Chinas" 3 8 hervorgebracht. Immer schon 39 wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die historische und politische A k t i v i t ä t der Menschen entscheidend auch durch das K l i m a bestimmt wird. I n der frühen Neuzeit haben vor allem Bodin 4 0 , Montesquieu 41 und Herder 4 2 auf den bestimmenden Einfluß des Klimas auf die Staatenwelt hingewiesen. Zu den heute vorgebrachten Standardargumenten der politischen „Klimatologen" gehört, daß sich das politische Hauptgeschehen der Welt i n einer genau bestimmten, vom K l i m a abhängigen Zone abspielt 43 . So heißt es bei Spykman: „Location w i t h reference to the equator w i l l largely determine climate, and the political activity of the world is for the most part centered i n the temperate zones, although where ocean currents or other modifying influences alter the normal climatic conditions, the significance of location w i l l be modified to that extent 4 4 ." Die Weltgeschichte spiele sich innerhalb bestimmter Längengrade ab. „ I n general . . . history is made between the latitudes of 25° and 60°, because very little of the land mass of the southern hemisphere lies between these limits, history is made between 25° und 60° north latitude 4 5 ." 35
Ebd., S. 63. Ebd., S. 62. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Schon im alten Griechenland wurde auf den Einfluß des Klimas auf die Politik hingewiesen. Vgl. dazu Albrecht Burchard : Staat und Klima. Berlin 1928. S. 5 ff. (Weltpolitische Bücherei Band 5); Maurice Duverger : Introduction à la politique. Paris 1964, S. 86 ff. 40 Vgl. dazu J. Bodin: Les Six Livres de la République. Paris 1583, S. 671 ff. 41 Vgl. dazu Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Band 1. Hrsg. von Ernst Forsthoff, Tübingen 1951, S. 311 ff. 42 Vgl. dazu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 7. Buch; über Herder vgl. Martin Schwind: Die geographischen „Grundlagen" der Geschichte bei Herder, Hegel und Toynbee. In: Erdkunde 14 (1960), S. 3 ff. 43 Was die heutige Zeit anlangt, so spricht Gordon Manley von einem „Revival of Climatic Determinism" (The Geographical Review X L I I I [1958], S. 98 ff.). 44 Nicholas J. Spykman: Geography and Foreign Policy, I. In: American Political Science Review 32 (1938), S. 41. 45 Ebd. Vgl. dazu auch die folgende Behauptung Spykmans: „On the European coast, which is warmed by the Gulf stream, states can exist as far 36
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Schon Buckle hat darauf hingewiesen, daß das K l i m a einen entscheidenden Einfluß auf den Nationalcharakter ausübt. Zunächst werde der Arbeitsfleiß der Bewohner eines bestimmten Landes von den k l i m a t i schen Verhältnissen bestimmt. Seiner Ansicht nach „ w i r d die Energie und Regelmäßigkeit der Arbeit gänzlich von dem Einfluß des Klimas abhängen" 46 . Sowohl bei extremer Hitze als auch bei extremer Kälte werde die Arbeitsleistung nachteilig beeinflußt. Es sei augenfällig, „daß die Menschen bei starker Hitze nicht aufgelegt und gewissermaßen unfähig zu der Tätigkeit und zu dem Fleiße sind, welche sie i n einem milderen K l i m a bereitwillig anwenden würden" 4 7 . I n kalten Breitengraden hat „kein Volk . . . jemals den stetigen fortgesetzten Fleiß besessen . . . , wodurch sich die Einwohner der gemäßigten Zone auszeichnen" 48 . Nach Buckle macht es „ i n den nördlichen Gegenden die Strenge des Winters und der teilweise Mangel des Lichts . . . dem Volke unmöglich . . . seine gewöhnliche Beschäftigung i m Freien fortzusetzen" 49 . Da die arbeitenden Klassen i n diesen Breitengraden aus klimatischen Gründen ihre Tätigkeiten reduzieren bzw. einstellen müssen, zeichnen diese sich durch „unordentliche Gewohnheiten" 6 0 aus. Sie „verlieren den Trieb, welchen eine lang fortgesetzte und ununterbrochene Übung unfehlbar einflößt" 6 1 . Zur Physiognomie des Nationalcharakters der i n extremen Klimazonen lebenden Völker gehört eine Bewußtseinshaltung, die „mehr von Eigensinn und Launen hat, als der Charakter eines Volkes, dem sein K l i m a die regelmäßige Ausübung seiner gewöhnlichen Arbeit gestattet" 62 . Die gleichen extremen Klimaverhältnisse bewirken deshalb sowohl i n Schweden und Norwegen als auch i n Spanien und Portugal einen störrisch-eigensinnigen Nationalcharakter. „Es möchte schwer sein, sich eine größre Verschiedenheit i n Regierung, Gesetzen, north as the polar circle, but the mouth of the Amur and the ports of Kamtchatka and Labrador are closed by six months a year" (ebd.). Gegen eine derartige Geschichtsbetrachtung wendet sich Pitirim Sorokin: „To discuss the value of this theory we must agree as to what is meant by the terms tropical and sub-tropical. When climatologists speak of these regions they refer to the area 40° or 45° north latitude to 40° or 45° south latitude. This includes most of the civilizations of ancient times, as well as Japan and the southern portions of the United States. One who knows a little history can hardly agree that these populations are necessarily impotent. I f they are nonvirile at the present time and have been conquered by northern peoples, this lias not always been so and may not continue in the future" (Contemporary Sociological Theories. New York and London 1928, S. 182). 46 Henry Thomas Buckle: Geschichte der Civilisation in England. Vierte Ausgabe. Band I. Leipzig und Heidelberg 1870, S. 38. 47 Ebd., S. 39. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. " Ebd.
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Religion und Sitten vorzustellen als zwischen Schweden und Norwegen einerseits, und Spanien und Portugal andererseits stattfinden. Aber diese vier Länder haben eine große Ähnlichkeit. I n allen vieren ist fortgesetzte Feldarbeit unmöglich. I n den zwei südlichen Ländern w i r d die Arbeit durch die Hitze, durch die Trockenheit des Bodens unterbrochen . . . I n den beiden nördlichen Ländern w i r d die nämliche W i r kung durch die Strenge des Winters und die Kürze der Tage hervorgebracht 53 ." A u f diese Weise zeichnen sich die Bewohner aller vier Länder durch eine „gewisse Unstetigkeit und durch einen gewissen Wankelmut des Charakters" 54 aus. Ellsworth Huntington 5 5 führt insbesondere den deutschen Nationalcharakter auf die Einflüsse des Klimas zurück 56 . „One reason w h y the Germans are among the world's most active people and therefore so serious a problem is that an admirable climate inclines them towards activity 5 7 ." Die deutsche Arbeitsenergie bricht sich insbesondere i n militärischen Leistungen Bahn. „ I t is . . . manifest i n military exercises which provide an outlet for activity, just as do sports i n England and the United States 58 ." Vom günstigen K l i m a profitieren vor allem auch die deutschen Künste und Wissenschaften. Dabei wurde die deutsche Philosophie dazu verführt, einem illegitimen Hyperaktivismus und dem Ideal des Übermenschen das Wort zu reden. „The teachings of men like Nietzsche and the new ,Nordic' religion . . . exalt the superman whose ruthless energy overcomes all obstacles and dominates the world 5 9 ." Diese klimabedingte, macht- und willenszentrierte Philosophie sei vom Nationalsozialismus zur ideologischen Richtschnur erkoren worden. „This is the philosophy of the Junkers, the Nazi party and the ,Aryan' movement. A philosophy of quiet inactivity does not please the Germans 60 ." I m Gegensatz dazu haben die klimatischen Verhältnisse i n Indien zu einem ganz anderen Nationalcharakter geführt. Typisch für die unkriegerische, eher pazifistische A r t der Inder sei die von Gandhi praktizierte Methode des Widerstandes. „Gandhi and ,non-cooperation' illustrate the kind of national philosophy which prevails among people deficient i n physical energy . . . The general inertia arising from low vitality causes the bulk of the Indian people 53
Ebd. Ebd., S. 39 f. 55 Ellsworth Huntington: Mainsprings of Civilization. New York 1945, S. 311. 56 Das Klima wird als „primary factor in national character" bezeichnet (ebd., S. 303). 57 Ebd. 68 Ebd. 59 Ebd. 80 Ebd. 64
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to welcome the idea that passive non-cooperation is their best weapon 61 ." Es sei geradezu undenkbar, daß i n einem günstigeren K l i m a lebende Völker sich dieser passiven Haltung befleißigten. „ I t is almost inconceivable that a well-fed nation i n a stimulating climate should widely accept ideas of this kind 6 2 ." Nach Otto M a u l l haben „Schlechtwetterperioden . . . immer wieder Kriegszügen unerwartete und empfindliche Wendungen gegeben" 68 . Als augenfälliges Beispiel für diese Behauptung führt er das Beispiel des russischen Klimas an. „Der unerbittliche russische Winter, der ,beste General Rußlands', wie man dort gern sagte, hat nicht nur dem napoleonischen Heer den Untergang bereitet 64 ." Der russische Nachschub i m russisch-japanischen Krieg sei durch den Eisschluß des Baikalsees entscheidend begünstigt worden 65 . Darüber hinaus sei „die spanische A r m a d a . . . nicht so sehr durch die Engländer besiegt worden als durch die Stürme der Westwindzone, die um die Britischen Inseln tobten, und das hat den Niedergang der spanischen Weltmacht ausgelöst" 66 . Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die Veränderung des Klimas historische Veränderungen bewirken kann, bietet die holländische Geschichte. So schreibt Richard Hennig: „Holland dankt seine vortreffliche strategische Sicherung seinen zahlreichen Wasserstraßen. Aber als i n dem besonders kalten Winter 1794/95 die Wasserstraßen zufroren, wurde Holland ohne die Möglichkeit eines Widerstandes von den französischen Armeen besetzt und zur ,Batavischen Republik' gemacht, und es konnte das weltgeschichtliche U n i k u m geschehen, daß am 25. Januar bei Texel die i m Eise festsitzende Flotte von feindlicher Kavallerie festgenommen wurde 6 7 !" Z u den entscheidenden Aussagen der politischen Klimalehre gehört auch die Behauptung, die tropischen Länder seien den nichttropischen entscheidend unterlegen. Die gegenwärtige Machtverteilung stelle sich als ein Arrangement dar, das entscheidend von klimatischen Faktoren bestimmt sei. So geht George H. T. Kimble davon aus, daß das Entwicklungstempo der tropischen Länder gravierend hinter dem der i n den gemäßigteren Zonen liegenden Staaten verharre. „ I t seems to me . . . that the tempo of progress i n most of the new tropical countries w i l l continue to be slow — slower than i t is i n most of the older, climatically better-favored countries, and much too slow for the 81 62 83 64 65 66 87
Ebd., S. 313. Ebd. Otto Maull: Politische Geographie. S. 90. Ebd. Ebd. Ebd., S. 91. Richard Hennig: Geopolitik. S. 56.
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l i k i n g of the Nkrumahs and Sukarnos of the world 6 8 ." Das Studium der klimatischen E i n w i r k u n g auf das wirtschaftliche Wachstum der Staaten öffne auch den Blick für die unabwendbare Tatsache, daß diese Ungleichheiten jemals aus der Welt geschafft werden könnten. „Metereologists have so far given us no grounds for believing that these inequalities w i l l ever cease to exist or that the atmospheric scheme of things can be greatly improved upon 6 9 ." Die Unmöglichkeit, die klimatischen Verhältnisse auf dieser Erde zu ändern, führe zu der für die tropischen Länder wenig erfreulichen Einsicht, daß die Machtdistanz zwischen ihnen und den nichttropischen Staaten kaum jemals zu überbrücken sein wird. „Climate has not dealt as favorably w i t h the Middle East, Africa and Asia as it has w i t h E u r o p e . . . As a result, those regions remain power vacuums more than power centers 70 ." Ausgesprochen deterministisch muten auch die Behauptungen derjenigen Autoren an, die entweder die militärische Überlegenheit der Landmacht über die Seemacht oder der Seemacht über die Landmacht behaupten. Das geopolitische Oeuvre des Engländers Mackinder 7 1 ist vom Gedanken her geschrieben, daß eine infrastrukturell hoch entwickelte Landmasse unbesiegbar ist. Er behauptete 1904, daß der Großkontinent Euro-Asien sich zu einer letzten Endes unbesiegbaren Landfestimg entwickeln werde. „Is not the pivot region of the world's politics that vast area of Euro-Asia which is inaccessible to ships, but i n antiquity lay open to the horse-riding nomads, and is to-day about to be covered w i t h a network of railways? There have been and are here the conditions of a mobility of military and economic power of a far-reaching and yet limited character. Russia replaces the Mongol Empire . . . I n the world at large she occupies the central strategic position held by Germany i n Europe. She can strike on all sides and be struck from all sides, save the north. The f u l l development of her modern railway system is merely a matter of time 7 2 ." 1919 wurde die „pivot area" dann als „Heartland" bezeichnet. Dazu kam „Afro-Eurasia", das er „World Island" nannte. Ausgesprochen deterministisch verkündete Mackinder nun: „Who rules East Europe commands the Heartland; Who rules the Heartland commands the World-Island; Who rules 68 George H. T. Kimble: Handicap for New Nations: Climate. In: The New York Times Magazine. 29. September 1963, S. 107. 69 Ebd. 70 Fred A. Sonderman/William C. Olson/David S. McLellan: The Theory and Practice of International Relations. Third Edition. Englewood Cliffs N. J. 1970, S. 93. 71 Den deterministischen Charakter des Mackinderschen Denkens unterstreichen Fred A. Sonderman/William C. Olson / David S. McLellan. 72 H. J. Mackinder: The Geographical Pivot of History. In: The Geographical Journal 23 (1904), S. 434 ff.
5 J. B. Müller
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the World-Island commands the World 7 3 ." Das Herzland war für ihn 1943 identisch mit der Sowjetunion. „For our present purpose it is sufficiently accurate to say that the territory of the U.S.S.R. is equivalent to the Heartland 7 4 ." Er behauptet, daß die Sowjetunion i m Falle ihres Sieges über Deutschland zur größten Landmacht der Erde avancieren würde. „ I f the Soviet Union emerges from the war as conqueror of Germany, she must rank as the greatest land power on the globe 75 ." I m Gegensatz zu denjenigen Autoren, die die unüberwindliche Macht des Festlandes betonen, geht Mahan von der Unbesiegbarkeit des Inselstaates aus. Vor allem die englische Geschichte zeige, i n wie starkem Maße eine Inselmacht ihren Festlandfeinden Paroli bieten könne. Es waren die wirtschaftlichen Leistungen Englands, die den Aufbau einer großen Flotte begünstigten, und es waren die militärischen Leistungen dieser Flotte, die die Kraft der Nation stärkten. „Ungeachtet der unleugbaren Leiden weiter Schichten des Volkes stiegen Jahr für Jahr die Staatseinnahmen. Schiffahrt und Handel blühten mehr und mehr auf Grund des fortschreitenden Übergewichts Englands zur See. Dazu kamen die glänzenden Seesiege, welche die Begeisterung der Nation immer wieder anfachten und durch welche die Spannfedern des Selbstvertrauens und der Zähigkeit erhalten blieben 76 ." Napoleon sei nicht durch gewöhnliche militärische M i t t e l besiegt worden. Es sei vornehmlich der Insellage Englands und seiner Seemacht zu verdanken, daß der französische Imperator i n seine Schranken verwiesen werden konnte. „Nicht durch große Unternehmungen zu Lande, sondern durch Beherrschung der Meere gewann England seinen endgültigen T r i umph 7 7 ." Englands Vorzug vor Frankreich und Holland habe letzten Endes darin bestanden, keine Landmacht gewesen zu sein. „ E i n Volk, das wegen seiner Insellage keine Landgrenzen hat, ist schon von Natur vor den Ländern i m Vorteil, welche auch Landgrenzen haben 78 ." Die 73
H. J. Mackinder: Democratic Ideals and Reality. New York 1943, S. 150. Haiford J. Mackinder: The Round World and the Winning of the Peace. In: Foreign Affairs 21 (1943), S. 598. 75 Ebd., S. 601. 76 A. T. Mahan: Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte 1660—1812. Aus dem Amerikanischen. Herford 1967, S. 245. 77 Ebd., S. 246. 78 Ebd., S. 23. I n wie starkem Maße die Seemacht England in der Lage war, auf Grund ihrer geographischen Position ihre dominierende Stellung zu behaupten, stellen auch Harold und Margaret Sprout unter Beweis. „By the end of the Napoleonic Wars (1815) the British Navy had demonstrated its ability to drive enemy fleets and merchant shipping from the open seas, to cover the movement of British armies to oversea battlefields, to maintain the flow of essential supplies into Britain, and to prevent invasion both of the British Isles and of Britain's widely scattered colonies" (Harold and Margaret Sprout: Foundations of International Politics. Princeton N. J. 1962, S. 321). 74
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Kraft Hollands sei sehr schnell durch die Notwendigkeit erschöpft worden, eine große Armee gegen die Bedrohung vom Lande her unterhalten zu müssen. Frankreichs Politik habe ständig zwischen Seeunternehmungen und Landeroberungen hin- und hergeschwankt. Daraus resultierte eine Schwächung seiner militärischen Anstrengungen 79 . Die Repräsentanten des geographischen Determinismus wenden sich auch gegen die Behauptung, daß der Mensch sich mit zunehmender Entwicklung seiner K u l t u r aus den Zwängen der Natur zu befreien i n der Lage ist. Friedrich Ratzel zufolge ist es „sicherlich eine irrige Auffassung, wenn man sagt, die Völker lösen sich immer mehr von der Natur los, die ihre Unterlage und Umgebung bildet" 8 0 . Der K u l t u r fortschritt stärkt die Abhängigkeit von der Natur, statt sie zu lockern. „Die K u l t u r ist Naturfreiheit nicht i m Sinne der völligen Loslösung, sondern i n demjenigen der vielfältigen weiteren und breiteren Verbindung 8 1 ." Ratzel transferiert diese Einsicht i n die Behauptung, daß sich die zunehmende Abhängigkeit von der Natur mit gesetzesmäßiger Folgerichtigkeit entwickele. „Es läßt sich als eine Regel bezeichnen, daß ein großer Teil des Kulturfortschrittes i n derselben Richtung, nämlich der einer eindringenderen Ausnützung der natürlichen Gegebenheiten sich bewegt und daß i n diesem Sinne dieser Fortschritt innigere Beziehungen zwischen Volk und Land entwickelt 8 2 ." Die K u l t u r von England, Belgien und Deutschland sei heute viel mehr als vor 100 Jahren von den Kohle- und Eisenvorkommen dieser Länder abhängig. Auf diese Weise sei sie nun verstärkt den Imperativen der Natur ausgeliefert 88 . Die Besinnung darauf, wie eine auch skeptischen Analytikern standhaltende politische Geographie zu formulieren sei, hat nicht wenige Vertreter dieses Wissenschaftszweiges veranlaßt, den geographischen Determinismus aufzugeben. Sie bezeichnen sich als „geographische Probabilisten". Dabei entfalten sie die Fragestellung ihrer Disziplin i n einem Horizonte, der zutiefst von der Skepsis darüber bestimmt ist, i m geographischen Bereich wissenschaftlich stringente Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. I m Gegensatz zu den Deterministen weisen die Probabilisten darauf hin 8 4 , daß das geographische Milieu den Menschen nicht 79
Ebd., S. 23. Friedrich Ratzel: Anthropo-Geographie. Stuttgart 1882, S. 86. 81 Ebd., S. 87. 82 Ebd., S. 86. 83 Ebd. 84 George Tatham zufolge haben die geographischen Possibilisten oft eine historische Ausbildung hinter sich gebracht. Auf diese Weise seien sie gegen eine allzu naturwissenschaftliche Denkweise immunisiert worden (Environmentalism and Possibilism). In: Griffith Taylor (ed.): Geography in the Twentieth Century. London 1951, S. 151. 80
5*
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durchgehend bestimme. Die nüchterne Realitätserfahrung führt bei ihnen, anstatt i n einem Bekenntnis zum Determinismus zu münden, zur Anerkennung der menschlichen Entscheidungsfreiheit. „For them the pattern of human activity on the earth's surface is the result of the initiative and mobility of man operating w i t h i n a frame of natural forces. Without denying the limits every environment sets to man's ambition, they emphasize the scope of man's action rather than these limits 8 5 ." Ähnlich argumentiert der französische Geograph Lucien Febvre: „L'homme est i m agent géographique-non le moindre. I l contribue à revêtir, suivant les lieux, la physionomie de la terre . . . Depuis des siècles et des siècles, par son labeur accumulé, par la hardiesse et la décision de ses initiatives, i l nous apparaît comme un des plus puissants artisans de la modification des surfaces terrestres . . . Et cette action de l'homme sur le milieu, c'est cela même qui de l'homme appartient à la géographie 88 ." Vidal de la Blache zufolge zwingt der Mensch die Natur i n seinen Dienst. „Ce n'est pas seulement à la faveur des agents inorganiques que se produit Taction transformatrice de l'homme; i l ne se contente pas de mettre à profit, avec sa charrue, les matériaux de décomposition du sous-sol; d'utiliser les chutes d'eau, la force de pesanteur accrue par les inégalités du relief; i l collabore avec toutes ces énergies vivantes qui se groupent et s'associent suivant les conditions de milieu. I l entre dans le jeu de la nature 8 7 ." Der geographische Probabilismus w i r d nicht zuletzt deswegen gegen den geographischen Determinismus ins Feld geführt, weil das menschliche Wissen über die Erde dem historischen Wandel unterliegt. Weit davon entfernt, eine für alle Zeiten feststehende Größe darzustellen, bestimmt sich das geographische Wissen Isaiah Bowman 8 8 zufolge durch die Fortschritte der Geographie 89 . „The appearances, possibilities, and uses of the earth, that is, so-called ,earth facts', change w i t h changes i n the knowledge and thought of mankind as influenced by the advance of science i n general and by experimentation of view 9 0 ." Der überkommene Determinismus verliere 85
Ebd. Lucien Febvre: La terre et l'évolution humaine. Introduction géographique à l'histoire. Paris 1970, S. 75. 87 P. Vidal de la Blache : Principes de géographie humaine. Paris 1922, S. 13. 88 Er war „Director of the American Geographical Society". 89 „ Geography is only in part »objective science' . . . There are items of knowledge employed in geographical thought which may be treated scientifically in a strict sense. That is to say, their occurence and behavior conform to physical laws. For example the movement of the tides can be and have been calculated and treated as sequences of movement (high and low water)that conform to rules" (Geography in Relation to the Social Sciences. New York 1934, S. 224). 90 Isaiah Bowman: Geography in Relation to the Social Sciences. S. 224 f. 86
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i n dem Maße seine legitimatorische Basis, i n dem den Geographen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zuwachsen. „New earth facts are continually being discovered and old earth facts given new significance as human knowledge, thought and social action develop 91 ." Ähnlich hält Gaetano Mosca dafür, daß sich die Bedeutung der geographischen und klimatischen Faktoren für die Lebensumstände des Menschen i n dem Maße verringeren, i n dem sich das kulturelle Niveau des Homo sapiens erhöht. „Unbestreitbar sinkt . . . die Bedeutung des Klimas für die Lebensform und insbesondere für die politische Struktur eines Volkes mit dem Kulturfortschritt 9 2 ." I m Gegensatz zu den Pflanzen und Tieren 9 3 verfüge der „Mensch über so viele Hilfsmittel, daß er vom Wechsel des Klimas nur wenig betroffen wird, und noch immer vermehrt und vervollkommnet er seine Hilfsmittel von Tag zu Tag" 9 4 . Die ersten Hochkulturen seien da entstanden, „ w o die Natur die größten Möglichkeiten gewährte und die wenigsten Hindernisse bot; sie blühten i n weiten Tälern mit einem ziemlich warmen K l i m a und guter Bewässerung, wo irgendeine A r t Getreidebau leicht war" 9 5 . Die Geschichte zeige, die „frühesten Kulturen i n den Tälern des Nil, des Euphrat, des Ganges, des Indus, des Hoang-ho und auf dem Hochland von Anahuac, . . . die alle eben die genannten physischen Bedingungen aufweisen" 98 . Habe dagegen der Mensch gelernt, „seine Kräfte zur Zähmung der Natur i n einem besonders günstigen Gebiet zu verwenden, dann kann er auch zu ihrer Bezwingung an Orten fortschreiten, wo sie sich widerspenstiger zeigt" 9 7 . Heute sei „die ganze Erde, mit Ausnahme der Polargebiete, vielleicht gewisser Äquatorialgebiete und einiger Wüsten- und Malariagebiete, als Siedlungsgebiet zivilisierter Bevölkerung geeignet oder kann es werden" 9 8 . M i t Nachdruck wendet sich deshalb Mosca gegen die Behauptung, daß die Existenz liberaler politischer Institutionen von klimatischen Bedingungen abhänge. Vorbildliche d. h. freiheitsgewährende politische Regime habe es i n kaltem wie auch i n sehr mildem K l i m a gegeben 99 . Sie finden sich heute „glei91
Ebd., S. 225. Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft. Aus dem Italienischen. München 1950, S. 18. 93 „Die Pflanzenwelt ist den atmosphärischen und geologischen Bedingungen am meisten ausgesetzt, da Pflanzen, außer in Treibhäusern, fast keine Mittel des Widerstandes gegen äußere Einflüsse besitzen. Tiere sind etwas besser gestellt, da sie über Mittel der Verteidigung und der Gegenwirkung verfügen" (ebd.). 94 Ebd. 96 Ebd. 96 Ebd., S. 19. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 22. 92
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chermaßen i n Nord- und Südeuropa, und außerhalb Europas" 100 , und sie funktionieren „ebenso gut i m kalten Kanada wie i m Kapland, wo das Klima, wenn schon nicht heiß, so doch sehr milde ist" 1 0 1 . Überhaupt habe sich die konstitutionelle Regierungsform „ursprünglich nicht weniger kraftvoll i n Aragonien, Kastilien und Sizilien als i m nebligen England" 1 0 2 entfaltet. Daß das heiße K l i m a antidespotische Verfassungen kenne, beweise auch das Beispiel Sizilien. „Wäre Montesquieu auf seinen Reisen ein wenig weiter nach Süden gekommen, dann hätte er i n Sizilien eine Verfassung gefunden, die die königliche Gewalt zu seiner Zeit viel stärker einschränkte als die französische 103 ."
3. Die Geopolitik im Spannungsfeld politischer Ordnungsvorstellungen Die geopolitische Analyse der Politik wurde sowohl i n einem rechten und linken, i n einem konservativen und progressiven Horizonte angesiedelt. Für Adolf Grabowsky gibt sie sich eindeutig als eine Sichtweise zu erkennen, die von antiindividualistischen und antirationalistischen Strukturprinzipien bestimmt ist. „ Z u den Gegenkräften des Individualismus und des Rationalismus gehört . . . auch die Besinnung auf den Wert des Raumes für das Schicksal der Menschheit, insbesondere für das Schicksal der Staaten, also der höchsten sozialen Bindungen 1 0 4 ." Da das Wesen der Neuzeit in einer „immer größer werdenden Herrschaft der Vernunft" 1 0 5 liege, bedeute der Siegeszug der geopolitischen Politikanalyse zugleich eine Kampfansage an die Staats- und Politiklehre der Gegenwart. Ähnlich plädiert Rudolf Kjellén dafür, den „Rationalismus des vergangenen Jahrhunderts . . . i m Namen des Fortschritts aus unserer Staatslehre und unserer Staatspraxis" 106 hinauszufegen. Während der Staat sich für den lebensfremden Rationalismus als recht- und vernunftbestimmt zu erkennen gebe, mache der geopolitische Blick hauptsächlich interessenbestimmte Wirkkräfte aus. Z u ihnen zählen beispielsweise der außenpolitische Expansionsdrang 107 . Viele Vertreter der Geopolitik haben sich für politische Programme ausgesprochen, die auch von rechten bzw. extrem rechten Parteien 100 101 102 103 104 105 106 107
Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22. Ebd. Adolf Grabowsky: Staat und Raum. S. 11. Ebd., S. 10. Rudolf Kjellen: Der Staat als Lebensform. S. 225. Ebd.
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und Gruppierungen propagiert wurden. I n der Geopolitik begegnet uns ohne Zweifel jene Variante der politischen Ideologie, die besonderen Wert auf die außenpolitische Macht des Staates, seine Expansionsnotwendigkeiten legt. Es ist zum Beispiel einer der bedeutendsten Züge des Ratzeischen Oeuvres, daß er dem Gedanken der kolonialen Expansion einen ausgesprochen breiten Raum gewährt. Bei i h m ist der A n schluß an eine Denkweise gefunden, die für das Deutsche Reich mehr „Ellbogenraum" forderte. „Ratzel hatte sich entschieden für eine koloniale Expansion und wider die ,Reichsnörgler' ausgesprochen und gehörte selbst allen einschlägigen Interessenverbänden an. Es wäre einfach töricht, die Indienstnahme der geographischen Forschung durch den Kolonialismus heute noch leugnen zu wollen 1 0 8 ." Insbesondere seine „anthropogeographischen Theorien vom Lebensraum vermochten dem kolonialen Streben eine weit faszinierendere Begründung zu geben als alles volkswirtschaftliche Bilanzieren" 1 0 9 . Für Karlheinz Filipp ist es klar, daß Ratzels politische Geographie „aus der expansiven Sicht des Bismarck-Reiches konzipiert ist, für das Ratzel gewissermaßen als politisch-geographischer Kommentar zum zweiten Flottengesetz von 1900 eine Darstellung . . . schrieb" 110 . I n diesem Zusammenhang muß auch die Frage aufgeworfen werden, i n welcher Weise Ratzels „Politische Geographie" den raumexpansionistischen Forderungen des Nationalsozialismus Vorschub geleistet hat. Alle Versuche, Ratzel i n die geistige Nähe des Nationalsozialismus zu rücken, scheitern an der Tatsache, daß der deutsche Geograph i m Gegensatz zu H i t l e r 1 1 1 die Auswanderung empfohlen hatte 1 1 2 . 108 Johann Michael Möller: Die blauen Augen der Geographie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 245. 22. Oktober 1982, S. 11. 109 Ebd. 110 Karlheinz Filipp: Politischer Geographieunterricht. Eine Traditionsauslegung als Beitrag zur Geographiedidaktik. In: aus politik und Zeitgeschichte B 32/78. 12. August 1978, S. 6. Die in Rede stehende „Darstellung" trägt den Titel: Das Meer als Quelle der Völkergröße. München und Leipzig 1900. 111 Unmißverständlich schreibt Adolf Hitler: „Nur ein genügend großer Raum auf dieser Erde sichert einem Volke die Freiheit des Daseins" (Mein Kampf. 220./224. Auflage, München 1936, S. 728). Die nationalsozialistische Bewegung müsse „ohne Rücksicht auf ,Traditionen' und Vorurteile den M u t finden, unser Volk und seine Kraft zu sammeln zum Vormarsch auf jener Straße, die aus der heutigen Beengtheit des Lebensraumes dieses Volk hinausführt zu neuem Grund und Boden und damit auch für immer von der Gefahr befreit, auf dieser Erde zu vergehen oder als Sklavenvolk die Dienste anderer besorgen zu müssen" (ebd., S. 732). I n Hitlers „Zweitem Buch" heißt es ähnlich: „Die größten militärpolitischen Taten unseres Volkes hatten es nicht vermocht, dem deutschen Volke eine Grenze zu geben, innerhalb deren es sich selbst hätte zu ernähren vermocht" (Hitler's Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928. Stuttgart 1961, S. 163). Aus diesem Grunde müsse sich Deutschland entschließen, „zu einer klaren weitschauenden Raumpolitik überzugehen" (ebd.). Damit wendet es sich „von allen weltindustriellen und welthandelspolitischen Versuchen ab und konzentriert statt
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I m Kontrapunkt zu Ratzel wurde Haushofer immer wieder mit dem Nationalsozialismus i n Verbindung gebracht. So spricht der holländische Geograph Reilingh vom „bedauerlichen Anteil, den die deutsche Vorkriegsgeographie durch Männer wie Haushofer . . . und andere mit der von ihnen geschaffenen Geopolitik am Emporwachsen der nationalsozialistischen Flutwelle genommen hat" 1 1 3 . Hans-Ulrich Wehler zufolge hat er wesentlichen A n t e i l am Aufstieg des Nationalsozialismus. „Haushofer fand frühzeitig Kontakt zum Nationalsozialismus und erlebte mit Genugtuung, daß seine Gedanken, z. B. auch seine spezifische Vorstellung vom deutschen »Lebensraum' mit all ihren expansionistischen Konnotationen, i n das wüste ideologische Konglomerat der nationalsozialistischen Zielvorstellungen und Denkfiguren aufgenommen wurden 1 1 4 ." Harold und Margaret Sprout sind der Ansicht, daß Haushofer i m Horizont der Mackinderschen Herzlandthese die Expansionskriege Hitlers entworfen hat. „Mackinder became i n the 1920's and 1930's a part of the intellectual apparatus by which Haushofer and others blueprinted the strategy of aggression and conquest which Hitler carried so far towards execution 115 ." Hans-Adolf Jacobsen zufolge trägt das Haushofersche Oeuvre alle Züge einer Politikinterpretation, die den Aufstieg des Nationalsozialismus erleichtert und seine Herrschaftsausübung legitimiert hat. „Wie immer das künftige Urteil über den Geopolitiker ausfallen mag, unbestreitbar bleibt die Erkenntnis, daß K a r l Haushofer durch seine unablässigen Kampfparolen dazu beigetragen hat, den Boden geistig für den Aufstieg des NS-Systems aufzubereiten und die Glaubwürdigkeit desselben zu fördern. Von dieser moralischen Mitschuld w i r d ihn die Geschichte wohl kaum freisprechen können 1 1 8 ." dessen alle seine Kräfte, um unserem Volke durch die Zuweisung eines genügenden Lebensraumes für die nächsten 100 Jahre auch einen Lebensweg vorzuzeichnen. Da dieser Raum nur im Osten liegen kann, tritt auch die Verpflichtung zu einer Seemacht in den Hintergrund" (ebd.). 112 „Ein Volk kann auf einem Boden nicht über eine beschränkte Größe hinauswachsen. W i l l es größer werden, so muß es neuen Boden suchen, und damit ist die Auswanderung gegeben, die politisch das Überfließen eigener Bevölkerung auf anderen Boden ist" (Politische Geographie. München und Leipzig 1897, S. 395. Vgl. dazu Axel Kuhn: Hitlers außenpolitisches Programm. Stuttgart 1970, S. 115 f.). 118 ff. D. de Vries Reilingh: Kommt die deutsche Geopolitik wieder hoch? I n : Tijdschrift van het koninklijk Nederlands Aardrijkskundigi Genootschaap 1957, S. 485. Vgl. dazu G. R. Crone: A German View of Geopolitics. In: Geographical Journal 112 (1948), S. 106. 114 Hans-Ulrich Wehler: Vom Unsinn geostrategischer Konstanten. Oder „Deutschland verkeilt in der Mittellage". In: Der Monat Nr. 284, Juli 1982, S. 64. Ähnlich schreibt Cyrill Falls: „As developed by the Nazis, geopolitics is a bogus science. I t was used as a justification for absurd racial theories, for naked aggression, for the notorious doctrine of Lebensraum" (Geography and War Strategy. In: Geographical Journal 112 (1948), S. 5). 115 Harold and Margaret Sprout: Foundations of International Politics S. 335.
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Auch wenn die These vom »„Mißbrauch der Geopolitik 4 durch die NSFührung . . . korrigiert werden" 1 1 7 müsse, auch wenn die prorussische Haltung des Generals dem „Ostraumprogramm der Nationalsozialisten fundamental" 1 1 8 widersprochen habe, so sei er doch mit vielen seiner Topoi i n gefährliche ideologische Nähe zum Nationalsozialismus geraten. Dagegen weist Fochler-Hauke darauf hin, daß sich Hitlers Außenpolitik kaum auf Haushofers Ordnungskonzeption stützen konnte. „Unberufene, die sich auf ihn (d. h. Haushofer; J. B. M.) stützten, haben aus Anlaß der Feldzüge Hitlers Verkehrs- und Waffentechnik i n einer Weise mit dem Raum i n Beziehung gesetzt, die jede echte Kenntnis i n der Beurteilung geographischer Fakten vermissen ließ und z. B. für die Bewältigung des riesigen osteuropäischen Tieflandes unter den damals gegebenen Umständen keine ernsthaften Hindernisse sah 1 1 9 ." Linke Autoren haben dagegen den „progressiven", aufklärerischen Charakter der geopolitischen Analyse i n den Blick gerückt. Georg Engelbert Graf weist auf den entscheidenden Einfluß hin, der der politischen Geographie bei der Ausformung des historischen Materialismus zukommt. „Denn sicher hat die geographische Wissenschaft einen erheblichen Anteil an der Entstehung der materialistischen Geschichtsauffassung. Menschliche Daseinsweisen, Kulturzustände . . . auf räumliche Ursachen zurückzuführen, derartige Versuche und teilweise auffallend gut gelungene Versuche liegen zahlreich aus vormarxistischer Zeit vor 1 2 0 ." Der geopolitischen Betrachtungsweise kommt Graf zufolge das Verdienst zu, „der eigentlich wissenschaftlichen, der kausalen Erklärung" 1 2 1 den Weg geebnet zu haben. I m Gegensatz zu Grabowsky und Graf ist die geopolitische Betrachtungsweise Günter Heyden zufolge sowohl von progressivem als auch reaktionärem Geist bestimmt. Die Berücksichtigung geographischer Faktoren bei der Politikanalyse stand zunächst i m Horizonte einer fortschrittlichen Weltbetrachtung. „Die Herausbildung des geographischen Determinismus war theoretisch zunächst ein Fortschritt, weil hier zum ersten Male versucht wurde, die natürlichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens zu erforschen und ihre Rolle darzulegen, w e i l hier versucht wurde, eine natürliche, 116 Hans-Adolf Jacobsen: K a r l Haushofer — Leben und Werk — Band I. Boppard am Rhein 1979, S. 464. 117 Ebd., S. 461. 118 Ebd. S. 460. 119 Gustav Fochler-Hauke: Geopolitik. In: Allgemeine Geographie. Hrsg. von Gustav Fochler-Hauke. Frankfurt am M a i n 1959, S. 132 (Das Fischer Lexikon 14). 120 Georg Engelbert Graf: Geographie und materialistische Geschichtsauffassung. In: Neuland des historischen Materialismus. Abteiig. I V des Sammelwerkes „Der lebendige Marxismus". Herausgegeben anläßlich des 70. Geburtstages von K a r l Kautsky von O. Jenssen. Jena o. J., S. 565 f. 121 Ebd., S. 566.
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materialistische Darstellung geschichtlicher und gesellschaftlicher Erscheinungen zu geben 122 ." Die geographische Analyse der Politik stand darüber hinaus i m Dienste der sozial fortschrittlichen Klassen. Sie diente dem Bürgertum dazu, die politische und soziale Position des Adels zu bekämpfen. Günter Heyden bezeichnet sie „als geistige Waffe der jungen aufstrebenden Bourgeoisie gegen den reaktionären Feudalismus" 1 2 3 . Der sozialen Funktion des geographischen Determinismus komme aber i n dem Maße eine reaktionäre Qualität zu, i n dem sich die Bourgeoisie gegen die Arbeiterschaft richtet. Er w i r d nun von der „politisch herrschenden Bourgeoisie als Waffe zur Unterdrückung der jungen aufstrebenden Arbeiterklasse" 1 2 4 verwendet. K a r l August W i t t fogel zufolge ist der Blickwinkel der Geopolitik auf die Frage gerichtet, wie der Herrschaft der spätkapitalistischen Bourgeoisie eine legitimatorische Grundlage verliehen werden kann. Sie entspreche auf diese Weise den Erwartungshaltungen einer Schicht, die vom Ansturm des internen und externen Proletariats gefährdet sei. „Nach dem Zusammenbruch der deutschen feudalen Militärmaschine endlich wurde sie für die deutsche Bourgeoisie, die sich von der Wertlosigkeit ihrer alten politischen Theorien durch den Bankerott ihrer politischen Praxis überzeugen mußte, die neue realistische' Methode zur Schulung staatsmännisch politischen Denkens 125 ." I n der geopolitischen Theorie kristallisiere sich die Theorie einer Klasse heraus, die ihre innen- und außenpolitische Machtposition unter allen Umständen erhalten w i l l . „Man kämpft für die Erhaltung der bourgeoisen (und wo noch relevant, auch der feudalen) Privilegien, unter Betonung der Notwendigkeit, zur Durchsetzung der Klassenziele eine imperialistische Politik zu machen 126 ." Die Geopolitik wurde und w i r d Heyden zufolge auch dazu verwendet, als „Rechtfertigimg des . . . Kolonialismus" 1 2 7 zu dienen. Sie sei sogar „ein Instrument zur ideologischen Kriegs Vorbereitung i n den Händen der reaktionärsten Teile des Monopolkapitals" 1 2 8 . Es gehört zu den interessantesten Streitfragen innerhalb des marxistischen Ideenkreises, i n welcher Weise die geographischen Bestimmungsfaktoren bei einer materialistischen Analyse der Politik berücksichtigt werden sollten 129 . 122 Günter Heyden: Kritik der deutschen Geopolitik. Wesen und soziale Funktion einer reaktionären soziologischen Schule. Berlin 1958, S. 36 f. 123 Ebd., S. 37. 124 Ebd. 125 Karl August Wittfogel: Geopolitik, Geographischer Materialismus und Marxismus. S. 20. 128 Ebd., S. 40. 127 Günter Heyden: Kritik der deutschen Geopolitik. S. 37. 128 Ebd. 129 Georg Engelbert Graf weist zu Recht darauf hin, daß Friedrich Engels
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Georg Engelbert Graf plädiert dafür, die geographische Determinante gleichberechtigt neben die ökonomische zu stellen 130 . Er w i r f t Marx vor, einem dogmatischen PanÖkonomismus das Wort geredet zu haben. „Es ist ein Fehler von K a r l Marx und vielen seiner Schüler, daß sie das ganze Schwergewicht auf ökonomische und soziale Tatsachen legten in ungleich stärkerem Maße geopolitisch gedacht hat als K a r l Marx. „Geographisches Sehen und Denken lag ihm (d.h. Karl Marx; J.B.M.) nicht, er war eben viel mehr eine Synthese aus Philosoph, Nationalökonom und revolutionärem Politiker" (Geographie und materialistische Geschichtsauffassung. S. 563). Anderes dagegen Engels. Er war „mit einem merkwürdig feinen I n stinkt für den geographischen Raum und seinen Einfluß auf die Geschichte ausgestattet" (ebd.). Engels gehört Graf zufolge in die Ahnengalerie der politischen Geographie. „Engels war es, der mit besonders feinem Verständnis die Erde als Wohnstätte und als Arbeits- und Kampfplatz des Menschen zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen nahm. Das war an sich nichts Neues. Montesquieu und seine Schule in Frankreich, Herder in Deutschland sind ihm darin vorangegangen" (Friedrich Engels als Geopolitiker. In: Leipziger Volkszeitung 27.11.1920). Es gibt Graf zufolge „kein geographisches Gebiet, das nicht gelegentlich von Engels gestreift wurde; wobei man immer wieder von neuem erfährt, wie er eine ganze Anzahl von Ideen dem sonst größten deutschen Geopolitiker F. Ratzel, vorweggenommen hat" (ebd.). Engels habe vor allem den Verlauf der jüngsten deutschen Geschichte prognostiziert: „Die belgische Neutralität, die Marneschlacht, der italienische Feldzug, die Annexion Frankreichs und Italiens 1918 sind hier mit einer Klarheit vorausgeahnt, die deutlich zeigt, welche Bedeutung die geopolitische Betrachtung nicht allein in der vergangenen, sondern auch für die Zeitgeschichte und für die politischen Probleme der Zukunft birgt" (ebd.). I n wie starkem Maße Engels dem geopolitischen Faktor Reverenz erwiesen hat, beweisen seine Aufsätze „Po und Rhein" (MEW Band 13, Berlin 1961, S. 225 ff.) und „Savoyen, Nizza und der Rhein" (MEW Band 13, S. 571 ff.). I n seiner Abhandlung „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" schreibt Engels: „Mit dem Eintritt der Barbarei haben wir eine Stufe erreicht, worauf sich die verschiedene Naturbegabung der beiden großen Erdkontinente geltend macht. Das charakteristische Moment der Periode der Barbarei ist die Zähmung und Züchtung von Tieren und die Kultur der Pflanzen. Nun besaß der östliche Kontinent, die sog. alte Welt, fast alle zur Zähmung tauglichen Tiere und alle kulturfähigen Getreidearten außer einer; der westliche, Amerika, von zähmbaren Säugetieren nur das Lama . . . und von allen Getreidearten nur eins, aber das beste: den Mais. Diese verschiedenen Naturbedingungen bewirken, daß von nun an die Bevölkerung jeder Halbkugel ihren besonderen Gang geht, und die Marksteine an den Grenzen in jedem der beiden Fälle verschieden sind" (MEW Band 21. Berlin 1962, S. 32). Auch Lenin berücksichtigt den geographischen Faktor: „Auf die Größe des Kolonialbesitzes haben außer den rein ökonomischen Bedingungen und auf ihrer Basis auch die geographischen . . . Verhältnisse Einfluß" (Der I m perialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. In: Ausgewählte Werke Band I. Berlin 1955, S. 832). 130 Graf wird von Karl August Wittfogel als linker Sozialdemokrat bezeichnet (Geopolitik, Geographischer Materialismus und Marxismus. S. 17). Günter Heyden rechnet Graf zu den „Revisionisten" (Kritik der deutschen Geopolitik. S. 123). Der „Sozialdemokrat G. E. Graf" sei „ein gelehriger Schüler Ratzels" gewesen (ebd., S. 95). Letzten Endes sei Graf bei dem Versuch gescheitert, Geopolitik und Marxismus miteinander zu versöhnen. „Die Analyse des Grafschen Versuchs, Geopolitik und historischen Materialismus in ,Einklang' zu bringen, zeigt sehr deutlich, daß Graf nicht den historischen Materialismus vervollständigt' hat, sondern daß die Geopolitik das letzte Wort des Sozialdemokraten Graf geblieben ist" (ebd., S. 127).
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und daß sie die primären naturgegebenen Elemente vernachlässigten 131 ." Bis heute sei „die Geographie i m Rahmen der materialistischen Geschichtstheorie . . . recht stiefmütterlich behandelt" 1 3 2 worden. Ganz i m Gegensatz zum Marxismus geht Graf davon aus, daß der geographische Faktor neben dem ökonomischen die materialistische Basis bestimme und damit kausal den geistig-politischen Überbau determiniere. „ A u f den Menschen und auf die Menschen wirken . . . die geographischen Faktoren teils als Ursachen für Veränderungen der verschiedensten A r t , teils als Motive für bestimmte Wandlungen. Vor allem sind sie bestimmend für das Milieu, i n dem jedes Ereignis sich abspielt, gleichgültig ob der Mensch sich ihnen anpaßt oder ob er sie für seine Zwecke umzuändern versucht. Von ihnen werden die Individuen, werden Technik und Organisation beeinflußt; aber i h r unmittelbarer Einfluß reicht auch bis zur Wirtschaftsgesellschaft und ihrem historischen Überbau, wo weder i n der ideologischen noch i n der sozialen noch i n der ökonomischen Ordnung der geographische Einschlag ausgeschaltet werden kann 1 8 3 ." Graf bezeichnet es als „historische Notwendigkeit", die „Zwangsläufigkeit des historischen Geschehens aus den ökonomisch-sozialen Verhältnissen und aus dem geopolitischen Unterbau herzuleiten" 1 3 4 . Schließlich habe gerade Friedrich Engels gezeigt, „wie die geographischen Gegebenheiten wie Küsten- und Oberflächengestalt, Flußverteilung und Nachbarlage i n bestimmte Situationen hineinzwingen, aus denen es kein Entrinnen gibt" 1 3 5 . Vertreter des orthodoxen Marxismus lehnen alle Versuche, den Marxismus mit der Geopolitik zu verbinden, kategorisch ab. Sowenig aussichtsreich und legitim sich der Versuch Wilhelm Reichs darstelle, K a r l M a r x und Sigmund Freud miteinander zu verknüpfen, so kritisch w i r d die Absicht von G. E. Graf bewertet, K a r l Marx und K a r l Haushofer miteinander zu verbinden. Heyden zufolge scheitert diese Vermittlungsstrategie vor allem an der undialektischen Denkweise von G. E. Graf. Seine „antidialektische Auffassung von Ursache und W i r k u n g " 1 3 6 komme besonders da zum Vorschein, wo er eine direkte Beeinflussung des geographischen Unterbaus auf den ideologisch-politischen Überbau konstatiere. Obgleich das „geographische Milieu . . . zweifellos seinen Einfluß auf die Entwicklung der 131 Georg Engelbert Graf: Berlin, 1919, S. 29. 132 Georg Engelbert Graf: fassung. S. 565. 133 Ebd., S. 571 ff. 134 Georg Engelbert Graf: Volkszeitung 27. 11. 1920, 135 Ebd. 138 Günter Heyden: Kritik
Die Landkarte Europas. Gestern und Morgen. Geographie und materialistische Geschichtsauf-
Friedrich Engels als Geopolitiker. In: Leipziger
der deutschen Geopolitik. S. 123 ff.
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Produktivkräfte" 1 8 7 ausübe, wirke es keineswegs unmittelbar auf den Überbau ein. Weit davon entfernt, direkt „die Beschaffenheit des juristischen, politischen und ideologischen Überbaus der Gesellschaft" 188 zu bestimmen, übe das geographische Milieu seine W i r k u n g „erst durch die jeder Gesellschaft eigentümliche Form der Produktion, durch die Produktionsverhältnisse der Menschen" 139 aus. Bereits Wittfogel hat behauptet, daß „die geographischen Faktoren . . . nicht direkt auf die politische Lebenssphäre" 140 wirken. A l l e i n über den „Produktionsprozeß, dem sie entweder als allgemeine natürliche Bedingungen zugrunde liegen, oder i n den sie als Produktivkräfte eingehen", machten „sich die ,primären naturgegebenen Elemente' (Graf) geltend" 1 4 1 . Aber auch diese W i r k u n g ist weit davon entfernt, direkt zu sein. „Die aus der Eigenart des jeweiligen Produktionsprozesses hervorwachsende gesellschaftliche Ordnung ist das zweite Zwischenglied, durch das hindurch erst sich die Einflüsse der Natursphäre auf die A r t und Entwicklung des politischen Lebens auswirken 1 4 2 ." Gesellschaft und Geopolitik können für den orthodoxen Marxisten schon deshalb nicht zu den entscheidenden Bestimmungsfaktoren der Politik gezählt werden, weil die gesellschaftlichen und geographischen Entwicklungen keineswegs zeitparallel verlaufen. „Alle diese Behauptungen von der bestimmenden Rolle geographischer Faktoren i m Leben der Gesellschaft sind vom Standpunkt des historischen Materialismus . . . absurd, weil i n Wirklichkeit die Veränderungen und die Entwicklung der Gesellschaft unvergleichlich schneller vor sich gehen als die Veränderungen und die Entwicklung des geographischen Milieus und w e i l es unlogisch ist, anzunehmen, daß das, was sich nur langsam verändert, Ursache dessen sein soll, was sich sehr schnell verändert 1 4 8 ." Statt die gesetzmäßigen Entwicklungen i m Gesellschaftsbereich zu erkennen, habe die politische Geographie den Fehler gemacht, i n idealistischer Weise von gesellschaftsunabhängigen, geographischen Determinationsfaktoren auszugehen. Sie sei „Vorstellungen von räumlichen Komplexen mit eigener Gesetzmäßigkeit" 144 erlegen, habe „von den Produktionsverhältnissen unabhängige »ewige4 Kategorien" 1 4 5 aufgespürt. Bei allen Verdiensten, 137
Ebd., S. 55. Ebd. 139 Ebd. 140 Karl August Wittfogel: Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus. S. 22. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Günter Heyden: Kritik der deutschen Geopolitik. S. 54. 144 Heinz Sänke: Entwicklung und gegenwärtige Probleme der politischen und ökonomischen Geographie in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1962, S. S 13. 145 Ebd. 138
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die der politischen Geographie i n ihrem Kampf gegen den Feudalismus und seinen reaktionären Überbau zukomme, müsse doch darauf hingewiesen werden, daß die geopolitische Betrachtungsweise „letztlich idealistisch" 146 ausgerichtet sei, einer „ p r i m i t i v metaphysischen" 147 Weltinterpretation huldige. Die geopolitische bzw. geographische Interpretation von Geschichte und Gesellschaft sei für den Sozialisten auch deswegen ohne legitimatorische Basis, weil sie als Überbauphänomen nichtsozialistischer Sozialformen zu gelten habe 148 . Der politischen Geographie der DDR wurde die Aufgabe zuteil, dem Aufbau des Sozialismus und dem Kampf gegen den „Imperialismus" den Weg zu weisen 149 . Der Zenit der Politisierung dieses Wissenszweiges w i r d i n der Forderung erreicht, den „Haß gegen den Imperialismus" 1 5 0 zu verstärken, die „Erziehung zum proletarischen Internationalismus" 1 5 1 voranzutreiben. Aus diesem Grunde muß der „Fachlehrer für Erdkunde . . . selbst die Gewißheit vom Sieg des Sozialismus i n sich tragen und von dieser festen Überzeugung durchdrungen, seine Unterrichtsstunden gestalten" 152 . Bei der Analyse des ideologischen Umfeldes der Geopolitik darf nicht vergessen werden, daß sich namhafte Vertreter dieser Forschungsrichtung für das Ideal des demokratisch-liberalen Staates eingesetzt haben. Georg Engelbert Graf zufolge „muß eine Erziehung zur Demokratie auch eine Erziehung zu geopolitischem Denken sein" 1 5 3 . Das Studium geopolitischer Sachverhalte schützt nach Graf am sichersten vor natio146
Ebd., S. 14. Ebd., S. 46. 148 Ebd., S. 258. 149 Uber die politische Geographie der UdSSR vgl. Herbert Schienger: Entwicklungslinien der sowjetischen Geographie im letzten Jahrzehnt. In: Erik Boettcher, Hans-Joachim Lieber und Boris Meissner: Bilanz der Ära Chruschtschow. Stuttgart 1966, S. 36 ff; Adolf Karger: Die Diskussion über das Wesen der geographischen Wissenschaft in der Sowjetunion. In: Boettcher, Lieber und Meissner: Bilanz der Ära Chruschtschow. S. 51 ff. 150 Helmut Riegraf/Günther Thole/Otto Raus: Probleme der ökonomischen Geographie. In: Neues Deutschland Nr. 94/95; 20./21. April 1957. Abgedruckt in Erdkunde 11 (1957), S. 235. 151 Ebd. 152 Ebd. Eindringlich warnen die drei marxistischen Geographen vor der überkommenen Länderkunde. „Die Länderkunde soll dazu dienen, einer klaren politischen Stellungnahme auszuweichen. Sie ist unwissenschaftlich und hemmt uns in der weiteren Arbeit; sie einzuführen hieße, den Boden des Marxismus-Leninismus zu verlassen und der bürgerlichen Ideologie Tür und Tor zu öffnen. . . . Viele . . . Lehrer haben noch nicht den gefährlichen ideologischen Kern der Länderkunde erkannt. Oftmals haben sie auch zu wenig Einblick in die Geschichte der deutschen Geographie und in ihre Rolle während der Zeit des Faschismus" (ebd.). 153 Georg Engelbert Graf: Geographie und materialistische Geschichtsauffassung. S.587. 147
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nalen Exzessen und imperialistischen Drohgebärden. Aus diesem Grunde sei die „Erziehung i n einer guten geopolitischen Kinderstube" 1 5 4 notwendig. Der deutsche Nationalismus sei vor allem auf ungenügende geopolitische Bildung zurückzuführen. „Dieser mangelhaften geopolitischen Fundierung ist es bei uns zu einem großen Teile zuzuschreiben, daß weite Volkskreise i n nationalistischen Höhen sich verstiegen haben 1 5 5 ." Graf spricht vor allem der geopolitischen Aufklärung der Arbeiterschaft das Wort. „Gerade das Proletariat als aufsteigende Klasse hat aber ein Interesse an geopolitischem Denken und an geopolitischer Schulung 156 ." Auch der französische Geograph Yves Lacoste plädiert für eine Geopolitik, die mit einem liberalen politischen Vorzeichen versehen ist. Seine politische Geographie ist aus der Absicht heraus entwickelt, die Geopolitik aus der Einflußsphäre des Illiberalismus herauszunehmen und sie i n den Bereich des liberalen Denkens zu transplantieren. „Nous n'avons aucune raison d'abandonner ce type des raisonnement aux penseurs nazis. I I y a des geopoliticiens libertaires 1 5 7 ."
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Ebd., S. 586. Ebd., S. 586 f. 156 Ebd., S. 587. 157 Christian Descamps: Yves Lacoste, penseur de Tespace. In: Le Monde 24 juillet 1983, S. X I I . I n wie starkem Maße linksliberale Autoren sich den Grundgedanken der Geopolitik verpflichtet fühlen, beweist folgendes Bekenntnis von Arthur Schlesinger Jr.: „In foreign affairs, I have been a cardcarrying geopolitician ever since I first read Haiford Mackinder and Nicholas Spykman 35 years ago" (Is Liberalism Dead? In: The New York Times Magazine, March 30, 1980). 155
I V . Die politische Entscheidung als Funktion ethnischer Bestimmungsfaktoren Das Christentum strebt offenbar die Bruderschaft und Gleichheit aUer Menschen an. Doch Ihre Lehre macht aus ihnen höchstens entfernte Verwandte, deren gemeinsamer Vater im Himmel ist. Auf Erden aber gibt es nur Sieger und Besiegte, Herren und Sklaven durch Geburt. Wer billigt, zitiert und kommentiert denn Ihre Lehren? Die Sklavenhalter, zugunsten der ewigen Knechtschaft, die sich auf den grundsätzlichen Unterschied der Rassen gründet. Tocqueville an Gobineau
1. Politikwissenschaft und Ethnopolitik Die Frage, welcher Einfluß dem Faktor Rasse i m politischen Prozeß zukommt, hat viele Politikwissenschaftler bewogen, diesem Problemkreis ihr Augenmerk zu widmen. Johann Caspar Bluntschli stellt i n seiner Abhandlung „Politik als Wissenschaft" 1 umfängliche Erörterungen über die Frage an, ob unveränderliche Rassequalitäten der Bürger den Politikprozeß ihrer politischen Gemeinwesen bestimmen bzw. m i t bestimmen. Ebenso finden sich bei Heinrich von Treitschke Erörterungen zu diesem Thema 2 . Z u den Politikwissenschaftlern, die nach dem Ersten Weltkrieg diese Frage thematisiert haben, gehört i n Deutschland vor allem Adolf Grabowsky 8 . Auch Gaetano Mosca hat sich dieses Themas angenommen 4 . Heute w i r d insbesondere i n französischen Lehrbüchern der Politikwissenschaft auf die Wechselwirkung zwischen dem politischen Prozeß und der ethnischen Schichtung des jeweiligen Gemeinwesens hingewiesen. I n dem Kapitel „Facteurs biologiques" seiner „Introduction à la politique" 5 untersucht Maurice Duverger diejenigen Konzeptionen, die er als „théories racistes" 6 bezeichnet. Weniger um1
Johann Caspar Bluntschli: Politik als Wissenschaft. Stuttgart 1876. Heinrich von Treitschke: Politik. Zwei Bände. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin. Hrsg. von Max Cornicelius. Vierte Auflage. Berlin 1918. 3 Adolf Grabowsky: Politik. Berlin und Wien 1932. 4 Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft. Aus dem Italienischen. München 1950, S. 25 ff. 5 Maurice Duverger: Introduction à la politique. S. 31 ff. 2
2. Der eindimensionale Determinismus der rassischen Politikanalyse
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fänglich behandelt Alfred Grosser diesen Problemkreis i n seinem Buch „ A u nom de quoi?" 7 . Dasselbe gilt für die „Introduction ä la vie politique" von Jean-Yves Calvez 8 . M i t der Frage, wie die ethnische Schichtung der modernen Staaten den Politikprozeß bestimmt bzw. beeinflußt, beschäftigt sich Joseph Rothschild i n seinem Werk „Ethnopolitics" 9 . Die entscheidenden Theoretiker dieses Problemkreises waren allerdings wissenschaftliche Außenseiter. Das gilt insbesondere für den Franzosen Gobineau, den Engländer Chamberlain und den Amerikaner Grant. 2. Der eindimensionale Determinismus der rassischen Politikanalyse Das Erkenntnisinteresse steht bei den meisten Repräsentanten der rassenspezifischen Analyse des Politikprozesses i m Zeichen einer monokausalen Analyse. Unter dem eingeschränkten Blick dieser Autoren lassen sich alle historischen Ereignisse und politischen Entscheidungen letzten Endes auf den Determinationsfaktor Rasse zurückführen. Es sind die „Rassenelemente" 10 , die nach Gobineau die Geschicke der Völker bestimmen 11 . Wie Gobineau so entwickelt auch Robert Knox ein Instrumentarium von Begriffen, mit denen er den gesamten historischen Prozeß auf den Faktor der Rasse zurückführt. „ I . . . am prepared to assert that race is 6
Ebd., S. 41. Alfred Grosser: A u nom de quoi? Fondements d'une morale politique. Paris 1969, S. 185 ff. 8 Jean-Yves Calvez: Introduction ä la vie politique. Paris 1967, S. 75 ff. 9 Joseph Rothschild: Ethnopolitics. A Conceptional Framework. New York 1981. Daß auch die Kausalanalyse berücksichtigt wird, beweist der folgende Satz: „This book discusses the causes, options and consequences of bringing ethnicity into the political arena" (S. 1). 10 Graf Arthur Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen. Aus dem Französischen. Berlin 1935, S. 743. 11 Ebd., S. 741. Auf die radikal eindimensionale Sichtweise Gobineaus weist auch Ernst Cassirer hin. „Der Gott der Rasse, wie er von Gobineau proklamiert worden war, ist ein eifersüchtiger Gott. Er erlaubt nicht, daß andere Götter neben ihm angebetet werden. Die Rasse ist alles; alle anderen Kräfte sind nichts. Sie haben keine unabhängige Bedeutung, keinen selbständigen Wert" (Vom Mythos des Staates. Aus dem Amerikanischen. Zürich 1959, S. 301). Ähnlich argumentiert Melvin Richter. „Bei der Suche nach dem einen, alles bewegenden Prinzip der Geschichte geriet er in die typische Denkweise des so verachteten achtzehnten Jahrhunderts: den kausalen Monismus. Dabei schied für ihn eine Bestimmung der Geschichte durch große Persönlichkeiten, durch die sittliche Kraft einer Nation, durch Ideen, W i r t schaft oder durch die physische Umgebung aus; vielmehr fand er die alles beherrschende Ursache in der angeborenen Ungleichheit der Menschen, in den sehr verschiedenen Fähigkeiten, mit denen ihre jeweilige Rasse sie ausstattete" (Der Begriff der Rasse. Aus dem Briefwechsel zwischen Tocqueville und Gobineau. In: Der Monat 11 (1958), S. 35). 7
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everything i n human history; that the races of men are not the result of accident; that they are not convertible into each other by any contrivance whatsoever 12 ." Der Rassebegriff w i r d auf diese Weise zum allgemein handhabbaren Erklärungsschlüssel für Geschichte und Politik. „The word race embraces all 1 3 ." Dabei w i r d der gesamte Erkenntnisapparat des Menschen durch die Rasse bestimmt. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe determiniert also die Weltanschauung eines bestimmten Individuums durchgehend, d. h. total. Das Rassegesetz leitet Gobineau zufolge bei der Geburt der Individuen „ihre Gehirne und leitet sie auf bestimmte Wege, verschließt ihnen andere, die sie nicht einmal ahnen" 14 . Es regelt auch deren Moralvorstellungen. „Es läßt ihnen zwar ohne jede Einschränkimg das Verdienst der Sittlichkeit . . . aber es regelt deren Formen und hält sie i n seiner Hand 1 5 ." Was die Rasseinterpreten mit vielen ökonomistisch argumentierenden Autoren verbindet, ist der Versuch, auch den kulturellen Bereich auf den deterministischen Begriff zu bringen. Die Rasse bestimmt also auch das geistige Universum. Die ,totale 4 Politikerklärung findet sich schon bei Chamberlain. Für ihn ist die Kantsche Philosophie das Produkt eines Kopfes, dessen Gedankenwelt als Emanation germanischen Freiheitsstrebens zu gelten hat. „Die Entfaltung unserer germanischen K u l t u r . . . findet i n diesem Mann einen besonders reinen, umfassenden und verehrungswürdigen Ausdruck 16 ." Ernst Bergmann, ein Vertreter des Nationalsozialismus, ist i m A n schluß an Chamberlain der Ansicht, daß in der „Philosophie . . . die Forderung des Arteigenen und Artgemäßen m i t Recht aufgestellt werden" 1 7 kann. Es könne „nicht als gleichgültig für das Ergebnis dieser Weltsinndeutung angesehen werden, ob der Inder oder der Ostasiate deutet, der Mittelmeermensch oder der Nordländer, der Arier oder der Semit, der Romane oder der Germane" 18 . Gerade auch auf philosophischem Gebiet lasse sich das „geheime Walten völkischer Mächte und Antriebe" 1 9 vernehmen. 12
Robert Knox: The Races of Men. A Fragment. London 1850, S. 8. Ebd., S. 130. 14 Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen. S. 743. 16 Ebd. 16 Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Zweite Hälfte. 29. Auflage, München 1944, S. 1125. 17 Ernst Bergmann: Die natürliche Geistlehre. System einer deutsch-nordischen Weltsinndeutung. Stuttgart 1937, S. 10. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 13. Selbst die Musik blieb von diesem rassischen Deutungseifer nicht verschont. Richard Eichenauer zufolge hat das „Judentum keinen 18
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Dieser eindimensionalen und totalen Betrachtung der Geschichte eignen auch deterministische Bestimmungsmerkmale. Die Rassetheoretiker inhibieren ihre voluntaristische Handlungsinterpretationen i n dem Maße, i n dem sie einer monokausalen Geschichtsbetrachtung das Wort reden. Aus einer Position heraus, die jegliche politische Entscheidung als monokausal determiniert betrachtet, w i r d der Verlauf der Geschichte als ein von rassischen Gesetzen bestimmter Verlaufsprozeß angesehen. „Dieses Gesetz zwingt den Völkern ihre Lebensform auf. Es grenzt sie i n einen Bannkreis ein, dessen Enge diese blinden Sklaven nicht einmal empfinden und aus dem herauszutreten sie kein Bedürfnis verspüren, wozu ihnen j a auch die K r a f t fehlen würde. Dieses Naturgesetz schreibt ihnen die Grundgedanken ihrer Gesetze vor, es beherrscht ihre Willensäußerungen, es beeinflußt ihre Liebe und entfacht ihren Haß, es leitet ihre Vernichtung 2 0 ." N u r ein irregeleiteter Voluntarismus kann meinen, diesen ehernen Gesetzen entfliehen zu können. Die Gesellschaft ist auf Gedeih und Verderb denjenigen gesetzmäßigen Abläufen ausgeliefert, die auch das Naturgeschehen bestimmen. Sie ist den „endgültigen, i n das Gesetzbuch der Welt eingetragenen Gesetzen" 21 unterworfen. Dieselbe „unzerstörbare Gesetzmäßigkeit" herrscht „ i n der organischen und anorganischen Natur" 2 2 . D i e ideologische K l a m m e r , die die theoretischen Schriften der m e i sten 2 8 von der Rasse aus interpretierenden A u t o r e n zusammenhält, ist die tief eingewurzelte Auffassung, daß es eine natürliche Rangordnung zwischen den verschiedenen E t h n i e n gibt. Diese verdankt i h r Wesensschaffenden Musiker erster Größe hervorgebracht, trotz Mendelssohn und Mahler" (Musik und Rasse. 2. Auflage. München 1937, S. 297). Bei Gustav Mahler würden „Dinge wieder wachwerden, die aus der fernsten musikalischen Vergangenheit seiner Rasse stammen" (ebd., S. 301). Vieles mute bei ihm asiatisch an (ebd.). Überhaupt verdanke sich die moderne Musik jüdischer Ursprünge. Die Einführung von Vierteltönen bedeute „für die vorderS. 302). asiatischen Menschen eine Rückkehr zu ihrer arteigenen Tonkunst" (ebd., I n ähnlicher Weise versteigt sich Philipp Lenard zu der Behauptung, daß die „jüdische ,Physik* . . . nur ein Trugbild und eine Entartungserscheinung der grundlegenden arischen Physik" (Deutsche Physik. Band I. München 1936, S. X ) sei. Die jüdische Physik sei deswegen der deutschen unterlegen, weil „dem Juden . . . auffallend das Verständnis für Wahrheit" (ebd.) mangele. Der arische Physiker zeichne sich durch einen „ebenso unbändigen als besorgnisvollen Wahrheitswillen (ebd.) aus. Hervorragender Vertreter der jüdischen Physik sei der „reinblütige Jude A. Einstein" (ebd., S. I X ) . Seine „,Relativitäts-Theorien' wollten die ganze Physik umgestalten und beherrschen; gegenüber der Wirklichkeit haben sie aber nun schon vollständig ausgespielt" (S. I X f.). 20 Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen, S. 743. 21 Ebd., S. 5. 22 Ebd. 23 Zu den Autoren, die von der Gleichheit der Rassen ausgehen und rassenzentrierte Politikanalyse betreiben, gehört Adolf Grabowsky. 6*
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gesetz einer Ordnung, die dem Zugriff des Menschen entzogen ist. Z u denjenigen Rassen, denen inferiore politische Fähigkeiten imputiert werden, zählen die Afrikaner, die „Gelben" und die Juden. Was die Neger anlangt, so behauptet Gobineau, daß der „hochmütige Despotismus das einzige Bändigungsmittel für schwarze Völkerschaften" 24 darstellt. Die mangelnde Freiheitsliebe der Chinesen führe dazu, daß diese sich „durch formalistische Organisationen" 25 einschläfern lassen. Nach Heinrich von Treitschke sind die Asiaten bar jeglichen Freiheitssinnes. „Die gelbe Rasse hat es nie zu einer freien Staatsbildung gebracht, alle waren unfrei und despotisch 28 ." Wie vorurteilsbehaftet die politischen Eigenschaften der verschiedenen Ethnien beurteilt werden, zeigt sich i n Sonderheit bei der Charakterisierung der Juden 27 . Schon Ernest Renan hat auf die angebliche politische Inferiorität der semitischen Rasse i m Vergleich zur germanischen hingewiesen. „ L a véritable société sémitique est celle de la tente et de la tribu: aucune institution politique et judiciaire, l'homme libre, sans autre autorité est sans autre garantie que celle de la famille 2 8 ." Die politischen Probleme der Germanen sind den Semiten fremd. „Les questions d'aristocratie, de démocratie, de féodalité, qui renferment tous les secrets de l'histoire des peuples ariens n'ont pas de sens pour les Sémites 29 ." Was Wunder, wenn sie auch zur Ausübimg des Waffenhandwerkes untauglich sind. „L'infériorité militaire des Sémites tient à cette incapacité de toute discipline et de toute subordination 80 ." Auch nach Lapouge entraten die Juden all derjenigen Tugenden, die die germanische Rasse i n so hohem Maße auszeichnen. Eingeengt und reduziert auf den Bereich des persönlichen Fortkommens, sei ihre politische Grundhaltung am besten als anarchistisch zu charakterisieren. „Le Juif n'a jamais eu le sens politique. I l a le tempérament anarchiste . . . Et l'esprit d'anarchie, l'esprit impolitique des ancêtres de Jérusalem et de Carthage souffle encore sur le métis des vieux Chananéens 81 ." 24
Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen, S. 152. Ebd. 26 Heinrich von Treitschke: Politik. Band I. S. 273. 27 Eberhard Straub zufolge hat sich Gobineau nie antisemitisch geäußert, „da er die Juden als einen besonders fähigen Zweig der aristokratischarischen weißen Rasse erachtete" (Die Götterdämmerung des Abendlandes. Der mißverstandene Arthur de Gobineau. In: Frankfurter AUgemeine Zeitung Nr. 293, 18. Dezember 1982). Diese Ansicht teilt auch Jean Gaulmier. „Quant à l'antisémitisme, impossible d'en déceler trace chez Gobineau (Le centenaire de Gobineau. Le plus grand méconnu du dix-neuvième siècle. In: Le Monde 22. Oktober 1982). 28 Ernest Renan: Histoire générale et système comparé des langues sémitiques. Première partie. Huitième édition. Paris 1858, S. 13. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 14. 25
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K o m p l e m e n t ä r z u d e r A u f f a s s u n g , daß es p o l i t i s c h m i n d e r w e r t i g e Rassen g i b t , w i r d d e z i d i e r t d i e M e i n i m g v e r t r e t e n , daß sich d i e G e r m a n e n d u r c h e i n Höchstmaß a n p o l i t i s c h e n T u g e n d e n u n d F ä h i g k e i t e n auszeichnen. A u s dieser Ü b e r z e u g u n g e r w ä c h s t die B e h a u p t u n g , d i e l i b e r a l e n F r e i h e i t e n 3 2 seien a l l e i n d e n arischen p o l i t i s c h e n G e m e i n w e s e n v o r b e h a l t e n . So schreibt de L a p o u g e : „Ces q u a l i t é s de Y A r y e n se m a n i f e s t e n t dans l a p r a t i q u e p a r u n d é v e l o p p e m e n t intense des l i b e r t é s p u b l i q u e s . L ' h o m m e l i b r e , dans l ' a n t i q u i t é , a p p a r t e n a i t d ' u n e m a n i è r e s o u v e n t e x c l u s i v e à l a race Europaeus. A u j o u r d ' h u i o n p e u t d i r e q u e seuls les peuples de cette race s o n t l i b r e s 3 3 . " G o b i n e a u zufolge v e r w e i g e r n sich d i e G e r m a n e n d e n M a c h t a n s p r ü c h e n despotischer Herrscher. A u s d i e s e m G r u n d e zeichne sich i h r e politische O r d n u n g d u r c h e i n e n „ausgesprochenen F r e i h e i t s s i n n " 3 4 aus. H o u s t o n S t e w a r t C h a m b e r l a i n ist d e r A u f f a s s u n g , daß d e r beherrschende „ Z u g eines u n b e z w i n g l i c h e n I n d i v i d u a l i s m u s " 3 5 d i e E i g e n a r t d e r g e r m a n i schen S t a a t e n b e s t i m m e 3 8 . D e r V e r m i s c h u n g d e r Rassen w i r d angelastet, die Verfallsprozesse 3 7 d e r e i n z e l n e n S t a a t e n i n G a n g gesetzt z u haben. Das g i l t f ü r F r a n k r e i c h 31
G. Vacher de Lapouge: L'Aryen. Son rôle social. Paris 1899, S. 475. Auf die angeblich ,kulturzersetzende* Wirkung der Juden hat auch Julius Evola hingewiesen. „Juden sind auch die Männer, die . . . zweideutige Elemente der Zerstörung in den Bereich der letzten Kultur hineintrugen: Jude ist Henri Bergson, der Hauptprophet der Religion des »Irrationalen' und des ,Lebens'; Jude ist Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, d. h. einer Auffassung von der menschlichen Persönlichkeit, die aus dieser ein bloßes Ergebnis von unpersönlichen ,Komplexen' und blinden Tatsachen macht; Jude ist Albert Einstein, der Urheber der neuen Relativitätstheorie'; Jude ist Zamenhof, der Erfinder der »internationalen Sprache' Esperanto; Jude ist M a x Nordau, der aus Konvention und Lüge den Schlüssel zur Kultur verfertigt" (Erhebung wider die moderne Welt. Aus dem Italienischen. Stuttgart und Berlin 1935, S. 482). 82 Dabei handelt es sich dem in Rede stehenden Liberalismus keineswegs um diejenige Ordnungskonzeption, wie sie in den Schriften von Montesquieu, Locke und Tocqueville zu finden ist Einigermaßen verwundert liest man bei Chamberlain, daß auch das Werk Immanuel Kants genuin freiheitsliebenden Geist atmet. Wenn er behauptet, daß Kant das „erste vollendete Muster des ganz freien Germanen" darstellt, dann vergißt er, daß sich der Königsberger Philosoph für eine Republik ausgesprochen hat, die ausgesprochen liberal bestimmt ist (Chamberlain : Die Grundlagen. S. 1127). 33 G. Vacher de Lapouge: L'Aryen. Son rôle social. S. 375. 34 Gobineau: Die Ungleichheit der Menschen. S. 152. 35 Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Zweite Hälfte. S. 825. 38 Neben dem Freiheitssinn behaupte sich im germanischen Staat auch ein außergewöhnlicher „Sinn für Ordnung" (Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen. S. 152). Vor allem seine Gesetzes treue hebe den Germanen über die anderen Rassen hinaus. „Das rühmenswerteste besteht . . . in der Loyalität, mit der er auch ein außerordentlich hartes Gesetz annimmt" (ebd., S. 613). 37 Gobineau zufolge zeichnen sich gemischtrassige Gesellschaften nicht
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genauso w i e f ü r E n g l a n d u n d die U S A . V o n d e n V e r t r e t e r n d e r Rassent h e o r i e w u r d e insbesondere die Französische R e v o l u t i o n a u f d e n S i e g d e r r o m a n i s c h e n F r a n z o s e n ü b e r die g e r m a n i s c h e n 3 8 z u r ü c k g e f ü h r t . M a d i s o n G r a n t zufolge versuchte „ d i e M e h r h e i t , die sich selbst ,das V o l k 4 n a n n t e , geflissentlich die h ö h e r e n T y p e n z u v e r n i c h t e n " 8 9 . A u c h die Geschichte E n g l a n d s s t e l l t nach G o b i n e a u a u g e n f ä l l i g u n t e r B e w e i s , w i e B l u t s v e r m i s c h u n g z u p o l i t i s c h e m V e r f a l l u n d geschichtlichem N i e d e r g a n g f ü h r e . Daß E n g l a n d s „ a l t e r P a r l a m e n t a r i s m u s " 4 0 aufgegeben w u r d e , daß m a n „ G l a d s t o n e u n d s e i n e r P o l i t i k G e h ö r " 4 1 schenkte, u n d „ k e i n besseres H a u p t f ü r d i e P a r t e i d e r T o r y " f a n d als d e n „ s e m i t i s c h e n L o r d B e a c o n s f i e l d " 4 2 , a l l das k a n n a u f die M i s c h i m g a l t e n g l i s c h e n m i t f r e m d e n B l u t z u r ü c k g e f ü h r t w e r d e n 4 3 . D i e neue d e m o k r a t i s c h - l i b e r a l e G e i s t e s h a l t u n g , die das „ a l t b r i t a n n i s c h e W e s e n " 4 4 v e r d r ä n g t h a t t e , r ü h r t v o r a l l e m v o m Z u s t r o m keltischen, r ö m i s c h e n u n d s l a w i s c h e n B l u t e s 4 5 . zuletzt durch politische Instabilität aus. „Uberall . . . besonders in Frankreich, in Mittelitalien, in Deutschland, wo die ethnische Verschiedenheit grenzenlos ist, können sich die Regierungstheorien niemals zur inneren Wahrhaftigkeit erheben und die politische Wissenschaft ist im Zustande beständigen E x perimentierens" (Die Ungleichheit der Menschenrassen. S. 75 f.). Ähnlich heißt es bei Heinrich von Treitschke: „Wo . . . der ganze Charakter des Staates durch das Nebeneinander verschiedener Rassen bestimmt ist, da ist eine freie Staatsform unmöglich" (Politik. Band I. Vierte Auflage. Leipzig 1918, S. 275). 38 Vgl. dazu Gobineau: Die Ungleichheit der Menschenrassen. S. 740 und passim. 89 Madison Grant: Der Untergang der großen Rasse. Aus dem Amerikanischen. München 1925, S. 20. Gegen die These, bei der Französischen Revolution handele es sich um eine Auseinandersetzung zwischen der gallischromanischen Rasse und dem germanischen Adel, hat sich Ludwig Woltmann gewandt. I h m zufolge gehörten nicht nur die aristokratischen Gegner der Revolution, sondern auch die Anführer des „Dritten Standes" der germanischen Rasse an. „Der ,Dritte Stand' setzte sich in seinen oberen Schichten ebenfalls aus germanischen Elementen zusammen. Die Führer der Revolutionen waren fast durchweg Germanen, wie ihre Portraits beweisen. Die Revolution brachte nur eine andere Schicht der germanischen Rasse zur Herrschaft" (Politische Anthropologie. Jena 1903, S. 294). Durch die Revolution sei nicht der Dritte Stand zur Herrschaft gelangt, sondern „die obere germanische Schicht des Bürgertums" (ebd.). Ebenso verdanke Napoleon seine politischen und militärischen Erfolge seinen germanischen Blutsantrieben. „Napoleon war wahrscheinlich ein Nachkomme der Vandalen, die einst Korsika überschwemmten" (ebd.). Auch seine Heerführer seien „vorwiegend aus den germanischen Elementen Frankreichs zusammengesetzt" (ebd.) gewesen. Es sei aus diesem Grunde statthaft, die Französische Revolution und die napoleonische Herrschaft als „Großtaten des germanischen Geistes" (ebd., S. 293) zu feiern. 40 Graf J. A. Gobineau: Die Bedeutung der Rasse im Leben der Völker. Aus dem Englischen. München 1926, S. 28. 41 Ebd., S. 32. 42 Ebd. Gemeint ist Benjamin Disraeli. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 33. 45 Ebd., S. 30. Gobineau schreibt: „Außer allem Zweifel steht . . . daß die
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A u c h die D e m o k r a t i s i e r u n g d e r U S A 4 6 w i r d als die K o n s e q u e n z eines P o l i t i k v e r s t ä n d n i s s e s i n t e r p r e t i e r t , das a u f d i e B e r ü c k s i c h t i g u n g rassischer F a k t o r e n v e r z i c h t e n z u k ö n n e n g l a u b t . M a d i s o n G r a n t h a t sich z u m A n w a l t a l l d e r j e n i g e n gemacht, d i e d i e D e m o k r a t i s i e r u n g des a m e r i k a n i s c h e n Gemeinwesens als Sieg d e r a n g e b l i c h rassisch M i n d e r w e r t i g e n b e k l a g e n . „ D i e A u s ü b u n g des a l l g e m e i n e n W a h l r e c h t e s b e i d e r d e m o k r a t i s c h e n R e g i e r u n g s f o r m n e i g t e h e r z u r A u s w a h l des D u r c h schnittsmenschen f ü r S t a a t s ä m t e r als des d u r c h G e b u r t , E r z i e h u n g u n d M a k e l l o s i g k e i t Ausgezeichneten. D i e e n d l i c h e n A u s w i r k u n g e n e i n e r solchen V e r w a l t u n g s m e t h o d e w e r d e n sich j a zeigen; u n v e r m e i d l i c h aber w i r d sie das Ü b e r w i e g e n d e r rassisch n i e d r i g e r e n T y p e n b e g ü n s t i g e n u n d e i n e n entsprechenden V e r l u s t a n L e i s t u n g s f ä h i g k e i t des Gesamtstaates v e r u r s a c h e n 4 7 . " Ebenso mache sich i n d e r a m e r i k a n i s c h e n W i r t s c h a f t s - u n d Sozialgeschichte e i n z u n e h m e n d e r E i n f l u ß n i c h t g e r m a nischen B l u t e s b e m e r k b a r . I n d e m Maße, i n d e m d e r W i r t s c h a f t s l i b e ralismus der Vereinigten Staaten eingeschränkt w u r d e , mußte die f r ü h e r e Herrscherrasse M a c h t a n t e i l e a n m i n d e r w e r t i g e E t h n i e n a b t r e t e n : „ M i t dieser E n t w i c k l u n g d e r D e m o k r a t i e u n d d e m Ü b e r g a n g d e r M a c h t v o n d e n h ö h e r e n z u d e n n i e d r e n Rassen, v o n d e n i n t e l l e k Normannen, als sie in England anlangten, kein völlig rein germanisches Volk mehr waren. Unter ihren Hilfstruppen fanden sich Leute aus der Bretagne, aus Maine und Anjou; sie selber hatten auf dem Boden ihres Herzogtums da und dort galloromanische und gallofränkische Beimischungen erhalten. So kam es, daß keltisches Blut einerseits und römisches Blut auf der anderen Seite das Gewicht ihres fremdrassigen Wesens noch mehrte. Als dann die südfranzösischen Provinzen Guyenne, Poitou und Angoumois an England kamen, dauerte dieses langsame Einsickern fremden Blutes bis ins 16. Jahrhundert fort" (ebd.). Nach dem Ausbruch der Religionskriege „begann in England eine ununterbrochene Einwanderung französischer Sektierer, die sich mehr oder weniger gleichbleibend unablässig bis hinein in die ersten Jahre unseres gegenwärtigen Jahrhunderts erstreckte. . . . Hunderttausend Seelen, . . . die sich mitten in ein Volk ergießen, die sich ihm durch Heiraten verbinden, ihr fremdes Blut mit ihm vermischen, ihre Instinkte, ihre A n schauungen mitbringen und die einheimischen Anschauungen zwangsläufig damit durchsetzen: hunderttausend solcher Seelen, das macht heute, nach drei bis vier Generationen, eine Nachkommenschaft, die man auf mehr als eine Million nicht germanischer Menschen anschlagen darf" (ebd., S. 30 f.). M i t „diesem fremden Element, das sich in England eingeschlichen" hat, verband sich in der Folge „auch alles germanenfeindliche B l u t . . . das bereits in den untersten Schichten der Nation vorhanden war: jene Trümmer und Überbleibsel der Halbwilden aus Cäsars Zeit; der Slawen, die mit den sächsischen Einwanderern gekommen waren; der Leute, die Wilhelm der Eroberer" brachte (ebd., S. 31). 46 Dabei begreift Chamberlain die Gründung der USA als das Werk der germanischen Rasse. „In den aufblühenden Kolonien Englands" lebten „echte Germanen" (Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. S. 1021). Der w i r t schaftlichen und politischen „Expansionskraft der Angelsachsen" (ebd.) haben sich nach und nach auch Deutsche und Skandinavier angeschlossen (ebd.). Die protestantischen Germanen der amerikanischen Frühzeit hätten sich besonders dadurch ausgewiesen, daß sie im „harten Kampf ums Dasein strenge Zuchtwahl" (ebd.) betrieben. 47 Madison Grant: Der Untergang der Großen Rasse. S. 20.
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tuellen zu den plebejischen Gesellschaftsschichten finden w i r die Ausbreitung des Sozialismus und das Wiederaufleben veralteter Religionsformen 48 ." Die Fabrikanten Neuenglands hätten zuvörderst Iren und Kanadier als Arbeiter angestellt. Der Bürger der USA habe diesen Arbeitern leider die vollen Bürgerrechte verliehen. „Anstatt sich den politischen Einfluß vorzubehalten und das Bürgerrecht zu einem ehrenvollen und hochgeschätzten Vorrecht zu gestalten, vertraute er die Regierung seines Landes . . . Rassen an, die nicht einmal imstande sind, sich selbst zu regieren, geschweige denn irgend jemand anderen 49 ." Was Deutschland anlangt, so wurde vor allem die Geschichte seiner politischen Bewegungen rassisch interpretiert. Otto Hauser behauptete, daß der Einfluß der Juden auf den Parteiliberalismus das politische System der Deutschen zersetzt habe. Die jüdischen Politiker Lasker und Bamberger hätten dem deutschen Volk jene fremdrassigen Gesetze aufgepfropft, „die die gesellschaftliche Ordnung des deutschen Volkes auflösen . . . mußten" 5 0 . Otto Hauser hat nach dem Ersten Weltkrieg die kommunistische Einstellung vieler Arbeiter 5 1 zum Anlaß genommen, dieses politische Faktum als Index rassischer Minderwertigkeit zu interpretieren. „Der deutsche Bolschewismus, der besonders i n den tiefrassigen Teilen des Reiches, i n Sachsen, Mittelbayern, den Großstädten wie Berlin und den Industriearbeitergebieten sich auswirkte und vielfach noch lebendige Brutherde hat, ist ganz und gar auf die bastardischen Triebe gewisser deutscher Volksgruppen gegründet 52 ." Der rassischen Minderwertigkeit der proletarischen Massen entspreche die Inferiorität ihrer politischen Führer. Augenfälligstes Beispiel dafür sei K a r l Marx. Der „tiefbrünette K a r l M a r x " 5 3 war von „seinen bastardischen Trieben zur Feindschaft gegen die Gesellschaft geführt" 5 4 . Der aus dem Judentum stammende Vertreter des sozialen Neides „läßt . . . den durchnegerten und darum arbeitsunlustigen Massen die frohe Botschaft eines Zukunftsstaates zu verkünden, w o r i n nur sehr wenig gearbeitet werden muß" 5 5 . Auch andere Vertreter des deutschen Sozialismus legten Zeugnis einer sich so negativ auswirkenden „Rassentrübung" 5 6 ab. So war K a r l Liebknecht ein „afrikanisch kraushaariger 48
Ebd., S. 24. Ebd. 50 Otto Hauser: Geschichte des Judentums. Weimar 1921, S. 455. 61 Hauser beklagt, daß w i r nun „in einer tief mischrassigen und darum in einer sozialistischen Zeit" (Rasse und Politik, Weimar 1922, S. 80) leben. 52 Otto Hauser: Rasse und Politik. S. 90. 53 Ebd., S. 86. 64 Ebd. 55 Ebd., S. 87. M Ebd., S. 81. 49
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Halbjude" 5 7 und K a r l Hölz ein „kleiner, schwarzhaariger, gelbhäutiger, breitgesichtiger Nichtjude" 5 8 . Der rassischen Minderwertigkeit sozialistischer Gesellschaftstheoretiker entspricht die Inferiorität derjenigen, die das egalitäre Glaubensbekenntnis übernehmen. Was den Marxismus anlangt, so ist davon auszugehen, daß seine ökonomistische Politikanalyse die rassische Interpretation des Staates ausschließt. Das heißt allerdings nicht, daß sich bei K a r l Marx keine Stellen finden, i n denen bestimmten ethnischen Gruppen genau fixierte Charaktermerkmale zugeschrieben werden. So ist z. B. die Wendung ins Rassisch-Dogmatische i n seiner Behauptung angelegt, die slawische Rasse sei eine typisch seefeindliche Gruppe. Marx behauptet: „ E i n charakteristischer Zug der slawischen Rasse muß jeden Betrachter erstaunen. So gut wie überall beschränkte sie sich auf das Binnenland und überließ die Küsten nichtslawischen Stämmen 59 ." Marx spricht i n diesem Zusammenhang von der „antimaritimen Eigenart der slawischen Rasse" 80 , von ihrer Weigerung, „sich dem Meere zuzuwenden" 61 , ihrem Versuch, „hartnäckig an der Landrattentradition ihrer Ahnen" 8 2 festzuhalten. 3. Die Kritik an der rassischen Politikerklärung Eine Vielzahl von Autoren w i r f t den Repräsentanten der rassetheoretischen Schule vor, mit wissenschaftlich ungenauen Begriffen 83 zu arbeiten. Schon Max Weber hat darauf aufmerksam gemacht, daß der von den Rassetheoretikern verwendete Rassebegriff der für eine objektive Forschung notwendigen wissenschaftlichen Genauigkeit entrate. I n einer Diskussionsrede zu einem Vortrag des Rasseanalytikers A. Ploetz kritisierte Max Weber, daß bei den gängigen Rassetheorien eine Wissenschaftlichkeit vorgetäuscht werde, die ernsthafter Prüfimg keineswegs standhalte. „Was heißt es denn eigentlich: ,die Rasse blüht* oder schon: ,die Rasse4 reagiert i n bestimmtem Sinn? Was heißt es: die Rasse ,ist eine Einheit'? — wenn nicht eine Blutseinheit? Soll 57
Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Ebenso sei „Trotzkij . . . ein tief brünnetter Jude" und „Lenin ein echter Tatar" (ebd., S. 90). 09 Karl Marx: Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts. Über den asiatischen Ursprung der russischen Despotie. Hrsg. von Ulf Wolter. Berlin 1977, S. 92. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Über die klassifikatorischen Probleme des Rassenbegriffs vgl. auch Ludwig Stein: Kultur und Rasse. In: Archiv für Philosophie. I I . Abteilung: Archiv für systematische Philosophie N.F. 26 (1921), S. 3 ff. 58
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über die Existenz dieser »Einheit' das bloße Faktum der physisch normalen Fortpflanzungsfähigkeit . . . entscheiden? Und gehört zum ,Erhaltensgemäßen' die Fähigkeit, bestimmte Kulturelemente zu entwickeln, — oder was sonst? I m letzteren Fall kämen w i r mit dem Begriff der ,Vitalrasse' i n das uferlose Gebiet der subjektiven Wertungen 64 ." Nichts kennzeichnet die Rassentheorie so sehr wie die Tatsache, daß es ihr bislang nicht gelungen ist, bestimmte politische und kulturelle Verhaltensweisen auf bestimmte Rassenmerkmale unzweifelhaft zurückzuführen. Wie sehr der Geist der Unwissenschaftlichkeit i n den rassetheoretischen Abhandlungen dominant geworden ist, dem hat Max Weber mit aller Deutlichkeit Ausdruck verliehen: „Aber daß es heutzutage auch nur eine einzige Tatsache gibt . . . die eine bestimmte Gattung von soziologischen Vorgängen wirklich einleuchtend und endgültig, exakt und einwandfrei zurückführte auf angeborene und vererbliche Qualitäten, welche eine Rasse besitzt und eine andere definitiv — wohlgemerkt: definitiv! — nicht, das bestreite ich mit aller Bestimmtheit und werde ich so lange bestreiten, bis m i r diese eine Tatsache genau bezeichnet ist 6 5 ." Ähnlich bezeichnet Robert Michels die theoretischen Konstrukte derjenigen Autoren, die „bestimmten Rassen inhärente Anlagen nachzuweisen" 66 versuchen, als „unsinnige Theorien" 67 . Michels weist nach, daß dem Schluß auf die „angeblich mangelhafte wirtschaftliche Anlage einzelner Völker" 6 8 ein apodiktischunhistorischer Charakter innewohne. „Oft war es nur eine ökonomisch oder politisch bedingte vorübergehende Erscheinung, die als Ewigkeitswert beanspruchendes ethnologisches oder völkerpsychologisches D i k t u m galt 6 9 ." Bereits Alexis de Tocqueville hat die Behauptung, die Merkmale der einzelnen Rassen seien invariabel, als Ableger einer Einstellung begriffen, die schlicht die historische Erfahrung mißachtet. I n einem Brief an Gobineau schreibt er: „ I I est à croire qu'il y a chez chacune des différentes familles qui composent la race humaine de certaines tendances, de certaines aptitudes propres naissant de mille causes différentes. Mais que ces tendances, que ces aptitudes soient invincibles, non seulement c'est ce qui n'a jamais été prouvé, mais c'est ce qui est, de soi, improuvable, car i l faudrait avoir à sa disposition 64
Max Weber: Diskussionsrede zu dem Vortrag von A. Ploetz über „Die Begriffe Rasse und Gesellschaft". Erste Soziologentagung Frankfurt 1910. In: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen 1924, S. 458. 65 Ebd., S. 459. 66 Robert Michels: Wirtschaft und Rasse. In: Grundriß der Sozialökonomie. I I . Abteilung: Die natürlichen und technischen Beziehungen der Wirtschaft. Teil I : Wirtschaft und Natur. Tübingen 1923, S. 125. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 176. 89 Ebd.
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non seulement le passé mais encore l'avenir 7 0 ." Das Verhalten der ethnischen Gruppen unterliegt Veränderungen, die die Vertreter der rassischen Interpretation von Geschichte und Politik unberücksichtigt lassen. Einen nachhaltigen Eindruck von der Spannweite des Verhaltens einzelner Ethnien erhält man, wenn man ihre Langzeitentwicklung i n den Blick nimmt. Friedrich Ratzel zufolge traten „die alten Deutschen und Gallier . . . der römischen K u l t u r verhältnismäßig nicht minder kulturarm gegenüber als uns die Kaffern oder Polynesier, und manches, was sich heute zum K u l t u r v o l k der Russen zählt, war zur Zeit Peters des Großen noch ein reines Naturvolk" 7 1 . Für Friedrich Ratzel ist es eine unumstößliche Tatsache, daß jede Rasse jedes K u l t u r niveau erreichen kann. „Es können Völker von jeder Rasse, von jedem Grade natürlicher Ausstattung entweder noch nicht zur K u l t u r fortgeschritten oder i n der K u l t u r zurückgegangen sein 72 ." Ignaz Zollschan geht es vor allem darum, die These von der Invariabilität des ethnischen Verhaltens durch den Nachweis zu erschüttern, daß sich fast jede Rasse pazifistisch und kriegerisch gibt bzw. gegeben hat. „Die Völker können unabhängig von ihrer Rasse kriegerisch und friedliebend, grausam und milde gemacht werden 7 8 ." So seien beispielsweise die „Mongolen ein friedliches Hirtenvolk, wurden dann das mächtigste Kriegervolk und sind heute wieder friedlich" 7 4 . Dasselbe gelte auch für die Türken, Franzosen und Ungarn 7 5 . Des weiteren seien „die Schweizer . . . ehedem als Kriegsleute bekannt" 7 6 gewesen. „Heute sind diese vortrefflichen Krieger zu klugen Gastwirten geworden 77 ." Ein frappierendes Beispiel für die Einstellungs- und Verhaltensänderung von ethnischen Gruppen stellen die Juden dar. „Die als vorzugsweise friedlich erachteten Juden mit ihrem Abscheu, ja ihrer Angst vor den Waffen besaßen ehemals ein kriegerisches Temperament. Das ,Buch der Richter* ist voll von Heldentaten der Juden. Es gab selbst eine Zeit, i n der die Juden die Söldner spielten wie die Schweizer i n neuerer Zeit. I n dieser Eigenschaft zeichneten sie sich durch ihren Mut und ihre Treue aus 78 ." Die 70
Alexis de Tocqueville à Arthur de Gobineau. 17.11.1853. In: Correspondance d'Alexis d'Tocqueville et d'Arthur de Gobineau. In: Oeuvres Complètes. Tome I X . Paris 1959, S. 202. 71 Friedrich Ratzel: Völkerkunde. Erster Band. 2. Auflage. Leipzig und Wien 1894, S. 17. 72 Ebd. 73 Ignaz Zollschan: Das Rassenproblem unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage. Wien und Leipzig 1910, S. 191. 74 Ebd., S. 191 f. 75 Ebd., S. 192. 79 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd.
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Juden hätten „zur Zeit der Makkabäer die kriegsmutigsten Truppen" 7 9 gestellt, seien der „heldenhafteste Gegner Roms" 8 0 gewesen. Ignaz Zollschan führt gegen diejenigen Autoren, die die politische Unfähigkeit der semitischen Rasse zu beweisen suchen, die kulturellen und staatlichen Leistungen dieser ethnischen Gruppe ins Feld. Die Stele Hammurabis beweise, i n wie starkem Maße die Babylonier sich durch politische Hochbegabimg auszeichneten. Es handelt sich bei der Gesetzgebung dieses Herrschers u m das „älteste Gesetzbuch der Welt . . . und ein Zeugnis nie geahnter menschlicher K u l t u r " 8 1 . Wenn es noch eines Beweises für das politische Ingenium gerade dieser Rasse bedurft hätte, so wäre er mit diesem Gesetzeswerk erbracht. Dieser Kodex verdankt sich vor allem der Anstrengung, den Bürgern ein staatliches Zusammenleben zu gewährleisten, i n dem Rechtssicherheit herrscht. „Jeder Untertan konnte darauf rechnen, sei es seitens der Ortsrichter oder des höchsten Gerichtshofes oder des Königs selbst, seinen Rechtsfall untersucht und nach Recht und Gerechtigkeit entschieden zu sehen 82 ." Hammurabi habe nicht zuletzt die genuin liberale Habeas-Corpus-Gesetzgebung Englands vorweggenommen. „Vollkommenster Schutz für jedermanns Leben, Eigentum, Freiheit und guten Namen" 8 3 gehörten zu den zentralen Postulaten seines Gesetzeswerkes. Was den V o r w u r f anlangt, die Juden seien a priori auf der anarchistischen, staatsverneinenden Seite zu finden, so gibt Adolf Grabowsky zu bedenken, daß der Jude recht eigentlich „ i n der Wurzel konservat i v " 8 4 sei. Das Judentum habe sogar einen „überstarren, halsstarrigen Konservatismus angenommen" 85 . Diese Ansicht teilt auch Russell K i r k . „Der jüdische Radikale ist eine Abnormität: die Traditionen von Rasse und Religion, die jüdische Liebe zur Familie, alte Bräuche und geistige Kontinuität — das alles sind konservative Elemente 88 ." Das Votum der 79
Ebd., S. 192. Ebd., S. 192 f. 81 Ebd., S. 327. 82 Ebd. Nachdrücklich warnt A. Hedler davor, a priori von der Höher- bzw. Minderwertigkeit bestimmter Rassen auszugehen. „Oberflächliche Beurteiler sprechen . . . leichthin von hochkultivierten Rassen. Die Archäologie und die Ethnologie haben nachgewiesen, daß einerseits Völker der Steinzeit, andererseits sogenannte primitive Völker der Gegenwart auf mannigfaltigen Gebieten der Kunst Leistungen hervorgebracht haben, welche zum Teil sogar denjenigen der Renaissance nicht nachstehen... Es ist nicht der Schatten eines wissenschaftlichen Beweises dafür erbracht, daß eine bestimmte Rasse kulturell tiefer stehen müßte, als irgend eine andere. Nicht viel weniger ist es bewiesen, daß es überhaupt hochwertige und minderwertige Rassen gibt" (Rassenkunde und Rassenwahn. Wissenschaft gegen demagogischen Dilettantismus. Berlin 1932, S. 65). 83 Ebd. 84 Adolf Grabowsky: Politik. S. 267. Ebd. 80
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Juden für liberale und sozialistische Parteien sei nicht genetisch, sondern politisch zu erklären. „Erst wenn man i h n aus der Gesellschaft ausschließt, w i r d der Jude zum sozialen Revolutionär 8 7 ." Adolf Grabowsky zufolge ist der Jude deshalb der „typische liberale Fortschrittler" 8 8 geworden, denke er deshalb „nicht selten so p r i m i t i v und unproblematisch liberal" 8 9 weil er des staatlichen Gemeinschaftserlebnisses seit langer Zeit entbehre. „Sein langes Fernsein vom Staatserlebnis" habe ihn „unempfänglich gemacht . . . für Kollektivitäten 9 0 ." E r zeige „ U n verständnis für Kollektivitäten außer den Gemeinschaften, i n denen er unmittelbar steckt" 91 . M i t Grabowsky weist auch Julius Goldstein darauf hin, daß es eher historische Gründe sind, die die Vorliebe der Juden für nichtkonservative Parteien bedingen. Der Antisemitismus der herrschenden Parteien habe die Juden i n die Hände der Opposition getrieben. „Wie konnten die Juden einer Partei angehören, die offen oder versteckt dem Antisemitismus das Wort redete? Mußten sie nicht i n Opposition zu einer Regierung stehen, die ihnen alle höheren Stellen i n Heer und Staat verschloß 92 ?" I n Italien, England und Frankreich dagegen „finde man die Juden i n weit höherem Maße als bei uns auf Seiten der konservativen, das Gregebene bejahenden Parteien" 9 3 . Weit davon entfernt, sich ausschließlich bei den liberalen und sozialistischen Parteien einzufinden, seien die Juden auch Wortführer konservativer Parteien gewesen. Goldstein verweist i n diesem Zusammenhang zu Recht auf Benjamin Disraeli 9 4 und Friedrich Julius Stahl 9 5 . Daß nicht zuletzt außenpolitische Entwicklungen die politische Einstellung der Juden bestimmen, weist Iving Kristol 9 8 nach. I n der letzten 86 Russell Kirk: Lebendiges politisches Erbe. Aus dem Amerikanischen. Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1959, S. 262. 87 Ebd. 88 Adolf Grabowsky: Politik. S. 265. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Julius Goldstein: Rasse und Politik. Vierte Auflage. Leipzig und Wien 1925, S. 121. 93 Ebd. 94 Ebd. Julius von Eckardt schreibt über die Hamburger Juden: „Unter den der »Bürgerschaft 4 angehörigen jüdischen Advokaten standen mindestens ebenso viele auf der konservativen wie auf der liberalen Seite — der Typus des jüdischen Radikalen war unter den dortigen Juristen kaum vertreten" (Lebenserinnerungen. Erster Band. Leipzig 1910, S. 203). 95 Ebd. Ganz im Gegensatz zu seiner Skepsis, die J. C. Bluntschli im allgemeinen der rassischen Politikerklärung entgegenbringt, erblickt er in der Stahlschen Politikdoktrin die „semitische Weltansicht" (Geschichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik. München 1864, S. 635). Sie sei allerdings „gehoben und erweitert durch arisch-europäische Bildungsmomente" (ebd.). Für den Liberalen Bluntschli findet sich in Stahls Lehre „zu viel Berufung auf Gottes Gebot und zu wenig menschliche Freiheit" (ebd.).
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Zeit habe die antiisraelische Einstellung der l i n k e n die Juden ins konservativ-rechte Lager abgedrängt 97 . Dabei sei es vor allem die sogenannte New Left, die den Staat Israel i n aggressiver Weise kritisiere. Während das konservativ-rechte politische Spektrum heute den politischen Einstellungen der Juden eher entspreche, legten die Linken und die Liberalen eine ausgesprochen skeptische Haltung gegenüber den politischen Forderungen der Juden i m allgemeinen und den politischen Prämissen Israels i m besonderen an den Tag. „The Conservative Party and the conservative Press, traditionally cool toward Israel and traditionally indifferent toward Jewish interests, has of late shown increasing friendliness and concern for both. I n contrast, the Liberal and Labour parties and press, traditionally ,pro-Jewish', have recently become rather critical of Israel and also display a rather studied indifference to Jewish sensibilities 98 ." Dabei hat die Linke i n immer stärkerem Maße die arabische Position i m Nahost-Konflikt übernommen. „Despite atrocities such as the one at Munich, emerging pro-Arab sympathies w i t h i n the Left grow steadily stronger, not only i n the United States but i n every land 9 9 ." Kristol spricht sogar von der „growing hostility of the Left to Jews w i t h i n such nations as the U.S., England, France, Germany, even Sweden" 100 . Insbesondere die extreme Linke, besser gesagt, die Neue Linke habe sich für eine illiberale Politikkonzeption ausgesprochen, die i n diametralem Gegensatz zur liberalen Tradition der Juden stehe. „Where the Old Left claimed to f u l f i l l the Western moral and intellectual tradition . . . the New Left repudiates that tradition. Its utter contempt for liberal values is as complete as i t is candid. There are no Norman Thomases or Leon Blums or Hugh Gaitskills i n the new movement. Only Maos and Che Guevaras and Castros and Eldridge Cleavers — men for whom socialism is necessarily totalitarian. I n their Utopias, there is no room for Jews 1 0 1 ." Weit davon entfernt, utopische Staatsideale anzustreben, gehe es den heutigen Juden darum, das Erreichte zu erhalten, die liberale Gesellschaft auf Dauer zu stellen. „ I t is no paradox to state that i t is precisely the 96 Irving Kristol: Why Jews Turn Conservative. In: The Wall Street Journal. 14. Sept. 1972. 97 Dabei seien die Juden ursprünglich links eingestellt. „For two centuries now, Jews everywhere have been of a predominantly left-of-center political persuasion — and most of them would strongly prefer to retain this political identity. Having been emancipated from the ghetto by the revolutions of the 18th and 19th centuries, and having been accorded full civil rights . . . by the parties of liberalism and social democracy, Jews simply do not feel at home on the political Eight" (ebd.). 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Ebd. 101 Ebd.
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liberalism of American Jews and Israeli Jews which are moving both i n the more conservative direction — moving both toward a concern w i t h the conservation of the kind of liberal society that prevails i n both lands. Such a conservatism . . . is not at all compatible w i t h the antiliberal passion that is convulsing and reshaping the Left all over the world 1 0 2 ." Sowenig es möglich ist, den einzelnen Rassen und Ethnien bestimmte, unveränderliche Charaktermerkmale zu subsumieren, sowenig kann auch das kulturelle Sosein von Nationen auf den Rassecharakter ihrer Bürger zurückgeführt werden. Was sich i m nationalen Verhalten eines Staates ausdrückt, verweist nicht auf die rassischen Grundlagen des betreffenden Gemeinwesens, sondern rückt vielmehr die Prägekraft des Nationalen i n ein besonderes Licht. Bei der Ausformung nationaler Charaktere kommt nicht die rassische Abkunft der Staatsgenossen zum Zuge. Sie erhalten ihre Antriebskräfte vielmehr aus einem Konglomerat von Faktoren. M i t Nachdruck weist Joseph A q u i l i n Lettenbaur darauf hin, daß die Angehörigen der verschiedenen Rassen die Fähigkeit besitzen, einen bestimmten Nationalcharakter anzunehmen. Es mache „bei der Nation wie bei der Familie wenig aus, aus welchen Rassen oder Gameten sie sich zusammengesetzt haben" 1 0 3 . So werde ein „mexikanischer Knabe, der von deutschen Eltern adoptiert wird, deutschen Namen und deutsche Erziehung erhält, . . . seiner A r t nach Vollblutdeutscher, und wenn er auch die Aztekenbackenknochen trägt und auf seine Kinder vererbt" 1 0 4 . Hugenotten wurden treue Diener des preußischen Staates und stolze Deutsche. „Wo gibt es i m Deutschen Reich bewußtere und patriotischere Deutsche als die Abkömmlinge jener unter dem Großen Kurfürsten nach Preußen eingewanderten Franzosen, die heute noch vielfach die äußeren Züge ihrer romanischen Abkunft aufweisen 105 ?" Darüber hinaus seien „angesehene preußische Adelsgeschlechter . . . israelitischer Herkunft . . . und gelten sich und anderen als blaues B l u t " 1 0 6 . Auch französische Juden erwiesen sich als Patrioten. „Wo war je ein typischerer Nationalfranzose als Léon Gambetta, der Sohn eines genuesischen Juden 107 ?" I n wie starkem Maße sich der Versuch, die nationale Eigenart eines Staates auf seine rassischen Grundlagen zurückführen zu wollen, als dogmatischer Reduktionismus entpuppt, beweise nicht zuletzt das Bei102
Ebd. Joseph 1923, S. 138. 104 Ebd., S. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 107 Ebd., S. 103
Aquilin 139. 138 f. 139.
Lettenbaur:
Rasse und Menschheit. In: Hochland (20)
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spiel der Vereinigten Staaten von Amerika. Lettenbaur schreibt zu Recht: „Amerika, das Land des großen Experiments, die neue Welt eines fraglos ausgeprägten neuen Menschentyps, ist geradezu das Schulbeispiel für den Gedanken, daß zum einheitlichen Gebilde eines Nationalitätentypus etwas anderes gehört als die einheitliche Rasse, und mag man diesen Begriff noch so weit und noch so entfernt von seiner ursprünglichen biologischen Bedeutung fassen 108 ." Wie wenig die Rassenzugehörigkeit der Staatsbürger einer bestimmten Nation ihren Charakter bestimmen, zeigt nicht zuletzt die komparative Länderanalyse auf. M i t Nachdruck hat der konservative Politologe Gaetano Mosca darauf aufmerksam gemacht, daß Staaten m i t gleicher rassischer Komposition sich durchaus stärker voneinander unterscheiden können als ethnisch völlig unterschiedliche politische Gemeinwesen. „ I n vielen Fällen ist die ethnische Verwandtschaft zweier Völker so gut wie belanglos i m Vergleich zu der Gemeinsamkeit der Religion, der Geschichte und der K u l t u r 1 0 9 . " Mosca weist darauf hin, „daß ein Magyare mit einem Chinesen oder einem Türken ethnisch näher verwandt ist als mit einem Franzosen oder einem Deutschen" 110 . Trotz dieser rassischen Verwandtschaft orientiere sich der Ungar eher nach dem Westen; er stehe Deutschland und Frankreich ideologisch und weltanschaulich näher als seinen Rassegenossen i m Fernen Osten und der Türkei. Mosca behauptet zu Recht, daß „der sog. Genius der Rasse . . . nichts Zwangsläufiges und Unausweichliches an sich" 1 1 1 habe. Ganz i m Gegensatz zu denjenigen Gesellschafts- und Politikanalytikern, die historische Entwicklungen und politische Institutionen vom Begriff der Rasse her erklären, geht er davon aus, daß ganz andere Faktoren berücksichtigt werden müssen, w i l l man zu einer zureichenden Erklärung der Geschichte und ihres politischen Prozesses kommen. „ . . . so ist es doch nicht die Summe ihrer organischen Verschiedenheiten, welche die Verschiedenheit ihrer Gesellschaftsformen ausschließlich oder auch nur vorwiegend bedingt: vielmehr beruhen diese auf der Verschiedenheit ihrer sozialen Kontakte und auf anderen geschichtlichen Umstän108
Ebd., S. 138. Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. S. 34. 110 Ebd. I n wie starkem Maße der Charakter von Groß- und Kleingruppen durch ideologisch-politische Faktoren bestimmt wird, dafür ist Gaetano Mosca zufolge der katholische Klerus ein augenfälliges Beispiel. „Er ist über die ganze Welt verstreut, bewahrt sich aber überall eine außerordentliche Einheitlichkeit des Glaubens, der intellektuellen und moralischen Haltung und der Gebräuche" (Die herrschende Klasse. S. 33). Insbesondere die M i t glieder der einzelnen Orden zeichneten sich durch eine erstaunliche Verhaltenshomogenität aus. Dies gelte in besonderem Maße für die Societas Jesu. „Wohlbekannt ist die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen einem italienischen und einem französischen, einem deutschen und einem englischen Jesuiten" (ebd.). 111 Ebd., S. 34. 109
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den, wie solchen keine Nation und kein sozialer Organismus, geschweige denn irgendeine Rasse ausweichen kann 1 1 2 ." Ähnlich geht Lettenbaur davon aus, daß sich die Ideologie und die Struktur eines politischen Gemeinwesens einer Vielzahl nichtrassischer Faktoren verdanken. „Aus allem diesem . . . erhellt, daß der Einfluß der Rasse auf den Charakter eines Volkes, ,der sich niemals ändert 1 , von untergeordneter Bedeutung ist, daß vielmehr die Umwelt, die menschliche Nachahmung der Vorzüge und Fehler der Umgebung, ungewollte Suggestion, die »Erziehung 4, die auch das Einfachste i m Menschenverkehr aufnimmt, die ganze Seelenanpassung, der niemand entrinnt, überhaupt das gemeinsame innere Erleben und vor allem bei den höher entwickelten Schichten die Tradition mit ihren tausenderlei Einflüssen aus Geschichte und Erzählung bestimmender für den Nationalcharakter sind als die Herkunft 1 1 8 ." Die rassische Erklärung der Geschichte ist für Lettenbaur ein zu äußerster Evidenz gebrachtes Beispiel für die weiterwirkende Tradition materialistischen Denkens. Sie stehe eindeutig „unter der Nachwirkung der materialistischen Weltanschauung, die dem Bereich des Geistigen, des Seelischen i n der Bildung des Körperlichen zu wenig Beachtung" 1 1 4 schenke. Durch die dogmatische Konzentration auf die Rassenidee verlieren die Repräsentanten der rassischen Politikerklärung auch die Tatsache aus dem Auge, daß die meisten politischen Gemeinwesen der Gegenwart ethnisch ausgesprochen heterogen zusammengesetzt sind und es aus diesem Grunde als ein irreales Unternehmen erscheint, der Rassenreinheit 115 das Wort zu reden. Dabei waren es nicht nur „linke", sondern auch liberale und konservative Autoren, die auf diesen Tatbestand hingewiesen haben. Für den liberalen Staatsrechtslehrer Johann Caspar Bluntschli sind alle „modernen Staatsvölker . . . aus 112
Ebd. Joseph Aquilin Lettenbaur: Rasse und Menschheit. S. 139. 114 Ebd., S. 138. 115 Diesem Postulat wurde zu Recht angelastet, gegen den Geist der nationalen Homogenität zu verstoßen. So hat Adolf Hedler darauf hingewiesen, daß der Rekurs auf die nordische Rasse einen Keil zwischen die einzelnen deutschen Gruppen und Stämme treibt. „Die Rassenpropaganda beleidigt bewußt die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in Süd-, Ost- und WestDeutschland, indem sie sie ausdrücklich als minderwertig bezeichnet" (A. Hedler: Rassenkunde und Rassenwahn. S. 66). Aus diesem Grunde sei die „Rassenpropaganda . . . ausgesprochen antinational" (ebd.). Sie erkläre die der nordischen Rasse angehörenden Franzosen, Engländer und Dänen für wertvoller „als die Deutschen, welche der nordischen Rasse nicht angehören" (ebd.). Das Predigen von Rassenhaß zersetze die nationale Gemeinschaft in demselben Maße, wie die Propagierung von Klassen- und Massenhaß. Darüber hinaus beleidige die Rassenpropaganda auch die „Träger des katholischen und mosaischen Bekenntnisses" (ebd.). 118
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starken Mischungen entstanden" 116 . So seien i n „Italien . . . ostgothische, langobardische, deutsche Rassenzweige dem alten römischen Volksstamm aufgepropft" 1 1 7 worden. I n Frankreich haben sich „ m i t dem romanisierten Keltenstamm die germanischen Franken und Burgunder" 1 1 8 vermischt. I n den „Engländern ist die ältere Mischung der romanisierten Briten m i t den germanischen Angel-Sachsen und die spätere des angelsächsischen Adels mit dem normannischen entscheidend geworden" 1 1 9 . I n den Normannen selber „waren hinwieder Germanenblut und Römerbildung" geeinigt" 1 2 0 . Selbst ein so rechts stehender A u t o r wie Oswald Spengler weist darauf hin, daß die Forderimg nach Rassereinheit i m Hinblick auf die seit urdenklichen Zeiten praktizierte Rassenmischung utopischen Charakter aufweist. „Rassereinheit ist ein groteskes Wort angesichts der Tatsache, daß seit Jahrtausenden alle Stämme und Arten sich gemischt haben 121 ." Gerade lebenskräftige Gemeinwesen hätten immer wieder Angehörige fremder Rassen i n ihren Blutsverband aufgenommen. So haben „gerade kriegerische, also gesunde zukunftsreiche Geschlechter von jeher gern einen Fremden sich eingegliedert, . . . wenn er ,von Rasse* war, gleichviel zu welcher Rasse er gehörte" 122. Es komme aus diesem Grunde „nicht auf die reine, sondern auf die starke Rasse an, die ein Volk i n sich hat" 1 2 3 . I n ähnlicher Weise gehen Lester und Millot davon aus, daß die „reinen Rassen nichts von Bedeutung hinterlassen haben, und daß i m Gegenteil alle großen menschlichen Schöpfungen Völkern gemischter Rasse zu verdanken sind" 1 2 4 . So seien die „schönsten Offenbarungen des menschlichen Genius das Werk von gekreuzten Rassen oder Indi116
Johann Caspar Bluntschli: Politik als Wissenschaft. S. 125. Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. Max Weber zufolge ist besonders Deutschland ein Produkt verschiedener rassischer Ingredienzen, zu deren wichtigsten sicherlich romanische und germanische Elemente gehören. Seine eigene Erbmasse sei aus einer ausgesprochenen M i x t u r entstanden. „Ich fühle mich . . . als Schnittpunkt mehrerer Rassen oder doch ethnischen Sondervolkstümer... Ich bin teils Franzose, teils Deutscher, und als Franzose sicher irgendwie keltisch infiziert" (Diskussionsrede. S. 458). M i t kaum überhörbarer Ironie fragt er: „Welche dieser Rassen — denn man hat auf die Kelten die Bezeichnung,Rasse' angewendet — blüht denn nun in mir, resp. muß blühen, wenn die gesellschaftlichen Zustände in Deutschland blühen, resp. blühen sollen?" (Ebd.) 121 Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München 1933, S. 157. 122 Ebd. 123 Ebd. 124 P. Lester/J. Millot: Grundriß der Anthropologie. 2. Auflage. Aus dem Französischen. Lahr 1948, S. 170. Die beiden Autoren fragen: „Welche Entdeckungen, welche Meisterwerke haben die skandinavischen Helden aufzuweisen, deren Vorzüge Gobineau so lyrisch gepriesen hat?" (Ebd.) 117
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viduen, die der Vereinigung rassisch verschiedener Elemente ihr Dasein verdanken" 1 2 5 . Als Beispiel führen die beiden Autoren das Griechenland zur Zeit des Perikles an. Nur ein ideologisch fixierter Forscher könne übersehen, daß die „Griechen der großen Epoche ein unentwirrbares Gemisch von Seefahrern aus A f r i k a und Asien, Semiten, Angehörigen der Mittelmeerrasse, alpinen und nordischen Eindringlingen gewesen sind" 1 2 6 . Die Rassenmischung sei i n Rom und Ägypten nicht weniger groß gewesen 127 . Die Pharaonen hätten „ i n ihrer königlichen Person afrikanische Erbcharaktere mit mittelmeerländischen und semitomongolischen aus Vorderasien" 128 vereint. Ganz i m Gegensatz zu der Behauptung der rassisch analysierenden Politikinterpreten geht Bluntschli davon aus, daß die Rassereinheit eines politischen Gemeinwesens keineswegs eine Garantie gegen den staatlichen Verfall darstelle. Während für Gobineau und seine Anhänger der Fortschritt der Völker i n der Rassereinheit ihrer Bürger gründet, ist Bluntschli der Auffassimg, daß die „sorgfältige Bewahrung der reinen Rasse das V o l k " nicht immer „vor dem Untergang und den Staat vor dem Verfall bewahrt" 1 2 9 habe. Es sei zum Beispiel den Indern nicht gelungen, durch die Pflege der Rassereinheit den Untergang ihrer Staaten zu verhindern. „Die indische Kastenordnung ist ganz von dem Gedanken erfüllt, die Reinheit der Rassenüberlieferung für alle Zeiten auf das Strengste vor jeder Trübung zu bewahren . . . Trotzdem hat sich die Selbständigkeit der indischen Arier nicht erhalten. I h r Land wurde von den Fremden überzogen und erobert. Ihre Staaten gingen alle unter 1 3 0 ." I m Kontrapunkt zu Gobineau und seinen Schülern geht Bluntschli davon aus, daß „unter gewissen Umständen gerade die Mischung verschiedener Stämme und Nationen die Völker erfrischt, bereichert, verbessert und stark gemacht hat" 1 3 1 . Insbesondere die Vertreter derjenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die das weite Gebiet des menschlichen Kulturschaffens zu ihrem Erkenntnisbereich zählen, fühlten sich durch die Behauptung der rassischen Kunst- und Literaturerklärung herausgefordert, derzufolge das gesamte kulturelle Universum des Menschen von den ethnischen Determinanten bestimmt ist. Was die Architektur anlangt, so hat Georg Dehio nachdrücklich die Auffassung abgelehnt, der Geist der einzelnen Rasse spiegle sich in den verschiedenen Baustilen wider. Es wider126 126 127 128 129 130 181
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Ebd. Ebd. Ebd., S. Ebd., S. Johann Ebd. Ebd., S.
170 f. 171. Caspar Bluntschli: Politik als Wissenschaft. S. 124. 125.
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spreche den Erkenntnissen der Kunstgeschichte, die abendländische Baukunst rassisch zu interpretieren. Unzweifelhaft seien die Franzosen die ersten gewesen, „die die gotischen Konstruktionselemente zu einem logischen System zusammengefaßt" 182 haben. Falsch jedoch sei es, „noch weiter zu gehen und auch jene Stimmung, jenes Weltgefühl i n ausschließendem Sinne als ein Eigentum des französischen Geistes zu deklarieren, aus erblichen Sondereigenschaften der Rasse abzuleiten" 188 . Es sei schon nicht möglich, bei einem ethnischen homogenen Volk alle Kulturmanifestationen rassisch zu deduzieren 184 . Der Rekurs auf die Rasse sei noch fragwürdiger 1 8 5 , wenn man es wie bei den Franzosen mit einem Mischvolk zu t u n habe. „Ist es das Gallische oder das Lateinische oder das Germanische i n den Franzosen, das i n der Gotik seinen Ausdruck gefunden hat 1 3 6 ?" Diese Frage sei i n sich schon illegitim. „Die Gotik ist nicht aus der Tradition des Blutes zu erklären, sie ist die künstlerische Synthese der von den nordischen Menschen gemeinsam geschaffenen und erlebten K u l t u r i n einer zeitlich begrenzten Entwicklungsphase 137 ." Statt sie als Emanation eines vermeintlichen Rassegeistes aufzufassen, tue man besser daran, sie als „Zeitprodukt" 1 8 8 zu begreifen.
134 Georg Dehio: Geschichte der deutschen Kunst. Des Textes erster Band. Berlin und Leipzig 1919, S. 215. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Dehio spricht von einem „recht fragwürdigen Erklärungsprinzip" (ebd.). 138 Ebd. 187 Ebd. 188 Ebd.
V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses Es ist doch einfach nicht wahr, daß man gegen angeborene Instinkte des Menschen machtlos wäre. Den einzigen sicher angeborenen Instinkt des Menschen, den Nahrungsaufnahmetrieb, bändigen jedenfalls alle jene ganz erfolgreich, die sich aus den verschiedensten Überzeugungen zum Hungerstreik entschließen. Wolfgang Wickler Der Mensch kann sich nicht verstehen, wenn er sich nur genetisch versteht. R o b e r t S p a e m a
1. Biopolitik und Politikwissenschaft Immer schon wurden i n der Politikwissenschaft auch „natürliche" Faktoren bei der Erklärung des politischen Verhaltens berücksichtigt. I n der aristotelischen Denktradition w i r d das politische Gemeinwesen aus dem natürlichen Bedürfnis des Menschen abgeleitet, sich mit seinesgleichen zusammenzutun 1 . So bezeichnet Aristoteles den Menschen als „ein nach staatlicher Gemeinschaft strebendes Wesen" 2 . Die Motivation zum Leben i m politischen Gemeinwesen empfängt der Mensch aus einer Seinsschicht, über die er nicht frei gebieten kann. „Diesem allen gemäß lebt . . . von Natur i n allen Menschen der Trieb, i n diese A r t von Gemeinschaft einzutreten 8 ." Ähnlich ist es für Thomas von A q u i n die „natürliche Bestimmung des Menschen, das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein" 4 . Die Gemeinschaftsnatur des Menschen gehe eindeutig aus seiner Bedürfnisstruktur hervor. „ A u f sich allein gestellt, wäre kein Mensch imstande, das Leben so zu führen, daß er seinen Zweck erfüllt 5 ." Während die Natur dem 1 Vgl. dazu Fred H. Willhoite jr.: Ethology and the Tradition of Political Thought. In: The Journal of Politics 33 (1971), S. 631. 8 Aristoteles: Politik. Hrsg. von Nelly Tsouyopoulos und Ernesto Grassi. Hamburg o. J., S. 10. 3 Ebd. 4 Thomas von Aquino: Über die Herrschaft der Fürsten (De regimine principum). In: Ausgewählte Schriften zur Staats- und Wirtschaftslehre. Hrsg. von Friedrich Schreyvogel. Jena 1923, S. 10 (Die Herdflamme, Band I I I ) . 5 Ebd., S. 11.
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102
V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
Tiere die Nahrung bereitgestellt habe, müsse der Mensch „sie sich selbst durch die Arbeit seiner Hände beschaffen" 8 . Dazu bedarf es der gemeinschaftlichen Kooperation. Der Mensch benötige die Gemeinschaft vor allem auch deswegen, weil er i m Gegensatz zum Tier nicht mit natürlichen Verteidigungsmitteln ausgestattet ist. „Anderen Geschöpfen hat die Natur . . . M i t t e l zur Verteidigung wie die Zähne, Hörner, Krallen oder doch die Möglichkeit geschenkt, sich dem Gegner durch schnelle Flucht zu entziehen 7 ." A l l e i n die Gemeinschaft kann dem Menschen diejenige Hilfe gewähren, deren er i m Falle der Gefahr bedarf. Daß der Entscheidungsprozeß jedes politischen Gemeinwesens auch von biologisch-natürlichen Antrieben gespeist wird, dies war bis in die Neuzeit hinein die Ansicht vieler Autoren. So enthält das Buch des Fabianisten Graham Wallas über „Politik und menschliche Natur" 8 ein Kapitel über „Antriebe und Urtriebe i n der Politik" 9 . Ganz i m Sinne der modernen Ethologie behauptet Wallas, daß „unsere ererbte Verfassung uns oft geneigt" 1 0 mache, „auf gewisse Reize i n gewisser Weise zu reagieren, weil diese Reaktionen i n der Vergangenheit nützlich waren, u m unsere A r t zu erhalten" 1 1 . Der biologischen Sichtweise waren auch alle diejenigen verpflichtet, die den Staat organologisch interpretierten 1 2 . Thomas Hobbes erschloß die degenerativen Tendenzen und Phänomene der politischen Gemeinwesen mit Hilfe eines Vokabulars, das direkt aus der Zoologie und der Heilkunde entnommen ist 1 8 . So sei es die Hauptaufgabe der Staatsführung, das politische Gemeinwesen vor Krankheiten zu schützen 14 . Die politologische Sprache wurde nicht zuletzt von derjenigen ideologischen Strömung durch biologische Metaphern eingefärbt, die als Sozialdarwinismus bezeichnet wird. I h m 6 Ebd. Willhoite zufolge analysiert Thomas durchaus i m Horizonte einer biologischen Natursicht. „Aquinas speaks biologically in pointing to man's relative lack of natural defense weapons, such as horn and claws" (Ethology and the Tradition of Political Thought. S. 631). 7 Ebd., S. 10 f. 8 Graham Wallas: Politik und menschliche Natur. Hrsg. von Eduard Bernstein. Jena 1911. • Ebd., S. 3 ff. 10 Ebd., S. 5. 11 Ebd. 12 Vgl. dazu: Pitirim Sorokin: Contemporary Theories. S. 195 ff.; Francis Coker: Organistic Theories of the State. New York 1910. 13 Thomas Hobbes: Leviathan. Hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. Hamburg 1965. Vgl. dazu auch Jerome Stephens: Some Questions about a More Biologically Oriented Political Science. In: Midwest Journal of Political Science. 1970, S. 688. 14 So könne der Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht zur Erkrankung des Gemeinwesens führen. „Und für dieses Übel ist ein Vergleich nicht unpassend, nämlich mit der Epilepsie oder Fallsucht... Dieser Krank-
1. Biopolitik und Politikwissenschaft
103
zufolge ist es das Schicksal aller Organismen, sich dem „Kampf ums Dasein" auszusetzen. I n diesem „Struggle for life" haben nur diejenigen eine Chance, die sich als die Tüchtigsten und Stärksten erweisen. Die sozialdarwinistischen Begriffe wurden sowohl zur Analyse der Auseinandersetzung zwischen den innerstaatlichen Interessengruppen verwendet als auch dazu gebraucht, das Verhältnis zwischen den Staaten zu untersuchen. I n dem Maße, i n dem die modernen Forschungsrichtungen Soziobiologie und Ethologie 15 auf das biologisch-stammesgeschichtlich geprägte Verhalten des Menschen rekurrierten, haben auch Politologen sich von ethologisch ausgerichteten Verhaltenswissenschaftlern anregen lassen. So schreibt Albert Somit, einer der bekanntesten ethologisch orientierten Politikwissenschaftler: „The biological sciences . . . have much to teach political scientists. Recent findings increasingly suggest that there is a physiological or biological element operative i n a good deal of what we call ,social* or ,political* behavior. They open the possibility, moreover, of an approach which may enable us to account for political phenomena for which we as yet have no satisfatory explanation 16 ." Vor allem W. J. M. Mackenzie weist auf die Bedeutung des biologischen Faktors für die Erklärung politischer Entscheidungen hin. Mackenzie versah das zweite Kapitel seines Werkes „Politics and Social Science" 17 mit dem Titel „The Biological Context" 1 8 . Die Politikheit ist etwas Unnatürliches eigen, als ob ein Windstoß die Wurzeln der Nerven ergreife, sie in heftige Bewegungen versetze" (Leviathan. S. 235). Auch pluralistische Gruppen innerhalb des Staatswesens sind als Krankheitsherde anzusehen. „Das gleiche gilt für die vielen Vereinigungen, die — wie Würmer in den Eingeweiden eines Körpers — im Organismus eines großen Staates gleichsam kleinere Staaten bilden" (ebd., S. 258). Menschen, die offen gegen die absolute Gewalt agitieren, sind „mit jenen kleinen Würmern verglichen worden, die die Ärzte Askariden nennen" (ebd.). Ist der Geldkreislauf des Staates gestört, sammelt sich das Geld in den Händen von Monopolen an, so ist diese „Krankheit des Staates . . . dem Lungenbluten" vergleichbar (ebd., S. 257). Ist der Staat in Gefahr, von seinen Bürgern kein Geld mehr zu bekommen, so kann man „diese Krankheit mit einem Fieber vergleichen, bei dem das Blut geronnen oder die Gefäße mit Giftstoffen verstopft sind" (ebd.). Das politische Gemeinwesen kann aber auch unter einem krankhaften E x pansionstrieb leiden. „Es muß ferner die Gefräßigkeit oder Bulimia an dieser Stelle genannt werden — die unstillbare Gier nach einer Erweiterung des Staatsgebildes. Sie führt häufig zu unheilbaren Wunden, die dem Staat vom Feind zugefügt werden. Große Eroberungen z. B. sind oftmals dem Staat — wie eine Geschwulst dem Körper — nur eine Last" (ebd., S. 258). 15 Zum Begriff der Ethologie vgl. Wolfgang Wickler: Antworten der Verhaltensforschung. München 1970, S. 19 f. 16 Albert Somit: Toward a More Biologically Oriented Political Science: Ethology and Psychopharmacology. In: Midwest Journal of Political Science. 12. 1968, S. 550. 17 W. J. M. Mackenzie: Politics and Social Science. Harmondsworth 1969. 18 Ebd., S. 23 ff. Das elfte Kapitel dieses Buches behandelt die „Social Biology (ebd., S. 158 ff.).
104
V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
Wissenschaft t u e heute g u t daran, sich d e r Ergebnisse v o n E t h o l o g i e u n d S o z i a l b i o l o g i e z u v e r g e w i s s e r n . „»Ethology* o r ,social biology* is s t i l l a f a i r l y y o u n g science; b u t i t does n o w exist, a n d i t s t e r m i n o l o g y is b e g i n n i n g t o p e n e t r a t e discussions a b o u t h u m a n society 1 ®.*' I m V e r g l e i c h z u d e n E r g e b n i s s e n dieser n e u e n W i s s e n s c h a f t s r i c h t u n g t r a g e die ü b e r k o m m e n e politische T h e o r i e a l l e Z ü g e e i n e r
Staatsinterpretation,
d e r die empirische Basis f e h l t . „ I n consequence, i t is n o t n o w possible f o r us t o l o o k at t h e h i s t o r y of h u m a n society w i t h t h e same eyes as those w h o m a d e t h e t r a d i t i o n s
of p o l i t i c a l science, w h e t h e r
before
o r a f t e r D a r w i n 2 0 . * * A l b e r t S o m i t u n d R o b e r t S l a g t e r zufolge h a t u n t e r d e n P o l i t i k w i s s e n s c h a f t l e r n d e r „ethologisch-soziobiologische A n s a t z . . . die g r ö ß t e A u f m e r k s a m k e i t gefunden** 2 1 . Dies sei auch keineswegs v e r w u n d e r l i c h , „ d a die v o n d e n E t h o l o g e n z u r E r k l ä r u n g u n d B e s c h r e i b u n g des T i e r v e r h a l t e n s g e b r a u c h t e n K o n z e p t e fast d a z u v o r b e s t i m m t s i n d , das Interesse des P o l i t i k w i s s e n s c h a f t l e r s z u wecken** 2 2 . F ü r Roger D . Masters
kann
„für
d r e i Gebiete d e r zeitgenössischen
Politikwissen-
schaft die E t h o l o g i e v o n B e d e u t u n g sein** 23 . Sie k a n n s o w o h l d i e „ M e t h o 19 Ebd., S. 23. Ähnlich weist Duverger darauf hin, daß eine wirklichkeitsadäquate Politikanalyse kaum den biologischen Faktor außer acht lassen kann. „ I I reste que la politique a des bases biologiques" (Maurice Duverger : Introduction à la politique. S. 32. Vgl. dazu auch Walter Bühl: Ethologie und Politikwissenschaft. In: Zeitschrift für Politik 32 (1976), S. 135 ff.). 20 Ebd. Darwins Einsichten haben vor allem die Soziobiologie bestimmt. Ihre Intentionen werden von Hansjörg Hemminger so beschrieben: „Die Soziobiologie entstand aus dem Versuch heraus, das soziale Verhalten von Mensch und Tier wie alle anderen Merkmale der Lebewesen durch die Prinzipien des Darwinismus zu erklären. Es sollte versucht werden, auch altruistisch wirkende Verhaltensweisen wie Jungenpflege, gemeinsame Verteidigung gegen Artgenossen oder Hilfe für einen kranken Artgenossen in möglichst strenger und formaler Weise als darwinistische Anpassungen des Einzeltiers im Kampf ums Dasein zu deuten... Die Soziobiologie ist . . . die konsequent darwinistische Erforschung der sozialen Verhaltensweisen" (Der Mensch — eine Marionette der Evolution? Eine K r i t i k an der Soziobiologie. Frankfurt am Main 1983, S. 15 f.). 21 Albert Somit/Robert Slagter: Biopolitics. Heutiger Stand und weitere Entwicklung. In: Heiner Flohr und Wolf gang Tönnesmann: Politik und Biologie. Berlin und Hamburg 1983, S. 35. Die beiden Autoren sprechen zu Recht vom ethologisch-sozialbiologischen Ansatz, denn die Grenze zwischen Ethologie und Sozialbiologie ist sehr schwer zu ziehen. So rechnet Hansjörg Hemminger nicht nur Edward Wilson, sondern auch Konrad Lorenz und v. EiblEibesfeldt zu den Sozialbiologen (Der Mensch eine Marionette der Evolution? S. 14 und passim). 22 Ebd. Reiner Flohr schreibt dazu: „Especially German social seientists should pay considérable attention to ethology. German speaking ecologists have supplied important insights" (The Relevance of Biopolitics for Political Science in the Fédéral Republic of Germany. In: Biopolitics. d. by Meinfried Striegnitz. Loccum 1981, S. 11; Loccumer Protokolle 18/1981). 23 Roger D. Masters: Ethologische Ansätze in der Politikwissenschaft In: Politik und Biologie. Hrsg. von Heiner Flohr und Wolfgang Tönnesmann. Berlin und Hamburg 1983, S. 94.
2. Die deterministische und eindimensionale Analyse der Biopolitik
105
dologie oder die E r k e n n t n i s t h e o r i e " 2 4 als auch die „ p o l i t i s c h e T h e o r i e . . . 2 5 u n d die empirische S o z i a l f o r s c h u n g " 2 6 entscheidend beleben.
2. D i e deterministische und eindimensionale Analyse der Biopolitik
D i e E n t d e c k u n g , daß T i e r e i n gewissen B e r e i c h e n i h r e s V e r h a l t e n s d u r c h stammesgeschichtliche A n p a s s u n g e n v o r p r o g r a m m i e r t sind, h a t d i e H u m a n e t h o l o g i e z u d e r F r a g e v e r a n l a ß t , o b dies auch f ü r das menschliche V e r h a l t e n z u t r e f f e . N a c h E i b l - E i b e s f e l d t h a t die F o r s c h u n g d e r l e t z t e n J a h r e gezeigt, daß „ a u c h d e r M e n s c h . . . m i t angeborenen Bewegungsweisen (Erbkoordinationen), Antrieben, Auslösern, Auslösem e c h a n i s m e n u n d angeborenen L e r n d i s p o s i t i o n e n a u s g e s t a t t e t " 2 7 ist. D i e k u l t u r v e r g l e i c h e n d e U n t e r s u c h u n g v o n R i t u a l e n habe ergeben, „ d a ß b e i g r o ß e r k u l t u r e l l e r V a r i a b i l i t ä t i m äußeren E r s c h e i n u n g s b i l d e i n g r u n d s ä t z l i c h gleicher s t r u k t u r e l l e r A u f b a u nachgewiesen w e r d e n k a n n " 2 8 . So w ü r d e n „Feste . . . n a c h u n i v e r s e l l e n R e g e l n s t r u k t u r i e r t — i h r A b l a u f f o l g t e i n e r uns angeborenen G r a m m a t i k " 2 9 .
24 Ebd. Hier geht es den Vertretern der modernen Biopolitik vor allem darum, mathematische und physikalische Vorstellungen von der Politik zu überwinden. Masters zufolge haben „gerade die populärwissenschaftlichen Werke von Robert Ardrey, Konrad Lorenz und Desmond Morris die Bewegung von der Physik hin zur Biologie als dem wissenschaftlichen Modell einer Politikwissenschaft beeinflußt" (ebd., S. 81). 25 Ebd. A n diesem Punkte scheint Masters zufolge „Lorenz* ethologische Theorie — die schematisch als O-S-R-Verhaltensmodell beschrieben werden kann — einen größeren Allgemeinheitsgrad zu besitzen und fruchtbarer zu sein als die Stimulus-Response- (S-R) -Theorie der amerikanischen behavioristischen Psychologie" (ebd., S. 94 f.). 26 Ebd. Hier verweist Masters auf die Untersuchung von „Gesten und nichtverbalen Ausdrucksweisen von politischen Führern und ihrer Gefolgschaft, die Reaktionen von Politikern auf Menschenansammlungen, die Empfindungen, die von großer physischer Nähe zu Politikern ausgelöst werden, die rasche Verbreitung von abrupten Stimmungsänderungen in einer Gesellschaft, die unerwarteten politischen Aktivismus fördern, und die Rolle von ,Aufmerksamkeitsstrukturen' in der politischen Arena" (ebd., S. 95). Ob es allerdings von wissei^chaftlichem Interesse ist, daß „Gewinner . . . häufiger Zeichen von Beschwichtigung" geben und daß ihre „Mimik . . . dem Gesichtsausdruck sich unterordnender Kinder" (ebd.) ähnelt, ist eher fraglich. Dasselbe gilt auch für die sicher kaum politikentscheidende Frage, welche Rolle die Linkshändigkeit in der Politik spielt (vgl. dazu Jean A. Laponce: Linkshändigkeit und Politik. In: Ebd., S. 146 ff.). 27 Irenaus Eibl-Eibesfeldt: Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung. München und Zürich 1975, S. 19. 28 Ebd. 29 Ebd.
106
V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
Das angeborene, sich deterministisch auswirkende Steuerungsverhalten mache sich augenfällig bemerkbar, wenn Mensch und Tier gezwungen werden, ihre territoriale Umwelt zu verteidigen. Ausgesprochen deterministisch definiert Robert Ardrey den „Territorialtrieb" 3 0 als „den Drang bestimmter Lebewesen, ein . . . Gebiet zu besitzen und zu beschützen" 31 . Auch nach Eibl-Eibesfeldt knüpfen die Menschen an das Verhalten der ihnen nahestehenden „nichtmenschlichen Primaten" 3 2 an, wenn sie i h r Territorium gegen Eindringlinge verteidigen. „ A u f vermeintliche oder reale Bedrohung ihrer territorialen oder kulturellen Integrität reagieren Menschen mit aggressiver Verteidigungsbereitschaft. Sie verteidigen kulturelle Werte als geistigen Besitz mit Hilfe alter Reaktionsmuster 33 ." Der ubiquitären Qualität der Aggression kann sich weder eine Groß- noch eine Kleingruppe entziehen. „Der überzeugende Nachweis, daß einer Menschengruppe Aggressionen völlig fehlen, i s t . . . bisher nicht erbracht worden . . . Die Aggressivität als Disposition zur Aggression scheint vielmehr auf der ganzen Erde verbreitet. Naturvölker und Kulturvölker scheinen sich dabei in ihrer aggressiven Disposition nicht grundsätzlich zu unterscheiden 34 ." I n wie starkem Maße gerade politische Institutionen aus dem Primatenverhalten abgeleitet werden, dafür sind die Schriften von Lionel Tiger und Robin Fox ein augenfälliger Beweis. Das politische Verhalten sowohl der Aristokraten als auch das der Demokraten w i r d bei ihnen auf tierische Ursprünge zurückgeführt. Eindeutig spiegele sich das Verhalten der Primaten i n der Politik des Adels wider. „Die Aristokratie macht sich jene Primatenmerkmale zunutze, die eine langfristige Stabilität — die ,Stabilität der herrschenden Hierarchie 4 — und eine zentrale Hierarchie als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des Zusammenhalts unterstützen 35 ." Die Adligen sind bei den Primaten i n die Lehre gegangen; sie haben bei ihnen gelernt, wie man Macht ausübt und Herrschaft auf Dauer stellt. „Aristokraten kennen alle Primatentricks . . . Dominierende Primaten haben die meisten Zuschauer; sie stehen i m Brennpunkt des Interesses und auch i m Zentrum der sozialen Gruppenstruktur 3 6 ." Genau so primatenhaft ist das soziale Verhalten der Aristokratie. „Man vergegenwärtige sich nur die Dramaturgie der 30 Robert Ardrey: Adam und sein Revier. Der Mensch im Zwang des Territoriums. Aus dem Englischen. München 1972, S. 13. 31 Ebd. 38 Irenaus Eibl-Eibesfeldt: Die Angst vor den Menschen. Von den Wurzeln diskriminierenden Verhaltens. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 149, 3./4. Juli 1982. 33 Ebd. 34 Irenaus Eibl-Eibesfeldt: Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen. München 1971, S. 88. 35 Lionel Tiger/Robin Fox: Das Herrentier. Steinzeitjäger im Spätkapitalismus. Aus dem Englischen. München 1976, S. 66. 36 Ebd., S. 64.
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2. Die deterministische und eindimensionale Analyse der Biopolitik
107
Aristokratie — die Anredeformen, die Kleiderstile, die Sitzordnungen oder auch die Bankettsäle selbst. Die Architektur soll nicht nur Schutz gewähren, sondern auch Eindruck machen 37 ." Tiger und Fox zufolge sind „demokratische Verhältnisse" 38 i n einem bestimmten Sinne sogar „noch »primatenhafter 4 als aristokratische" 39 . Wie die Primaten, so kämpfen auch demokratische Politiker um Macht und Herrschaft. Sie bekriegen sich „ m i t der gleichen Rücksichtslosigkeit und zum großen Teil mit den gleichen Tricks wie die entsprechenden Primaten" 4 0 . Aus diesem Grunde seien die „Wahlstimmen . . . die Eckzähne und Drohgebärden der demokratischen Politik" 4 1 . Ganz i m Sinne der auf Dominanz und Unterwerfung ausgerichteten Sichtweise w i r d die Politik Roger D. Masters zufolge als die Summe jener Handlungen bezeichnet, „bei denen der Wettbewerb u m oder die erfolgreiche Verteidigung von Positionen i n der sozialen Rangordnung Auswirkungen auf die gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Normen einer Gruppe haben" 42 . Zu den augenfälligsten Merkmalen der zeitgenössischen biopolitischen Literatur gehört, daß ihre Autoren ausgesprochen deterministisch und eindimensional argumentieren. I n ihrer antiskeptischen A r t geben sich die Repräsentanten dieser Forschungsrichtung als Anhänger einer Denkweise zu erkennen, die eindeutige Aussagen bevorzugt, einer allzu komplexen Darstellung der angeblich einfach strukturierten Wirklichkeit feindlich gegenübersteht. Nach Robert Ardrey tragen die Gesetze der Revierverteidigung eindeutig deterministischen Charakter und bewegen sich damit i n einer Dimension, die dem freien Willen des Menschen unzugänglich bleibt. „Ich werde in dem vorliegenden Buch zu beweisen versuchen, daß der Mensch ein ebenso territoriales Geschöpf ist wie die Nachtigall, deren Lied uns erfreut. Unsere Verhaltensformen werden nicht von unserer gegenwärtigen K u l t u r , sondern von unserer entwicklungsgeschichtlichen Vergangenheit geprägt; sie sind ebenso ein Kennzeichen unserer Species wie die Form des menschlichen Hüftknochens oder eine Nervenkonfiguration des menschlichen Gehirns. Wenn w i r unseren Besitz oder unser Land verteidigen, so sind die Gründe hierfür die gleichen, ebenso angeboren und unausrottbar wie bei den niederen Tieren 4 3 ." A u f diese Weise trägt das menschliche Ver37
Ebd. Ebd., S. 65. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 66. 41 Ebd., S. 67 f. 42 Roger D. Masters: Ethologische Ansätze in der Politikwissenschaft. In: Politik und Biologie. S. 86. 43 Robert Ardrey: Adam und sein Revier S. 15. Tierisches und menschliches 38
108
V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
halten alle Züge einer von biologischen Gesetzen bestimmten Sphäre. „Der territoriale Imperativ ist blind wie ein Grottenolm und unaufhaltsam wie eine Dampfwalze. Seine Gebote stehen jenseits von Vernunft und Logik, sie korrumpieren jede Moral und kennen kein anderes Ziel als das nackte Überleben 44 ." Ardrey spricht folgerichtig von „universellen Gesetzen (kursiv von m i r ; J. B. M.) des territorialen Prinzips" 4 5 . Desmond Morris zufolge eignet unserem biologisch gesteuerten Verhalten nicht zuletzt deswegen ein deterministischer Charakter, weil es sich aus seelischen Tiefen speist, die vom Verstände nicht zu kontrollieren sind. „Betrüblicherweise sprechen . . . unsere höheren H i r n zentren dann, wenn es u m Dinge wie Revierverteidigung geht, allzu leicht auf das Drängen der tieferen Zentren an . . . Wenn die tiefen Zentralen agieren, ist auf den Verstand kein Verlaß mehr; eine einzige unvernünftige, aus dem Emotionalen kommende Handlung kann alles zuschanden machen, was er mühselig aufgebaut hat4®." Gruppenegoismus und territorialer Imperativ wären nur durch eine Änderung der Erbsubstanz zu überwinden. „Die naturgegebene Tendenz zur Bildimg sozialer Eigengruppen, die sich gegen andere mehr oder weniger dicht abschließen, wäre nur durch eine recht erhebliche Abwandlung unseres Erbgefüges zum Verschwinden zu bringen, durch eine Mutation also, die zudem automatisch eine Zerschlagung unserer so verwickelten Sozialstruktur zur Folge haben müßte 47 ." Gemäß dem bekannten, anpassungsfördernden Grundsatz, demzufolge die Freiheit der Zweck des Zwanges ist, plädieren viele Repräsentanten der modernen Ethologie dafür, die biologischen Gesetze aus freiem Entschluß zu respektieren und zu befolgen. Auf diese Weise sprechen sie einer Verbindung von Voluntarismus und Determinismus das Wort, bei der der freie Wille des Menschen eindeutig den biologischen Gesetzen des Menschen und seiner Geschichte ausgeliefert ist. Vermeintlich freiheitsbejahend und zutiefst antiliberal schreiben Lionel Tiger und Robin Fox: „ W i r vertreten nicht die Ansicht, daß der Mensch sich auf bestimmte Weise verhalten muß, wohl aber dies, daß er für bestimmte Verhaltensweisen programmiert ist 4 8 ." Entscheidet sich das Individuum gegen die natürliche Programmierung, so hat es selbstverständlich die Folgen seiner Fehlanpassung zu tragen. Falls es „es vorzieht, sich anders zu verhalten, darf es sich Verhalten sind in gleicher Weise deterministisch geprägt. „Der Hund, der hinter dem Zaun hervor den Fremdling anbellt, tut dies aus den gleichen Motiven, aus denen sein Herr diesen Zaun errichten ließ" (ebd.). 44 Ebd, S. 231. 45 Ebd., S. 227. 46 Desmond Morris: Der nackte Affe. Aus dem Englischen. München und Zürich 1968, S. 267. 47 Ebd., S. 266. 48 Lionel Tiger/Robin Fox: Das Herrentier. Steinzeitjäger im Spätkapitalismus. S. 309.
2. Die deterministische und eindimensionale Analyse der Biopolitik
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dabei nicht mehr Hoffnung auf Erfolg machen als jemand, der die grundlegenden physikalischen Gesetze unbeachtet läßt" 4 9 . Der Mensch sollte seine Intelligenz dadurch unter Beweis stellen, daß er i m Einklang mit den Gesetzen der Natur und nicht gegen sie handelt. „Der Mensch hat die physikalische Welt nicht dadurch erobert, daß er darauf bestand, er könne die Natur übertreffen, sondern dadurch, daß er herausfand, was er i m Einklang mit der Natur vollbringen konnte 5 0 ." Aus diesem Grunde sollte jegliche Sozialreform darauf aus sein, dieses „unanfechtbare Prinzip" 5 1 zu beherzigen. Ebenso ist Eibl-Eibesfeldt der Ansicht, daß „erst die genaue Kenntnis der Determinanten unseres Handelns deren Beherrschung" 52 erlaube. Die unabdingbare „Voraussetzung einer verantwortlichen Handlungsentscheidung ist . . . das ursächliche Verständnis der unserem Verhalten zugrunde liegenden Mechanismen" 58 . Je „weniger w i r u m sie wissen, desto blinder folgen w i r ihrem Wirken" 5 4 . Der tief eingewurzelte Determinismus der modernen Ethologie gibt sich bei Licht besehen auch als Gegner anderer Analyseweisen zu erkennen. Dabei w i r d vor allem der ökonomischen Politikbetrachtung zur Last gelegt, zu wirklichkeitsfremden Forschungsergebnissen zu führen. Marxens Fehler hat Darlington zufolge darin bestanden, die ökonomischen Wirkkräfte zu sehr zu betonen und darüber den Einfluß der biologisch-genetischen Faktoren zu vernachlässigen. „Leider sah er das, was er erblickte, so klar, daß er überhaupt nichts von der biologischen Welt wahrnehmen konnte, die unter jener Oberfläche lag, die er untersuchte 55 ." M a r x ließ sich i n seinem PanÖkonomismus dazu verführen, die Spannungen zwischen den Kapitalisten und den Proletariern rein wirtschaftlich zu begründen. Dabei sei der Gegensatz, der „soziale Klassen auszeichnet, . . . genetisch begründet". Er beruht „auf dem Erbgut, das i n der Zelle so wirksam ist, wie es Wirtschaftsgüter auf dem Markt sind" 5 6 . Darlington ersetzt damit die eindimensionale Politikanalyse des Marxismus durch eine Sichtweise, die allein dem biologischen Faktor Wirkkraft zuschreibt.
49
Ebd. Ebd. 51 Ebd. 52 Irenaus Eibl-Eibesfeldt: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie. 5. Auflage. München und Zürich 1978, S. 654. n Ebd., S. 655. 54 Ebd. 55 C. D. Darlington: Die Gesetze des Lebens. Aus dem Englischen. München 1962, S. 305. 56 Ebd., S. 306. 50
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V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
3. Die Biopolitik im Spannungsfeld politischer Ordnungsvorstellungen Die Frage, welcher politischen Orientierung die einzelnen Vertreter der Biopolitik zuzuordnen sind, ist nicht einfach zu beantworten. Viele sprechen sich mit Nachdruck für die liberale Politikordnung aus 67 . Dabei kann allerdings davon ausgegangen werden, daß sie einer allzu egalitären Sozialordnung ihre Zustimmimg versagen. So heißt es bei Lionel Tiger: „Sozialistische Phantasten schufen auf dem Papier oder i n Wirklichkeit Gemeinschaften, i n denen es keine sozial-hierarchischen Unterschiede mehr gab; manche Regierungen erließen Maßnahmen, die der Gleichheit der Menschen dienen sollten 58 ." I n ihrem Weltverbesserungswahn seien die Sozialisten zu der Auffassung gelangt, daß „alle Menschen die gleichen Rechte zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten haben sollten" 5 9 . Gegen die Grundpostulate der marxistischen Gesellschaftslehre wendet sich m i t Nachdruck auch Irenäus Eibl-Eibesfeldt. Ihre „Harmonisierungsmodelle sind zweifellos klar durchdacht, doch gehen sie zum Teil von Annahmen aus, die naturwissenschaftlich nicht haltbar sind" 6 0 . Es sei eine utopische Annahme, den gutmütigen Menschen „ohne Aggressionen, dem die Arbeit eine freudige Verpflichtung ist" 6 1 , heranzuziehen. Der Gipfelpunkt utopischen Denkens werde mit der Auffassung erreicht, daß „eine friedliche Gesellschaft . . . erst nach der Abschaffung des Eigentums gedeihen" 82 könne. Der Fehler der Marxisten liege darin, über aller Veränderbarkeit des Menschen seine angeborenen Merkmale zu vernachlässigen. „ I n der Formbarkeit des Menschen liegt unsere Hoffnung, aber angeborene Dispositionen lassen sich ebenfalls nachweisen. Wenn man sie berücksichtigt, dann erspart sich die Gesellschaft unter Umständen manches Experiment 6 3 ." Deshalb warnen Tiger und Fox die „Radikalen" davor, einen allzu großen politischen Reformeifer an den Tag zu legen. Es bedarf der ethologischen Besinnung, um die Gefahren abzuwenden, die aus revolutionären Ordnungsvorstellungen erwachsen. So sind die beiden Autoren auch der Ansicht, daß die Emanzipation der Frauen an ihre biologischen Grenzen stößt. „Wenn unsere Deutung der Unterschiede zwischen Mann und Frau einigermaßen 57 So schreiben Tiger/Fox: „Die Menschen brauchen nicht belehrt zu werden, daß Sklaverei und Ausbeutung unmenschlich sind. Sie wissen, daß es so ist" (Das Herrentier. S. 313). 58 Lionel Tiger: Warum die Männer wirklich herrschen. Aus dem Englischen. München 1972, S. 26. 59 Ebd. 60 Eibl-Eibesfeldt: Liebe und Haß. S. 263. 81 Ebd. 62 Ebd. Ebd.
3. Biopolitik und politische OrdnungsVorstellungen
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korrekt ist, dann w i r d eine größere Partizipation der Frauen am staatlichen Leben nicht i m Rahmen des bestehenden Systems zustande kommen 64 ." Derartigen umwälzenden Emanzipationsforderungen habe die Natur Schranken gesetzt. „Die Realitäten der männlich-weiblichen Interaktion stehen dem einfach entgegen 65 ." Dieses sozialpolitische Bekenntnis zu antisozialistischen, eher konservativen Ordnungsvorstellungen schließt allerdings nicht aus, daß „rechte" bzw. „konservative" Autoren sowohl unter den Befürwortern von Biopolitik und Ethologie zu finden sind als auch diese erbittert bekämpfen. Was diejenigen „rechten" Autoren anlangt, die sich als Anhänger dieser Forschungsrichtung zu erkennen geben, so hat sich die französische „Nouvelle Droite" am unzweideutigsten hinter diesen i n Rede stehenden Wissenszweig gestellt. Kurz und bündig heißt es bei A l a i n de Benoist: „Toute politique aujourd'hui implique une biopolitique 6 6 ." Aus dieser Überzeugung wächst die Hoffnung, daß die Ergebnisse der Genforschung politische Implikationen zeitigen werden. „M. Mallet a laissé prévoir le jour oü ,le code génétique pourra contribuer á informer les codes civils' 6 7 ." Zurückgestutzt auf die Bedürfnisse einer antihumanen Ordnungskonzeption verkommt die Biopolitik der Nouvelle Droite Christoph von Thienen zufolge zu einem ideologischen Konstrukt, das eindeutig von einer „rechtsnaturalistischen" 88 Weltanschauung bestimmt wird. Strukturiert vom uralten Grundmuster eugenischer Postúlate gerate der politische Biologismus der Nouvelle Droite i n ein ideologisches Fahrwasser, das als primäre Aufgabe des Staates die Pflege des Erbgutes ansieht. Die Nouvelle Ecole 69 verfolge das Ziel, „den Kreislauf der Natur durch biopolitische Maßnahmen wiederherzustellen. Durch die Freigabe der Euthanasie, nicht nur bei Sterbenden, sondern auch bei Erbkrankheiten, durch Eingriffe i n die Gene sowie durch die Freigabe von genetischen Experimenten bei Gesunden sollen die Hindernisse beseitigt werden, die einer auf Arterhaltung und Zuchtwahl gerichteten Biopolitik i m Wege stehen . . . M i t einem Wort, der Staat soll wieder zum Herrn der Fortpflanzung und der Rassenpflege erhoben werden" 7 0 . Konservative Autoren haben nicht nur vor der politischen 64
Lionel Tiger/Robin Fox: Das Herrentier. S. 307. Ebd. 66 Alain de Benoist: V u de Droite. Paris 1979, S. 144. Vgl. dazu auch Johann Baptist Müller: Konvergenz und Distanz zwischen New Conservatism und Nouvelle Droite. In: Politische Vierteljahresschrift 22 (1981), S. 144. 67 Ebd. 68 Christoph von Thienen: Tradition ohne Christentum? Die Ideologie der ,Nouvelle Ecole'. In: Zeitbühne 8 (März 1979), S. 6. 69 Bei der Nouvelle Ecole handelt es sich um eine Zeitschrift der Nouvelle Droite. 70 Ebd., S. 7. 65
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V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
Inanspruchnahme der B i o p o l i t i k durch „rechte" Denkschulen u n d Bew e g u n g e n g e w a r n t , sie h a b e n d e r B i o p o l i t i k auch e i n wissenschaftliches D e f i z i t n a c h z u w e i s e n v e r s u c h t 7 1 . So s e h r es T h o m a s M o l n a r z u f o l g e d e r E t h o l o g i e z u d a n k e n ist, d i e A n n a h m e n d e r U m w e l t t h e o r e t i k e r z u r ü c k g e w i e s e n z u haben, so s e h r f a l l e sie selbst i n e i n e n p r i m i t i v e n , l ä n g s t ü b e r h o l t e n R e d u k t i o n i s m u s z u r ü c k 7 2 . D i e gesamte E t h o l o g i e sei d e r a r t s t r i n g e n t a n pseudowissenschaftlich d e t e r m i n i s t i s c h e P r ä m i s s e n geb u n d e n , daß d e r k o m p l e x e n P o l i t i k w i r k l i c h k e i t d a m i t G e w a l t a n g e t a n werde. M o l n a r w i r f t der Ethologie vor allem vor, den animalistischen A s p e k t des Menschen ü b e r G e b ü h r b e t o n t z u haben. D i e , „ Z o o f i z i e r u n g ' des Menschen d u r c h z i e h t das ethologische D e n k e n , so daß i n t e l l e k t u e l l e u n d moralische U r t e i l e , g e m e i n s a m m i t d e m t r a n s z e n d e n t e n U r s p r u n g des Menschen, s t i l l s c h w e i g e n d u n d o f t auch ausdrücklich, i n Z w e i f e l 71 Die zentralen Topoi der ethologisch-sozialbiologischen Schule wurden vor allem von Fachwissenschaftlern zurückgewiesen. So schreibt M. F. Ashley Montagu: „Was den Menschen angeht, kann gesagt werden, daß bisher alle Versuche, ihn mit Instinkten auszustatten, fehlgeschlagen sind" (Einführung zu: Mensch und Aggression. Hrsg. von M . F. Ashley Montagu. Aus dem Amerikanischen. Weinheim und Basel 1974, S. 15). Ähnlich formuliert John Hurrell Crook seine Einwände gegen Konrad Lorenz und Robert Ardrey: „Ardrey übernimmt die beschränkten Ansichten von Lorenz über das Wesen der Aggression und ignoriert dabei den größten Teil der ethologischen Literatur zu diesem Thema. Aggression resultiert nicht aus einem angeborenen und unausrottbaren Trieb, der immer wieder nach Abfuhr verlangt, sondern ist normalerweise die Reaktion auf besondere aversive Stimuli und verschwindet, wenn diese verschwinden. Das Überhandnehmen der Aggression beim modernen Menschen mag daher auf aversive Merkmale in der komplexen, übervölkerten, allzusehr auf Konkurrenz und Klassengegensätzen geprägten Welt, in der er lebt, zurückzuführen sein als auf einen unbefriedigten Trieb" (Wesen und Funktion der territorialen Aggression. In: Mensch und Aggression. Ebd., S. 186). Selbst Wolfgang Wickler lehnt die Annahme eines angeborenen Aggressionstriebes ab: „Es ist klar, daß es für Lebewesen vorteilhaft ist, sich gegen Konkurrenten zu wehren und Rivalen oder Störenfriede z. B. vom Futter, vom Geschlechtspartner oder von den Nachkommen zu vertreiben. Warum aber sollte der dafür nötige Angriffstrieb sich durch Nichtbenutzen aufstauen und das Lebewesen dazu veranlassen, sobald es einige Zeit Ruhe vor Störenfrieden hatte, nun seinerseits andere zu stören und nach Gegnern zu suchen? Warum sollte es die Gelegenheit zum Kampf suchen, wenn sie sich nicht von selbst einstellt?" (Antworten der Verhaltensforschung. München 1970, S. 216). 72 So schreibt Molnar: „Wenigstens hängt bei der ethologischen Anschauung der Mensch nicht mehr von der ,Umwelt' ab, er formt sie sogar, z. B. wenn er sein Gebiet markiert und es zur Verteidigung vorbereitet" (Das programmierte Paradies. Die politischen Implikationen der Ethologie. In: Zeitschrift für Politik (N.F.) 23 (1976), S. 128). Allerdings müsse man die Ethologen fragen, „ob der Preis für den Schutz gegen die Umwelttheorie nicht zu hoch ist" (ebd., S. 127). Der Mensch werde weder von den „ihm zweifellos eigenen Instinkten bestimmt, noch wird er von seiner Umwelt eingeengt" (ebd.). Der Verfasser dieser Abhandlung ist weit davon entfernt, die Tabula rasa-Auffassung der Behavioristen zu übernehmen. Obgleich auch in unserer Kultur die Verhaltensweisen dauernd einer Veränderung unterworfen sind, ist die Annahme bestimmter invarianter Verhaltensmuster durchaus gerechtfertigt Allerdings ist es kaum angebracht, im Stile der in Rede stehenden Autoren durchweg von überzeitlich und überörtlich gültigen
3. Biopolitik und politische Ordnungsorstellungen
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gezogen werden" 7 8 . Es sei ein allzu kühnes Unterfangen, die gesamte kulturelle Vielfalt auf einen biologistischen K e r n zu reduzieren. Weder der „Wettstreit Vinter Dichtern, Architekten, Musikern" 7 4 noch Piatos „Eros" lasse sich auf diese Weise biologisieren. Der biologistische Reduktionismus sei vor allem außerstande, die Welt der Ethik zu erklären, die ungeheure Mannigfaltigkeit ihrer Positionen verständlich zu machen. „Lassen sich aus dieser Erklärung tatsächlich Natur und Bedeutung des Opfers erklären? Das Opfer des christlichen Märtyrers, der für Christus stirbt? Das von Hektor, von Horatius Codes und Regulus? Das von britischen Flottenkommandanten und von jungen japanischen Kamikaze-Piloten, die i m Namen eines Ehrenkodex f r e i w i l l i g den Tod annehmen 75 ?" Von der Warte des Geisteswissenschaftlers aus führt Molnar gegenüber den biologistischen Kulturanalytikern ins Feld, daß den ethischen und ästhetischen Bestrebungen des Menschen durchaus auch die Bedeutung von fundamentalen Antriebskräften zukomme. M i t voller Schärfe seine K r i t i k am biologischen Reduktionismus akzentuierend, fragt Molnar: „Was aber sind fundamentale Triebe? Ist die Suche von Sokrates nach Wahrheit nicht fundamental? Sogar wenn man sie nicht gerne Trieb nennt 7 6 ?" Thomas Molnar ist auch über die politischen Implikationen der Ethologie besorgt. Obgleich er Lorenz vor dem Vorwurf i n Schutz nimmt, Kriegshetze zu betreiben, erhebt er seinen warnenden Zeigefinger vor einem Denken, das die Politik ihres überkommenen Ethos beraubt. Da der ethologische Biologismus das rationale Argument zu einem Epiphänomen natürlicher Antriebe erkläre, begebe er sich der Möglichkeit, über Gut und Böse, Falsch und Richtig, Gerecht oder Ungerecht jenseits biologischer Kategorien zu entscheiden 77 . „Dieses Denken ist . . . gefährlich, weil es die Rolle einer rationalen Beurteilung bei menschlichen Dingen unterschätzt 78 ." Wenn aggressives und altruistisches Verhalten durch stammesgeschichtliche „Anpassungen vorprogrammiert seien", können w i r nicht mehr „von moralischer Haltung sprechen, sondern nur von vorgeschriebenem, Verhaltensmustern auszugehen. Der Kulturdeterminismus eines Alfred Kroeber und eines Robert Lowie sollte nicht durch den ebenso dogmatischen Determinismus der Ethologie „überwunden" werden. 78 Thomas Molnar: Das programmierte Paradies. Die politischen Implikationen der Ethologie. S. 126. 74 Ebd., S. 128. 75 Ebd., S. 133. 76 Ebd., S. 127. Sokrates' Wahrheitssuche lasse sich „nicht als ein Produkt der Evolution betrachten. Sokrates war kein blinder Mann, der unter dem Zwang eines fremden Willens einhertappt. Unter den Philosophen würden allenfalls Schopenhauer und Nietzsche und vielleicht noch Heidegger dieser Herabwürdigung des Sokrates beipflichten" (ebd., S. 127). 77 Ebd., S. 126. 78 Ebd. 8 J. B. Müller
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V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
leerem, bedeutungslosem Verhalten" 7 9 . Wenn die phylogenetische Prägung das Verhalten bestimme, ist die ethische Entscheidung nicht mehr als ein „mechanischer A k t " 8 0 . Jeder, der sich i m Dienste einer vernunftgemäßen Ordnung der Polis weiß, müsse hier Protest anmelden. „ A u f so dürrem Boden verwelkt die moralische Urteilskraft, und die politische Gemeinschaft gerät i n den Ameisenhaufen 81 ." I n einem nach den politischen Ordnungsvorstellungen der Ethologie konstruierten Gemeinwesen herrsche der Zwang, „solche Leidenschaften und Konflikte auszuschließen, die nicht mit dem Willen der Evolution übereinstimmen" 8 2 . N u r solche Ordnungsvorstellungen könne man als legitim ansehen, die dem evolutionären Prozeß nicht widersprechen. Der Ethologe „muß sich durch die Biopolitik absichern, u m aus seiner Utopie das zu entfernen, was Mr. Tiger »Ideologien4, was die »Nouvelle Ecole' 83 ,les morales mystiques et métaphysiques* und Nietzsche »Sklavenmoral* nennt" 8 4 . I m Reich der Ethologie gibt es „genehmigte Leidenschaften und begünstigte Konflikte" 8 5 . Aus diesem Grunde würde man die W i r kungsaktivität der einzelnen Ordnungsvorstellungen „ m i t der Zeit . . . einengen" 86 . Als Legitimation für eine derartige Maßnahme habe das „Eigeninteresse der Menschheit" 87 herzuhalten. Gegen die Behauptimg, dem Menschen wohne ein angeborener Aggressionstrieb inne, haben vor allem Repräsentanten des sozialistischen Ideenkreises K r i t i k geübt. I n einer scharfen Auseinandersetzung mit den Thesen von Rudolf Steinmetz, Sigmund Freud und Oswald Spengler hatte schon K a r l Kautsky versucht, die Unhaltbarkeit einer derartigen Behauptung nachzuweisen. Was sich i m heutigen aggressivpathologischen Verhalten der Menschen ausdrücke, weise keineswegs zurück auf angeborene aggressive Instinkte, sondern rücke vielmehr die Denaturierung der friedlichen Instinkte durch die unnatürliche, kapitalistisch-agonale Gesellschaft ins Licht. Was bei den drei i n Rede stehenden Autoren als überzeitlich gültige Instinktausstattung des Menschen ausgegeben werde, sei nicht mehr als die illegitime Ontologisierung kapitalistischer Verhaltensweisen. „Die Annahme, der Mensch sei von Natur aus ein unsoziales Raubtier, darauf erpicht, seines79
Ebd., S. 134. Ebd. 81 Ebd 82 Ebd., S. 132. 88 Die „Nouvelle Ecole" beruft sich auf die Forschungsergebnisse Ethologie. Vgl. dazu Alain de Benoist: V u de Droite. 84 Ebd., S. 132. 85 Ebd. 86 Ebd. Ebd. 80
der
3. Biopolitik und politische Ordnungsvorstellungen
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gleichen den Garaus zu machen, findet i n den Tatsachen, die w i r bei unseren tierischen Vorfahren beobachten können, nicht den mindesten Anhalt. Alles spricht dafür, daß der Mensch von Natur aus ein friedlicher, sozialer Pflanzenfresser ist und überdies zu jenen sozialen Tieren gehört, bei denen Männchen und Weibchen i m gleichen Rudel vereint harmonisch miteinander leben 88 ." Die Tatsache, daß auf der Erde ausgesprochen pazifistisch agierende Menschen existieren, ist für K a r l Kautsky Beweis genug dafür, die Annahme eines angeborenen Aggressionsinstinktes abzulehnen. „ I n Ostindien gibt es viele Millionen Hindus, die das Leben aller Tiere, nicht nur der Menschen, für so heilig halten, daß sie selbst die Tötung lästiger Insekten oder giftiger Schlangen scheuen. Und wie friedlich waren die vielen Millionen Chinesen, ehe die kapitalistischen Nationen bei ihnen eindrangen, sie mißhandelten und zur Abwehr zwangen und dadurch allmählich einen kriegerischen Geist unter ihnen aufkommen ließen 89 ." Kautsky zufolge kann der „Widerspruch zwischen der ursprünglichen friedlichen und sozialen Natur des Menschen und der späteren kriegerischen Wildheit und Grausamkeit der Hunnen, Kreuzfahrer, Fascisten usw." 9 0 nicht durch den Rekurs auf biologische Forschungsergebnisse, sondern allein durch sozialwissenschaftliche Studien aufgelöst werden. Dabei liefere allein die marxistische Geschichtserklärung den Schlüssel, u m diesen Gegensatz erklären und überwinden zu können. Heute w i r d von linken K r i t i k e r n der Ethologie bzw. der Soziobiologie darauf hingewiesen, daß derartige Theorien soziale und politische Herrschaftsverhältnisse stabilisierten und sanktionierten. So schreibt die „Sociobiology Study Group of Science for the People": „Such determinism provides a direct justification for the status quo as ,natural' 9 1 ." Dabei komme es weniger darauf an, ob einzelne Repräsentanten dieser Theorien sich für graduelle Veränderungen der Gesellschaft einsetzen 92 . „The issue . . . is not the motivation of individual creators of determinist theories, but the way these theories operate as powerful forms of legitimation of past and present social institutions such as aggression, competition, domination of women by men, defense of national territory, individualism, and the appearance of a status and wealth hierarchy 93 ." 88 Karl Kautsky: Die Fabel von der Naturnotwendigkeit des Krieges. In: Der internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift für Julius Wolf zum 20. April 1932. Stuttgart 1932, S. 143. 89 Ebd., S. 141. 90 Ebd. 91 L. Allen et al.: Sociobiology — Another Biological Determinism. In: Bioscience 26 (1976), S. 182. 92 Wilson spricht sich sogar für Sozialpolitik aus. 98 Allen et al.: Sociobiology — Another Biological Determinism. Ebd.
8*
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V. Die biologischen Determinanten des politischen Prozesses
Ähnlich w i r f t eine andere linke Kritikergruppe 9 4 den Vertretern der Soziobiologie vor, Herrschaftsdifferenzen und Besitzunterschiede auf Dauer zu stellen. „Wilson joins the long parade of biological determinists whose work has served to buttress the institutions of their society by exonerating them from responsibility for social problems 95 ." Diese Gruppe geht sogar so weit, Wilson und seine Gesinnungsfreunde i n die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken. „These theories provided an important basis for the enactment of sterilization laws and restrictive immigration laws by the United States between 1910 and 1930 and also for the eugenics policies which led to the establishment of gas chambers i n Nazi Germany 9 6 ." Während zahlreiche Repräsentanten der zeitgenössischen Biopolitik die Linien ihres wissenschaftlichen Werkes bis an jene Grenzen ausziehen, die die liberalen von den illiberalen Gemeinwesen trennen, plädiert eine ebenfalls stattliche Anzahl von Vertretern dieser Forschungsrichtung dafür, die Biopolitik i n den Dienst humaner Zwecke zu stellen. So warnt Heiner Flohr, einer der führenden Vertreter der deutschen Biopolitik der Gegenwart davor, diese neue Forschungsrichtung für illiberale und antidemokratische Zwecke zu verwenden. Die französische Nouvelle Droite und andere ideologische Gruppierungen gewännen der Biopolitik eine Dimension ab, die mit dem Geist eines humanen und demokratischen Gemeinwesens kaum zu vereinbaren sei. „We should expect a renewed distortion of biological arguments for political purposes. I can only point to the ,New Right 1 i n France, which should serve as a warning example for a renewed misrepresentation and misunderstanding of political ideas 97 ." Die Verwendung biopolitischer Argumente durch den politischen Illiberalismus werde i n dem Maße intensiviert, i n dem ökonomische und ethnische Probleme die Innenpolitik der demokratisch strukturierten Länder bestimmten. „Growing tensions i n our domestic political scene, due to unemployment, crime, or ethnic cleavages resulting from an increase i n the numbers of immigrant workers, w i l l certainly pave the way for ,biologically' based arguments warning against an ,infiltration by foreign genes' and pointing to the allegedly biological roots of criminal behavior 98 ." Aus diesem Grund sei es von äußerster Dringlichkeit, das 94 Vgl. dazu auch Wolf gang Schmidbauer: Die sogenannte Aggression. H a m burg 1972, S. 158 f. 95 Elizabeth Allen et al.: Against ,Sociobiology'. Letter to the Editor of the New York Review of Books. 22 (1975). 13. Nov. 1975, S. 44. 96 Ebd., S. 43. 97 Heiner Flohr: The Relevance of Biopolitics for Political Science in the Federal Republic of Germany. In: Biopolitics. Kolloquium vom 28. bis 30. Juni 1981. Hrsg. von Meinfried Striegnitz. Rehburg-Loccum 1983, S. 8 (Loccumer Protokolle 18).
3. Biopolitik und politische OrdnungsVorstellungen
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Forschungsgebiet der Biopolitik mit einem demokratisch-liberalen Vorzeichen zu versehen. Die von der Biopolitik neu erschlossenen wissenschaftlichen Dimensionen sollten nicht den Gegnern einer freiheitlichen Lebensweise überlassen, sondern i n den Dienst humaner Zwecke gestellt werden. „Social scientists cannot stand apart and leave the discussions of these problems to would-be biologists prone to make their ideas available for ideological purposes 99 ."
* Ebd. M Ebd., S. 8 f.
V I . Die psychologische Analyse des politischen Prozesses Wenn jeder Gedanke Descartes' völlig durch seine psychologische Funktion erklärbar ist und auf dieselbe Weise auch meine Einstellung zum Cartesianischen System, so gibt es für mich keine Möglichkeit, bei der Reflexion über Kultur dem Kerker zu entfliehen, in den mich meine infantile Vergangenheit einschließt. Das Gefangensein in den Kindheitsträumen ist allumfassend... Was ich als Philosoph auch anfange — ob ich Gotteslästerer bin oder Mystiker, Solipsist oder Materialist, Thomist oder Nietzscheanhänger — stets werde ich in meinem Tun mit Hilfe desselben Mechanismus erklärt. Leszek Kolakowski Denn ob der Unterbau jetzt meinethalben ökonomisch oder geschlechtlich ist — also was ich vordem hab sagen wollen, ist: warum sind die Leut im Überbau so unzuverlässig?! G r a f L e i n s d o r f i n M u s ,Mann ohne Eigenschaften*
1. Politikwissenschaft und Politische Psychologie (Psychopolitik) A l s G u s t a v e L e B o n i m J a h r e 1910 sein W e r k „ L a Psychologie p o l i t i q u e et L a Défense s o c i a l e " 1 v e r ö f f e n t l i c h t e , b e k l a g t e e r sich ü b e r die m a n g e l n d e Resonanz dieser i n Rede s t e h e n d e n F o r s c h u n g s d i s z i p l i n . L e B o n m o n i e r t e , daß m a n die D o k t o r w ü r d e i m Fach P o l i t i k w i s s e n s c h a f t e r w e r b e n k ö n n e , ohne j e v o n d e n psychologischen G r u n d l a g e n des p o l i t i s c h e n V e r h a l t e n s g e h ö r t z u h a b e n 8 . I n d e n U S A g e w a n n die Politische Psychologie i n d e m M a ß e B e d e u t i m g , i n d e m die b e h a v i o r i stische R i c h t u n g d e r P o l i t i k w i s s e n s c h a f t ü b e r die ä l t e r e s t a a t s r e c h t l i c h i n s t i t u t i o n e n z e n t r i e r t e obsiegte 3 . Insbesondere S. A . Rice b e t o n t e die W i c h t i g k e i t d e r Psychologie b e i d e r E r f o r s c h u n g p o l i t i s c h e r A t t i t ü d e n 4 . 1
Gustave Le Bon: La Psychologie politique et La Défense sociale. Paris 1910, S. 6. Le Bon schreibt: „A l'Ecole des sciences politiques, on semble . . . ignorer leur existence" (ebd., S. 6). 2 Ebd., S. 9. 9 Friedhelm Streiffeier: Politische Psychologie. Hamburg 1975, S. 11. 4 S. A. Rice: Quantitative Methods in Politics. New York 1928.
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1. Politikwissenschaft und Politische Psychologie (Psychopolitik)
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Wie wichtig der Beitrag der Psychologie bei der Erforschung politischer Phänomene i n den vierziger Jahren angesehen wurde, beweist ein Zitat von Harold D. Lasswell. „ I t is the province of psychological science to contribute to the development of an applied as well as a general science of politics 5 ." Die Politische Psychologie wurde vor allem von den Vertretern des New Deal i n den Dienst ihrer politischen Zwecke gestellt. So schreibt Ernst August Roloff : „Es ist kein Z u f a l l , . . , daß sich die Psychologie der Politik i n den USA gerade i n der Zeit der Präsidentschaft Roosevelts so sprunghaft entwickelte ... Da bekanntlich die Politik Roosevelts heftig umstritten war und besonders von den bisher herrschenden Mächten leidenschaftlich bekämpft wurde, wurde die Psychologie zur entscheidenden Waffe i m Kampf um die Macht 6 ." Es wurden nun in verstärktem Maße die Einstellungen der amerikanischen Bürger untersucht und Methoden konzipiert, u m die unerwünschten Attitüden zu ändern und die erwünschten zu stärken 7 . Insbesondere der zweite Weltkrieg bescherte der Wissenschaftsrichtung „Politische Psychologie" einen bis dahin ungeahnten Aufschwung. Sie wurde von allen Seiten i n den Dienst der Kriegspropaganda gestellt. „Über die Bedeutsamkeit des Zweiten Weltkrieges für die Entwicklung der Politischen Psychologie besteht ein Konsensus, der von dem sowjetischen Politologen Kaienski . . . bis zu dem westdeutschen Soziologen Scheuch reicht 8 ." Die Einsichten der Politischen Psychologie dienten sowohl zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung als auch zur ideologischen Beeinflussung der Zivilbevölkerung des zu bekämpfenden Gegners®. Was die Politische Psychologie von heute anlangt, so ist nach Josef Rattner eine „Durchdringung der Politik i n allen ihren Aspekten mit den Hilfsmitteln der analytischen Tief enforschung . . . erst ein Desiderat, zu dem nur wenige Vorarbeiten geleistet worden sind" 1 0 . A l l z u viele Autoren würden „auf skurrile A r t Politik-Psychologie" 1 1 betreiben. Dabei warnt Rattner zu Recht vor einem allzu großen „Aufwand an Experimenten, Statistiken, Tabellen, Kurven und mathematischen Formeln" 1 2 . 5
Harold D. Lasswell: Psychology Looks at Morals and Politics. In: Ethics (April 1941), S. 335. 6 Ernst-August Roloff: Psychologie der Politik. Eine Einführung. Stuttgart 1976, S. 8. 7 Ebd. 8 Friedhelm Streiffeler: Politische Psychologie. S. 24. 9 Ebd. 10 Josef Rattner: Tiefenpsychologie und Politik. Eine Einführung. München 1969, S. 82. 11 Ebd. 18 Ebd.
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V . Die
ologische
n a e des politischen Prozesses
2. Clio auf der Couch: Die Psychohistorie Einer der führenden Vertreter der Psychohistorie, Otto Pflanze, geht davon aus, daß eine enge Zusammenarbeit zwischen Historikern und Psychoanalytikern ein vorrangiges Gebot der Stunde ist. Beide sind sie aufeinander verwiesen, benötigen die wissenschaftlichen Erkenntnisse der anderen Disziplin. „The increasing interest of psychoanalysts i n history and of historians i n psychoanalysis stems from a mutual need 18 ." Der Repräsentant der Psychoanalyse ist gezwungen, seinem Wissenszweig eine historisch-politische Dimension zu verleihen, während der Historiker seine Erkenntnisse durch den Rekurs auf psychoanalytische Erkenntnisse zu vertiefen hat. „The former have found i t necessary to give greater attention to social and historical influences on the development of personality, while the latter are seeking a better understanding of irrational and unconscious influences on individual and group behavior in history 1 4 ." Erik H. Erikson zufolge verleiht allein die Psychoanalyse der Geschichtswissenschaft jene Tiefendimension, ohne die sie als höchst unzulänglich und reduziert betrachtet werden muß. Von der Basis der Psychoanalyse aus sei es möglich, die Naivität vieler Geschichtswissenschaftler zu transzendieren und zu einer wahrheitsgerechten, die Rationalisierungen der einzelnen politischen und historischen Persönlichkeiten entlarvenden Historiographie zu kommen. Man könne „die Geschichte nicht gänzlich den Historikern und klinisch ungeschulten Beobachtern überlassen, die oft allzu nobel gerade auf die Verhüllungen, Rechtfertigungen und Idealisierungen des historischen Prozesses eingehen, anstatt sich — wie es ihre Aufgabe wäre — von ihnen zu distanzieren" 15 . A l l e i n die „psychoanalytische Untersuchimg der Gesellschaft" verhindere den Rückfall i n „mystisches oder moralisierendes Philosophieren" 16 . Nach Cushing Strout 1 7 kann man nur mit Hilfe der Psychoanalyse dem Einfluß nachgehen, den bestimmte psychologische Störungen führender Politiker auf den Geschichts- und Politikprozeß ausüben. „Das historische Subjekt kann depressive Anfälle, Selbstmordneigungen, nicht organisch bedingte Krankheit, psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit, schwere Phobien, bizarre Visionen, unangemessene Affekte oder paradoxes Verhalten — alles Anzeichen tiefer innerer Konflikte — erlebt haben 18 ." Lloyd de Mause behauptet aus13 Otto Pflanze: Toward a Psychoanalytic Interpretation of Bismarck. In: The American Historical Review 77 (1972), S. 419. 14 Ebd. 15 Erik H. Erikson: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie. Aus dem Amerikanischen. München 1958, S. 21. 16 Ebd. 17 Cushing Strout: Historiker und Ich-Psychologie. In: Geschichte und Psychoanalyse. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Frankfurt am Main 1974.
2. Clio auf der Couch: Die Psychohistorie
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gesprochen eindimensional, daß „die zentrale Antriebskraft historischen Wandels weder i n der Technologie noch i n der Ökonomie zu finden ist, sondern i n den ,psychogenen* Veränderungen der Persönlichkeits- oder Charakterstruktur, die sich aufgrund der Generationenfolge der Interaktionen zwischen Eltern und Kindern ergeben" 19 . A l l e i n die psychogenetische Theorie sei i n der Lage, die Frage zu klären, „ w a r u m die soziale Organisation, die politischen Formen und die Technologie sich i n bestimmten Zeiten und Richtungen ändern und i n anderen nicht" 2 0 . Sie setze uns imstande, „an die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Geschichte der menschlichen Natur heranzugehen" 21 . Eine Vielzahl von führenden geschichtlichen Persönlichkeiten wurde bislang von der Psychohistorie i n den analytischen Blick genommen. I n den Fokus ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerieten so unterschiedliche historische Gestalten wie Robespierre 22 , Napoleon 28 , Thomas Jefferson 24 , John Adams 25 , Alexander Hamilton 2 6 , Andrew Jackson 27 und Richard Nixon 2 8 . Was die deutschen historischen Persönlichkeiten anlangt, so wurden von den Repräsentanten der Psychohistorie vor allem Otto von Bismarck und Adolf Hitler untersucht. Bei seinem Versuch, Bismarcks politisches Wirken psychoanalytisch zu durchleuchten, geht Otto Pflanze davon aus, daß der Reichskanzler einen Typus repräsentiert, der von Wilhelm Reich als phallisch-narzißtisch bezeichnet wurde 2 9 . „Wilhelm 18
Ebd., S. 50. Lloyd de Mause: Uber die Geschichte der Kindheit. Aus dem Englischen. Frankfurt am M a i n 1979, S. 10. 20 Ebd., S. 119. 21 Ebd. 22 Max Gallo: Robespierre. Die Geschichte einer großen Einsamkeit. Oldenburg 1970. 23 Frank Richardson: Napoleon: Bisexual Emperor. London 1972. 24 Fawn M. Brodie: Thomas Jefferson: A n Intimate History. New York 1974. 25 Peter Shaw: The Character of John Adams. Chapel H i l l 1976. 26 James T. Flexner: The Young Hamilton. Boston 1978. 27 Michael Paul Rogin: Fathers and Children: Andrew Jackson and the Subjugation of the American Indian. New York 1975. 28 David Abrahamsen: Nixon vs. Nixon: A n Emotional Tragedy. New York 1977. Vgl. dazu auch: Dieter Schröder: Amerika fragt: Wer ist Richard Milhous Nixon? Ein Undurchsichtiger wird durchleuchtet. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 176. 2 .August 1974. 29 Wilhelm Reich umschreibt diesen Typus folgendermaßen: „Dem Körpertypus nach gehören die phallisch-narzißtischen Charaktere überwiegend dem athletischen, seltener dem asthenischen und vereinzelt dem pyknischen Formentypus Kretschmers a n . . . Solche Menschen pflegen im gewöhnlichen Leben jedem erwarteten Angriff mit einem Angriff ihrerseits vorzubeugen. . . . Sie werden insbesondere von solchen Mitmenschen, die die eigene Aggression nicht zur Verfügung haben, als im ganzen aggressiv, provokant empfunden. . . . Auf Verletzungen ihrer Eitelkeit reagieren sie entweder mit kalter 19
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Reich describes a number of personality types, one of which, the ,phallic-narcissistic character 4 bears some resemblance to Bismarck 30 ." Z u den bestimmenden Persönlichkeitsmerkmalen habe i n der Tat die Pflege eines übertriebenen Männlichkeitskultes gehört. „Bismarck did display a rather exaggerated masculinity 3 1 ." Augenfälligster Beweis dafür sei seine Trinkfestigkeit und seine Erfolge als Waffenstudent 32 . Dabei spielte Bismarcks Sexualität die entscheidende Rolle. „ I t is w i t h the phallus, ,an instrument of aggression and vengeance* i n Reich's model, that Bismarck overcomes all obstacles 33 ." Später w i r d diese phallische Fixierung Bismarck zu seinen militärischen Aktionen veranlassen. „ I t . . . opens the way to military conquest 34 ." Was die narzißistische Komponente i n Bismarcks Charakter betrifft, so sei diese nicht minder ausgeprägt gewesen. „Narcissism was a central feature of Bismarck's personality 35 ." Seine narzißtischen Anlagen kamen besonders deutlich zum Vorschein, als Bismarck i m Zuge seiner Reichseinigungspolitik auf die Opposition und Ablehnung seiner alten konservativen Freunde stieß. „Seen from the psychoanalytic standpoint, Bismarck's behavior i n the 1870s shows that the emotional cost of his break w i t h old friends and fellow Junkers was considerable. Their rejection of h i m reactivated trauma suffered long ago, exacerbated his health problem, and led h i m to seek at hearth and dining table the narcissistic supplies that his injured ego required. Yet he did not abandon the political arena to his foes. His response combined regression w i t h heightened narcissism 36 ." Die Psychohistorie hat sich i n besonders umfänglichem Maße der Person Adolf Hitlers angenommen. Ihre Vertreter sind der Auffassung, daß das, was seiner Politik ihr Signum gibt, m i t den M i t t e l n der Psychoanalyse und der Individualpsychologie aufzuschließen ist. So schreibt Gustav Bychowski 3 7 : „Die vorliegende Studie über die Individualpsychologie der Diktaturen und die Kollektivpsychologie des Nährbodens der Diktatur stützt sich hauptsächlich auf jene bedeutenden Entdeckungen der Psychoanalyse, die w i r den beiden Werken Freuds ,Totem und Tabu 4 und ,Massenpsychologie und Ichanalyse 1 verdanken 38 ." Absperrung, tiefer Verstimmung oder mit lebhafter Aggression" (In: Charakteranalyse. Bremen 1971, S. 226 f.). 30 Otto Pflanze: Toward a Psychoanalytic Interpretation of Bismarck. S. 426. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 427. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 427. 36 Ebd., S. 442. 37 Gustav Bychowski: Diktaturen. Aus dem Englischen. München 1965, S. 15.
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Bychowski versucht mit Hilfe von Analysetechniken den Aufstieg und die Herrschaftsausübung des Nationalsozialismus zu erklären. „Die Antwort auf die Frage, warum die Kollektivpsyche sich der Herrschaft Hitlers unterwarf, lautet . . . i n kurzen Worten: Die i n Deutschland herrschenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen hatten das Kollektiv-Ich ungeheuer geschwächt. Die höheren Ebenen des Über-Ichs waren zusammengebrochen; neue Ideale, die einen Halt boten, wurden erforderlich 39 ." Angesichts der unsicheren Lage „ w a r das von Furcht, Unruhe und Zukunftsangst zerrissene Kollektiv-Ich bereit, jedes Versprechen anzunehmen und der Suggestion i n Form von Befehlen, haßerfüllten Verwünschungen und alten Mythen zu erliegen 40 ." Hitler selbst sei „ v o l l Ressentiments und unbefriedigten Ehrgeizes" 41 gewesen. A u f diese Weise habe er sich besonders gut dazu geeignet, „das Gefühl der Ungerechtigkeit und der Rachsucht zu organisieren" 42 . Vom Gesichtspunkt der Psychopathologie aus sei er i n erster Linie „ein unausgeglichener Psychopath vom Typus der Fanatiker und Geltungsbedürftigen mit Ichstörungen" 43 . Seine Absicht, Österreich i n die Gewalt zu bekommen, stamme aus „seiner infantilen Mutterbeziehung" 4 4 . Ähnlich geht Binion davon aus, daß Hitlers Judenhaß seinen Wurzelgrund i n Hitlers Mutterbindung habe. Hitler habe sich intensiv um seine an einer Krebserkrankung leidenden Mutter gesorgt. Dabei habe er Zeit seines Lebens ihrem jüdischen Hausarzt vorgeworfen, durch eine falsche Behandlung seine Mutter vergiftet zu haben. „Hitlers Erlebnis der letzten Krankheit seiner Mutter ragt wie ein Schatten auf hinter seinen späteren endlosen Schmähreden gegen den jüdischen Krebs, das jüdische Gift, den jüdischen Schieber 45 ." Hitler habe dann als „Ersatz für seine tote Mutter . . . Deutschland" 46 gewählt. Seine nationalistische Politik w i r d als der Versuch erklärt, sie zu rächen. „ A u f sein Unbewußtes wirkte die Aufforderung, Deutschland ins Leben 38
Ebd., S. 15. Ebd., S. 191. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 190. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 193. Die narzißtischen Züge in Hitlers Persönlichkeit betont auch Helm Stierlin. Er betrachtet „Hitlers Narzißmus wesentlich als Ausdruck seines völligen Aufgehens in seinen Aufträgen. Die meiste Zeit stand er ganz im Bann dieser Aufträge und konnte dann, ohne mit der Wimper zu zucken, Tausende von Soldaten und Häftlingen in den Tod schicken." (Adolf Hitler. Familienperspektiven. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1975, S. 103). 44 Ebd., S. 194. 45 Rudolf Binion: „ . . . daß ihr mich gefunden habt." Hitler und die Deutschen: Eine Psychohistorie. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1978, S. 36. 48 Ebd.. S. 39. 39
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zurückzurufen und zu rächen, als Auftrag seine Mutter ins Leben zurückzurufen und zu rächen 47 ." I n Übereinstimmung m i t Binion behauptet Waite 4 8 , daß traumatische Erfahrungen entscheidend die spätere politische Laufbahn Hitlers bestimmt haben 49 . Während aber Binion die Beziehung zwischen Hitler und seiner Mutter i n den Vordergrund stellt, kennt Waite eine Vielzahl von traumatischen Verwundungen. „Bitter memories of conflict w i t h parents; a primal scene trauma; resentment over childhood beatings and desertion; inadequacy as a monorchid; the suspicion that his father might have been ,tainted* w i t h Jewish blood and had thus corrupted his children; and the searing memory of his beloved mother's last illness and death while under the care of a Jewish doctor 50 ." Dagegen ist Brachfeld ganz der Sichtweise Alfred Adlers verpflichtet. Seine Verankerung i n der Adlerschen Individualpsychologie stellt er schon durch den Titel seines Hauptwerkes unter Beweis. Es heißt: „Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und i n der Gemeinschaft" 51 . Dabei geht er davon aus, daß das deutsche Volk 5 2 das einzige sei, „dessen angebliche Minderwertigkeitsgefühle* auf der Grundlage mehr oder weniger sachlicher geschichtlicher Untersuchungen einer Analyse unterzogen worden sind**58. Die Genesis des deutschen Minderwertigkeitskomplexes 54 nahm ihren Anfang zwischen 1650 und 175055. „Der deutsche Volkskörper war zu jener Zeit so elend, daß sich das i n der allgemeinen Wirtschaftslage widerspiegelte: er sank i n Verfall 5 6 ." Darauf folgten „Symptome seelischer und geistiger Minderwertigkeit** 57 . 47
Ebd., S. 41. Robert G. L. Waite: The Psychopathic God Adolf Hitler. New York 1977. 49 „Hitler's fantastic view of the world . . . bore very little relationship to external reality. But it did correspond very closely to his own psychic needs. I n this respect his fantasies were not unlike those of thousands of other mentally disturbed people. What was different about Hitler was that he was not given psychological treatment; he was granted the political power which enabled him to transform his private fantasies into objective reality" (ebd., S. 359). 50 Ebd. 51 Oliver Brachfeld: Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft. Aus dem Englischen und Französischen. Stuttgart 1953. 52 Darüber hinaus beschäftigt er sich auch mit dem „Minderwertigkeitskomplex der Neger" (S. 306 ff.); mit dem „spanischen Minderwertigkeitskomplex" (S. 308 ff.); und mit dem amerikanischen Minderwertigkeitsgefühl (S. 311 ff.). 63 Ebd., S. 314. 54 Brachfeld schließt sich den Thesen des ungarischen Barons de Wessel6nyi an. Dieser hat sie in seinem Buch „Die Geburt des Dritten Reiches" 1936 in Budapest veröffentlicht. 55 Oliver Brachfeld: Minderwertigkeitsgefühle. S. 317. 56 Ebd. 48
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Deutschland wurde vom Kulturerzeuger zum Kulturempfänger. „Dieser Mangel an eigenständiger K u l t u r rief den nationalen Minderwertigkeitskomplex i m deutschen Volk hervor 5 8 ." Das deutsche Minderwertigkeitsgefühl wurde Teil des deutschen Unterbewußtseins. Index seiner Wirkkraft ist die deutsche Ablehnung der Ideale der Französischen Revolution 59 . Dem Minderwertigkeitskomplex der Nation entsprach das Inferioritätsgefühl seines ersten Repräsentanten. „Man muß hinzufügen, daß das Deutschland vor 1914 von einem Mann regiert wurde, der das Opfer eines ausgeprägten Minderwertigkeitskomplexes war 6 0 ." Hitler sei es eine Zeitlang gelungen, „das deutsche Volk von seinem Minderwertigkeitskomplex zu befreien" 61 . Dabei sei seine Rassenlehre nichts anderes gewesen, „als Kompensation für den schrecklichen M i n derwertigkeitskomplex" 6 2 . Das moderne Nachrichtensystem habe es ermöglicht, „daß die Komplexe eines Einzelnen, der ein Versager war, sich mit den Minderwertigkeitskomplexen einer Nation von sechzig Millionen Seelen verbinden konnten" 6 3 . Dabei sei sein „Unsicherheitsgefühl . . . hinter der Fassade seines Überlegenheitskomplexes" 64 nur noch gewachsen. Der Psychohistorie, die die Kategorien der Psychologie und der Geschichtswissenschaft zusammendenkt, ist der V o r w u r f nicht erspart geblieben, die seelische Dimension über die historische zu stellen. Ihrer Methode droht i n der Tat die Gefahr, auf eine höchst artifizielle Weise die Fakten der geschichtlichen Entwicklung zu berücksichtigen. Bei l i c h t besehen werden die psychologische und die historische Forschungsperspektive nicht miteinander versöhnt, sondern zu einer unzulässigen Verbindung gebracht. Zur Signatur einer überzeugenden Verbindung von Psychologie und Geschichtswissenschaft gehört Wehler zufolge die ausreichende Berücksichtigung des historischen Aspektes. Die Zweifel an der Ergiebigkeit vieler psychohistorischer Untersuchungen würden dann unabweisbar, wenn man die sträfliche Vernachlässigung des historischen Aspektes durch die Mehrzahl der Psychohistoriker i n den Blick nehme. „Ohne Umschweife w i r d man sagen können, daß der Wert psychoanalytisch erweiterter Biographien und sozialpsychologisch-historischer Gruppenstudien gerade davon abhängt, inwieweit sie . . . geschichtliche Bedingungen berücksichtigt haben 65 ." Es gebe Sach57 58 59 60 61 62 63 64
Ebd. Ebd. Ebd., S. 318. Ebd. Ebd., S. 320. Ebd. Ebd., S. 321. Ebd.
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zwänge, die „unabhängig vom Einfluß eines führenden Politikers, Großindustriellen usw. entstehen" 66 . So seien die drei Weltwirtschaftskrisen von 1857, 1873 und 1929 „ohne jedes Dazutun der Ministerpräsidenten Manteuffel und Bismarck und des Reichskanzlers Müller über Deutschland hereingebrochen" 67 . I n dem Maße, i n dem die drei i n Rede stehenden Politiker „sich durch die objektive Sachlage herausgefordert fühlten, kam ihre persönliche psychologische Struktur ins Spiel" 6 8 . Diejenigen Vertreter der Psychoanalyse irrten, die den gesamten historischen Prozeß mit den Kategorien ihrer wissenschaftlichen Disziplin zu erklären versuchen. „Dieser gleichsam objektiven Herausforderung kann eine monadologische Psychoanalyse gar nicht oder nur höchst verkürzt, indem sie dieselbe als Vorbedingung i n ihre Daten mit hineinnimmt, gewahr werden 69 ." Eine rigoros psychoanalytisch eingefärbte Geschichts- und Politikinterpretation greife ins Leere, mache sich einer unwissenschaftlich-eindimensionalen Betrachtungsweise schuldig. Wenn es den psychoanalytisch interpretierenden Historikern nicht gelinge, die geschichtlichen Bedingungen politischen Handelns gebührend zu berücksichtigen, „erliegen sie nur zu leicht der Gefahr einer monokausalen Erklärimg" 7 0 , einer Fehlinterpretation, die man als „reduktionistischen I r r t u m " 7 1 zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Dieser I r r t u m bestehe vor allem darin, von der „Fiktion . . . der ausschlaggebenden Bedeutung der psychischen Persönlichkeitsstruktur für das Entscheidungshandeln" 72 auszugehen. Wie Wehler so warnt auch Wolfgang Michalka davor, historische Ereignisse allzu vorschnell auf einen psychologischen Kern einzuschränken. „Geschichtswirksame Gruppenprozesse lassen sich schwerlich allein auf die Pathologie eines einzelnen reduzieren. Die i m Zeichen der Sozialgeschichte inzwischen fragwürdig gewordene individuenzentrierte Betrachtungsweise des Historismus erhielte auf diese Weise neuen 65
Hans-Ulrich Wehler: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse. In: Geschichte und Psychoanalyse. S. 25. 68 Ebd., S. 24. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd. 70 Ebd., S. 25. 71 Ebd. Allerdings warnt Otto Pflanze ausdrücklich vor einer eindimensionalen Analyse des historischen Prozesses. Bismarcks Analyse sei unvollständig, wolle man die mannigfaltigen Antriebe unterschlagen, die seine Umwelt bestimmten. Der Rekurs auf seine psychische Charakterstruktur bedeute keineswegs die Vernachlässigung anderer Bestimmungsfaktoren. „To say this is . . . not to disregard the many economic, social, and ideological forces that produced the environment within which he acted" (Otto Pflanze: Toward a Psychoanalytic Interpretation of Bismarck. S. 443). Ebd.
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Auftrieb 7 8 ." Für viele K r i t i k e r tut sich i n der psychohistorischen Geschichts- und Politikbetrachtung auch ein deterministischer Zug kund. Der Rekurs auf die psychologische Struktur der erforschten Akteure sei deswegen so fehlerhaft, w e i l er aller probabilistischen Bestimmungsmerkmale entrate. So w i r f t H. Stuart Hughes der „konventionellen psychoanalytischen Biographie" 7 4 vor, sich durch „grobe Einseitigkeit" 7 5 auszuzeichnen. Vorschnell verknüpfe sie bestimmte U r sachen mit bestimmten Ereignissen. „Sie setzt eindeutige Beziehungen voraus, wenn sie argumentiert, daß der Held dieses oder jenes auf Grund einer schmerzlichen Erfahrimg i n der frühen Kindheit tat 7 8 ." A l l z u rasch werde unzulässig verallgemeinert. „Die Erklärung ergibt sich zu prompt, und das fragliche Trauma w i r d fast unterschiedslos als Handicap gesehen und als nichts weiter 7 7 ." Dabei sei psychologische Schwäche von seelischer Stärke nicht zu trennen und das Trauma könne sowohl zu großen Taten beflügeln, als auch Handlungen entscheidend inhibieren 7 8 . Die deterministische psychohistorische Analyse ins fast lächerliche Extrem getrieben zu haben, diese Leistung gebührt ohne Zweifel Lloyd de Mause. Unter seinem deterministischen Blick w i r d eine Zukunftsperspektive entwickelt, deren einzelne Bestimmungsmomente aufgrund der Einsichten des Psychohistorikers de Mause weitgehend vorhersagbar sind. Er ging allen Ernstes davon aus, daß Jimmy Carter die Amerikaner „sehr wahrscheinlich u m 1979 herum i n einen neuen Krieg führen wird" 7 ®. Die Erkenntnisse von de Mause sind geeignet, alle Aussichten auf eine friedliche Zukunft aus dem Bewußtsein zu tilgen. W i r „müssen zum Schluß kommen, daß Jimmy C a r t e r . . . unser nächster Kriegsherr sein w i r d " 8 0 . Dieser antiprobabilistisch-deterministische Zug w i r d Norbert Muehlen zufolge potenziert durch einen freizügigen Umgang mit den Forschungsquellen, der jeglicher wissenschaftlichen Attitüde widerspreche. „Ohne ihre Opfer jemals persönlich gesehen, geschweige denn mit ihnen gesprochen zu haben, sezieren und interpretieren sie ohne Scheu und Hemmung deren — angeblich — intimste private Erlebnisse als Motivkräfte öffentlichen Handelns 81 ." 73
Wolfgang Michalka: Hitler in neuer Sicht? Krankheit und Politik. Die psycho-historische Suche nach dem deutschen Diktator. In: F A Z Nr. 94, 23. April 1979. 74 H. Stuart Hughes: Geschichte und Psychoanalyse. In: Geschichte und Psychoanalyse. S. 40. 76 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 40 f. 79 Lloyd de Mause: Jimmy Carter und die amerikanische Phantasie. In: Familiendynamik 3 (1978), S. 229. 80 Ebd., S. 230. 81 Norbert Muehlen: Die Geschichte liegt auf der Couch. In: Die Welt Nr. 139, 18. Juni 1977.
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Muehlen geht sogar so weit, die Psychohistoriker i n die Nähe der „Yellow press" zu rücken. „ M i t jener wissenschaftlichen Akribie, die das Handwerk der Klatschjournalisten auszeichnet, sammeln Psychohistoriker Informationen aus zweiter oder dritter Hand, vornehmlich von aussagefreudigen Verwandten, Bekannten, Beobachtern oder auch i n Archiven. Die Quellen, aus denen sich die Analysen des Charakters ihrer Helden und der Gründe ihrer Politik ergeben, sind dabei meist ebensowenig verifizierbar wie die Konklusionen 8 2 ."
3. Adornos Faschismusanalyse Adornos Erforschung der sog. „Autoritären Persönlichkeit" w i r d von der Fragestellung bestimmt, wie faschistische Einstellungen erwachsen. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das das Forschungsvorhaben von Adorno und seinen Mitarbeitern zusammenhielt, dann war es die Frage, wie der Faschismus bekämpft werden kann. „ W i r . . . sind der Meinung, daß keine politisch-soziale Strömung unsere traditionellen Werte und Institutionen so gravierend bedroht wie der Faschismus und daß er, wenn die psychologischen Kräfte erkannt sind, die ihn begünstigen, schließlich besser zu bekämpfen ist 8 3 ." Vor dem Hintergrund der Einsicht, daß auch die Psychologie ihren Part bei der Bekämpfung des Faschismus zu leisten hat, fragt Adorno vornehmlich nach den Entstehungsbedingungen faschistischer Einstellungen. „Wie kommt antidemokratisches Denken zustande? Welche Kräfte i m Individuum sind es, die sein Denken strukturieren 8 4 ?" U m diese Fragen m i t genügender Präzision zu beantworten, entwerfen Adorno und seine Mitarbeiter einen umfänglichen Katalog von Einstellungen, deren Ausdrucksform und Tendenzen sich gegenseitig bedingen und verstärken. „Diese Variablen ergänzen sich unserer Meinimg nach so, daß sie ein einziges Syndrom, eine mehr oder weniger dauerhafte Struktur i m Individuum bilden konnten, die es für antidemokratische Propaganda anfällig macht 85 ." Die Variablen sind: ,,a) b) c) d) 82
Konventionalismus . . . Autoritäre U n t e r w ü r f i g k e i t . . . Autoritäre Aggression . . . Anti-Intrazeption . . .
Ebd. Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main 1973, S. 1. 84 Ebd., S. 2. 85 Ebd., S. 46. 88
3. Adornos Faschismusanalyse
e) f) g) h) i)
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Aberglaube und Stereotypie . . . Machtdenken und K r a f t m e i e r e i ' . . . Destruktivität und Zynismus . . . Projektivität... Sexualität.. . 8 6 ."
Klaus Eyferth zufolge zeichnet sich der autoritäre Typus bei Adorno durch folgende Merkmale aus: „ E i n unbewältigter K o n f l i k t mit einem autoritären, dominierenden Vater führt zu einem überstarken Überich, zu einer sadomasochistischen Triebstruktur und zu erheblicher Projektionsneigung. Normen und Konventionen der herrschenden Majorität werden sklavisch-konformistisch übernommen. Von anderen w i r d gleiche Konformität aggressiv gefordert. Der Identifikation mit der eigenen Gruppe entspricht ein feindseliges Mißtrauen gegenüber Fremden. Das Lieben w i r d als bedrohlich aufgefaßt. Gegensätze werden überspitzt erlebt. Besonders i n sittlicher Hinsicht w i r d schwarz-weiß gezeichnet, was zu einem pharisäischen Puritanertum führt. Neigung zu Projektionen ist vorherrschend. Das Denken verläuft i n starren Formeln, es entbehrt der Einbildungskraft. Mystisch-abergläubige Vorstellungen sind häufig 8 7 ." Bei der Adornoschen Faschismusanalyse handelt es sich u m ein Denkgefüge, das sich i n entscheidendem Maße der Lehre Sigmund Freuds verdankt. „Unsere Theorie zur Charakterstruktur lehnt sich eng an Freud an 88 ." Dabei geht Adorno davon aus, daß unsere politischen Vorstellungen von unseren psychischen Bedürfnissen und Strukturen gesteuert werden. M i t Nachdruck warnt er davor, den politischen Charakter eines Individuums als „endgültige Determinante zu hypostasieren" 80 . Da der menschliche Charakter sich unter dem Einfluß seiner Umwelt formt, muß auch diese bei einer wirklichkeitsadäquaten Politikanalyse Berücksichtigung finden 90 . Die Umweltkräfte „formen . . . den Charakter u m so gründlicher, je früher sie i n der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielen" 91 . Jede Familie folge den „Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe:" 9 2 , darüber hinaus beeinflussen „auch ökonomische Faktoren . . . das Verhalten der Eltern gegenüber dem K i n d " 9 8 . 88
Ebd., S. 45. Klaus Eyferth: Typologische Aspekte des Problems der autoritären Persönlichkeit. In: Autoritarismus und Nationalismus — Ein deutsches Problem? Hrsg. von K. D. Hartmann. Frankfurt am Main 1963, S. 70 f. 88 Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter. S. 7. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Ebd. 87
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Diese Textpassage bringt deutlich zum Ausdruck, daß Adorno den menschlichen Charakter nicht nur als Resultante ökonomischer Bestimmungsfaktoren ansieht, sondern auch ethnische und religiöse Faktoren berücksichtigt. Aus diesem Grunde spricht er sich auch nicht für eine Verbindung der Freudschen und Marxschen Sichtweise aus. Er gibt sich als enragierter Gregner aller Versuche zu erkennen, den historischen und politischen Prozeß auf ein eindimensional-ökonomistisches Modell zu bringen. „Wenn einzig das wirtschaftliche Eigeninteresse die Meinungen bestimmte, müßten die Meinungen von Personen mit gleichem sozioökonomischem Status sich sehr nahekommen und die der verschiedenen sozioökonomischen Gruppen sich sinnvoll voneinander unterscheiden 94 ." Dies sei aber keineswegs der Fall. Gerade die Untersuchung über die „Autoritäre Persönlichkeit" habe ergeben, daß jegliche panökonomische Politikinterpretation den empirischen Fakten widerspreche. „Bei Personen mit gleichem sozioökonomischen Status zeigen sich nur ganz allgemeine Ähnlichkeiten und die Ausnahmen sind eklatant 9 5 ." Die empirische Sozialforschung habe verdeutlicht, „daß die Menschen sich sehr oft nicht i m Sinne ihrer materiellen Interessen verhalten" 9 6 . Sie vertreten politische Ordnungsvorstellungen, die ihrer sozioökonomischen Position zuwiderlaufen. „ U m zu erklären, warum Personen mit gleichem sozioökonomischem Status so häufig verschiedenen Ideologien und solche mit verschiedenem Status so häufig gleichartigen Ideologien anhängen, müssen andere als rein wirtschaftliche Bedürfnisse zugrunde gelegt werden 97 ." Die Darstellung der Adornoschen Faschismusanalyse zieht notwendigerweise auch die Frage nach sich, wie ihr heuristischer Wert zu ver94
Ebd., S. 10. Ebd. 96 Ebd., S. 11. 97 Ebd., S. 10 f. Adorno hat sich auch an anderen Stellen seines Werkes gegen die panökonomische Geschichtsinterpretation gewandt. So heißt es in „Minima Moralia": „Durch die Alleinherrschaft der Negation wird nach dem Schema des immanenten Gegensatzes die Bewegung des Gedankens wie der Geschichte eindeutig, ausschließlich mit unerbittlicher Positivität geführt. Alles wird unter die in der gesamten Gesellschaft historisch je maßgebenden wirtschaftlichen Hauptphasen und ihre Entfaltung subsumiert: das ganze Denken hat etwas von dem, was Pariser Künstler le genre chef d'oeuvre nennen" (Frankfurt am Main 1951, S. 199). Dabei werde das „Unheil gerade von der Stringenz solcher Entfaltung" (ebd.) bewirkt. Ähnlich heißt es in der „Negativen Dialektik": „Es ging um die Vergottung der Geschichte, auch bei den atheistischen Hegelianern Marx und Engels. Der Primat der Ökonomie soll mit historischer Stringenz das glückliche Ende als ihr immanent begründen; der Wirtschaftsprozeß erzeuge die politischen Herrschaftsverhältnisse und wälze sie um bis zur zwangsläufigen Befreiung vom Zwang der W i r t schaft" (Frankfurt am Main 1966, S. 313 f.). Diese „Intransigenz der Doktrin" zeige sich besonders bei Friedrich Engels (ebd.). Adorno erblickt in der „Idee der geschichtlichen Totalität als einer von kalkulabler ökonomischer Notwendigkeit" (ebd., S. 315) eine Hauptgefahr für die menschliche Freiheit. 95
3. Adornos Faschismusanalyse
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anschlagen ist. Als Haupteinwand hat sicherlich das Argument zu gelten, daß Adorno zu wenig zwischen der extremen und der moderierten Rechten, zwischen dem liberalen Konservatismus und seinem illiberalen Gegenspieler unterscheidet. So schließen sich beispielsweise die Forderung nach demokratischer Gestaltung des politischen Gemeinwesens und das Postulat einer entscheidungsfreudigen Staatsautorität keineswegs aus. Alle großen liberalen Staatstheoretiker haben die Notwendigkeit einer starken Staatsführung betont 98 . Dies w i r f t die Frage auf, ob überhaupt autoritätsbetonte Erziehungsprinzipien i n so starkem Maße der faschistischen Politikattitüde zu subsumieren sind, wie dies bei Adorno geschieht. A n diesem Punkte ist Peter R. Hofstätter beizupflichten, wenn er schreibt: „Daß eine die elterliche Autorität ganz besonders betonende Erziehungspolitik i n den Ländern eine besondere Rolle gespielt habe, die wie i n Deutschland, Italien und Österreich für eine Weile faschistische Regierungen besaßen, entspricht zumindest nicht dem Empfinden der Bewohner dieser Länder, ebensowenig entsprach es der Erziehungspolitik des I I I . Reiches, die den Einfluß der Eltern zu verringern trachtete, oder dem Eindruck der amerikanischen Soldaten, die i n diesen Ländern nach dem Kriege stationiert waren 9 9 ." Zu fragen ist auch, ob die puritanische Haltung zur Sexualität i n einen rational einleuchtenden und logisch nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem Faschismus gebracht wurde. Schließlich führt sexuelle Prüderie nicht schnurstracks zum Faschismus und postulieren die Repräsentanten dieser Ideologie nicht durchweg sexuellen Puritanismus 100 . Adorno ist auch an diesem Punkt der Vorwurf zu machen, daß er über seiner dogmatischen Klassifizierungsabsicht die Komplexität insbesondere des politischen Universums übersah. Von der Warte eines an komparatistischen Studien geschulten Standpunktes aus muß der Einwand formuliert werden, daß Reinlichkeitsdressur, strenge Erziehung und antilibertäre Sexualethik auch an der Wiege demokratisch-liberaler Gemeinwesen stehen können. I m Zentrum dessen, was den theokratischen Herrschern des frühen Massachusetts am Herzen lag, stand sicherlich die Sorge um eine sittenstrenge Gesellschaftsordnung. Was der puritanischen Ethik dieses Gemeinwesens ihr 98 So heißt es bei Alexander Hamilton: „Energy in the executive is a leading character in the définition of good government" (In: The Federalist No. L X X — March 18, 1788 — In: The Federalist. London and New York 1948, S. 357). 99 Peter R. Hofstätter: Einführung in die Sozialpsychologie. 2. Auflage. Stuttgart 1959, S. 387. 100 Janine Mossuz weist darauf hin, daß es neben den Radicaux permissifs auch Radicaux répressifs gebe. Des weiteren unterscheidet sie zwischen Conformistes permissifs und Conformistes répressifs (Radicalisme politique et permissivité sexuelle. In: Revue Française de Science Politique 24 (1974), S. 57 und passim).
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Signum gibt, ist radikal auf einen antihedonistischen Ton gestimmt. Einer der besten Kenner des „Early America", Ralph Barton Perry, hat die Haltung dieser Protestanten zur Sexualität so beschrieben: „Der Puritaner . . . war vor dem Sexualtrieb besonders auf der Hut, nicht nur wegen seiner Stärke, sondern auch deshalb, w e i l er von allen Trieben der zutiefst i m Körperlichen verwurzelte zu sein scheint. Zugleich ist er von allen Trieben der phantasievollste, so daß es besonders schwierig ist, Gedanken und Handlungen auseinanderzuhalten. Das Ziel des Puritanismus war es nicht, sexuelle Phantasie zu unterschieben, wo sie nicht existierte, sondern die Untrennbarkeit der Phantasie von der Leidenschaft zu erkennen und der Leidenschaft zu mißtrauen als einer der größten Rivalinnen der Gottesliebe 101 ." Obgleich sich der neuenglische Puritanismus Geoffrey Gorer zufolge „ m i t seiner Abkehr vom Wohlleben und seiner übergroßen Einschränkung der Lebensfreude" 102 sehr große psychologische Anforderungen an den einzelnen Bürger stellte, entwickelten sich die Neu-Engländer zu vorbildlichen Repräsentanten der Vereinigten Staaten. Sie errangen beherrschende Stellen i n der Industrie. Lange Zeit habe Neu-England als der „fortschrittlichste und demokratischste Landesteil" 1 0 3 gegolten. Die Sexualrepression dieser Theokratien führte also zum Aufbau von demokratischen Gemeinwesen und keineswegs zur Etablierung von illiberalen Politien. Die Adornosche Faschismusanalyse ist aus einer radikal-demokratischen Politikauffassung heraus entworfen, ein kritischer Gegenentw u r f vor allem zu derjenigen Politikauffassung, die als konservativ zu bezeichnen sich eingebürgert hat. Aus diesem Grunde hat sie entscheidenden A n t e i l an der Perhorreszierung derjenigen Ordnungsvorstellung, die die Politik hierarchie- und autoritätsbetont analysiert. W i l l i a m F. Buckley hat den genuin antikonservativen Charakter von Adornos Faschismusanalyse betont, vor allem auf ihre Verwendungsfähigkeit i n der politischen Auseinandersetzung hingewiesen. „His thesis is . . . convenient for those who refused to concede that there are rational grounds for conservative dissent from the liberal orthodoxy 1 0 4 ." W i l l man den ganzen Abstand ermessen, der die Adornosche Faschismusanalyse von der politischen Wirklichkeit trennt, so nimmt man am besten die unumstößliche Tatsache i n den Blick, daß autoritätsbetonte Charaktere nicht nur auf der rechten, sondern auch auf der linken Seite 101 Ralph Barton Perry: Amerikanische Ideale (Puritanismus und Demokratie) Band I. Nürnberg 1947, S. 295 f. 102 Geoffrey Gorer: Die Amerikaner. Eine völkerpsychologische Studie. Hamburg 1958, S. 191. 103 Ebd., S. 192. 104 William F. Buckley jr.: Up from Liberalism. New Rochelle and New York 1968, S. 92 f.
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der politischen Skala zu finden sind. Schließlich gibt es ja auch einen „gouvernementalen Sozialismus". Insbesondere hat sich der Marxist Stalin dem Anspruch verweigert, seinen Staat nach den Prinzipien des radikaldemokratischen Politikcredos zu regieren. Klaus Eyferth schreibt zu Recht: „Gibt es nicht aber auch den autoritären Liberalen, der eine außerordentlich enge Toleranzgrenze gegenüber Rechts- und Linksorientierten hat? Oder auch den Linksautoritären, der zwar dogmatisch und starr ist, den aber die F-Skala nicht erfaßt 105 ?" Adorno und seine Mitarbeiter seien methodologisch unfähig, herauszufinden, „ob der angeblich Liberale i m Grunde ein verkappter Autoritärer ist" 1 0 6 . I n ähnlicher Weise geht auch Eysenck davon aus, daß autoritäre Haltungen auch bei links eingestellten Persönlichkeiten zu finden sind. „Es liegen . . . Beweise dafür vor, daß auch die Kommunisten ,starke Männer' sind und m i t den Faschisten dieses hervorstechende Merkmal ethnozentrischer Persönlichkeiten teilen 1 0 7 ."
4. Die Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus Diejenigen Autoren, die die Psychoanalyse mit dem Marxismus verbinden wollen, sprechen sich dafür aus, Politik und Geschichte auf der Grundlage des Marxismus psychoanalytisch auszudeuten. Es geht dabei darum, die von Sigmund Freud und K a r l Marx erarbeiteten Interpretationssysteme zu einem neuen Analysekonzept zu verbinden. Insbesondere Wilhelm Reich und Erich Fromm haben ihre Werke u m den Fragenkomplex herum gruppiert, wie psychoanalytische Theorie und marxistische Klassenkampflehre zu einer widerspruchsfreien und heuristisch fruchtbaren Einheit zusammengefügt werden können. Dabei geht Reich davon aus, daß sowohl dem Freudschen als auch dem Marxschen System an sich heuristische Defizienzen eignen. Was Freud anlangt, so habe er sich auf dem sozioökonomischen Felde durch eine 105 Klaus Eyferth: Typologische Aspekte des Problems der autoritären Persönlichkeit. S. 73. 106 Ebd. 107 Hans Jürgen Eysenck: Wege und Abwege der Psychologie. Aus dem Englischen. Hamburg 1956, S. 148. Eysenck macht des weiteren gegen Adorno und seine Mitarbeiter geltend, daß es sich bei ihren Untersuchungen um „extrem voreingenommene und extrem unvoreingenommene Menschen handelt" (ebd., S. 147). Dagegen brauche für „leicht voreingenommene oder relativ unvoreingenommene Menschen . . . nicht unbedingt das gleiche zu gelten" (ebd.). Eysenck zufolge plappern „viele Leute . . . antisemitische und ethnozentrische Schlagwörter wie Papageien nach, weil sie sich noch nie darüber Gedanken gemacht haben oder weil sie ihrer Dummheit wegen nicht wissen, was sie sagen, oder weil solches Gerede in den Kreisen, in denen sie verkehren, nun einmal gang und gäbe ist" (ebd.). Überdies entsprechen „Worte und Taten sich nicht immer" (ebd.).
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erstaunliche Ignoranz ausgezeichnet. „Die Freudsche Auffassung . . . bleibt uns . . . die Auffassung über die soziologische Herkunft und Funktion" gewisser psychologisch determinierter Verhaltensweisen schuldig 108 ." So sei sie unfähig, die gegenüber den Vatergestalten ausgedrückten Schuldgefühle sozioökonomisch zu orten. Dagegen habe Marx den psychologischen Faktor vernachlässigt. „Die Struktur des handelnden Menschen, der sog. ,subjektive Faktor der Geschichte* blieb unerforscht, weil Marx Soziologe und nicht Psychologe war und weil es damals keine naturwissenschaftliche Psychologie gab 1 0 9 ." Der Marxismus, Reich spricht von „Vulgärmarxismus", sehe das Beziehungsgespinst des politischen Entscheidungskosmos allein unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Antriebskräfte und übersehe darüber den entscheidenden Einfluß, der dem ideologischen Überbau dabei zukomme. Fälschlicherweise behaupte Marx, „daß die Ideologie und das ,Bewußtsein* der Menschen durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt werden** 110 . Auf diese Weise mache er die „Ideologie schematisch und einseitig abhängig von der Wirtschaft** und übersehe „die Abhängigkeit der . . . Wirtschaft von der Ideologie** 111 . Indem der Marxismus die Berücksichtigung der Psychologie bei der Analyse des Politikprozesses als unmarxistisch ablehne, überantworte er dieses Forschungsfeld seinen Gegnern. Er überlasse die „Handhabung des subjektiven Faktors, des sogenannten ,Seelenlebens* in der Geschichte, dem metaphysischen Idealismus der politischen Reaktion, den Gentile und Rosenberg, die den ,Geist* und die ,Seele* allein Geschichte machen lassen**112. Reich warnt davor, seine neue Forschungsrichtung als simple Verbindung des Marxismus mit dem Freudianismus zu begreifen. „Die Fragestellung der Sexualökonomie, . . . die ist nicht einer der üblichen Versuche, Marx durch Freud oder Freud durch M a r x zu . . . ergänzen, sie zu vermengen etc. 113 ." Wenn sich auch „die Wissenschaft der Sexualökonomie . . . auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud aufbaut** 114 , so ist damit noch lange keine 108 Wilhelm Reich: Massenpsychologie und Faschismus. 2. Auflage. Ohne Ort, ohne Jahr. S. 42. 109 Ebd., S. 43. 110 Ebd., S. 27. 111 Ebd. Das Problem der „Rückwirkung der Ideologie" bleibe bei einer derartig panökonomischen Betrachtung ungelöst „Obwohl er nun vom »Zurückbleiben des subjektiven Faktors', wie ihn Lenin verstand, spricht, kann er dieses Zurückbleiben nicht praktisch bewältigen, weil er ihn früher aus der wirtschaftlichen Situation einseitig hervorgehen ließ, ohne erstens die Widersprüche der Ökonomie in der Ideologie aufzusuchen, und zweitens ohne die Ideologie als geschichtliche Kraft zu erfassen" (ebd.). 112
Ebd., S. 27. Ebd., S. 47. 14 Ebd.
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Gleichrangigkeit des ökonomischen und des psychologischen Wirkfaktors ausgesprochen. Letzten Endes w i r d die Psychologie i n die marxistische Gesellschaftslehre integriert. „Sie stellt sich nicht wie die bürgerliche Psychologie und die psychologistische Ökonomie der Marxschen Soziologie gegenüber . . . sondern sie ordnet sich ihr, die das Bewußtsein aus dem Sein ableitet, an einer ganz bestimmten Stelle unter und ein 1 1 5 ." I n wie starkem Maße Reich tatsächlich die Psychoanalyse dem Marxismus unterordnet, beweist seine Widerspiegelungslehre. Es geht darum, die Einsichten der Psychoanalyse „ i n das Gebäude des historischen Materialismus einzubauen, die Hegemonie der Mystiker und Metaphysiker über dieses Gebiet zu zerstören" 118 . Reich zufolge hat „die Ideologie jeder gesellschaftlichen Formation . . . nicht nur die Funktion, den ökonomischen Prozeß dieser Gesellschaft zu spiegeln, sondern vielmehr auch die, ihn in den psychischen Strukturen der Menschen dieser Gesellschaft zu verankern" 1 1 7 . Die Menschen sind sowohl den ökonomischen und sozialen Verhältnissen ihrer Gesellschaft als auch der ideologischen Struktur ihrer Sozietät ausgesetzt. Der Arbeiter erfährt sowohl seine Klassenlage und w i r d gleichzeitig zum Objekt der ideologischen Ordnungsvorstellung seines Staates. Die Menschen müssen „also immer einen Widerspruch i n ihrer psychischen Struktur entwickeln, der dem Widerspruch zwischen der Einwirkung durch die materielle Lage und der Einwirkung durch die ideologische Struktur der Gesellschaft entspricht" 118 . Das Denken der Menschen ist also so kontrastreich wie die Gesellschaft, i n der sie leben. Weit davon entfernt, bloße Widerspiegelung zu sein, w i r k t die Ideologie auf die Basis zurück. „Indem aber eine Ideologie die psychische Struktur der Menschen verändert, hat sie sich nicht nur i n diesen Menschen reproduziert, sondern was bedeutsamer ist, sie ist in Gestalt des derart konkret veränderten und infolgedessen verändert und widerspruchsvoll handelnden Menschen zur aktiven Kraft, zur materiellen Gewalt geworden 119 ." Reich warnt nachdrücklich davor, diese Rückwirkung der Ideologie auf die Basis i n einem antimarxistischen Sinne zu interpretieren. „Die Rückwirkung 4 verliert ihren anscheinend metaphysischen oder psychologistischen Charakter, wenn sie i n ihrer materiellen Gegebenheit als psychische Struktur des handelnden Menschen erfaßt werden kann 1 2 0 ." Dabei geht Reich davon aus, daß sich die Ideologie „langsamer umwälzt als die ökonomische Basis" 12 1 , d. h. also, daß die „psychischen 115 116 117 118 119 120 121
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
29. 31. 31 f. 32.
S. 32 f. S. 33.
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Strukturen hinter der Entwicklung der Seinsverhältnisse, denen sie entsprangen und die sich rasch weiterentwickeln, zurückbleiben und mit den späteren Lebensformen i n K o n f l i k t geraten" 1 2 2 . Obgleich aber dieses „Auseinanderfallen von ökonomischer Lage und Ideologie" 1 2 3 zu den unumstößlichen Tatsachen der Sozialentwicklung gerechnet werden muß, bedeutet dies noch lange nicht, daß letzten Endes die Sozialentwicklung die Ideologieformation bestimmt. Reich zufolge geht es darum, die traditionalen Denkweisen der Arbeiter zu erkennen, das Auseinanderfallen von Ökonomie und Ideologie zu bekämpfen 124 . „Wenn der Werktätige weder eindeutig bürgerlich noch eindeutig revolutionär ist, sondern i n einem Widerspruch zwischen reaktionären und revolutionären Strebungen steht, so muß sich, wenn w i r diesen Widerspruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis ergeben, die den konservativen psychischen Kräften die revolutionären entgegensetzt 125 ." Die an Marx geschulte Analyse der Ideologie setzt politische Kampfpotenzen frei. „Wenn man . . . die Mystik materialistisch erklären kann, so muß sich zwangsläufig ein politisches Gegengift gegen sie erheben 126 ." Wie Reich so geht auch Erich Fromm von der Priorität des ökonomischen Faktors aus. Er schreibt: „Innerhalb der Auffassung des historischen Materialismus findet die analytische Methode eindeutig ihren Platz. Sie untersucht einen der i m Verhältnis Gesellschaft—Natur w i r k samen natürlichen Faktoren, die menschliche Triebwelt, die aktive und passive Rolle, die sie innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses spielt 1 2 7 ." Dabei ist für Fromm „die libidinöse Struktur einer Gesellschaft . . . das Medium, i n dem sich die Einwirkung der Ökonomie auf die eigentlich menschlichen, seelisch-geistigen Erscheinungen vollzieht" 1 2 8 . Letzten Endes verändern „sich die Triebregungen und Bedürfnisse i m Sinne der ökonomischen Bedingungen, d. h. des jeweils Möglichen bzw. Notwendigen" 1 2 9 . Fromm geht also ohne probabilistische Abstriche von der „ökonomischen Bedingtheit der libidinösen S t r u k t u r " 1 3 0 aus. Die Psychoanalyse verfeinert das Erkenntnisinstrumentarium des Marxismus; sie ermöglicht tiefere Einblicke i n den Prozeß der materialistischen Entwicklung. „Es ergibt sich also aus der Verwendung der Psycho122
Ebd. Ebd. 124 Ebd., S. 40. 126 Ebd., S. 40 f. 126 Ebd., S. 41. 127 Erich Fromm: Uber Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie. In: Hans-Peter Gente (Hrsg.): Marxismus Psychoanalyse Sexpol. Band I. Frankfurt am Main 1970, S. 149. 128 Ebd., S. 148. 129 Ebd., S. 149. 130 Ebd., S. 147. 123
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analyse innerhalb des historischen Materialismus eine Verfeinerung der Methode, eine Erweiterung der Kenntnis der i m gesellschaftlichen Prozeß wirksamen Kräfte, eine noch größere Sicherheit sowohl i m Verständnis historischer Abläufe als i n der Prognose künftigen gesellschaftlichen Geschehens und speziell das vollkommene Verständnis der Produktion der Ideologien 131 ." Ebenso bemüht sich Grossarth-Maticek bei seiner Analyse der Studentenbewegung des Jahres 1968, psychoanalytische und ökonomischmarxistische Aspekte miteinander zu verbinden. Er geht davon aus, daß bei den aufmüpfigen Studenten dieser Zeit „das subjektive Konfliktbewußtsein i m familiären, sexuellen und psychologischen Bereich . . . Hand i n Hand mit der Fähigkeit der Individuen, objektive ökonomische und politische Widersprüche wahrzunehmen" 1 3 2 ging. Bei den Studenten wurden „objektive gesellschaftliche Widersprüche" 133 aus „der Sicht der neurotischen Wahrnehmungsdisposition" 134 erkannt. Die objektiven gesellschaftlichen Widersprüche haben sich vor allem dadurch ergeben, daß die „Rekonstruktionsperiode der hochindustrialisierten kapitalistischen Länder mit ihren ersten Verwertungsschwierigkeiten" 1 3 5 zum Abschluß kam. Die „sexuellen und psychopathologischen Schwierigkeiten" 1 3 6 setzten die Studenten i n die Lage, diese Schwierigkeiten zu erfassen und auf ihrer Grundlage eine emanzipatorische Kampfstrategie zu entwickeln. Die gleichzeitig Gestörten und Gerechten sagten der herrschenden Ordnung den Kampf an 137 . Die i n Rede stehenden Versuche, Marxismus und Psychoanalyse m i t einander zu versöhnen, haben trotz der erklärten Absicht von Reich und Fromm, eine Wohnung i m Gesamtgebäude des historischen Materialismus zu beziehen, zu heftigen Ablehnungen derjenigen geführt, die das Marxsche Erbe frei von allen psychoanalytischen Beimengungen erhalten wollten. So beurteilt I. Sapir die Möglichkeit, Psychoanalyse und Marxismus miteinander zu verbinden, äußerst skeptisch. Als Lehre von der Persönlichkeit besitze die Psychoanalyse Eigenschaften, die die „Einverleibung i n die Theorie des historischen Materialismus nicht nur methodologisch unfruchtbar machen, sondern auch geeignet sind, die Grundlagen der Marxschen Lehre von der gesellschaftlichen und 151
Ebd., S. 145 f. Ronald Grossarth-Maticek: Revolution der Gestörten? Motivationsstrukturen, Ideologien und Konflikte bei politisch engagierten Studenten. Heidelberg 1975, S. 236. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd., S. 234. 136 Ebd., S. 236. 137 Ebd. 182
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geschichtlichen Entwicklung weitgehend zu entstellen" 1 5 8 . Zu den Hauptfehlern der Psychoanalyse und derjenigen Schule, die Freud und Marx zu verbinden trachtet, gehöre die unzulässige Biologisierung des historisch-psychologischen Prozesses. „Der schwerste Verstoß gegen die Dialektik besteht darin, daß die Psychoanalyse die menschliche Persönlichkeit übermäßig biologisiert und ihre sozialen Komponenten vernachlässigt 139 ." A u f diese Weise mache sie sich einer unzulässigen Hintansetzung des ökonomisch-materialistischen Bestimmungsfaktors schuldig. Ihre Vertreter überschätzen die „Rolle des psychologischen Faktors i m historischen Prozeß; sie betrachten diesen Faktor als Ausdruck des Wirkens biologisch-instinktiver Kräfte und lassen die Bedeutung der ökonomischen Grundlage dieses Prozesses ganz oder teilweise unbeachtet 140 ". Freud habe sich durch die Nichtbeachtung des ökonomischen Faktors des „gesellschaftlich-historischen Idealismus" 1 4 1 schuldig gemacht, während Wilhelm Reich durch seinen Versuch, die Psychoanalyse der Theorie des historischen Materialismus einzuverleiben, zur „Entstellung der Marxschen Auffassung von der gesellschaftlichen Entwickl u n g " 1 4 2 beigetragen habe. Sowohl Freud als auch Reich fielen auf die schon von Marx kritisierte Position Feuerbachs zurück, „dessen materialistische Ansichten über die Natur des Menschen ihn nicht von einer idealistischen Einstellung zu den sozialen und historischen Erscheinungen schützen konnte" 1 4 3 . Ähnlich wendet sich auch A. Stoljarow gegen alle Versuche, Freudianismus und Marxismus miteinander zu verbinden bzw. zu versöhnen. Der Freudianismus sei zu sehr auf einen bürgerlich-individualistischen Ton gestimmt, u m eine Verbindimg m i t dem Marxismus eingehen zu können. „Die Psychologie Freuds ist a n t i sozial 4 i m Sinne ihres ultra-individualistischen Charakters 144 ." Ganz auf seine individualistische Sichtweise eingeschränkt, übersehe der Freudianismus vor allem die kaum leugbare Tatsache des Klassenkampfes 145 .
188 I. Sapir: Freudismus und Marxismus. Aus dem Russischen. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation einer Kontroverse. Frankfurt am Main 1970, S. 222. 189 Ebd., S. 244. 140 Ebd., S. 245. 141 Ebd. 142 Ebd. 148 Ebd. 144 A. Stoljarow: Der Freudismus und die „Freudo-Marxisten". In: Psychoanalyse und Marxismus. S. 308. 145 Ebd.
V I I . Die Religion als Bestimmungsfaktor des politischen Handelns Dem Materialisten ist es nicht gestattet, in seiner fehlerlosen Maschine auch nur ein Fünkchen Spiritualismus oder den Schatten eines Wunders zuzulassen . . . Beide, der Materialist wie der Wahnsinnige, sind nie im Zweifel. Gilbert Keith Chesterton
1. Geschichte und Religion A u f der Suche nach den Bestimmungsdeterminanten politischen und historischen Verhaltens kann auch die Religion nicht ausgeklammert werden. Nur ein reduktionistisch argumentierender Politikanalytiker kann meinen, das gesamte menschliche Verhalten lasse sich auf sog. „materialistische" Faktoren zurückführen 1 . Die vorliegende Untersuchung schließt dezidiert auch die Vorstellung ein, daß der religiöse Faktor bei der Politikanalyse berücksichtigt werden muß. Religiöse Ordnungsvorstellungen besitzen ihre eigene, unableitbare Determinationskraft. Schon Georges Sorel 2 hat darauf aufmerksam gemacht, wie wenig die Religion als reines Überbauphänomen begriffen werden kann. „ I n der Geschichte der Urvölker spielt die Religion eine außerordentliche Rolle. Es wäre sehr falsch, es zu bestreiten. Auch i n der modernen Welt scheint m i r die Religion ihre Rolle durchaus noch nicht ausgespielt zu haben. W i r sehen ja, daß religiöse Überzeugungen, die bereits als längst veraltet galten, sich unter unseren Augen wieder verjüngen können 3 ." Die religiösen Überzeugungen greifen in „jedem Augenblick i n den sozialen Komplex" 4 ein. Sorel zufolge hat vor allem K a r l Marx den Zusammenhang zwischen Religion und Geschichte falsch interpretiert. „ M a r x hat über Religion nicht viel gesagt, und was er davon gesagt hat, ist nicht besonders glücklich . . . Seine Meinung über 1 Vgl. dazu Ralph Barton Perry: Amerikanische Ideale (Puritanismus und Demokratie). Band I. Aus dem Amerikanischen. Nürnberg 1947, S. 23. 2 George Sorel: Betrachtungen über die materialistische Geschichtsauffassung. In: Sozialistische Monatshefte. Internationale Revue des Sozialismus 12 (1898). 8 Ebd., S. 430. 4 Ebd., S. 431.
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V I I . Die Religion als Bestimmungsfaktor des politischen Handelns
diese Frage ist also nur von einem sehr begrenzten Wert. Der historische Materialismus w i r d so lange keine völlige Erklärung der Geschichte liefern können, als er nicht eine völlig ausreichende Theorie über die Rolle der Religion geschaffen hat 5 ." I n ähnlicher Weise beklagt sich Müller-Armack, daß der Marxismus die „geistige und religiöse Entwicklung . . . als Ideologie, als Verhüllung und Tarnung ökonomischer Interessen" 6 angesehen hat bzw. ansieht. Die Vernachlässigung des religiösen Faktors i n der sozialwissenschaftlichen Analyse sei aber nicht nur K a r l Marx und seinen Parteigängern anzulasten. „ I n stetem Wechsel werden seit den Tagen der Aufklärung die Vernunft, der Fortschritt, die Masse, Wirtschaft, Klassen, Eliten und Rassen als Träger geschichtlicher Wirksamkeit gepriesen 7 ." A u f diese Weise sei die Geschichte dem „Wirken kollektiver Kräfte, der Herrschaft wirtschaftlicher und politischer Interessen, dem Mechanismus oder irgend einem anderen blinden Geschichtsgesetz überantwortet" 8 worden. Was Wunder, wenn eine derartige Geschichts- und Politikbetrachtung den religiösen Bestimmungsfaktor ausgeklammert hat. „ M a n mochte welcher Überzeugimg auch huldigen, vor solcher Ansicht versank i n jedem Falle die Welt des Religiösen 9 ." M i t dieser Ansicht sei sowohl das „Religiöse i n Frage gestellt" als auch „die Kräfte des Geistes und der Persönlichkeit" 10 abgewertet worden. W i l l man Johann Jakob Bachofen dagegen Glauben schenken, so ist die Religion als der entscheidende Bestimmungsfaktor allen historischen und politischen Geschehens anzusehen. Der geschichtliche Prozeß sei i n ein Bezugssystem eingebettet, das seine entscheidenden Antriebskräfte religiösen Quellen verdankt. „Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Zivilisation: die Religion. Jede Hebung, jede Senkung des menschlichen Daseins entspringt aus einer Bewegung, die auf diesem höchsten Gebiet ihren Ursprung nimmt 1 1 ." Dabei verdankt sich nach Müller-Armack vor allem die ökonomische Tradition des Abendlandes christlicher Bewegungsanstöße und Ursprünge. Gerade die rechenhafte Wirtschaftsweise, die vordergründig alles Christliche abzuweisen scheint, bezieht ihre letzten Antriebe aus einer christlichen Welteinstellung. „Es ist nicht möglich, die europäische Wirtschafts6
Ebd., S. 322. • Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform. 2. Auflage. Stuttgart 1959, S. 534. 7 Ebd., S. 532 f. 8 Ebd., S. 533. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Johann Jakob Bachofen: Mutterrecht und Urreligion. Hrsg. von Rudolf Marx. Stuttgart 1954, S. 96.
1. Geschichte und Religion
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eigenschaft, als Ganzes gesehen, ohne die christliche Formung begreifen zu wollen 1 2 ." Dem Christentum gebühre zunächst das Verdienst, die Tradition der Antike rezipiert zu haben. I n der weströmischen Entwicklung habe man „die Formen der antiken Profankultur, vornehmlich der römischen, für die europäische Tradition wirksam werden lassen" 13 . Trotz „seiner asketischen Grundhaltung" 1 4 habe das Christentum „eine positive Eingliederung des Weltlebens" 15 vollzogen. Die auf die praktische Daseinsbewältigung gerichtete Perspektive des Christentums habe dann i n der Scholastik einen neuen Beweis für die Verbindung von irdischen Ansprüchen und religiöser Heilsermittlung geliefert. Die Philosophie der Scholastik ist i n der Tat die Konsequenz einer Philosophietradition, die Natur und Metaphysik nicht als Gegensätze auffaßt. So „erwuchs i n der mittelalterlichen Scholastik eine rationale Eingliederung der Welt i n die religiöse Ordnung" 1 6 . Die rationale Struktur der scholastischen Philosophie hat dann den Boden für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft bereitet. „Es entstand jene i m Hochmittelalter bereits zutage tretende theoretische Erkenntnishaltung, welche es dem abendländischen Kulturkreis ermöglichte, i n Weiterarbeit an dieser Grundlage i n der Neuzeit eine rationale Fachwissenschaft zu begründen 17 ." Die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft sei also nicht nur als Abwendung von der mittelalterlichen Kosmologie zu interpretieren, sondern genau so auch als konsequente Fortentwicklung des scholastischen Rationalismus zu erklären. „Ohne diese fundamentale Verankerung i n der mittelalterlichen Wissenschaft wäre die für die Produktionstechnik der Neuzeit kennzeichnende wissenschaftliche Form überhaupt nicht denkbar 18 ." Wilhelm Röpke zufolge ist die moderne Freiheit derart stringent durch das Christentum determiniert, so daß nur eine betont vorurteilsbehaftete Analyse dieses Problemfeldes dies übersehen kann. Es bedarf 12
Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. S. 547. Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 547. 18 Ebd., S. 548. Schon Friedrich Nietzsche hat auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht „Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht — daß auch wir Erkennenden von heute, w i r Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Piatos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist" (Die fröhliche Wissenschaft. In: Werke in drei Bänden. Band I I . 2. Auflage. Hrsg. von K a r l Schlechta. München 1960, S. 208). 18
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V I I . Die Religion als Bestimmungsfaktor des politischen Handelns
also der Rückbesinnung auf die Geschichte des abendländischen Christentums, um die Grundlagen moderner Liberalität zu erschließen. Wilhelm Röpke weist darauf hin, daß es dem Christentum zu verdanken ist, den Wert der je einzelnen Person ins geschichtliche Bewußtsein gehoben zu haben. Die christliche Lehre habe „ i m Gegensatz zur Gesellschaftsauffassung der heidnischen Antike den einzelnen Menschen mit seiner unsterblichen und nach ihrem Heil strebenden Seele i n den M i t t e l p u n k t " 1 9 gerückt. Erst auf dem Grunde eines solchen Personverständnisses sei es möglich, den Staat i n seine Schranken zu verweisen. Die Besinnung auf die Grundlagen des Christentums fördere die Einsicht zutage, daß die Staatsmacht durch ihre Lehre i n einem zweifachen Sinne eingegrenzt werde. „Vor dem Staate gibt es die Person und über dem Staate den universalen Gott 2 0 ." Nach Guglielmo Ferrero hat die christliche Lehre den freiheitsunterdrückenden Staat der Antike zerstört. „L'Etat antique était sanguinaire par une espèce d'orgueil démoniaque de sa puissance . . . Tel était l'esprit pharaonique . . . de l'Etat antique . . . Une libération, une grande libération était nécessaire. C'est le christianisme qui Ta faite 2 1 ." Die freiheitsgewährende Kraft des abendländischen Christentums habe sich vor allem immer dann entfaltet, wenn seine Vertreter sich gegen die Macht des Staates auflehnten. Die Kirche habe ein „ständiges Gegengewicht des Staates" 22 dargestellt, „ohne das die europäische Freiheitsidee nicht gedacht werden kann" 2 3 . I m Gegensatz zum Westen, der durch die Rivalität zwischen Staat und Kirche gekennzeichnet ist, sei die östliche Kirche „ i n Byzanz wie i n Rußland mit der weltlichen Macht zu einer erstarrenden weltlich-religiösen Despotie" 24 verbunden worden.
2. Die religiösen Grundlagen der modernen Demokratie Das Christentum hat entscheidenden A n t e i l an der demokratischen Egalitätsidee. I n der Verkündigung der Gleichheit der Kinder Gottes bekundet sich der radikale Bruch mit der Antike, i n der die grundsätzliche Verschiedenheit der Menschen zum politischen Hauptcredo gehörte. Alois Dempf weist zu Recht darauf hin, daß das „Christentum mit seinem religiösen Universalismus . . . die entscheidende Vollendung des demokratischen Ideals" 2 5 gebracht hat. M i t dieser „gleichmäßigen A n 19
Wilhelm Röpke: Civitas Humana. Erlenbach-Zürich 1946, S. 197. Ebd. 21 Guglielmo Ferrero: La fin des aventures. Guerre et paix. Paris 1931, S. 258 f. 22 Wilhelm Röpke: Civitas Humana. S. 197. 23 Ebd. 24 Ebd. 20
2. Die religiösen Grundlagen der modernen Demokratie
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erkennung eines jeden, der Menschenantlitz trägt . . . war i m Prinzip die oligarchische Scheidung der Antike zwischen Sklaven und Freien durchbrochen" 29 . Ein lebendiges B i l d von der Determinationskraft des religiösen Faktors auf den historischen und politischen Entscheidungsprozeß w i r d auch vermittelt, wenn man die religiösen Grundlagen der modernen Demokratie untersucht. Dabei frappiert vor allem der enge Zusammenhang, der bei den englischen „Independents" zwischen Religion und Politik besteht. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß sich moderne demokratische Theorie und ihre Praxis entscheidend religiöser Quellen verdanken, so wäre er mit dem Beispiel der „Independents" geliefert. Ihre religiösen und politischen Ideale sind zutiefst vom Gedanken geprägt, daß sowohl die Kirche als auch der Staat aus dem Geiste der Demokratie heraus organisiert sein sollten. I n wie starkem Maße ihre kirchlichen Ordnungsvorstellungen antihierarchischen Geist atmen, hat George H. Sabine betont. „They believed that a body of Christians could form a congregation which would be a true church, could ordain its clergy, and set up a reformed mode of worship, without authority either by civil magistrates or ecclesiastical powers 27 ." Die kirchenorganisatorischen Vorstellungen stehen bei den „Independents" so sehr i m Zeichen einer antihierarchischen Einstellung, daß sie notwendigerweise auch auf die politischen Einstellungen ausstrahlen. „Their ecclesiatical system predisposed them to democratic views of polity 2 8 ." Das demokratische Verhalten, das zur Richtschnur i m kirchlichen Bereich wird, w i r k t sich auch auf den politischen Sektor aus. „Men who chose their pastors might also wish to choose their magistrates 29 ." Während die Presbyterianer die limitierte Monarchie unterstützten, sprachen sich die Independents eindeutig für den Republikanismus aus 50 . Was Wunder, daß sie zu den erbittertsten Feinden der englischen Monarchie gehörten 51 . Ihren nachhaltigsten Einfluß erreichten die „Unabhängigen" i n der Cromwell-Zeit. „Independency came to its greatest power i n Cromwell's New Model A r m y and i n the political 25 Alois Dempf: Demokratie und Partei im Politischen Katholizismus. In: Peter Richard Rohden (Hrsg.): Demokratie und Partei. Wien 1932, S. 296. 26 Ebd. 27 George H. Sabine: A History of Political Theory. Third Edition. New York 1961, S. 445. 28 G. P. Gooch: Political Thought in England from Bacon to Halifax. London 1937, S. 141. I n wie starkem Maße der englische Protestantismus dieser Zeit demokratische Ordnungsvorstellungen der Scholastik aufgenommen hat, weist Mark Goldie nach (John Locke and Anglican Royalism. In: Political Studies 31 (1983), S. 72). 29 Ebd., S. 141 f. 80 Ebd., S. 140. 81 George H. Sabine: A History of Political Theory. S. 447.
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V I I . Die Religion als Bestimmungsfaktor des politischen Handelns
experiments which followed the second civil war and the execution of the king 8 2 ." I n dieser New Model Armee, die sich sowohl vom feudalen Heerbann als auch von den Söldnerheeren der absoluten Monarchie unterschied, war der independentistische Einfluß sehr stark. „Der Kern der Armee kam aus ostenglischen Grafschaften, die sich Eastern Association nannten und das Zentrum der frühen independentistischen Bewegung waren: Radikale Protestanten, die sich als freie Gemeinde gleicher Christen unter Gott vereinigt hatten und in scharfer Opposition zu jeder Form staatskirchlicher Organisation standen 83 ." Das kleinbürgerliche Segment i n dieser New Model Armee schloß 1647 das „Agreement of the People" ab. Dieses „verkündet die Volkssouveränität, erklärt das Parlament zum obersten Staatsorgan unter der Kontrolle des Elektorats und garantiert dem protestantischen Bürger religiöse und politische Freiheitsrechte" 84 . Die Nation stellt sich als „Gemeinde freier Christen mit einer Verfassung als dem geschriebenen Wort Gottes" 35 dar. Die Politikvorstellungen der Independents haben besonders die politische Ideologie der USA beeinflußt. D a r r y l Baskin zufolge hat man sich der „presecular origins" 3 6 der Vereinigten Staaten zu vergewissern, w i l l man eine wirklichkeitsgerechte und wissenschaftlich ausreichende Analyse der politischen K u l t u r der USA unternehmen. „These background habits orientations of behavior and ideology . . . are at the very core of American political culture 3 7 ." Dabei gehe es vor allem um „America's Congregationalist origins" 8 8 . Während es den englischen Independents versagt blieb, die Politik ihres Heimatlandes entscheidend zu verändern, wagten sie i n Amerika einen neuen Anfang. Allerdings wiesen ihre Gemeinwesen zunächst einen eher undemokratisch-theokratischen Charakter auf 39 . Auch die Führungsschicht des „frühen Amerika" gab sich elitär-aristokratisch. Dem demokratischen Grundsog konnten und wollten aber 32
Ebd. Jürgen Gebhardt: James Harrington. In: Zwischen Revolution und Restauration. Politisches Denken in England im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Eric Voegelin. München 1968, S. 85. 34 Ebd., S. 86. 35 Ebd. 36 Darryl Baskin: American Pluralist Democracy. A Critique. New York 1971, S. 101. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 103. 39 „Against the background of this organizing purpose, the State functioned not only give free passage to the Gospel, but also to punish heresy and blasphemy, to compel church attendance, to provide an educated ministry and supply it with the necessaries of life, and to convoke synods from time to time to encourage a uniform church discipline among the different congregations . . . Such functions . . . suggest how pressing was the weight of the preindividualist legacy upon the Congregationalist order" (ebd., S. 104). 33
2. Die religiösen Grundlagen der modernen Demokratie
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auch sie sich nicht entziehen. „The leaders of Massachusetts, for the sake of their religion, established and defended an aristocratic system of government i n church and state, but the substratum of their thought was democratic 40 ." Nicht nur die Gründer der neuenglischen Theokratie beriefen sich auf den Puritanismus, auch die Gedankenwelt ihrer Gegner wurzelte tief i n puritanischen Grundüberzeugungen. Bis ins ideologische Detail läßt sich verfolgen, i n welch starkem Maße die protestantischen Gegner der puritanischen Theokratie sich auf independentistische Quellen beriefen 41 . Ein historisch bedeutsames Ergebnis dieser Kritikbemühungen waren die „Fundamental Orders of Connecticut" 4 2 . Ohne Zweifel ist diese „first written constitution of modern democracy . . . the offspring of Independents" 43 . W i l l i a m G. McLoughlin zufolge zeichnen sich die Einflußkonturen des Puritanismus i n der amerikanischen Politikgeschichte auch da ab, wo andere Interpreten andere Determinanten vermuten. Ehe man die amerikanische Geschichte und ihren politischen Prozeß ausschließlich unter ökonomischen Aspekten analysiere, sollte der Einfluß eines aus religiösen Quellen gespeisten Entscheidungshandelns erkannt sein 44 . Das was bis heute der amerikanischen Gesellschaft ihr Gepräge gebe, könne nicht aus dem „Frontier Spirit" 4 5 abgeleitet werden, sondern habe seinen Wurzelgrund vielmehr i n der puritanischen Religion. „ I t was not the forest of the free land, however, which broke down those remnants of the European civilization which the pietists brought w i t h them. What broke down the stratified class system, the corporate concept of society, was the internal dynamic of pietist-perfectionism itself 4 6 ." Einen nach40 Herbert L. Osgood : The Political Ideas of the Puritans. In: Political Science Quarterly 6 (1891), S. 21 f. Über John Winthrop schreibt Osgood: „But so strong was the current about him, that, in spite of his aristocratic preferences, he was forced to be a republican in practical life" (ebd., S. 21). 41 Vgl. dazu G. P. Gooch: Political Thought in England. S. 142. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 William G. McLoughlin: Pietism and the American Character. In: American Quarterly 1965, S. 163 ff. 45 Ebd. Vgl. dazu auch: The Turner Thesis. Concerning the Role of the Frontier in American History. Ed. by George Rogers Taylor. Third Edition. Lexington Mass. 1972. 46 Ebd., S. 165. Auf den tiefen Einfluß, den die puritanische Tradition bis heute auf die USA ausübt, weist auch André Siegfried hin. „Wenn der Amerikaner das Bedürfnis empfindet, auf die Urquellen seiner Tradition zurückzugehen, dann ist es die englisch-puritanische Überlieferung des 17. Jahrhunderts, an die er sich hält. Auf sie muß man immer wieder zurückkommen, wenn man die tiefste Inspiration der Amerikaner verstehen will. . . . Der Protestantismus ist die alleinige Nationalreligion; dies zu verkennen, heißt das ganze Land mißverstehen" (Die Vereinigten Staaten von Amerika. Volk. Wirtschaft. Politik. 2. Auflage, Zürich und Leipzig 1928, S. 38). Der puritanische Missionsgeist bestimme auch heute noch die Vereinigten Staaten. Er
10 J. B. Müller
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haltigen Eindruck von der Wirkkraft des Puritanismus gewinne man, wenn man seinen Einfluß auf die demokratischen Bewegungen und ihre Theorie untersuche. Insbesondere Thomas Jefferson und Andrew Jackson verdankten ihre Ordnungsvorstellungen puritanischen Politik- und Sozialprinzipien. McLoughlin spricht von der „Jeffersonian-Jacksonian . . . reformulation of the pietistic doctrine of the priesthood of all believers, B y this exaltation of the moral sense, conscience or intuition, democracy could be based upon the universal suffrage of the common man" 4 7 . Auch die sozialinterventionistische Bewegung der USA speise sich aus puritanischen Antrieben. Ihre K r i t i k an der W a l l Street, am Sozialdarwinismus eines Herbert Spencer und eines W i l l i a m Graham Sumner verdanke sich der Einsicht, daß der amerikanische Kapitalismus den Moralvorstellungen des Puritanismus zutiefst widerspricht. „The new danger of institutionalized tyranny i n the complexities of urban industrialism . . . offered the countervailing pietist no alternative but to invoke the power or a benevolent government to smash or regulate the new threats to moral freedom . . . Pietism was reformulated i n the churches by the Social Gospelers i n the ideals of Christian Socialism 48 ." Wenn es nach Henry Steele Commager ein Leitmotiv gibt, das der amerikanischen Politie bis heute ihre unvermengbare eigene Qualität verleiht, dann ist es das Erbe des Puritanismus. Gerade daß sich bis heute i n der amerikanischen K u l t u r der Einfluß dieser religiösen Strömung so deutlich bemerkbar macht, macht ihre Bedeutung und ihre Überzeugungskraft aus. So schreibt Commager: „Zweihundert Jahre Reaktion konnten das puritanische Erbe nicht zerstören, die Achtung vor dem Individuum und der Menschenwürde, die Anerkennung der Oberherrschaft der Vernunft, die Treue zu Prinzipien anstatt zu einzelnen Personen, zur Lehre von der auf Vertrag und Übereinstimmung gegründeten Staatsgewalt, zur geistigen und moralischen Demokratie 49 ." Dieses puritanische Erbe „drang i n das weltliche Denken ein und bewahrte seine Lebenskraft, nachdem die theologischen und metaphysischen Argumente, die es unterstützt hatten, längst vergessen waren" 5 0 .
inspiriere „den Kampf gegen den Alkohol, gegen die schlechten Wohnverhältnisse, gegen die Zigarette, inspiriert die feministische, pazifistische, antivivisektionistische Propaganda" (ebd., S. 40). 47 Ebd., S. 170. 48 Ebd., S. 171. 49 Henry Steele Commager: Der Geist Amerikas. Aus dem Amerikanischen. Zürich 1952, S. 218. 50 Ebd.
3. Luther und der deutsche Obrigkeitsstaat
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3. Luther und der deutsche Obrigkeitsstaat Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Puritanismus und Demokratie zieht notwendigerweise auch die Frage nach sich, ob der Protestantismus nicht auch für undemokratische, „obrigkeitsstaatliche" Ordnungsvorstellungen verantwortlich gemacht wurde. Was die deutsche politische Entwicklung anlangt, so sehen nicht wenige Autoren Luthers Politiklehre als kausalen Wirkfaktor für die Ausprägimg des deutschen „Obrigkeitsstaates", sogar für den Aufstieg des Nationalsozialismus an. Soll geklärt werden, inwiefern dieser Vorwurf zu Recht formuliert wurde, so ist es ratsam, die einzelnen Diskussionsteilnehmer nach ihrem jeweiligen politischen Standort zu rubrizieren. Dabei ergibt sich die interessante Beobachtung, daß die konservativen Luther-Interpreten an diesem Punkte durchaus verschiedener Meinung sind. Während die einen i n Luthers Politiklehre durchaus obrigkeitsstaatliche Momente erblicken, sind die anderen darauf aus, ihn von diesem V o r w u r f zu befreien. So wendet sich Gerhard Ritter dagegen, Luther für die spezifisch deutsche Politikentwicklung haftbar zu machen. „Es wäre sinnlos, den Reformator dafür verantwortlich zu machen, daß i n Deutschland der fürstliche Absolutismus emporkam, die republikanische Städtefreiheit des Spätmittelalters unterging und die geschichtliche Entwicklung bis ins 19. Jahrhundert keinerlei Ansätze bot für das A u f kommen demokratischer oder liberaler Verfassungsformen 51 ." Ritter macht darauf aufmerksam, daß der Absolutismus eher eine katholische als eine protestantische Herkunft aufweist. „Der fürstliche Absolutismus des 16. bis 18. Jahrhunderts . . . hat seine Hochblüte nicht etwa auf deutschem und protestantischem Boden erreicht, sondern auf katholischem und i n den romanischen Ländern: i n der Zeremonienpracht, der Fürstenvergötterung und dem servilen Hofkirchenwesen der Höfe von Versailles und Madrid, allenfalls auch von Wien 5 2 ." Ebenso weist Paul Althaus darauf hin, daß der Absolutismus „seine stärkste Ausgestaltung gerade nicht i n Deutschland und auf lutherischem Boden, sondern auf katholischem und i n den romanischen Ländern erreicht" 53 . Die konservativen Gelehrten Ritter und Althaus verwerfen auch die Behauptung, Luthers Persönlichkeit habe sich aus servilen und quietistischen Antriebsmomenten gespeist. So schreibt Gerhard Ritter: „Niemand, der je eine Flugschrift Luthers gelesen hat oder den Briefwechsel m i t seinem sächsischen Landesherren und anderen Potentaten seiner Zeit 51 Gerhard Ritter: Luther und die politische Erziehung der Deutschen. In: Zeitwende 18 (1946/47), S. 601. 62 Ebd. 63 Paul Althaus: U m die Wahrheit des Evangeliums. Stuttgart 1962, S. 288. 10*
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kennt, w i r d i n Versuchung geraten, i h m irgendwelche Fürstendienerei vorzuwerfen. Die heroische Männlichkeit seines Auftretens, der rücksichtslose Freimut seiner Sprache steht außer jedem Zweifel; dieser höchst eigenwillige und respektlose Bauernsohn weckte oft genug geradezu die Verzweiflung seiner Freunde am Hofe 54 ." Auch Paul Althaus zufolge hat Luther „nichts zu t u n . . . mit serviler Untertänigkeit, mit kritiklosem Gehorsam gegenüber den Machthabern" 55 . Es sei bekannt, „wie schroff er über den Durchschnitt der Fürsten urteilte, und nicht minder wie freimütig und rücksichtslos er sie anzureden wagte" 5 6 . Auch seine Staatslehre atme keineswegs jenen gehorsamszentrierten Geist, der i h r immer wieder imputiert werde. „ E r hat . . . i n seinen Predigten und Schriften jedem Christen die Grenzen des Staates und seiner Befehlsgewalt eingeschärft und für den Fall, daß die Obrigkeit etwas wider Gottes Wort und Gebot befehle, mit dürren Worten zum Ungehorsam aufgerufen 57 ." So wenig Luther für die Genesis des deutschen Absolutismus verantwortlich gemacht werden könne, so wenig begründet sei der Vorwurf, der Reformator habe dem Aufstieg des Nationalsozialismus vorgearbeitet. Auch wenn zugegeben werden müsse, daß das Luthertum herkömmlicherweise „mehr zu monarchisch-autoritärer als zu demokratischer Regierungsform" 58 neigte, so ist es Gerhard Ritter zufolge trotzdem bedenklich, das Luthertum für den politischen Erdrutsch von 1933 verantwortlich zu machen. Gerhard Ritter w i r f t einer derartigen Geschichtsinterpretation vor, andere Bestimmungsfaktoren des historisch-politischen Geschehens zu wenig zu berücksichtigen. „Was bedeutete die gutgläubige Loyalität dieser lutherischen Kirchenchristen i m Vergleich m i t der militärischen Erziehung der Deutschen durch die allgemeine Wehrpflicht (die ganz gewiß keine lutherische war) und mit all den tausend geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, unter deren Einwirkung das uniformierte Massenmenschent u m unserer Tage sich bildet 5 9 ." Hitlers Aufstieg könne deshalb aus dem Protestantismus allein kaum erklärt werden. „Es gab wahrlich mehr als einen Grund dafür, daß es Adolf Hitler so leicht wurde, seine Führerschaft zu absoluter Kommandogewalt auszubauen 60 ." 54 Gerhard Ritter: Luther und die politische Erziehung der Deutschen. S. 602 f. 55 Paul Althaus: U m die Wahrheit des Evangeliums. S. 285. 56 Ebd. 67 Ebd. 58 Gerhard Ritter: Luther und die politische Erziehung der Deutschen. S. 606. » Ebd. 60 Ebd.
3. Luther und der deutsche Obrigkeitsstaat
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I m Gegensatz zu denjenigen konservativen Autoren, die Luthers obrigkeitsfeindliche Haltung betonen, stehen diejenigen, die seine autoritätsbetonte Staats- und Gesellschaftslehre unterstreichen und bejahen. M i t Verve fragt Ernst Troeltsch das Luthersche Werk nach seinen obrigkeitsstaatlichen Bestimmungsmomenten aus. Es trage alle Züge einer Staatslehre, die das Ganze dem einzelnen voranstelle, das Recht des Staates vor den Rechten der Bürger betone. Luther hat Troeltsch zufolge „dem Naturrecht von Hause aus eine völlig konservative, lediglich die utilitaristische Zweckmäßigkeit der positiven Ordnung an sich betonende Deutung" 6 1 gegeben. Bei i h m finde sich sogar die „Verherrlichung der Gewalt u m der Gewalt willen" 6 2 . Aus diesem Grunde sei das „Luthertum immerdar ein Prinzip des Patriarchalismus und des Konservatismus gewesen" 83 . Es sei geneigt, „das Gegebene demütig zu dulden, auch wenn es schlecht ist, und das Gregebene zu verherrlichen" 8 4 . Troeltsch ist der Auffassung, daß aus diesem Grunde das Luthertum immer wieder „der jeweils herrschenden Macht anheimfällt" 6 5 , daß es „den Einfluß der herrschenden Mächte überall erlitten" 6 6 habe. Auch Rudolf Stadelmann sieht das Werk und die Persönlichkeit Luthers i n dieser konservativ-obrigkeitsbejahenden Perspektive. Der Wahrheitsgehalt dieser Interpretation ruht i h m zufolge vor allem i n der Tatsache, daß das sogenannte „Schriftprinzip" der individualistischen W i l l k ü r entgegensteht. „So streng hält Luther an der Norm der Bibel fest, daß i h m selbst alttestamentliche Zustände und Vorschriften zeitlose Gültigkeit besitzen und er niemals zugeben w i l l , daß auch die christliche Sittlichkeit eine Entwicklung besitzt 67 ." Der „Wortlaut der Schrift ist unerbittlich" 6 8 . Luther ist ebenso „unerbittlich . . . i n dem Befehl zur Unterordnung unter die Amtsträger" 8 9 . Luther habe immer die Gemeinschaft vor den einzelnen gestellt. „ I n Wahrheit hat sich Luther nie als einzelner i m Gegensatz zu allen anderen, sondern immer als Glied der Gemeinde gefühlt 7 0 ." 61 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1923, S. 532. 82 Ebd. 63 Ebd., S. 601. 64 Ebd. 66 Ebd. 88 Ebd., S. 602. 87 Rudolf Stadelmann: Das Zeitalter der Reformation. In: Handbuch der deutschen Geschichte. Hrsg. von Otto Brandt u. a. Band 2, Heft 1. Potsdam 1936, S. 65. 88 Ebd. 89 Ebd. 70 Ebd., S. 57.
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Während die Auffassungen der Konservativen über Luthers Haltung zur staatlichen Obrigkeit gespalten sind, halten die Parteigänger der liberalen Politikkonzeption dafür, daß Luther denjenigen Typus des Staatsphilosophen repräsentiert, der die Ansprüche der Obrigkeit über die Rechte der Bürger stellt. Als Liberale versehen sie diesen wissenschaftlichen Befund selbstverständlich mit einem negativen Vorzeichen. W i l l man Lord Acton zufolge den ganzen Abstand ermessen, den das liberale vom autoritären Denken trennt, so kann die Staatslehre Luthers für den auf freiheitliche Politikprinzipien Eingeschworenen als abschreckendes Beispiel dienen. Luther zähle zu denjenigen Denkern, die kompromißlos die Freiheitsrechte des einzelnen dem Staate opfern. „Thus he became the inventor of the theory of passive obedience, according to which no motives or provocation can justify a revolt 7 1 ." Eine der großen Figuren des deutschen Liberalismus, Max Weber, hat Luther und dem Luthertum ebenfalls einen ausgeprägten Hang zum Obrigkeitsstaat bescheinigt 72 . Diese Bewertung Luthers durch Lord Acton und Max Weber w i r d m i t Nachdruck von denjenigen Autoren geteilt, die als Neoliberale die Reform des Liberalismus auf ihre Fahnen geschrieben haben 73 . Alexander Rüstow zufolge habe man Luthers Wirken und Denken i m Auge zu behalten, wenn es gilt, die Genesis des deutschen Untertanen zu erforschen. „Luther ist der Vorläufer jenes Typus des deutschen Untertanen, der bei Gelegenheit zwar kräftig auf seine Regierung schimpft, es i m übrigen aber dabei bewenden läßt 7 4 ." Rüstow zufolge „beschattet der von Luther eingesegnete furchtbare Zusammenbruch der ersten deutschen Revolution die deutsche Geschichte bis heute" 7 5 . Auch „das tragische Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 ist darin schon vorgebildet" 7 6 . Luther t r i f f t die Schuld, das „Bündnis von ,Thron und Altar' eingesegnet" 77 zu haben. 71 John Emerich Edward Dalberg-Acton: The Protestant Theory of Persecution. In: The History of Freedom and other Essays, ed. by John Neville Figgis, London 1907, S. 161. 72 „Der normale Protestantismus . . . legitimierte den Staat, also: das Mittel der Gewaltanwendung als göttliche Erscheinung absolut und den legitimen Obrigkeitsstaat insbesondere. Die ethische Verantwortung für den Krieg nahm Luther dem Einzelnen ab und wälzte sie auf die Obrigkeit, der zu gehorchen in anderen Dingen als Glaubenssachen niemals schuldhaft sein konnte" (Max Weber: Der Beruf zur Politik. In: Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Stuttgart 1956, S. 179 f.). 73 A n der prinzipiellen Gegnerschaft zwischen Neoliberalismus und dem illiberalen Konservatismus besteht nicht der geringste Zweifel. So bezeichnet Röpke die „Konservative Revolution" als „parfümierten Nationalsozialismus" (Die deutsche Frage. Erlenbach-Zürich 1945, S. 71). 74 Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Band 2. ErlenbachZürich 1952, S. 283. 75 Ebd., S. 282. 76 Ebd.
3. Luther und der deutsche Obrigkeitsstaat
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Ähnlich spricht auch Rüstows Gesinnungsfreund Wilhelm Röpke von der „penetranten Staatsfrömmigkeit des Luthertums" 7 8 . Das Luthertum erziehe seine Anhänger „zu politischer Indifferenz und Fügsamkeit" 7 ®. Das Zusammentreffen „einer gefährlichen theologischen Anlage i m Luthertum mit den entsprechenden soziologischen Bedingungen h a t . . . Wirkungen hervorgebracht, die vom Standpunkt des Liberalismus und Demokratismus aus als schwere Passiva erscheinen" 80 . Rüstow zufolge hat Luther nicht zuletzt dazu beigetragen, den Antisemitismus zu verbreiten. A u f diese Weise gehöre er zu den ideologischen Wegbereitern des Nationalsozialismus. „Aber sogar bezüglich des Antisemitismus hat Luther dem Nationalsozialismus vorgearbeitet 81 ." I n seinen antisemitischen Schriften habe er die Zerstörung der Synagogen, Arbeitszwang und Enteignung der nicht taufbereiten Juden gefordert 82 . Wie immer die A n t w o r t darauf ausfallen mag, i n wie starkem Maße der Protestantismus dem Nationalsozialismus vorgearbeitet hat, sicher ist, daß für viele die Genese des Nationalsozialismus ohne Berücksichtigung des Protestantismus hinreichend nicht erklärt werden kann. Nach Gerhard Schmidtchen ist der deutsche Protestantismus „auf untergründige Weise . . . mit der Entstehung der nationalsozialistischen Bewegimg verflochten" 88 . Eine auf diesen Prämissen basierende Erklärung muß sich Schmidtchen zufolge auch der Tatsache bewußt sein, daß der Erfolg des Nationalsozialismus sicherlich auch von der deutschen Untertanenmentalität begünstigt wurde, die wiederum entscheidend vom Protestantismus geprägt worden sei. „Der Protestantismus hat dadurch, daß er sich jeder politischen Aggressivität . . . entschlug, einen bravbiederen Untertanentyp geschaffen, der i n einer viel späteren historischen Stunde einen verhängnisvollen Part spielen sollte 84 ." Die vom Protestantismus obrigkeitsfromm erzogene Bevölkerung Deutschlands war nicht i n der Lage, sich der Verführung des Nationalsozialismus zu entziehen. „Das Luthertum hatte i m Verein mit Preußen und dem Bismarckschen Deutschland eine Mentalität entstehen lassen, die i n den politischen Umbrüchen nach dem Ersten Weltkrieg" 8 5 dazu führte, daß die Protestanten „sich i n der neuen demokratischen Wirklichkeit nur schwer" 86 zurechtfanden. Auch die Herrschaftsausübung des National77
Ebd., S. 283. Wilhelm Röpke: Civitas Humana. S. 199. Ebd. 80 Ebd. 81 Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Band I I . S. 284. 82 Ebd. 88 Gerhard Schmidtchen: Protestanten und Katholiken. Soziologische Anaylyse konfessioneller Kultur. Bern und München 1973, S. 218. 84 Ebd., S. 218 f. 85 Ebd., S. 219. 88 Ebd. 78
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Sozialismus sei durch die protestantische Untertanenmentalität erleichtert worden. „Der deutsche Protestantismus hatte i m säkularen Bereich eine Mentalität erzeugt, auf die sich der Nationalsozialismus bei der Befestigung seiner Herrschaft stützen konnte 8 7 ." Besonders scharf geht der Anarchist Rudolf Rocker m i t Luther ins Gericht. Er habe uneingeschränkt der Staatsomnipotenz das Wort geredet. „Wie Hus, so berief sich auch Luther auf Paulus, u m den Beweis zu erbringen, daß die Fürsten der Vormundschaft der Kirche nicht unterstehen, sondern berufen sind, über Priester und Bischöfe zu gebieten 88 ." Luther zufolge sollte „sich alle Macht i m Staate verkörpern, den Gott selbst dazu bestimmt hatte, die öffentliche Ordnung zu schützen" 89 . A u f diese Weise hat Luther die Tradition des deutschen Obrigkeitsstaates begründet. „Seine innere Knechtseligkeit gab i h m die Kraft, die Sache des deutschen Volkes an die Fürsten zu verraten und zusammen mit diesen den Grundstein einer neuen Kirche zu legen, die sich i n stillschweigender Übereinkunft mit Haut und Haaren an den Staat verschrieben hatte . . . Luther verkuppelte die Religion m i t der Politik des Staates 90 ." Auch nach Hugo Ball hat Luther eine Entwicklung eingeleitet, die dem deutschen Volke bis heute eine obrigkeitsstaatliche Politik beschert hat. „Er gab dem Staate eine nie geahnte ,Gewissensfreiheit 4 und erklärte zugleich das Desinteressement des religiösen Individuums an der Ordnung der Staatsaffären 91 ." Ball zufolge hat „alle politische Indifferenz deutscher Dichter, Gelehrter und Philosophen . . . hier ihren Ursprung" 9 2 . Z u Luthers Zeit fand „jenes Bündnis der deutschen Bourgeoisie mit dem Feudalismus statt, das alle europäischen Revolutionen überdauerte und schließlich Europa zu knebeln und niederzuwerfen gewillt war" 9 3 . 4. Katholizismus und Nationalsozialismus Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus ist für manche Autoren nicht durch gegenseitige Ablehnung und mentale Differenz bestimmt, sondern erschließt sich erst, wenn man die grundsätzliche Wesensverwandtschaft beider weltanschaulicher „Familien" i n den Blick nimmt. Auch der Katholizismus habe am Autoritätspathos 87
Ebd., S. 220. Rudolf Rocker: Die Entscheidung des Abandlandes. Erster Band. Hamburg 1949, S. 129. 89 Ebd., S. 130. 99 Ebd. 91 Hugo Ball: Die Folgen der Reformation. München und Leipzig 1924, S. 12. 92 Ebd. 98 Ebd., S. 9. 88
4. Katholizismus und Nationalsozialismus
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des Nationalsozialismus teil, auch er gewinne seine Bedeutungsmaßstäbe aus der Überlegung heraus, wie man die Rechte des Staates gegenüber dem einzelnen durchsetzen könne. So ist Guenther Lewy der A n sicht, daß die Kirche dem „gleichen übertriebenen Obrigkeitsgeist verhaftet" 9 4 gewesen sei wie i h r vermeintlich weltanschaulicher Gegner. Die Katholiken des Deutschen Reiches „fühlten sich vom Ruf der Nationalsozialisten nach einem starken Staat angezogen, einem neuen Deutschen Reich, das wieder eine Weltmacht werden . . . würde" 9 5 . Die geistige Nähe zwischen den beiden Lagern manifestiere sich nicht zuletzt i n der Hoffnung der deutschen Katholiken, daß ein starker Staat auch eine machtvolle Kirche i m Gefolge haben werde. „Einige Anhänger der Kirche hofften, daß der Machtzuwachs des Staates und die Einführung des Führerprinzips auch zu einer Stärkung der kirchlichen Autorität führen werde 98 ." Insbesondere die „hierarchische Ordnung der Kirche" 9 7 habe die „Anpassung an autoritäre und diktatorische Regierungssysteme . . . erleichtert 98 . Einen zentralen Zugang zum Verständnis der Wesensverwandtschaft zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus eröffne auch die Besinnung auf die Tatsache, daß beide Gruppen einem tief eingewurzelten Patriotismus und Nationalismus verfallen gewesen seien. „Die Kirche teilte den weitverbreiteten Hang zu Nationalismus und Patriotismus 99 ." Darüber hinaus begrüßten die deutschen Katholiken Hitlers dogmatischen Antikommunismus. „Der atheistische Kommunismus war ein Jahrhundert lang der Erzfeind der Kirche. Diese kompromißlose Feindschaft wurde durch die persönlichen Erfahrungen der Päpste Pius X I . und Pius X I I . noch verstärkt. Als päpstliche Nuntien i n Polen und Deutschland hatten diese beiden Männer am Ende des Ersten Weltkrieges Erfahrungen mit dem antireligiösen Eifer der kommunistischen Regierungen gemacht . . . Der Blick beider Päpste war so ausschließlich auf die Gefahr des Kommunismus gerichtet, daß sie sowohl dem faschistischen Italien als auch dem nationalsozialistischen Deutschland mit beachtlicher Nachsicht begegneten 100 ." Aus diesem Grunde sahen sie i n den Nationalsozialisten Kampfgenossen gegen die atheistische Bewegung. „Die Bischöfe . . . begrüßten den Antikommunismus der Nationalsozialisten als ein Gegengewicht zu den liberalen, antiklerikalen und atheistischen Strömungen der Weimarer Republik 1 0 1 ." 94
Guenther Lewy: Die katholische Kirche und das Dritte Reich. Aus dem Amerikanischen. München 1965, S. 352. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 355. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 352. 100 Ebd., S. 356. 101 Ebd., S. 352.
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Friedrich Heer ist der Ansicht, daß es kaum ein Thema gibt, das heftiger zur Verdrängung einlüde als der kausale Zusammenhang zwischen Hitlers politischer Einstellung und seinem katholischen Sozialisationsumfeld. „Es ist an der Zeit, die österreichischen und römischkatholischen Elemente i n der Person Adolf Hitlers namhaft zu machen. . . . Ich selbst habe etwa 36 Jahre gebraucht, bis m i r spezifisch . . . katholische Elemente i n der Person Adolf Hitlers eindringlich sichtbar zu werden begannen 102 ." I n einem langwierigen Denkprozeß sei Heer zu der Überzeugung gelangt, daß die österreichischen Anhänger Hitlers zu einem Großteil aus katholischen Elternhäusern stammten. „Nicht wenige meiner nationalsozialistischen Mitstudenten . . . kamen aus gutkatholischen Elternhäusern, fühlten sich zum guten Teil selbst als Katholiken 1 0 8 ." Der österreichische Katholizismus habe i n seinen führenden Repräsentanten eine Anfälligkeit gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung unter Beweis gestellt. „ I n Österreich vertrat eine Schar hochangesehener und einflußreicher Katholiken, die ihre Wege zum Ballhausplatz, also zum Regierungszentrum, und zum Stephansplatz, also ins erzbischöfliche Palais fanden, die Uberzeugung, daß Österreichs, Deutschlands, der Kirche und Europas gute Zukunft i n den mächtigen Händen Adolf Hitlers wohlgeborgen sein werde 1 0 4 ." Das sei kein Zufall gewesen. Man würde den Nationalsozialismus falsch verstanden haben, wenn man ihn eingeschlossen wähnte i n die engen Grenzen einer rein antikatholischen Weltanschauung. Der Blick für das Spezifische des Nationalsozialismus werde verstellt, wenn man seine genuin katholischen Quellen übersehe. „Auch der Glaube, der religiös-politische Glaube des österreichischen Katholiken Adolf Hitler entsprach einem vulgären christlichen, j a katholischen Glauben breiter Schichten von Christen und gerade auch von katholischen Christen i n den deutschsprachigen Landen 1 0 5 ." Über dieser für den deutschen Katholizismus eher ungünstigen Beweisführung darf allerdings nicht übersehen werden, daß die deutschen Katholiken die NSDAP ungleich weniger unterstützten als die Protestanten. Die Untersuchung über die konfessionelle Herkunft der Minister i n der Weimarer Republik und i m nationalsozialistischen Regime ergibt, daß der A n t e i l der Protestanten entscheidend stieg, die 102 Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität. München und Esslingen 1968, S. 12. 103 Ebd., S. 13. 104 Ebd., S. 12. Vgl. dazu auch: „Die bedeutendsten Köpfe der ersten, nach dem von Hitler und Göring mit Waffengewalt erzwungenen Rücktritt der Regierung Schuschnigg gebildeten nationalsozialistischen österreichischen Regierung waren österreichische Katholiken, die sich in der Katholischen Aktion, in der katholischen akademischen Bewegung, im katholischen Geistesleben betätigt hatten" (ebd., S. 13). 105 Ebd.
4. Katholizismus und Nationalsozialismus
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Zahl der katholischen Minister aber von 25 auf 9 Prozent absank 106 . Eine andere Zahl kann diesen Sachverhalt ebenso augenfällig verdeutlichen. Während i m Deutschen Reichstag des Jahres 1924 ein Viertel der Abgeordneten katholisch war, gehörten i m „Reichstag" von 1943 nur noch 7 Prozent der Abgeordneten der katholischen Konfession an 1 0 7 . Schmidtchen zufolge haben die Katholiken i m Vergleich zu den Protestanten dem Nationalsozialismus deshalb eher widerstanden, weil sie eine ausformulierte Widerstandslehre besitzen. „Die katholischen Überlegungen zum Widerstandsrecht sind härter, für den potentiellen Tyrannen gefährlicher als die der deutschen Protestanten 108 ." Die katholische Kirche habe „unter dem Eindruck des Nationalsozialismus ihre Staatsethik nicht zu reformieren brauchen" 109 .
106 107 108 109
Gerhard Schmidtchen: Protestanten und Katholiken. S. 221. Ebd. Ebd., S. 229. Ebd.
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