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German Pages 240 [225] Year 2004
Bernward Gesang (Hrsg.) Deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie?
EPISTEMISCHE STUDIEN Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von / Edited by Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Mike Sandbothe Band 7 / Volume 7
Bernward Gesang (Hrsg.)
Deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie?
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2005 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN 3-937202-69-2
2005
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INHALTSVERZEICHNIS 1. Vorwort
7
2. BERNWARD GESANG Normative Wissenschaftstheorie – Ein längst verstorbener Patient?
11
3. VOLKER GADENNE Wozu normative Wissenschaftstheorie? Zur Notwendigkeit und Rechtfertigung von Rationalitätsprinzipien in der Wissenschaft
31
4. FELIX MÜHLHÖLZER Naturalismus und Lebenswelt. Plädoyer für eine rein deskriptive Wissenschaftsphilosophie
49
5. GUNNAR ANDERSSON Kritische oder beschreibende Wissenschaftstheorie?
75
6. BRIGITTE FALKENBURG Der Wert wertfreier Wissenschaft
91
7. GERHARD SCHURZ Rationale Rekonstruktion: die Methode der Wissenschaftstheorie
123
8. PETER JANICH Wissenschaftsphilosophie als kritische Reflexion auf eine historische Praxis
145
9. HANS ALBERT Die Methodologie und die Normierung der Erkenntnispraxis. Zur Frage nach dem Charakter und den möglichen Aufgaben der Wissenschaftslehre 167 10. STEPHAN HARTMANN / LUDWIG FAHRBACH Der Bayesianismus und die Herausforderung durch den Partikularismus
177
11. MICHAEL ESFELD Normativität der Bedeutung und normative Wissenschaftsphilosophie
205
Vorwort „Das ist doch längst Geschichte!“, so ein spontaner Ausruf auf einer Tagung zum Thema normative Wissenschaftstheorie. In der Tat, Wissenschaftstheorien, die Normen für die empirischen Forschung formulieren, haben es derzeit nicht leicht. (Den vieldeutigen Begriff der Normativität erläutern z.B. Peter Janich und Volker Gadenne in ihren Beiträgen in diesem Band, während Michael Esfeld ihn auch im Rahmen der Bedeutungstheorie beschreibt und deren Konsequenzen für die Wissenschaftstheorie nachgeht.) Eine breite „deskriptive“ Strömung hat sich insbesondere in der angelsächsischen Wissenschaftstheorie etabliert. Autoren wie R. Giere sind hier Wegbereiter, die sich zum Teil auf etablierte Größen wie W.v.O. Quine und T. Kuhn berufen. Ziel ist es, Realwissenschaften lediglich korrekt zu beschreiben und zu verstehen und nicht sie mit Imperativen und Regeln zu traktieren. Dabei leugnen die meisten Deskriptivisten nicht, dass Normen in der Wissenschaft eine Rolle spielen, aber sie meinen, nicht die Philosophen oder Wissenschaftstheoretiker sollten diese Normen setzen oder kritisieren, sondern die Wissenschaftler selbst. Die Wissenschaftstheorie hat dann die Aufgabe, diese wissenschaftsimmanenten Wertungen zu rekonstruieren und zu beschreiben und normative Wissenschaftstheorien zu kritisieren. (So etwa die Beiträge von Felix Mühlhölzer und Brigitte Falkenburg, die sich bemüht, die immanenten wissenschaftlichen Wertungen der Physik historisch herauszuarbeiten.) Und in der Tat: Es scheint häufig vermessen von philosophisch geschulten Wissenschaftstheoretikern, besser über die Abläufe der Realwissenschaften urteilen zu wollen, als die täglich mit Wissenschaft konfrontierten Fachwissenschaftler selbst. Während zu Zeiten des Positivismus und zu Beginn des Kritischen Rationalismus das Projekt einer normativen Methodologie der Realwissenschaften unangefochten die Wissenschaftstheorie dominierte (Hans Albert fasst das kritisch-rationale Modell in diesem Band unter dem Stichwort „heuristische Technologie“ noch einmal zusammen), wurde mit den Arbeiten von T. Kuhn und P. Feyerabend eine Wende eingeleitet. Die scheinbar abstrakten Normen des Kritischen Rationalismus wurden mit der Wissenschaftsgeschichte konfrontiert. Dabei kam in den Augen dieser beiden Autoren heraus, dass sich die Wissenschaftler kaum um abstrakt-theoretische Normen kümmern und gerade deshalb erfolgreich sind. Die Wissenschaftler
8 ordnen sich demnach nicht einem unflexiblen Methodengerüst unter, sondern orientieren sich am konkreten Problem und am Einzelfall. (Gunnar Andersson bringt eine kritische Diskussion der historischen Analysen Kuhns und Feyerabends, die zeigen soll, dass Kritischer Rationalismus nicht über die Wissenschaftsgeschichte hinwegsehen muss.) Sind diese Vorwürfe berechtigt und sind sie auf jedwede normative Wissenschaftstheorie übertragbar? (Bernward Gesang versucht, in die Problematik einzuführen und die Vorwürfe genauer darzustellen.) Muss das Projekt „normative Wissenschaftstheorie“ insgesamt verabschiedet werden, wie es gerade im angelsächsischen Raum häufig zu hören ist? Oder liegen hier Missverständnisse vor, denn wie soll die Wissenschaft ohne methodische Regeln auskommen? Jedes Spiel braucht Regeln und kapituliert die Vernunft nicht, wenn man diese Regeln einfach dem Zufall oder auch den situativen Zwängen und eingeengten Problemkonstellationen einer speziellen Fachwissenschaft überlässt? Ist es nicht absurd zu glauben, die Wissenschaft sei wirklich dann erfolgreicher, wenn man alle allgemeinen Rationalitätsmaßstäbe von ihr fernhält? Wozu betreibt man eine deskriptive Beschreibung der wissenschaftlichen Wertungen, wenn man nicht die implizite Norm damit verknüpft, sich die historisch erfolgreichen Normierungen zum Vorbild zu nehmen? Damit hätte man aber wieder eine allgemeine Norm ins Spiel gebracht und schon bei der Unterscheidung, welche wissenschaftlichen Normierungen denn wirklich erfolgreich waren (es gab ja auch Misserfolge in der Wissenschaftsgeschichte), muss man vielleicht die Grenzen der Fachwissenschaft verlassen. Zudem: Bezieht sich normative Wissenschaftstheorie nicht primär auf Methoden, den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Ergebnisse zu prüfen? Werden damit nicht Rechtfertigungsfragen diskutiert, die immer erkenntnistheoretisch und damit von fachwissenschaftsübergreifender Natur sein müssen? (Das diskutieren Gerhard Schurz, Peter Janich und Volker Gadenne.) In diesem Sammelband soll die skizzierte Kontroverse geführt werden. Dabei wird der Versuch unternommen, bisher oft verselbständigt und isoliert verlaufende Diskurse zwischen kritisch-rationalen, analytischen und konstruktivistischen Wissenschaftstheoretikern zusammenzuführen. Es soll versucht werden, starre Strukturen (so spricht man etwa schon von der „Popper Church“) aufzubrechen und ein gemeinsames Forum der Diskussion zu schaffen. Dabei stellte sich erstaunlicher Weise ein recht breiter Konsens in der Forderung nach einer Beibehaltung des Projekts normativer
9 Wissenschaftstheorie heraus. Es wurden zudem einige konstruktive Modelle für den Zusammenhang zwischen deskriptiven und normativen Elementen der Wissenschaftstheorie entwickelt. (Dieses Ziel verfolgen Gerhard Schurz, Ludwig Fahrbach und Stephan Hartmann vorrangig.) Sollte sich hier nicht nur eine unerwartete schulübergreifende Dialogfähigkeit, sondern auch eine deutsch-europäische Gegenbewegung zum deskriptiv geprägten amerikanischen „main-stream“ abzeichnen?
Die Autoren des Bandes: Prof. Dr. Hans Albert, Prof. Dr. Gunnar Andersson, Prof. Dr. Michael Esfeld, Prof. Dr. Brigitte Falkenburg, Prof. Dr. Volker Gadenne, PD Dr. Bernward Gesang, Prof. Dr. S. Hartmann/Dr. L. Fahrbach, Prof. Dr. Peter Janich, Prof. Dr. Felix Mühlhölzer, Prof. Dr. Gerhard Schurz
BERNWARD GESANG
Normative Wissenschaftstheorie – Ein längst verstorbener Patient? Einleitung Normative Wissenschaftstheorien, die Normen zur Kritik der empirischen Forschung formulieren wollen, haben es derzeit nicht leicht. Sie gelten insbesondere im angelsächsischen Raum oft als obsolet, ja als längst verstorbene Patienten. Eine breite „deskriptive“ Strömung hat sich in der Wissenschaftstheorie etabliert. Ziel ist es häufig, Wissenschaften korrekt zu beschreiben und zu verstehen und nicht sie mit Imperativen und Regeln zu traktieren. Dass ein adäquates Verständnis der Wissenschaften erzielt werden soll, ist dabei zwischen normativen und deskriptiven Ansätzen unstrittig, lediglich die Beschränkung auf dieses Ziel ist umstritten. In diesem Aufsatz möchte ich verschiedene Quellen der Kritik am Projekt einer normativen Wissenschaftstheorie offen legen und so einen Überblick über die unterschiedlichen Typen der Kritik geben. Zudem werde ich kurz einige Auswege andeuten, derer sich normative Wissenschaftstheoretiker angesichts der verschiedenen Kritiken bedienen können. Dabei kann allerdings keine umfassende und ausführliche Verteidigung normativer Wissenschaftstheorie geleistet werden. Das Hauptziel meiner Ausführungen bleibt, Orientierung über Begründungen verschiedener Typen der Kritik an normativen Wissenschaftstheorien zu geben und hier historisierende, relativistische, naturalistische und partikularistische Ansätze zu unterscheiden. Meine Diskussion von Verteidigungsstrategien für normative Theorien kann nur einen programmatischen Ausblick bieten. Der Begriff einer „normativen Wissenschaftstheorie“ ist leider vieldeutig. Ich plädiere dafür, eine Wissenschaftstheorie (und eine Wissenschaftstheorie ist als solche nie rein fachwissenschaftlich) normativ zu nennen, wenn a) Wertprädikate wie „gut“ und „sollen“ vorschreibend und nicht nur fachwissenschaftliche Gebrauchsweisen rekonstruierend auf die Fachwissenschaften bezogen werden1 und b) diese Wertprädikate Vorschriften hinsichtlich der Metho-
12 den- und Theoriewahl ausdrücken, nicht etwa moralische Wertungen der Art „Tierversuche sind gut“. Die im Folgenden zu referierenden kritischen Ansätze opponieren gegen verschiedenartige Modelle von Normativität (insbesondere gegen eventuellen Apriorismus und Generalismus). Wer sich wogegen wendet, das wird im Einzelnen zu klären sein. Um die Ausbildung einer eher deskriptiv ausgerichteten Wissenschaftstheorie zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Wissenschaftstheorie anschauen. Der Positivismus hatte einen ehrgeizigen Versuch unternommen, die Wissenschaften auf Wahrnehmungsprotokolle aufzubauen und sie so von allen metaphysischen Spekulationen zu befreien. Diese Theorie kollabierte spätestens unter den Attacken von Karl Popper, der auf die theorieabhängigkeit von Wahrnehmungsurteilen und auf die Unhaltbarkeit jeder Art von unwiderlegbarem „Basiswissen“ verwies. Popper antwortete auf den Positivismus mit einem neuen hochgradig normativen Konzept, dem Falsifikationismus. Der Forscher wird darin angehalten, sich um Falsifikationen, nicht um Verifikationen zu bemühen und den tentativen Charakter des Wissens mitzubedenken. Das kritische-rationale System ist dann von Thomas Kuhn, Imre Lakatos und Paul Feyerabend radikal kritisiert worden. Der Hauptpunkt dieser Kritik basiert auf der These, dass die von Popper vorgeschlagene Methodologie in der Wissenschaftsgeschichte nicht beachtet werde, ja sogar nicht beachtet werden sollte. Spätestens nach dieser „Wende zur Wissenschaftsgeschichte“ wurde auch die Überzeugung häufiger, von normativen Wissenschaftstheorien immer weiteren Abstand zu nehmen. Mit den folgenden Abschnitten will ich zeigen, dass vier Gründe eine maßgebliche Rolle bei der Kritik der verschiedenen Formen normativer Theorien gespielt haben. 1. Historisierung Für alle Arten der Abkehr von normativen Ansätzen waren insbesondere die seit Kuhn verbreiteten Blicke auf die Wissenschaftsgeschichte elementar: Die rationalen Normsysteme der Wissenschaftstheoretiker schienen Kuhn in der Wissenschaftsgeschichte nicht befolgt zu werden, ja keine Rolle zu spielen. Wozu also Normen formulieren, die praktisch wirkungslos bleiben? Aber auf diesen historisch motivierten Einwand kann man –
13 wenn man ihn überhaupt als korrekte historische Beobachtung anerkennt – eine Antwort finden, die auf Analogien zur Ethik verweist: Wenn Normen nicht erfüllt werden, ist dies ein Argument gegen die Normen? Ein Ethiker würde nur selten so argumentieren. Vielmehr werden die ethischen Normen als umso wertvoller eingestuft, wenn sich die Praxis offenbar als verrucht erweist. Eine nach dem Maßstab der Normen gemessen besonders schlechte Praxis spornt ganz besonders dazu an, dass man mit größtem Nachdruck an der Durchsetzung von Normen arbeitet. Gerade eine böse Welt hat gute Normen nötig, während im Paradies alle Normen außer Kraft gesetzt werden könnten. Aber historisierende Wissenschaftstheoretiker würden kontern, dass die Wissenschaft gar nicht verrucht sei, sondern sehr erfolgreich, obwohl sie sich nicht um wissenschaftstheoretische Normen kümmere. Wenn man sich nach den bestehenden Normen gerichtet hätte, wären erfolgreiche Theorien gar nicht oder erst sehr viel später als tatsächlich geschehen, gewählt worden. Wie Feyerabend schreibt: „Wohin man auch blickt, (...) es zeigt sich, dass die Grundsätze des kritischen Rationalismus (...) eine unrichtige Darstellung der Entwicklung der Wissenschaft in der Vergangenheit geben und die Wissenschaft in der Zukunft nur behindern können.“2
Das ist jedoch kein Argument der historisierenden Argumentation gegen jedwede wissenschaftstheoretische Methodologie, sondern nur gegen die bisherigen „geschichtsvergessenen“ und daher zu apriorischen methodischen Vorschläge, insbesondere des Kritischen Rationalismus. Ob diese Kritiker den Kritischen Rationalismus richtig verstanden haben, ist allerdings fraglich. Gunnar Andersson zeigt, dass Kuhn eine Befolgung kritisch-rationaler Normen z.B. deshalb nicht in der Wissenschaftsgeschichte ausmachen konnte, weil er fälschlich glaubte, dass Falsifikationen immer zur vollständigen Aufgabe der falsifizierten Theorien führen müssten und dass Modifikationen nicht mit dem Kritischen Rationalismus verträglich seien.3 „Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass falsifizierte Theorien selten vollständig aufgegeben werden und dass man oft versucht, falsifizierte Theorien durch Modifikationen zu verbessern.“4 stellt Andersson fest und führt aus, dass dies keine Widerlegung des Kritischen Rationalismus bedeutet, sondern dass beide Phänomene vollständig mit dieser Theorie kompatibel sind. Hier müsste man also genau untersuchen, was der Kritische Rationalismus vorschreibt und was in der Wissenschaftsgeschichte wirk-
14 lich der Fall gewesen ist. Beides ist hochgradig kontrovers, insbesondere auch die Interpretation, die Kuhn oder Feyerabend manchen Ereignissen in der Wissenschaftsgeschichte gegeben haben. Jedenfalls: Die bisherige Argumentation der „Historisten“ schließt nicht aus, dass man eine bessere und das heißt geschichtsbewusstere Methodologie als eventuell die kritisch-rationale manchen könnte. Also: Historisierung ist ein Grund für eine Abkehr von zu apriorischen normativen Wissenschaftstheorien, aber auch nicht mehr. 2. Relativismus Die bisherige Analyse zeigt, dass neben historischen Fallstudien, die nicht unumstritten geblieben sind, auch systematische Argumente für eine umfassende Kritik normativer Wissenschaftstheorien bereitgestellt werden müssen, sonst kann man nicht mehr als einzelne für verfehlt gehaltene Kandidaten normativer Wissenschaftstheorie kritisieren. Auch hier hat Kuhn mit seiner Inkommensurabilitätsthese Meilensteine gesetzt. Diese These kann man auf zwei Weisen interpretieren. Zum einen wird sie generell als die Behauptung einer prinzipiellen Unübersetzbarkeit zweier Sprachen ineinander aufgefasst, die in der Regel auf einer holistischen Bedeutungstheorie beruht.5 Diese allgemeine Bedeutung der Inkommensurabilitätsthese, die Donald Davidson eindrucksvoll kritisiert hat6, interessiert uns hier weniger als eine speziellere. Dieser spezielleren These folgend bestimmen Theorien die Beobachtungsbasis, auf der sie errichtet sind, so weit mit, dass diese Basis zwischen verschiedenen Theorien unvergleichbar wird. Es gibt – zumindest nach den Darstellungen des „frühen“ Kuhns in der ersten Auflage der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“7 keinen theorieinvarianten Erfahrungsschatz, den wir als Maßstab der verschiedenen Theorien zur Verfügung haben, sondern jedes „Paradigma“ hat seine eigene Beobachtungsgrundlage, die es mit keinem anderem Paradigma teilt.8 Das erklärt Kuhn mit Beispielen aus der Gestaltwahrnehmung. Unsere Erwartungshaltungen, also unsere Theorien bestimmen im wesentlichen, ob wir in einem Bild einen Hasen- oder einen Entenkopf sehen, schon unsere Wahrnehmungen sind untrennbar mit Theorien infiltriert und Teil eines theoretischen Paradigmas. Damit entfällt die Möglichkeit, einen paradigmenexternen Maßstab für den Paradigmenwandel zu etablieren. Paradigmen ändern sich aufgrund kontingenter Faktoren, z.B. durch das Aussterben einer Generation von Wissenschaftlern mit bestimmten Überzeugungen. Aspekte wie größere Einfachheit und Eleganz oder höhere Erklärungskraft neuer Paradigmen können hinzukommen und den
15 klärungskraft neuer Paradigmen können hinzukommen und den Wandeln motivieren, aber es fehlt jedenfalls die Überzeugung, dass dieser Wandel einen Fortschritt darstellt.9 Neue Theorien erklären bestimmte Phänomene besser als ihre Vorgänger, aber das büßen sie in aller Regel damit, bestimmte Phänomene gar nicht mehr erklären zu können, welche die Vorgänger noch erfasst hatten. Es gibt keinen Fortschritt in der Wissenschaftsgeschichte, weder in Richtung zunehmender empirischer Adäquatheit oder Wahrheitsnähe noch in Richtung sich ständig steigernder Erklärungskraft: „Der in diesem Essay beschriebene Entwicklungsprozess ist ein Prozess der Evolution von primitiven Anfängen her (...). Aber nichts von dem, was gesagt worden ist, (...) macht ihn zu einem Prozess der Evolution auf etwas hin. (...) Wir sind alle gewöhnt, die Wissenschaft als Unternehmen zu sehen, das unausgesetzt einem von der Natur gesteckten Ziel entgegenstrebt. Aber muss es denn ein solches Ziel geben? (...) Der Prozess (der wissenschaftlichen Evolution, B.G.) kann so vor sich gegangen sein, wie wir es heute von der biologischen Evolution annehmen, ohne den Vorteil eines gesteckten Ziels, einer unerschütterlichen fixierten wissenschaftlichen Wahrheit, von der jedes neue Stadium der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis ein neues Abbild ist.“10
Akzeptiert man dies, dann ist auch eine normative Wissenschaftstheorie in einem bestimmten Sinne hinfällig. Normen waren in normativen Theorien stets so konzipiert, dass sie Regeln für die Realisierung von Zwecken waren, die man der faktischen Wissenschaft als Ziele bzw. Fortschrittsideale entgegengehalten hatte. Normen hatten den Sinn, Wissenschaft erfolgreicher zu machen und Erfolg war meistens definiert als größere Wahrheitsnähe, höhere Erklärungskraft oder zumindest Entwicklung von besserer Technologie.11 Wenn diese allgemeinen Zwecke und mit ihnen die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts aufgegeben werden, dann entfallen natürlich auch alle allgemeinen wissenschaftstheoretischen Normen. Wissenschaftstheorie kann den Paradigmenwandel dann nur noch beschreiben, aber ihn nicht mehr als besser oder schlechter bewerten. Kuhn differenziert, dass innerhalb der Paradigmen natürlich Zwecke bestehen und Normen formuliert werden können, nur das jenseits der Grenzen eines Paradigmas keine Maßstäbe für die Beurteilung der verschiedenen Paradigmen mehr verfügbar sind, so dass analog zur Evolutionstheorie eine Entteleologisierung der Wissenschaft einsetzt. Damit können einige immanente Normen als sinnvoll ausgezeichnet werden, während alle anderen dem Untergang geweiht sind. Das bereitet den unten noch zu behandelnden Partikularismus vor. Offenbar muss man Kuhn so verstehen, dass er sich primär gegen allgemeine, paradigmenübergreifende wissenschaftstheoretische
16 Normen und damit gegen eine generelle „Logik der Forschung“ wendet. Ob für paradigmenimmanente Normen bei Kuhn dann nur die Fachwissenschaften oder auch die Philosophie zuständig sind, werden wir im nächsten Abschnitt noch zugunsten der Philosophie beantworten. Fazit: Die zumindest vom frühen Kuhn entwickelte Theorie, die lediglich eine historische Abfolge von Paradigmen konstatiert, aber diesem Wandel keine methodischen Imperative entgegen oder an die Seite stellt, ist Folge eines Relativismus, der aus der Inkommensurabilitätsthese erwächst. Wir können keine paradigmenübergreifenden Normen verwenden, weil wir inkommensurable Paradigmen nicht miteinander vergleichen können. Gegen das Inkommensurabilitätsargument von Kuhn sind verschiedene Verteidigungen denkbar. Eine erste bestreitet eine starke Theoretizität der Wahrnehmung, eine zweite akzeptiert sie. Zur ersten Argumentation: Die Wahrnehmung ist in einem strikten Sinn selbst ein biologischer Ablauf, der durch in der Ontogenese fest gebahnte neuronale und sensorische Apparate bestimmt wird, die sich nur bedingt um unsere Theorien und Erwartungshaltungen kümmern. Daher sind Tieren und Menschen bzw. Erwachsenen und Kindern auch ähnliche Wahrnehmungen möglich, wie man an ihrem Verhalten erkennen kann, obwohl sie ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen haben. Ein Beispiel: Ein Reh und ein Mensch laufen durch einen Wald. Beide haben völlig verschiedene kulturelle und sonstige Hintergründe, aber beide bringen es aufgrund biologisch invarianter Leistungen zustande, den Bäumen des Waldes auszuweichen. Zwar können beide die Wahrnehmung des Waldes unterschiedlich interpretieren. Der Mensch empfindet angesichts der Natur vielleicht Romantik, das Reh hat Überlebensangst. Aber: In einem elementareren Sinne nehmen beide den Wald gleich wahr, denn die Konturen der Bäume sind von diesen Interpretationen der eingehenden Bilder nicht betroffen.12 Auch Hasen- und Entenkopf in Kuhns Beispiel könnte man als Interpretation eines Linienverlaufs auffassen, den alle biologisch intakten Beobachter wahrnehmen und über den sie sich auch einig sind. Dieser Argumentation kommt die Tatsache entgegen, dass Kuhn selbst im Postscript zur zweiten Auflage seines Hauptwerkes z.B. zwischen elektrischen Strömen und Nadelanzeigen von Messgeräten unterscheidet.13 Hatte er vorher noch behauptet, man könne Ströme „sehen“, um dann zu ergänzen, dass der Begriff „elektrischer Strom“ natürlich aus einer physikalischen Theorie stammt, weshalb die Wahrnehmung des Stroms hoffnungslos mit dieser Theorie verwoben sei, so sagt er im
17 Postscript: Ströme werden nicht direkt beobachtet, sondern sie sind Erfahrungsinterpretationen.14 Was man direkt sieht, sind Nadelausschläge von Messgeräten. Diese Termini sind aber eben nicht mehr mit bestimmten (gerade auf dem Prüfstand stehenden) physikalischen Theorien verwoben und damit nicht paradigmenrelativ. Das schwächt die ursprüngliche radikale Inkommensurabilitätsthese entscheidend, denn auf die Wahrnehmung von Messgeräten oder beim Hasen- Entenbeispiel auf Linienverläufe kann man sich unabhängig von der Zugehörigkeit zu Paradigmen einigen. Die zweite Verteidigungsstrategie gegen den Relativismus lässt sich wie folgt skizzieren. Man akzeptiert die starke Theoretizität der Wahrnehmung, verweist aber darauf, dass die empirischen Beobachtungen auf „lowerlevel-laws“ basieren, die nicht von den Tiefenstrukturen der jeweiligen Theorien bzw. Paradigmen abhängen.15 Unsere Beobachtungen und empirischen Tests hängen von Dingen wie dem optischen Gesetz der Reflexion ab, die seit der Antike unverändert sind. Auch die meisten anderen Gesetze der Optik sind seit dem 17. Jahrhundert noch dieselben. Wenn Paradigmen aufgrund von Problemen ihrer Tiefenstrukturen fallen, bleiben diese basalen Gesetze konstant und liefern uns einen Maßstab, der eine Invarianz gegenüber dem Paradigmenwechsel bietet. Hier bietet sogar die sogenannte Duhem-Quine-These Unterstützung, die besagt, dass man aus der Falschheit eines Netzwerkes nicht die Falschheit eines bestimmten Teils des Netzwerkes ableiten kann. Die Falschheit der newtonschen Physik impliziert nicht die Falschheit aller mit ihr verbundenen optischen Gesetze. Zwar bietet das Bild vom wissenschaftlichen Fortschritt, dass alte Theorien als Grenzfälle der neuen integriert werden, manche Lücken, da Erklärungsgewinne oft mit einem Verlust an erklärbaren Phänomenen einhergehen, aber was beispielsweise die basalen Gesetze der Optik und Akustik angeht, ist das Integrationsmodell offenbar zutreffend. 3. Naturalismus Eine andere, häufig in Opposition zu bestimmten16 normativen Theorien gesetzte wissenschaftstheoretische Strömung, ist der sogenannte „Naturalismus“. Der Begriff des Naturalismus ist extrem vieldeutig. Viele Naturalisten verfolgen das übergeordnete Projekt des Reduktionismus, der den Menschen und seine kulturellen Bemühungen inklusive der Wissenschaft auf physikalische Vorgänge reduzieren will. Die These, dass man in der Wissenschaftstheorie Normen für die Realwissenschaften vorschreibt,
18 scheint mir erst einmal nicht in einem Spannungsverhältnis zum Reduktionismus zu stehen, denn auch die Entwicklung und Wirkung von Normen kann prinzipiell z.B. neurophysiologisch beschrieben werden. In der spezifischeren naturalistischen Wissenschaftstheorie werden zumindest apriorische Normen und Schlussregeln abgelehnt. Häufig wird auch die stärkere These verteidigt, dass der Wissenschaftstheoretiker die Normen, Methoden und Zwecksetzungen, die im Laufe der Wissenschaftsgeschichte angewendet wurden, lediglich deskriptiv erfassen, also Normierungen den Fachwissenschaften selbst überlassen sollte. Ronald Giere schreibt in diesem Sinne: „If the philosophy of science is naturalized, philosophers of science are on the same footing with historians, psychologists, sociologists.”17 Ich verstehe diese Aussage so, dass die naturalisierte Wissenschaftstheorie, die Giere vertritt, sich jeglicher Normierung enthalten soll. (Ob das eine von Giere durchgehaltene Position ist, werden wir noch untersuchen.) Stattdessen soll sie lediglich die in den Fachwissenschaften stattfindenden (erfolgreichen) Normierungen beschreiben. Diese rein deskriptive Strategie wirft jedoch Probleme auf. Braucht man nicht auch für eine empirische Erforschung der faktischen Werte und Normen der Realwissenschaft wieder methodische Standards? Impliziert eine solche empirische Erforschung nicht eine Antwort auf die normative Frage: Wie forscht man historischbeschreibend? Wie systematisiert man das Sammelsurium an Informationen über faktische Normen? Welche klassifiziert man anhand welcher Wertungen als erfolgreich, welche als gescheitert? Es könnte ja auch als erfolgreich gewertet werden, wenn Wissenschaftler stets ihre Apparaturen zerstören, weil so keine Erkenntnisse gewonnen werden, welche die Bibel erschüttern. Es gibt viele alternative Erfolgsbegriffe. Allerdings könnte man sagen, hier gehe es nur um Normen in einer Fachwissenschaft, nämlich der Wissenschaftsgeschichte und nicht um Normen, die man etwa Physikern vorschreiben will. Jedoch kann die Wahl bestimmter Erfolgsbegriffe nicht aus der historischen Fachdisziplin bestimmt werden, zumal diese Erfolgsbegriffe einen implizit normativen Charakter haben: Wozu soll man denn die Methoden vergangener Epochen erforschen, wenn hier nicht der versteckte Imperativ zugrunde liegt, es den erfolgreichen Heroen der Geschichte nachzutun und sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen? Das lässt sich auch bei Giere zeigen. Er schreibt:
19
„If our naturalistic theory of science is not to be merely historical, we need a theory of theory choice. (…) My hypothesis is that scientists typically follow something approximating a satisficing strategy when faced with the problem of choosing among scientific theories.”18
Wenn diese „typische“ Strategie der Wissenschaftler aber eben als Maßstab für die Theoriewahl herausgestellt und gegenüber ebenfalls in der Praxis verankerten untypischen Strategien empfohlen wird (sonst wäre sie m.E. „merely historical“), dann ist man längst bei einer normativen Wissenschaftstheorie angekommen. Zwar betont Giere, man müsse die typische Strategie ja nicht mit dem Prädikat „rational“ auszeichnen, aber jede Empfehlung einer Methode, gleichgültig ob als rational oder einfach nur erfolgreich, ist normativ. Weiterhin sind wissenschaftstheoretische Normen insbesondere dazu da, die Ergebnisse von Einzelwissenschaften daraufhin zu prüfen, ob sie als Erkenntnis gelten können.19 Zu meinen, die dabei nötigen erkenntnistheoretischen Maßstäbe seien nicht allgemein philosophischer, sondern fachwissenschaftlicher Natur, ist sehr gewagt. Das bringt Probleme für diejenigen, die nur die Fachwissenschaft als legitime Normierungsinstanz zulassen. Diese gewagte Strategie könnte z.B. dahin führen, dass man einfach das als Erkenntnis anerkennt, was sich in einer Fachwissenschaft durchsetzt. Wenn sich jedoch in verschiedenen Fachwissenschaften (oder diachron in derselben) verschiedene Erkenntnisstandards etablieren, bekommt man Probleme, etwa: Wie will man etwa Standards der Astrologie kritisieren, wenn nicht mit ihr externen Maßstäben? Letztlich kann man sich zur Kritik des rein deskriptiven Naturalismus, der nur Fachwissenschaften als Normierungsinstanzen zulässt, an T. Kuhn orientieren, der schreibt: „Keine Naturgeschichte kann ohne einen zumindest impliziten Komplex ineinander verflochtener theoretischer und methodologischer Überzeugungen auskommen, der Auswahl, Bewertung und Kritik möglich macht. Wenn dieser Komplex von Überzeugungen nicht schon in der Zusammenstellung von Tatsachen impliziert ist – in welchem Falle mehr als ‚bloße Tatsachen’ zu Verfügung stünden -, muss er von außen herangetragen werden, vielleicht durch eine geläufige Metaphysik.“20
20 Ich denke übrigens nicht, dass diese Aussage mit der ebenfalls in der ersten Auflage der „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ entwickelten relativistischen Theorie Kuhns konfligiert, denn Kuhn hat dort ja nur die Möglichkeit von paradigmenübergreifenden Normen kritisiert, wo eben Auswahl, Bewertung und Kritik nicht mehr möglich ist. Ansonsten scheint Kuhn jedoch Raum für eine paradigmenimmanente normative Wissenschaftstheorie offen zu lassen, er ist kein deskriptiver Naturalist. Das Projekt einer normativen Wissenschaftstheorie kann im Naturalismus also nicht vollständig aufgegeben werden. Rein innerwissenschaftliche Normierungen reichen nicht hin und gleichwohl ist theoretischer Apriorismus von Seiten der Wissenschaftstheorie unerwünscht. Daher wird häufig eine empirische Bewährung von methodischen Normen gefordert, die verhindern soll, dass Normen aufgestellt werden, die nie angewendet wurden und nie angewendet werden können. Dass diese empirische Einbettung Sinn macht, gesteht aber schon etwa Popper zu, auch wenn er von dieser Einsicht zu wenig Gebrauch gemacht hat: „Eine naturalistische Methodenlehre hat zweifellos ihren Wert. Jeder Erkenntnislogiker wird für solche Bestrebungen Interesse haben und von ihnen lernen.“21
Die Problematik eines Naturalismus erkennend, der nur eine rein deskriptive Wissenschaftstheorie vorsieht, gibt es einige Naturalisten, die wissenschaftstheoretische Normen für die Forschung offen zuzulassen, nur dass diese Normen induktiv aus der Wissenschaftsgeschichte gewonnen werden sollen. Larry Laudan z.B. nennt sich einen „normativen Naturalisten“ und meint, Normen seien instrumentell als Anweisungen des Gebrauchs bestimmter Mittel für bestimmte Zwecke zu interpretieren. Dann seien sie empirisch vor dem Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte zu prüfen, ob sie die besten Mittel zur Realisierung ihrer Zwecke empfehlen.22 So könnten sie als normale empirisch prüfbare Sätze verstanden werden und seien mit dem Projekt des Naturalismus kompatibel, da sie aus der Wissenschaftsgeschichte gewonnen werden könnten: „What we thus have before us is the sketch of a naturalistic theory of methodology which promises to enable us to choose between rival methodologies. What it does not promise is any a priori (...) demonstrations (…) to the contrary, it makes methodology every bit as precarious epistemically as science itself.”23
21 Jedenfalls können wir festhalten, dass der Naturalismus nicht wie Kuhns Relativismus ein Wegbereiter des Partikularismus ist, sondern dass es den Naturalisten um eine Vermeidung apriorischer Wissenschaftstheorie geht. Dabei bleibt für viele Naturalisten ein Raum für eine normative Wissenschaftstheorie offen, die empirisch geprüft wird. D.h. dass nicht alle Normierungen nur innerhalb der Fachwissenschaften ablaufen, sondern die Wissenschaftstheorie als eigene normative Kraft erhalten bleibt. Wenn naturalistische Wissenschaftstheorie jedoch jedes normative wissenschaftstheoretische Projekt verabschieden will, bleiben viele Fragen offen. Insbesondere die Frage „Wozu noch Wissenschaftstheorie?“ bleibt unbeantwortet, denn wenn man die Fakten der Geschichte nicht bewertet, kann man aus ihnen nichts lernen und wozu erhebt man sie dann? Zudem ist fraglich, ob die in Einzelwissenschaften geltenden Normen nicht auch kritisierbar sein müssen. Manchmal können sie sich ja auch einer weltanschaulichen Prägung der Wissenschaftler verdanken, d.h. nicht deren Fachwissen, sondern anderen Quellen entstammen. (Albert Einstein und Werner Heisenberg waren etwa stark philosophisch beeinflusst.) Und was geschieht wenn in einzelnen Wissenschaften (und diachron in derselben Wissenschaft) unterschiedliche Normen gelten? Muss man diese Konflikte nicht auch jenseits der Einzelwissenschaft kritisch diskutieren können? Hinken vielleicht einige Einzelwissenschaften der Physik hinterher (bzw. erneut diachron: war das z.B. in der Psychologie der Fall?), weil sie weniger effiziente Normen haben? Das impliziert aber einen grenzüberschreitenden Methodenvergleich und grenzüberschreitende Erfolgswerturteile, was eine Einzelwissenschaft nicht leisten kann. Und muss Wissenschaftstheorie nicht Normen setzen, ab wo überhaupt von einer Wissenschaft die Rede sein kann? Das können die der Astrologie immanenten Normierungen nicht entscheiden, hier muss man „Fachwissenschaftler“ auch korrigieren können. Allerdings sollten normative Wissenschaftstheorien so konzipiert werden, dass sie sich von empirischen Erkenntnissen belehren lassen. 4. Partikularismus Deutlich unterschiedlicher Natur ist der Angriff auf manche normativen Wissenschaftstheorien, den Paul Feyerabend vorträgt. Auf den ersten Blick scheint Feyerabend eine krasse Ablehnung von normativen Theorien als solchen zu propagieren: Schlagworte wie „Anything goes“ und „Anar-
22 chismus“ suggerieren eine radikale Absage an alle normativen Beschränkungen der Forschung.24 Dieser Schein trügt, nicht zuletzt deshalb, weil Feyerabend den Gedanken des wissenschaftlichen Fortschritts nicht aufgibt. Feyerabend weist der Wissenschaft die allgemeine Aufgabe zu, die Humanität in der Welt zu vergrößern. Sobald man aber ein allgemeines Ziel der Wissenschaft insgesamt formuliert, gibt es bessere und schlechtere Wege zum Ziel. Es ergibt sich zwangsläufig, Imperative der Art aufzustellen, dass die besten zum Ziel führenden Mittel verwendet werden sollen, und diese Imperative werden aufgrund der fachübergreifenden Zielvorgabe nicht nur fachwissenschaftsimmanent sein können. Damit hat man das Grundmodell einer normativen Methodologie bereits im Prinzip akzeptiert. So stellt sich heraus, dass Feyerabend vorrangig eine bestimmte, nämlich die kritisch-rationale Methodologie und auch ihre Fortentwicklung durch Lakatos ablehnt. Feyerabend experimentiert selbst mit einer alternativen Methodologie, in deren Zentrum der Begriff der Kontrainduktion steht. Kontrainduktion ist eine Methode, die reflektiert, dass man die wichtigsten Eigenschaften von Theorien nicht durch Analyse, sondern durch Kontrast erkennt.25 Daher müsse man ein Begriffssystem erfinden, „das mit den besten Beobachtungsergebnissen in Konflikt steht (...) das die einleuchtendsten theoretischen Grundsätze durcheinanderbringt und Wahrnehmungen einführt, die nicht in die bestehende Wahrnehmungswelt passen. Dieser Schritt ist kontrainduktiv. Daher ist die Kontrainduktion jederzeit vernünftig und hat immer Erfolgsaussichten.“26
Feyerabend geht es dabei nicht darum, ein neues normatives Korsett für die Wissenschaften auszuformulieren, sondern er will eine pluralistische Methodologie realisieren, die insbesondere anders auftritt, als es die gängigen Normensysteme nach Feyerabends Ansicht tun: Die pluralistische Methodologie soll nicht abstrakt, sondern für Einzelfälle sensibel, sie soll nicht unfehlbar, sondern tentativ sein und ein flexibles Set von Faustregeln bereitstellen: „Es gibt dann keine Wissenschaftstheorie – es gibt nur den Prozess der Forschung und historisch illustrierte Faustregeln, die bei der Förderung dieses Prozesses helfen, die aber immer erst an der vorliegenden Forschungssituation gemessen werden müssen.“27
D.h. Feyerabend bringt eine Variante partikularistischer Kritik an rigiden Regelapparaten vor, die gerade in der aktuellen Ethikdebatte lebhaft disku-
23 tiert wird. Regeln werden als rigide, unflexible Instrumente der Grobsteuerung betrachtet, die den Einzelfall auf dem Altar der Simplifizierung opfern. Diese Kritik ist buchstäblich uralt und wird schon in Platons Politikos an den Gesetzen des Staates geübt: „Denn die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals irgend etwas sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgendeine Kunst irgend etwas für alle und zu aller Zeit Einartiges hinstelle. (...) Das Gesetz aber sehen wir doch, das eben hiernach strebt, wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch (...). Unmöglich also kann sich zu dem niemals Einartigen das richtig verhalten, was durchaus einartig ist“28
All dies zeigt, dass man Feyerabend entgegen manchen seiner Äußerungen nicht so deuten darf, dass alle Methodologien gleich gut oder schlecht sind. Eine abstrakte und rigide Methodologie ist für Feyerabend jedenfalls schlechter als eine pluralistische. Allerdings sind seine eigenen Vorschläge nicht deskriptiv aus der Wissenschaftsgeschichte abgeleitet (wo gibt es Beispiele von Kontrainduktion?) und sie übergreifen die Grenzen einer Disziplin, sind also wenigstens formal immer noch generelle philosophische Normierungen. Nancy Cartwright exempflifiziert eine partikularistische Strategie, die das von Feyerabend exponierte Problem aber nicht an methodologischen Normen, sondern an Naturgesetzen aufweist. Cartwright wirft den naturwissenschaftlichen Gesetzen vor, gegenüber Einzelfällen inadäquat zu sein und „zu lügen“: Sie kritisiert die theoretischen Gesetze der Physik. Alle physikalischen Gesetze haben nach Cartwright Ausnahmen und sind daher nicht wahr, weshalb man sie nur auf Modelle, nicht auf die Realität beziehen dürfe. Theoretische Gesetze isolieren nach Cartwright einen Faktor und missachten den systemischen Charakter der Realität: Das Gravitationsgesetz spricht z.B. in einer ersten ausnahmslosen und daher „gelogenen“ Formulierung von allen Körpern, während es aber nicht für elektrische Kräfte und Körper gilt. In einer zweiten Formulierung baut man daher eine ceteris-paribus Klausel ein: „Wenn keine anderen Kräfte am Werk sind, dann...“ Diese Verfahrensweise umgeht die „Lüge“, aber hat andere Schwächen: Man isoliert eine Kraft, definiert ein Gesetz für eine idealisierte Laborbedingung und entzieht das Gesetz der strikten empirischen Prüfbarkeit, da man all die durch die ceteris-paribus-Klausel nicht explizit im Gesetz benannten Größen als gegeben voraussetzen muss, deren Anzahl zu groß und unspezifisch ist, um im Einzelnen überprüft zu werden.29
24 Cartwright lehnt jede überzogene Vereinheitlichungstendenz in den Naturwissenschaften ab, da sie der Meinung ist, dass die konkrete Realität stets durch rigide theoretische Systeme simplifiziert wird. Hier lässt sich nun wieder eine Brücke von den Naturgesetzen zur normativen Methodologie schlagen, zu der sich Cartwright selbst kaum äußert. Aber unbesehen davon, falls überhaupt eine normative Methodologie möglich ist, darf sie im Sinne von Cartwrights Philosophie nicht abstrakt und rigide sein, denn die anhand der Naturgesetze exemplifizierten Probleme sind allgemein für das Verhältnis von Regel und Einzelfall konstitutiv. Letztlich kann man dies auf der tiefsten Ebene mit einer „partikularistischen Ontologie“ begründen, die Cartwright als eine oft übersehene Option hervorhebt: „The metaphysical picture that underlies these essays is an Aristotelean belief in the richness and variety of the concrete and particular.“30
Und an anderer Stelle: “In metaphysics we try to give general models of nature. We portray it as simple or complex, law-governed or chancy, unified or diverse. (...) Unity of science is a case in point. How unified is our knowledge? Look at any catalogue for a science school. (...) Our knowledge of nature, nature as we best see it, is highly compartmentalized. Why think nature itself is unified?”31
Wenn, wie Platon es sagt, die Welt „nicht einfach“ ist, dann hat eine alles über einen Kamm scherende und insofern „einfache“ Methodologie keine Erfolgsaussichten. Ein Misstrauen gegen die Einheit der Natur, die von allgemeinen Gesetzen wie auch von allgemeinen methodologischen Normen suggeriert wird, bildet eine Grundlage für ontologische Varianten des Partikularismus. Was bedeutet diese breite partikularistische Strömung nun aber für eine wie immer geartete normative Wissenschaftstheorie? Wenn man sich z.B. an Feyerabend orientiert, ist auf den ersten Blick gar kein direkter Konflikt auszumachen. Feyerabend kritisiert ja das „wie“ bestimmter Methodologien, nicht aber die Tatsache, dass es (philosophische) Methodologien gibt. Diese sollen nicht unfehlbar, rigide und simplifizierend formuliert werden. Sicher sollten sie auch nicht deduktiv-philosophisch, sondern primär induktiv aus der Geschichte der Wissenschaft gewonnen werden, anhand einer Beobachtung der bisher erfolgreichen Wissenschaftler. (Allerdings ist Kontrainduktion sicher kein Beispiel dafür.) Dass man aber überhaupt
25 normative Regeln braucht, die der Forschung eine (humanistische) Richtung geben, wird von dieser partikularistischen Kritik nicht bestritten. Hier trifft sich Feyerabend mit Hilary Putnam. Putnam kritisiert alle Versuche, wissenschaftliche Methoden zu entwickeln, die als notwendige und hinreichende Bedingung für wissenschaftliche Rationalität verkündet werden, als „zu eng“. Allerdings hält auch Putnam am normativen Projekt der Methodologie fest: „Die Alternativen, zwischen denen wir wählen müssen, sind nicht - einerseits - , dass die Wissenschaft zum Erfolg führt, weil sie so etwas wie einem formalen Algorithmus folgt, und - andererseits -, dass sie durch bloßes Glück zum Erfolg führt. Im fünfzehnten Jahrhundert begannen Wissenschaftler und Philosophen, eine neue Reihe methodologischer Maximen zu vertreten (...). Diese Maximen waren keine rigorosen formalen Regeln (...) aber trotzdem gaben sie der wissenschaftlichen Forschung Gestalt und tun es noch heute. Kurz, es gibt zwar eine wissenschaftliche Methode, aber sie setzt voraus, dass man schon vorher einen Begriff von Rationalität hat.“32 Auf den zweiten Blick gibt es aber doch eine Spannung zwischen Feyerabends Partikularismus und den meisten normativen Wissenschaftstheorien. Zwar kann man schnell einsehen, dass Methodologie nicht übergeneralisieren darf. Aber fast alle Wissenschaftstheorien wollen doch mehr als Faustregeln bieten, sind also tendenziell generalistischer als Feyerabend, dessen Partikularismus ebenso wie der von Cartwright als überzogen kritisierbar ist. Einen überzogenen Partikularismus, der strikte Regeln mittlerer und großer Reichweite (die Reichweite vergrößert sich mit abnehmendem Spezifikationsgrad) vollständig ausschließen will, kann man kritisieren: Es gibt auch für viele Partikularisten methodologische Regeln. Ob diese Regeln dann Faustregeln oder ausnahmslose Regeln sind, ist gar nicht a priori entscheidbar, sofern man nicht eine partikularistische Ontologie wie die unterstellt, auf die Cartwright hinweist.33 Und genau das, einen a priori Entscheid, beinhaltet jede generelle Ablehnung allgemeiner Regeln: Ob die Regel R in Zukunft gebrochen wird, kann man nämlich nicht über den Verweis auf bisherige Brüche allgemeiner Regeln R1-Rn in der Wissenschaftsgeschichte ausmachen! Letztlich haben wir es hier mit einer Variante des Induktionsproblems zu tun und weder der Partikularist noch der Generalist können verbindliche Aussagen über die Zukunft einer Regel machen, denn dann fallen beide in den selben Graben einer unbegründbaren apriorischen Übergeneralisierung.
26 Darüber hinaus denke ich, einige allgemeine Regeln haben sich bewährt! Darunter - in Anlehnung an Popper, Lakatos oder Laudan –, z.B die „Elementarregeln“, auf höherer Erklärungskraft der Nachfolgetheorie gegenüber der Vorgängertheorie zu bestehen und eine Kohärenz von Erfahrung und Theorie herzustellen. Zwar meinen manche Wissenschaftstheoretiker, jede Regel sei in der Wissenschaftsgeschichte erfolgreich gebrochen worden, aber dies kommt sehr darauf an, wie man bestimmte Ereignisse in der Geschichte interpretiert. G. Andersson hat m.E. erfolgreich zu zeigen versucht, dass man die Wissenschaftsgeschichte sogar mit einem vernünftig interpretierten Kritischen Rationalismus in Kohärenz bringen kann. Hier ist folglich noch viel zu diskutieren. Wenn wir also davon ausgehen, dass es bislang bewährte Regeln gibt, wäre es eine Übergeneralisierung des Partikularisten, wollte er für uns in die Zukunft sehen und behaupten, hier liege definitiv noch ein Gegenbeispiel verborgen, das den Misserfolg der Regel demonstriert und sie zur Faustregel degradiert. Die Möglichkeit stabiler, voll spezifizierbarer und daher ausnahmsloser Regeln ist übrigens nicht nur eine Denkmöglichkeit, wie man von der Rechtstheorie lernen kann, wo man immerhin maximale Erfahrung mit der Kodifikation von Einzelfällen hat. Die Meinung, dass es einen harten Kern strikter Gesetze und einen Randbereich, aufgrund begrifflicher Unschärfen an das Ermessen verwiesener Fälle gibt, scheint Mehrheitscharakter in der Rechtstheorie zu haben. Das führt Herbert Hart mustergültig aus. Hart bestätigt die These, dass es auch strikte Gesetze geben kann und er begründet ihre Möglichkeit, wenn er sagt, dass es weite Felder gebe „which are successfully controlled ab initio by rule, requiring specific actions, with only a fringe of open texture, instead of variable standard. They are characterized by the fact that certain distinguishable actions, events, or states of affairs are of such practical importance to us (…) that very few (…) circumstances incline us to regard them differently.”34
Übertragen auf die Wissenschaftstheorie: Zumindest einige allgemeine Regeln wie die oben angesprochenen Elementarregeln sind von solcher praktischer Wichtigkeit, dass man sich kaum Ausnahmen von ihnen vorstellen kann. Gegen Feyerabends extrem partikularistisch formulierten methodologischen Pluralismus kann man also etwas erwidern, was ganz im Geiste der gegen rigide Übergeneralisierungen angehenden Philosophie Feyerabends
27 liegt: Man kann eben nicht a priori wissen, dass allgemeine methodologische Regeln notwendig simplifizieren und dass die Kosten von Simplifizierungen notwendig deren Vorteile überwiegen müssen. Allgemeine Regeln bewähren sich jedenfalls in vielen Feldern unseres Lebens und die partikularistische Skepsis ist nicht von vornherein überzeugend, sondern ist allenfalls und ganz im Sinne des Partikularismus fallweise zu formulieren. Jedenfalls kann ein normativer Methodologe aus der Konfrontation mit den benannten Kritiken einiges lernen. Insbesondere sollte er seine Methodenvorschläge an der Forschungspraxis testen. Gerade wenn er Regeln mit hohem Allgemeinheitsgrad propagiert, sollte er ein sensibles Auge auf die Wissenschaftsgeschichte werfen, denn solche Regeln bergen ein hohes Risiko. Wie Popper sagt, Methoden werden wegen ihrer Fruchtbarkeit für die Forschung gewählt35 und für diese Fruchtbarkeit gibt es empirische Anhaltspunkte. Jedes andere Verfahren führt dazu, Wissenschaftstheorie von der Wissenschaft abzukoppeln, was in Ignoranz gegenüber der Praxis endet. Dies ist ganz analog zu Ethiken zu sehen, die sich zu weit von den Alltagsintuitionen der Menschen entfernen. Sie werden als radikale rationalistische Konstrukte gebranntmarkt und zurückgewiesen. Allerdings: Die momentan stark an Boden gewinnende Tendenz, die normativen Fragen, sofern sie denn überhaupt gestellt werden, ganz den Wissenschaftlern selbst zu überlassen, da nur sie das hinreichende Praxiswissen haben, halte ich ebenfalls für überzogen. Ich fürchte, dass Wissenschaftler immer stark in die jeweiligen Kontexte ihrer Arbeit involviert sind, so dass sie eben auch zu sehr kontextuellen Normen neigen werden, die aber gefährdet sind, mit anderen kontextuellen Normen ihrer Kollegen in Widersprüche zu geraten. Eine auf die Gesamtkohärenz ausgerichtete philosophische Betrachtung scheint mir unverzichtbar, aber es ist letztlich auch gleichgültig, wer Normen entwickelt, wichtig ist, dass diese Normen gründlich geprüft werden und sich als fruchtbar erweisen. Fazit: Wir haben vier Angriffe auf die Berechtigung verschiedener Modelle einer normativen Wissenschaftstheorie vorgestellt und kurz diskutiert. Eine historisierende, eine relativistische, eine naturalistische und eine partikularistische Argumentation konnten unterschieden werden, wobei sich diese Strategien in ihren realen Erscheinungsformen häufig überlappen. Keine dieser Attacken hat unabweisbare Gründe auf ihrer Seite bzw. nicht alle zielen auf das Ende jedweder normativer Vorgehensweise. Gleichwohl erwies sich eine empirisch unsensible, zu unkritisch generalisierende und
28 rein aprioristische Methodologie als wenig zweckdienlich. Offenbar bleibt einer normativen Wissenschaftstheorie also genug Luft zum Atmen – noch ist ein Pulsschlag unseres Patienten auszumachen. Vielleicht wird er sich doch in Zukunft wieder gründlich erholen und zugleich aus seiner Krankheit lernen und seinen manchmal reichlich aprioristischen Lebenswandel ändern.
LITERATUR UND ANMERKUNGEN Andersson G. (1988), „Kritik und Wissenschaftsgeschichte“, Tübingen. Bieri P., (Hg.), (1987), „Analytische Philosophie der Erkenntnis“, Frankfurt. Cartwright N. (1983), „How the laws of physics lie”, Oxford. Cartwright N. (1996, 1994), „Fundamentalism vs the Patchwork of Laws“, in: Papineau D. (Hg.), (1996, 1994), S. 314-325. Davidson D., (1987), „Was ist eigentlich ein Begriffsschema?“ in: Bieri P. (Hg.), (1987), ebenda, S.390-405. Dürr H.P. (Hg.), (1980), „Versuchungen – Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends“, 2 Bd., Frankfurt. Feyerabend P., (1976), „Wider den Methodenzwang“, Frankfurt. Feyerabend P., (1980), „Rückblick“, in: Dürr H.P. (Hg.), ebenda, Bd.2. Gesang B., (1995), „Wahrheitskriterien im kritischen Rationalismus“, Amsterdam, Atlanta. Giere R.N., (1985), „Philosophy of Science Naturalized”, in: Philosophy of Science, 52, S. 331-356. Hart H.L.A., (1965,1963), „The Concept of Law“, Oxford. Kuhn T.S., (1967), „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, Frankfurt. Kuhn T.S., (1976), „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, 2. Auflage, Frankfurt. Kutschera F. v., (1982), „Grundlagen der Ethik’’ Berlin, New York. Laudan, L. (1987), „Progress or Rationality? The Prospects for Normative Naturalism”, in: American Philosophical Quarterly, Vol. 24, No. 1, S. 19-31. Laudan L., (1990), „Science and Relativism”, Chicago. Papineau D. (Hg.), (1996, 1994), „The philosophy of science“, Oxford. Platon, (1985,1957), „Sämtliche Werke“, Hamburg. Popper K.R., (1989,1935), „Logik der Forschung“, Tübingen. Putnam H., (1990,1982), „Vernunft, Wahrheit und Geschichte“, Frankfurt. Siegel, H. (1990), „Laudans Normative Naturalism“, in: Studies in History and Philosophy of Science, Vol 21, No. 2, S. 295-313. 1
Man könnte eine Binnendifferenzierung zwischen Wertaussagen mit Wertbegriffen und deontischen Aussagen mit deontischen Begriffen treffen. Da ich aber wie F.v.
29 Kutschera glaube, daß sich deontische Begriffe durch Wertbegriffe definieren lassen, ist diese Unterscheidung hier nicht notwendig. Kutschera F.v., (1982), S. 22. 2
Feyerabend P., (1976), S. 249f.
3
Andersson G., (1988), S. 148f. Vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band.
4
Andersson G., (1988), S. 194.
5
Vgl. Esfelds Beitrag in diesem Band.
6
Davidson D., (1987).
7
Kuhn hat sich sicher später um weitere Differenzierungen bemüht und dieser Aufsatz kann nicht das komplexe Feld einer adäquaten Kuhn-Exegese bearbeiten, aber es ist hier auch nicht das Ziel, das Gesamtwerk Kuhns zu würdigen, sondern eine mit seinem Namen nun einmal de facto verbundene These wie die Inkommensurabilität zu untersuchen. 8
Kuhn T.S., (1967), S. 151-180.
9
Kuhn T.S., (1967), S. 200-205.
10
Kuhn T.S., (1967), S. 223-226.
11
Welche Ziele davon auch wissenschaftsimmanent dominieren, zeigt Falkenburg in diesem Band.
12
Vgl. Gesang B., (1995), S. 40-44.
13
Vgl. dazu: Andersson G., (1988), S. 119.
14
Kuhn T.S., (1976), S. 208f.
15
Laudan L., (1990), S. 40f.
16
Wir werden noch sehen, welche Naturalismus-Variante welche Variante einer normativen Theorie ausschließt.
17
Giere R.N., (1985), S. 343.
18
Giere R.N., (1985), S. 347f.
19
Vgl. besonders die Beiträge von Janich, Gadenne und Schurz in diesem Band.
30
20
Kuhn T.S., (1967), S. 36.
21
Popper K.R., (1989), S. 25.
22
Ähnlich Schurz in diesem Band.
23
Laudan L., (1987), S. 29. Eine Kritik von Laudan bietet: Siegel H., (1990).
24
Janich schreibt in diesem Band, dass auch das Postulat keine Norm anzuwenden eine begründungswürdige Norm ist.
25
Feyerabend P., (1976), S. 48.
26
Feyerabend P., (1976), S. 51.
27
Feyerabend P., (1980), S. 323.
28
Politikos, 294 b-c. Wobei man die Übersetzung von ‚haploûs’ durch „einartig“ besser durch „einfach“ ersetzt. 29
Cartwright N., (1983), S. 54-58.
30
Cartwright N., (1983), S. 19.
31
Cartwright N., (1983), S. 13. In neueren Schriften bezeichnet Cartwright ihre Position als metaphysischen, nomologischen Pluralismus, der sich agnostisch bezüglich der Frage verhält, ob eine partikularistische Ontologie zutrifft. Cartwright N., (1996), S. 322.
32
Putnam H., (1990), S. 258.
33
Diese Ontologie halte ich für sehr angreifbar, aber diese Debatte kann hier nicht geführt werden. 34
Hart H.L.A., (1965,1963), S. 130.
35
Popper K.R., (1989), S. 27.
VOLKER GADENNE
Wozu normative Wissenschaftstheorie? Zur Notwendigkeit und Rechtfertigung von Rationalitätsprinzipien in der Wissenschaft Normative Wissenschaftstheorie ist derzeit nicht in Mode. Nach einer verbreiteten Auffassung haben Kritiker wie Thomas Kuhn und Paul Feyerabend gezeigt, dass die normativen Ansätze des logischen Empirismus und kritischen Rationalismus gescheitert sind. Methodologische Normen oder Regeln lassen sich danach nicht rechtfertigen und würden die Wissenschaft eher behindern. Unter dem Einfluss von Kuhns Lehre sind viele weiterhin zu der Überzeugung gelangt, dass Wissenschaft ausschließlich deskriptiv erforscht werden kann (was Kuhn selbst nicht vertreten hat). Und als Konkurrenz zur normativen Wissenschaftstheorie hat sich mittlerweile neben der Wissenschaftsgeschichte das interdisziplinäre Unternehmen der Wissenschaftsforschung entwickelt (vgl. Felt u. a. 1995). Die Wissenschaftsforschung hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, die sozialen Determinanten wissenschaftlicher Tätigkeit und ihrer Ergebnisse aufzuzeigen. Viele Vertreter dieser Disziplin betreiben diese Forschung auf der Grundlage einer konstruktivistischen Sichtweise: Wissenschaftler konstruieren ihre „Erkenntnisse“ auf eine Art und Weise, die man am besten mit soziologischen oder ethnographischen Methoden erforschen und beschreiben kann. Von vielen wird diese Spielart des Konstruktivismus zum Anlass genommen, in Frage zu stellen, dass Wissenschaft einen Anspruch auf Rationalität und Wahrheitserkenntnis erheben könnte. Im Folgenden setze mich mit der Frage auseinander, ob sich normative Wissenschaftstheorie verteidigen lässt. Wird sie benötigt? Braucht die Wissenschaft methodologische Regeln? Können wissenschaftstheoretische Analysen etwas dazu beitragen, solche Regeln zu rechtfertigen? Nach meiner Auffassung sind diese Fragen zu bejahen. Ich möchte hierzu eine Reihe von Thesen formulieren und sie nacheinander diskutieren. Zunächst soll
32 geklärt werden, was unter einem normativen im Unterschied zu einem deskriptiven Denkansatz in der Wissenschaftstheorie zu verstehen ist. 1. Normative Wissenschaftstheorie untersucht methodologische Regeln auf ihre Eignung für die Wissenschaften. Der Begriff ‚normativ’ ist im Zusammenhang mit methodologischen Fragen ein wenig missverständlich. Er suggeriert, es könnte zu den Vorgehensweisen in der Wissenschaft Normen geben, die denjenigen in der Moral vergleichbar sind. Solche Normen wären z. B.: ‚Setze Hypothesen bzw. Theorien kritischen Prüfversuchen aus.’ ‚Betrachte eine Theorie niemals als endgültig bewiesen.’ ‚Falls empirische Ergebnisse einer Theorie T widersprechen, so verteidige T nicht durch unprüfbare Ad-hoc-Annahmen’, usw. Solche Forderungen beziehen sich auf bestimmte Arten von Problemsituationen, in diesem Fall auf die Planung von Hypothesentests und auf das weitere Vorgehen, wenn empirische Resultate einer Theorie widersprechen. Für eine derartige Situation wird eine bestimmte Vorgehensweise oder Methode M gefordert. Die Norm oder Regel hätte demnach die Form: Wähle in Situation S die Vorgehensweise M. Es ist jedoch klar, dass diese Interpretation der Natur wissenschaftlicher Erkenntnissuche nicht gerecht würde. Eine Forderung wie ‚Setze Hypothesen kritischen Prüfversuchen aus’ macht keinen Sinn, wenn man sie als kategorischen Imperativ versteht, in Analogie zu einer Norm wie ‚Verletze niemanden’. Warum soll man Hypothesen kritisch prüfen? Jemand, der nicht so verfährt, handelt keineswegs unmoralisch, er handelt allenfalls (aus der Sicht einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Auffassung) nicht optimal im Hinblick auf bestimmte Ziele. Dies legt es nahe, methodologische Normen oder Regeln als hypothetische Normen aufzufassen, die sich auf eine bestimmte Zielsetzung beziehen. Angenommen, Wissenschaft hat ein Ziel oder eine Reihe von Zielen. Es kann etwa darum gehen, wahre Theorien von hoher Erklärungskraft zu erlangen, oder empirisch adäquate Theorien mit hohem Vorhersagewert. Bezeichnen wir eine derartige Zielsetzung als Z. Dann können wir eine methodologische Regel so auffassen: Wenn du das Ziel Z hast, dann wähle in Situation S die Vorgehensweise M. Hans Albert (1982, 52 ff.) interpretiert dementsprechend Methodologie als Technologie. Er betont hierbei, dass die Regeln dieser technologischen Disziplin keinen sehr strengen Charakter haben können. Sie sind heuristi-
33 scher Natur: Sie geben Empfehlungen, zur Lösung des jeweiligen Problems eine bestimmte Richtung einzuschlagen, legen den Lösungsweg aber nicht im Detail fest. Bei den methodologischen Regeln, die oben als Beispiele genannt wurden, ist dies offensichtlich. Manche Wissenschaftstheoretiker ziehen es daher vor, anstatt von Normen oder Regeln von Empfehlungen zu sprechen, was den zweckrationalen und heuristischen Charakter besser zum Ausdruck bringt. Wer methodologische Regeln auf diese Weise auffasst, setzt voraus, dass bestimmte methodologische Hypothesen wahr sind. Die Empfehlung ‚Wenn du zu wahren Theorien gelangen willst, dann teste Theorien kritisch’ macht nur dann Sinn, wenn man annimmt, dass ceteris paribus kritisches Testen von Theorien dazu beiträgt, möglichst viele wahre Theorien zu erlangen. Allgemein gesprochen, wenn wir M als Mittel für Z vorschlagen, nehmen wir an, dass M zu Z beizutragen vermag. Falls es konkurrierende Methoden M1 und M2 gibt, die beide dazu entworfen wurden, zu Z beizutragen, schlagen wir M1 genau dann vor, wenn wir M1 für effektiver halten als M2. Unser Vorschlag beruht dann auf der methodologischen Hypothese, dass M1 im Hinblick auf Z effektiver ist als M2. Eine solche Hypothese kann selbstverständlich falsch sein. Methodologische Regeln bzw. Empfehlungen dieser Art beziehen sich auf Vorgehensweisen. Eine Wissenschaftstheorie kann allerdings nicht nur aus solchen Verfahrensregeln und den zugrunde liegenden Hypothesen bestehen. Sie benötigt auch Regeln zur Bewertung der Ergebnisse, z. B. ein Prinzip, dass etwas darüber sagt, wann es vernünftig ist, eine Aussage vorläufig für wahr zu halten. Ein solches Prinzip wird z. B. von Alan Musgrave (1999, 324 ff.) vorgeschlagen. Es bezieht sich auf die Situation, dass konkurrierende Hypothesen vergleichend geprüft wurden und eine davon deutlich besser abschneidet als die anderen. Im Idealfall wäre es so, dass eine dieser Hypothesen hochgradig bewährt ist, während alle anderen durch die empirischen Befunde widerlegt werden konnten. Für diesen Fall gilt: ‚Es ist vernünftig, von mehreren, miteinander konkurrierenden Hypothesen die bestbewährte vorläufig für wahr zu halten.’ Ohne solche Bewertungsprinzipien, d. h. nur mit Empfehlungen für das Vorgehen ausgestattet, würde eine wissenschaftstheoretische Position nichts darüber aussagen, unter welchen Bedingungen es rational gerechtfertigt ist, etwas zu glauben bzw. für wahr zu halten. Und damit bliebe auch völlig offen, wann jemand Wissen oder Erkenntnis besitzt. Aus methodologischen Regeln, die lediglich Vorschläge für das Vorgehen im For-
34 schungsprozess machen, folgt nicht logisch, dass bestimmte Resultate einen Fortschritt bzw. eine Erkenntnis darstellen. Damit ist grob skizziert, was im Folgenden unter normativer Wissenschaftstheorie als Disziplin verstanden werden soll: Sie befasst sich mit a) Regeln für das methodische Vorgehen, die zweckrationalen und heuristischen Charakter haben, b) Regeln zur Bewertung von Ergebnissen und c) methodologischen Hypothesen, die den Regeln zugrunde liegen. Normative Wissenschaftstheorie schlägt entsprechende Regeln bzw. Hypothesen vor und unterzieht sie einer kritischen Diskussion. Hierzu werden unter anderem auch Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften selbst herangezogen (z. B. über Wahrnehmungsforschung). Ein deskriptiver Forschungsansatz befasst sich demgegenüber mit der empirischen Wissenschaft, wie sie tatsächlich betrieben wird, wobei unterschiedliche Aspekte im Zentrum des Interesses stehen können. Es kann um die historische Entwicklung einzelner Disziplinen gehen, um die Gesetze des Wachstums der Zahl wissenschaftlicher Publikationen, um die in den Wissenschaften (tatsächlich) akzeptierten und wirksamen Werte, um den Einfluss wirtschaftlicher oder politischer Kräfte auf die Durchsetzung von Lehrmeinungen, um die Art und Weise, wie in Forschungslabors Interpretationen ausgehandelt werden und nicht zuletzt auch um die Tatsache, dass es in den Wissenschaften Betrug und Täuschung gibt. Je nach Fragestellung wird der geeignete Forschungsansatz ein historischer, soziologischer, ethnographischer oder eventuell ein interdisziplinärer sein. In jedem Fall ist er deskriptiv und verzichtet darauf, den Wissenschaften Normen vorzuschlagen und Aussagen über die Rationalität wissenschaftlichen Vorgehens zu machen. Es ist klar, dass deskriptive Aussagen einerseits und Normen andererseits einander logisch nicht widersprechen können. So ist z. B. die Regel ‚Sei offen für Kritik am dominierenden Paradigma’ mit der deskriptiven Aussage ‚Die Wissenschaftler akzeptieren das jeweilige Paradigma ihres Forschungsgebietes unkritisch’ logisch vereinbar. Bis zu einem gewissen Grad ist eine Norm sogar gerade dann besonders wichtig, wenn die wissenschaftliche Wirklichkeit ihr nicht entspricht. Die Norm, offen für Kritik zu sein, ist wichtig, weil Wissenschaftler nun einmal wie alle Menschen dazu tendieren, an ihren erarbeiteten Theorien festzuhalten und Gegenbefunde zu übersehen oder sie nicht ernst genug zu nehmen. Nichtsdestoweniger können historische und soziologische Tatsachen wissenschaftlichen Handelns zur Kritik normative Auffassungen über die Wissenschaft herangezogen werden: Verfahrensregeln und Bewertungsprinzi-
35 pien müssen realistisch sein. Sie müssen der Beschaffenheit der Forschungsgegenstände und den menschlichen Möglichkeiten angemessen sein. Eine Regel, die z. B. eine theorieunabhängige Beobachtung des jeweiligen Forschungsgegenstandes fordern würde, könnte aus heutiger Sicht kaum ernst genommen werden. Um den Unterschied zwischen dem normativen und dem deskriptiven Zugang kurz zu charakterisieren, sage ich im Folgenden, dass sich normative Wissenschaftstheorie mit Rationalitätsprinzipien befasst (womit hier nur die Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis gemeint ist), während deskriptive Wissenschaftsforschung über die Rationalität von Verfahren oder Ergebnissen der Wissenschaft keine Aussage macht. Ein Konflikt ergibt sich, wenn Vertreter eines deskriptiven Zugangs die These aufstellen, es sei grundsätzlich nicht möglich oder nicht überzeugend, Rationalitätsprinzipien zu vertreten. 2. Die Ablehnung eines normativen Ansatzes durch Vertreter einer deskriptiven Wissenschaftsforschung beruht teilweise auf Missverständnissen. Einige Kritiker normativer Wissenschaftstheorie fassen diese auf eine Weise auf, die von der hier vorgeschlagenen abweicht und gelangen erst dadurch zu einer Ablehnung einer normativen Position. So plädiert z. B. Ronald Giere (1988, Kap. 1) für eine „naturalistische“ Theorie der Wissenschaften, die davon absieht, etwas über die Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis auszusagen. Unter Bezugnahme auf Kuhn und die Wissenschaftsforschung gelangt Giere zu der Auffassung, dass Wissenschaftstheorie, die Rationalitätsmaßstäbe aufstellt und Wissenschaft bewertet, als problematisch anzusehen ist. Im Weiteren entwickelt Giere seinen kognitionswissenschaftlich geprägten, erklärenden Ansatz: Er fragt nach den kognitiven Strukturen und Prozessen, die Wissenschaftler dazu in die Lage versetzen, ihre Probleme zu lösen. Wissenschaftliches Denken und Problemlösen soll als Spezialfall menschlicher Kognition erklärt werden. Doch was genau versteht Giere unter einem normativen Denkansatz? Überaschenderweise hält er es durchaus für möglich, Aussagen von der Form zu machen, dass gewisse Mittel geeignet sind, die von der Wissenschaft gesetzten Ziele zu erreichen. Betrachtet man daraufhin seine kritische Einstellung gegen normative Wissenschaftstheorie näher, so stellt sich heraus, dass er lediglich Probleme mit dem Anspruch auf kategorische Rationalität hat. Dagegen gesteht er hypothetische Rationalität zu (1988, 9 f.).
36 Wegen der Ablehnung kategorischer Rationalität schlägt er jedoch vor, gar nicht von Rationalität zu sprechen. Weiterhin argumentiert er gegen die Auffassung, es müsse über die Rationalität der Mittel hinaus auch die Rationalität der Ziele selbst nachgewiesen werden, die er offenbar als charakteristisch für normative Wissenschaftstheorie ansieht. Seine „hypothetische“ Rationalität deckt sich nun aber mit dem oben vorgeschlagenen Verständnis methodologischer Regeln. Und auch seine Ablehnung kategorischer Rationalität ist plausibel, sofern damit ausgedrückt werden soll, dass es kaum gelingen dürfte, methodologische Regeln als kategorische Imperative zu rechtfertigen. Was die Rationalität der Ziele angeht, so gehört sie keineswegs zu den üblichen Anliegen normativer Wissenschaftstheorie. Der kritische Rationalismus beispielsweise geht davon aus, dass die empirischen Wissenschaften gewisse Ziele haben, nämlich zu wahren Theorien mit hoher Erklärungskraft zu gelangen, und er bezieht seine methodologischen Analysen auf diese vorgegebenen Ziele. Er diskutiert auch die Erreichbarkeit dieser Ziele und verteidigt das von den Wissenschaften gesetzte Wahrheitsziel gegen antirealistische Positionen. Doch schreibt er der Wissenschaft keine Ziele vor und bewertet das Wahrheitsbzw. Erklärungsziel selbst weder als rational noch als irrational. Gieres Kritik wendet sich also gegen eine Auffassung von normativer Wissenschaftstheorie, die keineswegs als selbstverständlich gelten kann ist und die im Folgenden nicht vertreten wird. 3. Rationalitätsprinzipien können selbst kritisch diskutiert und mit Argumenten verteidigt werden. Eine Regel wie z. B. ‚Setze Theorien kritischen Prüfversuchen aus’ gibt eine Empfehlung für die Planung empirischer Tests zu einer gegebenen Theorie. Aber wie kann eine solche Regel selbst kritisch geprüft und gegebenenfalls gerechtfertigt oder als haltlos erwiesen werden? Wenn methodologische Regeln Zweckrationalität beanspruchen, muss es Prüfungsmöglichkeiten geben. Ansonsten wären sie willkürliche Festsetzungen, über die es einen Streit mit Argumenten nicht geben kann. Ich möchte nun an diesem Beispiel skizzieren, wie es möglich ist, für eine methodologische Regel zu argumentieren. (Es handelt sich dabei um eine Argumentationsskizze; für eine eingehendere Analyse und Begründung dieser Regel vgl. Gadenne 2002.) Die genannte Regel findet sich innerhalb der Methodologie des kritischen Rationalismus, und sie gehört meines Er-
37 achtens zu den wichtigsten. Popper formulierte sie in ‚Logik der Forschung’ (1935, 8). Er schlägt dort vor, zum Test von Theorien solche Prüfaussagen abzuleiten, die aus anderen, konkurrierenden Theorien nicht ableitbar sind. Im Prinzip kann zwar jede singuläre Aussage P, die sich aus einer Theorie T deduzieren lässt, als Prüfaussage dienen, da der mögliche Befund Non-P logisch Non-T impliziert. Dennoch wird empfohlen, nicht beliebige Prüfaussagen heranzuziehen, sondern ganz bestimmte, eben solche, die aus mit T konkurrierenden Theorien nicht folgen oder, noch besser, die diesen konkurrierenden Theorien widersprechen. In späteren Werken beschrieb Popper dies so, dass eine Theorie ernsthaft oder streng getestet werden sollte. Ich bezeichne dies im Folgenden als Methode des kritischen Testens. Kritisch sind solche Tests deshalb, weil sie geeignet sind, mindestens eine Theorie in Frage zu stellen, entweder die neue, zu prüfende, oder eine konkurrierende, eventuell eine ältere, gut etablierte. Wenn wir eine methodologische Regel rechtfertigen wollen, müssen wir die entsprechende methodologische Hypothese zu begründen versuchen. Diese besagt, dass das kritische Testen zum Wahrheitsziel beiträgt. Genauer ist zu zeigen, dass kritisches Testen mehr als andere mögliche Strategien des Vorgehens zu dem Ziel beiträgt, unter den akzeptierten wissenschaftlichen Theorien möglichst viele wahre und möglichst wenige falsche zu haben. Hierfür lässt sich folgendermaßen argumentieren: Wenn wir wahre Theorien haben wollen, haben wir Grund, falsche auszuschalten bzw. zu korrigieren. Dazu müssen wir falsche Theorien identifizieren. Wenn es nun auf einem Wissenschaftsgebiet mehrere konkurrierende Theorien gibt, dann kann man eine falsche Theorie besonders effektiv dadurch entdecken, dass man Prüfaussagen ableitet, die mindestens einer anderen Theorie widersprechen. Vergleichen wir folgende Strategien empirischer Forschung: a) Kritisches Testen: Leite Prüfaussagen ab, die aus anderen Theorien nicht ableitbar sind oder, noch besser, die mit anderen Theorien in Widerspruch stehen. b) Einfaches Testen: Teste Theorien durch Ableitung beliebiger Prüfaussagen. c) Datensammeln ohne Theorie: Stelle Beobachtungen an und versuche erst später, daraus eine Theorie zu entwickeln. Es scheint nun ziemlich eindeutig zu sein, dass das kritische Testen eine effektivere Methode darstellt, als z. B. das einfache Testen oder das bloße Datensammeln. In diesem Sinne ist die These gemeint, dass die Befolgung
38 einer methodologischen Regel zum Erkenntnisziel beiträgt bzw. mehr dazu beiträgt als andere, bekannte Methoden. In ähnlicher Weise kann man für andere methodologische Regeln argumentieren (Gadenne 1996). 4. Die von Kuhn und Feyerabend vorgebrachte Kritik an der normativen Wissenschaftstheorie trifft nur vereinzelte Regeln, die von untergeordneter Bedeutung sind. Diejenige Kritik an normativer Wissenschaftstheorie, die im Allgemeinen als die wichtigste angesehen wird, wendet sich insbesondere gegen zwei Richtungen des normativen Ansatzes, nämlich gegen den logischen Empirismus und den kritischen Rationalismus. Ein Teil der Einwände richtet sich gegen die empiristische Annahme einer neutralen, von Theorien unabhängigen Beobachtungssprache. Diese Kritik trifft den Empirismus, allerdings nicht den kritischen Rationalismus, denn bekanntlich hat Popper bereits in Logik der Forschung (1935) die Problematik aufgezeigt, die man später die Theorieabhängigkeit der Beobachtung nannte. Eine andere Kritik beruft sich vor allem auf die Wissenschaftsgeschichte (Kuhn 1967, Feyerabend 1976). Es wird darauf verwiesen, dass Wissenschaft anders ablaufen würde, als die normativen Richtungen voraussetzen. Beispielsweise hätten bedeutende Wissenschaftler an ihren Theorien festgehalten, obwohl diese eindeutig mit anerkannten Fakten in Widerspruch standen. Nach Poppers Lehre hätten diese Wissenschaftler ihre Theorien jedoch angesichts der widersprechenden Fakten längst aufgeben müssen. Weitere Einwände knüpfen an eine Einsicht an, die schon Pierre Duhem hatte und die später als Duhem-Quine-These bekannt geworden ist (Duhem 1908, 243 ff.; Gadenne 1998). Duhem zeigte, dass bei der Prüfung wissenschaftlicher Theorien zur deduktiven Ableitung einer Prüfaussage stets eine größere Menge an Aussagen als Prämissen benötigt wird, die neben den Annahmen der Theorie im engeren Sinne auch Hilfsannahmen umfassen (etwa über den Aufbau der Untersuchung und über das richtige Funktionieren der Messinstrumente). Sollte nun die Untersuchung ein von der Vorhersage abweichendes Ergebnis erbringen, so widerspricht dies nicht der Theorie allein, geschweige denn einer einzelnen Aussage der Theorie, sondern dem ganzen Aussagensystem aus Theorie, Anfangsbedingungen und Hilfsannahmen. Welche Aussage soll man dann als falsifiziert betrachten und verwerfen? Das Duhemsche Problem wurde von vielen als ein Grund
39 betrachtet, die Methodologie des kritischen Rationalismus in Frage zu stellen. Was vermag diese Kritik zu zeigen? Wurden der logische Empirismus und der kritische Rationalismus als unhaltbar erwiesen? Wurde darüber hinaus gezeigt, dass normative Wissenschaftstheorie grundsätzlich angezweifelt werden muss? Zunächst kann man aus heutiger Sicht feststellen, dass zwei Projekte der normativen Richtung gescheitert sind, nämlich das einer theorieunabhängigen Beobachtungssprache und das einer induktiven Logik. Von der Kritik weiterhin getroffen wird eine bestimmte Version der Falsifikationstheorie, die Falsifikationen als sichere, nicht revidierbare Entscheidungen auffasst. „Was ist eine Falsifikation, wenn nicht eine zwingende Widerlegung?“, fragte Kuhn (1974, 16), und richtete seine Kritik gegen einen in diesem Sinne verstandenen Falsifikationismus. Feyerabend ging von derselben Auffassung aus. Hat Popper einen solchen Falsifikationismus vertreten? Die Frage muss differenziert beantwortet werden. Popper hat Falsifikationsentscheidungen niemals als sichere Entscheidungen verstanden. Bereits in Logik der Forschung stellte er klar, dass Beobachtungssätze jederzeit neu überprüfbar und revidierbar sind. Allerdings schlug er dort dennoch eine methodologische Regel vor, die dazu auffordert, Falsifikationsentscheidungen im Allgemeinen als endgültig anzusehen (1935, 214). In späteren Schriften erklärte er dagegen wiederholt, dass Falsifikationsentscheidungen nicht endgültig sein können (1983, S. xxii ff.). Es sind vorläufige, revidierbare Entscheidungen, die nichtsdestoweniger dazu beitragen können, auf längere Sicht Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Eine solche Methodologie benötigt kein Falsifikationskriterium, sondern formuliert eine Reihe von Regeln, die für unterschiedliche Problemsituationen dazu auffordern, bestimmte, für diese Situationen geeignete Verfahren der Kritik einzusetzen. Die oben erläuterte Strategie des kritischen Testens gehört dazu. Einen Überblick über die methodologischen Regeln des kritischen Rationalismus gibt Jarvie (2001). Die von Kuhn und Feyerabend vorgebrachten Argumente stellen die Idee einer endgültigen Falsifikation in Frage, und sie treffen einen Falsifikationismus, der auf dieser Idee beruht. Sie treffen dagegen nicht die Auffassung, die Popper als kritischen Rationalismus bezeichnete. Im Übrigen hat Andersson (1988) sehr überzeugend nachgewiesen, dass die wissenschaftshistorischen Beispiele, die von Kuhn, Feyerabend und auch von Lakatos gegen den kritischen Rationalismus ins Feld geführt wurden, mit diesem bestens vereinbar sind.
40 Was das Duhemsche Problem angeht, so lässt es sich im Rahmen einer hypothetisch-deduktiven Methodologie (wie sie Teil des kritischen Rationalismus ist, aber auch unabhängig von diesem vertreten wird) durchaus lösen. Man ändert versuchsweise eine bestimmte Annahme der Theorie oder eine der Hilfsannahmen und untersucht, ob nun zutreffende Prüfvorhersagen resultieren. Wir ändern z. B. die in Zweifel gezogene Theorie T1 und machen daraus T2. Wir kombinieren beide mit denselben Hilfsannahmen derart, dass aus T1 ∧ H die Prüfvorhersage P1 folgt, während aus T2 ∧ H die von P1 abweichende Vorhersage P2 ableitbar ist. Wenn in diesem Fall P1 verworfen und P2 akzeptiert wird, so haben wir einen weiteren Grund dafür gewonnen, T1 vorläufig als falsifiziert zu betrachten. Ein strenges Kriterium für den Abbruch des Testens und eine endgültige Verwerfung von T1 gibt es nicht. Keine Richtung der normativen Wissenschaftstheorie vermochte ein überzeugendes Kriterium dieser Art zu liefern. Dennoch ist das beschriebene Vorgehen alles andere als beliebig. Es entspricht keineswegs einem ‚anything goes’. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass die Kritik an normativer Wissenschaftstheorie teilweise berechtigt ist. Sie führt überzeugende Argumente gegen den logischen Empirismus an sowie gegen eine Spielart des Falsifikationismus, die sichere Falsifikationsentscheidungen für möglich hält. Es ist jedoch ein großes Missverständnis, dass der kritische Rationalismus von vielen bis heute mit diesem Falsifikationismus gleichgesetzt wird (ein Missverständnis, zu dem Popper beitrug, indem er wichtige und notwendige Änderungen innerhalb seiner Lehre herunter spielte und als bloße Klärungen ausgab). Jedenfalls wird der kritische Rationalismus, wie er etwa durch Hans Albert (1987), Gunnar Andersson (1988), Ian Jarvie (2001) oder Alan Musgrave (1999) vertreten wird, durch diese Kritik nicht in Frage gestellt. Und geradezu absurd wäre es, diese Kritik als ein Argument gegen normative Wissenschaftstheorie überhaupt zu interpretieren. Dass eine solche Argumentation prinzipiell zum Scheitern verurteilt ist, soll als Nächstes gezeigt werden. 5. Wissenschaftsforschung, die gegen jegliche Rationalitätsprinzipien argumentiert, bestreitet ihren eigenen Erkenntnisanspruch. Wissenschaft setzt Rationalitätsprinzipien voraus, ob sie diese nun thematisiert oder nicht. Indem Wissenschaft ihre Resultate als Erkenntnisse ausgibt, erhebt sie für bestimmte Aussagen einen Wahrheitsanspruch sowie
41 den Anspruch, dass diese Aussagen als geprüft und bewährt gelten können. Dies gilt auch für solche Disziplinen, die sich empirisch-wissenschaftlich mit dem Gegenstand Wissenschaft selbst befassen. Wenn diese z. B. einen soziologischen Forschungsansatz wählen, wird hierbei vorausgesetzt, dass eine bestimmte soziologische Vorgehensweise geeignet ist, die Glaubwürdigkeit der am Ende präsentierten (wissenschaftssoziologischen) Ergebnisse zu rechtfertigen. Wenn nun Resultate der Wissenschaftsforschung zum Anlass genommen werden, jegliche Rationalitätsprinzipien, die von seiten der normativen Wissenschaftstheorie vorgeschlagen werden, für unhaltbar zu erklären, so ergibt sich daraus eine Konsequenz, die für die Wissenschaftsforschung nur als fatal eingestuft werden kann. Zum einen würde mit diesem Schritt den empirischen Wissenschaften insgesamt der Anspruch darauf genommen, dass ihre Ergebnisse einen epistemischen Wert besitzen. Deren Gesetze und empirischen Befunde wären, was die Rechtfertigung ihrer Glaubwürdigkeit angeht, beliebigen Aussagen gleichgestellt, die man etwa durch Raten oder durch ein Zufallsverfahren gewinnen könnte. Zum anderen würde aber auch den Aussagen der Wissenschaftsforschung selbst jeder Anspruch auf Glaubwürdigkeit genommen. Nehmen wir z. B. die These, dass Forscher im Labor ihre Ergebnisse in gewisser Weise aushandeln. Warum sollte man dies akzeptieren? Die einzige denkbare Antwort ist: Weil die Hypothese, dass Forscher so agieren, mit zuverlässigen und geeigneten Methoden überprüft worden ist und gut belegt werden konnte. Dies würde aber bedeuten, dass die betreffende Wissenschaftsforschung doch Rationalitätsprinzipien voraussetzt, nämlich für ihr eigenes Vorgehen. Wenn sie es tut, kann sie kaum überzeugend argumentieren, dass man für die Wissenschaften selbst solche Prinzipien nicht aufstellen und verteidigen könnte. Wenn sie es nicht tut, nimmt sie für ihre Aussagen keine Geltung in Anspruch. In diesem Fall wäre nicht zu sehen, warum wir sie zur Kenntnis nehmen sollten. 6. Normative Wissenschaftstheorie ist notwendig, um den Erkenntnisanspruch der Wissenschaften zu rechtfertigen, und sie kann dazu beitragen, bereichsspezifische methodologische Probleme in den Wissenschaften zu lösen. „Was nützt mir Wissenschaftstheorie, um mein konkretes physikalisches oder psychologisches Problem zu lösen?“ So lautet eine Frage, die trotz
42 ihrer offensichtlichen Unsinnigkeit nicht selten provokativ an Wissenschaftstheoretiker herangetragen wird. Natürlich ist der Beitrag der Wissenschaftstheorie nicht auf dieser Ebene zu suchen. Aber worin besteht er? Kann sie die Wissenschaften unterstützen oder sie kritisieren und verbessern? In diesem letzten Abschnitt möchte ich einige Funktionen der normativen Wissenschaftstheorie aufzeigen. a) In allen empirischen Wissenschaften werden epistemische Bewertungen vorgenommen. Beispiele für entsprechende Urteile (von Wissenschaftlern, nicht von Wissenschaftstheoretikern), die zum Tagesgeschäft gehören, sind etwa: Dieses Argument ist wenig überzeugend. Jene Theorie vermag nicht alle wichtigen empirischen Befunde zu erklären. Theorie T ist hochgradig bewährt. Theorie T1 wird durch die empirischen Resultate besser gestützt als T2. Diese Daten sind mit einem systematischen Messfehler behaftet. Dieser Versuchplan erlaubt nicht die Aussage, dass die Veränderung der unabhängigen Variablen die Ursache der Veränderung der abhängigen Variablen ist. Bewertungen dieser Form gehören zur Praxis der Wissenschaft. Sie machen einen zentralen Teil wissenschaftlicher Tätigkeit aus. Sie werden oft in etwas anderen Worten ausgedrückt, aber sinngemäß finden sie sich in Fachzeitschriften und sind auf Tagungen und Kongressen zu hören. Es ist unverkennbar, dass solchen Urteilen bestimmte Rationalitätsprinzipien zugrunde liegen, von eben der Art, wie sie in der Wissenschaftstheorie explizit diskutiert werden. In den Einzelwissenschaften ist es eher nicht üblich, grundlegende erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Aspekte zu reflektieren und zum Thema von Diskussionen zu machen. Sie haben dort den Status von Konventionen, die als selbstverständlich gelten. Beispielsweise wird die methodologische Annahme, dass Beobachtungen überhaupt dazu geeignet sind, Hypothesen zu prüfen, in der Physik oder Biologie nicht zum Problem erhoben, sondern einfach als Selbstverständlichkeit angesehen, die jeder akzeptiert hat, der empirische Forschung betreibt. Normative Wissenschaftstheorie macht diese Grundlagen explizit. Sie präzisiert die entsprechenden Regeln und methodologischen Hypothesen. Hier und da korrigiert sie auch einzelne methodologische Annahmen, die heute als überholt gelten, sich in manchen Wissenschaftsbereichen aber erhalten haben. (Beispielsweise sind manche Wissenschaftler nach wie vor davon überzeugt, dass theoretische Begriffe operational definiert werden müssen oder dass Theorien induktiv gewonnen werden.) Dadurch gibt sie den Resultaten der empirischen Wissenschaften ihre Rechtfertigung als Erkennt-
43 nis. Sie begründet deren Anspruch darauf, dass ihre Forschungsresultate Aussagen sind, die man vorläufig für wahr halten darf, wenn sie auch nicht als absolut sicher gelten können. Die oben aufgeworfene provokante Frage ist also so zu beantworten: Wissenschaftstheorie löst zwar nicht die konkreten einzelwissenschaftlichen Probleme, aber sie gibt heuristische Prinzipien zu deren Lösung an, und sie begründet, inwiefern eine gefundene Lösung als eine Erkenntnis gelten kann. b) Ein wichtiger Unterschied zwischen einem normativen und einem deskriptiven Zugang zur Wissenschaft besteht darin, dass Ersterer es vorsieht, auch kritisch zu dem Geschehen in den Wissenschaften Stellung zu nehmen. Was dort geschieht, kann rekonstruiert und beschrieben, aber auch der Kritik unterzogen werden. Diese Position wird allerdings von vielen als naiv oder anmaßend empfunden. Wie können Philosophen beurteilen, ob die konkrete Arbeit im Rahmen eines physikalischen oder ökonomischen Forschungsprogramms gut und erfolgversprechend verläuft, oder aber einer Korrektur bedarf? Ich denke in der Tat, dass sie es im Allgemeinen nicht können, sofern sie nicht zugleich auch Experten auf dem betreffenden Gebiet sind. Dies ist nicht die Ebene, auf der normative Wissenschaftstheorie sich sinnvoll engagieren kann. Sie kann nicht und sollte nicht versuchen, die Probleme der Einzelwissenschaften zu lösen. Überzeugender ist es, wenn sie sich die Institutionen vornimmt, die in den Wissenschaften eingerichtet worden sind, wobei ‚Institution’ hier in einem sehr allgemeinen Sinne zu verstehen ist. Es sind Dinge gemeint wie Fachzeitschriften, Kriterien der Annahme und Ablehnung von Manuskripten, die Organisation und Praxis der Begutachtung, Techniken wissenschaftlichen Arbeitens oder Veranstaltungen zur Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern. Solche Institutionen sind dazu da, den Erkenntnisfortschritt in den jeweiligen Disziplinen zu fördern. Und vermutlich dienen sie diesem Zweck auch im Großen und Ganzen, es ist aber die Frage, ob sie es immer tun und ob sie eventuell verbesserungsbedürftig sind. Um zu illustrieren, wie aus wissenschaftstheoretischer Sicht eine Analyse von Institutionen auf ihre Zweckrationalität aussehen kann, seien zwei Beispiele angeführt. Als wissenschaftstheoretische Grundlage wähle ich dabei die Position, dass es für einen Erkenntnisfortschritt günstig ist, Hypothesen der Kritik zu unterziehen. Daraus folgt die Empfehlung, solche Institutionen einzurichten, die Kritik jeglicher Art fördern bzw. sie nicht erschweren.
44 Eine Regelung, die Kritik fördert, besteht beispielsweise darin, bei der Annahme von Manuskripten zur Publikation darauf zu achten, dass bestimmte, im Fach übliche methodische Standards eingehalten werden. In den Bereichen der Humanwissenschaften, in denen Experimente durchgeführt werden, wird verlangt, dass diese Untersuchungen bestimmten Gütekriterien der Versuchplanung genügen, die es z. B. ausschließen, mit nur einer Experimentalgruppe und ohne Kontrollgruppe zu arbeiten. Was aber ist die Funktion der Kontrollgruppe aus wissenschaftstheoretischer Sicht? Sie dient dazu, der unkritischen Annahme einer Kausalhypothese vorzubeugen. Wenn überprüft werden soll, ob A stets B bewirkt, muss durch Kontrolltechniken (wie etwa eine Kontrollgruppe) ausgeschlossen werden, dass B im Experiment durch etwas anderes als A hervorgebracht wird. Und dies bedeutet, dass die Hypothese kritisch geprüft wird: das Experiment soll so eingerichtet werden, dass eine falsche Hypothese nach Möglichkeit nicht bestätigt wird. Hiermit soll nicht gesagt werden, dass die Forderung von standardisierten Methoden immer Vorteile haben muss. Es könnten in einem Fach neue Probleme auftreten und neue Theorien entwickelt werden, die neuartige Untersuchungsverfahren verlangen, und dann wäre es dem Fortschritt nicht dienlich, auf den üblichen, bekannten Methoden zu beharren. Beispielsweise wäre es absurd, die statistische Analyse mit Signifikanztest zu einem Kriterium der Wissenschaftlichkeit von Sozialforschung zu machen und auf diesem Kriterium auch dann zu bestehen, wenn es um ein Problem bzw. eine Theorie geht, deren Untersuchung keine statistische Analyse erfordert. Als Beispiel für die Entdeckung einer hinderlichen Praxis sei Folgendes angeführt. Melton, Herausgeber der renommierten Fachzeitschrift „Journal of Experimental Psychology“, legte vor längerer Zeit dar, nach welchen Kriterien die Annahme von Manuskripten zur Publikation erfolgt. Als Hauptkriterium hob er die statistische Signifikanz hervor, und es wird dabei klar, dass Arbeiten mit signifikanten Resultaten eine größere Chance erhalten, publiziert zu werden, als nicht signifikante (Melton 1962). Nun wird auf dem betrachteten Gebiet aus der Hypothese oder Theorie, die getestet werden soll, so gut wie immer die statistische Alternativhypothese abgeleitet, die der Nullhypothese widerspricht. Ein ‚signifikantes’ Ergebnis ist eines, das es erlaubt, die Nullhypothese zurückzuweisen und die Alternativhypothese zu akzeptieren, ein ‚nicht signifikantes’ ist eines, das es nicht gestattet, die Nullhypothese zurückzuweisen und die Alternativhypothese zu akzeptieren. Signifikante Ergebnisse sind daher solche, die es ges-
45 tatten, die getestete (psychologische) Theorie als bewährt anzusehen. Nicht signifikante sind solche, die dazu geeignet wären, diese Theorie in Frage zu stellen. Melton hielt es also für wissenschaftlich, signifikante, was bedeutet: die Theorie bestätigende, Ergebnisse für die Publikation zu bevorzugen (vgl. Bredenkamp 1972, S. 51 f.). Normative Wissenschaftstheorie kann dazu beitragen, die Institutionen und Praktiken der Wissenschaft auf ihre Zweckrationalität hin zu analysieren (vgl. dazu auch Max Albert 2002). Am erfolgversprechendsten ist es, wenn sie diese Aufgabe gemeinsam mit den Experten des betreffenden Faches angeht. c) Kommen wir nochmals darauf zurück, dass die empirischen Wissenschaften ihre implizit vorausgesetzten Rationalitätsprinzipien gewöhnlich nicht thematisieren. Dies ist zutreffend, jedoch ergänzungsbedürftig. Die Wissenschaften befassen sich in ihrer fachspezifischen Methodenlehre durchaus explizit mit Fragen, die zu den in der Wissenschaftstheorie behandelten Problemen in einem engen (leider viel zu wenig beachteten) Zusammenhang stehen. Es werden dort bereichsspezifische methodologische Fragen eingehend erörtert, und entsprechende Ergebnisse werden in Lehrbüchern präsentiert und in der Ausbildung vermittelt. In besonderem Ausmaß findet man eine solche Auseinandersetzung mit methodologischen Themen in den Human- und Sozialwissenschaften. Einige Beispiele seien angeführt. Es wird dort z. B. gelehrt, dass bestimmte empirische Untersuchungspläne eine Kausalinterpretation der empirischen Resultate erlauben und andere nicht. Es gibt eine Kontroverse über die methodologischen Vorzüge bzw. Nachteile von experimenteller versus Feldforschung. Es wird diskutiert, unter welchen Bedingungen ein empirisches Resultat auf andere Personen bzw. Situationen generalisierbar ist und vieles mehr. (Entsprechende Analysen findet man etwa in folgenden Werken: Cook und Campbell 1979, Herrmann und Tack 1994, Smelser und Baltes 2001.) Es ist unmittelbar einsichtig, dass diese Themen mit wissenschaftstheoretischen Fragen zusammenhängen, z. B. mit dem Problem, welches Verständnis von Kausalität zugrunde gelegt werden soll, und mit dem Induktionsproblem. Gibt es entsprechende Diskussionen auch in der Physik? Die Methodenlehre in den Human- und Sozialwissenschaften ist stark durch Kontroversen gekennzeichnet, etwa durch den Streit über experimentelle versus Feldforschung oder quantitatives versus qualitatives Vorgehen. Für die Physik trifft dies in weit geringerem Maße zu. Der Konsens über die Methoden und das als wissenschaftlich geltende Vorgehen ist deutlich größer. Aller-
46 dings gibt es auch in der Physik Phasen, in denen bereichsspezifische wissenschaftstheoretische Probleme diskutiert wurden. Man denke etwa an die Entstehung der Quantenphysik, deren Begründer sich mit Fragen auseinandersetzten, die unmittelbar mit der Problematik einer realistischen versus instrumentalistischen Auffassung von Theorien zusammen hängen. Ich denke nun, dass die normative Wissenschaftstheorie einen wichtigen Beitrag zu den bereichsspezifischen methodologischen Diskussionen leisten kann. Sie kann behilflich sein, die jeweiligen Probleme zu klären. Sie kann logische Inkonsistenzen ausfindig machen und problematische methodologische Voraussetzungen aufzeigen. Auch hierzu sei ein Beispiel angeführt. Es gibt ein System von Gütekriterien für empirische Untersuchungen, zu denen die ‚externe Validität’ gehört. Diese Lehre wird von Campbell und Stanley (1963) sowie Cook und Campbell (1979) vertreten, und sie findet sich in vielen Lehrbüchern und Methodenausbildungen. Externe Validität meint die Rechtfertigung, einen Untersuchungsbefund auf andere als die untersuchten Personen und Situationen zu generalisieren. Es lässt sich nun erstens zeigen, dass die Forderung nach externer Validität unvereinbar mit anderen methodologischen Annahmen ist, von denen die genannten Autoren ausgehen. Zweitens beruht die Idee der externen Validität auf einer Form des Induktivismus, der für die Zielsetzung der betreffenden Wissenschaften kaum eine geeignete Methodologie darstellen dürfte. (Für Details dieser Argumentation vgl. Gadenne 1976; 1984, Kap. 10.) Normative Wissenschaftstheorie hat sich lange Zeit mit Fragen befasst und nach Regeln gesucht, die alle Wissenschaften bzw. alle empirischen Wissenschaften betreffen. Dabei hat sie vernachlässigt, dass es in den Einzelwissenschaften viele bereichsspezifische methodologische Probleme und Diskussionen gibt. Die Wissenschaftstheorie könnte sich diesen Bereichen stärker widmen und die von ihr entwickelten Analyseverfahren nutzen, um Probleme zu klären und Problemlösungen vergleichend zu bewerten. Allgemeine Wissenschaftstheorie vermag den Erkenntnisanspruch der Wissenschaften zu begründen und ihnen eine Reihe von allgemeinen heuristische Regeln zu liefern. Meines Erachtens sollte Wissenschaftstheorie künftig verstärkt auch als fachspezifische Wissenschaftstheorie, etwa der Soziologie oder Ökonomie, betrieben werden. Wenn sie sich im betreffenden Gebiet kundig macht, kann sie ihre Analysemethoden dazu einsetzen, zur Lösung der gegenstandsbezogenen methodologischen Fragen einen Beitrag zu leisten.
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FELIX MÜHLHÖLZER
Naturalismus und Lebenswelt Plädoyer für eine rein deskriptive Wissenschaftsphilosophie *
To disavow the very core of common sense, to require evidence for that which both the physicist and the man in the street accept as platitudinous, is no laudable perfectionism; it is a pompous confusion, a failure to observe the nice distinction between the baby and the bath water. (Quine 1957, S. 229f.)
1. Deskriptive Wissenschaftsphilosophie Niemand wird bestreiten, daß die Normen, nach denen sich Wissenschaftler bei ihrer Tätigkeit und der Bewertung ihrer Tätigkeit richten, von größter Wichtigkeit für die einzelnen Wissenschaften sind. Trotzdem — oder vielleicht gerade deswegen — sollten sich Philosophen nicht einmischen, wenn die Frage behandelt wird, welche dieser Normen als die 'richtigen', oder die angemessensten, zu gelten haben und wie sie genau formuliert werden sollen. Solch eine Einmischung dürfte, wenn sie ernst genommen würde, kreativer Forschung schaden. Schlichte Klugheit legt nahe, daß Wissenschaftsphilosophie die Autonomie der wissenschaftlichen Praxis achtet und so weit wie möglich deskriptiv bleibt, das heißt, die Wissenschaften, und insbesondere deren normative Praxis, lediglich beschreibend auszuleuchten versucht. Ein solches Klugheitsgebot mag in früheren Zeiten vielleicht noch nicht angebracht gewesen sein. Aber in früheren Zeiten war auch die Trennung zwischen der Philosophie und den Wissenschaften noch nicht so ausgeprägt wie heute, und die ausgereiften Wissenschaften (die ich im folgenden immer vor Augen habe) sind heutzutage in einem Maße durch Spezialistentum geprägt, daß ein Philosoph, als nichtspezialisierter Außenstehender, sich vor Einmischungen hüten sollte. Hier ergeben sich allerdings zwei Schwierigkeiten. Erstens stellt sich die
50 Frage, was alles zur Praxis einer jeweiligen Wissenschaft gehört. Wenn ein Wissenschaftler — etwa ein Gehirnforscher, wenn er über den menschlichen Geist spricht — die Grenzen seines Gebietes überschreitet, darf sich die Philosophie einmischen, und in vielen Fällen sollte sie es auch tun. Damit wird sie aber in der Weise normativ, daß sie nun den Wissenschaftlern sagt: Hier verlaßt ihr die Standards seriöser wissenschaftlicher Praxis und dürft keine Autorität mehr beanspruchen. Eine Kritik dieser Art muß jedoch erlaubt sein, zumindest in denjenigen Fällen wissenschaftlicher Grenzüberschreitung, bei denen Wissenschaftler in das Terrain der Philosophie geraten. Dann gelten eben nicht mehr ihre Normen, sondern diejenigen der Philosophie. Obwohl es, wie man zugeben muß, mit den in der Philosophie geltenden Normen nicht zum besten steht, sollte man sie dennoch nicht den Wissenschaftlern überlassen. Wissenschaftsphilosophie sollte also immerhin in der Weise normativ sein, daß sie sagt, an welcher Stelle die genannte Grenze, und damit der Bereich autonomer wissenschaftlicher Normen, überschritten wurde. Vollkommen 'rein', wie es der Untertitel dieses Aufsatzes suggeriert, wird deskriptive Wissenschaftsphilosophie nicht sein können. Zweitens kann es geschehen, daß eine deskriptiv ausgerichtete Wissenschaftsphilosophie normativ wird, ohne es zu wollen oder zu merken, etwa wenn sie untersucht, in welcher Weise sich Wissenschaft 'der Wahrheit nähert' oder inwieweit sie objektiv ist. Überambitionierte Vorstellungen von Wahrheit oder Objektivität können dann zu negativen Urteilen über Wissenschaft führen — im Extremfall, daß keine Annäherung an die Wahrheit und keine Objektivität vorliegt —, die rein beschreibend daherkommen mögen ("Das haben wir eben über Wissenschaft herausgefunden"), aber in Wirklichkeit auf unangemessenen, eben überambitionierten Normen beruhen. Erstaunlicherweise werden solche Normen häufig auch von den Wissenschaftlern selbst übernommen, oder unterstellt, so daß sie bei ihrer Abwehr der genannten negativen Urteile dazu gebracht werden, nun überambitionierte Vorstellungen von der Leistung und dem Wert wissenschaftlicher Praxis zu entwickeln. In diesem Fall entsteht die Überambitioniertheit durch eine Grenzüberschreitung: Die Wissenschaftler vergessen dabei ihre Praxis, weil sie sich allzu sehr von gewissen philosophischen Vorurteilen bezüglich 'Wahrheit' und 'Objektivität' haben einnehmen lassen. Der zweiten Schwierigkeit kann jedoch dadurch begegnet werden, daß man bei den Beschreibungen wissenschaftlicher Praxis die genannten über-
51 ambitionierten Vorstellungen aus dem Spiel läßt und sich nur auf, wenn man so will, philosophisch neutralem, also unstrittigem Boden bewegt. Damit sollte man auszukommen versuchen!1 Und mit Hilfe dieser abstinenten Haltung sollte dann auch die erste Schwierigkeit — die 'eigentliche' wissenschaftliche Praxis gegenüber anderen Gebieten, insbesondere der Philosophie, abzugrenzen — bewältigt werden können. Der philosophisch neutralen Beschreibung einer wissenschaftlichen Praxis sollte es gelingen, die unstrittigen Charakteristika jener Praxis hinreichend deutlich werden zu lassen, so daß auch entsprechende Grenzüberschreitungen deutlich werden. Damit muß nicht die Suche nach einem allgemeinen und wohlumrissenen Abgrenzungskriterium verbunden sein; angesichts der Vielgestaltigkeit wissenschaftlicher Praxis wäre diese Suche eine Naivität; aber trotzdem sollten sich von Fall zu Fall gute Gründe nennen lassen, um von einer Grenzüberschreitung zu sprechen oder nicht. Ob ein deskriptives Vorgehen dieser Art funktioniert, und wie es funktioniert, und ob es fruchtbar ist, muß die Durchführung zeigen. Keinesfalls sollte man denken, daß — wozu der Ausdruck "deskriptiv" vielleicht verleiten könnte — solch ein Vorgehen naiv sein müsse. In zweierlei Hinsicht wird es dies nicht sein. Erstens können sich die philosophischen Beschreibungen auf unsere Wortverwendungen richten, die wir normalerweise nicht thematisieren. Unser normales Sprechen handelt überwiegend von den nicht-sprachlichen Gegenständen und Geschehnissen der Welt, und wir verwenden dabei unsere Wörter, ohne über die Verwendung selbst zu reflektieren. Beschreibungen jener Verwendungen erfordern, wie man leicht feststellen kann, eine unnatürliche, selbstentfremdende Einstellung, die von Naivität weit entfernt ist. Zweitens wird man als deskriptiv vorgehender Philosoph nicht-deskriptives Philosophieren kritisch — und damit erneut nicht naiv — unter die Lupe nehmen und, falls möglich, zeigen, daß es seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt. Im folgenden werde ich mich auf eine philosophische Kategorie konzentrieren, die, in der einen oder anderen Ausprägung, für deskriptive Wissenschaftsphilosophie von zentraler Bedeutung sein muß: die Kategorie der Lebenswelt. Und ich werde — dies ist der kritische Teil — an repräsentativen Beispielen plausibel zu machen versuchen, daß naturalistische Positionen in der Wissenschaftsphilosophie an ihren Versuchen scheitern, ohne diese Kategorie auszukommen. Unter Naturalismus verstehe ich dabei solche philosophische Einstellungen, die letztlich nur das naturwissenschaftliche Weltbild akzeptieren und auch alle philosophischen Fragen letztlich im
52 Rahmen dieses Weltbildes beantworten wollen. Eine in diesem Sinne naturalistische Wissenschaftsphilosophie wird dort, wo man als rein beschreibender Philosoph auf unser lebensweltliches Vorgehen verweist (etwa beim Testen von Theorien), stattdessen wissenschaftliche Konstruktionen ins Spiel zu bringen versuchen (etwa Theorien über unseren Wahrnehmungsapparat und ähnliches), womit sie sich jedoch charakteristische Probleme einhandelt, zu deren Lösung sich gerade der Lebenswelt-Begriff anbietet. 2. Lebenswelt Mein Motiv zur Verwendung des Wortes "Lebenswelt"2 ist also das Husserlsche: Unsere alltägliche Weltauffassung, oder einen gewissen Kern von ihr, abzugrenzen von der wissenschaftlichen und in ersterer eine Art (allerdings noch zu klärender) Grundlage der letzteren zu sehen, die, in ihrer Rolle als Grundlage, keinesfalls auf letztere reduziert oder durch letztere ersetzt werden kann. Gerade solche Reduktionen oder Ersetzungen sind charakteristisch für Naturalisten, und Husserls Begriff der Lebenswelt ist von vornherein als ein antinaturalistischer konzipiert. Siehe Krisis, S. 48f.: Aber nun ist als höchst wichtig zu beachten eine schon bei Galilei sich vollziehende Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten [also die Welt der exakten Naturwissenschaften, mit der Physik als Leitwissenschaft] für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt — unsere alltägliche Lebenswelt. Diese Unterschiebung hat sich alsbald auf die Nachfolger, auf die Physiker der ganzen nachfolgenden Jahrhunderte vererbt.
Husserls Intention liegt darin, diese Unterschiebung wieder rückgängig zu machen. Die Lebenswelt fungiert bei ihm dann unter anderem "als Evidenzquelle, Bewährungsquelle" (Krisis, S. 129) der Naturwissenschaft, also als empirische Grundlage, durch die wissenschaftliche Theorien ihren empirischen Gehalt erhalten, wobei der Begriff der 'Empirie', der 'Erfahrung', nicht verstanden wird wie im Empirismus Lockescher oder Humescher Prägung, der von der Idee des 'Sinnesdatums' beherrscht ist — einer typisch abgehobenen philosophischen Konstruktion, die sich den Anschein des Vertrauten nur erschleicht —, sondern im Sinne unserer wirklich vertrauten, alltäglichen Verfahren des Prüfens und Bestätigens.3 Wenn Husserl, und Phänomenologen in der Nachfolge Husserls, von 'der Lebenswelt', im Gegensatz zur 'Welt der Naturwissenschaft', reden, legen
53 sie sich allerdings auf eine Sichtweise fest, die ich nicht übernehme: als stünden sich hier nämlich zwei 'verschiedene Welten' gegenüber mit ihren jeweils eigenen, ganz verschiedenen — ja sogar kategorial verschiedenen (vgl. Krisis, S. 142f.) — Gegenständen und Sachverhalten.4 Diese ontologisch aufgeladene und das deskriptive Philosophieren verlassende Ausdrucksweise kann vermieden werden, wenn man sich stattdessen auf die entsprechende unterschiedliche geistige Einstellung konzentriert: eben die lebensweltliche im Gegensatz zur wissenschaftlichen. Wenn ich im folgenden von 'Lebenswelt', 'dem Lebensweltlichen' etc. spreche, soll damit keinesfalls eine eigene Welt 'neben' oder 'vor' der wissenschaftlichen postuliert werden, sondern es geht mir nur um die betreffende geistige Einstellung, die sich ihrerseits in unserem vertrauten alltäglichen Umgang mit den Dingen und unserem vertrauten alltäglichen Reden über die Dinge und Sachverhalte zeigt. Wittgensteinsch gesprochen: Es geht mir um die Verschiedenheit der entsprechenden Sprachspiele, der lebensweltlichen im Gegensatz zu den wissenschaftlichen. Noch viel weniger teile ich Husserls transzendentalen Ansatz, der jene Welten als durch ein transzendentales Ich konstituiert ansieht. Transzendentalphilosophie verläßt die deskriptive Philosophie und erscheint ihr als Verstiegenheit.5 Außerdem hat Husserl seine transzendentalen Pläne nicht wirklich durchgeführt und uns auch keine guten Gründe gegeben, an ihre Durchführbarkeit zu glauben. Zum Glück erweist sich der Begriff der Lebenswelt auch ohne den transzendentalen Ansatz als wertvoll.6 Was ich im folgenden mit dem Lebensweltlichen meine, ist nichts anderes als eine bestimmte sehr elementare und vertraute Art des Handelns, insbesondere auch Urteilens, die sich in einem langen Prozeß herausgebildet hat und die unter anderem dafür maßgeblich ist, wie wir die empirische Adäquatheit einer Theorie beurteilen. Es ist das Handeln, das darin besteht, z.B. diese Tafel "grün" zu nennen, ein bestimmtes Teil eines Meßinstruments einen "Zeiger", und übereinstimmend festzustellen, daß der Zeiger z.B. auf die Zahl 2,3 zeigt. Zu diesem Handeln gehört auch unser elementares Zählen und Rechnen, und es gehört dazu alles, das unser selbstverständliches empirisches Wissen dokumentiert, etwa, um ein prominentes Beispiel zu wählen7, daß wir nicht aus hochgelegenen Fenstern unserer Häuser springen, weil wir wissen, daß dies ungute Folgen hat. Charakteristisch für lebensweltliches Handeln ist, daß es (a) auf keiner Theorie beruht, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt8, daß wir (b) unter normalen Umständen keine Rechtfertigung dafür verlangen und (c) in ihm intersubjektiv übereinstimmen.
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Im folgenden wird vor allem diejenige lebensweltliche Praxis im Vordergrund stehen, die das empirische Testen wissenschaftlicher Theorien betrifft. Sie ist eine wesentliche Facette wissenschaftlicher Objektivität, die man Objektivität 'von unten' nennen könnte: eben von unserem erfahrungsmäßigen Kontakt mit der Welt her, wodurch unsere Theorien ihren empirischen Gehalt bekommen.9 Wenn man sich diesem Kontakt rein deskriptiv nähern will, wird man zwangsläufig auf unsere Lebenswelt verwiesen, in der er sich vollzieht. In der Lebenswelt liegt die eigentliche empirische Basis der Wissenschaft, und es ist zum Verständnis wissenschaftlicher Objektivität wesentlich, diese Rolle der Lebenswelt richtig zu begreifen.10 Eine genauere Charakterisierung des Lebensweltlichen als die soeben gegebene ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht nötig. Solch eine Charakterisierung wäre jedoch eine wichtige Aufgabe — eine Aufgabe, über die, jedenfalls in der Wissenschaftsphilosophie, viel zu wenig nachgedacht wird.11 Was statt dessen häufig getan wird, sieht ganz anders aus: Entweder man versucht, den Bereich des Lebensweltlichen in die Wissenschaft aufzunehmen, wobei man die tiefen Unterschiede zwischen Wissenschaft und Lebenswelt ausblendet; oder man diskreditiert die lebensweltlichen Urteile als 'folk science', die einer unreifen kognitiven Entwicklung angehören. Beides erscheint mir völlig unangemessen. Man sollte vielmehr erkennen, daß das Lebensweltliche die objektivitätsstiftende Basis der Wissenschaften ist, die nicht selbst Wissenschaft ist und zu der auch nicht nachträglich, wenn wir durch Wissenschaft klüger geworden sind, nun doch noch eine tiefere, und vielleicht 'härtere' oder 'exaktere', Basis gefunden werden kann. Auf welche Weise läßt sich dies erkennen? — Zunächst einmal durch reines Beschreiben der Fakten. Faktisch gibt es tiefe Unterschiede zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, und faktisch beruht unsere bislang betriebene Wissenschaft auf der Lebenswelt — und sie ist damit bis jetzt sehr gut gefahren. Man kann die Einzelheiten dieser Fakten sammeln, um sich einen Eindruck von der Kluft zwischen Lebenswelt und Wissenschaft und von der zugleich bestehenden Abhängigkeit der letzteren von ersterer zu verschaffen. Man kann darüber hinaus aber auch ambitionierter sein und untersuchen, ob die lebensweltliche Praxis nicht nur faktisch nicht hintergangen wird, sondern vielleicht mit guten Gründen als unhintergehbar bezeichnet werden darf. Dazu wäre nötig, naturalistische Positionen darauf-
55 hin zu untersuchen, ob sie tatsächlich, wie sie es möchten, ohne einen eigenständigen Bereich des Lebensweltlichen auskommen. Der Verdacht liegt nahe, daß sich das Lebensweltliche, wie ein Stehaufmännchen, nur gewaltsam unterdrücken läßt, während es bei einem intellektuell gewaltfreien Umgang mit der Wirklichkeit immer wieder hochkommt. In diesem Sinne werde ich im folgenden Quines Naturalismus — als ein Paradigma für naturalistische Positionen — untersuchen. Dabei konzentriere ich mich auf zwei Grundpfeiler der Quineschen Philosophie: seine Konzeption des Beobachtungssatzes und seine Auffassung von Gegenstandsbezug. Es wird sich zeigen, daß in beiden Fällen, von Quine letztlich ungewollt, die Lebenswelt als eigenständige, naturalistisch weder reduzier- noch eliminierbare Komponente hervortritt.12 3. Beobachtungssätze Ein Quinescher Beobachtungssatz ist ein Satz, dem wir nur aufgrund bestimmter Reizungen unserer Sinnesrezeptoren zustimmen, bzw. mit Ablehnung begegnen, und bei dem wir weiterhin in unserem Zustimmungsbzw. Ablehnungsverhalten intersubjektiv übereinstimmen.13 Die Reizungen der Sinnesrezeptoren sind Quines naturalistischer Ersatz der Sinnesdaten der Empiristen, das heißt sie repräsentieren 'Beobachtung'; und die genannte Intersubjektivitätsbedingung ist wesentlich für die Objektivität der Wissenschaften.14 Quines Konzeption ist im Hinblick auf ihre pragmatische Komponente sehr realistisch: Sätze, die wir so, wie von Quine beschrieben, gebrauchen, gibt es natürlich. Und ich stimme mit Quine weiterhin darin überein, diese Sätze als überaus wichtig einzuschätzen: Sie sind, wie Quine es nennt, die 'checkpoints of science'15, bei deren Verifikation und Falsifikation wir intersubjektiv übereinstimmen, ohne dabei Theorie heranzuziehen. Solche Sätze müssen von größtem sprachphilosophischen und erkenntnistheoretischen Interesse sein! Allerdings stimme ich nicht überein mit Quines Naturalismus, und zwar, unter anderem, gerade deswegen, weil mir seine Konzeption des Beobachtungssatzes attraktiv erscheint. Diese Konzeption ist nämlich, wie wir sofort sehen werden, mit seinem Naturalismus schwer verträglich. Quine bekommt Schwierigkeiten mit der Intersubjektivität. Seine ursprüngliche Idee der Beobachtungssätze war, bei verschiedenen Personen gleiche Reaktionen auf gleiche Reizungen der Sinnesrezeptoren zu fordern. Bei genauerem Hinschauen erweist es sich jedoch als völlig unklar, worin die Gleichheit der Reizungen der Sinnesrezeptoren bei verschiedenen Per-
56 sonen gesehen werden sollte, da verschiedene Personen eben verschiedene Sinnesrezeptoren haben und auch die Anordnung jener Rezeptoren, wenn man sich wirklich auf die zelluläre Ebene begibt, von Person zu Person sehr verschieden ist. Für einen Naturalisten ist dieses IntersubjektivitätsProblem heikel. Quines Lösung nimmt Zuflucht zu den, wie er es nennt, "externals of communication".16 Er gesteht zu, daß sich — etwa im Urübersetzungs-Szenario — die intersubjektive Übereinstimmung in der Verwendung von "Gavagai" auf Seiten des Eingeborenen und "Da ist ein Hase" auf Seiten des Interpreten nicht über die Sinnesreizungen explizieren läßt, weil diese Sinnesreizungen bei Eingeborenem und Interpreten eben immer verschieden sind. Quine bietet dann als Ersatz deren gelingende Kommunikation an. Genauer schreibt er folgendes: "What is utterly factual [with respect to the intersubjectivity of observation sentences] is just the fluency of conversation and the effectiveness of negotiation".17 Dies ist dann natürlich nicht nur die Lösung im Falle von Eingeborenem und Interpreten, sondern auch im Falle von Leuten, die derselben Sprachgemeinschaft angehören: Auch ihre intersubjektive Übereinstimmung bei Beobachtungssätzen ermißt sich an der "fluency of conversation" und der "effectiveness of negotiation". "Fluency of conversation" und "effectiveness of negotiation" sind jedoch sicherlich keine Kategorien, die zu Quines Naturalismus passen. Quine bemüht zwar die Computermetapher des Geistes, um die Verträglich mit seinem Naturalismus zu suggerieren, und auch die Evolutionstheorie18, aber dabei handelt es sich nur um hand waving. In Quine 1996, S. 160f., wird die Evolutionstheorie ins Spiel gebracht, um unsere intersubjektive Übereinstimmung bei Beobachtungssätzen wissenschaftlich zu erklären; aber worin diese intersubjektive Übereinstimmung besteht, kann Quine weiterhin nur sagen, indem er seine naturalistische Beschreibungsebene verläßt. Außerdem ist zweifelhaft, ob die Evolutionstheorie in der vorliegenden, so weit vom Biologischen entfernten Problemsituation überhaupt auf wissenschaftlich legitime Weise zu Erklärungszwecken verwendet werden darf. Quines Naturalismus stößt hier an eine Grenze (wobei es überwiegend Quine selbst ist, der uns an diese Grenze geführt hat!). Zwar scheint er sie nicht also solche anerkennen zu wollen, aber ein Naturalist, der "fluency of conversation" und "effectiveness of negotiation" als Kategorien seiner Weltbeschreibung anbietet, trägt nun zumindest die Beweislast für seine Position. Quines Beschreibung ist außerdem ungenau. Von "negotiation", also
57 "Verhandlung", kann bei Beobachtungssätzen nur in höchst seltenen Fällen die Rede sein; bei ihnen gibt es normalerweise nichts zu 'verhandeln'. "fluency of conversation" ist das richtige Stichwort, kann aber noch präzisiert werden. Unser Übereinstimmen in Bezug auf Beobachtungssätze ist insofern 'flüssig', als es auf keiner Theorie beruht — es ist ein vortheoretisches — und als unser übereinstimmendes Bejahen oder Verneinen eines Beobachtungssatzes unter normalen Umständen auch keinerlei Rechtfertigung bedarf. Es ist reine Praxis, die sich bewährt hat, der wir mehr oder weniger blind vertrauen und die nicht zur Disposition steht. Anders ausgedrückt: Es ist eine Praxis, die in den Bereich des Lebensweltlichen gehört. Schon in Roots of Reference hat Quine mit der Frage gekämpft, auf welcher Ebene er angesichts der intersubjektiven Verschiedenheit von Sinnesreizungen die intersubjektive Übereinstimmung der Kommunikation ansiedeln solle. Er mußte diese Frage ungelöst stehen lassen, und auch die daraus zu ziehende Lehre ließ er offen: "I shall not pause over the lesson, but there is surely one."19 Ich denke, die Lehre lautet, daß sein Begriff des Beobachtungssatzes seinen natürlichen Platz im Lebensweltlichen hat und nicht im theoretischen Beschreibungssystem der Wissenschaft. Tatsächlich besitzen Quines Beobachtungssätze die zuvor genannten drei charakteristischen Eigenschaften des Lebensweltlichen: (a) vor-theoretisch zu sein; (b) daß sie normalerweise keiner Rechtfertigung bedürfen; (c) daß wir bei ihnen intersubjektiv übereinstimmen. In der Art und Weise, wie Quine in Schwierigkeiten gerät, die intersubjektive Übereinstimmung in sein naturalistisches Weltbild einzufügen, meldet sich die 'Unhintergehbarkeit' des Lebensweltlichen, die ein Naturalist ja gerade bestreiten möchte, nun auch in seiner eigenen Philosophie zu Wort! Quine gerät damit in die fast paradox anmutende Situation, daß ihn seine Bewunderung wissenschaftlicher Objektivität dazu führt, letztlich nur das wissenschaftliche Weltbild anzuerkennen, womit er es sich aber gerade verbaut, jene Objektivität — in Form unserer intersubjektiven Übereinstimmung in Bezug auf Beobachtungssätze — angemessen zu begreifen. Dazu braucht er die Lebenswelt. Innerhalb der Lebenswelt fällt uns jene Intersubjektivität dann quasi in den Schoß, oder genauer: sie befindet sich schon in unserem Schoß, denn wir müssen uns hier nur noch auf unsere üblichen, alltäglichen Standards intersubjektiver Übereinstimmung besinnen. Dies wäre dann eine eigene philosophische Aufgabe, eine, die den Naturalismus verläßt und zugleich rein beschreibend durchgeführt werden kann.
58 Kann man jedoch eine lebensweltliche Konzeption des Beobachtungssatzes wirklich akzeptieren? Führt nicht das Anerkennen der Lebenswelt als 'checkpoint of science', als unhintergehbare Beobachtungsbasis, an der sich die empirische Adäquatheit unserer Theorien ermißt, direkt in den Relativismus? Es könnte so scheinen, als sei diese Basis, und damit die empirische Adäquatheit unserer Theorien, kulturabhängig, wodurch die Objektivität der Wissenschaft, die ja als eine kulturübergreifende gedacht wird, bedroht wäre. — Ich denke jedoch, daß diese Befürchtung nicht allzu ernst genommen werden muß. Tatsächlich gibt es keine überzeugenden Hinweise auf menschliche Kulturen, deren lebensweltliche Praxis nicht als Basis neuzeitlicher Naturwissenschaft dienen könnte. Es scheint faktisch einen kulturinvarianten Kern lebensweltlicher Praxis zu geben, der jene Basisfunktion ausüben kann. Und selbst wenn dies nicht so wäre, müßte immer noch gerade diejenige lebensweltliche Praxis von besonderem Interesse sein, der besagte Funktion zukommt, da uns eben interessieren sollte, in welcher Weise unsere Wissenschaft von jener Praxis abhängt. Es erscheint mir nicht sinnvoll, in den Begriff der Lebenswelt — wie z.B. in Welter 1986, S. 39, vorgeschlagen — die Kulturinvarianz als definitorisches Merkmal aufzunehmen, jedenfalls dann nicht, wenn man, wie in der vorliegenden Untersuchung, wissenschaftsphilosophischen Gebrauch von diesem Begriff machen möchte. Ein weiteres Bedenken gegen eine lebensweltliche Konzeption des Beobachtungssatzes könnte lauten, daß sie die altbekannte Theoriegeladenheit der Beobachtung mißachtet. — Aber dies muß nicht notwendigerweise so sein. Quine hat hier die ausgezeichnete Idee, zwischen einer holophrastischen und einer analytischen Perspektive auf Beobachtungssätze zu unterscheiden (zuletzt in Quine 1996, S. 162f.; besonders prägnant in Quine 1986, S. 428). 'Holophrastisch' gesehen, also im Hinblick auf unser unmittelbares Zustimmungs- und Ablehnungsverhalten gegenüber dem Satz als ganzem, spielt Theorie keine Rolle.20 Erst wenn wir den Satz nachträglich in seine Bestandteile, also seine Wörter, 'analysieren', kann unser mögliches theoretisches Verständnis jener Wörter ins Spiel kommen. Das genannte unmittelbare, nur den Satz als ganzen betreffende Verhalten gehört jedoch der Lebenswelt an und weist keine 'Theoriegeladenheit' auf. Man muß an dieser Stelle allerdings noch weiter gehen als Quine und auch im Falle der einzelnen Wörter eine theoretische Bedeutung von einer lebensweltlichen unterscheiden. Nach Quine haben letztlich alle Wörter theoretischen Charakter; schon das Wort "Hase" im Beobachtungssatz "Dies
59 ist eine Hase" ("That's a rabbit") wird von ihm als vergleichsweise hochtheoretisch angesehen: Theoreticity is at a minimum in the observation sentence 'That's blue', and appreciable in 'That's a rabbit'. It may even be said to invest innate perceptual similarity, for theory is implicit in our innate readiness to integrate varied perspectives into an objective reality. A square on the floor, seen from various angles, projects on the retina now a square and now one and another trapezoid, but all these neural intakes are perceptually similar; we are said to "see the square." (Quine 1996, S. 163)
Dies ist jedoch ein inflationärer Gebrauch des Theoretizitätsbegriffs, mit dem sich Quine von der in den Wissenschaften üblichen Einschätzung von Theoretizität — "Hase" als nicht-theoretisch, "Gen" als theoretisch (um ein repräsentatives Beispiel aus der Biologie zu geben) — weit entfernt. Dieser wirklichkeitsferne, das heißt von der Wirklichkeit wissenschaftlicher Praxis ferne, Gebrauch zeigt sich auch in seiner Auffassung beobachtungskategorischer Sätze ("observation categoricals") — also von Sätzen der Art "Wo Rauch ist, ist auch Feuer", "Wenn die Sonne aufgeht, dann beginnen die Vögel zu singen", etc., welche durch Wenn-dannKonstruktion aus Beobachtungssätzen gebildet werden (siehe Quine 1981, S. 27; 1992, S. 10f.; 1995, S. 25) —, die Quine als "first faltering scientific laws" und jeden einzelnen von ihnen sogar als "a miniature scientific theory that we can test empirically" bezeichnet (beides in Quine 1995, S. 25f.). Da sie ausschließlich aus Beobachtungssätzen gebildet werden, gehören die beobachtungskategorischen Sätze jedoch durchweg ins Lebensweltliche und sind meilenweit von allem 'Theoretisieren', wie man dieses Wort in wissenschaftlichen Kontexten versteht, entfernt. Deskriptive Wissenschaftsphilosophie wird sich stattdessen an der tatsächlichen wissenschaftlichen Praxis orientieren, die es nahelegt, zwischen einem lebensweltlichen und einem wissenschaftlichen Wortverständnis zu unterscheiden. Dies hat Auswirkungen auf unsere Auffassung vom Gegenstandsbezug unserer Wörter — einem Thema, das in Quines Philosophie ebenfalls, wie "Beobachtungssatz", eine zentrale Rolle spielt. Wir werden sehen, daß auch im Hinblick auf dieses Thema Quines Naturalismus an seine Grenzen stößt und auf "Lebenswelt" als unverzichtbare Kategorie verweist.
60 4. Gegenstandsbezug Natürlich ist höchst verständlich, warum sich ein überzeugter Naturalist das in so vielerlei Hinsicht beeindruckende naturwissenschaftliche Weltbild nicht durch einen windelweichen Begriff wie denjenigen der Lebenswelt verderben lassen möchte. Die Lebenswelt ist für ihn letztlich ein Anthropomorphismus, von dem man sich in der Wissenschaft gerade emanzipiert. Der wissenschaftliche Blick belehrt uns, daß die Welt — in der die merkwürdigen Gesetze der Relativitätstheorie und der Quantenphysik herrschen — kein vertrautes Plätzchen ist, und es sollte als Zeichen menschlicher Reife gelten, sich dies einzugestehen. So besehen erscheint es untragbar, dem Lebensweltlichen einen kognitiv wichtigen Stellenwert einräumen zu wollen. Dies erklärt Quines hartnäckiges Festhalten am Naturalismus und natürlich auch den Naturalismus vieler Wissenschaftler. Quine hat dann zusätzlich noch ganz eigene, spezifisch philosophische Argumente, die gegen das Ernstnehmen einer eigenständigen Kategorie des Lebensweltlichen sprechen. Eines seiner wichtigsten ist ein ontologisches: daß die Gegenstände der Lebenswelt zu wünschen übrig lassen, weil ihre Identitätskriterien zu vage sind und weil der Bereich lebensweltlicher Gegenstände nicht wohlumrissen ist. In Quine 1981, S. 9, drückt er dies so aus: The common man's ontology is vague and untidy in two ways. It takes in many purported objects that are vaguely or inadequately defined. But also, what is more significant, it is vague in its scope; we cannot even tell in general which of these vague things to ascribe to a man's ontology at all, which things to count him as assuming. [...] [...] [...] We must recognize [...] that a fenced ontology is just not implicit in ordinary language. The idea of a boundary between being and nonbeing is a philosophical idea, an idea of technical science in a broad sense. Scientists and philosophers seek a comprehensive system of the world, and one that is oriented to reference even more squarely and utterly than ordinary language. Ontological concern is not a correction of a lay thought and practice; it is foreign to the lay culture, though an outgrowth of it.
Quine hat insofern recht: Wenn man sein ontologisches Unternehmen ernst nimmt, sieht die Lebenswelt schlecht aus. Aber warum sollte man es ernst nehmen? Warum sollte man ihm eine nennenswerte kognitive Relevanz zusprechen? Es erscheint eher wie eine philosophische Spielwiese, die sich
61 nicht nur vom 'common man', sondern auch vom Wissenschaftler abkoppelt, der sich in Quines 'technical science in a broad sense' nicht wiedererkennen dürfte. Das Thema "Lebenswelt" sollte, so denke ich, nicht als ein 'ontologisches' behandelt werden, sondern als eines, das eine bestimmte Einstellung zur Wirklichkeit betrifft, die sich in bestimmten Sprachspielen äußert, welche sich von denjenigen der Wissenschaft auf charakteristische und wichtige Weise unterscheiden. Quine dagegen möchte alles, was für Wissenschaft relevant ist, in das wissenschaftliche Sprachspiel integrieren21, womit er jedoch, wie wir gesehen haben, der lebensweltlichen Basis der Wissenschaft nicht gerecht wird. Interessanterweise scheint diese Auffassung, wie ich nun darüber hinaus zeigen möchte, im Hinblick auf den Gegenstandsbezug der wissenschaftlichen Sprache sogar zu Zirkularitäten zu führen, die kaum akzeptabel sein dürften. Das charakteristisch Philosophische an Quines Naturalismus ist die Fixiertheit auf das Ideal einer bestimmten gereinigten Wissenschaftssprache, die gerade nicht die im obigen Zitat genannten Mängel beim Gegenstandsbezug aufweist. Letztlich sollte diese Sprache diejenige der Physik sein — einschließlich Mengenlehre, um die für Physik nötige Mathematik formulieren zu können — , und dies alles im Rahmen der üblichen, sparsamen Logik erster Stufe. Entsprechend22 sähe dann die Ontologie aus: "Our tentative ontology for science, our tentative range of values for the variables of quantification, comes therefore to this: physical objects, classes of them, classes in turn of the elements of this combined domain, and so on up" (Quine 1957, S. 244). Lebensweltliche Gegenstände, wie Stöcke, Steine, Kreidestücke oder Kreidestriche auf der Tafel, wären dann zu verstehen als Konglomerate von Molekülen, die ihrerseits Konglomerate von Elementarteilchen sind.23 Gerade darin besteht Quines Naturalismus: "naturalism: the recognition that it is within science itself, and not in some prior philosophy [auch in keiner, die sich um das Lebensweltliche als etwas Vorgegebenes kümmert (F.M.)], that reality is to be identified and described" (Quine 1981, S. 21). In dieser Weise wird dann auch die Realität sprachlicher Zeichen gesehen. Das Zeichen "α" etwa wird von Quine als die Klasse aller physikalischer Ereignisse des Produzierens von α-Formen (etwa mit Kreide auf der Tafel; oder auch in der entsprechenden Laut-Form) aufgefaßt, und Zeichenreihen dann als Folgen solcher Klassen, wobei der Begriff der Folge mengentheoretisch definiert ist (vgl. Quine 1960, S. 195). So finden sprachliche Zeichen ihren Platz im physikalisch-mengentheoretischen Weltbild. Lebens-
62 weltliches wird nicht gebraucht: "Language and science are rooted in what good scientific language eschews. In Wittgenstein's figure, we climb the ladder and kick it away" (Quine 1992, S. 34f.). Was die nach Quine gute wissenschaftliche Sprache vermeidet, ist also unter anderem das eigenständig Lebensweltliche, das, auch wenn es als Einstieg in die Wissenschaft benötigt wird, am Ende weggestoßen werden kann. Dies betrifft auch sprachliche Zeichen, etwa in Form von Kreidefiguren auf der Tafel: Es handelt sich dabei letztlich, und eigentlich, um nichts anderes als Konglomerate von Elementarteilchen. Entsprechend können wir den Gegenstandsbezug des Wortes "Kreide" wissenschaftlich respektabel erklären, indem wir eben sagen, bei Kreide handle es sich um Konglomerate von Molekülen der Art soundso, die ihrerseits aus diesen und jenen Elementarteilchen bestehen. Quine drückt diese Art der Term-Explikation so aus: "you have explained any term quite adequately if you have shown how all contexts in which you propose to use it can be paraphrased into antecedently intelligible language" (Quine 1981, S. 3). Für einen konsequenten Naturalisten muß jene 'antecendently intelligible language' sicherlich die von ihm gewünschte Sprache der Wissenschaft sein, die von lebensweltlichen Verunreinigungen befreite 'good scientific language' (von der in Quine 1992, S. 34f., die Rede ist), so daß z.B. die gerade genannte Explikation des Wortes "Kreide" herauskommt. Wie aber erklärt man dann, was das Wort "Elementarteilchen" bezeichnet? Hier kann man offensichtlich nicht so vorgehen wie bei "Kreide", und wir müssen uns an eine andere Idee Quines halten, eine, die weniger eine naturalistische, als vielmehr eine empiristische ist. Sie wird in Quine 1968, S. 75, schlagwortartig so ausgedrückt: "all inculcation of meanings of words must rest ultimately on sensory evidence." 'sensory evidence' jedoch ist letztlich nur 'evidence' für Theorien als ganze (dies ist Quines Holismus), so daß sich folgende Sichtweise ergibt24: Structure is what matters to a theory, and not the choice of its objects. F. P. Ramsey urged this point fifty years ago [...] and in a vague way it had been a persistent theme also in Russell's Analysis of Matter. But Ramsey and Russell were talking only of what they called theoretical objects, as opposed to observable objects. I extend the doctrine to objects generally, for I see all objects as theoretical. [...] Even our primordial objects, bodies, are already theoretical — most conspicuously so when we look to their individuation over time. Whether we encounter the same apple the next time around, or only another one like it, is settled if at all by infer-
63 ence from a network of hypotheses that we have internalized little by little in the course of acquiring the non-observational superstructure of our language. [...] The objects, or values of variables, serve merely as indices along the way, and we may permute or supplant them as we please as long as the sentence-tosentence structure is preserved. The scientific system, ontology and all, is a conceptual bridge of our own making, linking sensory stimulation to sensory stimulation. (Quine 1981, S. 20)
Nach dieser Sichtweise wird man, wenn man erklärt, was das in unserer wissenschaftlichen Sprache vorkommende Wort "Elementarteilchen" bezeichnet, auf die Verwendung dieses Wortes innerhalb der relevanten Theorie verwiesen, einer Verwendung, die man zum Beispiel als Physikstudent in Kursen zur Elementarteilchenphysik lernt. Mehr kann man nicht tun, denn 'die Objekte selbst' erschließen sich nur über diese Verwendung. Dann ergibt sich jedoch eine Schwierigkeit. Betrachten wir den genannten Physikstudenten, der eine Vorlesung in Elementarteilchenphysik besucht. Der Physikprofessor bedeckt die Tafel mit Formeln, die die Gesetze angeben, denen die Elementarteilchen gehorchen. Am Ende der Stunde geht der Student zum Professor und fragt ihn: "Aber was sind denn nun die Elementarteilchen? Das heißt, was bezeichnet denn nun das Wort 'Elementarteilchen', das Sie dauernd benutzt haben?" Worauf der Professor erwidert: "Was das Wort 'Elementarteilchen' bezeichnet, können wir nur begreifen über den Symbolismus der Theorie, die ich Ihnen in dieser Vorlesung gerade präsentiere." "Was aber ist dieser Symbolismus? Was verstehen Sie unter 'Symbolismus'?", fragt der Student. Darauf der Professor, der ein erklärter Naturalist ist: "Jener Symbolismus besteht letztlich in nichts anderem als in den Kreidefiguren, die Sie hier auf der Tafel sehen, mit denen nach bestimmten Regeln umgegangen werden muß, nach Regeln, die Sie in meiner Vorlesung gerade lernen sollen." Worauf der Student den Professor daran erinnert, zu Beginn der Vorlesung gesagt zu haben, alle Dinge der Welt seien letztlich nichts anderes als Konglomerate von Elementarteilchen, und daß ein wissenschaftlich aufgeklärter Mensch die Dinge auch so begreifen müsse — was der Professor natürlich bestätigt. "Dann", sagt der Student, "trifft dies doch auch auf die Kreideanhäufungen hier auf der Tafel zu. Sie erklären mir also, was das Wort 'Elementarteilchen' bezeichnet, indem Sie mich auf Kreideanhäufungen auf der Tafel verweisen, von denen Sie dann sagen, sie seien bestimmte Konglomerate von Elementarteilchen. Kann ich denn so begreifen, was das Wort 'Elementarteilchen' bezeichnet?" Daraufhin kennt sich der Professor plötzlich nicht mehr aus.
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Wir sind hier auf einen Zirkel gestoßen, der sich innerhalb der Quineschen Denkweise beim Erklären dessen, was ein Wort bezeichnet, ergibt: Die Erklärung dessen, was "Elementarteilchen" bezeichnet, macht davon Gebrauch, was "Kreide" bezeichnet, was seinerseits davon Gebrauch macht, was "Elementarteilchen" bezeichnet. Dieser Zirkel ist sicherlich unannehmbar. Der Mathematiker Hermann Weyl hat auf ihn in seinem Aufsatz "Wissenschaft als symbolische Konstruktion des Menschen" aus dem Jahr 1948 hingewiesen: Als Wissenschaftler möchten wir versucht sein, so zu argumentieren: "Wie wir wissen", besteht die Kreide auf der Wandtafel aus Molekülen, und diese sind zusammengesetzt aus [...] Elementarteilchen [...]. Aber analysierend, was die theoretische Physik mit solchen Worten meint, haben wir gesehen, daß diese physikalischen Dinge sich auflösen in einen nach Regeln zu handhabenden Symbolismus; die Symbole aber sind letzten Endes wieder konkrete, mit Kreide auf die Tafel geschriebene Zeichen. Sie bemerken den lächerlichen Zirkel. (Weyl 1949, S. 342)
Auch Weyl kann diesen Zirkel natürlich nicht akzeptieren — umso schlimmer, daß er dann auch noch lächerlich ist. Die Aussage, "daß diese physikalischen Dinge sich auflösen in einen nach Regeln zu handhabenden Symbolismus", drückt im wesentlichen Weyls These von der 'Wissenschaft als symbolischer Konstruktion des Menschen' aus, deren Kern von ihm wie folgt beschrieben wird: [I]n der systematischen Theorie sollte man [...] ein Formelgerüst aus bloßen Symbolen hinstellen, ohne zu erklären, was die Symbole für Masse, Ladung, Feldstärke, usw. bedeuten, und nur am Ende beschreiben, wie diese ganze symbolische Struktur mit unserer unmittelbaren Erfahrung verknüpft ist. (Weyl 1949, S. 311) Nur das theoretische System als Ganzes läßt sich mit der Erfahrung konfrontieren. Was die Physik leistet, ist nicht anschauende Einsicht in singuläre oder allgemeine Sachverhalte, sondern theoretische, letzten Endes rein symbolische Konstruktion der Welt. (Weyl 1949, S. 332)
Bei Weyls These von der Wissenschaft als symbolischer Konstruktion handelt es sich also, wie die Zitate zeigen, um nichts anderes als um den Quineschen Holismus, allerdings eingeschränkt auf Grundlagenwissenschaft, während Quine selbst unser gesamtes Überzeugungssystem auf solch holistische Weise sieht.
65 Wie kann man dem Weylschen Zirkel entrinnen? Weyl selbst sieht den folgenden Ausweg, und auch nur ihn: "Wir entrinnen [dem Zirkel] nur, wenn wir die Weise, in der wir im täglichen Leben die Dinge und Menschen, mit ihnen umgehend, verstehen, als ein unreduzierbares Fundament gelten lassen" (Weyl 1949, S. 342). Das heißt, wir sollten die Kreideanhäufungen auf der Tafel des Vorlesungssaals nicht als Konglomerate von Elementarteilchen begreifen, sondern in der Weise, wie wir ihnen lebensweltlich begegnen: als von uns erzeugt mittels Kreidestücken, die wir auf vertraute Weise herstellen und verwenden — auf lebensweltlich vertraute Weise. Weyls Bezugnahme auf das mit Kreide geschriebene Zeichen ist dabei eine Anspielung auf Hilberts Metamathematik, die von Hilbert tatsächlich als von unserem lebensweltlichen Umgang mit Zeichen abhängig gesehen wird!25 Getroffen sind damit aber sämtliche Theoretiker und ihre Zeichenproduktionen; und Weyl weist, wenn nun das Lebensweltliche schon einmal Platz gegriffen hat, ihm auch eine wesentliche Rolle beim Messen der Experimentatoren zu. Unmittelbar anschließend an die vorhin zitierte Passage heißt es bei ihm: "So wie wir in Hilberts formalisierter Mathematik mit den konkreten Zeichen umgehen, so gehen wir in der Physik, wenn wir Messungen anstellen, mit den dazu nötigen Veranstaltungen wie Brettern, Drähten, Schrauben, Zahnrädern, Zeiger und Skala um. Wir bewegen uns hier auf demselben Niveau des Verstehens und Handhabens wie der Tischler oder der Mechaniker in seiner Werkstatt" (Weyl 1949, S. 342). Quines Naturalismus ist also erneut in Schwierigkeiten. Dieses Mal treten sie auf im Kontext des Erklärens dessen, was ein Wort bezeichnet. Quine orientiert sich dabei an der folgenden — wichtigen und richtigen — Einsicht Wittgensteins: Was bezeichnen nun die Wörter [der] Sprache? — Was sie bezeichnen, wie soll ich das zeigen, es sei denn in der Art ihres Gebrauchs? (PU § 10)
Aber Quine schließt dann den lebensweltlichen Gebrauch der Wörter und die lebensweltlichen Weisen des Erklärens, was die Wörter bezeichnen, aus! Häufig, wenn die Wörter etwas Konkretes bezeichnen, bedient man sich im lebensweltlichen Kontext des Hinweisens, des Zeigens auf die betreffenden Gegenstände, aber Quine hält diese Methode, den Gegenstandsbezug unserer Wörter festzulegen, für illusorisch: "We [...] seem to see a profound difference between abstract objects and concrete ones. A physical object, one feels, can be pinned down by pointing — in many
66 cases, anyway, and to a fair degree. But I am persuaded that this contrast is illusory" (Quine 1981, S. 16). Für ihn sind alle Gegenstände, seien es konkrete wie Kreidestücke oder Äpfel, seien es abstrakte wie Zahlen oder Hilberträume, letztlich theoretisch postulierte, und der Gegenstandsbezug der Wörter "Kreidestück", "Apfel", "Zahl", "Hilbertraum" kann letztlich nur über das holistische Bild begriffen werden, das Quine uns in der langen, oben zitierten Passage (Quine 1981, S. 20) präsentiert. Aber genau dadurch gerät er nun — zusammen mit seinem Physikalismus, der Kreide als Konglomerat von Elementarteilchen begreift — in den Weylschen Zirkel.26 Wie schwerwiegend dieses Problem für Quines Position ist, wäre genauer zu untersuchen. Wenn es schwerwiegend ist, gäbe es für Nachfolger Quines erneut, wie schon im Fall der Beobachtungssätze, gute Gründe, dem Lebensweltlichen eine eigene, kognitiv respektable Stellung einzuräumen. (Hilbert und Weyl könnten dabei als Vorbilder dienen.) Quines Position müßte dann an all den Stellen revidiert werden, die einen dogmatischen Szientismus zum Ausdruck bringen, könnte jedoch an den zahlreichen anderen Stellen, in denen sich Quine als Pragmatiker verhält, bestehen bleiben. Genauer: Als Pragmatiker beginnt Quine ja mit unserem lebensweltlichen Verhalten; es erscheint ihm dann allerdings angesichts des naturwissenschaftlichen Weltbildes als zu wenig respektabel, so daß er es hinter sich lassen möchte (die Leiter wird weggestoßen); dabei gerät er aber nun in Schwierigkeiten: die Intersubjektivität der Beobachtungssätze geht verloren, und beim Wort-Erklären tauchen lächerliche Zirkel auf; durch diese Schwierigkeiten belehrt, sollte man nun zurückkehren zum Lebensweltlichen und ihm die Stellung zuerkennen, die ihm gebührt.27 Dies ist ein Rückgang auf die Lebenswelt (auf die 'natürliche Einstellung', Husserlsch gesprochen), nicht hinter sie (was Husserl zusätzlich wollte), und nun kann mit dem Beschreiben der Beziehung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt begonnen werden.
67 LITERATUR UND ANMERKUNGEN Davidson, Donald: 2003, "Quine's Externalism", Grazer Philosophische Studien 66, 281-297. Dilcher, Roman: 2003, "Über das Verhältnis von Lebenswelt und Philosophie", Zeitschrift für philosophische Forschung 57, 373-390. Føllesdal, Dagfinn: 1988, "Husserl on evidence and justification", in Edmund Husserl and the Phenomenological Tradition, hg. v. Robert Sokolowski, The Catholic University of America Press, S. 107-129. Føllesdal, Dagfinn: 1990, "The Lebenswelt in Husserl", Acta Philosophica Fennica 49 (Language, Knowledge, and Intentionality: Perspectives on the Philosophy of Jaakko Hintikka, hg. v. Leila Haaparanta, Martin Kusch u. Ilkka Niiniluoto), S. 123143. Hacker, Peter: 1990, Wittgenstein, Meaning and Mind (An analytical commentary on the Philosophical Investigations, Vol. 3), Blackwell. Husserl, Edmund: 1954, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1954, 1962, 1976 (Husserliana VI); wie üblich abgekürzt als "Krisis". Janich, Peter: 1980, Die Protophysik der Zeit, Suhrkamp. Mittelstraß, Jürgen: 1980, Artikel "Erfahrung" in Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1, hg. v. Jürgen Mittelstraß, Bibliographisches Institut, S. 568571 (siehe auch spätere Auflagen dieser Enzyklopädie im Metzler-Verlag). Mittelstraß, Jürgen: 1991, "Das lebensweltliche Apriori: Paul Lorenzen zum 70. Geburtstag", in Lebenswelt und Wissenschaft, hg. v. Carl Friedrich Gethmann, Bouvier, S. 114-142. Mühlhölzer, Felix: 1981, “Zur Protophysik der Zeit: Eine erneute Kritik”, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XII, 340-352. Mühlhölzer, Felix: 1988, “On Objectivity”, Erkenntnis 28, 185-230. Mühlhölzer, Felix: 1995, "Science without Reference?", Erkenntnis 42, 203-222. Mühlhölzer, Felix: 2001, "Die Debatte um die Objektivität der Wissenschaft", Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, 151-66. Mühlhölzer, Felix: >2003, "Putnam, Wittgenstein and the Objectivity of Mathematics", erscheint in dem Band The Philosophy of Hilary Putnam der Library of Living Philosophers, hg. v. Randall E. Auxier, Open Court. Nozick, Robert: 2001, Invariances: The Structure of the Objective World, Harvard University Press. Quine, Willard Van: 1957, "The Scope and Language of Science", in Quine 1976, S. 228-245. Quine, Willard Van: 1960, Word and Object, MIT Press. Quine, Willard Van: 1965, "Propositional Objects", in Quine 1969, S. 139-160. Quine, Willard Van: 1968, "Epistemology Naturalized", in Quine 1969, S. 69-90. Quine, Willard Van: 1969, Ontological Relativity and Other Essays, Columbia University Press. Quine, Willard Van: 1974, Roots of Reference, Open Court. Quine, Willard Van: 1976, The Ways of Paradox and Other Essays, Revised and
68 Enlarged Edition, Harvard University Press. Quine, Willard Van: 1981, Theories and Things, Harvard University Press. Quine, Willard Van: 1986, "Reply to Hilary Putnam", in The Philosophy of W. V. Quine (The Library of Living Philosophers, Volume XVIII), hg. v. Lewis Edwin Hahn u. Paul Arthur Schilpp, Open Court, S. 427-431. Quine, Willard Van: 1992, Pursuit of Truth, Revised Edition, Harvard University Press. Quine, Willard Van: 1993, "In Praise of Observation Sentences", The Journal of Philosoophy 90, 107-116. Quine, Willard Van: 1995, From Stimulus to Science, Harvard University Press. Quine, Willard Van: 1996, "Progress on Two Fronts", The Journal of Philosoophy 93, 159-163. Sokal, Alan: 1996a, "A physicist experiments with cultural studies", Lingua Franca 6, 62-64. Sokal, Alan: 1996b, "Transgressing the Boundaries: An Afterword", Dissent 43, 9399. Weinberg, Steven: 1993, Der Traum von der Einheit des Universums, C. Bertelsmann. Weinberg, Steven: 1995, "Reductionism Redux", in Weinberg 2001, S. 107-122. Weinberg, Steven: 2001, Facing Up, Harvard University Press. Welter, Rüdiger: 1986, Der Begriff der Lebenswelt, Wilhelm Fink Verlag. Weyl, Hermann: 1946, "Review: The philosophy of Bertrand Russell", The American Mathematical Monthly 208-214 (abgedruckt in Hermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen, Bd. IV, Springer, 1968, S. 599-605; Seitenangaben nach dieser Ausgabe). Weyl, Hermann: 1949, "Wissenschaft als symbolische Konstruktion des Menschen", Eranos-Jahrbuch 1948, S. 375-431 (abgedruckt in Hermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen, Bd. IV, Springer, 1968, S. 289-345; Seitenangaben nach dieser Ausgabe). Wittgenstein, Ludwig: 1976, Wittgenstein's Lectures on the Foundations of Mathematics, Cambridge, 1939, hg. v. Cora Diamond, The Harvester Press; wie üblich abgekürzt als "LFM". Wittgenstein, Ludwig: 1979, Wittgenstein's Lectures, Cambridge 1932-35: From the Notes of Alice Ambrose and Margaret Mcdonald, hg. v. Alice Ambrose, Rowman and Littlefield; wie üblich abgekürzt als "AWL". Wittgenstein, Ludwig: 1989, Philosophische Untersuchungen, in Werkausgabe, Bd. 1, Suhrkamp; wie üblich abgekürzt als "PU".
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Dieser Aufsatz ging aus einem Vortrag hervor, den ich am 30. Mai 2003 unter dem Titel "Wissenschaft und Lebenswelt" auf dem Münchner Symposium Probleme, Resultate und Perspektiven der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie gehalten habe. Seine vorletzte Version konnte ich Anfang Februar 2004 im Rahmen des Göttinger Reflektoriums präsentieren. Ich danke den Teilnehmern beider Veranstaltungen für wertvolle Kommentare. Besonderen Dank schulde ich Andreas Kem-
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merling und Marianne Mühlhölzer für kritische Bemerkungen zu Weyls 'lächerlichem Zirkel' der Naturalisten, die mich zur Präzisierung des betreffenden Arguments gezwungen haben. 1
Genau dieses Vorgehen hat Ludwig Wittgenstein in seiner Spätphilosophie empfohlen. Siehe LFM, S. 22: "I won't say anything which anyone can dispute. Or if anyone does dispute it, I will let that point drop and pass on to say something else." Und PU § 128: "Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen [nämlich in derjenigen Art von Philosophie, die Wittgenstein empfiehlt], es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären." 2
Ich übernehme, wie viele andere auch, diesen Husserlschen Begriff, weil er unwiderstehlich ist, ohne mich dabei auf alle, und vielleicht noch nicht einmal die wichtigsten, seiner spezifisch Husserlschen Charakteristika festzulegen; wobei es sowieso alles andere als klar ist, worin genau jene Charakteristika bestehen. (Das heillose begriffliche Durcheinander — schon bei Husserl selbst und dann nochmals in der Literatur nach Husserl — in der Verwendung des Wortes "Lebenswelt" wird eindrucksvoll ausgebreitet in Welter 1986.) Mein Interesse ist kein philosophiehistorisches, oder gar exegetisches, sondern ein systematisches: im Rahmen einer deskriptiv ausgerichteten Wissenschaftsphilosophie die Beziehung zwischen Wissenschaft und 'dem Lebensweltlichen' angemessen zu begreifen. Dabei verstehe ich schon das Wort "Wissenschaft" völlig anders als Husserl: Ich betrachte die Physik als ein Paradigma und als wesentlichen Zug des wissenschaftlichen Vorgehens die theoretische Konstruktion mit erklärendem Anspruch, jedoch ohne Streben nach letzter Gewißheit. Im folgenden werde ich unter "Wissenschaft" auch nur empirische Wissenschaft verstehen, so daß z.B. Logik und Mathematik herausfallen; sie bedürfen, wie meistens, einer gesonderten Behandlung. Husserl dagegen hat sich mit seinem Wissenschaftsbegriff völlig von der Realität entfernt; für ihn liegt "Ursprung und nie preiszugebende Intention" von Wissenschaft darin, "durch Klärung der letzten Sinnesquellen ein Wissen dessen zu gewinnen, was wirklich und dann in seinem letzten Sinne verstanden ist. Nur ein anderer Ausdruck dafür ist radikal voraussetzungslose und letztbegründete Wissenschaft oder Philosophie" (Krisis, S. 197). Wer wollte heute noch nach so etwas suchen. Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften ist deshalb in Wahrheit auch keine Krisis der Wissenschaften, sondern Krisis einer Art von Philosophie, die sich mit überzogenen Ansprüchen selbst erledigt. Mit seinem Begriff der Lebenswelt hat Husserl jedoch etwas eminent Wichtiges getroffen, das nun im Rahmen einer deskriptiven Philosophie sein eigentliches Potential entfalten sollte. 3
Siehe Mittelstraß 1980 und 1991 über diesen Kontrast zweier gänzlich verschiedener Erfahrungsbegriffe. Mittelstraß weist darauf hin, daß sich der letztere, der lebensweltliche, schon bei Aristoteles findet.
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Zugleich 'gehört' aber nach Husserl die wissenschaftliche Welt auch zur Lebenswelt (Krisis, S. 460). Dieser Redeweise kann meines Erachtens ein sehr guter Sinn gegeben
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werden, aber es würde zu weit führen, hier darauf einzugehen. 5
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die lebensweltliche Einstellung nicht nur von der wissenschaftlichen, sondern auch von der charakteristisch philosophischen zu unterscheiden, die sich durch besonders radikale und weitreichende Ansprüche auszeichnet. Diese Einstellung geht jedoch häufig mit einer — ebenso charakteristischen — zweck- und sinnentleerten Sicht- und Redeweise einher. Wittgenstein drückt dies so aus: "[W]enn wir philosophieren, feiert nicht nur die Sprache [wie es in PU § 38 heißt], sondern auch unser Blick. Denn während ich den Ofen heize, sehe ich ihn anders, als wenn ich beim Philosophieren auf ihn starre — denke ich nicht an den 'visuellen Ofen', das Sinnesdatum, etc." (zitiert in Hacker 1990, S. 142). Solchen philosophischen Feierlichkeiten geben wir uns natürlich auch im Alltag manchmal hin. Sie führen dann zur typischen Alltagsmetaphysik, die ich im folgenden jedoch ausklammern werde, wenn vom Lebensweltlichen die Rede ist. Das Lebensweltliche soll keine Metaphysik enthalten! 6
In welcher Weise und welchem Ausmaß Husserl selbst den Lebenswelt-Begriff in seine Transzendentalphilosophie eingebettet wissen wollte, wird auf erhellende Weise in Welter 1986 und Dilcher 2003 gezeigt. 7
Siehe Sokal 1996a, S. 62-64, und 1996b, S. 93-99, und den Kommentar dazu in Mühlhölzer 2001, S. 154. 8
Vielleicht stehen manchmal 'Alltagstheorien' dahinter, die jedoch nicht den für Wissenschaft charakteristischen Prozeß kritischer Prüfung durchlaufen haben.
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Natürlich ist dieser Aspekt von Objektivität nur für die empirischen Wissenschaften kennzeichnend, von denen der vorliegende Aufsatz ausschließlich handelt. Die Objektivität der Mathematik muß dagegen anders verstanden werden. Bei ihr wird, was ihr an empirischem Gehalt mangelt, durch ihre Notwendigkeit kompensiert. Zwar können wir, daß (zum Beispiel) jeder Vektorraum eine Basis besitzt, nicht durch Erfahrung verifizieren; aber wir können stattdessen einsehen, daß dies so sein muß. Unter anderem darin liegt die charakteristische Objektivität des Mathematischen. Material zum Thema "Objektivität der Mathematik", wenn auch keine wirklich systematische Untersuchung darüber, findet sich in Mühlhölzer >2003.
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Weiterhin gibt es dann noch wissenschaftliche Objektivität 'von oben', nämlich von den ausgefeilten Verfahren der Theorienkonstruktion und Theorienbewertung her, die die Wissenschaft im Laufe ihrer Geschichte entwickelt hat und die das wissenschaftliche Theoretisieren prägen. Darauf werde ich hier nicht eingehen. Andeutungen (aber auch nicht mehr als Andeutungen), wie eine deskriptiv orientierte Wissenschaftsphilosophie mit dieser Objektivität von oben umgehen sollte, finden sich in Mühlhölzer 2001.
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Eine verdienstvolle Ausnahme stellt die Wissenschaftsphilosophie der Erlanger Schule dar. Leiber verdirbt sie die Sache durch ihren Konstruktivismus: Das Lebensweltliche soll nicht nur als empirische Basis dienen, die beim Testen wissenschaftlicher Theorien eine unverzichtbare Rolle spielt, sondern sich entscheidend einmischen in die Begrifflichkeit und die innere Struktur der Theorien. Dieser Anspruch hat sich als uneinlösbar erwiesen, und wieso er dies ist, sieht man auf exemplarische Weise an Peter Janichs Protophysik der Zeit (Janich 1980). Janich stellt an das Funktionieren von Uhren eine Reihe von Forderungen, die sich am Lebensweltlichen orientieren und die genau deswegen wissenschaftlich unbrauchbar sind (siehe dazu meine detaillierte Kritik in Mühlhölzer 1981). Sobald man nämlich, wie es für die Wissenschaft charakteristisch ist, den Bereich des Lebensweltlichen verläßt, tun die realen Uhren einfach nicht mehr das, was Janich von ihnen verlangt. Janich und seine Mitarbeiter müßten alle Uhren, um sie seinen Forderungen anzupassen, permanent kontrollieren und ihren natürlichen Lauf korrigieren — zum Messen mit ihrer Hilfe käme man dann überhaupt nicht mehr. So geht es uns, wenn wir uns, an den Wissenschaften vorbei, philosophisch als Konstrukteure versuchen. Deswegen empfehle ich, auf der deskriptiven Ebene zu bleiben und sich einfach anzuschauen, welche Rolle das Lebensweltliche in der Wissenschaft tatsächlich spielt. 12
Sollte man nicht, viel ambitionierter, gegen den Naturalismus argumentieren wollen, daß die Lebenswelt prinzipiell unhintergehbar ist? — Innerhalb einer deskriptiven Philosophie ist nicht zu sehen, wie solch eine Argumentation aussehen sollte, denn die Philosophie hat weder, wie die Mathematik, Beweise zur Verfügung, um Aussagen über prinzipiell Unmögliches begründen zu können, noch kann sie sich dazu, wie die Physik, auf Naturgesetze berufen. Ihr bliebe nur metaphysische Theoriebildung — aber dies schließt ein rein deskriptiver Ansatz gerade aus. — Wie hat Husserl die Unhintergehbarkeit der Lebenswelt begründet? Nach Føllesdal letztlich damit, daß wir die meisten der lebensweltlichen Überzeugungen niemals überhaupt thematisieren, so daß noch nicht einmal die Frage nach ihrer Unhintergehbarkeit auftaucht (vgl. Føllesdal 1988, S. 129, und 1990, S. 140f.). Sie werden deswegen einfach nicht hintergangen. Aber natürlich kann man fragen, ob sie nicht dennoch hintergangen werden könnten, und dazu ist es nötig, naturalistische Ansätze daraufhin zu untersuchen, wie sie mit der Lebenswelt zu Rande kommen. 13
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Siehe Quine 1992, §§ 2, 15 und 16.
In Quine 1992, S. 5, heißt es sogar: "The requirement of intersubjectivity is what makes science objective", aber dies geht zu weit, da natürlich auch noch andere Objektivitätsforderungen existieren, etwa solche, die Objektivität 'von oben' betreffen (vgl. Fußnote 10). Zum Beispiel hält Quine selbst im Hinblick auf eine ideale Wissenschaftssprache die Elimination indexikalischer Ausdrücke für wünschenswert, und er sieht darin ebenfalls eine Objektivitätsidee am Werk: "Granted then that we can rid science of indicator words, what would be the purpose? A kind of objectivity, to begin with, appropriate to the aims of science: truth becomes invariant with respect to
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speaker and occasion" (Quine 1957, S. 236). Diese wichtige Idee — Objektivität als Invarianz — habe ich in Mühlhölzer 1988 systematisch untersucht, und sie ist von Robert Nozick sogar zum Thema eines ganzen Buches gemacht worden: siehe Nozick 2001. 15
Quine 1992, S. 4f. und 20f.. Vielleicht ist es angemessener, wie in Quine 1995, S. 44f., die beobachtungskategorischen Sätze, die mittels Wenn-dann-Konstruktion aus Beobachtungssätzen gebildet werden (und von denen weiter unten kurz die Rede sein wird), als "checkpoints of science" zu bezeichnen, aber diese Feinheiten der Quineschen Philosophie sind im vorliegenden Kontext irrelevant.
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Siehe Quine 1992, S. 42. — Als naheliegendere Lösung bietet sich die Davidsonsche an (wie sie in vielen Schriften Davidsons beschrieben wird, zuletzt in Davidson 2003), die darin besteht, die sich an der Körperoberfläche des Subjekts ereignenden Sinnesreizungen durch Ereignisse weiter draußen in der Welt zu ersetzen: Anstatt sich z.B. auf die Sinnesreizungen zu konzentrieren, die — etwa im UrübersetzungsSzenario — einen Eingeborenen veranlassen, "Gavagai" zu äußern, und seinen Interpreten "Da ist ein Hase", kann man die entsprechende, den Hasen selbst enthaltende Außenwelt-Situation betrachten, die für den Eingeborenen und seinen Interpreten dieselbe sein kann, im Gegensatz zu den Sinnesreizungen, die bei beiden immer verschieden sind. Quine lehnt diese Lösung jedoch ab, weil er die Identitätskriterien von 'Außenwelt-Situationen' für zu vage hält (vgl. Quine 1992, S. 41-44); und dies sind sie ganz sicher, wenn man streng naturalistische Standards anlegt. 17
Quine 1992, S. 43. — In Quine 1995 findet sich eine, oberflächlich betrachtet, andere Lösung, die davon Gebrauch macht, daß der Interpret die Sprache des Eingeborenen lernt, also bilingual wird: "we can always arrange for a bilingual. The native child acquires complete fluency in his exotic language, and the trained linguist with his varied experience in languages has a head to start the same; so if worst comes to worst, he can become bilingual on his own" (Quine 1995, S. 78). Aber daß der Interpret die Eingeborenensprache gelernt hat, wird sich nun seinerseits an "the fluency of conversation and the effectiveness of negotiation", zu der er mit den Eingeborenen fähig ist, ermessen, so daß sich diese Lösung auf diejenige von Quine 1992 reduziert. 18
"[W]e are dissimilar machines similarly programmed", liest man in Quine 1992, S. 44. Von der Evolutionstheorie ist in Quine 1995, S. 21f., und 1996, S. 161f., die Rede.
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Quine 1974, S. 23. So wie eben beschreibt Quine selbst die Situation rückblickend in Quine 1996, S. 162. Sogar schon in Quine 1965, S. 157, heißt es: "If we construe stimulation patterns my way, we cannot equate [one subject's pattern to another's] without supposing homology of receptors; and this is absurd, not only because full homology is implausible, but because it surely ought not to matter." Auf die Frage, "what ought to matter?", hat er aber auch damals natürlich keine Antwort. 20 "[A]ll observation sentences are holophrastic in their association to stimulation.
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Thus it is that assent to them is immediate" (Quine 1996, S. 163). 21
Vgl. Quine 1992, S. 20: "But when I cite predictions [expressend with the help of observation sentences] as the checkpoints of science, I do not see that as normative. I see it as defining a particular language game, in Wittgenstein's phrase: the game of science, in contrast to other good language games such as fiction and poetry." Aber es gibt auch das vom wissenschaftlichen sehr verschiedene lebensweltliche Sprachspiel, das Quine hier verdrängt.
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Denn: "Ontology recapitulates philology", wie eines der Motti von Quine 1960 lautet.
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Siehe die lehrreiche physikalistische Beschreibung von Kreide in Kap. II von Weinberg 1993, wo auch gezeigt wird, wie die sinnlich wahrnehmbaren, also lebensweltlichen, Eigenschaften von Kreide wissenschaftlich erklärt werden können. Siehe auch Weinberg 1995 für eine prägnante Verteidigung dieser Sichtweise. Natürlich würde sich Quine ihr anschließen: Auch bei ihm ist für makroskopische Gegenstände 'molecular theory' zuständig (siehe etwa Quine 1981, S. 13), und eine Tatsache ist nichts anderes als eine 'distribution of microphysical states' (Quine 1986, S. 429). 24
Der Denkweg dahin wird in Quine 1981, S. 1-20, prägnant beschrieben.
25
Siehe die Darstellung in Weyl 1946, S. 604.
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Indem er alle Gegenstände als theoretische behandelt, gelangt Quine auch zu seiner berüchtigten These von der Unbestimmtheit des Gegenstandsbezugs (vgl. Quine 1981, S. 19f., und 1992, §§ 12, 13 und 20), die er jedoch mit Gleichmut akzeptiert. In Mühlhölzer 1995 habe ich versucht — mit größtmöglicher Empathie, sozusagen —, die Grundlagen dieser These aufzuklären, und am Ende zwei Möglichkeiten genannt, wie sie vielleicht umgangen werden könnte. Mittlerweile denke ich, daß diese Möglichkeiten zwar nicht verfehlt sind, aber doch vom Wesentlichen ablenken. Die entscheidende Quinesche Weichenstellung, die zur Unbestimmtheitsthese führt, liegt in seiner Mißachtung der lebensweltlichen Praxis. Mir scheint, eine Untersuchung der Beziehung zwischen Wissenschaftssprache und jener Praxis sollte die Quinesche Unbestimmtheit weitgehend zum Verschwinden bringen — was allerdings im Detail zu zeigen wäre. 27
Nach Wittgenstein wäre genau dieser Weg des Belehrtwerdens kennzeichnend für gute Philosophie: "Philosophy can be said to consist of three activities: to see the commonsense answer [to a philosophical problem], to get yourself so deeply into the problem that the commonsense answer is unbearable, and to get from that situation back to the commonsense answer" (AWL, S. 109) — wobei ich 'commonsense' mit 'Lebenswelt' gleichgesetzt habe.
GUNNAR ANDERSSON
Kritische oder beschreibende Wissenschaftstheorie? 1. Einleitung: normative und beschreibende Wissenschaftstheorie? Soll die Wissenschaftstheorie die Entwicklung der Wissenschaft und das Verhalten der Wissenschaftler beschreiben? Sind wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftssoziologische Studien der Kern der Wissenschaftstheorie? Oder soll die Wissenschaftstheorie Emfehlungen für die Entwicklung der Wissenschaft und für das Benehmen der Wissenschaftler aufstellen? Soll die Wissenschaftstheorie normativ oder deskriptiv sein? Ein Ziel der Wissenschaftstheorie ist es, die Wissenschaft und ihre Entwicklung korrekt zu verstehen und zu beschreiben. Reicht eine beschreibende Wissenschaftstheorie aus, um dieses Ziel zu erreichen? Ein anderes Ziel der Wissenschaftstheorie ist es, die Entwicklung und den Fortschritt der Wissenschaft zu fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Wissenschaftstheorie einige Forschungsstrategien empfehlen und von anderen abraten: sie muss normativ sein. In der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie gibt es eine weit verbreitete naturalistische Strömung, die versucht, die Wissenschaft mit gewöhnlichen wissenschaftlichen Methoden zu beschreiben. Mit einer naturalistischen Einstellung werden die normativen und empfehlenden Teile der Wissenschaftstheorie problematisch. Vielleicht ist die normative Wissenschaftstheorie nicht nur problematisch, sondern überholt und sogar “ein längst verstorbener Patient” (Gesang 2005)? 2. Der wissenschaftstheoretische Naturalismus ist unkritisch Der Versuch, eine rein deskriptive oder naturalistische Wissenschaftstheorie aufzustellen, ist für positivistisch beeinflusste Wissenschaftstheoretiker verlockend. Für sie kann die Wissenschaftstheorie nur die gewöhnlichen Methoden der Erfahrungswissenschaften und der logischen Analyse benutzen, um die Wissenschaft zu verstehen. Probleme, die durch die “positi-
76 ven” Erfahrungswissenschaften oder die Logik nicht gelöst werden können, gehören nach dieser Auffassung zu den “sinnlosen Scheinproblemen” (Popper 1982, §§ 9 und 10). Mit einer positivistischen Grundeinstellung ist eine normative Wissenschaftstheorie sehr problematisch. Wittgenstein kommt in seiner Spätphilosophie zu einem ähnlichen Resultat. Er sagt dort, dass die Philosophie alles lässt, wie es ist (Wittgenstein 1971, §124). Diese Auffassung hat Paul Feyerabend beeinflusst und erklärt seinen Skeptizismus einer normativen Wissenschaftstheorie gegenüber. Nach Feyerabend soll der Wissenschaftstheoretiker sich darauf konzentrieren, einzelne Episoden der Wissenschaftsgeschichte zu verstehen, wobei einige historisch illustrierte Faustregeln verwendet werden können (vgl. Gesang 2005, 20). Eine normative Wissenschaftstheorie hat also mit dem Positivismus und mit Wittgensteins Spätphilosophie zu kämpfen. Sie wird als überholt und obsolet betrachtet. Doch stößt der Versuch, die Wissenschaftstheorie rein naturalistisch zu betreiben, auf große Schwierigkeiten. Was soll der naturalistische Wissenschaftstheoretiker als ‘Wissenschaft’ bezeichnen und beschreiben? Soll er etwa die Astrologie als wissenschaftlich bezeichnen? Oder ist die Astrologie keine richtige Wissenschaft? Ähnliche Probleme treten bei der Diskussion des Verhältnisses zwischen philosophischer Spekulation und Wissenschaft auf. Die Atomtheorie war ursprünglich ein Teil der spekulativen Naturphilosophie. Wann wurde die Atomtheorie eine wissenschaftliche Theorie? Ein naturalistisches Studium der Wissenschaft setzt voraus, dass eine Grenze zwischen Wissenschaft und Nichtwissensschaft gezogen werden kann. Eine solche Abgrenzung setzt wissenschaftstheoretische Normen voraus, die nicht rein naturalistisch gewonnen werden können. Das gleiche Problem tritt auf, wenn der naturalistische Wissenschaftstheoritiker das Verhalten und Benehmen der Wissenschaftler beschreiben will. Wann benimmt sich eine Person wissenschaftlich? Welche Personen sollen als Wissenschaftler bezeichnet werden? Um eine Grenze zwischen wissenschaftlichem und unwissenschaftlichem Verhalten ziehen zu können, müssen Normen verwendet werden, die nicht rein naturalistisch gewonnen werden können. Viele Versuche sind unternommen worden, die Wissensschaft mit Hilfe der Wissenschaftsgeschichte zu verstehen. Ist es so möglich, die Wissenschaft rein naturalistisch zu verstehen? Die Wissenschaftsgeschichte kann auf verschiedene Arten geschrieben werden, die von philosophischen und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen abhängen. Einige Wissen-
77 schaftshistoriker finden in der Wissenschaftsgeschichte allmählich fortschreitende induktive Verallgemeinerungen, andere eine Folge von Vermutungen und Widerlegungen, noch andere eine Folge von Paradigmen oder Forschungsprogrammen. Ob die Wissenschaftsgeschichte induktivistisch, falsifikationistisch oder anders geschrieben werden soll, kann rein naturalistisch nicht entschieden werden. Eine Antwort setzt wissenschaftstheoretische Bewertungen und Empfehlungen voraus. Für wissenschaftstheoretische Untersuchungen sind normative Bewertungen unentbehrlich. Wenn sie nicht deutlich ausgedrückt sind, werden sie stillschweigend vorausgesetzt, sind schwierig zu kritisieren und werden zu dogmatischen Voraussetzungen. Der reine wissenschaftstheoretische Naturalismus ist unkritisch (Popper 1982, §§ 9 und 10). Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus ist weder rein normativ noch rein deskriptiv. Nach Popper (1982, § 9) sind “methodologische Festsetzungen“ in der Wissenschaftstheorie unentbehrlich. Damit wendet er sich gegen eine rein deskriptive und naturalistische Art, die Wissenschaftstheorie zu betreiben. Der Ausdruck ‚Festsetzung’ klingt konventionalistisch und wurde im Wiener Kreis in den dreissiger Jahren auch so benutzt. Die methodologischen “Festsetzungen“ oder “Regeln“ sind aber nicht ein für allemal festgelegt, sondern können kritisiert werden. In Logik der Forschung kritisiert Popper vor allem die induktivistische Wissenschaftstheorie, in Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (Popper 1979) auch andere wissenschaftstheoretische Positionen. Aus dieser Kritik anderer wissenschaftstheoretischer Positionen wächst die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus empor. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus ist natürlich genau so kritisierbar wie andere wissenschaftstheoretische Positionen. Es handelt sich also im Kritischen Rationalismus nicht um starre methodologische Regeln, Empfehlungen oder Festsetzungen, die dogmatisch behauptet werden. Für einen kritischen Rationalisten ist nicht nur die Wissenschaft sondern auch die Wissenschaftstheorie fehlbar und kritisierbar. In Logik der Forschung (§ 29, Fn. 3) schreibt Popper, dass seine Auffassung einer “kritizistischen“ nähersteht als etwa dem Positivismus. Auf die Frage, welchen Charakter die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus hat, ist die beste Antwort, dass sie weder rein naturalistisch und beschreibend, noch rein normativ und vorschreibend, sondern dass sie kritizistisch ist. Eine solche kritische Wissenschaftstheorie, die über den reinen
78 Naturalismus und den reinen Normativismus hinausgeht, erhebt den Anspruch, die Wissenschaft am besten zu verstehen und zu lenken. Dieser Anspruch ist aber mit Ausgangspunkt von der Wissenschaftsgeschichte in Frage gestellt worden. 3. Die wissenschaftsgeschichtliche Kritik des Falsifikationismus Thomas Kuhn (1976), Imre Lakatos (1974) und Paul Feyerabend (1976) haben die normative Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus mit wissenschaftsgeschichtlichen Argumenten kritisiert. Sie behaupten, dass viele wissensschaftstheoretische Empfehlungen des Kritischen Rationalismus in der Wissenschaftsgeschichte nicht befolgt wurden. An und für sich könnte man daraus schliessen, dass die wissenschaftliche Vernunft in der Geschichte nur unvollkommen realisiert wurde. Die Kritiker des Falsifikationismus sehen das aber anders. Sie behaupten, dass sie mit wissenschaftsgeschichtlichen Argumenten zeigen können, dass viele wissenschaftstheoretische Empfehlungen des Kritischen Rationalismus mangelhaft seien. Thomas Kuhn und Imre Lakatos schlagen andere wissenschaftstheoretische Empfehlungen als die des kritischen Rationalismus vor. Paul Feyerabend bezweifelt, dass allgemeingültige wissenschaftstheoretische Normen und Empfehlungen aufgestellt werden können. In seinem früheren “erkenntnistheoretischen Anarchismus” erkannte Feyerabend (1976, 32) nur eine wissenschaftstheoretische Regel allgemein an, nähmlich: ”Anything goes“. In seiner späteren Wissenschaftstheorie vertritt Feyerabend eine Position, die wissenschaftsgeschichtliche Einzelfälle verstehen will. Dabei kann er grobe wissenschaftstheoretische Faustregeln verwenden, die aber nur unvollkommen dazu geeignet sind, die komplizierte Entwicklung der Wissenschaft zu lenken (Gesang 2005, 20). Diese Position ist ein abgeschwächter erkenntnistheoretischer Relativismus (relativism light). 3.1 Falsifikationen und wissenschaftliche Revolutionen Worin besteht die Diskrepanz zwischen dem Falsifikationismus und der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft? Kuhn (1976) zeigt, dass in der Wissenschaftsgeschichte viele falsifizierte Theorien nicht vollständig aufgegeben, sondern mehr oder weniger geringfügig modifiziert wurden. Falsifikationen, oder Anomalien wie Kuhn sie nennt, müssen nicht zu wissenschaftlichen Revolutionen führen, sondern können durch kleinere Ver-
79 änderungen einer Theorie assimiliert werden. Wenn z. B. die geozentrische Ptolemäische Theorie die Bewegungen eines Planeten nicht korrekt voraussagen konnte, dann wäre eine wissenschaftliche Revolution nicht notwendig, sondern es ist durchaus möglich, dass kleine Änderungen der Ptolemäischen Theorie (etwa kleine Änderungen der Annahmen, wie der Planet sich um die Erde bewegt) dazu führen können, dass Theorie und Beobachtung wieder übereinstimmen. Kuhn fasst diese Forschungsstrategie als die normale auf, während die revolutionäre Strategie, ganz neue Theorien einzuführen, ausserordentlich sei und nur selten und unter ganz bestimmten Bedingungen auftritt. In der normalen Wissenschaft glauben die Forscher an erfolgreiche Theorien, die Paradigmen genannt werden. Um den subjektiven Glauben an das Paradigma zu erschüttern, reichten Falsifikationen (oder Anomalien) nicht aus, sondern erst wenn mehrere Versuche gescheitert sind, eine Falsifikation durch kleine theoretische Modifikationen zu erklären, hörten die Wissenschaftler auf, an das Paradigma zu glauben, und eine wissenschaftliche Revolution wird psychologisch möglich. Unter normalen Umständen aber sei der Glaube an das Paradigma ungebrochen: die Wissenschaftler prüften Theorien nicht streng und versuchten nie Theorien zu widerlegen, sondern strebten danach, unerklärte Fälle mit dem Paradigma zu erklären. Gerade in der Fähigkeit, das vorhandene Paradigma virtuos zu verwenden, zeige sich der Scharfsinn und Begabung eines Wissenschaftlers. Kuhns wissenschaftsgeschichtliche Kritik des Falsifikationismus hat großen Einfluss ausgeübt. Obwohl Imre Lakatos zuerst vom Kritischen Rationalismus stark beeinflusst war, wurde er durch Kuhns Kritik davon überzeugt, dass die Wissenschaftsgeschichte den Falsifikationismus widerlegte. Er glaubte also, dass die wissenschaftstheoretischen Empfehlungen des Kritischen Rationalismus durch Kuhns wissenschaftsgeschichtliche Kritik entschieden geschwächt waren. Lakatos (1974) versuchte danach eine vernünftige normative Wissenschaftstheorie aufzustellen, in der (logische) Falsifikationen keine Rolle mehr spielen. Paul Feyerabend war auch der Auffassung, dass die Normen des Falsifikationismus und die Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte nicht zusammenpassen. Der Falsifikationismus gebe eine unrichtige Beschreibung der Entwicklung der Wissenschaft und könne die zukünftige Entwicklung der Wissenschaft nur behindern (Feyerabend 1976, 249-50). Im Unterschied zu Lakatos versuchte Feyerabend nicht neue und bessere wissenschaftstheoretische Empfehlungen aufzustellen, sondern er war der Auffassung, dass
80 solche Versuche von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren. Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Tatsache, dass Falsifikationen nicht immer zu wissenschaftlichen Revolutionen führen. Die Geschichte der Wissenschaft ist nicht eine Geschichte der permanenten Revolution. Oft führen Falsifikationen nur zu Modifikationen einer Theorie, wobei die Grundannahmen der Theorie beibehalten werden. Ist diese revisionistische oder, wie Kuhn sie nennt, normale Forschungsstrategie mit den wissenschaftstheoretischen Empfehlungen des Kritischen Rationalismus vereinbar? Die Falsifikation ist eine logische Beziehung. Sie zeigt, dass eine Theorie falsch ist, unter Voraussetzung dass gewisse Prüfsätze wahr sind. Sie gibt also gute Gründe für die Vermutung, dass eine geprüfte Theorie falsch ist. Der kritische Rationalismus empfiehlt, dass falsifizierte Theorien von anderen Theorien ersetzt werden sollen, die nicht falsifiziert sind und also wahr sein können. Dagegen empfiehlt der kritische Rationalismus nicht, dass eine falsifizierte Theorie von einer ganz neuen ersetzt werden soll. Der kritische Rationalist ist an Wahrheit interessiert, nicht an wissenschaftlichen Revolutionen als einem Eigenwert. Falls eine nicht falsifizierte Theorie dadurch erreicht werden kann, dass eine falsifizierte Theorie geringfügig modifiziert wird, dann ist das vom Standpunkt des Kritischen Rationalismus völlig legitim. Die modifizierte Theorie kann ja wahr sein. Sind theoretische Modifikationen Beispiele dafür, dass Kritik nicht ernst genommen wird? Die Kritik wird insofern ernst genommen, dass die kritisierte Theorie geändert wird. Deshalb wird die Kritik nicht immunisiert, sondern ein Versuch wird unternommen, aus der Kritik zu lernen. Was aus der Kritik gelernt werden soll, kann im voraus nicht gesagt werden. Der kritische Rationalismus ist keine Methode der Entdeckung. Nach einer Falsifikation sind verschiedene Forschungsstragien möglich, sowohl radikale und revolutionäre wie auch vorsichtige und revisionistische. Welche Forschungsstrategie die richtige ist, kann im voraus und vor empirischer Prüfung nicht gesagt werden. Welche Folgen soll die Falsifikation einer Theorie haben? Popper (1982, Kap. 5) behandelt hauptsächlisch die Falsifikationen einer Einzelhypothese des Typs ‘Alle Raben sind schwarz’. Wie geht die Falsifikation von Theorien zu, die aus vielen Hypothesen bestehen? Um das Problem der Konsequenzen einer Falsifikation diskutieren zu können, muss untersucht werden, ob theoretische Systeme falsifizierbar sind und wie die allgemeine lo-
81 gische Form der Falsifikation eines theoretischen Systems aussieht. Nicht nur einzelne Hypothesen, sondern auch Theorien und theoretische Systeme sind falsifizierbar (Andersson 1988, 2.3). Verschiedene Formen von falsifizierenden logischen Schlüssen sind gültig. Eine interessante Form entsteht, wenn mehrere allgemeine Hypothesen (H1 & … & Hn) und singuläre Randbedingungen (R1 & … & Rm) verwendet werden, um eine Prognose P abzuleiten. Falls die Prognose falsch und die singulären Randbedigungen wahr sind, dann ist das theoretische System falsch, d. h. ¬(H1 & … & Hn) (Andersson 1988, 29, 203-4). Welche Teilhypothesen sind aber falsch? Es ist logisch notwendig, dass zumindest eine der Teilhypothesen falsch ist. Die Falsifikation zeigt aber nicht welche. Wir können nur Vermutungen darüber aufstellen, welche Teile des falsifizierten theoretischen Systems falsch sind. Die Falsifikation eines theoretischen Systems stellt uns vor das Problem, das falsifizierte System durch ein unfalsifiziertes zu ersetzen. Falls z. B. die Ptolemäische Theorie falsifiziert wird, dann ist es möglich, dass eine zentrale Hypothese falsch ist, wie etwa die geozentrische Hypothese. Es ist aber auch möglich, dass eine periphere Hypothese, etwa über einen Epizykel, falsch ist. Es ist natürlich auch möglich, dass sowohl periphere wie zentrale Teilhypothesen falsch sind. Die Falsifikation sagt also nicht, wie falsifizierte theoretische Systeme geändert werden sollen, welche Forschungsstrategie wir verfolgen sollen. Sie sagt nur, dass das falsifizierte theoretische System von einem unfalsifizierten ersetzt werden muss. Kuhns normalwissenschaftliche und extraordinäre Forschungsstrategien sind beide erlaubt, aber ohne Erfolgsgarantien. Es ist nicht vernünftig, nur die normale oder nur die außerordentliche Forschungsstrategie zu verwenden. So ist es z. B. unvernünftig, falsifizierte Theorien immer vollständig zu verwerfen und durch ganz neue zu ersetzen. Durch eine solche Strategie der permanenten Revolution in der Wissenschaft könnten viele Theorien, die nur wenig von der Wahrheit abweichen und die durch kleine Veränderungen wahr werden, verworfen werden. Es ist aber auch unvernünftig, nur die vorsichtige Strategie der kleinen theoretischen Modifikationen zu verwenden. Beide Forschungsstrategien sind unvernünftig und können den Erkenntnisfortschritt behindern, falls sie verabsolutiert werden. Die richtige Einstellung ist es, für verschiedene Forschungsstrategien offen zu sein und weder an erfolgreiche Theorien bedingungslos zu glauben noch sie bei der ersten besten Falsifikation vollständig zu verwerfen. Wenn ein Forscher nach der Falsifikation einer Theorie vermutet, dass eine periphere und wenig spektakuläre Teilhypothese falsch ist und diese Teilhypothese verändert oder ersetzt, dann ist diese For-
82 schungsstrategie nicht dogmatisch und zeigt auch nicht, dass die Falsifikation der Theorie nicht ernst genommen wurde. Die wissenschaftsgeschichtliche Kritik hat zu einer Klärung der methodologischen Empfehlungen des Falsifikationismus geführt: falsifizierte Theorien sollen geändert werden, aber nicht unbedingt vollständig beseitigt werden. 3.2 Fallibilität und Theorienabhängigkeit der Erfahrung Der Falsifikationismus setzt voraus, dass es unproblematische Prüfsätze gibt, mit denen theoretische Systeme verglichen und unter Umständen auch falsifiziert werden können. Wenn ein akzeptierter unproblematischer Prüfsatz einer Prognose eines theoretischen Systems widerspricht, dann ist das System falsifiziert. Nach Popper (1982, § 25) sind Prüfsätze theorienabhängig und fehlbar. Auch Kuhn und Feyerabend betonen die Theorienabhängigkeit und Fehlbarkeit der Prüfsätze. Für Popper hat die Theorienabhängigkeit der Prüfsätze keine relativistischen Folgen. Obwohl Prüfsätze fehlbar sind, können Wissenschaftler sich über unproblematische Prüfsätze einigen und theoretische Systeme mit ihnen prüfen. Kuhn und Feyerabend behaupten, dass Wissenschaftler, die von verschiedenen theoretischen Systemen ausgehen, unterschiedliche Prüfsätze akzeptieren. Z. B. akzeptierten Anhänger der geozentrischen Ptolemäischen Theorie des Sonnensystems andere Prüfsätze als Anhänger der heliozentrischen Kopernikanischen Theorie. Feyerabend gibt mehrere Beispiele dafür. Ptolemäus behauptete, dass ein einfaches physikalisches Experiment die heliozentrische Theorie widerlegte, während Galilei dasselbe Experiment anders deutete und behauptete, dass es in Übereinstimmung mit der heliozentrischen Theorie war. Nach Feyerabend (1976, Kap. 6-7) zeigen diese unterschiedlichen natürlichen Interpretationen des gleichen Experiments, dass eine intersubjektive Einigung über unproblematische Prüfsätze nicht möglich war und dass deshalb die geozentrische und die heliozentrische Theorie inkommensurabel waren. Die Theorien waren nach Feyerabend (1976, Kap. 10-11) auch optisch inkommensurabel: Galilei behauptete, dass Beobachtungen der Planeten mit einem damals neuen Instrument, dem Fernrohr, die Ptolemäische Theorie falsifizierten, während die Anhänger der Ptolemäischen Theorie diese Beobachtungen als unzuverlässig zurückwiesen. Nach Feyerabend zeigen diese Beispiele, dass die Ptolemäische und die Kopernikanische Theorie mit gemeinsam akzeptierten unproblematischen
83 Prüfsätzen nicht verglichen werden konnten. Weil die Anhänger der verschiedenen Theorien unterschiedliche Prüfsätze akzeptierten, konnten sie sich nicht darüber einigen, welche Theorie falsifiziert war und welche sich bewährt hatte. Die Theorien waren inkommensurabel. Nach Kuhn und Feyerabend sind viele wissenschaftliche Theorien inkommensurabel und können nicht rational miteinander verglichen werden. Die Folge davon ist ein geschichtlicher Relativismus. Feyerabend (1976, Kap. 12) versucht zu zeigen, dass die Kopernikanische Theorie sich durchsetzte, weil Galilei und andere Anhänger der Theorie durch Propaganda und Überredung die anderen Wissenschaftler zum Kopernikanismus bekehrten. Nach Feyerabend gibt es keine allgemeingültigen wissenschaftstheoretischen Normen, welche die Kopernikanische Revolution als vernünftig erklären können. Im gleichen Sinne erklärt Kuhn (1976, 130-31), dass es bei politischen und wissenschaftlichen Revolutionen keine übergeordneten Normen gibt, sondern Rhethorik und Propaganda müssen verwendet werden. Welche Konsequenzen haben die Theorienabhängigkeit und die Fallibilität der Prüfsätze? Popper behauptet (1982, § 29), dass Prüfsätze selbst geprüft werden können. Falls einige Prüfsätze problematisch sind, dann können andere und unproblematische Prüfsätze abgeleitet werden. Kann das Inkommensurabilitätsproblem dadurch gelöst werden? Feyerabend behauptet, dass die Ptolemäische und die Kopernikanische Theorie des Sonnensystems dynamisch und optisch inkommensurabel sind. Die dynamische Inkommensurabilität zeigt sich darin, dass das so genannte Turmexperiment nach Ptolemäus die heliozentrische Theorie falsifiziert, nach Galilei in Übereinstimmung mit derselben Theorie ist. Wie können Ptolemäus und Galilei so verschiedene Folgen aus dem gleichen Experiment ziehen? Im Turmexperiment fällt ein Stein frei von der Spitze eines Turmes (vgl. Feyerabend 1976, Kap. 7). Nach der Aristotelischen Physik (und auch nach der modernen Gravitationstheorie) fällt der Stein gegen den Mittelpunkt der Erde. In einer heliozentrischen Theorie des Sonnensystems muss angenommen werden, dass die tägliche Bewegung der Sonne am Himmel scheinbar ist und darauf beruht, dass die Erde sich täglich (um eine durch die Erde gehende Achse) dreht. Diese Teilhypothese der konkurrierenden heliozentrischen Theorie wollte Ptolemäus durch das Turmexperiment falsifizieren, um dadurch seine eigene geozentrische Theorie des Sonnensys-
84 tems zu unterstützen. Falls die Erde sich dreht und ein Stein von der Spitze eines Turmes losgelassen wird, dann fällt der Stein zwar lotrecht gegen den Mittelpunkt der Erde, aber weil die Erdoberfläche sich während der Fallbewegung dreht, trifft der Stein sie weit weg vom Fuss des Turmes. Daraus schloss Ptolemäus, dass der Stein im Turmexperiment schräg fällt, falls die Erde sich bewegt. Er schloss weiter, dass der Stein im Turmexperiment lotrecht fällt, falls die Erde unbeweglich ist. Wie die Erfahrung zeigt, fällt der Stein lotrecht. Deshalb argumentierte Ptolemäus, dass das Turmexperiment seine geozentrische Theorie unterstützt und die konkurrierende heliozentrische Theorie falsifiziert. Für ihn war also das Turmexperiment entscheidend für die Frage, ob die Erde das Zentrum des Kosmos ist oder nicht. Galilei argumentierte anders als Ptolemäus und behauptete, dass das Turmexperiement in Übereinstimmung mit der heliozentrischen Theorie war. Wie ist es möglich, so verschiedene Konsequenzen aus dem gleichen Experiment zu ziehen? Nach Feyerabend beruht dies darauf, dass es verschiedene natürliche Interpretationen des Turmexperiments gab, eine Ptolemäische und eine Galileische. Nehmen wir an, dass die Prüfsätze ‘die Erde bewegt sich’ und ‘die Erde bewegt sich nicht’ natürliche Deutungen des Turmexperiments sind. Nehmen wir weiter an, dass diese sich widersprechenden natürlichen Interpretationen als sich widersprechende Prüfsätze aufgefasst werden können. Dann sind die Ptolemäische und Kopernikanische Theorie des Sonnensystems inkommensurabel. Ist es dann möglich, andere und unproblematische Prüfsätze abzuleiten? Um solche Prüfsätze ableiten zu können, ist es notwendig, physikalische Hilfshypothesen, die vorher stillschweigend vorausgesetzt wurden, explizit zu formulieren. Ptolemäus nahm Aristoteles’ Physik an. Mit dieser Hilfshypothese folgt, dass ein Stein schräg von einem Turm fällt, falls die Erde sich bewegt. Galilei nahm eine neue Trägheitsphysik an. Mit dieser veränderten Hilfshypothese folgt, dass ein Stein gerade fällt, falls die Erde sich bewegt. Die Prüfsätze darüber, wie ein Stein von einem Turm fällt sind unproblematisch. Forscher mit verschiedenen Theorien über das Sonnensystem und mit verschiedenen physikalischen Hilfshypothesen konnten sich darüber einigen, dass ein Stein gerade (lotrecht) von der Spitze eines Turmes fällt. Die Diskussion kann sich auf die problematischen Hilfshypothesen konzentrieren. Damit ist das Inkommensurabilitätsproblem in diesem Fall gelöst: unproblematische Prüfsätze über das Turmexperiment falsifizieren die heliozentrische Theorie unter Voraussetzung der Aristotelischen Physik; sie sind aber in Übereinstimmung
85 mit der heliozentrischen Theorie unter Voraussetzung der Galileischen Physik (vgl. Andersson 1988, 6.4.1; Andersson 1991). Problematisch in der Diskussion um das Turmexperiment sind also die Hilfshypothesen, die verwendet werden, um Konseqenzen aus dem Experiment zu ziehen. In dieser Situation war es nicht, wie Feyerabend behauptet, notwendig, irrationale Methoden zu verwenden, um der heliozentrischen Theorie zum Sieg zu verhelfen. Die alte und die neue Physik konnten kritisch diskutiert und vernünftig miteinander verglichen werden. Die Behauptung, dass die Ptolemäische und die Koperikanische Theorie dynamisch inkommensurabel waren und rational nicht vernünftig diskutiert werden konnten, ist falsch. Sie beruht auf dem Mythos des Rahmens, der behauptet, dass grundlegende theoretische Voraussetzungen nicht diskutiert werden können. Dieser Mythos ist nicht das Resultat von genauen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, sondern von philosophischen Vorurteilen, die zu falschen Deutungen der Wissenschaftsgeschichte geführt haben. Untersuchen wir auch Feyerabends zweites Beispiel, das er verwendet, um die Inkommensurabilitätsthese zu unterstützen! Wenn wir die Planeten, insbesondere die Phasen der Venus, mit Fernrohr beobachten, dann können wir die Ptolemäische Theorie falsifizieren und die Kopernikanische unterstützen. Gewöhnlich werden diese Beobachtungen als entscheidend für die Kopernikanische Theorie aufgefasst. Feyerabend (1976, Kap. 10) aber wendet ein, dass es nicht sicher war, dass die Beobachtungen mit dem Fernrohr zuverlässig waren und dass außerdem die Beobachtungen mit bloßem Auge den Beobachtungen mit Fernrohr widersprachen. Deshalb behauptet Feyerabend, dass die beiden Theorien optisch inkommensurabel waren. Welche Prüfsätze standen zur Diskussion? Galilei behauptete, dass Venus beinahe vollständig beleuchtet ist, wenn sie weit entfernt von der Erde ist (nahe “oberer Konjunktion”), und dass diese Beobachtung die Ptolemäische Theorie falsifiziert. Mit dem bloßen Auge können keine Phasen der Venus beobachtet werden, also kann die Ptolemäische Theorie dadurch nicht falsifiziert werden. Die logische Gültigkeit von Galileis Falsifikation stand nicht zur Diskussion: falls Venus beinahe vollständig beleuchtet sein kann, wenn sie von der Erde beobachtet wird, dann ist die Ptolemäische Theorie falsifiziert. Zur
86 Diskussion stand, ob Galileis Beobachtungen zuverlässig waren, ob Galileis Prüfsätze wahr waren. Ist dies eine Frage, die nur durch Überredung und Propaganda gelöst werden kann, wie die Vertreter der Inkommensurabilitätsthese behaupten? Wir müssen hier zwischen zwei Problemen unterscheiden: (1) Was kann mit dem Fernrohr beobachtet werden? (2) Ist das Fernrohr zuverlässig? Das erste Problem ist empirisch. Es war nicht besonders schwierig, sich darüber zu einigen, dass die Phasen der Venus mit dem Fernrohr tatsächlisch beobachtet werden können, insbesondere dass auch die Phase der beinahe vollständig beleuchteten Venusoberfläche zu sehen ist. Obwohl die ersten Fernrohre unvollkommen waren, war es nur eine Frage der Zeit, ehe eine intersubjektive Einigung darüber erzielt werden konnte, was im Fernrohr gesehen werden kann. Das eigentliche Problem war die Frage, ob das Fernrohr zuverlässig ist. Dies ist ein optisches Problem und konnte erst mit der Entwicklung einer optischen Theorie des Fernrohrs gelöst werden. Für die Diskussion der Inkommensurabilitätsthese ist es wichtig, dass die Diskussion sich um eine theoretische Hilfshypothese drehte. Diese Hypothese kann empirisch geprüft und kritisch diskutiert werden. Nur Wissenschaftstheoretiker, die an den Mythos des Rahmens glauben, sehen hier irrationale Propaganda und quasireligiöse Bekehrungen. 3.3 Methodologische Konsequenzen Bei der Diskussion konkurrierender Theorien ist es möglich, dass zunächst keine Einigung über unproblematische Prüfsätze erzielt werden kann. Das war bei der Kopernikanischen Revolution der Fall. Dies ist aber kein Zeichen dafür, dass die zur Diskussion stehenden Theorien inkommensurabel sind. Statt dessen müssen die sich widersprechenden Prüfsätze als ein Problem betrachtet werden, dass dadurch gelöst werden soll, dass andere und unproblematische Prüfsätze abgeleitet werden. Die Prüfsätze sind ja nicht absolut, sondern sind fehlbar. Sie können wie alle andere Sätze kritisch diskutiert werden. Falls einige Prüfsätze problematisch sind und keine intersubjektive Einigung über sie erzielt wird, dann müssen andere und unproblematische Prüfsätze abgeleitet werden. Es ist nicht notwendig, mit irrationalen methoden wie Propaganda und Überredung anzufangen, sondern die kritische Diskussion kann fortgesetzt werden. Dadurch können andere und unproblematische Prüfsätze gefunden werden. Unter Umständen kann auch herausgefunden werden, welche stillschweigend gemachten theoretischen Annahmen problematisch waren. Die Theorienabhängigkeit
87 und Fallibilität der Prüfsätze führen also nicht dazu, dass konkurrierende Theorien inkommensurabel sind, sondern dazu, dass die kritische Diskussion fortgesetzt werden muss. 4. Lügen allgemeine wissenschaftliche Hypothesen? Nancy Cartwright kritisiert den Kritischen Rationalismus nicht mit wissenschaftsgeschichtlichen Beispielen, sondern ihre Kritik ist philosophisch und allgemein. Sie behauptet, dass alle naturwissenschaftlichen Gesetze Ausnahmen haben und deshalb “lügen” und für empirische Einzelfälle inadäquat sind (Gesang 2005 21-22). Wenn ihre Kritik richtig sein sollte, dann wäre eine falsifikationistsiche Wissenschaftstheorie wenig interessant. Als Beispiel führt Cartwright das Gravitationsgesetz an. Sie behauptet, dass das Gesetz nicht allgemein gilt, sondern nur für geschlossene Systeme und unter künstlich erzielten experimentellen Bedingungen. Das Gravitationsgesetz behauptet, dass unter bestimmten Bedingungen bestimmte Gravitationskräfte wirken. Das Gravitationsgesetz schließt nicht aus, dass gleichzeitig auch andere Kräfte, zum Beispiel elektrische oder magnetische, wirken können. Falls solche andersartigen Kräfte vorhanden sind, ist dadurch das Gravitationsgesetzt nicht falsifiziert und es lügt auch nicht. Dagegen ist die Beschreibung des Experiments unvollständig: nicht nur die Gravitationskräfte wirken, sondern auch andere. Die Berechnung der Gravitationskräfte kann durchaus richtig sein. Es ist ein weiteres Problem zu berechnen, welche anderen Kräfte vorhanden sind und wie sie mit den Gravitationskräften zusammenwirken. Wenn mehrere Kräfte gleichzeitig auf einen Körper wirken, muss ihr Zusammenwirken berechnet werden, um eine zuverlässige Prognose über die Bewegung des Körpers ableiten zu können. Nehmen wir an, dass Gravitationskräfte und magnetische Kräfte gleichzeitig auf einen Körper wirken. Dann müssen Hypothesen über beide Arten von Kräften verwendet werden. In einem solchen Experiment wird ein theoretisches System mit mehreren Hypothesen überprüft. Die Einzelhypothesen sind nicht falsch; sie müssen aber alle berücksichtigt werden. Mehrere Kräfte können gleichzeitig wirken. Daraus folgt nicht, dass Hypothesen oder theoretische Systeme nicht überprüft werden können, auch nicht dass sie “lügen”. Es folgt nur, dass mehrere Hypothesen und mehrere singuläre Randbedingungen not-
88 wendig sind, um korrekte Prognosen abzuleiten. Obwohl viele konkrete Experimente komplex sind, ist es in den meisten Fällen möglich, die relevanten Hypothesen und Randbedingungen zu berücksichtigen. Das oben diskutierte Turmexperiment ist ein Beispiel dafür. Um richtig voraussagen zu können, wie ein Stein von der Spitze des Turmes fällt, muss nicht nur die Gravitiation zwischen Erde und Stein berücksichtigt werden, sondern auch die Trägheit des Steins. Wenn die Erde sich dreht und nur die Gravitation des Steines berücksichtigt wird, dann kann der Fall des Steins nicht richtig vorausgesagt werden. Die Ursache ist nicht, dass die Erde sich nicht dreht, wie Ptolemäus glaubte. Die Ursache ist auch nicht, dass das Gravitationsgesetz “lügt“, wie Cartwright glaubt. Die Ursache ist, dass man nicht alle relevanten konkreten und partikulären Umstände berücksichtigt hat, im Turmexperiment speziell die Trägheit des Steines. Die Komplexität des Konkreten kann mit komplexen theoretischen Systemen bewältigt werden. Die Wissenschaftsgeschichte und die wissenschaftliche Praxis bieten unzählige Beispiele dafür. 5. Kritische Wissenschaftstheorie Eine rein deskriptive Wissenschaftstheorie ist unkritisch, wie oben argumentiert wurde. Die normative Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus kann auf verschiedene Arten kritisiert werden. Kuhn und Feyerabend versuchen mit wissenschaftsgeschichtlichen Beispielen zu zeigen, dass die wissenschaftstheoretischen Emfehlungen des Kritischen Rationalismus unrealistisch sind. Cartwright versucht mit allgemeinen wissenschaftstheoretischen Argumenten zu zeigen, dass allgemeine wissenschaftliche Gesetze “lügen“, d. h. falsch sind. In der Diskussion dieser Kritik oben wurde gezeit, dass nicht nur einzelne Hypothesen sondern auch theoretische Systeme kritisch diskutiert, empirisch geprüft und unter Umständen auch falsifiziert werden können. Dadurch kann Kuhns Kritik begegnet werden, dass falsifizierte Theorien nicht vollständig beseitigt werden. Es kann auch gezeigt werden, dass Cartwrights Kritik unrichtig ist, dass allgemeine wissenschaftliche Hypothesen oft “lügen“. Weiter wurde gezeigt, dass die Theorienabhängigkeit und die Fallibilität der Prüfsätze nicht dazu führen, dass viele konkurrierende Theorien inkommensurabel sind. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus hat normative Elemente, wie jede Wissenschaftstheorie, die kritisch sein will. Sie ist aber
89 nicht rein normativ und spricht nicht ohne Rücksicht auf faktische Umstände wissenschaftstheoretische Empfehlungen a priori aus. Keine fruchtbare Wissenschaftstheorie oder Erkenntnistheorie kann so betrieben werden (vgl. Albert 1987). Die wissenschaftstheoretischen Empfehlungen des Kritischen Rationalismus sollen zum Erkenntnisfortschritt beitragen. Deshalb müssen verschiedene faktische Umstände und auch die Logik als ein “Organon der Kritik“ berücksichtigt werden. Wie jede interessante Wissenschaftstheorie muss die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus normative, deskriptive und logische Elemente beinhalten und einen gemischten Charakter haben. Die interessante Frage ist deshalb nicht, ob die Wissenschaftstheorie normativ oder deskriptiv sein soll, sondern welche kritische Wissenschaftstheorie mit normativen und deskriptiven Elementen am besten geeignet ist, die Entwicklung der Wissenschaft zu verstehen und zu lenken. Die Diskussion oben zeigt, dass die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus von der Wissenschaftsgeschichte oder von Cartwrights “Partikularismus“ nichts zu befürchten hat. Im Gegenteil, die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaft kann mit dem Kritischen Rationalismus besser verstanden werden als mit Kuhns und Feyerabends geschichtlichem Relativismus; komplexe experimentelle Situationen zeigen nicht, dass allgemeine Hypothesen “lügen“, sondern dass ihr Zusammenwirken berücksichtigt werden muss. Die kritische Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus ist keinesfalls ein todkranker oder gar längst verstorbener Patienten, sondern erfreut sich bester Gesundheit.
LITERATUR Albert, Hans. 1987. Kritik der reinen Erkenntnislehre: Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Andersson, Gunnar. 1988. Kritik und Wissenschaftsgeschichte: Kuhns, Lakatos’ und Feyerabends Kritik des Kritischen Rationalismus. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). ________. 1991. The tower experiment and the copernican revolution. International Studies in the Philosophy of Science 5, no. 2: 143-52. Feyerabend, Paul K. 1976. Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gesang, Bernward. 2005. Normative Wissenschaftstheorie — ein längst verstorbener Patient? In diesem Band.
90 Kuhn, Thomas S. 1976. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lakatos, Imre. 1974. Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme. In Kritik und Erkenntnisfortschritt, Hg. Imre Lakatos and Alan Musgrave, 89-189. Braunschweig: Vieweg. Popper, Karl R. 1979. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). ________. 1982. Logik der Forschung. 7. Aufl., Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Wittgenstein, Ludwig. 1971. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
BRIGITTE FALKENBURG
Der Wert wertfreier Wissenschaft Wissenschaftstheorie ist metatheoretische Reflexion der wissenschaftlichen Theoriebildung und Praxis. Versteht sie sich deskriptiv, so will sie von außen erfassen, wie man in den empirischen Wissenschaften vorgeht und was dabei herauskommt, etwa welche Bedeutung die Inhalte empirisch bewährter Theorien haben. Versteht sie sich normativ, so gibt sie wissenschaftsexterne Ideale vor, an denen sie die internen Ziele, Methoden und Ergebnisse der Forschung bemißt. Beide Ansätze laufen Gefahr, die Wissenschaften selbst kraß zu verfehlen. Physiker, Biologen, Hirnforscher oder Ökonomen können provokativ sagen (und diese Reaktion ist gar nicht so selten): Im ersten Fall läuft die Wissenschaftstheorie der Forschung hinterher; im zweiten Fall will sie ihr Vorschriften machen; in beiden Fällen versteht sie längst nicht so viel von der Forschung wie die Forscher selbst. Wozu also Wissenschaftstheorie; und wozu die Frage, ob sie deskriptiv oder normativ ist oder sein soll? Wer die Wissenschaften ernst nimmt, tut also gut daran, die eben genannte Frage auf die Wissenschaften selbst und deren ureigenste epistemische Anliegen zu beziehen. Die Reflexion der Ziele, Methoden und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung ist ja den Wissenschaften selbst nicht fremd; metatheoretisches Nachdenken über Wissenschaft hat in der Wissenschaft eine große Tradition. Sie reicht von Galileis Dialog und Newtons regulae philosophandi bis zu Hilberts Metamathematik oder zur Bohr-EinsteinDebatte. Bei den großen wissenschaftlichen Revolutionen ging es immer wieder darum, die theoretischen Fundamente einer Disziplin tieferzulegen und erneut zu befestigen. Dies gilt für die Sozialwissenschaften nicht weniger als für die Naturwissenschaft und Mathematik, wie man gerade von Max Weber lernen kann, dessen Wissenschaftslehre erst die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Ansätzen etablierte. Jede Wissenschaft bedarf als solche grundsätzlicher metatheoretischer Überlegungen. Natürlich halten die einzelnen Disziplinen vielfältige eigene Kriterien für die Theorienbildung und den Erkenntnisfortschritt bereit. Sind diese Kriterien auch philosophischer Natur, so bedarf ihre Festlegung und Anwen-
92 dung doch nicht unbedingt der Wissenschaftstheorie als einer eigenständigen Disziplin. Die modernen Wissenschaftler sind wie zu Galileis oder Newtons Zeiten meistens selbst ihre besten Wissenschaftstheoretiker, wobei sie sich allerdings gerne von Philosophen anregen lassen. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen untersuche ich im folgenden mit einem deskriptiven Ansatz, welche Normen die Wissenschaften selbst – und unter ihnen paradigmatisch: die neuzeitliche Physik – aufstellen und einzulösen versuchen. Vorweg sei schon angemerkt, daß es sich dabei primär um epistemische Normen handelt, die vor aller Anwendungsbezogenheit stehen. Maßgeblich für ihre Einschätzung ist dabei primär das wissenschaftsinterne Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnis. Da erkenntnistheoretische Reflexion in der heutigen Wissenschaftslandschaft recht unterbelichtet ist, spanne ich einen weiten Bogen – er reicht von (I) den Erkenntnisidealen der Physik Galileis über (II) Max Webers Plädoyer für die Wertfreiheit der Wissenschaft und (III) den Wert der Wissenschaft in dunklen Zeiten bis hin zur (IV) heutigen Alternative von Naturalismus und Relativismus und – endlich – (V) zur Frage nach deskriptiver oder normativer Wissenschaftstheorie. 1. Die Erkenntnisideale der neuzeitlichen Physik Die wissenschaftliche Revolution, die zum kopernikanischen Weltbild und zur neuzeitlichen Physik führte, stand unter einer strikten normativen Vorgabe: Sie galt der Naturerkenntnis bzw. der Erkenntnis von Wahrheit über die Natur. Das heliozentrische System nur als eine Hypothese neben anderen gelten zu lassen und es als Instrument für astronomische Berechnungen zu betrachten, wie es die Kirche forderte, war Galilei nicht genug. Er verweigerte hartnäckig den unproblematischen Instrumentalismus und trat für die Wahrheit des Kopernikanischen Weltsystems ein, bis ihm der Prozeß gemacht wurde. Sein Wahrheitsstreben hatte allerdings auch erkenntnistheoretisch gesehen seinen Preis. Das kopernikanische System stand im Konflikt mit der aristotelischen Sicht des Kosmos; es verstieß gegen den unmittelbaren Augenschein und berief sich auf mathematische Einsichten, die nur wenigen Gelehrten der platonistisch-pythagoräischen Tradition zugänglich waren. Galilei hatte nicht nur scholastische Dogmen gegen sich, sondern auch den gesunden Menschenverstand. Gegen ihn bot er eine weitere strikte epistemische Norm auf: die Forderung der Einheit unseres Denkens, die in logischer Konsistenz und begrifflicher Kohärenz besteht. Seine berühmten Gedankenexperimente zum freien Fall sollten zeigen, daß sich das Ringen um Wahrheit schon um der Stimmigkeit und Tragfähigkeit
93 unserer Überzeugungen willen lohnt. Im Dialog sollten sie demonstrieren, daß der common sense seiner aristotelischen Zeitgenossen auf inkohärenten, unplausiblen Voraussetzungen beruhte. Seine Gedankenexperimente kamen jedoch sowenig gegen die Vorbehalte der Aristoteliker an wie die Beobachtung der Jupitermonde mit dem Fernrohr. Der Fall Galilei zeigt exemplarisch, womit die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit in der neuzeitlichen Naturerkenntnis verknüpft ist: 1. Sie setzt auf Ideale, die später die Vertreter des Rationalismus und der Aufklärung ins Zentrum ihres Denkens gerückt haben – auf die Autonomie des Denkens; auf Wahrheit; auf logische und begriffliche Einheit. 2. Sie macht Gebrauch von mathematischen Methoden, die nicht in aristotelischer, sondern in pythagoräischer Tradition stehen – nach Galilei ist das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben und muß mühsam entziffert werden. 3. Dabei dringt sie mittels der experimentellen Methode hinter den unmittelbaren Augenschein vor – ein Experiment zerlegt einen Naturvorgang in kontrollierbare Komponenten, die man reproduzieren, systematisch variieren und mathematisch beschreiben kann. Die mathematischen und experimentellen Methoden der neuzeitlichen Physik führen fort vom Alltagsverständnis der Wirklichkeit, von der üblichen qualitativen Erfahrung des Geschehens um uns herum und von der natürlichen Sprache, in der wir unsere Erfahrungen sonst ausdrücken. Galileis mathematisches Buch der Natur liegt nicht einfach aufgeschlagen vor uns. Wir müssen es großteils zunächst mit technischen Hilfsmitteln in die Phänomene hineinschreiben, bevor wir daran gehen können, seine mathematischen Lettern zu entziffern. Die experimentelle Methode ist für die gesamte neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik konstitutiv. Sie zielt darauf, bestimmte Teilaspekte natürlicher Phänomene zu isolieren, die man unter möglichst idealen Bedingungen analysiert. Jedes Experiment ist darauf angelegt, regularisierte und reproduzierbare Phänomene herzustellen und sie auf kontrollierbare Weise zu variieren. Um dies zu erreichen, muß man schon theoretisches Vorwissen oder wenigstens spezifische Vermutungen darüber haben, aus welchen Komponenten sich die Naturerscheinungen zusammensetzen und wie diese Komponenten zusammenwirken. Jedes Experiment soll komplexe Naturvorgänge in isolierte Teilvorgänge zerlegen, die man dann systematisch untersucht, um aus ihnen numerische Meßwerte und funktionale Zusammenhänge für physikalische Größen zu ermitteln.1 Die Wahrheit der neu-
94 zeitlichen Naturwissenschaft liegt also ganz und gar nicht auf der Hand. Sie muß den Phänomenen mühsam abgerungen werden – gegen die Beschränktheit unserer Sinneswahrnehmung, gegen die Abhängigkeit von unserem Standpunkt im Universum und gegen überlieferte Meinungen. Die normativen Vorgaben dieses Ringens um Wahrheit verknüpften sich bei den großen Naturforschern immer engstens mit einer Korrespondenzauffassung der Wahrheit sowie mit der philosophischen Position eines wissenschaftlichen Realismus. Galilei und Newton, Maxwell und Boltzmann, Planck und Einstein verbanden ihr Wissenschaftsverständnis darüberhinaus mit einer atomistischen Materieauffassung. Sie alle sahen das Ziel der naturwissenschaftlichen Forschung letztlich in der Erkenntnis einer Wirklichkeit, die vom menschlichen Denken und Handeln unabhängig ist und die unseren vielfältigen Sinneserscheinungen als einheitliche, mathematisch beschreibbare Struktur zugrunde liegt. Wer diese Kernüberzeugung aller Spielarten eines wissenschaftlichen Realismus nicht teilte, wie insbesondere um 1900 der empiristische Philosoph und antiatomistische Physiker Mach, brachte umgekehrt selbst keine bahnbrechenden Leistungen in der Physik zustande – wenn der Einfluß seiner Erkenntnistheorie auch später für Einstein und Bohr hilfreich war, als sie sich aufgrund von experimentellen Anomalien und theoretischen Inkohärenzen von der klassischen Mechanik bzw. Elektrodynamik und deren metaphysischen Voraussetzungen abkehrten.2 Planck grenzte sich in seinem Vortrag Die Einheit des physikalischen Weltbildes von 1908 scharf gegen Machs empiristische und phänomenalistische Sicht der Physik ab. Nach seiner Auffassung zielt die Herausbildung physikalischer Begriffe darauf, unser Naturverständnis zunehmend von anthropomorphen Konzepten zu befreien. So emanzipierte man sich bei der Entwicklung des Kraftbegriffs der klassischen Mechanik von der Vorstellung der körperlichen Kraft, die wir aufwenden müssen, um Arbeit zu leisten, etwa wenn wir einen Gegenstand heben wollen.3 In der zunehmenden Entfernung der physikalischen Theorienbildung von der unmittelbaren Sinneserfahrung sieht er anders als Mach weniger einen Verlust als einen Gewinn, der “unschätzbare Vorteile” mit sich bringt.4 Diese Vorteile liegen in einer zunehmenden Einheit des physikalischen Weltbilds. Damit meint Planck viel mehr als eine Denkökonomie im Machschen Sinne,5 die nur darauf zielt, die Phänomene mit möglichst sparsamen theoretischen Mitteln zu beschreiben; er hebt hervor, daß die Vereinheitlichung der Theorienbildung zum physikalischen Universalismus führt. Die begriffliche Einheit einer umfassenden Theorie, die auf wenigen Prinzipien beruht und
95 von den spezifischen Umständen, unter denen wir Naturerscheinungen wahrnehmen, möglichst frei ist, macht die Ergebnisse der physikalischen Forschung unabhängig von Ort und Zeit, von der Individualität des Forschers, von Nation und Kultur.6 Nach Planck ist ein einheitliches Weltbild der von Mach geforderten Anpassung unserer Theorien an die Tatsachen7 unendlich überlegen, denn der physikalische Universalismus befreit unsere Erkenntnis von den Zufälligkeiten des menschlichen Daseins und führt sie zu einer konstanten Wirklichkeit, die hinter den variablen und vielfältigen Sinneserscheinungen steht: Das konstante einheitliche Weltbild ist aber gerade, wie ich zu zeigen versucht habe, das feste Ziel, dem sich die wirkliche Naturwissenschaft in allen ihren Wandlungen fortwährend annähert ... ... Dieses Konstante, von jeder menschlichen, überhaupt von jeder intellektuellen Individualität Unabhängige ist nun eben das, was wir das Reale nennen.8
Der hier skizzierte Gegensatz zwischen Plancks wissenschaftlichem Realismus und Machs empiristischer oder auch Duhems instrumentalistischer Position9 kam nicht erst an der Schwelle des 20. Jahrhunderts auf. Er ist charakteristisch für die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung, die schon immer um den Wirklichkeitsbezug der neuzeitlichen Physik geführt wurde – seit Galileis oben erwähntem Kampf für das kopernikanische Weltbild. Das Neue an Galileis “neuer” Wissenschaft war ja gerade, daß sie anders als die erfahrungsnahe und intuitive aristotelische Physik die Naturvorgänge mittels der experimentellen Methode auf die Anwendungsbedingungen mathematischer Gesetzmäßigkeiten zuschnitt; und daß sie optische Instrumente wie das Fernrohr in die Astronomie einführte, um vorhandene Beobachtungsdaten zu präzisieren und neuartige Beobachtungen zu machen. Dies rief den Einwand der Aristotelianer auf den Plan, Geräte wie das Fernrohr und mechanische Experimente dienten nicht der Naturbeobachtung, sondern der Herstellung künstlicher Phänomene mit technischen Methoden; sie betrachteten Technik grundsätzlich als Hilfsmittel zur Überlistung der Natur und nicht zur Naturerkenntnis. Einwände dieses Typs finden sich noch in den modernen wissenschaftstheoretischen Debatten um die realistische oder instrumentalistische Deutung naturwissenschaftlicher Theorienbildung wieder – ich möchte hier nur an Eddington erinnern, der lange vor allen neueren Spielarten des Konstruktivismus in provokativer Absicht die Frage aufwarf, ob das Experiment die Natur nicht ins Prokrustes-Bett spannt.10 Die neuzeitliche Physik ist natürlich gerade deshalb so erfolgreich geworden, weil sie mathematische Methoden mit dem experimentellen Eingriff ins Naturgeschehen kombiniert. Sie steht immer schon zwischen Theorie
96 und Technik, zwischen Erkennen und Eingreifen, zwischen dem Wert der Naturerkenntnis als einem Bestandteil der menschlichen Kultur und der Verwertbarkeit von Forschungsresultaten für beliebige Zwecke. Die Experimentalphysik benutzt heute Präzisionstechnik, um buchstäblich ins Innerste der Natur zu dringen. Sie klärt den Materieaufbau in der Atom-, Kern- und Teilchenphysik durch Streuexperimente immer höherer Energien auf; sie analysiert die kosmische Strahlung, die aus großer raumzeitlicher Entfernung kommt, mit immer kunstvolleren, großflächig angeordneten Teilchendetektoren; sie fahndet mit Präzisionsinstrumenten, die noch gegen die kleinste irdische Erschütterung abgeschirmt werden müssen, nach Gravitationswellen. All dies ist Grundlagenforschung; aber bei jedem solchen Experiment geht die Naturerkenntnis mit dem technischen Zugriff auf die untersuchten Naturvorgänge einher. Vom Standpunkt einer deskriptiven Wissenschaftstheorie ist insgesamt zu konstatieren: Die neuzeitliche Physik wurde und wird bis heute von ihren bedeutendsten Vertretern im Sinne althergebrachter Erkenntnisideale betrieben. Bei aller technischen Verwertbarkeit ist sie eine Wissenschaft, die auf reine Naturerkenntnis zielt. Als epistemische Normen sind das Streben nach Wahrheit und Einheit der Naturerkenntnis in sie eingebaut. Nichtepistemische Normen, die darauf zielen, die naturwissenschaftliche Forschung auf wissenschaftsexterne Zwecke wie technische Anwendbarkeit oder ökonomische Verwertbarkeit auszurichten, sind diesen Erkenntnisidealen zutiefst fremd. Reine Naturerkenntnis galt von Galilei und Newton bis Planck und Einstein als ein Selbstzweck, dem jedes Anwendungsinteresse untergeordnet bleibt. Eine normative Wissenschaftstheorie, die von außerhalb andere Richtlinien als Wahrheit und Einheit der Erkenntnis vorgibt, gerät also mit den ureigensten epistemischen Anliegen der neuzeitlichen Naturwissenschaft in Konflikt. Inwieweit es jedoch den Naturwissenschaften gelingt, diese Erkenntnisideale tatsächlich einzulösen, d.h. wie weit es die Naturwissenschaften bei der Naturerkenntnis bringen, ist natürlich eine andere Frage. Aus wissenschaftsinterner Sicht sind Wahrheit und Einheit der theoretischen Erkenntnis jedenfalls die obersten regulativen Prinzipien der Forschung, wobei ersteres sich mit einem korrespondenztheoretischen wissenschaftlichen Realismus verbindet und letzteres die Ideale der logischen Konsistenz und begrifflichen Kohärenz impliziert. Ziel ist dabei letzten Endes der Aufstieg zu einer höheren, idealen Wirklichkeit. Anklänge an Platons berühmtes Höhlengleichnis sind beabsichtigt.
97 2. Wertfreiheit als Wissenschaftsideal Im Verlauf des 19. Jahrhunderts breiteten sich die oben skizzierten Erkenntnisideale der neuzeitlichen Naturerkenntnis in viele andere Disziplinen aus. Nicht nur Chemie und Biologie traten in die Fußstapfen der Physik, sondern – dank Adam Smith und David Ricardo, Auguste Comte und Max Weber – auch die Ökonomik und Soziologie. Genauer gesagt: Alle empirischen Wissenschaften, die Gebrauch von mathematischen oder experimentellen Methoden machten, übernahmen zugleich mit diesen Methoden die epistemische Norm der Wahrheit und strebten konzeptuelle Einheitlichkeit an. Darüberhinaus übernahmen sie bestimmte Modellvorstellungen der Newtonschen Mechanik als der erfolgreichsten physikalischen Theorie. Vor allem die klassische und neoklassische Ökonomik wurde durch mechanistisches Denken geprägt.11 Weniger stringent wurde das Einheitsideal der Physik übertragen, soweit es das axiomatische Vorgehen und den Allgemeinheitsanspruch theoretischer Beschreibungen betrifft. Hieran Abstriche zu machen, war man angesichts der Komplexität sozialwissenschaftlicher Gegenstände natürlich bereit. Im Gegenzug zur Ökonomik und Soziologie, die ihre Methoden und ihre Gegenstände zunächst nach dem Vorbild der neuzeitlichen Physik modellierten, entwickelten sich während des 19. Jahrhunderts die Sprach- und Geschichtswissenschaften, für die dies klarerweise nicht gelang. In der Philosophie kam Ende des 19. Jahrhunderts der Historismus auf, der dem positivistischen Wissenschaftsglauben und den naturalistischen Tendenzen der Zeit unversöhnlich gegenüber stand. Um den Charakter der historischen Disziplinen zu klären und die Grenzen der naturwissenschaftlichen Theorienbildung zu bestimmen, also in wissenschaftstheoretischer Absicht, brachte der Neukantianismus die Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften auf. Windelband präzisierte sie, indem er mittels der Etiketten “nomothetisch” und “idiographisch” einen scharfen methodologischen Gegensatz zwischen beiderlei Disziplinen markierte.12 Dabei wird den Sozialwissenschaften keines dieser beiden Etiketten völlig gerecht: 1.
Nomothetische Disziplinen wie die Physik stellen allgemeine Gesetze auf, die primär für Klassen gleichartiger Phänomene gelten und erst sekundär auf individuelle Ereignisse aus diesen Klassen Anwendung finden. Der Gesetzesbegriff zielt gerade darauf, generelle Aussagen über Phänomene eines bestimmten Typs zu machen. Physikalische Gesetze generalisieren über verschiedene Typen von Bewegungen mechanischer Körper, Lichtausbreitung, Wärmeaustausch, elektromagnetischen Vor-
98 gängen usw. Üblicherweise haben die Gesetze der Physik die mathematische Form von Differentialgleichungen, die zeitabhängige Prozesse quantitativ beschreiben. 2.
Dagegen beschreiben idiographische Disziplinen wie die Geschichte individuelle Geschehnisse, die sich gerade nicht unter allgemeine Gesetze subsumieren lassen. Historische Ereignisse und Prozesse sind singulär, d.h. sie ereignen sich auf einzigartige Weise in einem einzigartigen historischen Kontext.
3.
In bezug auf diese Unterscheidung haben die Sozialwissenschaften offenbar eine unklare Mittelstellung. Einerseits nehmen sie Generalisierungen vor, die auf den mathematischen Methoden der Bevölkerungsstatistik beruhen. Dabei gehen sie klarerweise nomothetisch vor. Andererseits beziehen sie sich auf singuläre sozioökonomische Prozesse, die in einem spezifischen gesellschaftlichen Umfeld auf historisch einzigartige Weise ablaufen, wie etwa die Entstehung des Kapitalismus und die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts in England. Von ihren Gegenständen her sind sie klarerweise idiographisch. Wie sich beides miteinander vertragen soll, ist prima facie unklar.
In Reaktion auf den damaligen Methodenstreit in der Nationalökonomie bemühte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Max Weber darum, den Status der Sozialwissenschaften zwischen den nomothetischen und idiographischen Disziplinen klären.13 Dabei knüpfte er vor allem an Rickerts Bestimmung der Grenzen naturwissenschaftlicher Begriffsbildung und an und griff dessen Konzeption der Wertbeziehung auf, um sich gegen den Historismus und den Positivismus gleichermaßen abzugrenzen.14 Er trat ganz entschieden dafür ein, daß die Sozialwissenschaften intern grundsätzlich so aufgebaut sind wie die Naturwissenschaften – anders als diese jedoch sind sie auf Werte bezogen. Sozialwissenschaft ist Wissenschaft von menschlichen Werten. Um zu klären, was dies heißt, bringt er die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Ansätzen auf folgende Weise ins Spiel: In ihrem Aufbau und methodologischen Vorgehen, also intern und als Wissenschaft, ist eine Sozialwissenschaft deskriptiv. Als soziale Disziplin ist sie jedoch zugleich auf Normen bezogen. Diese sind ihr extern vorgegeben und machen ihren Gegenstand aus. Nach Weber gehören die Sozialwissenschaften also auf die Seite der Naturwissenschaften, insofern sie den epistemischen Idealen einer wertneutralen Theorienbildung unterliegen und auf deskriptive Wirklichkeitserfassung zielen.15 In dieser Hinsicht sind sie nomothetisch, und sie übernehmen die neuzeitlichen Erkenntnisideale der Wahrheit und Einheit, die
99 engstens mit dem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff verknüpft sind. Die Auffassung, daß es Naturgesetze gibt, geht in der Physik einher mit dem Standpunkt eines wissenschaftlichen Realismus, wie ihn Planck oder Einstein vertraten, und mit einer Korrespondenzauffassung der Wahrheit. Physikalische Erkenntnis ist aus dieser Sicht nichts anderes als die deskriptive Erfassung der quantitativen und qualitativen Aspekte von gesetzmäßigen Veränderungen in der Natur; dabei wird angenommen, daß innerhalb und außerhalb des Experimentierlabors dieselben Naturgesetze gelten. Das epistemische Ideal der Wahrheit fordert, adäquate Gesetze für bestimmte Klassen von Veränderungen aufzustellen. Das epistemische Ideal der Einheit wiederum fordert, diese Gesetze in umfassende axiomatische Theorien einzubetten.16 Max Weber wehrte sich in seinen Aufsätzen zur Wissenschaftslehre gegen die Auffassung, die Sozialwissenschaften unterlägen nicht diesen Idealen der Theorienbildung, weil sie zu den Kulturwissenschaften zählen und mithin idiographische Disziplinen sind. Er wollte die epistemischen Ideale einer nomothetischen Wissenschaft für idiographische Disziplinen wie die Ökonomik und Soziologie wahren. Hierfür entwickelte er sein berühmtes Konzept der idealtypischen Erklärungen. Dieses gestattet es, singuläre historische Prozesse unter idealen Bedingungen als quasi-gesetzmäßige Vorgänge zu modellieren – d.h. als Prozesse, die zwar singulär sind, aber unter den gegebenen historischen Bedingungen so verlaufen mußten, wie sie faktisch verliefen; oder: die durch ihren historischen Kontext quasi determiniert sind.17 Der idealtypische Erklärungsansatz erlaubte es ihm, deskriptive Modelle für einzigartige sozioökonomische Prozesse zu entwickeln, wie etwa sein berühmtes Modell für die Entstehung des Kapitalismus unter den Bedingungen der protestantischen Ethik.18 Webers idealtypische Erklärungen sind darauf angelegt, in sozialwissenschaftliche Theorien eingebettet werden zu können, die den deskriptiven Charakter und den wenn schon nicht axiomatischen, so doch begrifflich stringenten Aufbau einer Wissenschaft wahren. Er grenzte den rein deskriptiven, oder: theoretischen, Charakter der Sozialwissenschaften gegen die Werttheorie als Teil der praktischen Philosophie oder Ethik ab und argumentierte dafür, daß Nationalökonomie und Soziologie wertfrei betrieben werden.19 Sein Plädoyer für die Wertfreiheit der Sozialwissenschaft steht und fällt mit der Unterscheidung von deskriptiven und normativen Ansätzen. Theoretische Disziplinen wie die Physik sind deskriptiv und abgesehen von epistemischen Idealen wie Wahrheit und Einheit wertfrei. Praktische Disziplinen wie die Ethik sind dagegen normativ, d.h. auf
100 Zweck-Mittel-Relationen ausgerichtet. Die Sozialwissenschaften wiederum haben Werte zum Gegenstand, die sie wertfrei erforschen und deskriptiv erfassen. Webers zentrales Anliegen war, die idiographischen Disziplinen Ökonomik und Soziologie, die einzigartige historische Prozesse zum Gegenstand haben, zu theoretischen, der Erkenntnis dienenden Disziplinen zu machen. Dem Vorbild der Naturwissenschaften gemäß wollte er sie als deskriptive, quasi-nomothetische Wissenschaften begründen und aufbauen. Aus seiner Sicht dürfen normative Vorgaben nicht versteckt in die begrifflichen Grundlagen einer sozialwissenschaftlichen Theorie hineingeschmuggelt werden; sie nicht explizit zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, wäre dem deskriptiven Charakter einer Wissenschaft zutiefst fremd. Dabei machen für ihn letztlich die epistemischen Ideale der neuzeitlichen Naturerkenntnis das Wesen von Wissenschaft aus. Wissenschaftsexterne Werte, insbesondere moralisch-praktische Zwecke oder Sinnfragen, bestimmen nicht den Gang, sondern höchstens den Gegenstand einer Wissenschaft. Nicht-epistemischen Werten, Zwecken und Sinnfragen kommt danach in der Ökonomik oder der Soziologie so wenig eine methodologische Funktion zu wie in der Physik. Auf die Thematik deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie? bezogen, läßt sich Max Webers Plädoyer für die Wertfreiheit der Wissenschaft wie folgt einordnen. Weber erhebt in seinen Aufsätzen zur Wissenschaftslehre die Deskriptivität der Wissenschaft zur Norm. Indem er dies tut, vertritt er offenbar eine normative Wissenschaftstheorie, die sich auf die traditionellen epistemischen Ideale Wahrheit und konzeptuelle Einheit der neuzeitlichen Naturerkenntnis beruft. Dies tut er wohlgemerkt als Nationalökonom und Begründer der modernen Soziologie, und das heißt: gerade nicht von außen als Wissenschaftstheoretiker der Sozialwissenschaften seiner Zeit. Sein Plädoyer für die Wertfreiheit der Wissenschaften ist Bestandteil innerwissenschaftlicher metaheoretischer Überlegungen, die der Begründung der Soziologie als einer Wissenschaft dienen. Das Wertfreiheits-Postulat hat sozusagen ähnliche Funktion wie die regulae philosophandi zu Beginn des III. Buchs von Newtons Principia – es soll die Suche nach den wahren Ursachen der Phänomene absichern. Eine deskriptiv aufgefaßte Sozialwissenschaft kann solche Ursachen in Form von idealtypischen Erklärungen angeben. Die zu erklärenden Wirkungen sind dabei soziale Werte, etwa die der protestantischen Ethik. In einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich Max Webers Wissenschaftsauffassung jedoch gravierend von derjenigen der Physik Galileis,
101 Newtons und Plancks. Obwohl sie sich gegen den Positivismus und Naturalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bleibt sie in einer Hinsicht dem herrschenden positivistischen Zeitgeist anstelle der aufklärerischen Ideale des 17.Jahrhunderts verhaftet. Weber verstand das Eintreten für eine deskriptive Wissenschaft nicht primär als Kampf für eine Wahrheit, die sich weder äußeren Normen noch Autoritäten beugt und die, indem sie unbeirrbar für ihre epistemischen Ideale einsteht, zugleich in Gesinnung und Handeln ein ethisches Ideal verkörpert. Ziel der Naturerkenntnis ist bei Galilei wie bei Planck letzten Endes der Aufstieg zu einer höheren, idealen Wirklichkeit. Dies ist ganz und gar im Sinne der Bildungstheorie zu verstehen, die Platon mit seinem berühmten Höhlengleichnis versinnbildlicht. Das blendende Licht, in das die Gefangenen gelangen, wenn sie von den Fesseln befreit werden und den mühsamen Aufstieg aus der Höhle machen, steht für die platonischen Ideen. Die geistige Verwandtschaft der physikalischen Erkenntnisliebe mit dem Aufstieg zu Platons Ideen ist kein Zufall. Die Begründung der Physik durch Galilei und Newton steht ja in der Tradition des Platonismus; sie richtete sich gegen das aristotelische Weltbild und gegen dessen Orientierung an der bloßen Sinneserfahrung. Max Plancks Vortrag Die Einheit des physikalischen Weltbildes hatte 1908 denn auch betont, daß die Entsinnlichung, die der Preis für die Erkenntnis mathematischer Naturgesetze ist, mehr als aufgewogen wird durch den Zugang zu einer höheren Wirklichkeit, den uns die neuzeitliche Physik verschafft.20 Auch Max Weber steht noch in dieser platonischen Tradition, wenn er seinem berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf von 1919 nach dem Wert der Wissenschaft “innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit” fragt.21 Er schildert den Prozeß des Erkenntnisgewinns dort allerdings als einen desillusionierenden Prozeß, der zu Ernüchterung des Erkenntnissubjekts und Entzauberung der Welt führt. Die Auffassung, es sei möglich, durch Wissenschaft zu einem höheren Sein aufzusteigen, das die nüchterne innerwissenschaftliche Wahrheit übersteigt, betrachtet er – anders als ein Jahrzehnt zuvor Planck – als reichlich obsolet:: Ungeheuer ist da nun der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wenn Sie sich erinnern an das wunderbare Bild zu Anfang des siebenten Buchs von Platons Politeia: jene gefesselten Höhlenmenschen ... Bis es einem von ihnen gelingt, die Fesseln zu sprengen und er dreht sich um und erblickt: die Sonne. ... Er ist der Philosoph, die Sonne aber ist die Wahrheit der Wissenschaft, die allein nicht nach Scheingebilden und Schatten hascht, sondern nach dem wahren Sein. Ja, wer steht heute so zur Wissenschaft?22
102 Im Anschluß thematisiert er den religiösen Hintergrund, den die epistemischen Ideale der neuzeitlichen Physik bei Galilei wie bei Newton und noch bei Planck oder Einstein hatten und der den neueren, nicht-physikalischen Wissenschaften abhanden gekommen ist: Aber man erwartete von der Wissenschaft im Zeitalter der Entstehung der exakten Naturwissenschaften noch mehr ...: den Weg zu Gott. [...] Und heute? Wer – außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden – glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder Chemie uns etwas über den S i n n der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen »Sinn« – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen könnte?23
Weber tendiert hier dazu, die epistemischen Ideale der Wissenschaft so zu verabsolutieren, daß sie sich nicht nur wissenschaftsintern, sondern auch extern betrachtet überhaupt keinem anderen Ideal oder keinen anderen Norm mehr unterordnen können und sollen. Sinnfragen sind nur noch Gegenstand nüchterner, wertfrei betriebener Sozialwissenschaft; der Wissenschaftler darf eigene moralische Einstellungen nicht mit den Gegenständen der Forschung vermengen.24 Falsch verstanden, öffnet diese Einstellung allerdings tendenziell einem Nihilismus Tür und Tor, der sich die Wahrheitssuche der Wissenschaften auf seine Fahnen schreiben kann. Solcher Nihilismus speist sich aus der Verwechslung von interner und externer Wertfreiheit. Das Prinzip, daß Wissenschaft, die um ihrer selbst willen betrieben wird, intern keinem anderen Wert als der Wahrheit verpflichtet ist, ist jedoch etwas völlig anderes als das Prinzip, daß Wissenschaft, die um ihrer selbst willen betrieben wird, auch keinerlei externen Werten mehr unterstellt ist. Wenn die reine Wahrheitssuche als oberster und einziger Wert des Betreibens von Wissenschaft gilt, so ermöglicht ihre angebliche Wertfreiheit grundsätzlich, daß der Zweck die Mittel der Erkenntnissuche heiligt, so daß man um der Wahrheitssuche willen auch gegen moralische Werte verstoßen kann. Eine Wissenschaft, die rein deskriptiv vorgeht, darf aber nicht verwechselt werden mit einer Wissenschaft, die sich in ihrem Erkenntnisinteresse beliebigen Herren andient. Auch wenn Weber selbst sich dieser Verwechslung sicher nicht schuldig gemacht hat, so hat sein Wertfreiheitspostulat letztlich doch den Weg dorthin gebahnt. Seine Wissenschaftslehre ist nicht dafür geeignet, einer verselbständigten instrumentellen Vernunft Einhalt zu gebieten, wie sie später Horkheimer und andere Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule kritisierten.
103 3. Der Wert der Wissenschaft in dunklen Zeiten Anders als Max Weber waren die Begründer der neuzeitlichen Physik im Anschluß an Platon der Auffassung, daß sich die wissenschaftliche Wahrheitssuche direkt mit anderen, nicht-epistemischen Werten verbindet. Sie sahen das Ideal der Wahrheitssuche nicht im Dienste einer Wertfreiheit, die unter Sinnlosigkeitsverdacht steht, sondern als ein hohes moralisches Gut. Galileis Erbe in der neuzeitlichen Physik besteht eben nicht nur im technisch-praktischen Potential der experimentellen Methode, sondern auch im moralisch-praktischen Einstehen für die Wahrheit der Naturerkenntnis. Galilei steht für die Absicht, sich von Vorurteilen und Dogmen zu befreien, indem man das Buch der Natur entziffert, anstatt sich auf biblische Offenbarung zu verlassen. Seit dem Prozeß gegen ihn ist Naturkenntnis unter anderem auch eine wichtige moralische Instanz. Dies gilt par excellence für die mathematische Physik und die dadurch begründete physikalische Kosmologie. Nicht zuletzt aufgrund ihrer platonistischen Wurzeln bahnten sie im Verlauf des 17. Jahrhunderts in ganz Europa der Aufklärung den Weg. Das Ringen um Wahrheit in der Erkenntnis hat mehrere normative Aspekte, die durchaus moralische Kraft entfalten können. Sie liegen in den epistemischen Idealen der neuzeitlichen Physik, denen wir im Zusammenhang mit Plancks Leidener Vortrag schon ansatzweise begegnet sind. Die wichtigsten drei davon, an die vor allem Poincaré und Heisenberg in ihren philosophischen Schriften appellieren, stehen klarerweise in platonischer Tradition: 1. die Suche nach einer höheren Wirklichkeit, 2. die Universalität des Denkens, 3. das Streben nach Ordnung und Harmonie. Die großen Physiker betrachteten sie vor und nach Webers desillusionierter Wissenschaftsdeutung als zentrale Bestandteile ihres Erkenntnisethos, oder: als quasi-moralische Werte der Naturerkenntnis. Jedoch beriefen sich nicht nur Vertreter eines metaphysischen Realismus wie Planck auf sie, sondern auch Poincaré und Heisenberg, die eher Erkenntnisskeptiker waren. Als moralische Instanzen kamen diese Werte sogar dann noch zur Geltung, als sich die Physiker in das Unheil des 20. Jahrhunderts verstrickt sahen. Planck und Heisenberg orientierten sich an ihnen Platons Höhlengleichnis gemäß noch unter extrem wahrheitswidrigen Umständen, in den dunklen Zeiten des Dritten Reichs. Falls sie sich dabei Webers oben zitiertem Diktum gemäß nur als “große Kinder” verhielten – um so schlimmer für die nüchterne Sicht einer entzauberten Welt, in der die Träume der Vernunft immer wieder Goyasche Monster hervorbringen.
104 Die Haltung, die Heisenberg und Planck Haltung im dritten Reich einnahmen, ist schon beim Mathematiker und theoretischen Physiker Henri Poincaré vorbereitet, der die normativen Aspekte der Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit gegen den Positivismus von 1900 geltend macht. Sein populäres Buch mit dem Titel La valeur de la science von 1905 hat dezidiert anti-positivistische Stoßrichtung; die deutsche Übersetzung erschien bereits 1906 unter dem Titel Der Wert der Wissenschaft.25 Schon dieser Titel steht gegen Webers Postulat einer wertfreien Wissenschaft, deren Wahrheitsstreben unter dem Verdacht der Beliebigkeit und Sinnlosigkeit ihrer Erkenntnisinhalte steht. Gleich zu Beginn des Buchs erklärt Poincaré die Wahrheitssuche zum einzigen Sinn und Zweck der Wissenschaft: Die Wahrheit aufzusuchen soll der Zweck unserer Tätigkeit sein; das ist das einzige Ziel, das ihrer würdig ist. [...] Wenn wir den Menschen mehr und mehr von den materiellen Sorgen befreien wollen, so geschieht es, damit er die wiedergewonnene Freiheit zum Studium und zur Betrachtung der Wahrheit gebrauche.26
Hier klingen wieder zentrale Motive von Platons Höhlengleichnis an — die Befreiung von materiellem Zwang und der Aufstieg zum Licht. Poincaré war zwar davon überzeugt, daß nur bestimmte invariante Züge unserer theoretischen Naturbeschreibung die Wirklichkeit erfassen; bezüglich anderer Gegenstände der naturwissenschaftlichen Erkenntnis war er pessimistisch und gelangte zu seinem bekannten konventionalistischen Standpunkt.27 In den entscheidenden metaphysischen Überzeugungen stimmte er jedoch gerade nicht mit Machs positivistischer Auffassung überein, Wissenschaft ziele ausschließlich auf Denkökonomie28 – sondern mit Galilei, Newton, Maxwell, Boltzmann, Planck und Einstein. Insbesondere betrachtete er diejenigen Gesetze der mathematischen Physik, die invariante Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen ausdrücken, als wahre Naturerkenntnis, die sich im Sinne eines StrukturenRealismus deuten läßt.29 Die Suche nach der Wahrheit, die in diesen Invarianten liegt, sah er dabei als einen Wert an, der moralischen Werten gleichrangig ist. Genauer: wissenschaftliche und moralische Wahrheit sind für ihn zwei Seiten ein-und-derselben Medaille; dasselbe gilt für beide Arten von Wahrheitsliebe.30 Die Suche nach Wahrheit, die mit mathematischen Methoden erfolgt, entfaltet letzten Endes moralische Kraft, insofern sie eine tiefere, nicht-zufällige, gesetzmäßige Wirklichkeit erschließt, die in den Naturerscheinungen am Werk ist. Ohne die Sprache der Mathematik wäre uns der größte Teil des tieferen Zusammenhangs der Dinge für alle Zeiten unbekannt geblieben und wir wären uns niemals der innersten Harmonie der
105 Welt bewußt geworden, die, wie wir sehen werden, die einzige wahrhafte Wirklichkeit ist.31
Das Motiv, nach einer wahrhaften Wirklichkeit zu suchen, verbindet sich also in Poincarés Deutung der Wissenschaft mit einem Streben nach Erkenntnis von Ordnung oder Harmonie. Letzteres drückt sich in der Aufstellung von mathematischen Naturgesetzen aus. Diejenigen Gesetze der mathematischen Physik, die Invarianten der Naturbeschreibung erfassen, beschreiben gesetzmäßige Beziehungen zwischen den Dingen und bringen in mathematischer Sprache Wahrheit und Schönheit gleicherweise zum Ausdruck.32 Der platonische und pythagoreische Hintergrund der neuzeitlichen Physik ist hier wieder unübersehbar. Aber auch der dritte oben genannte normative Aspekt des Ringens um Wahrheit, nämlich die Universalität des Denkens, findet sich bei Poincaré. Zum objektiven Wert der Wissenschaft gehört aus seiner Sicht, daß objektive Erkenntnis intersubjektive Geltung hat, über die sich alle Menschen verständigen können. Wissenschaftliche Erkenntnis eröffnet einen universellen Standpunkt, den Menschen über alle ideologischen Schranken hinweg teilen können: 33 Ob man sich auf den moralischen, den ästhetischen oder den wissenschaftlichen Standpunkt stellt, es bleibt immer das gleiche. Nur das ist objektiv, was für alle dasselbe ist [...].
Max Plancks Leidener Vortrag von 1908 hat dieselbe Stoßrichtung, wenn er es zum Ziel der Physik erklärt, eine einheitliche Wirklichkeit mit mathematischer Struktur zu erkennen, die unabhängig vom menschlichen Denken und Handeln ist und die der Vielfalt der Phänomene zugrunde liegt. Planck betont insbesondere, daß Entanthropomorhisierung unserer Konzepte und zunehmende Einheit des physikalischen Weltbilds zum Universalismus führen.34 Plancks Bestimmung des Ziels der Physik ist wie Poincarés Wissenschaftsdeutung normativ. Anders als die Wissenschaftslehre von Max Weber erheben beide Varianten einer an Platon orientierten Wissenschaftsphilosophie allerdings gerade nicht die Wertfreiheit deskriptiver Theorienbildung zur obersten Norm. Sie stellen die als Selbstzweck betriebene Suche nach objektiver Erkenntnis, wissenschaftlicher Wahrheit und gesetzmäßiger Einheit der Natur vielmehr in den Dienst der platonischen Ideen des Wahren, des Schönen und des Guten. Welche moralische Kraft hat indes solch platonisches Ideengut, das Poincaré wie Planck gegen eine positivistische Wissenschaftstheorie geltend machten? Letzten Endes handelte es sich dabei um traditionelles Bildungsgut des Bürgertums um 1900. Was wurde daraus in den Jahren bis 1945? Der Physik selbst, aber auch dem öffentlichen Bewußtsein in Deutschland
106 kam die Universalität des wissenschaftlichen Standpunkts abhanden. Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie wurden schon in den Jahren der Weimarer Physik als “jüdische Physik” bekämpft und verunglimpft.35 Zeitgleich ging mit der Entwicklung der Quantenmechanik die Einheit der physikalischen Wirklichkeitsbeschreibung verloren. Dieser Sachverhalt beunruhigte Planck und Einstein stark, während Bohr und Heisenberg ihn mit der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie erkenntnistheoretisch zu bewältigen versuchten.36 Mit der Machtergreifung von 1933 triumphierte in den deutschen Universitäten die “deutsche Physik”, und Einstein emigrierte in die USA. Werner Heisenberg emigrierte nicht, im Bewußtsein, gegen den anti-aufklärerischen, anti-platonischen Zeitgeist die Stellung halten zu müssen. Er sah seine Aufgabe nun darin, sich mit dem Betreiben von Quantenphysik für die verlorene Universalität des Denkens und für die wissenschatliche Wahrheitssuche einzusetzen.37 1942 verfaßte Heisenberg ein Skript mit dem Titel Ordnung der Wirklichkeit, das er aufgrund der regimekritischen Äußerungen, die darin enthalten sind, unter Verschluß hielt. In diesem Skript beschwört er gegen das Unheil der Zeit den platonisch-pythagoreischen Gedanken der Harmonie des Kosmos herauf und fragt, welche Ordnung die Wirklichkeit seiner Zeit denn noch hat. Sein Skript drückt zwei Grunderfahrungen aus, aufgrund deren er die bislang gültige Ordnung der Wirklichkeit verloren sieht. (i) Heisenberg war selbst maßgeblich an der Entwicklung der Quantenmechanik von 1925 beteiligt. Seine Version der Quantenmechanik, die “Matrizenmechanik”, schaffte die Raum-Zeit-Bahnen der Elektronen im Atominnern ab und verzichtete auf eine Beschreibung der inneratomaren Struktur. Sie beschränkt sich auf beobachtbare Größen anstelle der subatomaren Wirklichkeit und legt damit den Grundstein für die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik. Nach der Kopenhagener Deutung stößt die Objektivierung in der Naturerkenntnis auf Grenzen, die durch das Plancksche Wirkungsquantum bestimmt sind; und es besteht ein tiefgreifender Bruch zwischen klassischer Physik und Quantenphysik, der sich durch Bohrs Korrespondenzprinzip und Komplementaritätsprinzip nur oberflächlich kitten läßt. Das einheitliche physikalische Weltbild, das Planck gefordert hatte und für das sich Einstein in seiner Debatte mit Bohr seit 1927 weiter beharrlich einsetzte, war damit aus Heisenbergs Sicht unwiederbringlich dahin. (ii) Dazu kam das Unheil der Zeit. Anders als Einstein mußte und wollte Heisenberg nach 1933 nicht emigrieren. Wie in Cassidys Heisenberg-Biographie nachzulesen ist, spielte er im Dritten Reich — unter anderem indem er das deutsche Uran-Programm betrieb — eine durchaus zwiespältige Rolle, wenngleich im Bewußtsein, Schlimmeres zu verhindern.
107 Angesichts des politischen Irrsinns, der ihn umgab und dem er sich nicht vollständig entziehen konnte, drückt er im Skript von 1942 den Verlust seines Vertrauens in die menschliche Vernunft aus. Gegen den Sieg der Irrationalität und gegen “finstere Dämonen” setzt er die Bedeutung der theoretischen Naturerkenntnis: [...] weil sie die Stelle ist, an der die Menschen unserer Zeit der Wahrheit gegenübertreten. [...] Am wichtigsten sind daher auch die Gebiete der reinen Wissenschaft, in denen von praktischen Anwendungen nicht mehr die Rede sein kann, in denen vielmehr das reine Denken den verborgenen Harmonien in der Welt nachspürt.38
Dieser “innerste Bereich” ist aus seiner Sicht ein Reich der Wahrheit und Schönheit zugleich. Ist es nur naiv gewesen, das Streben der physikalischen Erkenntnis nach Wahrheit, Einheit und Harmonie in Rückwendung zu Platon gegen den unheilvollen Zeitgeist zu setzen? Dies ist schwer zu sagen. Man hat hier Webers Diktum von den “großen Kindern” vor Augen,39 die störrisch am Wert der Wissenschaft festhalten und sich damit dem Sinnverlust einer durch Wissenschaft entzauberten Welt entgegenstemmen — vor dem Hintergrund religiöser Einstellungen, die einen Max Weber nur als nüchternen Religionssoziologen interessieren. Ich bin allerdings geneigt, dieser Einschätzung entschieden zu widersprechen. Immerhin hat sich Heisenberg mit seinem physikalischen Wahrheitsanspruch erfolgreich gegen die “deutsche” Physik behauptet, die nach Einsteins Vertreibung an den Universitäten etabliert werden sollte, und schließlich auch durchgesetzt. So bewirkte er nicht zuletzt, daß im Nachkriegsdeutschland wieder hochkarätige physikalische Forschung möglich wurde. Verwandte Äußerungen, die noch eine etwas andere Wendung nehmen, gibt es aus derselben Zeit von Planck. Längst im Ruhestand und ebenfalls nicht emigriert, hielt er 1941 im Alter von 83 Jahren einen Vortrag über Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft. Über seine früheren Gedanken hinaus betont er dort vor allem folgendes: Die höhere Wirklichkeit, das einheitliche physikalische Weltbild ist zwar ein unverzichtbares Ziel der Physik, aber dabei ein unerreichbares Ideal. Wiederholte wissenschaftliche Revolutionen – er spricht von Wandlungen im physikalischen Weltbild – lehren, daß menschliche Erkenntnis unvollständig, unvollkommen und revisionsbedürftig ist. Der Bruch in der physikalischen Wirklichkeitsbeschreibung, den die Quantenphysik mit sich brachte, lehrt darüber hinaus, daß es unüberschreitbare, durch die Naturkonstante h bedingte Grenzen der Erkenntnis gibt. Dies führt zur Einsicht, daß
108 das endgültig Reale metaphysischen Charakter trägt und sich daher einer vollständigen Erkenntnis durchaus entzieht.40
Der Sinn der exakten Wissenschaften liegt nach diesem Vortrag gerade in einem Streben, das nicht zum Ende kommt, weil es sich auf eine höhere Wirklichkeit richtet, die sich unserem Zugriff entzieht und die als Ganzes immer unerforschlich bleibt. Die platonische Idee einer Wahrheitssuche, für welche die exakten Wissenschaften eine unverzichtbare Bildungsfunktion haben, verbindet sich hier mit einer kantischen Sicht von spekulativen Vernunftideen, die als Gegenstände objektiver Erkenntnis unerreichbar sind, aber regulative Prinzipien für die Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnis begründen. Das Streben nach diesem unerreichbaren Ideal ist nach Plancks Auffassung ein viel höherer Wert als alle technischen Anwendungen der Naturwissenschaften, so nützlich sie auch sein mögen.41 4. Naturalismus versus Relativierung des Wissens Angesichts der technischen Verwertbarkeit der modernen Physik, Chemie und Biologie erscheinen uns heute die seit Galilei umstrittenen Erkenntnisideale der neuzeitlichen Physik als obsolet, wenn nicht gar korrumpiert. Dies liegt nicht etwa daran, daß sie innerhalb der Wissenschaften ausgedient hätten. Nur wer die Wahrheit sucht, treibt die Wissenschaft voran, wie sogar noch alte und neuere Fälle von Betrug in den Wissenschaften zeigen.42 Eher schon verliert man heute in der öffentlichen Wahrnehmung von Wissenschaft und Forschung ebenso wie in sämtlichen deskriptiven und normativen Ansätzen der Wissenschaftstheorie aus den Augen, daß wissenschaftliche Wahrheitssuche mehr umfaßt als die Produktion wissenschaftlicher Erklärungen nach Regeln guter wissenschaftlicher Praxis im Sinne der DFG; und daß der Wert von Grundlagenforschung über technische und ökonomische Verwertbarkeit hinausgeht. Wo die Wissenschaft noch um ihrer selbst willen betrieben wird, etwa in der Hirnforschung, tendiert sie zu einem naturalistischen Weltbild, in dessen Rahmen ihre Erklärungen als potentiell allumfassend gelten. Der Siegeszug von Wissenschaft und Technik macht vor kulturellen und moralischen Werten nicht halt – sonst müßten wir keine Ethik-Debatten führen. Der Fortschritt in den Biowissenschaften relativiert die Werte, die wir Menschen uns als Richtschnur unseres Handelns geben, in einem doppelten Sinne: teils verschiebt er sie durch die wissenschaftlich-technische Praxis in epistemische und moralische Grauzonen; teils erklärt er sie als Werte hinweg, indem er sie im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Anthropologie naturalisiert. Max Webers Wertfreiheitspostulat erscheint nun ten-
109 denziell als Produkt einer Wissenschaftslehre, die gegenüber diesen Entwicklungen obsolet ist. Es sollte nämlich nicht nur die deskriptive Wissenschaft vor Ideologie und normativen Debatten bewahren, sondern auch umgekehrt die Werte vor dem Zugriff der Wissenschaft. Hierum ist es heute angesichts des Naturalismus prominenter Neurowissenschaftler genauso schlecht bestellt wie um das platonistische Erkenntnisethos eines Planck, Poincaré oder Heisenberg. Naturalistische Deutungen der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung beruhen auf großzügiger Generalisierung. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie beharrlich die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ignorieren, auf die Planck 1941 aufmerksam machte. Daß solche Grenzen der Erkenntnis auftreten und sich als äußerst hartnäckig erwiesen,43 hat wissenschaftsintern zum Theorienpluralismus und extern zu einer äußerst verwirrenden wissenschaftstheoretischen Sachlage geführt. Dem Naturalismus zum Trotz, der heute in den exakten Wissenschaften selbst vorherrscht, formierten sich breite Strömungen der neueren Wissenschaftstheorie in anti-naturalistischer Stoßrichtung. Dabei gelangten sie teils zu instrumentalistischen Positionen, teils zur historistischen und kulturalistischen Relativierung naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Ich zähle die wichtigsten Relativierungstendenzen und ihre wissenschaftsinternen Gründe kurz auf. (1) Probabilistischer Charakter des Wissens: Die Einsicht, daß etliche wissenschaftliche Erkenntnisse keine Gewißheit, sondern nur große Wahrscheinlichkeit haben, begleitete die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften fast von Anfang an. Die Entwicklung von Ansätzen, mittels deren sich die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Ereignissen unter teils bekannten, teils unbekannten Umständen berechnen läßt, war seit dem 17. Jahrhundert ein wichtiger Nebenschauplatz der Wissenschaftsentwicklung, mit dem sich die Wissenschaftstheorie erst in neuerer Zeit eingehend beschäftigt.44 Die probabilistische Revolution ist gekennzeichnet durch die zunehmende Vorherrschaft von Theorien und Modellen mit irreduzibel statistischen Grundlagen. Die Irreduzibilität statistischer Aussagen kann zwei Gründe haben: wir kennen entweder die Bedingungen nicht vollständig, unter denen Ereignisse zustandekommen (subjektive Wahrscheinlichkeit oder Ignoranz), oder aber die Ereignisse selbst sind irreduzibel probabilistisch, d.h. im Einzelfall indeterminiert (objektive Wahrscheinlichkeit). Diese Unterscheidung betrifft nur den philosophischen Begriff der Wahrscheinlichkeit, wobei der Naturalismus üblicherweise mit einer Ignoranzdeutung der Wahrscheinlichkeit einhergeht.
110 Blickt man dagegen auf die vielfältigen Anwendungen der Wahrscheinlichkeitstheorie in den empirischen Wissenschaften, so ergibt sich ein viel reicheres Spektrum von Fällen einer probabilistischen Relativierung unseres Wissens: (i) Unkenntnis der Anfangsbedingungen eines Vorgangs, der sich im Prinzip durch ein deterministisches Naturgesetz erklären läßt; (ii) Unkenntnis der genauen Faktoren, die einen Vorgang beeinflussen; (iii) Unsicherheit bezüglich der Naturgesetze, unter denen ein Vorgang steht; sowie (iv) die Möglichkeit indeterministischer Naturgesetze, d.h. der Fall von Gesetzen, die nur das Verhalten eines statistischen Ensembles von Ereignissen determinieren, nicht aber das zum Ensemble gehörige Einzelereignis. Das Wissen, das man heute durch die exakten Wissenschaften gewinnt, ist oft unsicher im Sinne mehrerer dieser Kategorien. Dies gilt vor allem für die Erforschung von Technikfolgen wie die globale Erwärmung durch den Treibhauseffekt.45 (2) Epistemische Relativierung fundamentaler Begriffe der Physik und Mathematik: Die probabilistische Revolution war historisch gesehen nur der erste Schritt zu einer drastischen Relativierung der Inhalte der exakten Wissenschaften. Die Entwicklung der Physik und Mathematik führte zwischen 1900 und 1930 an insgesamt drei Forschungsfronten zur Relativierung grundlegender theoretischer Konzepte: in der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik und der mathematischen Grundlagendiskussion. Die beiden großen Umbrüche in der Physik bestanden darin, die fundmentalen physikalischen Größen auf einen “Beobachterstandpunkt” zu relativieren, der durch bestimmte Meßverfahren festgelegt ist. Damit bekam die Debatte um die Wahrheit und den Wirklichkeitsbezug physikalischer Theorien nicht nur neuen Zündstoff, sondern auch völlig neue Stoßrichtung. Die Vorstellung einer physikalischen Realität, die in jeder Hinsicht unabhängig von den Möglichkeiten unseres epistemischen Zugriffs existiert und dennoch Gegenstand unserer theoretischen Erkenntnis sein soll, kam im kosmologischen wie im subatomaren Bereich auf den Prüfstand. Darüberhinaus geriet dann noch die jahrtausendealte Überzeugung ins Wanken, daß die Mathematik, auf deren Methoden die Exaktheit der modernen Naturwissenschaften beruht, ein absolutes Fundament besitzt. Die philosophische Verarbeitung dieser Sachverhalte ist bis heute nicht zufriedenstellend gelungen. Die neuere Realismus-Kritik bezüglich der exakten Wissenschaften hat also durchaus ihren wahren Kern. Mit der Relativitäts- und der Quantentheorie nahm die erkenntnistheoretische Debatte um den Wirklichkeitsbezug der Physik eine völlig neue Gestalt an. Das einheitliche wissenschaftliche
111 Weltbild, das Planck 1908 für prinzipiell erreichbar hielt und 1941 nur noch als ein regulatives Erkenntnisideal der Physik betrachtet, ist heute in noch weitere Ferne gerückt – während paradoxerweise zugleich der Naturalismus und Szientismus bezüglich der Ergebnisse der Neurowissenschaften immer mehr Terrain erobert. (3) Historisierung des Wissenschaftsverständnisses: Die wissenschaftstheoretische Reflexion der “großen” wissenschaftlichen Revolutionen führte seit 1960 dazu, die Brüche in den Theoriebildungsprozessen der exakten Wissenschaften herauszuarbeiten und die positivistische Vorstellung eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts anzuzweifeln. Die Schriften von Kuhn und Feyerabend trugen Gründe dafür zusammen, daß und inwiefern die theoretischen Begriffe und Forschungspraktiken, die ein Paradigma ausmachen, “vor” und “nach” einer wissenschaftlichen Revolution inkommensurabel sind. Nach Kuhns berühmtem Buch beruht die Umwälzung der theoretischen Grundlagen einer Disziplin nicht auf der Entdeckung neuer Wirklichkeitsstrukturen, sondern sie hat den Charakter eines Gestaltsprungs.46 Die Menschen vor und nach Galilei lebten in verschiedenen Welten, nämlich im aristotelischen Kosmos bzw. im kopernikanischen Weltsystem; ähnlich sah sich der wissenschaftlich Gebildete vor Einstein und Bohr in der durch Newton und Maxwell beschriebenen Welt der klassischen Physik, während er sich heute in einer gekrümmten Raumzeit voller Quantenkorrelationen befindet. In welcher Welt wir leben, ist aus dieser Sicht kein objektiver Tatbestand, sondern ein historisch entstandenes und unter anderen kulturellen Bedingungen wieder revidierbares Produkt unserer wissenschaftlichen Kultur: so die historistische und kulturalistische Auffassung der neuzeitlichen Wissenschaften, die sich nach Kuhn und Feyerabend in Form von verschiedenen Spielarten eines wissenschaftlichen Konstruktivismus gegen die empiristische Wissenschaftstheorie etabliert hat.47 So geben wir aus der Warte einer postmodernen Position des social constructivism unseren Kindern nicht etwa deshalb Antibiotika gegen Krankheiten, weil es sich um bakteriell verursachte Infektionskrankheiten handelt, sondern weil wir in einer Pasteur-Kultur anstelle einer Schamanen-Kultur leben.48 Interessanterweise ist die hier vorgenommene Historisierung und Kulturalisierung der exakten Wissenschaften nichts Neues, sondern eher ein spätes Produkt des bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Historismus in den Geisteswissenschaften, der auf Dilthey zurückgeht und sich bis in die moderne Hermeneutik fortpflanzt. Was sich als notwendiges Korrektiv zum Positivismus des 19. Jahrhunderts herausbildete, wurde
112 hundert Jahre später dahingehend verabsolutiert, die Grundlagen unserer wissenschaftlichen Kultur nur noch als kulturrelativ und historisch bedingt zu betrachten. Wer so die Genesis- und die Geltungsbedingungen der exakten Wissenschaften verwechselt, begibt sich jedoch der Pluralität von kultur- und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise. Die Grenzen zwischen Naturwissenschaften und Kultur- bzw. Geisteswissenschaften, die Windelband und Rickert im Neukantianismus herausarbeiteten, werden damit so weit zur Unkenntlichkeit verwischt, wie Max Weber es niemals hätte gutheißen können. Der Neukantianismus trug mit der konstruktivistischen Deutung physikalischer Theorien durch die Marburger Schule allerdings selbst einiges zu diesen Entwicklungen bei. Um sich gegen den Positivismus und Empirismus des späten 19. Jahrhunderts abzugrenzen, deuteten Cohen und Natorp das Kantische Apriori um; sie machten daraus Bedingungen der Möglichkeit des “Faktums” der exakten Naturwissenschaften. Hierdurch gelangten sie zu einer Sicht der physikalischen Erfahrung, die ausschließlich die Theorieabhängigkeit von Beobachtung und Messung ins Zentrum rückte und die empirischen oder kontingenten, d.h. gerade nicht beliebig theoretisch präformierbaren Elemente in der physikalischen Theorienbildung so stark herunterspielte, daß sie fast unkenntlich werden.49 Es sind indes gerade diese kontingenten Elemente, die selbst aus Sicht des Verfassers der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen die großen theoretischen Umwälzungen in den Wissenschaften provozieren. Kuhn hebt im Aufsatz Die Funktion des Messens in der Entwicklung der physikalischen Wissenschaft hervor, daß es letztlich die Bewältigung von anomalen, d.h. nicht im Rahmen eines herrschenden Paradigmas erklärbaren Beobachtungs- und Meßergebnissen ist, an denen sich die quantitative Überlegenheit einer Nachfolgertheorie erweisen kann und muß.50 (4) Instrumentalisierung von Erkenntnisinhalten: Der neukantianische Idealismus trifft sich mit der positivistischen Gegenströmung, die er bekämpft, in der instrumentalistischen Sicht von Erkenntnisinhalten. Die konstruktivistische Sicht von Beobachtung und Messung führt von der entgegengesetzten Seite zum Instrumentalismus wie Machs Auffassung, Theorien dienten nur der Denkökonomie. Aus neukantianischer wie aus strikt empiristischer Sicht sind die Theorien der exakten Wissenschaften letztlich Konstrukte zur Herstellung einer fiktiven oder ideellen Wirklichkeit. Wie gut sich Empirismus und Konstruktivismus bezüglich der instrumentalistischen Deutung der Resultate der exakten Wissenschaften gegenseitig in die Hände arbeiten, sieht man noch an den modernen anti-realistischen Strö-
113 mungen der jüngeren Wissenschaftstheorie – von der konstruktiven Wissenschaftstheorie der Erlanger Schule über den social constructivism eines Pickering oder Latour bis hin zu van Fraassens Position eines constructive empiricism oder zur tool box view der physikalischen Modellbildung, die Nancy Cartwright heute vertritt. So verschieden all diese Ansätze auch sonst sein mögen: sie bringen die Deutung der heutigen Naturwissenschaften in die Nähe der alten aristotelischen Einwände gegen Galilei, was da durch das Fernrohr gesehen, mittels der experimentellen Methode analysiert und mathematisch beschrieben werde, das sei doch gar keine Natur, sondern ein technisches Artefakt. War die Technik in der Antike als Mittel zur Überlistung der Natur betrachtet worden, so gilt sie aus moderner Sicht als ein Instrument der Naturbeherrschung; und mit ihr – aus der Sicht instrumentalistischer Deutungen von Theorie und/oder Experiment – zugleich auch die exakten Wissenschaften. Dabei spielt natürlich eine gewichtige Rolle, daß die Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert ihre Unschuld verloren – auf der einen Seite mit Atom-, Wasserstoff- und Neutronenbombe, chemischen Kampfgasen und biologischen Waffen, auf der anderen Seite mit den ebenfalls umstrittenen, weil risikobehafteten friedfertigen Anwendungen von der Kerntechnik bis hin zu den Möglichkeiten, Nutzpflanzen genetisch zu manipulieren und Säugetiere zu klonen. In der experimentellen Methode der neuzeitlichen Physik ist eine Zwitterstellung zwischen kosmologischem Erkenntnisdrang und technischer Verfügungsgewalt angelegt, deren sich z.B. Max Planck in seinem Vortrag von 1941 völlig bewußt war. Dies wirkt sich seit dem zweiten Weltkrieg tendenziell dahingehend aus, daß Öffentlichkeit und Politik den Wert der Wissenschaft höchstens noch sekundär in der Wahrheitssuche sehen, primär aber in der Eignung als Mittel zu welchen Zwecken auch immer. Daß sich die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung zum Zweck der technischen Anwendung instrumentalisieren lassen, paßt nicht zufällig perfekt zur instrumentalistischen Theorieauffassung der positivistischen oder konstruktivistischen Wissenschaftstheorie. Beide wiederum stehen heute den naturalistischen Einstellungen der Neurowissenschaftler viel näher, als die altmodischen Erkenntnisideale eines Planck oder Heisenberg um 1900 sämtlichen instrumentalistischen oder naturalistischen Sichtweisen der Wissenschaften. Die wissenschaftstheoretische oder technische Instrumentalisierung von Erkenntnisinhalten sind genauso wie deren Naturalisierung letztlich nur zwei Seiten ein-und-derselben Medaille: sie sind komplementäre Ausprägungen eines säkularisierten mechanistischen Den-
114 kens, wie es sich zuerst bei Hobbes und in der französischen Aufklärung fand. Der Materialismus des 18. Jahrhunderts war darauf gerichtet, Newtons Mechanik von den metaphysischen Hintergrundüberzeugungen ihres Urhebers zu befreien; er bereitete dem positivistischen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts den Boden. Mechanistisches Denken, das sich in Technik umsetzen läßt, betrachtet Naturprozesse als Mechanismen, die man begreifen und beherrschen kann. Technik, die auf dem Verständnis solcher Mechanismen beruht, betrachtet die Komponenten von Naturvorgängen als ein Ensemble von Prozessen, die man gezielt zum möglichst störungsfreien Funktionieren bringt. Heute ist solches mechanistisches Denken am stärksten in der Mikrobiologie und Gentechnologie vorherrschend – mit unbestritten immensen Erfolgen. Das Streben nach der Erkenntnis dessen, was Leben ist, spielt hierbei höchstens noch eine marginale Rolle; primär geht es um spezifische Einsichten in die Funktionsweise von Lebensprozessen, die sich zu nutzbringenden Zwecken manipulieren lassen – von der Krebsforschung bis hin zum Klonen von Nutztieren und zur geplanten Züchtung menschlicher Organe. Hier zeigt sich heute wohl am stärksten die Tendenz, die naturwissenschaftliche Erkenntnis auf das Ensemble ihrer möglichen Anwendungen zu relativieren und dies zugleich durch ein naturalistisches Weltbild zu legitimieren. (5) Ökonomisierung der Wissenschaften: Solche Relativierung hat in den vergangenen Jahrzehnten in den großen Industrienationen dazu geführt, die naturwissenschaftliche Forschung fast nur noch an Kosten und Ertrag zu bemessen. Die wissenschaftlich-technische Lebenswelt wird auch in dieser Hinsicht mehr und mehr zu einer globalen Ökonomie, die von utilitaristischem Denken und Gewinnstreben beherrscht ist. Der schwere Stand, den die zweckfreie und teure Grundlagenforschung in der physikalischen Kosmologie oder der experimentellen Teilchenphysik heute angesichts kurzsichtiger Kosten-Nutzen-Erwägungen hat, wird manchmal damit legitimiert, daß die Physik mittlerweile durch die Biologie als Leitwissenschaft abgelöst wurde. Wenn dies so ist (was ich noch bezweifle, weil in der neueren theoretischen Biologie zu viele der Physik entnommene Analogien und Modelle am Werk sind), so bedeutet dies: Eine Disziplin, die fast nur noch anwendungsorientiert und in großem Maßstab ökonomisch verwertbar betrieben wird, hat eine Grundlagenwissenschaft verdrängt, die sich von Galilei und Newton bis heute im Dienst der Wahrheitssuche sieht und primär auf theoretische Erkenntnis zielt.
115 5. Deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie? Vom Thema deskriptive oder normative Wissenschaftstheorie? habe ich mich mit den obigen Ausführungen nur scheinbar weit entfernt. Mein Anliegen war vor allem, diesem Thema den angemessenen wissenschaftsphilosophischen Rahmen zu geben, in dem erst sichtbar wird, was “deskriptiv” oder “normativ” dabei eigentlich heißen kann. Hierfür muß man die Wissenschaftstheorie an den deskriptiven und den normativen Elementen messen, die sich in den Wissenschaften selbst und aus ihnen heraus entwickeln. Dies tat ich im Blick auf den Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft und auf die “große” Zeit der Physik im letzten Jahrhundert, anhand der Erkenntnisideale von Poincaré, Planck und Heisenberg. Darüberhinaus muß man sich überlegen, woher eigentlich die wissenschaftstheoretische Unterscheidung von deskriptiven und normativen Ansätzen kommt. Dies tat ich durch Rückgriff auf Max Weber. Dabei wollte ich unter anderem zeigen, wie groß der Kontrast zwischen Webers Unterscheidung und den wissenschaftsimmanenten Erkenntnisidealen der neuzeitlichen Physik ist, die bei den großen Physikern zugleich die externe Bedeutung einer quasimoralischen Einstellung haben. Die Unterscheidung von deskriptiv versus normativ greift angesichts des platonistischen Hintergrunds dieser Ideale meines Erachtens zu kurz. (Dies ist allerdings kein Grund, nun die Unterscheidung von deskriptiven und normativen Ansätzen völlig aufzugeben – und mit ihr zugleich die Unterscheidung von Tatsachen und Werten, wie verschiedene Ansätze einer pragmatistischen Sprachphilosophie im Anschluß an den späten Wittgenstein fordern, und leider auch Putnam in Anschluß an Kant und den Pragmatismus. Dieser Gedanke führt auf einen Nebenschauplatz des hier behandelten Themas; aber er ist viel zu wichtig, um in eine Fußnote verbannt zu werden. Wenn man Engführungen vermeiden will, sollte man nicht etablierte Unterscheidungen aufgeben, sondern lieber nach neuen Differenzierungen suchen. Wenn wissenschaftsinterne Ideale wie Wahrheit, Universalität und Harmonie bei Poincaré, Planck oder Heisenberg auch wissenschaftsexterne Kraft entfalten, die nicht epistemische, sondern moralische Einstellungen begründet, so geht es ja offenbar um eine Beziehung zwischen den Bereichen menschlichen Denkens und Handelns, die Weber – auch mit guten Gründen – als deskriptiv und normativ strikt voneinander scheiden wollte.) Zugleich muß sich die Wissenschaftstheorie – egal ob deskriptiv oder normativ, aber am besten beides – dem Sachverhalt stellen, daß es neuerdings der wissenschaftlich-technische Fortschritt selbst ist, der in den Bio-
116 und Neurowissenschaften die fragliche Unterscheidung konterkariert. Wenn sich die heutigen Ethik-Debatten darum drehen, daß wir nicht mehr wissen, welche Werte wir angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und angesichts des technischen Fortschritts verteidigen können und sollen – woher soll sich denn dann eine normative Wissenschaftstheorie legitimieren; und woran soll sie sich orientieren? Dabei unterstelle ich, daß es beim Betreiben von Wissenschaftstheorie um mehr geht als um die eingangs provozierend aufgestellte Alternative zwischen einer Wissenschaftstheorie, die entweder der Forschung hinterherläuft, oder aber ihr Vorschriften macht. Ersteres führt nämlich höchstens dazu, dem heute durch Wissenschaft und Technik induzierten Naturalismus und Instrumentalismus hinterherzulaufen – und letzteres, vom Standpunkt einer kulturalistischen Wissenschaftskritik das Erkenntnisinteresse und die technologischen Implikationen der Naturwissenschaften gleicherweise zu verfehlen. Der Blick auf die “große” Vergangenheit der Physik und auf die Webersche Auffassung von Sozialwissenschaft lehrt, was wir verlieren, wenn wir die Bedeutung der Wissenschaften in Zukunft vollends von den tradierten Erkenntnisidealen ablösen. Der Wert, den Poincaré, Planck und Heisenberg in der Wissenschaft sahen, darf so wenig in Vergessenheit geraten wie Webers nüchternes Beharren auf Wissenschaft, die nicht in Werten aufgeht, und Werten, die nicht in Wissenschaft aufgehen. Andernfalls lassen wir es dazu kommen, daß Naturerkenntnis in Technik aufgeht und die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften zum Residuum der Naturwissenschaften werden. Was bleibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts vom wissenschaftlichen Wahrheitsstreben, was ist der Wert von Wissenschaft, die um ihrer selbst willen betrieben wird, angesichts von technischer und ökonomischer Globalisierung, angesichts von Gentechnologie und Hirnforschung? Dieser Frage sollte sich meines Erachtens jede Wissenschaftstheorie stellen, ob sie sich nun deskriptiv oder normativ versteht. Zu einer Wissenschaftstheorie, die sich deskriptiv mit den Theorienbildungsprozessen und der Praxis der Einzelwissenschaften befaßt, gehört heute unter anderem die Aufgabe, den Ort der Wissenschaften in der wissenschaftlich-technischen Lebenswelt zu verdeutlichen. Normative Wissenschaftstheorie wiederum hätte heute mehr denn je die Aufgabe, sich und die Wissenschaften zu fragen, auf welche Ziele sich die Wissenschaften denn richten sollen – ob nur auf das technisch Machbare; oder auch auf theoretische Erkenntnis der Welt, in der wir leben, und unseres Orts darin; sowie auf die Grenzen dieser Erkenntnis.
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120
1
Vgl. Losee 1993; Falkenburg 1999a.
2
Zu Einsteins und Bohrs Erkenntnistheorie vgl. Bohr 1928, 1949; Einstein 1949; Scheibe 1973 (1.Kapitel), 1992.
3
Planck 1908, S. 30 f.
4
Ebd., S. 31.
5
Vgl. Mach 1883, S. 457 ff.
6
Planck 1908, S. 45.
7
Vgl. Mach 1905, S. 164 ff.
8
Planck 1908, S. 49.
9
Duhem 1906.
10
Vgl. Eddington 1939, S. 106 ff. Als neuere Arbeit, die diese Frage in der erforderlichen Differenziertheit behandelt, ist vor allem Hacking 1983 zu nennen. 11
Vgl.Falkenburg 2004, 5.Kapitel.
12
Windelband 1894.
13
Vgl. Schluchter 1988, Teil I.
14
Rickert 1902; dazu vgl. Schluchter 1988, 44 ff.
15
Vgl. Weber 1922; darin insbes. Weber 1904.
16
In der neueren Wissenschaftstheorie vertritt Nancy Cartwright in einem deskriptiven Ansatz die Auffassung, daß nicht beide Ideale zugleich realisierbar sind. Daraus zieht sie die normative Konsequenz, man solle in den Wissenschaften das Einheitsideal fallen lassen und die Suche nach fundamentalen Theorien zugunsten der Modellierung spezifischer Phänomene aufgeben; vgl. Cartwright 1983, 1999. 17
Weber 1904, 184 ff.
18
Weber 1920.
19
Vgl. insbes. Weber 1909 und 1917-18.
121 20
Planck 1908, 31: “[...] die Signatur der ganzen bisherigen Entwicklung der theoretischen Physik ist eine Vereinheitlichung ihres Systems, welche erzielt ist durch eine gewisse Emanzipierung von den anthropomorphen Elementen, speziell der spezifischen Sinnesempfindungen. [...] Fürwahr, es müssen unschätzbare Vorteile sein, welche einer solchen prinzipiellen Selbstentäußerung wert sind!”
21
Weber 1919, 537.
22
Ebd.
23
Ebd., 539.
24
Vgl. insbes. Weber 1917-18.
25
Poincaré 1905.
26
Ebd., S. 1.
27
Im bekannten Buch Wissenschaft und Hypothese (Poincaré 1902).
28
Mit instrumentalistischen Einwänden gegen die objektive Bedeutung der exakten Wissenschaften setzt sich das Schlußkapitel von Poincaré 1905 auseinander. 29
Zur Invariantentheorie vgl. Ihmig 1997; zu deren Deutung im Sinne eines Strukturenrealismus vgl. Huber 2000; zum neueren Strukturenrealismus der angelsächsischen Wissenschaftsphilosophie vgl. Ladyman 1997, Psillos 1999.
30
Poincaré 1905, 2 f. Was er mit “moralischer Wahrheit” meint, wird nicht ganz klar; er sagt, daran sei “das, was man Gerechtigkeit nennt, nur eine Seite” (ebd., 2); da wissenschaftliche und moralische Wahrheitliebe für ihn untrennbar sind, muß dazu auch Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit als moralische Einstellung gehören.
31
Ebd., S. 5.
32
Ebd., 5 ff., sowie 205: “Kurz gesagt, die einzige objektive Wirklichkeit sind die Beziehungen der Dinge, aus denen die Harmonie der Welt hervorgeht.”
33
Ebd., 198 ff.; Zitat: 200. Poincaré setzt Intersubjektivität nicht einfach mit Objektivität gleich, sondern er betrachtet sie als notwendige Bedingung für Objektivität: Objektivität impliziert Universalität oder Allgemeingültigkeit in dem Sinne, daß objektive Erkenntnis eben für alle erkennenden Subjekte gültig ist.
34
Planck 1908; vgl. oben Abschnitt 1.
35
Vgl. Hentschel 1990.
122 36
Bohr 1928.
37
E.Heisenberg 1980; Cassidy 1995; Chevalley 1998.
38
Heisenberg 1942, 305 f.
39
Weber 1919, 539; vgl. oben Abschnitt 2.
40
Planck 1941, 372 ff; Zitat: 375.
41
Planck bestimmt die Rolle der exakten Wissenschaften im Vortrag von 1941 ähnlich wie Kant in seinem zentralen, wenig beachteten Diktum am Ende der Kritik der reinen Vernunft: “Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntnis des Menschen haben einen hohen Wert als Mittel, größtenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdenn nur durch Vermittelung einer Vernunfterkenntnis aus reinen Begriffen, die, man mag sie benennen wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist.” (Kant 1781/7, A 850/B 878). 42
Vgl. die vergnügliche Geschichte des Betrugs Di Trocchio 1993.
43
Vgl. Falkenburg 2004b.
44
Vgl. vor allem Krüger et al. 1987, aber auch den neueren Bayesanismus in der Wissenschaftstheorie, etwa Earman 1992. 45
Wenn man den exakten Wissenschaften hier Gewißheit abverlangen will, bevor man bereit ist, Konsequenzen bezüglich Emission und Energieverbrauch zu ziehen, so verkennt man in verantwortungsloser Weise die unvermeidlichen Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Vgl. etwa die empirisch gestützte Modellrechnung Michaelis 1997 und dazu Falkenburg 1999b; sowie die Ausführungen in Falkenburg 2004, Kap. 3 und 4.
46
Kuhn 1962.
47
Scheibe 1997.
48
Der social constructivism wurde u.a. durch Arbeiten wie Latour and Woolgar 1979, Knorr-Cetina 1984, Pickering 1984, Shapin and Shaffer 1985 begründet.
49
Vgl. Cohen 1896, 77, zum Mechanik-Lehrbuch Hertz 1894, 11; siehe dazu meine Ausführungen in Falkenburg 2000, 316 f.
50
Kuhn 1961.
GERHARD SCHURZ
Rationale Rekonstruktion: die Methode der Wissenschaftstheorie So wie die Wissenschaften hat sich auch die Wissenschaftstheorie aus der Philosophie heraus entwickelt und wird heute arbeitsteilig sowohl von Wissenschaftsphilosophen wie von Einzelwissenschaftlern betrieben. Diese Tatsache beweist die Fruchtbarkeit dieser Disziplin. Zugleich bewirkt sie, dass wissenschaftstheoretische Lehrbücher heutzutage ein breit gefächertes und teilweise divergentes Spektrum bilden. Insbesondere besteht Unsicherheit über die Methode der Wissenschaftstheorie. Der folgende Aufsatz bezweckt eine stringente Darlegung dieser Methode. 1. Die normative und die deskriptive Position. Prima facie lassen sich zwei gegensätzliche Auffassungen zur Aufgabenstellung und Methode der Wissenschaftstheorie unterscheiden: 1.) Der normative Auffassung zufolge hat Wissenschaftstheorie hat die Aufgabe, zu sagen, was Wissenschaft sein sollte, und wie sie betrieben werden sollte. Zu diesem Zweck muss Wissenschaftstheorie angeben, worin wissenschaftliche Rationalität besteht, und aufgrund welcher Kriterien sich eine wissenschaftliche Hypothese rational rechtfertigen lässt. 2.) Der deskriptiven Auffassung zufolge hat Wissenschaftstheorie dagegen die Aufgabe, zu sagen, was Wissenschaft de fakto ist und wie sie betrieben wird. Zu diesem Zweck muss Wissenschaftstheorie die faktischen Wissenschaften in ihrer historischen Entwicklung und gegenwärtigen Struktur so gut wie möglich beschreiben und erklären. Die normative Auffassung ist historisch älter und gegenwärtig immer noch weit verbreitet. Ihre Vertreter waren im Grunde alle Standardwissenschaftstheoretiker, logische Empiristen wie kritischer Rationalisten (explizit bei Reichenbach 1938, §1, Kraft 1960, 23ff und Popper 1935/94, Kap. II). Die deskriptive Gegenposition wurde dagegen erst mit der durch Kuhn (1967) ausgelösten historischen Wende der Wissenschaftstheorie aktuell;
124 wir finden z.B. bei Strukturalisten wie Stegmüller (1973a, Kap. 10; 1978, 167ff) oder Balzer (1982, 1-5) oder bei Naturalisten wie Bird (1998, 266f) oder Giere (1999, 157-163). Welche Position ist nun die richtige? 2. Entstehungs- versus Rechtfertigungszusammenhang. Die Position der Normativisten gründete sich auf die bekannte auf Hans Reichenbach zurückgehende Unterscheidung zwischen dem Entdeckungsbzw. Entstehungszusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis (context of discovery), und ihrem Begründungs- bzw. Rechtfertigungszusammenhang (context of justification).1 Die prima facie plausible Argumentation der Normativisten lässt sich wie folgt aufschlüsseln: Argumentation der Normativisten: (1) (Prämisse) Der Wissenschaftstheorie geht es (in erster Linie) um Methoden zur Beurteilung des Erkenntniswertes wissenschaftlicher Hypothesen. (2) (Prämisse) Für die Beurteilung des Erkenntniswertes einer Hypothese ist nur die Frage der rationalen Rechtfertigbarkeit ihres Wahrheitsanspruches maßgeblich. (3) (Prämisse) Ihre faktische Entstehungsgeschichte, die Gründe ihrer Entdeckung oder Erfindung usw., sind hierfür dagegen völlig irrelevant. (4) (Konklusion) Daher sollte sich die Wissenschaftstheorie nur mit der rationalen Rechtfertigung von Wissenschaft beschäftigen und sich nicht um ihren Entstehungszusammenhang kümmern − letzteres ist die Sache von Wissenschaftsgeschichte, -soziologie oder -psychologie, aber nicht Sache von Wissenschaftstheorie (vgl. Reichenbach 1938, 7; Popper 1935/94, 6). Reichenbachs Unterscheidung zielt genau auf den Unterschied zwischen der deskriptiven und der normativen Fragebene ab. Um seine Unterscheidung hinreichend allgemein wiederzugeben, wollen wir unter den Entstehungszusammenhang einer Hypothese auch ihren weiteren faktischen Entwicklungs- und Verwertungszusammenhang subsumieren. Offensichtlich können im Entstehungszusammenhang einer Hypothese erkenntnisexterne Interessen und Werte unterschiedlichster Art eine Rolle spielen, von wirtschaftlichen oder politischen Interessen der Auftraggeber bis zu persönlichen Interessen des Einzelforschers. Unter dem Rechtfertigungszusammenhang einer Hypothese verstehen wir dagegen ihre ausschließlich Beurteilung im Hinblick auf erkenntnisinternen Werte wie Wahrheitsgrad und
125 Gehaltsstärke. Da seit Kuhn (1967) die normativistische Argumentation sehr pauschal kritisiert wurde, wollen wir uns genau klarmachen, worin die Berechtigung und worin der Fehler der normativistischen Argumentation liegt. Zunächst einmal ist die Argumentation logisch korrekt: wären die Prämissen des Argumentes wirklich wahr, dann wäre auch die Konklusion wahr. Wir wollen auch Prämisse (1) akzeptieren, denn diese Prämisse gibt mehr oder weniger die Definition der Aufgabenstellung von Wissenschaftstheorie wieder. Der Fehler liegt auch nicht in Prämisse (2) − diese These ist trivial wahr, sofern man überhaupt an die Möglichkeit objektiver, d.h. nicht historisch relativer, Rechtfertigung glaubt. Nur wenn man dies nicht tut, also einen (z.B. historischen, pragmatischen oder soziologischen) Relativismus vertritt, demzufolge die Kriterien rationaler Rechtfertigung selbst historisch relativ sind, bricht die Unterscheidung von Entstehungs- und Rechtfertigungszusammenhang, und damit auch der Unterschied zwischen historischer Wissenschaftsforschung und Wissenschaftstheorie, zusammen. Prämisse (3) ist allerdings bereits vom 'Bazillus' des normativistischen Fehlschlusses infiziert. Denn die historische Genese einer Hypothese oder Theorie umfasst ja nicht nur erkenntnisexterne, sondern auch erkenntnisintern relevante Momente, z.B. die experimentellen Resultate, die Wissenschaftler de fakto erzielten, und die Hypothesenbewertungen, die sie de fakto vornehmen. Allgemeiner formuliert: die konkreten Realisierungen von abstrakt-propositionalen Rechtfertigungsbeziehungen existieren ebenfalls als Bestandteile des historisch-genetischen Zusammenhangs, weshalb letzterer nicht pauschal als irrelevant für den Rechtfertigungszusammenhang angesehen werden kann. Natürlich können die de-fakto Argumentationen von Wissenschaftlern ideologisch bzw. extern motiviert sein, aber sie können auch makellos rational sein. Was die Normativisten statt Prämisse (3) zumeist nur sagen wollen, oder zumindest nur sagen sollten, ist folgende nahezu triviale Abschwächung (3*): Der erkenntnisexterne Anteil der Entwicklungsgeschichte einer Hypothese ist für die Beurteilung ihres Erkenntniswertes irrelevant. Beispielsweise beschreibt der organische Chemiker Kekulé, dass er seine bahnbrechende Hypothese des ringförmigen Benzolringes zum ersten Mal im Traum gewonnen habe (s. Hempel 1974, 28), doch für die Beurteilung ihres Wahrheitsgehaltes hat dies keine Rolle gespielt. In Keplers Begrün-
126 dung der Theorie der elliptischen Planetenbahnen ging neben dem empirischen Daten des Tycho Brahe auch die mystische Überlegung mit ein, für Planeten wären Abweichungen von perfekten Kreisbahnen deshalb natürlich, weil Planeten wären eben keine perfekten Himmelskörper wären (Crombie 1959, 414f) − doch diese Überlegungen spielen für die empirische Adäquatheit seiner Theorie keine Rolle. Dasselbe gilt für Freuds Psychoanalyse, deren Entstehungsursache gelegentlich auf Freunds gestörte Mutterbeziehung angeführt wird − wer meint, dies wäre für den Wahrheitswert dieser Hypothese relevant, der begeht einen genetischen Fehlschluss (Hanson 1967) und hat den Unterschied zwischen Entstehungsund Rechtfertigungszusammenhang nicht wirklich verstanden. Andererseits kann es sehr wohl sein, dass die Entstehung einer Hypothese ausschließlich erkenntnisinternen Ursachen zu verdanken ist und alle wesentlichen Komponenten ihrer Rechtfertigung bereits offenlegt. Beispielsweise wurden die phänomenologischen Gasgesetze − das BoyleMariottesche und das Gay-Lussac'sche Gesetz − durch direkte induktive Datenextrapolation gewonnen (Barrow 1973, 1-7). Dalton und Gay-Lussac begründeten die Atomhypothese unter anderem durch die anders kaum erklärbaren Tatsache, dass die Ausgangs- und Endprodukte von chemischen Gasreaktionen in ganzzahligem Volumsverhältnis zueinander stehen (s. z.B. Langley et al. 1987, 159ff). Einstein entwickelte seine spezielle Relativitätstheorie auf der Grundlage der Überlegung, wie denn Gleichzeitigkeit gemessen werden könne, wenn man davon ausgeht, dass das schnellstmögliche Signal ein Lichtsignal ist, und sich Licht in allen Richtungen gleichschnell ausbreitet (s. z.B. Bartels 1986, Kap. 3.2). Die Poppersche These, dass es überhaupt keine rationale Verfahren geben könne, von Daten zu gerechtfertigten Hypothesen zu gelangen, sondern lediglich rationale Verfahren gebe, bereits vorliegende Hypothesen im Hinblick auf ihre empirische Bewährung zu überprüfen, war Ausdruck seines Bemühens, jegliche Art von Induktion auszuschalten. Sachlich ist diese These kaum haltbar (vgl. Schurz 2002). Obwohl Popper darin Recht hat, dass es keine strenge 'Logik' wissenschaftlicher Entdeckungen geben kann, so hat die wissenschaftstheoretische Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte von Theorien doch eine Vielzahl von induktiven, abduktiven und interrogativen Regeln und Strategien zutage gefördert, nach denen sich in gegebenen Evidenzlagen bestimmte Hypothesen als die derzeit besterklärenden auffinden lassen (vgl. Langley et al. 1987; Schurz 2004; Hintikka 1999).
127
Der gravierende Fehler der normativistischen Argumentation passiert in der Konklusion (4), derzufolge sich die Wissenschaftstheorie mit der historischen Genese von Wissenschaft erst gar nicht zu beschäftigen braucht. Diese Konklusion folgt natürlich nicht mehr, wenn man Prämisse (3) durch die schwächere Prämisse (3*) ersetzt. Um den Fehler von These (4) zu sehen, muss man sich nur folgende Frage vorlegen: wie gelangen denn die Wissenschaftstheoretiker zu den von ihnen aufgestellten Regeln und Kriterien der wissenschaftlichen Methode? Es wäre naiv, anzunehmen, dass sich diese Regeln und Kriterien durch reine Logik oder bloße Intuition gewinnen lassen könnten; dazu ist Wissenschaft viel zu komplex. Das wäre ebenso, als wenn jemand ein Lehrbuch über Methoden des Brückenbauens schreiben möchte, ohne sich die de fakto Geschichte des Brückenbauens genau anzusehen. Wie die Philosophiegeschichte lehrt, waren alle Versuche, Erkenntnismethoden durch rationale Intuition apriori zu bestimmen, zum Scheitern verurteilt. Stattdessen haben sich die wissenschaftliche Methoden in jahrhundertelanger Evolution kontinuierlich entwickelt. Die Wissenschaftstheorie kann und soll also aus den Musterbeispielen der Wissenschaftsgeschichte lernen. Dies ist natürlich nur möglich ist, weil die Wissenschaftsgeschichte neben erkenntnisexternen auch erkenntnisintern relevante Anteile enthält. M.a.W., der scheinbar geringfügige Fehler von Prämisse (3) ermöglicht erst den gravierenden Fehler in Konklusion (4). Wir gelangen damit zu folgendem Resultat: obwohl die Aufgabe der Wissenschaftstheorie primär darin besteht, die Methoden und Kriterien rationaler Wissenschaft herauszufinden, so ist es hierzu dennoch unumgänglich, auch die faktischen Wissenschaften in ihrer historischen Entwicklung zu studieren. Das heißt nicht, dass die Wissenschaftstheorie die Autorität der Wissenschaft 'anbeten' und alles an der faktischen Wissenschaft als 'rational' hinnehmen muss − sie hat ihre eigenen Rationalitätsstandards und kann Wissenschaft durch diese auch kritisieren. Doch durch die Analyse von Musterbeispielen erfolgreicher wissenschaftlicher Theorien kann die Wissenschaftstheorie erst die entscheidenden 'Geheimnisse' dessen herausfinden, was erfolgreiche Wissenschaft ausmacht. In der Tat haben die wissenschaftshistorischen Arbeiten von Lakatos (1974) u.a. gezeigt, dass die Wissenschaftsmodelle des logischen Empirismus und kritischen Rationalismus in vielen Hinsichten zu simpel waren, um reale Wissenschaft zu erfassen (vgl. Stegmüller 1986, 20). Als Reaktion auf die Kuhnsche Kritik proklamierten jüngeren Wissenschaftstheoreti-
128 ker, Wissenschaftstheorie solle sich überhaupt auf die deskriptive Analyse der Wissenschaften beschränken. Aber auch diese Position ist weit übertrieben. Die Frage nach der Definition und den Kriterien wissenschaftlicher Rationalität muss natürlich im Zentrum der Wissenschaftstheorie bleiben, denn diese Frage ist es ja, was die Wissenschaftstheorie als Disziplin zusammenhält und andererseits von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie unterscheidet. Zusammengefasst ist Wissenschaftstheorie somit eine Disziplin, die sowohl deskriptive wie normative Bestandteile enthält. Dies ist auch Stegmüllers Standpunkt in (1973b, 9ff). Die Frage ist natürlich, wie die deskriptive und die normative Komponente der wissenschaftstheoretischen Methode genau zusammenspielen sollen − ja, ob sie dies überhaupt können. Immerhin gibt es ja das bekannte Sein-Sollen-Problem, demzufolge es mit logischen Mitteln nicht möglich ist, von deskriptiven Prämissen auf normative Konklusionen oder von normativen Prämissen auf deskriptive Konklusionen zu schließen (s. Schurz 1997). Das Zusammenspiel kann und sollte keinesfalls so aussehen, dass deskriptive Wissenschaftsbeobachtungen stillschweigend in normative Postulate verdreht werden, oder dass normativen Prämissen unreflektiert in quasi-faktische Aussagen über das Wesen von Wissenschaft umgemünzt werden. Wohl aufgrund solcher Schwierigkeiten vertrat Stegmüller in (1973b, 9ff) die Meinung, wie die deskriptive und die normative Komponente einer 'rationalen Rekonstruktion' zusammenspielen, könne nicht allgemein, sondern nur im Rahmen von wissenschaftstheoretischen Detailstudien angegeben werden. Ich möchte dagegen im nächsten Kapitel versuchen, ein allgemeines Modell dieses Zusammenspiels zu entwerfen. 3. Die Methode der rationalen Rekonstruktion. Die Methode der Wissenschaftstheorie lässt sich treffend als rationale Rekonstruktion bezeichnen. Diese Methode bewegt sich zwischen zwei Polen: einem deskriptivem Korrektiv, welches adäquat rekonstruiert werden soll, und einem normativen Korrektiv, welche Rationalitätsnormen beinhaltet. Das deskriptive Korrektiv enthält Musterbeispiele erfolgreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie auch Mustergegenbeispiele von widerlegten wissenschaftlichen Hypothesen. Über diese Muster(gegen)beispiele besteht rationaler Konsens, auf den sich Wissenschaftstheorie zumindest vorläufig stützen darf (vgl. Stegmüller 1973b, 9).
129 Das normative Korrektiv beinhaltet voralledem eine obersten erkenntnisinterne Norm, welche besagt, dass das oberste Erkenntnisziel der Wissenschaft in der Findung möglichst wahrer und gehaltvoller Aussagen, Gesetze oder Theorien, besteht (so auch Weingartner 1978, § 3.2). Die Einschränkung auf gehaltvolle wahre Aussagen ist durchaus bedeutsam, denn Wahrscheinlichkeit und Gehalt von Hypothesen sind oft gegenläufig: man kann die Wahrheitschancen von Hypothesen maximieren, indem man nur triviale Tautologien äußert, wie etwa „die Sonne dreht sich um die Erde oder auch nicht“, aber an solch gehaltlosen Hypothesen ist Wissenschaft ganz uninteressiert. Umgekehrt riskiert man durch sehr gehaltvolle Hypothesen, leicht falsifiziert zu werden (Popper sprach von 'bold conjectures'). Die eigentliche Kunst des Wissenschafters besteht darin, Hypothesen zu formulieren, die sich zugleich empirisch bewahrheiten lassen und als gehalt- und konsequenzenreich erweisen. In Übereinstimmung damit nennt man in der Neyman-Pearson-Statistik die Akzeptanz falscher Hypothesen den α-Fehler und die Nicht-Akzeptanz wahrer Hypothesen den β-Fehler, und orientiert sich am Ziel der Minimierung des β-Fehlers bei einem hinlänglich minimalen α-Fehler (Bortz 1985, 144ff; Howson und Urbach 1996, Kap. 9). Das Ziel der wahren gehaltvollen Aussage besagt allein jedoch noch überhaupt nichts, solange nicht zumindest in groben Zügen umrissen ist, was unter 'Wahrheit' verstanden werden soll. Jeder Mensch, welchem 'Denkstil' er auch zugehören mag, beruft sich gerne auf das Wahrheitsziel, nur dass dabei jeder unter Wahrheit etwas anderes verstehen mag. Das wissenschaftliche Erkenntnisziel gewinnt daher erst greifbaren Inhalt durch die zweite, vom Wissenschaftstheoretiker vorausgesetzte Komponente, ein minimales erkenntnistheoretisches Modell der Wissenschaften, das Begriffen wie Wahrheit etc. erst Sinn verleiht. Wir werden nächsten Abschnitt dieses minimale und allgemeinste erkenntnistheoretische Modell der Wissenschaften explizieren. Hier sei dieses Modell nur in Stichpunkten umrissen: es enthält (1) einen minimalen Realismus, (2) die Einstellung der Fallibilität (Fehlbarkeit), (3) das Streben nach Objektivität, (4) einen minimalen Empirismus, sowie (5) das Streben nach logisch möglichst präzisen Formulierungen und Methoden. Obwohl dieses minimale erkenntnistheoretische Modell nicht aus normativen, sondern aus deskriptiven Behauptungen besteht, rechnen wir es dennoch zum normativen Korrektiv der Wissenschaftstheorie, da es dem oberstem Wissenschaftsziel erst klaren Sinn verleiht und von der Wissenschaftstheorie normalerweise vorausgesetzt wird. Natürlich besteht selbst über dieses minimale erkenntnistheoretische Mo-
130 dell nicht überall Einigkeit; in Ausnahmezuständen (dazu s. unten) kann selbst dieses minimale Modell hinterfragt werden. Gegeben das so beschriebene normative und das deskriptive Korrektiv, so kann die eigentliche Tätigkeit der Wissenschaftstheorie, die rationale Rekonstruktion, als folgende Aufgabenstellung präzisiert werden: Methode der rationalen Rekonstruktion: Entwickle verallgemeinerte und logisch möglichst präzise Modelle von wissenschaftlicher Erkenntnis, die einerseits auf das deskriptive Korrektiv zutreffen, d.h. den Erfolg seiner Musterbeispiele und den Misserfolg seiner Mustergegenbeispiele optimal erklären können, und die andererseits sich unter Voraussetzung des normativen Korrektivs rechtfertigen lassen, und zwar als optimale Mittel, um unter Voraussetzung des minimalen erkenntnistheoretischen Modells das allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisziel zu erreichen. Die Tätigkeit der Wissenschaftstheorie besteht also darin, aus dem deskriptiven Korrektiv verallgemeinerte Modelle zu abstrahieren, die zugleich dem normativen Korrektiv entsprechen. In gewisser Weise besagt dies schon der Begriff der rationalen Rekonstruktion: man zeichnet etwas nach und erweist es dadurch zugleich als rational. Illustrieren wir dies am Beispiel der Frage: was kennzeichnet eine gute wissenschaftliche Theorie? Ein typisches wissenschaftstheoretische Modell einer guten Theorie ist z.B. die Auffassung einer Theorie als einer Menge von Aussagen spezifischer Art (Gesetzeshypothesen, singuläre und/oder Existenzbehauptungen), die empirisch gehaltvoll ist, durch die Daten nicht widerlegt oder stark geschwächt ist, erfolgreiche Prognosen und Erklärungen liefert, usw. Tatsächlich erfüllen einerseits die meisten Paradebeispiele von heute anerkannten wissenschaftlicher Theorien diese Merkmale, während die meisten Paradebeispiele gescheiterter Theorien zumindest einige dieser Merkmale nicht erfüllen. Zugleich lassen sich diese Merkmale aufgrund des normativen Korrektivs rechtfertigen, z.B. weil zutreffende gehaltvolle Prognosen vermutlich das beste Indiz für das Vorliegen einer gehaltvollen wahren Theorie und damit für das tendenzielle Erreichens des wissenschaftlichen Erkenntniszieles sind. Zusammengefasst zeigt dies das Schema in Abb.1.
131
NORMATIVES KORREKTIV Allgemeines Erkenntnisziel
(Minimales)
Erkenntnistheoretisches
Modell
(Revision?)
(Rechtfertigung)
(Revision?)
WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE REKONSTRUKTION Modelle von Beobachtung, Experiment, Gesetz, Theorie, Erklärung, Bestätigung, Falsifikation und Schwächung, Theorienfortschritt, usw.
(empirische Stützung)
(Anwendung)
Faktische Wissenschaft:
Faktische Wissenschaft:
Musterbeispiele und -gegenbeispiele
Kontroversielle Beispiele
DESKRIPTIVES KORREKTIV Abb.1: Die Methode der rationalen Rekonstruktion
Diskutieren wir zunächst die logische Kohärenz unseres Modells. Gehen wir davon aus, dass der Wissenschaftstheoretiker seine Modelle in deskriptiven Sätzen beschreibt, wie z.B. (S): „Experimentelle Wissenschaftler versuchen, die von ihnen beobachteten Regelmäßigkeiten prima facie soweit als möglich induktiv zu verallgemeinern“. Satz (S) kann als generelle Prämisse von Erklärungen diverser realer wissenschaftshistorischer Entwicklungen fungieren − seine Passungsrelation zum deskriptiven Korrektiv ist also explanativer (im einfachsten Fall logisch-deduktiver) Natur. Die Erkenntnisziele des normativen Korrektives werden dagegen in normativen Sätzen formuliert, wie z.B. (N) „Es ist geboten, dass Wissenschaft nach möglichst allgemeinen und gehaltvollen Wahrheiten sucht“. Freilich steht (S) zu (N) in keiner direkten logischen Beziehung, denn (S) ist ein deskriptiver und (N) ein normativer Satz. Der springende Punkt ist aber, dass die
132 Passungsrelation in der Zweck-Mittel-Relation bestehen soll. Der Wissenschaftstheoretiker weist z.B. folgenden deskriptiven Zweck-Mittel-Satz (M) nach: Wer gemäß (S) vorgeht, der trägt aus den-und-den Gründen vortrefflich zur Realisierung von (N) bei. Kurz: (S) ist ein adäquates Mittel zur Realisierung von (N). Mithilfe des Zweck-Mittel-Schluss (s. Schurz 1997, 128) ergibt sich daraus, dass sofern (N) als Norm angenommen wird, auch „(S) ist geboten“ als abgeleitete Norm anzuerkennen ist.2 Der erfolgreiche Wissenschaftstheoretiker kann und soll dann die Aussage (S) seines wissenschaftstheoretisches Modells also zugleich als abgeleitete Normempfehlung formulieren. Die Frage, ob man wissenschaftstheoretische Hypothesen besser in deskriptive oder in normative Form kleiden sollte, ist also ähnlich zu beantworten wie z.B. die Frage, ob man für den Verzehr seines Steaks besser die Gabel oder das Messer benutzen sollte: soll dein Vorhaben Erfolg haben, dann ist beides nötig. Solange beide Teilaufgaben der rationalen Rekonstruktion − deskriptive Adäquatheit und normative Rechtfertigbarkeit − in Harmonie miteinander erfolgreich durchführbar sind, ist die wissenschaftstheoretische Rekonstruktionsarbeit geglückt und ihre Resultate können als bewährt gelten. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass alles, was man in der faktischen Wissenschaft antrifft, auch rational gemäß dem normativen Korrektiv ist. Daher enthält das deskriptive Korrektiv der Wissenschaftstheorie auch nur anerkannte Musterbeispiele und –gegenbeispiele. Haben sich wissenschaftstheoretische Modelle bewährt, so kann man sie in einem weiteren Schritt dann auch auf kontroversielle Bereiche einzelner Disziplinen anwenden, in denen keine Einigkeit vorliegt − mag es sich dabei um das Objektivitätsproblem in der Quantenmechanik, das Teleologieproblem in Biologie oder das Erklären-Verstehen-Problem in den Geisteswissenschaften handeln, um einige aktuelle Beispiele zu nennen. Genau hier vermag die dann Wissenschaftstheorie den Einzelwissenschaften wertvolle Entscheidungshilfen in die Hand zu geben. Einerseits also lernt die Wissenschaftstheorie aus den faktischen Wissenschaften und wird durch sie korrigiert; andererseits kann sie nach erfolgreicher Rekonstruktionsarbeit die Wissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme anleiten. Zur Ausräumung von Missverständnissen ist erneut hinzuzufügen: wenn Wissenschaftstheoretiker aus ihren Modellen normative Konsequenzen ziehen, dann schreiben sie anderen Wissenschaftlern keinesfalls etwas vor, sondern sie geben lediglich Empfehlungen ab (vgl. auch Stegmüller 1973a, 310). 4. Gemeinsame erkenntnistheoretische Annahmen der Wissenschaften
133
Das minimale erkenntnistheoretische Modell, das allen empirischen Wissenschaftsdisziplinen mehr oder weniger gemeinsam ist, möchte ich durch fünf erkenntnistheoretische Annahmen (E1 - E5) beschreiben: E1 − Minimaler Realismus: Dieser Annahme zufolge gibt es eine Wirklichkeit bzw. Realität, die unabhängig vom (gegebenen) Erkenntnissubjekt existiert. Es wird jedoch nicht unterstellt, dass alle Eigenschaften dieser Realität vollkommen erkennbar sind. Die Möglichkeit grundsätzlicher Erkenntnisgrenzen wird offengelassen und kann nicht apriori, sondern nur angesichts des faktischen Erkenntniserfolges der Wissenschaften beantwortet werden. Wissenschaftliche Disziplinen bezwecken, möglichst wahre und gehaltvolle Aussagen über abgegrenzte Bereiche dieser Realität aufzustellen. Der Begriff der Wahrheit wird dabei im Sinn der strukturellen Korrespondenztheorie verstanden, derzufolge die Wahrheit eines Satzes in einer strukturellen Übereinstimmung zwischen dem Satz und dem von ihm beschriebenen Teil der Realität besteht. Dieser strukturelle Wahrheitsbegriff unterstellt somit keine direkte Widerspiegelungsbeziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit. Er ist auch damit verträglich, dass streng genommen falsche Theorien in einem approximativen Sinne wahr bzw. wahrheitsnahe sein können. Sätze sind umso gehaltvoller, je mehr empirische Konsequenzen sie besitzen (im Sinne von Annahme E5). E2 − Fallibilismus und kritische Einstellung: Es gibt keinen unfehlbaren 'Königsweg' zu korrespondenztheoretischer Wahrheit. Der Annahme des Fallibilismus zufolge ist jede wissenschaftliche Behauptung mehr oder minder fehlbar; wir können uns ihrer Wahrheit daher nie absolut sicher sein, aber wir können ihre Wahrheit als für mehr oder weniger wahrscheinlich befinden. Daher kommt alles darauf an, im Sinne von Annahme E5 unten, durch empirische Überprüfung herauszufinden, wie es um die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer wissenschaftliche Hypothese bestellt ist. Im besten Fall können wir die Glaubenswahrscheinlichkeit einer Hypothese durch eine wachsende Zahl unabhängiger übereinstimmender Experimenten beliebig nahe an 1 herantreiben (vgl. Bovens/Hartmann 2002), sodass wir uns ihrer 'praktisch' sicher (aber immer noch nicht 'absolut' sicher) sind. Mit dem Fallibilismus ist somit eine kritische Einstellung verbunden, derzufolge keine Aussage von der Kritik ein- für allemal ausgeschlossen werden darf. E3 − Objektivität und Intersubjektivität: Die Wahrheit einer Aussage muss
134 dieser Annahme zufolge objektiv gelten, d.h., sie muss unabhängig von den Einstellungen und Wertungen des Erkenntnissubjekts bestehen, da ja gemäß Annahme E1 auch die Realität unabhängig davon besteht, und Wahrheit die Übereinstimmung von Aussage und Realität ist. Diese Objektivitätsannahme folgt daher bereits aus Annahme E1. Die Charakterisierung von Objektivität als Subjektunabhängigkeit hilft uns in der Wissenschaftspraxis allerdings nicht weiter, da es immer Subjekte sind, die Aussagen aufstellen und Hypothesen formulieren. Wir haben keinen direkten Zugang zur objektiven Wahrheit, sondern können uns ihr nur indirekt, über − nicht sichere aber wahrscheinliche − Kriterien nähern. Die zweite Teilaussage von Annahme E3 besagt, dass ein zentrales wissenschaftliches Kriterium für Objektivität und indirekt auch für Wahrheit in der Intersubjektivität von Aussagen liegt: wenn sich die Wahrheit einer Aussage überhaupt überzeugend begründen lässt, so muss jede kognitiv hinreichend kompetente Person von der Wahrheit dieser Aussage nach hinreichender Inkenntnisnahme der Datenlage zumindest im Prinzip überzeugbar sein. E4 − Minimaler Empirismus: Mit der Ausnahme von Formalwissenschaften wie der Mathematik, auf die ich hier nicht eingehen kann, muss der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft im Prinzip der Erfahrung bzw. der Beobachtung zugänglich sein. Denn letztlich kann nur durch Beobachtung verlässliche Information über die Realität erlangt werden. Empirische Beobachtungen sind somit ein zentraler Schiedsrichter für die wissenschaftliche Wahrheitssuche: an ihnen müssen wissenschaftliche Gesetzeshypothesen und Theorien überprüft werden. Dies ist die zentrale Aussage von Annahme E4. Es wird damit nicht behauptet, dass Beobachtungen (im Widerspruch zur Annahme E2) infallibel sind. Beobachtungen sind ebenfalls fallibel, aber bei ihnen ist Intersubjektivität und praktische Sicherheit am leichtesten und schnellsten erzielbar − Beobachtungssätze sind, wie man auch sagt, epistemisch privilegiert. Ebenso wenig wird damit behauptet, dass sich alle wissenschaftlichen Begriffe (bzw. Hypothesen) durch Definitionsketten auf Beobachtungen (bzw. Beobachtungssätze) zurückführen lassen müssen oder gar durch sie beweisbar sind. Wissenschaftliche Theorien dürfen und sollen auch über das sprechen, was der Beobachtung nicht unmittelbar zugänglich ist; entscheidend ist nur, dass sie empirische Konsequenzen besitzen, an denen sie sich überprüfen lassen. E5 − Logik im weiten Sinn: Durch Anwendung präziser logischer Methoden zur Einführung und Definition von Begriffen, zur Formulierung von Sätzen sowie zur Bildung korrekter Argumente kann man dem Ziel der
135 Wahrheitssuche (gemäß Annahmen E1-E4) am effektivsten näher kommen. Denn die Bedeutung eines Satzes steht nur dann genau fest, wenn die in ihm vorkommenden Begriffe genau präzisiert wurden. Und nur für Sätze mit präzise formulierter Bedeutung sind deren logischen Konsequenzen präzise ermittelbar. Schließlich ist nur dann, wenn die Konsequenzen einer Hypothese genau bekannt sind, diese Hypothese gemäß Annahme E4 präzise empirisch überprüfbar. Das Verfahren der empirischen Überprüfung erfordert also an allen Stellen die Anwendung logischer Methoden − im weiten, nicht auf Prädikatenlogik 1. Stufe eingeschränkten Sinn von „Logik“. Unser minimales Erkenntnismodell macht so wenig Annahmen wie möglich, jedoch soviel wie nötig, um sinnvoll gegenstandsbezogene Wissenschaft betreiben zu können. Einige seiner Annahmen verdienen nähere Erläuterung. Wir nennen den Realismus in Annahme E1 „minimal“, weil er lediglich die objektive Existenz der Wirklichkeit behauptet. Ob und bis zu welchem Grad die Realität auch objektiv erkennbar ist, kann gemäß Annahme E2 nicht apriori beantwortet werden, sondern nur durch den Erfolg der wissenschaftlichen Erkenntnismethode. Dadurch unterscheidet sich unser minimale Realismus von allen traditionellen Spielarten eines metaphysischen Realismus. Wir behaupten in Annahmen E4 und E5 lediglich zwei minimale Ebenen, in denen Erkenntnis einen Ausgangspunkt und Prüfstein hat: einerseits die Beobachtung, die uns einen intersubjektiven und reliablen Zugang zur Wirklichkeit gibt, und andererseits die Logik im weiten Sinn, die ein universelles Denkwerkzeug bereit stellt, aber von sich aus noch nichts über die Wirklichkeit besagt. Diese minimal-empiristische Annahme E4 hat mehrere voneinander unabhängige Begründungen. So sind Beobachtungen in hohem Maße intersubjektiv und erfüllen damit das Kriterium der Objektivität gemäß Annahme E3 in höchstem Maße. Aus externalistischer Perspektive sind es unsere Wahrnehmungen, durch die wir als Erkenntnissubjekte in kausaler Verbindung mit einer Außenwelt stehen, und die uns lückenhafte Informationen liefern, welche als Inputs unserer Erkenntnis fungieren. Wir nennen den Empirismus von Annahme E5 minimal, weil wir anders als die traditionellen Empiristen weder die Infallibilität von Beobachtungssätzen noch die semantische Zurückführbarkeit aller Begriffe auf Beobachtungsbegriffe fordern. Alles, was gefordert wird, ist, dass wissenschaftliche Hypothesen beobachtbare Konsequenzen haben, an denen sie überprüfbar sind.
136 In unserer Charakterisierung von Intersubjektivität in Annahme E3 haben wir uns auf 'hinreichend kompetente' Personen bei 'hinreichender Kenntnis der Datenlage' beschränkt. Diese Beschränkung ist nötig, weil Personen, die den begrifflichen und operationalen Gehalt einer Hypothese nicht verstehen, oder die nicht in der Lage sind, die zur Überprüfung nötigen Beobachtungen bzw. Messungen vorzunehmen, auch nicht die Fähigkeit besitzen, eine Hypothese auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen. Die Schwierigkeit dieser Einschränkung zeigt uns aber zugleich, dass Intersubjektivität keinesfalls als Definition von Objektivität oder Wahrheit verwendet werden darf (so wie z.B. in der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie von Lorenzen; s. Kamlah und Lorenzen 1973, 119), da Kompetenz ein unsicheres und graduelles Kriterium ist, weshalb sich auch noch so viele als kompetent befundene Personen kollektiv irren können. Charles S. Peirce hat versucht, die Definition von Wahrheit als intersubjektiver Konsens vor solchen Einwänden zu retten, indem er sich auf das fiktive Endresultat einer idealen Forschergemeinschaft bezog, die potentiell unendlich viele Daten akkumulieren kann (1878; dt. in Apel 1976, 1. Teil, Kap. II.7). Aber selbst in dieser kontrafaktischen Version muss intersubjektiver Konsens nicht mit korrespondenztheoretischer Wahrheit übereinstimmen. Es gibt unzählige Propositionen, über die selbst eine ideale Forschergemeinschaft nie Konsens erzielen kann, weil sie keinen evidentiellen Zugang dazu besitzt, obwohl es keinen Grund gibt, anzunehmen, diese Propositionen seien in ihrem Wahrheitswert ontologisch unbestimmt − wie viele Fliegen landeten z.B. auf Cäsars Körperoberfläche, während er den Rubikon überschritt? Zusammengefasst kann also Intersubjektivität immer nur als unsicheres Kriterium für Objektivität dienen kann. Die Intersubjektivität von Wissenschaft verlangt darüber hinaus, dass wissenschaftliche Kompetenzen keine Standesprivilegien sind, sondern öffentlich und daher im Prinzip erlernbar sind: jeder Person muss es im Prinzip möglich sein muss, solche Kompetenzen entsprechend ihren kognitiven Fähigkeiten zu erwerben. Der minimalen Realismus von Annahme E1 trägt naturalistische Züge im Sinne von Quine (1975), da die philosophische Hypothese der Erkennbarkeit und sogar die der Existenz einer subjektabhängigen Realität sich letztlich, wie alle anderen Bestandteile des wissenschaftlichen Gesamtsystems, über den Erfolg der Erfahrungserkenntnis bewähren muss, und zwar als beste Erklärung dieses Erfolges (im Sinne des abduktiven Schlusses auf die Realität, s. Schurz 2004). Wenn in einem gewissen Gegenstandsbereich die Erfahrungsphänomene derart subjektiv und kontextabhängig wären, dass objektivierende Erklärungen unmöglich sind, dann wäre damit nicht
137 nur die Erkennbarkeit, sondern auch die reale Existenz dieser Gegenstände fraglich geworden. Ein Beispiel dieser Sorte sind die berechtigten Zweifel am sogenannten Wertplatonismus (prominent vertreten von Max Scheler), der eine subjektunabhängige Realität von ethischen und ästhetischen Werten behauptet. Die 'Wissenschaft' eines solchen Bereichs würde entweder nicht zustande kommen oder befände sich in einer permanenten Krisensituation. Schließlich sei betont, dass unser minimale Realismus auch kompatibel ist mit den berechtigten Zweifel am 'vollen' Realismus in den philosophischen Interpretationen der Quantenmechanik. Jede dieser Interpretationen geht von der objektiven Existenz der mikrophysikalische Realität aus, welche zumindest einige subjektunabhängige Merkmale besitzt, wenngleich gemäß einigen Interpretationen gewisse Eigenschaften, welche mit der Transformation quantenmechanischer Interferenzzustände in ein statistisches Zustandsgemenge durch den Messprozess zu tun haben, tatsächlich vom Messsubjekt abhängig sind.3 Der Realismus von Annahme E1 ist hypothetisch-konstruktiver Natur: Realsätze sind das Resultat subjektiver Konstruktionen und daher grundsätzlich hypothetischer Natur. Dies wird durch den auf Tarski (1936) zurückgehende Wahrheitsbegriff der strukturellen Korrespondenztheorie verdeutlicht. Dieser Wahrheitsbegriff impliziert in keiner Weise, dass in einer wahren Aussage wie z.B. „Diese Blume ist rot“ der entsprechende Teilbereich der Wirklichkeit direkt gegeben bzw. direkt widergespiegelt wird. Alles was impliziert wird, ist, dass eine strukturelle Korrespondenz zwischen sprachlichen Teilen der Aussage und korrespondierenden Teilen der begrifflich gegliederten Wirklichkeit besteht. Diese strukturelle Korrespondenz wiederum liegt (im einfachsten Fall) dann vor, wenn die von den Individuentermen des Satzes bezeichneten Objekte die von den Prädikaten des Satzes bezeichneten Eigenschaften haben, d.h. in unserem Beispiel, wenn diese Blume tatsächlich rot ist. Damit vermeiden wir den Kantischen und konstruktivistischen Fehlschluss, der aus der Tatsache, dass uns Realität nie direkt, sondern immer nur über subjektive Konstrukte gegeben ist, schließen will, dass Realität an sich überhaupt nicht erkennbar ist, und in der radikal-konstruktivistischen Varianten sogar selbst konstruiert ist. Realität an sich ist trotz des Konstruktcharakters von Erkenntnis erkennbar, weil Erkennen eben nicht direkte Widerspiegelung bedeutet, sondern lediglich strukturelle Abbildung im Sinne der Korrespondenztheorie. Zu Vermeidung von Missverständnissen ist hinzuzufügen, dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit sich zwar vorzüglich als Definition von
138 Wahrheit eignet, jedoch von sich aus keinerlei Kriterien hergibt, um die Wahrheit eines Satzes herauszufinden (vgl. Rescher 1973, Brendel 1999, 123). Den Weg zu solchen Kriterien weisen unsere Annahmen E5 und E4: ermittle die empirischen Konsequenzen deiner Hypothese und überprüfe sie anhand empirischer Beobachtungen oder Experimente. Um beispielsweise die Wahrheit des Satzes „diese Blume ist rot“ herauszufinden, bringt mich die korrespondenztheoretische Einsicht, dass dieser Satz wahr ist, wenn diese Blume rot ist, keinen Schritt weiter; ich muss vielmehr in der Lage sein, das durch den ostensiven Individuenterm „diese Blume“ bezeichnete Objekt sowie die mit „rot“ ausgedrückte Wahrnehmungsqualität visuell zu erfassen, um die Wahrheit dieses Satzes durch einen einfachen Wahrnehmungsakt überprüfen zu können. An dieser Stelle kann zugleich unsere Rede von der begrifflich gegliederten Wirklichkeit näher präzisiert werden. Damit wird nicht impliziert, dass die begrifflich gegliederte Wirklichkeit subjektiv konstruiert ist. Es ist eine objektive Eigenschaft der Wirklichkeit, sich auf diese oder jene Weise in Teile gliedern lassen − einerseits in raumzeitliche Individuen, andererseits in Qualitätsklassen bzw. Arten von Individuen. Allerdings lässt sich die Wirklichkeit auf potentiell unendlich viele verschiedene Weisen gliedern, analog zu einer kontinuierlichen Zahlengerade, die sich auf verschiedene Weisen in Intervalle gliedern lässt. Natürlich könnte es sein, dass eine primitive Kultur statt der Begriffe „Blume“ und „rot“ nur die Begriffe „Pflanze“ und „leuchtende Farbe“ besitzt, und den Wirklichkeitsabschnitt, der unseren Satz „diese Blume ist rot“ wahr macht, durch die grobkörnigere Beschreibung „diese Pflanze hat eine leuchtende Farbe“ wiedergibt (vgl. Berlin/Key 1969). Aber diese grobkörnigere Beschreibung tritt mit der feinkörnigeren nicht in Widerspruch; vielmehr sind beide im korrespondenztheoretischen Sinne wahr. Unterschiedliche begriffliche Gliederungen der Realität sind an sich weder wahr noch falsch; nur die darin formulierten Sätze sind es. Allerdings können solche begrifflichen Gliederungen mehr oder weniger realitätsadäquat sein, und es existieren eine Reihe wissenschaftstheoretischer Methoden, um zu sukzessive realitätsadäquateren begrifflichen Rahmenwerken zu gelangen. 5. Drei Phasen der Wissenschaftstheorie − Abschließende Betrachtungen. Freilich muss die Zielsetzung der logischen Rekonstruktion, deskriptive Wissenschaftsanalyse und normative Wissenschaftsrechtfertigung zusammenzubringen, nicht immer aufgehen. Dies ist beispielsweise dann der
139 Fall, wenn Wissenschaftstheoretiker von unrealistisch hohen oder einseitig-beschränkten normativen Standards ausgehen, wodurch es ihnen in der Folge hartnäckig nicht gelingen wird, ihr normatives Korrektiv mit der deskriptiven Wissenschaftsanalyse zusammenzubringen. In solchen Fällen muss die Wissenschaftstheorie dazu übergehen, ihr eigenes normatives Korrektiv abzuändern. Wenn sie das tut − und in der Tat ist derartiges schon mehrmals in der Geschichte der Wissenschaftstheorie geschehen − so befindet sich Wissenschaftstheorie, wie man in Anlehnung an die Terminologie Kuhns sagen kann, nicht mehr in einer 'normalwissenschaftlichen', sondern in einer 'revolutionären' Phase. M.a.W., man kann die Geschichte der Wissenschaftstheorie in Analogie zur Phasenlehre, die Kuhn für die Geschichte der Naturwissenschaften entworfen hat, in normalwissenschaftliche und revolutionäre Phasen einteilen. Dabei lassen sich folgende drei Phasen ausmachen: 1.) Normalwissenschaftliche Phasen: Hier zweifelt die Wissenschaftstheorie nicht an ihrem normativen Korrektiv, da es im Verlaufe der rationalen Rekonstruktionsarbeit nicht in Konflikt mit dem deskriptiven Korrektiv gerät. 2.) Revolutionäre Phasen epistemologischer Art: Hier zweifelt die Wissenschaftstheorie an ihrem allgemeinen erkenntnistheoretischen Modell, da sich gewisse ihrer erkenntnistheoretischen Postulate, welche ihr Erkenntnisziel inhaltlich konkretisieren, sich in der Auseinandersetzung mit faktischer Wissenschaft als unrealistisch oder inadäquat herausstellen. In einer solchen Phase geht Wissenschaftstheorie in Erkenntnistheorie über und die Grenzen beider Bereiche verschwimmen. Dies ist z.B. passiert, als die Vertreter der historischen Wissenschaftstheorie aufzeigten, dass die normativen Standards des logischen Empirismus und des kritischen Rationalismus einseitig und unrealistisch waren. Unser normatives Korrektiv enthält dagegen nur minimalen erkenntnistheoretischen Annahmen und nimmt von überzogenen normativen Standards Abstand. 3.) Revolutionäre Phasen normativer Art: Solche Phasen lägen dann vor, wenn in der Wissenschaftstheorie selbst das oberste wissenschaftliche Erkenntnisziel kontrovers wird. Wissenschaftstheorie geht dabei in normative Ethik über. Beispielsweise geht es in der Diskussion um die Wertneutralität der Wissenschaft um kontroverse Auffassungen über die Erkenntnisziele der Wissenschaften (vgl. Albert/Topitsch 1971). Wenn eine solche Phase in ganzer historischer Breite vollzogen wird, so kommt dies in der Tat einem kulturepochalem Umschwung gleich, vergleichbar etwa den Übergängen von antiker zu mittelalterlicher, oder von spätmittelalterlicher zu
140 neuzeitlicher Wissenschaftsauffassung. Allerdings gefährdet jede revolutionäre Phase normativer Art die Identität des Phänomens „Wissenschaft“ und kann dazu führen, Wissenschaft schlicht durch etwas anderes zu ersetzen. In diesem Sinn würde man viele Erkenntnisauffassungen des Mittelalters erst gar der Geschichte der Wissenschaft zurechnen, sondern als Formen religiöser Spekulation betrachten. Die größte Herausforderung an die gegenwärtige Wissenschaftstheorie als Ganzes besteht wohl in der Frage, ob diese es jemals zu signifikanten normalwissenschaftlichen Phasen gebracht hat bzw. bringen wird, oder ob sie sich in einer permanenten 'revolutionären' Phase befindet − welche dann wegen der 'Permanenz' nicht mehr wirklich revolutionär wäre, sondern eher als Krisensituation gedeutet werden müsste. Sicherlich wurden durch Kuhn und Feyerabend einige erkenntnistheoretische Annahmen des normativen Korrektivs der Standardwissenschaftstheorie erschüttert. Fraglich wurde beispielsweise, ob es theorieunabhängige Beobachtungssätze überhaupt gibt. Im nächsten Schritt wurde dann fraglich, ob wissenschaftliche Rechtfertigungen nicht eher als Kohärenzargumente denn als empiristisch fundierte Bestätigungsargumente gedeutet werden sollte. Damit leitet die wissenschaftstheoretische Debatte in die erkenntnistheoretische Debatte über Fundierungstheorie versus Kohärenztheorie der Erkenntnis über. Feyerabend ging noch weiter und bezweifelte die Möglichkeit objektiven Erkenntnisfortschritts insgesamt. So führt die wissenschaftstheoretische Debatte in die erkenntnistheoretische Diskussion über objektiven Realismus versus kultureller Relativismus. Aus heutiger Sicht liegt eine Menge von differenzierteren Argumenten vor, welche aufzeigen, bis wohin solche relativistischen Argumentationen Zutreffendes zutage fördern, und ab wann sie in haltlose Übertreibungen abgleiten. Beispielsweise scheint man theorieunabhängige Beobachtungssätze in den Wissenschaften kaum finden zu können, da wissenschaftliche Sprachen typischerweise von einem zu hohen und von gewissen 'selbstverständlichen' Theorien beladenen begrifflichem Niveau ausgehen. Andererseits haben jüngere kognitionspsychologische Forschungen die weitgehende Unabhängigkeit einfacher Wahrnehmungssätze von erworbenem Wissen erwiesen.4 Relativistische Wissenschaftskritiker lassen sich von solchen Argumenten (zumindest bislang) allerdings kaum überzeugen. Es wäre aber übertrieben, aus diesen Phänomenen auf eine Krisensituation der Wissenschaftstheorie zu schließen. Die Wissenschaftstheorie ist aus historischen Gründen ein Teilgebiet der Geisteswissenschaften. Für alle
141 geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist es aber typisch, sich einer ständigen Präsenz rivalisierender Methodenparadigmen gegenüberzusehen. Dies macht mehr oder minder ihren Normalzustand aus − im Gegensatz zum Kuhnschen Wissenschaftsmodell, welches lehrt, dass wissenschaftliche Disziplinen normalerweise von nur einem Paradigma beherrscht werden, und welches nur auf naturwissenschaftliche Disziplinen passt (s. Schurz/Weingartner 1998). Daher ist es keineswegs erstaunlich, dass sich auch in dem, was sich gegenwärtig als „Wissenschaftstheorie“ bezeichnet, mannigfaltige und untereinander unvereinbare normativmethodische Paradigmen befinden. Insbesondere gibt es in den gegenwärtigen Geistes- und Sozialwissenschaften Strömungen, deren primäres Ziel darin besteht, das Eindringen empirisch-naturwissenschaftlichen Methoden in sozial- und geisteswissenschaftliche Reviere abzuwehren − wie z.B. die Debatte um die These von Snow über die zwei Kulturen (Kreuzer 1969), die Debatte um science wars (Giere 1999, 1ff) oder die Diskussionen um die Postmoderne (vgl. Sokal und Brickmont 1999) belegen. Sofern man von diesen Strömungen absieht, dann kann man im Spektrum gegenwärtiger Wissenschaftstheorien bei allen Unterschieden auch wesentliche Gemeinsamkeiten feststellen, die ich den erläuterten fünf erkenntnistheoretischen Annahmen wiederzugeben versucht habe. Abschließend möchte ich das vorgeschlagene Modell rationaler Rekonstruktion mit zwei ähnlichen Charakterisierungen der wissenschaftstheoretischen Methode vergleichen. Carnap (1950b, §2) hatte das Verfahren der Wissenschaftstheorie als Explikation beschrieben. Dabei wird ein vages Konzept der Alltags- oder Wissenschaftssprache wie z.B. der Begriff der Wahrscheinlichkeit (das Explicandum) durch einen exakt definierten Begriff (das Explicatum) ersetzt, wobei das Explicatum vom Explicandum zum Zwecke der Elimination alltagssprachlicher Unklarheiten und Ambiguitäten abweichen muss, zugleich aber mit ihm möglich gut übereinstimmen soll, und drittens möglichst fruchtbar und einfach sein soll. Es bleibt bei Carnap aber ungeklärt, wie die genaue Kombination dieser sich teilweise widersprechenden Forderungen aussehen soll. Verglichen dazu enthält unser Modell der rationalen Rekonstruktion deutlichere normative und deskriptive Vorgaben, wobei der Möglichkeiten von Inkohärenzen zwischen den beiden durch die dynamische Phasenlehre Rechnung getragen wird. Eine Ähnlichkeit besteht auch zwischen rationaler Rekonstruktion und der Methode des reflexiven Überlegungsgleichgewichtes nach Goodman (1975, 85-9) und Rawls (1979, 38, 68-71; s. auch Goldman 1986, 66; Stich
142 1990, 77, u.a.m.). Letztere Methode funktioniert jedoch rein kohärenztheoretisch, insofern es hier um die wechselseitige Anpassung von methodologischen Regeln und Intuitionen geht. Die Gefahr eines solchen kohärenztheoretischen Vorgehens ist, wie immer, ihre Willkürlichkeit: wenn Regel R mit Intuition I nicht zusammenpasst, so kann man entweder R oder I verändern, um die Passung wieder herzustellen. Dagegen ist die Methode der rationalen Rekonstruktion nach der Seite ihres deskriptiven Korrektivs hin empirisch fundiert. Auch das normative Korrektiv besteht nicht aus bloßen Intuitionen, sondern aus erkenntnistheoretischen Hypothesen im Zusammenhang mit einer normativen Zielvorgabe. Ich möchte nicht behaupten, dass methodische Willkürlichkeit in 'krisengeschüttelten' Zeiten dadurch ganz ausgeschlossen werden kann − doch zumindest wird sie in sinnvoller Weise beschränkt.
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1
S. Reichenbach (1938, 6f; 1968, 260) und Popper (1935/94, Kap. I.2), der analog zwischen Tatsachenfragen und Geltungsfragen unterscheidet. 2
Der Zweck-Mittel-Schluß beruht im einfachsten Fall auf folgendem Sein-SollensBrückenprinzip (ZM): „(Geboten(A) & Notwendig(A→B)) → Geboten(B)“. Dabei wird durch „Notwendig(A→B)“ ausgedrückt, dass B ein notwendiges Mittel für A ist. Das Brückenprinzip (ZM) ermöglicht nachweislich nur die Herleitung von nichttrivialen Normen aus deskriptiven Prämissen und bereits etablierten Normen, nicht aber die Herleitung von nichttrivialen Normen aus rein deskriptiven Sätzen (s. Schurz 1997, Theorem 6).
3
4
Details z.B. in Bartels (1986), Kap. 4; Herbert (1985), Kap. 8, 9.
Vgl. Rock (1984); Fodor (1984); Schurz (1989, Kap. 3); Berlin/ Key (1969), Brown (1991).
PETER JANICH
Wissenschaftsphilosophie als kritische Reflexion auf eine historische Praxis Einleitung: Wissenschaftstheorien als historisches Faktum Wer heute zur Frage „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ Stellung nimmt, findet nicht nur Wissenschaften, sondern auch Wissenschaftstheorien als historisches Faktum vor. Beides, die Wissenschaften wie die Wissenschaftstheorien haben eine Geschichte, die – wie jede Kulturgeschichte – etwas Naturwüchsiges hat. Selbst die (kontrafaktische) Annahme, alle Agenten im historischen Geschehen der Wissenschaften bzw. der Wissenschaftstheorien hätten durchgängig rational gehandelt, nur begründete Behauptungen aufgestellt und gerechtfertigte Zwecke verfolgt, würde doch die heute vorfindlichen Produkte dieses Geschehens noch nicht als rational, begründet und gerechtfertigt ausweisen. Die Aufgabe kritischer Reflexion stellt sich historisch stets aufs neue. Hier soll der Versuch unternommen werden, in einer unübersichtlichen historischen Situation, die von Wissenschaftlern wie Philosophen gleichermaßen zerredet ist, mit einem Minimum an (explizit anzugebenden) Voraussetzungen die Frage zu beantworten, wozu und mit welchen Mitteln die Wissenschaften Gegenstand einer kritischen Reflexion werden sollen (und warum hierfür die vorfindlichen Wissenschaftstheorien ebenfalls kritisch aufzunehmen sind). „Kritisch“ heißt dabei (im Sinne der griechischen Herkunft des Wortes) „unterscheidend“, also primär sprachkritisch. Sprachkritik als Aufgabe nicht nur gegenüber den Fachwissenschaften, sondern auch den Wissenschaftstheorien (und selbstverständlich auch gegenüber der Reflexion auf diese) soll als Mittel der Nachvollziehbarkeit eingesetzt werden, damit eine Debatte nicht schon an sprachlichen Missverständnissen scheitert. Das Wort „Wissenschaftstheorie“, dessen junge Begriffsgeschichte hier nicht nachzuzeichnen ist, wird hier (zunächst nur) im Sinne des Theorie-
146 Praxis-Gegensatzes verwendet: Sie ist also eine Theorie zur Praxis des Treibens von Wissenschaft. Definitiv nicht gemeint ist mit der Entgegensetzung von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie die Unterscheidung von Personen, Personengruppen oder Professionen und Institutionen. Auch wer eine Fachwissenschaft betreibt, wird nicht ohne Wissenschaftstheorie im Sinne eines Nachdenkens über die eigenen Tätigkeiten und Resultate auskommen; und wer eine Theorie über die Wissenschaften entwickelt, wird nicht ohne einen Einstieg zumindest in die Anfänge oder Grundlagen der reflektierten Wissenschaften auskommen. Unkritisch wäre es dagegen, mit einer Grundentscheidung zu beginnen, sich auf einen Standpunkt zu stellen, eine Position einzunehmen, eine Zugehörigkeit zu einer Perspektive oder Schule zu bekunden, die historisch vorfindlichen Wissenschaften als die bestmöglichen zu postulieren oder irgendeinen anderen absoluten Grund in Anspruch zu nehmen, um ein Ja oder Nein (oder ein Ja-aber, Vielleicht usw.) daraus abzuleiten. Da unstrittig ist, dass sowohl die Wissenschaften wie die Wissenschaftstheorien von Menschen hervorgebracht werden, zwangsläufig in Sprachform daherkommen und mit Ansprüchen auf Anerkennung verknüpft werden, soll hier insbesondere nicht ausgeschlossen werden, dass der professionelle Fachwissenschaftler gute oder schlechte Philosophie und der professionelle Philosoph gute oder schlechte Wissenschaft treiben kann. Wichtig ist nur ein Unterscheidungskriterium von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie, das die Verschiedenheit der beiden Gegenstandsbereiche, Fragestellungen, Fachsprachen und Geltungskriterien erreicht, besser noch, zu klären erlaubt. 1. Was heißt „normativ“? Zur historischen Vorfindlichkeit von Wissenschaften und Wissenschaftstheorien kommt die von ausufernden Gebräuchen der Wörter „Norm“ und „normativ“ hinzu. Der Vielfalt der Sprachgebräuche entspricht die Vielfalt von Meinungen, Vorurteilen und Vorbehalten, die sich um die Kernbedeutung von „Norm“ (von lateinisch „norma“, Winkelmaß, allgemeiner Maßstab, Regel, Vorschrift) ranken. Es ist ja dem Ausdruck „normative Wissenschaftstheorie“ nicht anzusehen, ob sie Normen enthält, beschreibt, aufstellt, begründet oder anderes, und
147 ob diese Normen als Handlungsorientierungen nun den Wissenschaftler oder den Wissenschaftstheoretiker selbst adressieren. Kurz, von normativer Wissenschaftstheorie zu sprechen lässt offen, wer was wem mit welcher Berechtigung vorschreibt, oder ob über dieses Geschäft nur beschreibend gesprochen wird, und wozu diese Beschreibung in einer historischen oder soziologischen Erfahrungswissenschaft oder in einer philosophischen Reflexionswissenschaft gegeben wird. Die wohl geläufigsten Vorbehalte gegen etwas Normatives in den Wissenschaften und in den Wissenschaftstheorien kommen unerkannt aus (oder berufen sich explizit auf) Thesen, wonach nur behauptendes, nicht aber vorschreibendes Reden rational begründbar („wissenschaftlich“) sei – in der historischen Spannweite der Herkunftsmeinungen aus klassischem Empirismus und Positivismus, aus der Haltung der Hauptvertreter des Wiener Kreises gegenüber Ethiken, aus der Werturteilsfreiheit im Sinne Max Webers, aus dem Werturteilsstreit der Sozialwissenschaften und anderem. In diesem Text sollen keine Auffassungen apriorisch ausgeschlossen werden; zu fordern ist lediglich, dass sich auch derartige Vorbehalte gegen das Normative zu erkennen geben und legitimieren. Eine andere Vorbelastung, die auch in der jüngeren Literatur zur normativen Wissenschaftstheorie leicht nachweisbar ist, entstammt einem populistischen Affekt und betrifft einen Vorwurf in Form der rhetorischen Fragen: Will hier etwa der Philosoph den Wissenschaftler belehren? Oder auch: Will hier etwa der Fachwissenschaftler den Philosophen belehren? (mit der appellativen Unterstellung von Systemwidrigkeit, Besserwisserei oder gar unanständigem Dogmatismus). Hier hat sich die These von der Unmöglichkeit, Gebote, Verbote und Erlaubnisse rational zu rechtfertigen, zur Figur illegitimer Freiheitsberaubung verwandelt, welche gerade für die Freiheit des Denkens und Forschens in Wissenschaft und Philosophie als unakzeptabel gilt. (Dass sich diese Zurückweisung des Normativen selbst einer Norm verdankt, die ungerechtfertigt bleibt, aber Zustimmung erhofft von all denen, die ebenfalls nicht durch kritische Fragen gestört werden wollen, erlaubt wohl, hier von einem „populistischen Affekt“ zu sprechen.) Für eine sprachkritische Erörterung der Frage „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ ist deshalb eine Klärung der Rede von Norm und normativ unverzichtbar. Da „normativ“ die erwähnte Zweideutigkeit von „normierend“ und „normenbeschreibend“ aufweist, ist mit dem Herkunftswort „Norm“ zu beginnen. „Norm“ wird (1) regulativ, (2) deskriptiv und (3) moralisch verwendet.1
148 (1) Der regulative Gebrauch zielt darauf, zum Handeln aufzufordern. Dabei ist es nicht die einzelne, situationsgebundene Handlungsanweisung („Bitte schließe das Fenster!“), sondern es sind Handlungsregeln wie bedingte Gebote, Verbote und Erlaubnisse, die Normen heißen. Eine zweite, unbestimmte Form der Handlungsaufforderung liegt im Vorschreiben von Zielsetzungen als herbeizuführenden, aufrechtzuerhaltenden oder zu vermeidenden Sachverhalten. Eine solche Norm etwa betrifft die Freiheit von Forschung und Lehre, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht. Hier werden also keine bestimmten Handlungen, sondern nur ein komplexes Handlungsergebnis als zu erreichender, aufrechtzuerhaltender oder zu vermeidender Sachverhalt vorgeschrieben. Auch Normen wie die Kohärenz und Konsistenz von Theorien, die Transsubjektivität und Universalität der Geltung wissenschaftlicher Aussagen oder ähnliches gehören hierher. Eine dritte Sorte von Normen konstituiert Institutionen. Sie reichen von den DIN-Normen oder den Schachregeln, die das Schachspiel konstituieren, bis zu Parteistatuten oder rechtlichen Institutionen wie der Straßenverkehrsordnung. Auch „Wissenschaft“ als Institution wird durch Normen dieses Typs konstituiert. (2) Ein deskriptiver Normenbegriff liegt vor, wenn regulative Normen faktische Geltung erreicht haben. Vertretern der Denktradition, nach der sich das Deskriptive vom Normativen durch rationale Begründbarkeit unterscheidet, während im Normativen nur Überredung, Interessen, Irrationalität, Macht und Elend zuhause sind, haben häufig keinen anderen Zugang zur Rede von Norm und normativ als den, in zurückgenommener Beobachterperspektive beschreibend von dem zu sprechen, wonach sich andere Menschen richten. Für die logisch gebildeteren unter den Anhängern dieser Denktradition folgt in Selbstanwendung konsequent, dass auch sie selbst nur deskriptiv eben als Anhänger dieses deskriptiven Normenbegriffs festgestellt und beschrieben werden können, so dass sie sich von Normierungsansprüchen unerreichbar wähnen. (Ob sich diese Haltung in lebensweltlichen Zusammenhängen gegenseitiger Anerkennung und Verpflichtung tatsächlich leben lässt – in der Familie, in individuellen und kollektiven Beziehungen u.a. der Wissenschaft, als Bürger im Rechtsstaat – darf man bezweifeln.) (3) Damit ist bereits der Übergang zu einem moralischen Verständnis von „Norm“ angedeutet: Das rein regulative oder rein deskriptive Verständnis von „Norm“ nimmt keinerlei Bezug zu einer moralischen Wertung. Es stützt sich nur auf die Unterscheidung von vorschreibendem und beschreibendem Reden, von Sätzen also, die in Kommunikation und Kooperation
149 einerseits befolgt (oder ignoriert), andererseits als gültig anerkannt (bzw. bestritten) werden können. Für Normen im moralischen Sinne werden spezielle Rechtfertigungsansprüche erhoben, die diskursiv einzulösen sind – oder sie sind autoritär, doktrinär oder ideologisch. Der Übergang von „Norm“ zu „normativ“ ist – leider – nicht einfach die Adjektivbildung im Sinne von „eine Norm betreffend“, weil „normativ“ tatsächlich konträr gebraucht wird zu „deskriptiv“, aber auch zu „faktisch“. Damit kommt das zusätzliche philosophische Problem ins Spiel, ob das Faktische (wie der historische Gang oder Stand der Wissenschaften) normative Kraft hat, oder ob die Naturwüchsigkeit des Faktischen (z.B. der historisch vorfindlichen Wissenschaftstheorien) mit der normativen Frage nach der Rationalität des Ergebnisses zu konfrontieren ist. Die hier vorgeschlagenen Unterscheidungen bilden das Minimum an Differenzierungen dafür, in der historisch vorfindlichen Diskussion des Für und Wider zur normativen Wissenschaftstheorie – nach Ausschluss affektiver oder bornierter Stellungnahmen – noch einmal das Schema aufzugreifen, wer wem was mit welcher Rechtfertigung vorschreibt, und ob dieses Vorschreiben tatsächlich vollzogen oder nur Gegenstand der Beschreibung ist, und dies wieder bezüglich der Arbeits- und Rollenverteilung zwischen Wissenschaften und Wissenschaftstheorien. Für deren Unterscheidung war bisher nicht mehr bemüht worden als der faktische Sprachgebrauch, der sich der Wörter „Wissenschaft“ und „Wissenschaftstheorie“ (beide mit zulässiger Pluralbildung) nur im Sinne exemplarisch bestimmter Prädikatoren bedient: Mathematik, Chemie, Soziologie, Linguistik, Geschichte usw. sind Exemplare für Wissenschaften, und Logischer Empirismus, Kritischer Rationalismus, Methodischer Kulturalismus, Radikaler Konstruktivismus usw. sind Wissenschaftstheorien. Rationalismus, Empirismus, Naturalismus, Kulturalismus usw. sind weder Wissenschaften noch Wissenschaftstheorien, sondern Grundhaltungen, die sowohl von Wissenschaftlern als auch von Wissenschaftstheoretikern eingenommen werden können. Nun ist bekanntlich die Frage, was Wissenschaft ist, angesichts der Vieldeutigkeit der Alltags-, Bildungs- und Fachsprachen selbst schon ein strittiges wissenschaftstheoretisches Thema. Hier sollen alle (voreiligen oder nachträglichen) Debatten um Abgrenzungskriterien dadurch umgangen werden, dass auf den faktischen Konsens rekurriert wird, exemplarisch die Geometrie unter die Wissenschaften zu rechnen – und zwar wegen ihrer historischen Vorbildfunktion und ihrer systematisch grundlegenden Bedeutung für die „exakten“ Wissenschaften und deren Wissenschaftstheorien.
150 An ihr soll exemplarisch das Verhältnis von Wissenschaft zur Wissenschaftstheorie erläutert und historisch ein kritischer Blick auf die Geschichte der Wissenschaftstheorien gewonnen werden. 2. Kritische Geschichte des Verhältnisses von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie Eine erste Hochform der theoretischen Auseinandersetzung mit einer (historisch vorfindlichen) Wissenschaft ist in den Philosophien Platons und Aristoteles’ zur Geometrie erreicht. Beide, Lehrer und Schüler, mögen ungefähr den selben Bestand an geometrischen Definitionen und Lehrsätzen gekannt haben, die wir heute in den „Elementen“ des Platonikers Euklid vor Augen haben.2 Platons Philosophie der Geometrie ist, grob gesprochen, durch seine Ideenlehre geprägt, wonach die Gegenstände der geometrischen Theorie einen ewigen, menschenunabhängigen Charakter haben und einen spezifischen Erkenntniszugang verlangen. Geometrische Gegenstände im Bereich der Körperwelt dagegen, unter ihnen gezeichnete Figuren, seien nur unzureichende Abbilder, für die in einer speziellen Form der Teilhabe (Methexis) am eigentlichen Gegenstand der geometrischen Theorie andere, niedrigere Formen der Wahrheit anzunehmen sind. Aristoteles dagegen setzt bei sinnlich wahrnehmbaren räumlichen Formen den Erkenntnisanfang und kommt zu den zeitunabhängig gültigen geometrischen Sätzen auf dem Weg der Abstraktion (Aphairesis). Für eine detailliertere Darstellung dieser Philosophien, die häufig als Anfang der Entgegensetzung von idealistisch-aprioristischen und empiristisch-formalistischen Auffassungen gesehen werden, sei auf die Fachliteratur verwiesen.3 Hier geht es nur um einige Charakteristika des Verhältnisses von Wissenschaft zu Wissenschaftstheorie (hier noch synonym mit Philosophie). Dabei lässt sich gut und bereits an den sprachlichen Mitteln unterscheiden, ob ein Wissen ein wissenschaftliches oder ein philosophisches ist. Der Satz über die Winkelsumme im Dreieck ist ein geometrischer und damit wissenschaftlicher Satz. Ein Satz über den Geltungsgrund dieses geometrischen Satzes ist dagegen ein wissenschaftstheoretischer; in ihm muss mindestens ein nicht-geometrisches, erkenntnistheoretisches Wort vorkommen wie gültig, Beweis, Idee, Abstraktion, Wahrnehmung, Begründung, Methode oder ähnliches.
151 Das klassisch-griechische Beispiel lehrt aber noch mehr: Platon treibt eine kritische Wissenschaftstheorie, ja, er spottet sogar über die Geometer wegen ihrer Disziplinlosigkeit im Definieren und Begründen.4 Dennoch kritisiert er keinen geometrischen Lehrsatz als falsch oder schlägt geometrische Alternativen vor. Wo geometrische Beispiele vorkommen, sind sie stets mit der Unterstellung ihrer Wahrheit als Beispiele für etwas Anderes verwendet. Platon ist also zugleich wissenschaftsaffirmativ, wenn er die sprachliche Theorieform als unzureichend kritisiert. Und er ist enthaltsam, insofern er kein geometrisches Problem löst (wie z.B. das Delische Problem der Würfelverdoppelung). Leider löst er in Wahrheit aber auch kein wissenschaftstheoretisches Problem der Geometrie, z.B. eine Klärung des Verhältnisses von Definition und Postulat der Parallelen (dazu später mehr). Auch Aristoteles setzt keinem geometrischen Lehrsatz eine Alternative entgegen, führt die Geometrie nicht weiter. Aber er gibt ihr zahlreiche metageometrische Klärungen z.B. durch Diskussion des Status von Definitionen, Postulaten, Axiomen, Lehrsätzen, Lemmata usw.5 Als Fazit bleibt festzuhalten, dass sich am Beispiel der Geometrie exemplarisch (1) die Unterscheidung von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie bestimmen lässt, und dass (2) die (antiken) Philosophen der Geometrie eine kritische Methodendiskussion führen, aber letztlich (3) keine geometrischen, sondern nur philosophische Kontroversen austragen. Es wird im folgenden darauf zu achten sein, ob dieses Spannungsverhältnis von Unzuständigkeit für die wissenschaftlichen Inhalte und Zuständigkeit für die metawissenschaftlichen Fragen von Methoden und Verständnissen zum Kriterium der Wissenschaftstheorie schlechthin wird. Und wozu soll diese Zuständigkeit bestehen, wenn sich am Satzbestand der Wissenschaft nichts ändert? Die Elemente Euklids durchleben ihre eigene Geschichte. Die schon den Zeitgenossen Euklids auffallenden Schwächen der Theorie werden sowohl geometrisch wie philosophisch, und dies häufig in Personalunion (z.B. bei Proklos) diskutiert. Wer etwa versucht, das Parallelenpostulat aus den Definitionen, den anderen Postulaten und den Axiomen zu beweisen (ein Versuch, der nach heutigem Wissen zum Scheitern verurteilt ist), treibt Geometrie. Wer dagegen wie Eudoxos oder Aristoteles einen kategorialen Unterschied zwischen einer ausgedehnten Größe und ihrer Grenze bestimmt, treibt Wissenschaftstheorie (Philosophie) der Geometrie. Die Geschichte der Versuche, die Elemente Euklids von erkannten Makeln6 zu befreien, führt zu neuen geometrischen Wissensbeständen, die im
152 (verengten) Rückblick heutiger Geschichtsschreibung als Vorgeschichte der Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien angesehen werden. Dies ist selbst eine (ungerechtfertigte) wissenschaftstheoretische Sicht innerhalb der Wissenschaftsgeschichtsschreibung.7 Ebenfalls eine (naive) wissenschaftstheoretische Sicht ist es, in der allmählichen Entwicklung der analytischen Geometrie im Sinne einer Übersetzung der synthetischen Geometrie Euklids in Arithmetik einen Fortschritt zu sehen.8 Was bei Euklid durch Konstruktion mit Zirkel und Lineal und durch Beweise an den so konstruierten Figuren gewusst wird, soll analytisch durch Ausrechnung in einer Koordinatengeometrie verfügbar sein. (Die Naivität dieses Fortschrittsglaubens liegt im Ignorieren der Tatsache, dass die Grundgegenstände der analytischen Geometrie wie Form der Koordinatenachsen, Kongruenz von Skalenschritten auf Ordinate und Abszisse usw. der synthetischen Geometrie entnommen werden müssen.) Wo die Griechen der Geometrie vor der Arithmetik den Vorzug gaben, weil irrationale Streckenverhältnisse geometrisch, aber nicht arithmetisch beherrscht werden konnten, gewinnt nun die Arithmetik die Vorherrschaft über eine konstruierende Figurengeometrie, und zwar in dem Maße, wie eine Theorie der Zahlensysteme (irrationale, reelle und komplexe Zahlen), der Gleichungen, ihrer Lösungen usw. entwickelt wird. Auch auf diese Geschichte kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Sie zeigt wie die Anfänge in der griechischen Antike, dass die Entwicklungen von Geometrie und Arithmetik und ihres Verhältnisses einerseits innerwissenschaftlich verlaufen, andererseits mit entscheidenden Modifikationen wissenschaftstheoretischer Selbstverständnisse der Akteure verbunden sind. Damit ist nicht die historische Trivialität gemeint, dass damals noch keine arbeitsteilige Professionalisierung und Institutionalisierung von Mathematik und Philosophie vollzogen waren, sondern dass es ein Hin und Her von wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen gab, wobei jeder der beiden Bemühungen spezielle und von den anderen wohl-unterscheidbare Aufgaben zufielen. Dabei darf es offen bleiben, ob fachwissenschaftliche Weiterentwicklungen wissenschaftstheoretische Fragen und Lösungen zur Grundlage hatten, oder ob Wissenschaftstheorien nur die nachgereichten Selbstverständnisse waren, die sich mit den neuen geometrischen Entwicklungen verändert hatten. Denn es kommt auf die vom Entstehungszusammenhang unabhängigen Ergebnisse an – sofern diese begründbar sind. Für unsere heutige Situation in Wissenschaft wie Wissenschaftstheorie historisch folgenreich war die Auffassung Kants vom synthetisch apriorischen
153 Charakter der Geometrie9. An ihr finden sich wieder dieselben Merkmale, die schon bei Platon und Aristoteles auffielen: die strikte Trennung von geometrisch und erkenntnistheoretisch, also von wissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch. Kant gewinnt keinen einzigen neuen geometrischen Lehrsatz, widerlegt auch keinen, sondern reflektiert nur die Bedingungen ihrer Möglichkeit und weist ihnen einen erkenntnistheoretischen Status außerhalb der bloß analytisch gültigen und der bloß empirisch gültigen Sätze zu. Diese Wissenschaftstheorie bleibt der Geometrie im selben Sinne äußerlich wie diejenigen von Platon und Aristoteles. Aus der Philosophie Kants sind noch nicht einmal Argumente zu gewinnen, ob nun das Parallelenpostulat oder eine seiner Negationen synthetisch apriorisch gilt. Das heißt, der synthetische Apriorismus Kants ist eine Wissenschaftstheorie, die wiederum affirmativ ist gegenüber der Wissenschaft. Aber sie liefert einen wichtigen, ja entscheidenden Anlass zur Gegenauffassung von Geometrie im Empirismus des 19. Jahrhunderts und im Physikalismus des 20. Jahrhunderts. Hätte Kant seine Theorie vom Geltungsgrund der Geometrie so weit entwickelt, dass sie ein diskriminierendes Geltungskriterium für geometrische Sätze geliefert hätte, wäre bezüglich der Frage der Euklidizität geklärt, welchen Gründen sie sich verdankt, und ob diese dieselben sind, die auch für nicht-euklidische Geometrien tragfähig sind oder nicht. Eine wesentliche Veränderung der Situation bringt das 19. Jahrhundert, als empirische Fachwissenschaftler selbst zu den Grundlagen ihrer Wissenschaften (Wissenschafts-)Theorien entwickeln, wie Ernst Mach, Hermann von Helmholtz, Heinrich Hertz und andere. Nachdem schon Gauss, der der Geometrie einen Status zwischen Arithmetik und empirischer Physik zuweisen wollte, einen nicht-euklidischen Ansatz verfolgt haben soll, bilden die nicht-euklidischen Theorien beginnend bei J.H. Lambert und kulminierend bei W. Bolyai, N.I. Lobatschewski und B. Riemann den Hintergrund für die philosophische These des Empiristen Helmholtz, die Axiome der Geometrie seien letztlich empirisch erkannte Tatsachenwahrheiten. Seine anschaulichen Modelle, wonach intelligente Flächenwesen auf sphärischen, ebenen und pseudosphärischen Oberflächen („Welten“) Winkelsummen im Dreieck ermitteln würden, die größer, gleich oder kleiner zwei rechten Winkeln sind10, haben den eher abstrakten, unter Mathematikern diskutierten Ableitungsverhältnissen in Theorien einen anschaulichen Durchbruch verschafft. Die kantische Theorie des synthetischen Apriori schien wegen der ihr zugeschriebenen Auszeichnung der Euklidizität durch den Empirismus von Helmholtz entthront, obwohl bald
154 der Konventionalist H. Poincaré auf die verkannte Investition einer Geometrie der transportierten Messgeräte in die empiristische Doktrin verwies. Die wissenschaftstheoretische Situation der Geometrie zwischen Apriorismus und Empirismus war derart verfahren geworden, und die Bewertung der konkurrierenden Geometrien (u.a. angesichts ihrer Typisierung im „Erlanger Programm“ von F. Klein 1872) derart offen, dass es für die Mathematik als Befreiungsschlag wirken musste, als David Hilbert ihr 1899 seinen Formalismus verordnete11. Damit hat er allen erkenntnistheoretischen Fragen zum Status geometrischer Gegenstände und zum Geltungsgrund ihrer Sätze (außerhalb einer relativen Ableitungsrichtigkeit in formalen Theorien) den Boden entzogen. Dies war eine wissenschaftstheoretische Herkulestat des Mathematikers Hilbert, wenn auch von zweifelhaftem erkenntnistheoretischen Wert12. Für das Verhältnis von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie heißt dies, dass die Fachwissenschaftler einmal mehr die wissenschaftstheoretische Debatte nur zum Anlass genommen haben, sich neu zu positionieren und nach ihren eigenen Zwecken sich zu ihrer Praxis die passende Theorie zu suchen. Explizit hat dann Albert Einstein seinen philosophischen Opportunismus13 hervorgehoben, in dessen Rahmen er schon für die Spezielle Relativitätstheorie eine Verbindung von formalaxiomatischer Geometrie und empiristischer Deutung im Sinne von Helmholtz favorisierte14. Die Philosophie des Wiener Kreises schließlich hat genau diese Zweiteilung zum Dogma erhoben (vor allem B. Russell) und nur analytische und empirische Wahrheiten als wissenschaftliche zugelassen. R. Carnap hat affirmativ das Selbstverständnis von Mathematikern und Physikern bezüglich der Geometrie reformuliert15. Damit war die Wissenschaftstheorie unbeschränkt wissenschaftsaffirmativ geworden, hat den faktisch anerkannten Theorien Methodenexplikationen und Kriterien nachgereicht und den Wissenschaftlern eine letztlich dogmatische16 Selbstverständigungsphilosophie ausgearbeitet. In stark verkürzter Form endet diese Geschichte vorläufig mit der Kritik Quines17 an den Rationalitätsansprüchen der logischen Rekonstruktion im Sinne Carnaps und mit der Kritik Kuhns18 an den empiristischen Wissenschaftlichkeitsdefinitionen Poppers. Die hier angedeutete Entwicklung hat zunehmend ihr Eigenleben entfaltet, so dass sich die Wiederaufnahme dieser Diskussionen etwa im Strukturalismus von J. Sneed und W. Stegmüller von der Geschichte der Fachwissenschaften mehr und mehr abgelöst hat19. Sie hat sich mit selbst erzeugten Problemen der Wissenschaftstheorie herumgeschlagen und damit auch
155 noch das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis der Fachwissenschaftler aus den Augen verloren, von den inhaltlich fachwissenschaftlichen ganz zu schweigen. Die Wissenschaftstheorie ist dadurch für die Wissenschaften irrelevant geworden. Dieser Irrelevanz einer Wissenschaftstheorie als philosophischer Wissenschaftskritik korrespondiert eine Usurpation der Wissenschaftstheorie durch (eine historistische) Wissenschaftsgeschichte, (eine empiristische) Wissenschaftssoziologie, (empirische) Wissenschaftswissenschaft und andere Strömungen. Wo es z.B. nur noch um eine quasi ethnologische Beschreibung der Tätigkeit von Fachwissenschaftlern geht (wie im Sozialkonstruktivismus)20, können selbstverständlich keine Resultate mehr erwartet werden, die einen Beitrag zur Lösung geometrischer Probleme leisten. Ja, es kann von dieser Form der Wissenschaftstheorie noch nicht einmal der Anspruch mehr verstanden werden, in den Fragen der Wissenschaft kritisch Stellung zu beziehen. Historisch ist hier der Punkt erreicht, in dem auch die Bezeichnungen „Wissenschaftstheorie“ und „Philosophie“ auseinanderlaufen, wenn auch die angesprochene Tradition einer affirmativen, deskriptiven Wissenschaftstheorie sich selbst als „analytische Philosophie“ kategorisiert, um sich von einer traditionellen Philosophie abzugrenzen, die ihrerseits (von Ausnahmen abgesehen) zu einer hermeneutisch-philologischen Philosophiegeschichtsschreibung geworden ist. Die Geometrie als Fachwissenschaft in den philosophischen Interpretationen vom Platonismus zum Kantischen Apriorismus über den Helmholtzschen Empirismus und den Einsteinschen Physikalismus (verbunden mit dem Hilbertschen Formalismus) ist dabei wesentlich für die Geschichte der Wissenschaftstheorie geblieben21. Der Gang der Fachwissenschaften Geometrie und, ab dem 17. Jahrhundert, der Physik hat die analysierenden und beschreibenden Bemühungen der Philosophen oder philosophierenden Fachwissenschaftler bestimmt. Die erste Hälfte eines berühmten Wortes von Karl Marx, wonach die Philosophen die Welt nur interpretiert hätten, trifft hier (beinahe ohne jede Einschränkung) historisch zu. Für die Entscheidung „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ ist damit wenig gewonnen. Wissenschaftstheorien sind nicht nur historisch und systematisch nachträglich zu den historischen Entwicklungen der Wissenschaften, sondern auch bei explizit wissenschaftsaffirmativer Haltung, d.h. bei rein analysierendem und deskriptivem Vorgehen keineswegs normativ neutral. Es ist ja selbst schon eine normative Setzung, den Gang der Fachwissenschaften nicht für einen Irrweg, sondern für ein beschreibens-
156 wertes Faktum zu halten und die Reflexionsaufgabe darin zu suchen, diesen Gang und seine Ergebnisse besser zu verstehen. Und selbstverständlich sind auch die in den historischen Beispielen eingesetzten Mittel der platonischen Ideenlehre, der kantische Transzendentalphilosophie und des logisch-empiristischen Lingualismus und Empirismus normative Vorgaben. Historisch faktisch werden sich wohl keine Wissenschaftstheorien nennen lassen, die sich ohne normative Orientierung mit den Wissenschaften befassen. Diese betreffen sowohl das allgemeine Erkenntnisinteresse an den Wissenschaften wie die dafür verwendeten Mittel (etwa der logischen Analyse im Wiener Kreis oder der methodischen Rekonstruktion im Erlanger Konstruktivismus). Auch die Auswahl der primär behandelten Disziplinen wie Mathematik und Physik und die Zuweisung eines paradigmatischen Charakters gegenüber anderen Fächern ist nicht etwa ein logisches oder empirisches Ergebnis, sondern eine normative Vorgabe. Dabei blieben die Debatten von Platon bis Quine und Kuhn (mit personeller Ausnahme im Erlanger Konstruktivismus, wo P. Lorenzen auch Analysis- und Geometrielehrbücher22 geschrieben hat) den Wissenschaften äußerlich. Das kritische Fazit, das sich wohl auf die historisch vorfindlichen Wissenschaftstheorien zu allen Fachwissenschaften ausweiten lässt, ohne dass dies hier gezeigt werden soll, lautet: Die Philosophen und Wissenschaftstheoretiker bewegen sich nach normativen Vorgaben im metatheoretischen Überbau der historisch sich wandelnden Wissenschaften, denen gegenüber sie affirmativ bleiben. In dieser Situation lohnt ein neuer, nach Kräften von Grundentscheidungen unabhängigerer Blick auf die Wissenschaften selbst. 3. Wissenschaftskritik als Wissenschaftstheoriekritik Die Elemente Euklids geben selbst und ohne Rückgriff auf ein investiertes philosophisches Dogma einige Fragen auf: Warum z.B. verwendet Euklid (nach seiner Definition des Kreises (Def.15, Buch I)) als einer ebenen Linie, deren Punkte von einem Punkt (Mittelpunkt) denselben Abstand haben, diese Definition nicht auch für die Kugelfläche (Def.14, Buch XI)? Warum wird statt dessen die Kugel durch Rotation eines Halbkreises um den Durchmesser bestimmt? Mathematikhistoriker haben auf den Handwerksbezug dieser Definitionen hingewiesen, wonach die Kreisdefinition an das Zeichnen des Kreises mit dem Zirkel, die Kugeldefinition aber an die Steinmetztechnik23 anschließt, eine Kugel mit einer halbkreisförmigen
157 Schablone herzustellen – während die Konstanz des Abstandes von einem im Inneren gelegenen Mittelpunkt dem Steinmetz nichts nützt. Ein anderer Befund: Rechtwinkligkeit wird definiert durch die Gleichheit von rechtem Winkel und Nebenwinkel – primär also durch Deckungsgleichheit von Winkel und Nebenwinkel. Später wird die bekannte Konstruktion des Lotes mit Zirkel und Lineal angegeben. Die Definition (und die zugehörige Konstruktion) bestimmen also den Gegenstand „rechter Winkel“ (zwischen zwei Geraden). Welche Rolle spielt dann das Postulat 4 (Buch I), wonach alle rechten Winkel einander gleich sind? Logisch betrachtet wird ja der rechte Winkel durch die Existenz eines kongruenten Nebenwinkels definiert, operativ betrachtet durch ein Konstruktionsverfahren. Logisch gesehen enthält also das Postulat 4 den Sprung von der Definition mit dem Existenzquantor zu einem Satz mit Allquantor („Alle rechten Winkel sind deckungsgleich“), ohne dass dieser Sprung logisch gelten würde. Operativ betrachtet ist also das Postulat 4 eine Art Eindeutigkeitsbehauptung, wonach die wiederholte Durchführung der Konstruktion das immer selbe Resultat hat. Dies wäre aber zu beweisen! Unerkannt, soweit ich weiß, ist dies dieselbe Problemstruktur wie beim berühmten Parallelenproblem: in Abweichung von den euklidischen Formulierungen, aber mit in der Mathematik längst als äquivalent bewiesenen Formulierungen (und einer hier unwichtigen Einschränkung) lautet dieses Problem: Zwei (koplanare) Geraden heißen per definitionem parallel, wenn ein gemeinsames Lot existiert (also Definition mit Existenzquantor). Das Parallelenpostulat kann in die Form gebracht werden: Jedes Lot auf eine von zwei Parallelen schneidet die andere rechtwinklig (Hypothese der vierten Rechtecksecke). Dies ist eine Allaussage, die selbstverständlich nicht aus der Parallelendefinition logisch folgt. Wegen der defizitären Definitionen der Grundbegriffe von Punkt, Gerade und Ebene bei Euklid völlig unerkannt findet sich strukturgleich dieses Problem auch bei der Ebene: Wenn die Ebene die homogene Fläche ist, deren beide Seiten ununterscheidbar sind, passen alle ebenen Körperoberflächen aufeinander. Wollte man operativ eine Definition der Ebene geben, wäre die Existenz zweier Passstücke, die auch untereinander (frei verschiebbar) passen, ein hinreichendes Kriterium. Nun „glauben“ aber alle Laien, Wissenschaftler und Philosophen, dass alle ebenen Oberflächen, die also per definitionem je für sich dieses Kriterium erfüllen, auch untereinander passen. Wie bei Orthogonalität und Parallelität enthält also auch bei der Ebene die Definition einen Existenzquantor und das zugehörige Postulat den Sprung auf einen Allsatz – der selbstverständlich nicht logisch be-
158 gründet ist. Wie aber dann? Es lässt sich, was hier nicht geschehen soll, zeigen24, dass ohne diese Verallgemeinerungen weder die Geometrie Euklids noch Technik und Physik auskommen. Was für eine Wissenschaft ist diese Geometrie, die Wissensbestände formuliert, ohne auch nur entfernt dafür irgendeine Begründung zu geben? Dabei geht es ja nicht einfach um „abstrakte“ Postulate der Art, dass für die Verwendung beliebiger konventioneller Zeichen etwas gefordert wird; sondern es geht um Sachverhalte, die sich in der Welt der technisch bearbeiteten Körper empirisch aufweisen lassen, ohne deshalb für eine empirische Falsifikation (im Sinne Poppers) freigegeben zu werden. Dieses Beispiel der Wissenschaftskritik soll exemplarisch ein folgenschweres Argument stützen, das das Verhältnis von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie von Platon bis Quine und Kuhn wesentlich mitbestimmt: Platon wie Aristoteles haben in ihrer Philosophie ausdrücklich den Handwerker (banausos) und die Arbeit an körperlichen Dingen, ja die Berührung mit der Materie (sogar beim Künstler) diskreditiert (hier: das Zeichnen des Kreises; die Herstellung von Zeichenebene, Lineal, Zirkel, Kugel) – so erfolgreich, dass wir heute noch „Banause“ als Schimpfwort verwenden. Von diesem Dogma haben sich Philosophie und Wissenschaftstheorie bis heute nicht erholt25. Für die neuzeitlichen Naturwissenschaften, beginnend mit der klassischen Mechanik im 17. Jahrhundert, und vermehrt im Empirismus des 19. und im Physikalismus des 20. Jahrhunderts wurde der Bezug der Geometrie auf eine Mal- und Zeichenpraxis und deren Abhängigkeit von der handwerklichen Herstellung der Zeichenebene, der Lineale, Zirkel, Messgeräte usw. ignoriert. Der Vorbildcharakter von Euklids „Elementen“ für Newtons „Principia“, der philosophische Kurzschluss Galileis, die handwerklich technischen Investitionen in seine eigene Mess- und Experimentierkunst der Natur zuzurechnen, die misslungene Abgrenzung des apriorischen vom empirischen Wissen als einem „notwendigen“ bei Kant, und vor allem die empiristische Revision der kantischen Auffassung durch Helmholtz verdanken sich alle demselben, durch Platon verengten Blick. Wo Aristoteles noch in der Unterscheidung von Physis und Techne wusste, dass wir das Natürliche nach dem Modell des künstlich Herbeigeführten erkennen, verkennt Helmholtz, dass jede Messkunst, ja schon jede Triangulation mit transportierten Winkelmessern ein Wissen über die künstlich herbeigeführten und aufrechterhaltenen Eigenschaften der Messgeräte erfordert. Auf diese Weise konnten technische Zwecksetzungen und zweckra-
159 tionale Labortechniken keine angemessene Berücksichtigung in Theorien finden, konnte die Abhängigkeit jeder Empirie (in einem von den Empiristen völlig ungeklärten Erfahrungsbegriff) von vorgängigen Zwecksetzungen und ihrer teils mühsamen technischen Realisierung nicht ins Bewusstsein kommen. Bei Hertz ist dann ein doppelter Empirismus ausgebildet, wonach die Erkenntnis der Natur einer strukturisomorphen Abbildung in unsere „Gedankenbilder“ entspricht26, was dann im Tractatus durch Wittgenstein explizit zitiert27 wird und im Wiener Kreis zum linguistischen Phänomenalismus führt: die Wissenschaftstheoretiker diskutieren die Naturwissenschaften im wesentlichen nur noch in Form ihrer Sprachprodukte (Theorien) und vertrauen auf die logische Analyse und Rekonstruktion der Theoriensyntax. Auch die Quinesche Kritik an logisch-empiristischen Rationalitätsstandards und die Kuhnsche Kritik an Popper verbleibem wesentlich im Sprachlichen; auch Kuhn hat bei der Berücksichtigung des historischen und sozialen Charakters des Ganges der Wissenschaften nach seiner Theorie des Paradigmenwechsels ignoriert, dass gleichwohl die Geschichte der Naturwissenschaften eine kumulative Geschichte des technischen Knowhows, der Anzahl und der Genauigkeit beherrschbarer Parameter und experimentellen Effekte ist28. Diese Überlegungen ließen sich fortsetzen am platonistischen Einfluss Heisenbergs auf die Quantenphysik, allgemeiner auf die Ablösung des Theoretischen vom handwerklich technischen Laborbetrieb – als würde das Verdikt von Platon und Aristoteles über die Banausen heute noch gelten und der freie Bürger nur der Theorie, nicht aber der Arbeit würdig sein. Für die Rahmenfrage „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ heißt dies, dass die Tradition der Philosophen und Wissenschaftstheoretiker ein Zerrbild entwickelt hat. In den „exakten“ Wissenschaften kommen zwar noch „Normen“ vor, nämlich in Form terminologischer Festsetzungen und gewisser ad-hoc-Prinzipien. Aber selbst für diese auf Sprache reduzierte, die nichtsprachliche und die begrifflich-semantische Erzeugung der Gegenstände aussparende „Normativität“ gilt nur der degenerierte Modus, dass nicht gesagt werden kann, wer was von wem mit welcher Berechtigung definitorisch, methodisch, axiomatisch o. dgl. fordert. Wäre dieses wissenschaftstheoretische Bild den tatsächlichen Wissenschaften adäquat, hätte dies für die Wissenschaften fatale Folgen: Da jedwedes empirische Datum, das in die naturwissenschaftliche Wissensbildung eingeht, unter Bedingungen steht, die von Menschen nach Regeln hergestellt werden müssen, würden die Naturwissenschaften jeden Anspruch auf Gel-
160 tung verlieren. Die Karikatur von Wissenschaften als historischnaturwüchsig ums Überleben kämpfende Sekten wäre wissenschaftstheoretisch expliziert. Erst wo Normen für die Quantifizierung (Messgeräteeigenschaften, Einheitenstandards) messbarer Parameter etabliert sind, sind die Bedingungen reproduzierbar, unter denen Erfahrung gewonnen wird. Selbst bei Naturbeobachtung (wie z.B. in der Astronomie) sind die normierten Eigenschaften der Beobachtungsgeräte konstitutiv für die Beobachtungsergebnisse. Wenn heute noch Naturwissenschaftler erstaunt fragen können, wieso die Mathematik auf die Natur passe29, statt zu sehen, dass die Formen labortechnischer Erfahrungsgewinnung und der Aufbau der Mathematik zusammenhängende, höchst zweckrationale menschliche Kulturleistungen sind, liegt dies immer noch daran, dass seit Platon das menschliche Handeln, das technische Erzeugen, ja die gesamte Kultur (von cultivare, Natur nach Zwecken bearbeiten) der Erfahrungsgewinnung aus der Betrachtung ausgeschlossen bleibt. Und selbst der Hinweis auf den technischen Erfolg der Naturwissenschaften (neben ihren explanatorischen und prognostischen Leistungen) lässt sich nicht mit den metaphysischen Metaphern des Herrschens von Naturgesetzen plausibel machen, wohl aber damit, dass faktisch die Geltungskriterien der Naturwissenschaften nicht vom technischen Erfolg der Laborproduktion abzulösen ist. Die Frage also, wie es nicht in der Wissenschaftstheorie, sondern in den Wissenschaften selbst um Normen bestellt ist, führt auf das Ergebnis, dass die de facto erhobenen und eingelösten Ansprüche auf transsubjektive und universelle Geltung naturwissenschaftlicher Ergebnisse durch einen „Gesetzgeber“ kommt, der nicht ein göttlicher Gesetzgeber für die Natur ist, sondern ein menschlicher Gesetzgeber für die Praxis. Ob diese Gesetze und Normen explizit in Büchern aufgeschrieben werden wie im Bereich der juridischen Gesetze (oder nicht), spielt dabei keine Rolle. Wichtig und tatsächlich erfüllt ist die Bedingung, dass Forschung aus hinreichend regelhaftem menschlichem Handeln besteht, dass dies in Gemeinschaften gelehrt, gelernt und weiterentwickelt wird, und dass dieses normative Fundament der Wissenschaften zwar auch eine Geschichte durchläuft und dabei Änderungen erfährt, niemals aber seines normativen Charakters verlustig geht. Der Wissenschaftstheorie als einer (selbst Normen befolgenden) Reflexion auf die Wissenschaften (als historischer, zweckrationaler Praxis) fallen dabei Explikationsaufgaben zu, die nicht im selben Sinne affirmativ bleiben, wie dies an der Tradition festgestellt wurde. Vielmehr gewinnt die Philo-
161 sophie ein kritisches Potential gegenüber den Wissenschaften, das den Zusammenhang zwischen Normenabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, adäquatem Selbstverständnis der Wissenschaften und der Wahrnehmung von Verantwortung für Folgen und Nebenfolgen von Forschung und Erkenntnis herstellt. Als Fazit bleibt festzuhalten: Finden sich in einer angesehenen Wissenschaft wie der Geometrie offenkundige Mängel, die als solche ohne fundamentale philosophische oder wissenschaftstheoretische Vorgaben dargelegt werden können, muss sich der Wissenschaftstheoretiker entscheiden, was er will. Will er in wissenschaftsaffirmativer Distanz zum innerwissenschaftlichen Ergebnis bleiben und – wie z.B. Platon – sich nur über metawissenschaftliche Schwächen in einem Philosophenstreit äußern? Oder stellt er das Projekt „Erkenntnissuche“ über die Arbeitsteilung von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie und versucht nach seinen Einsichten, Alternativen zur defizitären Wissenschaft vorzuschlagen? Im Blick auf die beiden historisch vorfindlichen Bereiche von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie jedenfalls ergibt sich aus einer Kritik an der Wissenschaft eine Kritik an der Wissenschaftstheorie dadurch, dass die analysierenden, beschreibenden, überhöhenden oder sonstwie den Wissenschaften äußerlich gebliebenen Wissenschaftstheorien ihre Ergebnisse auf ein unzulängliches Fundament gestellt, nämlich auf unzulängliche wissenschaftliche Resultate bezogen haben. Damit soll der Argumentationsbogen zur Gewinnung eines Arguments für eine Entscheidung der Alternative „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ geschlossen sein: Das historische Beispiel der Geometriegeschichte und ihrer begleitenden, bei aller Kritik im Metatheoretischen dennoch affirmativ gebliebenen Wissenschaftstheorien kann lehren, warum Defekte der Wissenschaften zu Defekten ihrer Wissenschaftstheorien werden. Solche Wissenschaftstheorien verdienen die Vorhaltung, für die Wissenschaften selbst unerheblich zu sein. Die Vermeidung dieses Missstandes liegt darin, die Untrennbarkeit von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie zu akzeptieren und eine prinzipielle Offenheit für alle Revisionen zu praktizieren, seien sie nun auf den objektsprachlichen Ebenen fachwissenschaftlicher Ergebnisse oder auf den meta- und meta-meta-sprachlichen Ebenen der Theorienkonstrukteure, -analysten und Kritiker. Es ist Abschied zu nehmen von der normativen, letztlich dogmatischen Orientierung, dass die Wissenschaften und die Wissenschaftstheorien je eigene Ressorts sind, die gegen Einrede von anderen Ressorts abzuschirmen seien.
162 Damit kann zum Schluss die eingangs geklärte Rede bezüglich „normativ“ mit der Frage „Wer schreibt hier wem was mit welcher Begründung vor?“ verbunden werden, um dem gestellten Problem „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ eine Lösung vorzuschlagen. 4. Resümee Alle Wissenschaften werden von Menschen durch Handeln hervorgebracht und von ihren Urhebern, Lehrern, Propagandisten und Anwendern mit Geltungsansprüchen verbunden. Dieses geschichtsübergreifende Faktum erlaubt die Frage, ob die historisch vorfindlichen Wissenschaften die von ihren Vertretern erhobenen Geltungsansprüche tatsächlich einlösen. (Die ebenfalls historisch in Einzelbeispielen vorfindliche Alternative, Geltungsansprüche nicht mehr zu erheben, sondern durch schlichte institutionelle Machtausübung zu ersetzen, bleiben hier außer Betracht.) Wissenschaftstheorie begleitet und reflektiert die (alle!) Wissenschaften in ihren Verfahren und Ergebnissen mit dem Ziel, in produktiver Arbeitsteilung zu den Fachwissenschaften ihre spezifischen Werkzeuge nutzbar zu machen (wie Logik, Sprachphilosophie, Handlungstheorie, Theorien der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, Beobachtung von Institutionen usw.) Für diese Aufgaben werden einerseits analytisch-deskriptive Bemühungen um die historisch-faktisch verfolgten oder realisierte Normen erforderlich sein, um diese zu explizieren und kritischer Prüfung zugänglich zu machen. Andererseits werden, bei vorkommenden Mängeln wissenschaftlicher Ergebnisse, normative Wissenschaftstheorien als Normen setzende und begründende Anstrengung unverzichtbar sein. Vor allem aber ist philosophisch zu prüfen, ob tatsächlich erhobene Ansprüche auf „wissenschaftliche“ Geltung von Resultaten, als transsubjektiv und universell qualifiziert, von den gewählten Verfahren gewährleistet werden. Hierin liegt eine Arbeitsteilung, wie sie innerhalb der Wissenschaften mit großem Erfolg praktiziert wird, wenn etwa der ingenieuse Experimentator mit dem Theoretiker und dieser mit dem Statistiker, Mathematiker, Informatiker usw. zusammenarbeiten30. Da alle Wissenschaft (wie Wissenschaftstheorie und Philosophie) Menschenwerk sind, sind Irrwege, Defizite, Lücken, Fehler usw. unausbleiblich. Solche Schwächen als Fehler zu diagnostizieren und zu beheben, ist eine Aufgabe des Programms „Erkenntnissuche“. Die Abwehr von Kritik
163 mit der Figur der unzulässigen Belehrung oder Freiheitsberaubung ist dort zu veranschlagen, wo sie hingehört: in den Bereich der Individualpsychologie von Akteuren. Wegen ihres Praxischarakters kommen Wissenschaft, Wissenschaftstheorie und Philosophie im Rahmen einer Erkenntnisbemühung, die nicht auf die Subjektivität der Urheber oder Akteure, sondern auf Transsubjektivität abstellt, nicht ohne Normen aus. Dies ist ebenso trivial wie de facto berücksichtigt. In den Wissenschaften selbst sind dies z.B. die Normen der Gegenstandskonstitution, der Methoden (als Normierung von Handlungsweisen bis hin zum nicht-sprachlichen Handeln etwa der Laborforschung), der Normen der Begriffs-, Hypothesen und Theoriebildung sowie der Normen der Überprüfung alles dessen, was als Resultat ausgegeben und mit Geltungsansprüchen verbunden behauptet wird. Hier finden sich ersichtlich alle drei Formen regulativer Normen, nämlich (1) bedingte Handlungsregeln, Gebote, Verbote und Erlaubnisse, (2) Normen im Sinne von Vorschriften herbeizuführender, aufrechtzuerhaltender oder zu vermeidender Sachverhalte und (3) Institutionen konstituierende Normen. Weder die Wissenschaften noch die Wissenschaftstheorien hätten Gegenstände, wenn es dabei immer nur um das Beschreiben von Normen ginge. Auch über Handeln kann nur theoretisiert werden, wenn irgendwo gehandelt wird. Und die Unhintergehbarkeit der Tatsache, dass auch Theoretisieren über Handeln selbst ein Handeln ist, kehrt wieder als die Tatsache, dass auch die vermeintlich radikalste Enthaltsamkeit (einiger Wissenschaftstheoretiker) von jeder Art der Normierung selbst auf einer Norm beruht. Damit ergibt sich: Wer die Frage „Normative Wissenschaftstheorie – ja oder nein?“ mit einem klaren „nein“ beantwortet, hat sich selbst widerlegt. Er hätte, würde er seine Antwort als historisch-faktische Behauptung verstehen, einen historisch falschen Satz geäußert. Und er müsste, versteht er diese Antwort selbst als Norm, erläutern, wieso diese ausgenommen sein soll aus dem weiten Feld all der Normen, die de facto und legitimerweise in den Wissenschaften und in den Wissenschaftstheorien aufgestellt, befolgt oder wieder verworfen, differenziert usw. werden. Um schließlich der Wissenschaftstheorie gegenüber der Philosophie eine Bestimmung zu geben, lässt sich Wissenschaftstheorie als spezielles Teilgebiet der (theoretischen) Philosophie auffassen, weil auch nicht- und außerwissenschaftliche Wahrheiten und Wissensbestände existieren, die der philosophischen Reflexion bedürfen, und weil es sinnvoll ist, moralische,
164 rechtliche und politische Probleme der Wissenschaften in Forschung, Lehre und Anwendung nicht zu den wissenschaftstheoretischen Fragen im engeren Sinne zu rechnen. Aber auch hier ergibt sich eine wechselseitige Angewiesenheit von Wissenschaftstheorie und Philosophie aufeinander, wie sie analog oben schon für die Wissenschaften und die Wissenschaftstheorie behauptet wurde: Moralische, rechtliche und politische Fragen der Wissenschaften – man denke exemplarisch an die gegenwärtige Debatte um Gentechnik und Lebenswissenschaften – können nicht ohne eine wissenschaftstheoretische Klärung der Fachwissenschaften fachlich zuständig diskutiert werden. (De facto findet die heutige politische Debatte mehr zu den populärwissenschaftlichen Erläuterungen der Fachwissenschaften durch ihre Vertreter statt als zu diesen selbst.) Es ist eine Aufgabe, die nur arbeitsteilig zwischen Wissenschaftlern, Wissenschaftstheoretikern und Wissenschaftsphilosophen bewältigt werden kann, die moralische und politische Rechtfertigung der Normen zu erarbeiten, die in den Wissenschaften und ihren Reflexionsdisziplinen Wissenschaftstheorie und Philosophie aufgestellt und exekutiert werden. Dieses Resümee ist ohne Frage selbst normativ. Es ist aber nicht mit dem Anspruch irgendeiner privilegierten oder absoluten Rechtfertigung vorgetragen, sondern orientiert sich am Verständnis der Rechtfertigungspflicht menschlicher Praxis, eine Orientierung, die wegen der Tragweite wissenschaftlicher Erkenntnisse und dem Missverhältnis zwischen der Reichweite persönlicher Verantwortung und den gesellschaftlichen Wirkungen der Wissenschaft als System folgenreich wird. Wenn es dagegen heute noch Vertreter von Wissenschaftstheorien geben sollte, die jede normative Orientierung ihrer Disziplin ablehnen, ist zu fragen, ob hier nicht Missverständnisse vorliegen, die sich nur historisch erklären lassen.
ANMERKUNGEN 1
Vgl. Friedrich Kambartel, „Norm (handlungstheoretisch, moralphilosophisch)“, in: J. Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. II (1984), 1030/31 2
Zugrunde gelegt wird hier einerseits die Übersetzung von C. Thaer aus „Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften“, Leipzig 1933-1937, Nachdruck Darmstadt
165 1980, sowie „The Thirteen Books of Euclids Elements“ translated with introduction and commentary by Sir Th. L. Heath, second edition, vol. 1, New York 1956 3
Vgl. Oskar Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Freiburg/München 1964, Nachdruck Frankfurt a.M. 1975; ders. (Hrsg.), Zur Geschichte der griechischen Mathematik, Darmstadt 1965 4
so Platon im „Staat“ VI, 510c bis 511b
5
Aristoteles in: Analytica Posteriora I, 10f.
6
so der programmatische Titel der Schrift von Gerolamo Saccheri “Euclides ab omni naevo vindicatus“, Mailand 1733 7
so etwa Gerhard Kropp, Vorlesung über Geschichte der Mathematik, Mannheim/Zürich 1969 8
Vgl. Klaus Mainzer, Geschichte der Geometrie, Mannheim/Wien/Zürich 1980
9
Vgl. Immanuel Kant, Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, B 19, sowie § 3, Transzendentale Erörterung des Begriffs vom Raume, B 41 10
Hermann v. Helmholtz, „Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome“ (1870) in: ders., Über Geometrie, Darmstadt 1968
11
David Hilbert, Grundlagen der Geometrie, 10. Aufl. Stuttgart 1968, sowie: ders., Hilbertiana, 5 Aufsätze, Darmstadt 1964 12
Diese Kritik betrifft den Dogmatismus eines Verbots, Definitionsbemühungen für die Grundbegriffe mathematischer Theorien innerhalb oder „am Rande“ der Mathematik zu klären. Ebenfalls dogmatisch muss die Auswahl von Axiomen gesehen werden, wenn die überraschende Passung der formalen Geometrie auf die technische und naturwissenschaftliche Praxis im Konzept der „impliziten Definitionen“ keinerlei Berücksichtigung findet.
13
Vgl. Peter Janich, Die erkenntnistheoretischen Quellen Albert Einsteins, in: H. Nelkowski et. al. (Hrsg.), Einstein Symposion Berlin, Lecture Notes 100, Berlin, Heidelberg, New York 1979, S. 412-427. 14
Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung, Akademie-Vortrag 1921, in: K. Seelig (Hrsg.), Albert Einstein, Mein Weltbild, Amsterdam 1934, Nachdruck Berlin 1955, S. 119-127 15
Rudolf Carnap, Philosophical Foundations of Physics (1966), dt.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft, München 1969, S. 182. „Die mathematische Geometrie ist a priori. Die physikalische Geometrie ist synthetisch. Keine Geometrie ist beides. ... Diese Unterscheidung zwischen zwei Arten von Geometrie ist grundlegend und heute allgemein anerkannt.“
16
„dogmatisch“, weil die Beschränkung auf die Analyse vorfindlicher mathematischer und Naturwissenschaften als Grundentscheidung an den Anfang gesetzt, nicht aber begründet wird. 17
W.V.O. Quine, Epistemology Naturalized, in: Ontological Relativity and other Essays, New York/London 1969
166 18
Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1997 19
Wolfgang Stegmüller, The Structuralist View of Theories, Berlin/Heidelberg/New York 1979
20
Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1991 21
Vgl. Peter Janich, Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München 1997
22
Paul Lorenzen, Differential und Integral, Frankfurt a.M. 1965; ders., Elementargeometrie. Das Fundament der analytischen Geometrie, Mannheim/Wien/Zürich 1984 23
Diesen Hinweis verdanke ich dem Darmstädter Mathematikhistoriker Benno Artmann
24
Vgl. Peter Janich, Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum, Zeit und Materie, Frankfurt a.M. 1997; ders., Die Begründung der Geometrie aus der Poiesis, Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a.M., Bd. XXXIX, Stuttgart 2001
25
Vgl. Peter Janich, Handwerker und Mundwerker, in: Marco Wehr, Martin Weinmann (Hrsg.), Die Hand. Werkzeug des Geistes, Heidelberg/Berlin 1999, S. 271-292 26
Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1894, Einleitung
27
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus, Frankfurt a.M. 1963, Satz 4.04
28
Peter Janich, Die Struktur technischer Innovationen, in: Dirk Hartmann, Peter Janich (Hrsg.), Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt a.M. 1998, S. 129-177 29 30
so kürzlich Hubert Markl im „SPIEGEL“
Ich habe diese Arbeitsteilung als Diskussionsangebot an die Philosophen der Stegmüller-Schule unterbreitet und begründet in: Peter Janich, Eindeutigkeit, Konsistenz und methodische Ordnung: normative versus deskriptive Wissenschaftstheorie zur Physik, in: F. Kambartel, J. Mittelstraß (Hrsg.), Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt 1973, S. 131-158
HANS ALBERT
Die Methodologie und die Normierung der Erkenntnispraxis. Zur Frage nach dem Charakter und den möglichen Aufgaben der Wissenschaftslehre
Die Frage nach den möglichen Aufgaben der Wissenschaftslehre pflegt verschieden beantwortet zu werden. Eine der Antworten kann im Anschluß an die transzendentale Fragestellung Immanuel Kants formuliert werden. Kant hat seine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis in einer Weise beantwortet, die mit seinem transzendentalen Idealismus verbunden war. Diese Antwort ist seitdem immer wieder auf Kritik gestoßen1. Dabei hat sich vor allem sein transzendentaler Idealismus als problematisch erwiesen. Wer den transzendentalen Idealismus nicht akzeptieren kann, ist aber keineswegs genötigt, die Fragestellung zurückzuweisen, die der Kantschen Lösung zugrundeliegt. Oswald Külpe hat bekanntlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Antwort auf die Kantsche Frage im Rahmen des von ihm vertretenen kritischen Realismus vorgeschlagen2. Und später hat Karl Popper in seiner Erkenntnislehre eine Version des Realismus vertreten, die an die Kantsche Fragestellung anknüpft, und er hat in diesem Zusammenhang schon die These aufgestellt, daß die Suche nach Regelmäßigkeiten, die die intellektuelle Anpassungsleistung der Erkenntnis erst möglich mache, zwar nicht selbst als eine solche Anpassungsleistung erklärt werden könne, aber doch als eine Anpassungsleistung biologischen Charakters3. Damit hat er demnach die erkenntnistheoretische Fragestellung in ein Erklärungsproblem verwandelt, das im Rahmen des Realismus zu behandeln sei. In der oben erwähnten These ist übrigens, wie man sieht, schon das Thema der evolutionären Erkenntnistheorie angeschlagen, die später von Konrad Lorenz als biologische Lehre im Rahmen eines an Nicolai Hartmann orientierten Realismus skizziert4 und von Gerhard Vollmer entwickelt wurde5.
168 Die Zurückweisung des transzendentalen Idealismus Kantscher Prägung und der Übergang zu einer realistischen Deutung der transzendentalen Fragestellung führt also zu einer Erkenntnistheorie, die einer Erklärungsaufgabe gewidmet ist, nämlich der Aufgabe, durch hypothetischen Rekurs auf die Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens und anderer relevanter Bedingungen eine Erklärung der menschlichen Erkenntnis zu erreichen. Damit wird aus der Kantschen Metaphysik der Erfahrung eine metaphysische Theorie mit Hypothesencharakter, mit deren Hilfe erklärt werden kann, wie wir aus Erfahrungen lernen können. Wenn ich in diesem Zusammenhange die Kantsche Auffassung als hypothetische Metaphysik behandle, dann enspricht das natürlich nicht der üblichen Selbstdeutung Kants und des Kantianismus. Aber es ist dennoch berechtigt, da sich die angeblichen Gewißheiten des Apriorismus als grundsätzlich problematisch herausgestellt haben6. Meines Erachtens enthält aber eine solche Metaphysik ein Erkenntnisprogramm, in dessen Rahmen grundsätzlich Methoden und Resultate aller Realwissenschaften verwertet werden können, die für die Analyse der Erkenntnis als eines realen Geschehens brauchbar sind7. Eine „reine“ Erkenntnislehre, die sich von der realwissenschaftlichen Forschung scharf abgrenzen ließe, würde „im Vakuum“ operieren und wäre daher in Gefahr, einem dogmatischen Apriorismus zu verfallen8. Die adäquate Lösung des von Kant ins Auge gefaßten Problems ist also vom Erkenntnisfortschritt in den Realwissenschaften abhängig. Im Rahmen des kritischen Realismus läßt sich die Kantsche Fragestellung auch noch in einer anderen Weise deuten, die der im transzendentalen Denkens üblichen Auffassung näher kommen mag als eine Deutung, die auf eine Erklärung des Erkenntnisgeschehens abzielt. Man kann nämlich die Erkenntnispraxis als eine zielgerichtete Tätigkeit auffassen und daher die Frage stellen, welche methodische Konzeption zu ihrer Normierung geeignet ist. Dabei geht es also um die Frage, wie bestimmte Zielsetzungen am besten erreichbar sind, die in ihrem Rahmen angestrebt zu werden pflegen. Viktor Kraft ist dieser Auffassung nahegekommen, denn er hat die Erkenntnislehre ausdrücklich in Analogie zu technischen Disziplinen als eine teleologisch-konstruktive Disziplin zur Normierung der Erkenntnisbildung dargestellt. Im Unterschied zu der von mir vertretenen Auffassung möchte er diese Disziplin aber nicht auf Hypothesen sondern auf bloße Festsetzun-
169 gen gründen9. Wenn man von der von mir vorgeschlagenen Deutung ausgeht, wird aus der transzendentalen Fragestellung ein technologisches Problem für den Bereich der Erkenntnis, aus der Erkenntnislehre also eine Technologie oder, um einen älteren Ausdruck zu verwenden, eine „Kunstlehre“, die sich auf dazu verwertbare Hypothesen stützt, um unter Bezugnahme auf die in Frage kommenden Zielsetzungen eine Normierung der Erkenntnispraxis zu erreichen10. Diese Deutung der transzendentalen Fragestellung ist offenbar mit der ersten von mir vorgeschlagenen Deutung vereinbar. In der ersten geht es um die Erklärung des Erkenntnisgeschehens, innerhalb deren natürlich die angewandten Methoden eine wichtige Rolle spielen. In der zweiten geht es um eine adäquate Methodologie. Dabei wird natürlich nicht davon auszugehen sein, daß es keinen Zusammenhang zwischen dieser beiden Problemen gibt. Ich werde darauf zurückkommen. Wenn man die Geschichte der Erkenntnis seit der Antike betrachtet, wird man feststellen, daß ihre Entwicklung stets von Kommentaren zur faktischen Erkenntnispraxis begleitet war, in denen ihre Zielsetzungen, ihre Maßstäbe und ihre Methoden mehr oder weniger ausdrücklich formuliert, in Frage gestellt und unter Umständen auch revidiert wurden. Die „Logik der Forschung“, die sich als Kommentar zur Forschungspraxis entwickelte und die zu ihrer Normierung beitrug, war ebenso kontrovers wie die Verfahrensweisen und die Resultate dieser Praxis. Nun ist zwar eine adäquate Deutung dieser Praxis keine notwendige Bedingung einer erfolgreichen Forschungstätigkeit, aber dennoch können inadäquate Deutungen unter Umständen die Forschung beeinträchtigen. Schon deshalb kann die Formulierung brauchbarer methodischer Konzeptionen für die Normierung dieser Praxis und darüber hinaus auch die Klärung möglicher Zielsetzungen für ihren Erfolg von Bedeutung sein. Bei gegebener Zielsetzung handelt es sich dabei, wie schon erwähnt, ebenso wie in anderen Bereichen menschlicher Praxis um ein technologisches und daher nicht um ein normatives Problem im üblichen Sinne dieses Wortes, auch wenn es dabei um die Normierung der Erkenntnispraxis geht. Die in einer methodischen Konzeption enthaltenen Regeln sind keine Normen, deren unbedingte Geltung begründet werden könnte. Ihre Befolgung kann bestenfalls als zweckmäßig erwiesen werden, wenn bestimmte Zielsetzungen vorausgesetzt werden können.
170 Auch haben diese Normen natürlich keineswegs logischen Charakter, wie das etwa durch den Ausdruck „Logik der Forschung“ nahegelegt wird, obwohl für ihre Konstruktion die Logik natürlich eine wichtige Rolle spielen kann11. Es gibt stets methodische Gesichtspunkte, die nicht durch die Logik diktiert sind. Dazu gehört etwa die Suche nach adäquaten Erklärungen und nach dazu geeigneten Theorien. Eine Analyse der möglichen Leistungen logischer Argumentation führt aber zum Beispiel zu der Konsequenz, daß es zu jeder Theorie unendlich viele mögliche Gegenbeispiele geben und daß jeder Tatbestand durch unendlich viele mögliche Theorien erklärt werden kann. Wenn man den konsequenten Fallibilismus akzeptiert, wie ich das nach dem heutigen Stande der Diskussion für angemessen halte, ergibt sich daraus ein methodologischer Revisionismus. Er involviert die These, daß die Suche nach alternativen Erklärungen und Theorien und die Suche nach Anomalien, also nach Gegenbeispielen zu einer gegebenen Theorie, prinzipiell niemals abzuschließen ist. Das heißt natürlich nicht, daß es zu jeder Theorie Anomalien geben muß, wie es seinerzeit von Imre Lakatos behauptet wurde. Daraus geht hervor, daß der methodologische Revisionismus keineswegs auf Versuche der Falsifikation von Theorien reduziert werden kann, wie Kritiker der Popperschen Konzeption vielfach unterstellen. In ihm spielt zum Beispiel auch die Suche nach umfassenderen und genaueren Theorien eine wichtige Rolle, die auch dann akzeptabel ist, wenn bisherige Prüfungen einer Theorie noch nicht zu ihren Widerlegung geführt haben. Bekanntlich hat Karl Popper seine ursprüngliche Konzeption weiterentwickelt und andere Vertreter des kritischen Rationalismus haben Beiträge dazu geleistet, auf die ich hier nicht eingehen kann12. Wie ich oben festgestellt habe, muß die Methodologie als Kunstlehre an bestimmten Zielsetzungen der menschlichen Erkenntnispraxis orientiert sein. Diese Zielsetzungen können durchaus kontrovers sein. Karl Popper hat das schon in seinem ersten Buch festgestellt13. Er hat damals eine rationale Entscheidung zwischen ihnen für unmöglich gehalten und daher zum Beispiel den Dinglerschen Konventionalismus, der auf die Konstruktion absolut gesicherter Theorien abzielt, als Lösung dieses Problems zugelassen, der man nur eine andere Wertung entgegensetzen könne. Ich habe zu zeigen versucht, wie man die Dinglersche Konzeption einer Kritik unterwerfen kann, ohne unmittelbar auf eine solche Wertung zurückzugreifen14. Das ist deshalb möglich, weil die betreffende Zielsetzung im Kontext von Annahmen formuliert wurde, die in Frage gestellt werden können.
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Die Annahme bestimmter Zielsetzungen reicht aber, wie schon erwähnt, keineswegs aus, um das Methodenproblem zu lösen. Ohne inhaltliche Annahmen über die allgemeine Beschaffenheit der menschlichen Erkenntnissituation läßt sich keine Technologie für die Erkenntnispraxis formulieren. Und solche Annahmen pflegen in der Erkenntnistheorie enthalten zu sein. Die These des kritischen Realismus, daß es eine vom menschlichen Denken unabhängige strukturierte Wirklichkeit gibt, die grundsätzlich erkennbar ist, hat diesen Charakter. Das gleiche gilt für die These des Fallibilismus, die die Konsequenz hat, daß es keine absolut sicheren Problemlösungen geben kann, weil jede Problemlösung von Hypothesen abhängig ist, die prinzipiell revidierbar sind. Eine sinnvolle Methodologie kann also nicht „voraussetzungslos“ sein, mit anderen Worten: sie kann nicht „im Vakuum“ konstruiert werden. Die Methodologie der Realwissenschaften, um die es hier geht, ist eine Disziplin, die ebenso wie andere Disziplinen eine Geschichte hat, zu der auch die Überwindung methodologischer Irrtümer gehört, zum Beispiel der Irrtümer, die in bisherigen Lösungen des Induktionsproblems enthalten sind15. Wer den Realismus als metaphysischen Rahmen für die wissenschaftliche Forschung akzeptiert, der kann in ihr auch ohne weiteres Wissen methodisch verwerten, das in dieser Forschung gewonnen wurde16. Es dürfte überhaupt äußerst schwierig sein, eine scharfe Grenze zwischen der allgemeinen Methodologie und den speziellen Methodologien zu ziehen, die für verschiedene Wissensbereiche entwickelt wurden, auch wenn man zwischen allgemeinen methodischen Gesichtspunkten und speziellen Forschungstechniken unterscheiden kann. Abgrenzungen zwischen Disziplinen sind vor allem durch die Notwendigkeit der Arbeitsteilung in der Erkenntnispraxis bedingt. Sie sind stets provisorisch und oft auch problematisch, weil sie sich als Hindernisse für die Lösung von Problemen erweisen können17. Bei der Behandlung wissenschaftstheoretischer Probleme wird bekanntlich seit langer Zeit zwischen dem Entdeckungszusammenhang und dem Rechtfertigungs- oder Begründungszusammenhang unterschieden. Damit verbunden ist meist die These, daß die Methodologie es nur mit der Rechtfertigung bestimmter Problemlösungen, etwa der Begründung von Theorien, zu tun habe, während alle Fragen, die mit ihrer Entdeckung zu tun haben, etwa im Rahmen der Psychologie zu behandeln seien. Diese Auffassung,
172 die darauf zurückgeht, daß man zwischen Fragen der Genese und der Geltung unterscheiden kann, ist aber keineswegs selbstverständlich. Es ist also nicht selbstverständlich, daß man in der Methodologie von dieser Unterscheidung ausgeht und damit alle Fragen des Entdeckungszusammenhangs ausklammert18. Dieser Gewohnheit liegt nämlich eine problematische Auffassung über die Aufgabe einer adäquaten Methodologie zugrunde. Es geht in ihr meines Erachtens weder um die Analyse der Genese von Erkenntnissen - also um die Untersuchung von Tatsachen des Erkenntnisgeschehens - noch um die Konstatierung der Geltung irgendwelcher Resultate dieses Geschehens. Es geht vielmehr um die Anleitung einer Erkenntnispraxis, die auf Entdeckungen aus ist und die, da sie nicht beliebige Phantasieprodukte als Entdeckungen gelten lassen kann, auf eine Selektion adäquater Problemlösungen und damit auf entsprechende Bewertungen und Entscheidungen angewiesen ist. Sie muß methodische Gesichtspunkte liefern, die auf die Erzielung bestimmter Erkenntnisleistungen abgestellt sind, und kann daher, soweit die dabei unterstellten Ziele akzeptiert werden, zur Normierung der Erkenntnispraxis dienen, einer Praxis, die der Suche nach adäquaten Problemlösungen gewidmet ist. Eine solche Methodologie ist eine rationale Heuristik, die geeignet ist, diese Praxis in Richtung auf einen Erkenntnisfortschritt anzuleiten. Ich habe diese Auffassung an anderer Stelle in Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen ausführlich erläutert und beschränke mich hier auf diesen Hinweis19. Was den Charakter der wissenschaftlichen Methode angeht, so hat Karl Popper übrigens in seiner Sozialphilosophie einen Beitrag zu seiner Analyse geliefert, der mit dem Problem der Normierung der Erkenntnispraxis zusammenhängt20. In seiner Untersuchung zum Problem der Objektivität der Erkenntnis weist er dort darauf hin, daß nur der öffentliche Charakter dieser Methode, der mit der Freiheit der Kritik verbunden sei, für eine solche Objektivität sorgen könne. Er geht dann auf die institutionelle Stützung dieser kritischen Methode ein, die eine öffentliche Kontrolle von Forschungsergebnissen möglich mache. Der wissenschaftliche und letzten Endes auch der technische und der politische Fortschritt hänge vom Funktionieren der betreffenden Institutionen ab. Es sei daher angebracht, die Wissenschaft nicht durch ihre Resultate, sondern durch ihre Methode zu charakterisieren, zu der auch die „Disziplin klarer und vernünftiger Kommunikation“ gehöre.
173 Diese Hinweise machen deutlich, daß im Rahmen des Popperschen Ansatzes die allgemeine Frage nach der sozialen Verankerung methodischer Regeln aufgeworfen werden kann. Ian Jarvie spricht in diesem Zusammenhang von einer sozialen oder institutionellen Wende der Wissenschaftslehre in Poppers Werk21. Zu den realen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis und insbesondere des Erkenntnisfortschritts im oben erläuterten Sinne gehören offenbar auch bestimmte soziale Bedingungen wie die Institutionalisierung von Konkurrenz und Kritik22. Wer das Erklärungsproblem lösen will, das ich anfangs formuliert habe, ist demnach genötigt, auch auf diese Bedingungen einzugehen. Die tatsächlich im Bereich der Wissenschaft vorliegenden Bedingungen müssen allerdings keineswegs so beschaffen sein, daß sie dem Idealbild der Wissenschaft entsprechen, das oft für selbstverständlich gehalten wird. Andererseits kann man auch die sozialtechnologische Frage zu beantworten suchen, in welcher Weise eine Erkenntnispraxis institutionell geregelt werden müßte, damit sie Resultate hat, die bestimmten Zielsetzungen, etwa dem Ziel des Erkenntnisfortschritts, entsprechen. Es handelt sich also um das Problem einer Verfassung der Wissenschaft, die so geartet ist, daß in ihrem Rahmen eine Normierung der Erkenntnispraxis erreicht wird, die einer adäquaten Methodologie entspricht23. Dabei geht es um eine Steuerung des Erkenntnisgeschehens durch institutionell vermittelte Anreize, wie es der Betrachtungsweise entspricht, die für das neuere ökonomische Denken charakteristisch ist. Die Frage nach einer brauchbaren Methodologie wird hier also mit der Frage nach einer adäquaten Verfassung der Wissenschaft verbunden. Und beide Fragen können beantwortet werden, ohne daß dabei normative Aussagen eine Rolle spielen. Die Frage nach einer adäquaten Verfassung der Wissenschaft ist übrigens ein Teilproblem der allgemeinen Verfassungsproblematik, die Popper in seinem Buch über die offene Gesellschaft angeschnitten hat24. Auch für diesen Problembereich läßt sich zeigen, daß man ihn behandeln kann, ohne das von Max Weber formulierte Prinzip der Wertfreiheit zu suspendieren25. Für den Vergleich der in Frage kommenden Alternativen kann man die Wertgesichtspunkte, die dabei in Betracht kommen, in Leistungsmerkmale überführen. Das ist auch dann möglich, wenn diese Wertgesichtspunkte kontrovers sind. Die vergleichende Analyse der betreffenden Alternativen führt zur Feststellung sachlicher Unterschiede, ohne daß dabei Werturteile aufzutreten brauchen. Die Entscheidung für eine bestimmte Verfassung setzt allerdings auch hier ebenso wie im Bereich der Wissenschaft eine
174 Bewertung der in Frage kommenden Alternativen voraus, die nicht aus Erkenntnissen deduziert werden kann. Daß man zur Lösung normativer Probleme - etwa des Problems der Konstruktion einer adäquaten Verfassung - normative Aussagen und damit eine normative Wissenschaft benötigt, ist also keineswegs selbstverständlich. Die Technologie erlaubt nämlich nicht nur die Verwertung des praktisch relevanten Wissens. Man kann darüber hinaus alle Wertgesichtspunkte, deren Berücksichtigung man wünscht, in die Formulierung einer entsprechenden technologischen Fragestellung einbringen26. Auch die Normierung der Erkenntnispraxis, um die es in unserem Falle geht, ist nicht auf eine normative Disziplin angewiesen.
ANMERKUNGEN 1
vgl.dazu mein Buch:Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, Tübingen 1987, S.18-29. 2
vgl. dazu zum Beispiel Oswald Külpe, Festrede zur Kantfeier der Würzburger Universität am 12.Februar 1904, in:Joachim Kopper/Rudolf Malter (Hg.), Immanuel Kant zu Ehren, Frankfurt 1974, S.185f., zu seiner Kantkritik vgl.Külpe, Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung, 2. Auflage, Leipzig 1908. Zu Külpe vgl. auch mein oben erwähntes Buch, S.34ff. und S. 44-59.
3
vgl. dazu Karl Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (19301933), Tübingen 1979, S.88f. und passim.
4
vgl. Konrad Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie (1941), abgedruckt in seinem Aufsatzband: Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, München/Zürich 1978, und sein Buch: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte der menschlichen Erkenntnis, München/Zürich 1973. 5 vgl. Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1975, und derselbe, Was können wir wissen?, Band 1. Die Natur der Erkenntnis. Beiträge zur evolutionären Erkenntnistheorie, Stuttgart 1985, Band 2. Die Erkenntnis der Natur. Beiträge zur modernen Naturphilosophie, Stuttgart 1986. 6
vgl. dazu mein oben erwähntes Buch, S.37, Anm.62, und passim.
175 7
Auch realwissenschaftliche Theorien involvieren stets Erkenntnisprogramme, die darauf zielen, Erklärungen für die in ihrem Rahmen relevanten Phänomene auszuarbeiten.
8
vgl. dazu mein Buch: Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978, S.18ff.
9
vgl. dazu Viktor Kraft, Erkenntnislehre, Wien 196o, S.32 und passim.
10
vgl. dazu mein oben erwähntes Buch: Kritik der reinen Erkenntnislehre, S.7o-93.
11
vgl. dazu a.a.O. S.81-84.
12
Was die These angeht, jede Falsifikation sei endgültig, so entspricht sie übrigens keineswegs der späteren Popperschen Auffassung, vgl. dazu allerdings Volker Gadenne, Zur Aktualität von Karl Poppers kritischem Rationalismus, in: Erhard Busek (HG:) Kommunikation und Netzwerke. Europäisches Forum 2002 Wien 2002, S.259268, wo unter anderem darauf hingewiesen wird, daß Popper zwar seine frühere Auffassung geändert, aber leider den Eindruck erweckt hat, er müsse nichts zurücknehmen. 13
vgl. Karl Popper: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, a.a.O.,S.394.
14
vgl. dazu mein Buch: Traktat über kritische Vernunft (1968), 5.Auflage 1991, SD.37-44.
15
Auch die Verwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie im Rahmen des Bayesianismus gehört dazu, vgl. dazu die Kritik des Bayesianismus in: Max Albert, Bayesian Rationality and Decision Making: A Critical Review, Analyse und Kritik, Jgg.25, 2oo3, S.101-116. 16
vgl. dazu mein Buch:Kritik der reinen Erkenntnislehre,a.a.O.,S.86.
17
vgl, dazu meinen Beitrag: Der methodologische Revisionismus und die Abgrenzungsproblematik, in: Dariusz Aleksandrowicz/Hans Günther Ruß (Hg), RealismusDisziplin-Interdisziplinarität, Amsterdam/Atlanta 2001, S.113-130.
18
Auch Karl Popper hatte, wie Gadenne mit Recht feststellt, den Entdeckungszusammenhang noch aus der Methodologie ausgeklammert;vgl. Volker Gadenne, Rationale Heuristik und Falsifikation, in:Volker Gadenne/Hans Jürgen Wendel (Hg.), Rationalität und Kritik, Tübingen 1996, S.57-78. Popper hat aber gegen meine Behandlung dieses Problems niemals Einwände gemacht. Er scheint damit einverstanden gewesen zu sein. 19
Zur Methodologie als rationale Heuristik vgl. mein Buch:Traktat über rationale Praxis,a.a.O.,S.45-52 und passim, und mein Buch:Kritik der reinen Erkenntnislehre,a.a.O.,S.84-91, vgl. auch Volker Gadenne, Rationale Heuristik und Falsifikation,
176 a.a.O.. Gadenne liefert hier eine Deutung der von Popper in seiner Falsifikationslehre formulierten Regeln im Sinne einer rationalen Heuristik. Vgl. auch Gadenne, Hat der kritische Rationalismus noch etwas zu lehren? in:Jan M.Böhm/Heiko Holweg/Claudia Hoock (Hg.), Karl Poppers kritischer Rationalismus heute, Tübingen 2002, S.58-78. 20
vgl. dazu Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945), 7.Auflage, Tübingen 1992, II. Band, S.253-261.
21
vgl. Ian J. Jarvie, The Republic of Science. The Emergence of Popper's Social View of Science 1935.1945, Amsterdam/Atlanta 2001. Das Buch enthält eine Analyse und Kritik der von Karl Popper formulierten methodologischen Regeln und eine Interpretation seiner Methodologie im Rahmen des Verfassungsproblems. 22
vgl. mein Buch: Kritik der reinen Erkenntnislehre, a.a.O.,S.157-16o.
23
vgl. dazu Max Albert, Der kritische Rationalismus und die Verfassung der Wissenschaft, in: Böhm/Holweg/Hoock (Hg.), a.a.O.,S.231-241, wo unter anderem auch auf das von Paul Feyerabend konstruierte Dilemma eingegangen wird; und derselbe, Methodologie und die Verfassung der Wissenschaft. Eine institutionalistische Perspektive, in: Held / Kubon / Sturn (Hg.), Jahrbuch: Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomie, Band 3: Ökonomie des Wissens, Marburg 2004, S. 127-150. 24
vgl. dazu Ian Jarvie, a.a.O..,S.212-231, sowie mein Buch:Traktat über rationale Praxis, a.a.O., und meine Schrift: Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer offenen Gesellschaft, Tübingen 1986. 25 vgl. dazu mein Buch:Kritik der reinen Hermeneutik,a.a.O., S.193-197 und passim. 26
vgl. dazu mein Buch:Kritischer Rationalismus. Vier Kapitel zur Kritik illusionären Denkens, Tübingen 2ooo, S.51f., S.73-76 und passim.
LUDWIG FAHRBACH STEPHAN HARTMANN
Normativität und Bayesianismus Einleitung Das Thema dieses Bandes ist die Frage, ob die Wissenschaftstheorie eine normative Disziplin ist. Zunächst überrascht die Frage, denn für viele Wissenschaftstheoretiker ist die Antwort ein klares „Ja“; sie halten es für einen Allgemeinplatz, dass die Wissenschaftstheorie ein normatives Unternehmen ist. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass die Frage unterschiedliche Interpretationen zulässt, die einzeln diskutiert werden müssen. Dies geschieht im ersten Abschnitt. Im zweiten Abschnitt suchen wir nach möglichen Erklärungen dafür, warum die Wissenschaftstheorie bisher bei dem Projekt, eine allseits akzeptable Methodologie wissenschaftlichen Schließens zu formulieren und zu begründen, so wenig Erfolg hatte. Eine mögliche Erklärung für den ausbleibenden Erfolg ist der Partikularismus, wonach Methoden keine allgemeine, sondern nur eine lokale, bereichsabhängige Gültigkeit haben. Im dritten Abschnitt wollen wir an Hand des Bayesianismus zeigen, dass die Methodologie doch nicht so schlecht da steht, wie es zunächst den Anschein hat. Der Bayesianismus ist für viele Wissenschaftstheoretiker der aussichtsreichste Kandidat für eine allgemeine Theorie induktiven Räsonierens. Wir besprechen seine Vorzüge, stellen aber auch dar, welche Konzessionen er an den Partikularismus machen muss. 1. Normativität in der Wissenschaftstheorie Wissenschaftstheoretiker haben Wissenschaft auf viele unterschiedliche Weisen bewertet und kritisiert. Zum Beispiel haben sie Überlegungen zu der Frage angestellt, welche Dinge die Wissenschaft erforschen sollte. Auf allgemeiner Ebene behandelt beispielsweise Philip Kitcher (2001) solche Fragen. Er untersucht, wie erreicht werden kann, dass die Wissenschaft „wohlgeordnet“ ist, d.h. wie auf gerechte und demokratische Weise ent-
178 schieden werden kann, welche Dinge die Wissenschaft erforschen sollte und auf welche Weise Ressourcen wie Geld und Positionen sinnvoll über die verschiedenen wissenschaftlichen Fächer und Projekte verteilt werden können. Eine andere Frage über die Organisation der Institution Wissenschaft behandelt James R. Brown (2000). Er kritisiert die Tendenz, dass immer mehr Forschung von privaten Unternehmen durchgeführt und damit gesellschaftlicher Kontrolle entzogen wird. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie Wissenschaftstheoretiker Kritik an der Wissenschaft üben. Doch sind diese Formen der Kritik an der Wissenschaft nicht diejenigen, die wir im Folgenden untersuchen wollen. Nach unserem Verständnis der Eingangsfrage, ob die Wissenschaftstheorie eine normative Disziplin ist, geht es in ihr nicht um soziale, politische oder organisatorische Probleme der Wissenschaft. Vielmehr verstehen wir die Eingangsfrage so, dass sie sich auf die Aufgabe der Wissenschaftstheorie bezieht, die Relation der Bestätigung zwischen Beobachtung und Theorie zu untersuchen und Prinzipien der rationalen Theoriewahl zu formulieren und zu begründen, also Prinzipien, um auf der Grundlage der jeweils vorliegenden Beobachtungen und Daten zwischen verschiedenen Theorien (bzw. für oder gegen die Akzeptanz einer einzelne Theorie) auf rationale Weise zu entscheiden. Die zugehörige wissenschaftstheoretische Disziplin ist die Methodologie. Sie formuliert und untersucht Systeme von Prinzipien für das Akzeptieren und Ablehnen von wissenschaftlichen Theorien und sucht nach möglichen Begründungen für solche Prinzipien.1 Die erste Möglichkeit, wie die Eingangsfrage („Ist die Wissenschaftstheorie eine normative Disziplin?“) verstanden werden kann, ist die folgende: (1) Gibt es objektiv gültige Prinzipien der rationalen Theoriewahl? In einem Augenblick werden wir zu dieser Frage ein paar Bemerkungen machen, doch zuvor wollen wir überlegen, auf welche Weise die Eingangsfrage noch verstanden werden kann. Zunächst scheint es offensichtlich zu sein, dass der Untersuchungsgegenstand der Methodologie (also die Prinzipien der rationalen Theoriewahl) eine normative Natur hat. Die Prinzipien haben zum Inhalt, wann die Akzeptanz einer Theorie rational ist, wie die Wissenschaftler induktiv schließen sollten, und so weiter. Das sind Aussagen darüber, was der Fall sein sollte.
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Darauf könnte man erwidern, dass der Eindruck täuscht und die Prinzipien, genauer betrachtet, gar nicht normativ aufzufassen sind. Viele Wissenschaftstheoretiker und Erkenntnistheoretiker vertreten eine instrumentelle Auffassung, wonach Prinzipien und Methoden nur Mittel sind, um gewisse epistemische Ziele zu erreichen, etwa das Ziel, wahre Theorien zu finden. Die Methodologie untersucht dann nur, ob die Prinzipien und Methoden als Mittel effektiv sind, um die jeweiligen epistemischen Ziele zu erreichen.2 Sie untersucht nur „hypothetische Imperative“. Zwar sind „hypothetische Imperative“ immer noch Imperative, denn sie gelten für all diejenigen Fälle, in denen das Subjekt (etwa der Wissenschaftler) die jeweiligen epistemischen Ziele tatsächlich hat und macht für diese Fälle Sollensaussagen, aber die Methodologie kann dennoch rein deskriptiv aufgefasst werden, denn sie untersucht nur die Behauptung, ob die Prinzipien jeweils faktisch effektiv sind, um die epistemischen Ziele zu erreichen; sie hat nicht zum Ziel, Imperative aufzustellen oder Sollensaussagen zu machen, so diese Erwiderung. Doch selbst wenn es stimmt, dass die Methodologie rein deskriptiv verstanden werden kann, so ist es doch nur ein kleiner Schritt für den Methodologen, die Prinzipien herzunehmen und das faktische Verhalten der Wissenschaftler mit den Prinzipien zu vergleichen, auf Übereinstimmung oder Abweichung hin zu überprüfen und dementsprechend zu bewerten. Wenn ein Methodologe glaubt, er habe ein gewisses Maß an Wissen über seinen Gegenstand, also diese oder jene Einsicht über die Rationalität von Theorienakzeptanz gewonnen, dann liegt es für ihn nahe, dieses methodologische Wissen anzuwenden und die konkrete Wissenschaftspraxis mit Hilfe seiner methodologischen Einsichten zu bewerten und zu kritisieren. Dies führt zu einer zweiten Frage: (2) Bewerten und kritisieren Wissenschaftstheoretiker die Wissenschaft, oder halten sie sich mit methodologischer Kritik zurück? In dieser Frage geht es um das faktische Verhalten der Wissenschaftstheoretiker. Wir können aber auch nach der Berechtigung zu solchem Verhalten fragen:
180 (3) Sind die Wissenschaftstheoretiker dazu berechtigt, die Wissenschaft methodologisch zu kritisieren? Dies führt schließlich zu der Frage, ob Wissenschaftstheoretiker sogar die Pflicht haben, sich in die Wissenschaft einzumischen: (4) Sind die Wissenschaftstheoretiker dazu verpflichtet, die Wissenschaft methodologisch zu kritisieren? Die letzte Frage kann als zweite Interpretation der Ausgangsfrage verstanden werden. Wir wollen nun alle vier Fragen nacheinander behandeln. Wir nennen jemanden, der Frage (1) mit „Nein“ beantwortet, einen „Deskriptivsten“ bezüglich Frage (1), jemanden, der Frage (2) mit „Nein“ beantwortet, einen „Deskriptivsten“ bezüglich Frage (2), und entsprechend für Frage (3) und (4). 1.1 Relativismus Relativisten beantworten die erste Frage mit „Nein“: Sie bestreiten die Existenz von objektiv gültigen Prinzipien der Theoriewahl. Sie meinen zum Beispiel, dass die Prinzipien nur für die jeweilige Zeit und wissenschaftliche Disziplin gelten und nur in dem Sinn, dass sie von der jeweiligen Gemeinschaft für gültig gehalten werden. So hat Thomas Kuhn manchmal die Existenz von paradigma-unabhängigen Standards der rationalen Theoriewahl bestritten.3 Der Relativismus sucht vor allem Nachbardisziplinen der Wissenschaftstheorie wie die Wissenschaftssoziologie und die Wissenschaftsgeschichte heim. Eindeutiger als Kuhn haben sich z.B. die Vertreter der „Edinburgher Schule“ zum Relativismus bekannt. So schreiben Barry Barnes und David Bloor: „For the relativist there is no sense attached to the idea that some standards or beliefs are really rational as distinct from merely locally accepted as such. Because he thinks that there are no context-free or super-cultural norms of rationality he does not see rationally and irrationally held beliefs as making up two distinct and qualitatively different classes of thing.” (1982, S. 62) Wenn man meint, dass es keine objektiv gültigen Methoden der rationalen Theoriewahl gibt, dann hat man nichts in der Hand, womit man die Akzeptanz und Ablehnung von Theorien durch Wissenschaftler bewerten und kritisieren könnte. Dann scheint man die dritte Frage negativ beantworten zu müssen: Wir sollten uns darauf beschränken, das Verhalten der Wissenschaftler zu beschreiben, ähnlich wie Ethnologen die Normen und Gebräu-
181 che fremder Völker lediglich beschreiben und nicht bewerten sollten.4 Diese Forderung scheint in der Wissenschaftssoziologie und der Wissenschaftsgeschichte größtenteils befolgt zu werden; eine rein deskriptive Einstellung zur Wissenschaft ist dort weit verbreitet. Somit hat die zweite Frage („Bewerten und kritisieren Wissenschaftstheoretiker die Wissenschaft, oder halten sie sich mit methodologischer Kritik zurück?“), wenn man sie für Wissenschaftssoziologen und Wissenschaftshistoriker statt Wissenschaftstheoretiker stellt, ebenfalls eine negative Antwort. Dies ist nicht der Ort, um die Argumente der Relativisten ausführlich zu diskutieren. Wir beschränken uns daher auf einige kurze Bemerkungen, warum wir, wie die meisten Wissenschaftstheoretiker, den Relativismus für sehr unplausibel halten. Wenn es keine objektiven Methoden der Theoriewahl gibt, dann stehen alle wissenschaftlichen Theorien gleich gut da, dann darf man die Wissenschaft nicht als Quelle des Wissens über die Welt akzeptieren. Dann sieht auch der praktische Erfolg der Wissenschaft wie ein Wunder aus, d.h. Relativisten können den Erfolg der Wissenschaft nicht erklären. Wissenschaftstheoretiker glauben, dass die Wissenschaftler irgendetwas richtig machen, wenn sie gewisse Theorien akzeptieren und andere zurückweisen, und wollen herausfinden, was die Wissenschaftler richtig machen. Die Theoriewahl der Wissenschaftler kann nicht nur das Ergebnis von sozialen Faktoren oder Willkür sein, das würde den Erfolg der Wissenschaft unverständlich machen. In der Wissenschaftstheorie wird somit der Relativismus nur selten vertreten; deshalb sehen wir im Folgenden von ihm ab. 5 1.2 Gründe für Zurückhaltung Betrachten wir die zweite Frage nach dem faktischen Verhalten der Wissenschaftstheoretiker, ob sie die Wissenschaft methodologisch bewerten und kritisieren oder sich aus der Wissenschaft heraushalten. Die zweite Frage besteht aus zwei Teilen, denn sie fragt erstens, ob Wissenschaftstheoretiker die Wissenschaft bewerten und zweitens, ob sie sie kritisieren. Zur ersten Frage ist klar, dass Wissenschaftstheoretiker die Wissenschaft oft bewundern und sie für sehr erfolgreich halten (in welchem Sinn von Erfolg auch immer). So haben etwa die logischen Empiristen wie Carnap und Hempel die Wissenschaft bewundert und sie für ein Vorbild an Rationalität gehalten. Wenn man diese Einschätzung der Wis-
182 senschaft hat, dann stellt das offensichtlich eine Bewertung der Wissenschaft dar. Diese Einstellung zur Wissenschaft ist allerdings noch nicht besonders interessant. Auch andere Wissenschaftler können ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand bewundern. Biologen bewundern das Wunder des Lebens, und Astronomen bewundern die Schönheit von Galaxien. Interessanter ist die Frage, ob sich Wissenschaftstheoretiker mit methodologischer Kritik in die Wissenschaften einzumischen versuchen. Zunächst könnte man meinen, dass ein Wissenschaftstheoretiker, der glaubt, es gebe objektive Methoden der rationalen Theoriewahl und er habe in seinen methodologischen Überlegungen etwas über diese Methoden herausgefunden, die Ergebnisse seiner Überlegungen bei passender Gelegenheit heranziehen wird, um das konkrete Verhalten von Wissenschaftlern einzuschätzen und gegebenenfalls zu kritisieren. Wenn ein Wissenschaftstheoretiker die richtigen Methoden der rationalen Theoriewahl oder zumindest gewisse wichtige Eigenschaften dieser Methoden herausgefunden zu haben meint, was sollte ihn dann von Kritik abhalten? Es gibt drei Gründe, weswegen sich Wissenschaftstheoretiker mit Kritik zurückhalten. Erstens meinen die meisten Wissenschaftstheoretiker, dass die Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, keine Kritik nötig haben, gerade weil sie schon ganz ausgezeichnet funktionieren. Verbesserungsvorschläge durch die Methodologie sind nicht erforderlich.6 Imre Lakatos verglich die Wissenschaftler mit Fischen: Wie Fische ausgezeichnet schwimmen können, ohne zu wissen, wie sie das machen, so können Wissenschaftler ausgezeichnet Wissenschaft machen, ohne zu wissen, wie sie das genau machen (Lakatos 1970, p. 148). Die Methodologie hat dann immer noch die Aufgabe herauszufinden, welches die Methoden genau sind, die die Wissenschaft so erfolgreich macht, ähnlich wie die Aufgabe der Hydrodynamik ist herauszufinden, warum die Fische so gut schwimmen können, jedoch haben weder Wissenschaftler noch Fische Kritik und Ratschläge nötig. Der zweite Grund ist eine Folge der Hinwendung zur Wissenschaftspraxis. Kuhn, Paul Feyerabend und andere zeigten mit historischen Fallstudien, dass die von den logischen Empiristen vorgeschlagenen Methodologien die akzeptierte wissenschaftliche Praxis nicht korrekt beschreiben. Erfolgreiche Wissenschaftler verhalten sich oft nicht so, wie es die Methodologien von Carl G. Hempel, Rudolf Carnap, Karl Popper, usw. vorschreiben. Wie
183 soll man auf den Konflikt zwischen erfolgreichem wissenschaftlichen Verhalten und von Philosophen vorgeschlagenen Methodologien reagieren? Den Wissenschaftlern die Schuld zu geben, halten viele Wissenschaftstheoretiker für anmaßend. Stattdessen gehen sie von der Annahme aus, dass bei einem Konflikt das Problem zunächst bei der jeweils vorgeschlagenen Methodologie zu suchen ist. Das aber bedeutet, dass die Wissenschaftspraxis und Wissenschaftsgeschichte als Datenquelle herangezogen wird, um Vorschläge für Methodologien zu prüfen. Wenn aber das Verhalten der Wissenschaftler als Datenbasis dient, um eine Methodologie zu prüfen, wie kann dann umgekehrt das Verhalten der Wissenschaftler auf der Grundlage der Methodologie kritisiert werden? Das wäre zirkulär. Der dritte Grund ist ebenfalls eine Folge der Kuhn’schen Kritik. Die Inkongruenz zwischen Wissenschaftspraxis und den Methodologien wurde allgemein als Anzeichen dafür gesehen, dass die Wissenschaftstheorie noch sehr weit von der Formulierung einer korrekten Methodologie entfernt ist. Der Optimismus der frühen Jahre verflog.7 Der Eindruck herrscht heute vor, dass das Projekt einer allgemeinen Methodologie sehr viel schwieriger ist als ursprünglich angenommen.8 Solange aber noch keine allgemein akzeptierte und begründete Methodologie vorliegt, sollte man sich mit Bewertung und Kritik von Wissenschaft besser zurückzuhalten.9 Diese drei Gründe (die offensichtlich miteinander zusammenhängen) haben zur Folge, dass viele methodologische Diskussionen ausschließlich zwischen Wissenschaftstheoretikern ablaufen. In den wissenschaftstheoretischen Diskussionen, z.B. in den Auseinandersetzungen um den Bayesianismus, kritisieren sich die Wissenschaftstheoretiker nur gegenseitig und nicht die Einzelwissenschaften. In weiten Teilen der Wissenschaftstheorie dominiert daher ein de-facto-Deskriptivismus. Beliebt ist der Vergleich der Wissenschaftstheorie mit der Astronomie, welche auch nur daran interessiert ist, Sterne und Galaxien zu beobachtet und zu beschreiben, und nicht, sie irgendwie zu verändern oder zu verbessern.10 1.3 Kritik an Wissenschaft Zwar sind viele methodologische Diskussionen nur an die Kollegen innerhalb der Wissenschaftstheorie gerichtet, aber das gilt nicht für alle methodologischen Diskussionen. Die Wissenschaft funktioniert nicht immer so gut, wie von Vertretern des ersten Grundes behauptet. Wenn Wissenschaftstheoretiker meinten, dass Wissenschaft schlecht funktioniert, dann
184 haben sie ihre Zurückhaltung oft aufgeben und Wissenschaft durchaus kritisiert. So hat Popper bekanntlich die Psychoanalyse, den Marxismus und die Astrologie kritisiert und ihnen die Wissenschaftlichkeit gleich ganz aberkannt. Dabei ging er von seiner eigenen Methodologie aus. Auch die beiden anderen Gründe für die Zurückhaltung der Wissenschaftstheoretiker gelten nur mit Einschränkungen. So war die Argumentation, die wir eben für den zweiten Grund gegeben haben, zu einfach. Selbst wenn der Methodologe für die Begründung von Prinzipien der Theoriewahl keine andere Datenbasis als die Wissenschaftspraxis zugrunde legen will, wird er nur diejenigen Teile der Wissenschaft als Datenbasis verwenden, von denen er meint, dass sie gut funktionieren, d.h. die er für erfolgreich oder vorbildlich hält. Wenn er aus erfolgreicher Wissenschaft Methoden herausliest, dann kann er die herausgelesenen Methoden dazu benutzen, andere Teile der Wissenschaftspraxis zu kritisieren, die er für weniger vorbildlich hält. Zum Beispiel mag ein Methodologe aus der Wissenschaftspraxis ableiten, dass zuverlässige Aussagen über die Wirkungen von Medikamenten nur gemacht werden können, wenn die Medikamente mit Doppelblindversuchen getestet wurden. Mit dieser methodologischen Einsicht könnte der Methodologe dann Fälle kritisieren, in denen Aussagen über Medikamente gemacht werden, die nicht das Ergebnis von Doppelblindversuchen sind. Auch der dritte Grund, das Fehlen einer allgemein akzeptierten Methodologie, führt nicht zum Ausschluss jeglicher Kritik. Wissenschaft kann kritisiert werden, wenn das jeweilige wissenschaftliche Fehlverhalten so gravierend ist, dass keine bestimmte Methodologie zugrunde gelegt werden muss, um die methodologischen Fehler einzusehen. Dann kann die Wissenschaftstheorie methodologische Kritik an der Wissenschaft üben, obwohl noch keine allgemein akzeptierte Methodologie vorliegt. So gibt es heute eine ganze Reihe von Beispielen von Kritik an schlechter Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Zum Beispiel tadelt Kitcher die Soziobiologie für die ungenügenden empirischen Begründungen ihrer Hypothesen.11 Patricia Kitcher (1992) und Adolf Grünbaum (1988) werfen Freud vor, empirische Evidenzen ignoriert und den Anschluss an benachbarte empirische Disziplinen verloren zu haben. Clark Glymour kritisiert prominente Arbeiten der Intelligenzforschung: Sie gelangten zu Schlussfolgerungen, die nicht durch die Daten belegt seien. In den so genannten „science wars“ beklagen Wissenschaftler und Philosophen den Verfall wissenschaftlicher Standards in den Literaturwissenschaften und verwandten
185 Geisteswissenschaften (Alan Sokal 2001, Brown 2001, Ian Hacking 1999). Und so weiter. In all diesen Fällen nehmen Wissenschaftstheoretiker konkretes wissenschaftliches Verhalten (oder was sich dafür hält) unter die Lupe und kritisieren es. Es gibt also viele Fälle, in denen sich die Wissenschaftstheoretiker mit präskriptiver Absicht in die Wissenschaften einmischen und die Wissenschaft verbessern wollen. Der Vergleich der Wissenschaftstheoretiker mit Astronomen gilt somit nur begrenzt; Wissenschaftstheoretiker haben durchaus die Bereitschaft, Wissenschaft zu kritisieren. Folglich hat ein Deskriptivist bezüglich Frage (2) Unrecht. 12 1.4 Dürfen die das? Wenden wir uns der dritten Frage zu: Sind Wissenschaftstheoretiker dazu berechtigt, die Wissenschaft zu bewerten und zu kritisieren? Der Deskriptivist bezüglich Frage (2) meint „Nein“ und fordert, dass sich Wissenschaftstheoretiker aus der Wissenschaft heraushalten. Doch überzeugt uns das nicht. Abgesehen davon, dass der Deskriptivist hier selbst macht, was er den Wissenschaftstheoretikern nicht zugestehen will, nämlich anderen Leuten Vorschriften zu machen, ist nicht zu sehen, aus welchen Gründen man den Wissenschaftstheoretikern die Bewertung und Kritik von Wissenschaft und Wissenschaftlern verbieten soll. Kritik und Gegenkritik ist ein wesentliches Element von Wissenschaft, ohne sie hätte sie kaum den großen Erfolg, den sie heute hat: Warum sollen sich Wissenschaftstheoretiker nicht daran beteiligen dürfen? Im Prinzip sollte sich jeder daran beteiligen dürfen, der die nötige Kompetenz besitzt. Die Methoden der Wissenschaft, ihre Korrektheit und Inkorrektheit, wann folglich Kritik und Gegenkritik in der Wissenschaft zutreffend sind, das sind gerade die Themen der Methodologie, da sollte man hoffen, dass die Wissenschaftstheoretiker ein gewisses Maß an Kompetenz erworben haben. Zwar haben wir eben drei Gründe gesehen, warum es für den Methodologen oft klug ist, Zurückhaltung zu üben, aber wir haben auch bemerkt, dass diese drei Gründe nur eingeschränkt gelten. Insbesondere was den dritten Grund angeht, sollte man hoffen, dass die Arbeit der Methodologen nicht völlig ohne Ergebnisse geblieben ist, selbst wenn sie noch keine allgemeingültige Methodologie vorlegen können. Wenn das der Fall ist, warum sollen sie ihr Fachwissen dann nicht anwenden dürfen, und das bedeutet, konkretes wissenschaftliches Verhalten mit Hilfe der Ergebnisse der Methodologie einzuschätzen und gegebenenfalls zu kritisieren. Die obigen Beispiele der Soziobiologie, der Intelligenzforschung, der „science wars“,
186 usw. sind denn auch plausible Beispiele dafür, wie Wissenschaftstheoretiker einen nützlichen Beitrag zur Wissenschaft liefern können. Dass die Wissenschaftstheoretiker die Wissenschaft bewerten und kritisieren, kann man also nicht beanstanden. Bezüglich der dritten Frage unterscheidet sich die Wissenschaftstheorie nicht von anderen Wissenschaften.13 Der Frage, ob die Wissenschaftstheoretiker ihr Wissen anwenden und sich in die Wissenschaft einmischen dürfen, entspricht die Frage, ob Ökonomen, Psychologen oder Statistiker ihr entsprechendes Wissen anwenden dürfen und sich in die entsprechenden Bereiche einmischen dürfen. In allen Fällen gibt es keinen Grund, weswegen man eine Einmischung verbieten soll, wenn die entsprechende Kompetenz vorliegt. Wenn Ökonomen Fachwissen über wirtschaftliche Zusammenhänge besitzen, warum sollen sie sich dann nicht beispielsweise in die Wirtschaftspolitik einmischen dürfen. 1.5 Aufgaben und Pflichten der Wissenschaftstheoretiker Betrachten wir schließlich die letzte Frage, ob Wissenschaftstheoretiker die Pflicht haben, sich in die Wissenschaft einzumischen. Diese Frage lässt zwei Lesarten zu. Zum einen kann sie fragen, ob es zu den Aufgaben der Wissenschaftstheoretiker gehört, die Wissenschaft methodologisch zu kritisieren, zum zweiten kann sie fragen, ob Wissenschaftstheoretiker in irgendeinem anderen Sinn zur kritischen Begleitung oder Kommentierung von Wissenschaft verpflichtet sind. 14 Was die Aufgaben von Wissenschaftstheoretikern angeht, so scheint uns, dass ihre eigentliche Aufgabe der Erwerb von Wissen ist. Auch hier unterscheidet sich der Wissenschaftstheoretiker nicht von anderen Wissenschaftlern. Auch von einem Psychologen als Wissenschaftler erwartet man nur, dass er etwas über das menschliche Verhalten, Denken, Fühlen, usw. herausfindet, nicht aber, dass er sich in die therapeutische Praxis einmischt. Ebenso wenig erwartet man von einem Bauingenieur als Wissenschaftler, dass er Brücken und Straßen bewertet und kritisiert. Das steht nicht in seiner Stellenbeschreibung, wenn er an einer Universität oder anderen wissenschaftlichen Einrichtung angestellt ist. Wenn die Ausgangsfrage, ob die Wissenschaftstheorie eine normative Disziplin ist, bedeuten soll, dass es zu den Aufgaben der Wissenschaftstheorie gehört, sich in die Wissenschaft einzumischen, dann ist sie keine normative Disziplin, aber dann ist frag-
187 lich, ob es überhaupt eine wissenschaftliche Disziplin gibt, die in diesem Sinn eine normative Disziplin ist. Es gibt noch eine zweite Lesart der vierten Frage. Selbst wenn der Wissenschaftstheoretiker nicht die Aufgabe hat, sich in die Wissenschaft einzumischen, hat er vielleicht auf Grund seiner Kompetenz die moralische Pflicht, die Wissenschaft kritisch zu begleiten und sich mitunter einzumischen. So meint Popper: “Everyone has a special responsibility in the field in which he has either special power or special knowledge” (1994, S. 128). Wenn es in der Wissenschaft z.B. Fehlentwicklungen gibt, die der Wissenschaftstheoretiker auf Grund seiner besonderen Ausbildung oder seines Fachwissens aufdecken kann, dann sollte er das tun. Das meint zumindest Noretta Koertge bezüglich der oben erwähnten „science wars“: „’New age’ critiques of science are figuring in decisions about making agricultural technology and medicine available to developing countries (…) and regulations affecting genetic research and the archaeologist’s access to fossils. If we have reason to believe these philosophies are unsound and are leading to bad social results, then it is our moral responsibility to speak out.” (2000, S. 679) Wir sympathisieren mit Koertges Forderung, doch sind wir damit bei sehr großen und tiefen Problemen angelangt, nämlich Problemen der moralischen Verantwortung, die wir in diesem Aufsatz nicht angemessen behandeln können. 1.6 Methodologie im weiten Sinne Damit haben wir die vier Versionen der Eingangsfragen beantwortet – allerdings nur für die Methodologie, verstanden in dem engen Sinn unserer obigen Definition. In der Wissenschaftstheorie gibt es Probleme, die in einem weiten Sinn methodologisch sind. Ihre jeweilige Form von Normativität müsste ebenfalls ausführlich diskutiert werden, was wir an dieser Stelle jedoch nicht machen können. Wir beschränken uns darauf, sie kurz zu erwähnen. Da ist die feministische Wissenschaftskritik, etwa die Kritik an der Primatenforschung, wonach das Geschlecht des Forschers eine Rolle bei der Entwicklung und Akzeptanz von Hypothesen spielte (Sarah Blaffer Hredy 2002). Dann haben wir das das Problem der Interpretation von wissenschaftlichen Theorien wie der Quantenmechanik oder der statistischen Mechanik, auf das Lawrence Sklar jüngst hingewiesen hat. Das Bemerkenswerte ist dabei für Sklar, dass der Anstoß für diese Untersuchungen aus den Einzelwissenschaften selbst kommt: “[T]he essential motivation for interpretation comes from within science itself. Demands for the interpretation or reinterpretation of a theory come from a
188 pretation or reinterpretation of a theory come from a sense, within the theoretical scientific community itself, that ‘something has gone wrong’ with the theory itself.”15 Drittens haben wir die Frage, ob es auch Normen für den so genannten Kontext der Entdeckung gibt. So wollen Clark Glymour et. al. (1993) die Bayes’schen Netze für die Entdeckung von kausalen Hypothesen einsetzen. Viertens gibt es die Debatte um den wissenschaftlichen Realismus und van Fraassens Antirealismus. Und so weiter. Eine vollständige Diskussion der unterschiedlichen Formen von Normativität, mit denen sich die Wissenschaftstheorie beschäftigt, müsste all diese Themen aufgreifen, was jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. 2. Das Elend der Methodologie Wie wir gesehen haben, ist eines der Motive, weswegen sich Wissenschaftstheoretiker mit Kritik an konkretem wissenschaftlichen Verhalten zurückhalten, dass die Methodologie noch nicht besonders weit entwickelt zu sein scheint. Diese Situation wollen wir nun genauer untersuchen. Wenn man die Errungenschaften der Wissenschaft mit den Errungenschaften der Methodologie vergleicht, dann fällt in der Tat auf, dass es hier eine sehr große Diskrepanz gibt. Auf der einen Seite hat die Wissenschaft in den letzten 300 Jahren gewaltige Fortschritte gemacht, die Vorhersagen und Einflussnahme in der Welt in einem Ausmaß ermöglichen, von der frühere Generationen nur träumen konnten. Auf der anderen Seite haben wir die Methodologie. Sie soll die Prinzipien der rationalen Theoriewahl herausfinden und begründen, auf denen die gewaltigen Erfolge der Wissenschaft beruhen. Doch scheint sie in einem bedauernswerten Zustand zu sein. Obwohl sich Wissenschaftler und Philosophen seit Hunderten von Jahren mit der Methodologie beschäftigen, sind sie weit davon entfernt, einen Methodenkanon zu formulieren und zu begründen, der allgemein akzeptiert werden könnte. Die Diskussion in der Methodologie hat alle Eigenschaften, die für philosophische Diskussionen typisch sind: Es gibt verschiedene Positionen und verschiedene Argumente zur Stützung und Entkräftung der verschiedenen Positionen, doch gibt es keine Entscheidung und ein Ende der Meinungsverschiedenheiten ist nicht in Sicht. Warum ist die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Wissenschaftstheorie so groß? Warum sind die Methodologen so erfolglos, während die Methoden selbst so erfolgreich sind?
189 Warum ist die Methodologie immer noch eine philosophische Disziplin? Wir wollen vier Möglichkeiten betrachten, wie man die Probleme der Methodologie erklären kann. Viele Wissenschaftstheoretiker meinen, dass es eine extrem schwierige Aufgabe ist, die wissenschaftlichen Methoden zu beschreiben und zu begründen. Eine Erklärung, die hierfür angegeben wird, ist, dass die wissenschaftlichen Methoden tief in der wissenschaftlichen Praxis verborgen liegen, was eine systematische Beschreibung sehr schwer macht. Und solange keine systematische Beschreibung der wissenschaftlichen Methoden vorliegt, können sie auch nicht allgemein begründet werden. Diese Erklärung des bisherigen Misserfolgs der Methodologie sieht das Verhältnis zwischen der wissenschaftlichen Praxis und der Beschreibung dieser Praxis als ein Verhältnis zwischen „knowing-how“ und „knowing-that“. Erinnern wir uns an Lakatos’ Vergleich von Fischen mit Wissenschaftlern: Genau wie Fische die Fähigkeit haben, anstrengungslos und effizient zu schwimmen, ohne die Hydrodynamik zu kennen, können Wissenschaftler etwas über die Welt herausfinden, ohne zu wissen, was für Methoden sie dabei anwenden und warum die Methoden erfolgreich sind. Doch gibt es hier mindestens eine Disanalogie. Die Gleichungen der Hydrodynamik sind extrem kompliziert, weswegen eine präzise Beschreibung der Schwimmfähigkeit von Fischen nicht möglich ist. Stattdessen müssen die Physiker zu Näherungsmethoden und idealisierenden Modellen greifen. Jedoch sind sich die Physiker darüber einig, was die grundlegenden Gleichungen sind, die für die Strömungen im Wasser gelten, und es ist klar, dass die Modelle besser werden, wenn die Rechenleistung der Computer steigt. Diese Art von Fortschritt können wir in der Methodologie nicht beobachten. Im Gegenteil, wenn man sich die von Philosophen vorgeschlagenen Methodologien anschaut, dann fällt auf, dass sie sehr einfach sind. Poppers Falsifikationismus lässt sich in wenigen Sätzen erläutern. Das gleiche gilt für die hypothetisch-deduktive Methode, die von W. V. Quine und Hempel vertreten wurde. Der Bayesianismus ist etwas komplizierter, aber seine zentralen Behauptungen lassen sich, wie wir gleich feststellen werden, jedem, der mit den vier Grundrechenarten vertraut ist, in höchstens ein paar Stunden erklären. Der Misserfolg der Methodologen liegt also sicher nicht daran, dass die Prinzipien der Theoriewahl besonders kompliziert sind.
190 2.1 Relativismus und Unexplizierbarkeit Weil also ein Fortschritt und eine Einigung in der Methodologie nicht in Sicht zu sein scheinen, wurden radikalere Möglichkeiten zur Erklärung des Misserfolgs der Methodologie vorgeschlagen. Drei radikale Erklärungen möchten wir ansprechen. Die erste wird von manchen Relativisten insbesondere Wissenschaftssoziologen vertreten. Sie meinen, die Theoriewahl der Wissenschaftler müsse mit sozialen Faktoren, wie Interessen, Machtverhältnissen, usw. erklärt werden, statt mit objektiven paradigmaübergreifenden Regeln der Theoriewahl, die es nicht gebe. Wie oben bemerkt, halten Philosophen diese Ansätze für sehr unplausibel. Wenn die Theoriewahl der Wissenschaftler nur durch soziale Faktoren und Kräfte bestimmt ist, dann kann nicht erklärt werden, warum sich mit Hilfe von wissenschaftlichen Theorien Flugzeuge und Radios bauen lassen. Eine zweite Möglichkeit, wie der Misserfolg der Methodologen erklärt werden könnte, ist die Behauptung, dass Wissenschaftler zwar in der Lage sind, vernünftig zwischen verschiedenen Theorien zu entscheiden, dass aber ihre Fähigkeit zur vernünftigen Entscheidung prinzipiell nicht explizierbar ist. So behauptet Kuhn, es gebe keine mechanischen Algorithmen für Theoriewahl. Polanyi spricht von „tacit rationality“ und von einem „tacit incommunicable feel for the right thing”. Duhem nennt diese Fähigkeit “good sense”, den gute Wissenschaftler besitzen, wenn sie zwischen Theorien entscheiden. Brown, Howard Sankey, Newton-Smith u.a., sprechen vom „Urteilsvermögen“ („jugdement“) von Wissenschaftlern, welches nicht expliziert werden kann. Die Behauptung ist also, dass es prinzipielle Grenzen dafür gibt, was die Wissenschaftstheorie explizieren kann, und dass das Urteilsvermögen der Wissenschaftler bei der Wahl zwischen konkurrierenden Theorien jenseits der Grenze des Explizierbaren liegt.16 Doch auch diese Erklärung ist unbefriedigend. Betrachten wir einen Wissenschaftler, der zwischen zwei Theorien wählt und sich dabei auf sein Urteilsvermögen verlässt, welches angeblich unexplizierbar ist. Nehmen wir an, seine Wahl ist in irgendeinem Sinn vernünftig. Wenn das der Fall ist, dann müssen die Theorien gewisse Eigenschaften – nennen wir sie „gutmachende“ Eigenschaften – besitzen, die seine Wahl zu einer vernünftigen Wahl machen und die irgendwie vom Wissenschaftler erfasst werden müssen. Auch wenn der Wissenschaftler selbst nicht sagen kann, welche Eigenschaften das sind, so müssen sie doch in irgendeiner Weise in seinem kognitiven Apparat repräsentiert oder implementiert sein. Dann stellt sich
191 die Frage, warum es prinzipiell unmöglich sein soll, sowohl die gutmachenden Eigenschaften wie ihre Repräsentation im kognitiven Apparat des Wissenschaftlers zu beschreiben. Wenn der kognitive Apparat des Wissenschaftlers die gutmachenden Eigenschaft repräsentieren kann, warum sollen wir sie dann nicht auch explizit beschreiben können? Aus welchem Grund sollen unsere sprachlichen Mittel an dieser Aufgabe scheitern? 2.2 Partikularismus Der Partikularismus präsentiert eine dritte Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Leistungen der Wissenschaft und den Leistungen der Methodologie. Er bestreitet nicht die Möglichkeit einer Beschreibung der gutmachenden Eigenschaften von Theorien, doch bestreitet er die Möglichkeit einer systematischen und einfachen Beschreibung. Eine solche Beschreibung könne es nicht geben, denn die gutmachenden Eigenschaften und die Methoden der rationalen Theoriewahl seien extrem vielfältig und unterschieden sich von Kontext zu Kontext.17 Die Vielfalt und Kontextabhängigkeit erkläre zum einen, warum es in der Methodologie fortgesetzten Dissens und keine Erfolge gebe, und zum anderen, warum das Urteilsvermögen der Wissenschaftler so schwer zu explizieren sei. Der Partikularismus leugnet nicht, dass es einige allgemeine Regeln für Theoriewahl gibt, doch behauptet er, dass es sich dabei nur um sehr einfache und unkontroverse Faustregeln handelt, wie die Regeln, dass Theorien der Empirie nicht widersprechen dürfen und dass sie konsistent sein sollten. Und selbst diese Regeln gelten womöglich nur eingeschränkt. So hat Feyerabend die Akzeptanz von widersprüchlichen Theorien verteidigt, etwa im Falle von Bohrs Atommodell, und Kuhn, Lakatos und andere waren sich einig, dass praktisch jede Theorie gewisse Probleme mit der Empirie hat. Der Partikularismus unterscheidet sich vom Relativismus. Beim Partikularismus kann die Korrektheit oder Gültigkeit eine Methode vom jeweiligen Gegenstandsbereich und vom Wissenstand der Wissenschaftler abhängen. Aber wenn eine Methode für einen gewissen Gegenstandsbereich und für einen gewissen Wissensstand gültig ist, dann ist sie für alle Gruppen und Kulturen mit diesem Wissensstand, die etwas über diesen Gegenstandsbereich herausfinden wollen, gültig. Dagegen hängt beim Relativismus die Gültigkeit von der jeweiligen Kultur oder wissenschaftlichen Gemeinschaft ab; über die Akzeptanz der Methode in der jeweiligen Kultur hinaus,
192 gibt es gar keinen Sinn von Gültigkeit oder Korrektheit von Methoden. Daher sind die beiden Arten von Abhängigkeit grundverschieden. 18 Alle methodologischen Prinzipien, die über die Faustregeln hinausgehen, haben also nur lokale Gültigkeit und gelten nur für bestimmte historische Epochen und bestimmte wissenschaftliche Disziplinen oder Subdisziplinen. Das wollen wir am Beispiel eines wichtigen Bewertungskriteriums für Theorien, dem Kriterium der Einfachheit, erläutern. Dabei beschränken wir uns auf das Problem, Einfachheit zu charakterisieren, und sagen nichts zum Problem, ob Einfachheit ein Wahrheitsindikator ist. Philosophen haben bisher vergeblich versucht, eine allgemeine Charakterisierung von Einfachheit zu finden. Die vorliegenden Versuche (insbesondere die formalen) sehen nicht besonders attraktiv aus, und es scheint wenige Philosophen zu geben, die so etwas noch versuchen. Eine Theorie kann auf viele verschiedene Weisen einfach sein. Erstens kann die Zahl der Prozesse oder Entitäten niedrig sein. Das Problem ist dann, dass Prozesse und Entitäten auf verschiedene Weisen gezählt werden können. Ist der Atomismus der modernen Chemie kompliziert, weil er 92 verschiedene Elemente annimmt, oder einfach, weil es für ihn nur eine Sorte von Entitäten gibt, nämlich Atome (Kosso, 1992, S. 45)? Statt der Prozesse und Entitäten kann man zweitens die Grundannahmen oder Axiome der Theorie zählen. Aber für jede Theorie gibt es viele verschiedene Formulierungen, für die die Zahl von Grundannahmen sehr verschieden sein kann. Drittens kann eine Theorie einfach sein, weil ihre Gleichungen einfach sind. Doch hängt die Kompliziertheit der Gleichungen z.B. von der Wahl der Koordinaten ab. Viertens scheinen uns all diese Maßstäbe in vielen Fällen nicht viel weiter zu helfen. Wie soll man sie z.B. auf die Frage anwenden, ob die Evolutionstheorie einfacher oder komplizierter ist als der Kreationismus (Kosso, 1992, S. 44)? Der Partikularismus behauptet mithin, dass es keine allgemeine Theorie der Einfachheit gibt; Einfachheit selbst ist nichts Einfaches. 3. Der Bayesianismus Die wichtigste nicht-partikularistische Methodologie ist heute der Bayesianismus, den wir nun vorstellen werden. 19 Es versteht sich von selbst, dass wir nur die Grundlagen des Bayesianismus darstellen können, denn die Diskussion um den Bayesianismus hat inzwischen einen gewaltigen Umfang angenommen.
193
Der Bayesianismus beschreibt die Überzeugungen und Überzeugungsänderungen eines ideal rationalen Subjektes. Er nimmt an, dass die Überzeugungen eines solchen Subjekts verschiedene Stärken oder Grade haben. Jede Überzeugung des Subjekts besteht aus einer Aussage A und dem Glaubensgrad P(A), der den Grad der Unsicherheit des Subjekts bezüglich der Aussage A misst. Die Glaubensgrade sind reelle Zahlen aus dem Intervall [0,1]. Sie sind rational, wenn sie den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie gehorchen. Diese Axiome sind: (1) P(A) ≥ 0, für alle Aussagen A, (2) P(A) = 1, wenn A eine logische oder mathematische Wahrheit ist, (3) P(A oder B) = P(A) + P(B), wenn A und B sich widersprechen. Um zu zeigen, dass die Glaubensgrade eines Subjekts nur dann rational sind, wenn sie den Wahrscheinlichkeitsaxiomen gehorchen, bietet der Bayesianismus die „Dutch-Book-Argumente“ an. Diese verbinden die Glaubensgrade des Subjekts mit den Präferenzen des Subjekts. Nehmen wir an, die Glaubensgrade eines Subjekts verletzten eines der drei Axiome. Dann gibt es für die zugehörigen Aussagen eine gewisse Kombination von Wetten (ein „Dutch Book“), die für das Subjekt eine unangenehme Eigenschaft hat: Obwohl das Subjekt die Wettkombinationen für fair hält, wird es in jedem Fall, egal welche der Aussagen sich als wahr herausstellt, einen Verlust machen. Wenn aber schon beim Abschluss der Wetten für das Subjekt klar ist, dass sie zu einem sicheren Verlust führen, dann können die Glaubensgrade und Präferenzen des Subjekts nicht rational sein. Dutch Books werden allerdings nicht von allen Bayesianern als Begründungen für die Wahrscheinlichkeitsaxiome akzeptiert. Sie sind von pragmatischer Natur, weil sie eine Inkohärenz in der Präferenzstruktur des Subjekts aufdecken. Viele Philosophen würden eine epistemische Begründung der Wahrscheinlichkeitsaxiome bevorzugen, also eine Begründung, die zeigt, dass ein Subjekt auf irgendeine Weise das Ziel Wahrheit kompromittiert, wenn seine Glaubensgrade nicht den Wahrscheinlichkeitsaxiomen gehorchen. Ein Versuch in diese Richtung ist James Joyce (1998). Für die Untersuchung der zeitlichen Änderung von rationalen Meinungen benötigen wir den Begriff der bedingten Wahrscheinlichkeit P(A|B) von A unter der Bedingung B. Diese sind definiert durch P(A|B) = P(B und
194 A)/P(B), falls P(B) > 0. Damit können wir explizieren, was es heißt, dass eine Hypothese H durch eine Evidenz E bestätigt oder entkräftet wird: E stützt H, falls P(H|E) > P(H). E entkräftet H, falls P(H|E) < P(H). Die Differenz P(H|E) - P(H) ist dann ein Maß für die Stärke der Bestätigung. Es gibt noch eine ganze Anzahl weiterer Maße, mit denen die Stärke der Stützung einer Hypothese durch eine Beobachtung gemessen werden kann. Branden Fitelson (1999) vergleicht diese Maße miteinander und erörtert ihre Vor- und Nachteile. Mit der bedingten Wahrscheinlichkeit können wir eine Regel formulieren, wie das Subjekt seine Überzeugungen auf rationale Weise ändern sollte, wenn es neue Beobachtungen macht. Die Konditionalisierungsregel besagt, dass, wenn das Subjekt die Beobachtung E macht, für alle Aussagen A die neuen Wahrscheinlichkeiten des Subjekts die nach der Beobachtung E bedingten Wahrscheinlichkeiten P(A|E) sind. Die Konditionalisierungsregel folgt nicht aus den Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie, wird jedoch durch die Interpretation der Wahrscheinlichkeiten als Glaubensgrade nahe gelegt. Sie lässt sich ebenfalls durch ein Dutch-Book-Argument begründen, wie David Lewis gezeigt hat (1999, Kap. 23). An dieser Stelle ist es üblich, darauf hinzuweisen, dass die Konditionalisierungsregel die unrealistische Annahme macht, dass das Subjekt die hereinkommende Evidenz E für absolut gewiss hält, und dass Richard Jeffrey (1983) deswegen eine andere Änderungsregel vorgeschlagen hat, die so genannte Jeffrey-Konditionalisierung, die das Problem der Konditionalisierungsregel vermeidet. Wenn man sich die Literatur jedoch genauer anschaut, dann wird klar, dass die Jeffrey-Konditionalisierung praktisch nie eingesetzt wird. Alle Anwendungen des Bayesianismus verwenden nur die gewöhnliche Konditionalisierungsregel. Dass das Subjekt die Evidenz E für absolut gewiss hält, wird als eine Idealisierung akzeptiert, die die Anwendungen des Bayesianismus nicht weiter beeinträchtigt. Um die bedingten Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, benötigen wir das Bayes'sche Theorem, das aus den Wahrscheinlichkeitsaxiomen folgt: P(H|E) = P(H) ⋅ P(E|H) / P(E).
195 Hier heißt P(H) „Anfangswahrscheinlichkeit“ (englisch „prior“), P(H|E) heißt „Endwahrscheinlichkeit“ (englisch „posterior“) und P(E|H) heißt „Likelihood“. Mit Hilfe dieser Formel kann die Endwahrscheinlichkeit aus der Anfangswahrscheinlichkeit von H, der Likelihood und der Anfangswahrscheinlichkeit von E berechnet werden. 3.1 Vorzüge des Bayesianismus Das eben erwähnte Bayes'sche Theorem steht im Zentrum des Bayesianismus. Mit seiner Hilfe kann der Bayesianismus viele Intuitionen und methodologische Regeln begründen. Schon durch die bloße Betrachtung des Bayes’schen Theorems ergeben sich ein paar ganz einfache Zusammenhänge, die gut im Einklang mit unseren Intuitionen über die Bestätigungsbeziehung zwischen Beobachtung und Theorie stehen. Im Bayes’schen Theorem taucht auf der rechten Seite der Quotient P(E|H)/P(E) auf. Dieser Quotient misst die Korrelation zwischen H und E. Wenn H und E positiv korreliert sind, das heißt P(E|H) größer als P(E) ist, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Hypothese durch das Eintreffen der Beobachtung, also P(H|E) > P(H), mit anderen Worten, H wird durch E bestätigt. Je größer die positive Korrelation zwischen H und E ist, d.h. je größer P(E|H) verglichen mit P(E) ist, desto stärker wird H durch E bestätigt. Analog dazu wird H durch E entkräftet, also P(H|E) < P(H), wenn P(E|H) kleiner als P(E) ist. Wenn P(E|H) und (E) gleich groß sind, dann ist die Beobachtungsaussage unabhängig von der Hypothese, und es gilt P(H|E) = P(H), d.h. die Beobachtung hat keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit der Hypothese. Des Weiteren hängt die Endwahrscheinlichkeit im Bayes’schen Theorem von den drei Termen der rechten Seite ab. Wenn wir jeweils einen Term variieren, und die beiden anderen Terme festhalten, dann ergeben sich drei einfache Proportionalitäten (vgl. etwa Howson/Urbach 1993, S. 80). Erstens ist die Endwahrscheinlichkeit P(H|E) einer Hypothese proportional zur Anfangswahrscheinlichkeit P(H): Je größer die Wahrscheinlichkeit der Hypothese vor der Beobachtung schon war, desto größer ist sie auch hinterher. Das leuchtet unmittelbar ein. Zweitens ist die Endwahrscheinlichkeit der Hypothese umgekehrt proportional zur Wahrscheinlichkeit der Beobachtung: Je kleiner die Wahrscheinlichkeit der Beobachtung für sich genommen ist, d.h. je überraschender die Beobachtung für das Subjekt ist, desto stärker wird die Hypothese durch die Beobachtung bestätigt.
196 Drittens ist die Endwahrscheinlichkeit proportional zur Likelihood P(E|H). Auch das ist plausibel. Zwei Extremfälle sind besonders interessant, denn sie liefern zwei Regeln, die zwar sehr einfach, aber trotzdem so wichtig sind, dass zwei komplette Methodologien auf ihnen beruhen, nämlich Poppers Falsifikationismus und die hypothetisch-deduktive Methode. Der erste Extremfall ist, dass die Hypothese H die Falschheit der Beobachtungsaussage E vorhersagt, also non-E impliziert. Dann folgt P(E|H) = 0, und die Endwahrscheinlichkeit P(H|E) ist ebenfalls Null. Die Hypothese macht dann eine falsche Vorhersage, und das rationale Subjekt verwirft die Hypothese nach dem Eintreffen der Beobachtung. Das ist der Kern von Poppers Falsifikationismus. Beim zweiten Extremfall ist die Beobachtungsaussage E eine logische Konsequenz der Hypothese H, also P(E|H) = 1. Dann ist die Stützung, die H durch E erfährt, maximal. Dies ist der Kern der hypothetisch-deduktiven Methode, die von Quine, Hempel und anderen vertreten wurde. Eine der größten Leistungen des Bayesianismus ist seine systematisierende Kraft. Es gelingt ihm, viele wichtige Intuitionen und Faustregeln über induktives Schließen aus den wenigen Wahrscheinlichkeitsaxiomen herzuleiten und auf diese Weise zu erklären. Was wir eben vorgeführt haben, sind nur die einfachsten Beispiele für solche Erklärungen. Zu den weiteren Leistungen zählt, dass er die bekannten Schwächen anderer induktiver Methoden, wie der hypothetisch-deduktiven Methode, erklären kann, dass er ein nützliches Instrument ist, um Probleme und Paradoxien der Bestätigung wie die Rabenparadoxie oder Goodmans Paradoxie zu untersuchen und dass er sich dazu eignet, historische Episoden aus der Geschichte der Wissenschaft zu analysieren.20 Wichtig sind auch die Konvergenztheoreme, die beschreiben sollen, wie sich unsere Meinungen durch das Sammeln von immer mehr Beobachtungen der Wahrheit annähern.21 3.2 Probleme des Bayesianismus Den Erfolgen des Bayesianismus stehen allerdings auch eine ganze Reihe von Problemen gegenüber. So verlange er von rationalen Subjekten die Kenntnis aller logischen und mathematischen Wahrheiten. Das ist eine sehr starke Idealisierung. Eine weitere Idealisierung ist die Annahme, dass die Glaubensgrade präzise reelle Zahlen sind. Eine solche Präzision in unseren Meinungen scheint psychologisch unrealistisch zu sein. Diese und andere Probleme können wir hier nicht besprechen. Wir beschränken uns auf die Diskussion desjenigen Problems, das dem Bayesianismus nach allgemeiner
197 Wahrnehmung die größten Schwierigkeiten bereitet, nämlich das Problem der Anfangswahrscheinlichkeiten („priors“). Wie sich gleich zeigen wird, eröffnet es die Möglichkeit, den Bayesianismus mit dem Partikularismus zu verbinden. Das Problem der Anfangswahrscheinlichkeiten besteht in der Frage, woher das Subjekt die Anfangswahrscheinlichkeit der jeweiligen Hypothese, also den Term P(H) in der Bayes’schen Formel, nehmen soll. Solange das Subjekt nicht weiß, wie es die Anfangswahrscheinlichkeiten bestimmen soll, kann es den Bayesianismus nicht anwenden. Viele Autoren meinen nun, dass die Anfangswahrscheinlichkeiten durch so genannte Plausibilitätsbetrachtungen bestimmt werden können. So schreibt Earman: „In Bayesian terms, [plausibility] arguments are designed to persuade us to assign high priors to some alternatives and low priors to others. (1992, S. 140) Einstein, the consummate master of this art form, appealed to analogies, symmetry considerations, thought experiments, heuristic principles (such as the principle of equivalence), etc. All of these considerations, I am suggesting on behalf of the Bayesians, were deployed to nudge assignments of initial probabilities in favour of the theories Einstein was introducing in the early decades of this century.” (1992, S. 197-198). Des Weiteren haben in den letzten Jahren die so genannten Bayes’schen Netze eine stürmische Entwicklung durchgemacht. Wie sich die Bayes’schen Netze dazu eignen, partikularistische Elemente in plausibler Weise zu repräsentieren, wurde von Luc Bovens und Stephan Hartmann eingehend untersucht (2004). Wesley Salmon präsentiert weitere Beispiele für Plausibilitätsbetrachtungen. Er führt unter anderem Analogien und Einfachheitserwägungen an (1967, S. 125-127). Hier haben wir folglich im Bayesianismus einen Ort für das Bewertungskriterium der Einfachheit, das wir oben beim Partikularismus diskutiert haben. Jedoch ergibt sich sofort das Problem, wie man denn die Plausibilitätsbetrachtungen zu verstehen hat, insbesondere welchen Status sie innerhalb des Bayesianismus einnehmen. Eine mögliche Weise, wie sie verstanden werden können, ist partikularistisch: Sie lassen sich nicht in allgemeine Regeln fassen, sondern variieren von Situation zu Situation. Das hat zur Folge, dass die Bestimmung der Anfangswahrscheinlichkeiten keine systematische Angelegenheit ist, sondern einen lokalen situationsabhängigen Charakter hat, der keine Verallgemeinerungen zulässt. Die Bezeichnung „Plausibilitätsbetrachtungen“ bedeutet dann
198 nicht, dass ihnen wirklich etwas gemeinsam ist, außer, dass sie zur Bestimmung der Anfangswahrscheinlichkeiten eingesetzt werden. Wenn das stimmt, dann haben wir ein partikularistisches Element im Bayesianismus. Wir haben allerdings keinen kompletten Partikularismus, sondern nur eine „Teil-Partikularisierung“, die nur für die Bestimmung der Anfangswahrscheinlichkeiten gilt; für die Einarbeitung von Daten ist weiter der Bayesianismus zuständig. Doch ist das ein schwerwiegende Beschränkung des Bayesianismus, denn die ursprüngliche Erwartung, dass der Bayesianismus eine umfassende Beschreibung induktiven Schließens liefert, wird nicht erfüllt.22 4. Schluss Wie die Partikularisten sind wir beeindruckt von der Vielfalt der induktiven Praktiken in Wissenschaft und Alltag und halten es für eine gewaltige Herausforderung für die Methodologie, eine einheitliche Beschreibung und Begründung für unsere induktiven Praktiken zu formulieren. Der einzige Kandidat für eine einheitliche Theorie wissenschaftlichen Schließens ist heute der Bayesianismus. Doch hat er mit großen Problemen zu kämpfen, die dazu führen, dass er Zugeständnisse an den Partikularismus machen muss. Deswegen erwarten wir nicht, dass er eine vollständige Theorie der Induktion liefern wird, die alle Probleme des induktiven Schließens und der Bestätigung löst. Andererseits gelingt es dem Bayesianismus, viele Aspekte unserer induktiven Praktiken zu erklären und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Seine systematisierende Kraft müssen auch Partikularisten anerkennen.
199 LITERATUR UND ANMERKUNGEN Barnes, B. (1982). T.S. Kuhn and Social Science. London: Macmillan. Barnes, B. und Bloor, D. (1982). “Relativism, Rationalism and the Sociology of Knowledge”. In M. Hollis and S. Lukes (eds.), Rationality and Relativism. Cambridge, MA: MIT Press, 21-47. Bovens, L. und Hartman, S. (2004), Bayesian Epistemology. Oxford University Press. Brown, H. I. (1988). Rationality. London: Routledge. Brown, J. R. (2000). “Privatizing the University-the New Tragedy of the Commons.” Science, Vol 290, Issue 5497, 1701-1702. Brown, J. R. (2001). Who Rules in Science?: an Opinionated Guide to the Wars. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press. Carnap, R. (1952, 1962). The Continuum of Inductive Methods. Chicago: University of Chicago Press. Carnap, R. (1993). Mein Weg in die Philosophie. Stuttgart: Reclam. Dorling, J. (1979). “Bayesian Personalism, the Methodology of Scientific Research Programs, and Duhem’s Problem.” Stud. Hist. Phil. Sci., vol. 11, No. 4, S. 341-347. Earman, J. (1992). Bayes or Bust? A Critical Examination of Bayesian Confirmation Theory. Cambridge, MA: MIT Press. Feyerabend, P.K. (1975). Against Method.. Feyerabend, P.K. (1978). Science in a Free Society. London: New Left Books. Fitelson, B. (1999). “The Plurality of Bayesian Measures of Confirmation and the Problem of Measure Sensitivity”. In D. Howard (ed), Proceedings of the 1998 Biennial Meetings of the Philosophy of Science Association. 66, S. 362- 378. Friedman, M. (1998). “On the Sociology of Scientific Knowledge and its Philosophical Agenda”. Stud. Hist. Phil. Sci., Vol. 29, No. 2, S. 239-271. Galison, P. und Stump, D.J. (1996). The Disunity of Science. Boundaries, Contexts, and Power. Stanford: Stanford University Press. Gillies, D. (1998). “The Duhem Thesis and the Quine Thesis.” In M. Curd and J.A. Cover (eds.), Philosophy of Science: The Central Issues. New York; London: Norton, 302-19. Glymour, C., Spirtes, P. und Scheines, R. (1993). Causation, Prediction and Search. New-York: Springer Verlag. Glymour, C. (1998). “What Went Wrong? Reflections on Science by Observation and The Bell Curve.” Philosophy of Science 65: 1–32. Godfrey-Smith, P. (2003). Theory and Reality: An Introduction to the Philosophy of Science. Chicago: University of Chicago Press. Good, I.J. (1967). “The White Shoe Is a Red Herring.” British Journal for the Philosophy of Science 17, S. 322. Gründbaum, A. (1988). Die Grundlagen der Psychoanalyse: eine philosophische Kritik. Stuttgart: Reclam. Hacking, I. (1999). The Social Construction of What?. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press. Hempel, C. G. (1966). The Philosophy of Natural Science. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
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1
Statt „Prinzip“ verwenden wir auch das Wort „Methode“. Das Wort „Methodologie“ ist bekanntlich mehrdeutig. Es kann entweder eine Menge von Methoden bedeuten – dann spricht man von „einer Methodologie“ – oder es kann die philosophische Disziplin bedeuten, die sich mit der Formulierung und Begründung von wissenschaftlichen Methoden und Prinzipien und der Aufstellung von Methodologien im ersten Sinn beschäftigt – dann spricht man von „der Methodologie“. 2
Quine (1986, S. 664-665), Sankey (2000), u.v.a. Siehe dazu den Beitrag von Bernward Gesang. 3
„When paradigms enter, as they must, into a debate about paradigm choice, their role is necessarily circular. Each group uses its own paradigm to argue in that paradigm’s defence.” (Kuhn 1970, S. 94)
202
4
Zum Beispiel Barnes: „Sociology is a subject with a naturalistic, rather than a prescriptive or normative orientation; it simply tries to understand the convictions and the concepts of different cultures as empirical phenomena. External evaluation of the convictions and concepts is irrelevant to this naturalistic concern.” (1982, S. 5)
5
Zum Relativismus siehe auch den Beitrag von Bernward Gesang in diesem Band.
6
Z.B. William Newton-Smith (1981, S. 209)
7
Hier ist ein Beispiel für die Einstellung der frühen Jahre: “Hier ist noch vieles umstritten. Ich bin aber sehr optimistisch und glaube, dass wir auch zahlenmäßig die Wahrscheinlichkeit angeben können, wenn etwa auf der einen Seite gewisse Daten gegeben sind und auf der anderen Seite eine Hypothese, die sich auf Unbekanntes bezieht.“ (Carnap 1993, S. 143) 8
Wie schwierig das Projekt ist, zeigt z.B. die Debatte um den wissenschaftlichen Realismus.
9
Später werden wir nach den möglichen Gründen für den Mangel an Erfolg in der Methodologie fragen. 10
Z.B. Peter Lipton (2004). Es gibt noch einen vierten Grund für die Zurückhaltung der Wissenschaftstheoretiker, den wir hier allerdings nicht weiter diskutieren werden: Viele der vorgeschlagenen Methodologien sind sehr abstrakt und formal, was ihren Einsatz zur Bewertung von konkreter wissenschaftlicher Praxis erschwert und oft unmöglich macht.
11
Kitcher (2003, Kapitel 11 bis 16)
12
Es ist sicherlich auch eine Sache des Temperaments des einzelnen Wissenschaftstheoretikers, wie stark er sich in die Wissenschaft einmischt. Kuhn und Feyerabend unterschieden sich deutlich in ihrer Neigung, die Wissenschaft zu kritisieren. In Kuhns Schriften ist oft schwer zu erkennen, ob er seine Behauptungen normativ oder deskriptiv meint (Peter Godfrey-Smith 2003, S. 79), während Feyerabend lautstark Forderungen erhob, wie Wissenschaft vorzugehen habe. Auch Popper litt nicht eben unter einem Mangel an Selbstwertgefühl und mischte sich kräftig in die Wissenschaft ein, wohingegen Carnap philosophisch sehr tolerant war und unfähig, Personen und Leistungen zu kritisieren, die er bewunderte. 13
14
Vergleiche auch Spohn (2003).
Es gibt natürlich eine große Debatte um die Verantwortung von Wissenschaftlern, doch dreht sich diese Debatte vornehmlich um den Gebrauch und Missbrauch von konkretem wissenschaftlichem Wissen.
203 15
Sklar 2000, S. 730; siehe auch Lipton 2004.
16
Newton-Smith (1981, Kapitel 8), Brown (1988), Sankey (1997, Kapitel 8), Larry Laudan (1996, Kap. 1.3). Pierre Duhem zitiert Blaise Pascal: “The heart has its reason which reason knows nothing of.” (Siehe Donald Gillies 1998, S. 310). Diese Behauptung wird selten in dieser Stärke vertreten, ist jedoch in abgeschwächter Form überraschend weit verbreitet. Die meisten Philosophen, die sie in abgeschwächter Form vertreten, versuchen dennoch, explizite Regeln der Theoriewahl zu formulieren. Sie glauben dann nicht mehr, dass wir eine vollständige Charakterisierung der Regeln der Theoriewahl geben können, sondern nur eine Teilcharakterisierung.
17
Einen Einstieg in die Literatur des Partikularismus bieten zum Beispiel Nola/Sankey (2000, S. 26-36) und die Beiträge in Galison/Stump (1996). 18 Eine andere Erläuterung des Unterschiedes zwischen Partikularismus und Relativismus geben Laudan (1984) und Sankey (1997). Sie gehen von der Annahme aus, dass Methoden dazu dienen, epistemische Ziele zu erreichen. Es ist dann eine objektive nicht-relative Frage, ob eine Methode dazu taugt, ein gegebenes epistemisches Ziel zu erreichen. Die Objektivität der Methoden ist verträglich mit der Variabilität der Methoden, und die Variabilität der Methoden führt nicht automatisch zu einem Relativismus. (Bei Laudan variieren auch die epistemischen Ziele, während Sankey Wahrheit oder Wahrheitsnähe als ein unveränderliches Ziel der Wissenschaft annimmt.) Unseres Erachtens ist jedoch die Annahme einer instrumentellen Natur von Methoden, so plausibel sie ansonsten ist, nicht nötig, um Partikularismus und Relativismus voneinander zu unterscheiden. 19
Einführungen in den Bayesianismus bieten z.B. Colin Howson und Peter Urbach (1993), Brian Skyrms (1990), John Earman (1992) und Paul Horwich (1982).
20
Ein klassisches Beispiel ist Jon Dorlings Analyse des Quine-Duhem-Problems mit Bayes’schen Mitteln (1979). Ein besonders schwieriges aber auch schönes Beispiel ist Patrick Mahers Diskussion von „prediction versus accomodation“ (1988). 21
22
Earman (1992).
Ein weiterer Grund für die Partikularisierung des Bayesianismus, auf den wir mangels Raum nicht eingehen können, ist die Abhängigkeit der Wahrscheinlichkeiten vom Hintergrundwissen, siehe z.B. I.J. Good (1967, S. 322), Earman (1992, S. 70) und Roger Rosenkrantz (1977, S. 33).
MICHAEL ESFELD
Normativität der Bedeutung und normative Wissenschaftsphilosophie Zusammenfassung Der Aufsatz geht von einer Theorie der Bedeutung als etwas Normativem im Sinne von Sellars und Brandom aus: Insoweit die Bedeutung unserer Aussagen überhaupt bestimmt ist, wird diese durch normative, soziale Praktiken determiniert, in denen Personen sich wechselseitig Festlegungen und Berechtigungen zu bestimmten Aussagen und Handlungen zuschreiben. Das Ziel von diesem Aufsatz ist, diese Bedeutungstheorie in der Wissenschaftsphilosophie anzuwenden. Einerseits gilt dann die Normativität, die alle Aussagen betrifft, auch für die wissenschaftlichen Aussagen. Andererseits schließt diese normative Theorie der Bedeutung nicht aus, dass Bedeutung beschrieben werden kann: Man kann die Praktiken einer Gemeinschaft, welche die Bedeutung der in der Gemeinschaft verwendeten Aussagen bestimmen, beschreiben, ohne etwas vorzuschreiben. Dementsprechend ist die Konzeption einer rein deskriptiven Wissenschaftsphilosophie mit dieser Theorie der Bedeutung vereinbar. Nichtsdestoweniger plädiert dieser Aufsatz dafür, die Wissenschaftsphilosophie als ein normatives Unternehmen zu verstehen, das integraler Teil der normativen Praktiken ist, welche die Bedeutung wissenschaftlicher Aussagen bestimmen.
1. Bedeutung als intrinsisch normativ Während eine normative Wissenschaftstheorie insbesondere seitens naturalistischer und partikularistischer Ansätze in Bedrängnis gerät, steht die Frage nach der Normativität der Bedeutung seit rund zwei Jahrzehnten im Zentrum der Sprachphilosophie. Das Ziel von diesem Beitrag ist, die gegenwärtig am besten ausgearbeitete Version einer normativen Bedeutungstheorie vorzustellen und diese Bedeutungstheorie auf die Debatte um deskriptive versus normative Wissenschaftsphilosophie anzuwenden. Die heutige Diskussion darüber, ob Bedeutung normativ ist, knüpft an die Interpretation der Philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein (1953) an, die Saul Kripke (1982) vorgelegt hat.1 Im zentralen Teil der Philosophischen Untersuchungen entwickelt Wittgenstein das Problem
206 des Regelfolgens (§§ 138–242). Mit Regelfolgen ist, kurz gefasst, dieses gemeint: Wenn eine Person über einen Begriff verfügt, dann hat sie die Fähigkeit, diesen Begriff in unbestimmt vielen neuen Situationen zu verwenden. Wenn eine Person beispielsweise über den Begriff »Baum« verfügt, dann weiß sie in unbestimmt vielen neuen Situationen, mit denen sie konfrontiert ist, von welchen Dingen es korrekt ist, zu sagen, „Dies ist ein Baum“, und von welchen Dingen es nicht korrekt ist, dieses zu sagen. Das kann man so ausdrücken: Indem eine Person einen Begriff gebraucht, folgt sie einer Regel, die sagt, was korrekt und was inkorrekt ist in der Verwendung des betreffenden Begriffs. Wittgenstein zeigt gemäß der Interpretation von Kripke (1982, Kapitel 2): Es gibt an allem Mentalen – wie mentalen Ideen oder Repräsentationen – und allem Naturalen (wie Dispositionen zu einem bestimmten Verhalten) nichts, das über sich selbst hinausweist und determinieren könnte, was die korrekte Verwendung eines bestimmten Begriffs in einer neuen Situation ist. Der Grund ist, dass alles Naturale und alles Mentale unser Denken nur leiten könnte, indem es als eine bestimmte Bedeutungs-Regel interpretiert wird. Jeder mentale und jeder naturale Kandidat für etwas, in dem die Bedeutung unserer Aussagen bestehen soll, ist jedoch endlich und kann demzufolge mit unendlich vielen logisch möglichen Bedeutungs-Regeln in Einklang gebracht werden. Das Problem des Regelfolgens ist daher die Frage, wie wir im Verwenden von Begriffen und damit im Bilden von Überzeugungen und Aussagen bestimmten Bedeutungs-Regeln folgen können.2 Dieses Problem stellt sich nicht nur für Alltagsbegriffe wie »Baum«. Es gilt für alle Begriffe einschließlich wissenschaftlicher Begriffe. Wittgensteins eigene Beispiele ebenso wie Kripkes berühmtes Beispiel, anhand dessen er das Problem des Regelfolgens einführt, betreffen mathematische Begriffe, in erster Linie den Begriff der Addition.3 Selbst wenn man vertritt, dass wissenschaftliche Begriffe präzise definiert werden können, wird das Problem des Regelfolgens bestenfalls nur verlagert. Nehmen wir an, der Begriff »Elektron« sei durch die Begriffe »negative Ladung« und »Masse von 511 keV« definiert. Der Begriff »Elektron« ist somit eine Funktion dieser beiden anderen Begriffe. Damit ist das Problem des Regelfolgens jedoch nur zu der Frage verschoben, wie endliche denkende Wesen Regeln folgen können, welche die Verwendung der Begriffe »negative Ladung« und »Masse von 511 keV« determinieren. Selbst wenn man vertritt, dass alle wissenschaftlichen Begriffe letztlich operationell definiert werden können, ist das Problem des Regelfolgens nur zu der Frage nach Bedeu-
207 tungs-Regeln für diejenigen Begriffe hin verlagert, welche in den operationellen Definitionen verwendet werden. Wittgensteins Antwort auf das Problem des Regelfolgens besteht gemäß der Interpretation von Kripke (1982, Kapitel 3) darin, die Semantik (die Theorie der Bedeutung) auf die Pragmatik (die Theorie des Gebrauchs) zurückzuführen. Man kann aus den Philosophischen Untersuchungen zwei Grundzüge entnehmen, denen eine pragmatische Theorie der Bedeutung genügen muss, um das Problem des Regelfolgens zu vermeiden: 1) Es muss sich um eine normative Pragmatik handeln. Denn bloße Fakten des Begriffsgebrauchs weisen ebensowenig wie mentale oder dispositionale Fakten über sich selbst hinaus und unterliegen daher dem Problem des Regelfolgens. 2) Es muss sich um eine soziale Pragmatik handeln. Denn einer Person isoliert betrachtet steht kein Kriterium der Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Begriffsgebrauch zur Verfügung.4 Diese Überlegungen motivieren eine normative, soziale Gebrauchstheorie der Bedeutung, wie sie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen im Konkreten vorführt. Die auf dem gegenwärtigen Stand der Diskussion am ausführlichsten ausgearbeitete Version einer pragmatischen Theorie der Bedeutung ist das Buch Making it explicit von Robert Brandom (1994).5 Brandom knüpft einerseits an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen an, andererseits an den semantischen Holismus von Wilfrid Sellars (1956).6 Sich stützend auf Dummett (1981, S. 453), charakterisiert Brandom die Kenntnis des Gebrauchs eines Begriffes F durch zwei Faktoren: (1) Die Kenntnis der Umstände oder Situationen, in denen es angemessen ist, eine Aussage der Art „Dies ist F“ zu bilden („Dies ist ein Baum“) und (2) die Kenntnis des inferentiellen Kontextes, in dem eine Aussage der Art „Dies ist F“ steht („Bäume haben einen Stamm, Äste, häufig Blätter, sind Pflanzen, beherbergen Vögel, lassen sich zur Holzgewinnung nutzen etc.“). Der inferentielle Kontext umfasst nicht nur andere Aussagen, sondern auch den Übergang zu angemessenen Handlungen – kurz, eine gesamte Lebensform im Sinne der Philosophischen Untersuchungen von Wittgenstein. Wiederum kennzeichnen diese beiden Faktoren nicht nur den Gebrauch von Alltagsbegriffen, sondern ebenfalls den Gebrauch wissenschaftlicher Begriffe. Alltagsbegriffe wie »Baum« werden zwar typischerweise eingeführt durch Hinweis auf die Umstände oder Situationen, in denen es ange-
208 messen ist, diese Begriffe zu verwenden („Dies ist ein Baum“). Dennoch muss man den inferentiellen Kontext kennen, um über den betreffenden Begriff zu verfügen. Theoretische Begriffe wie »Elektron« werden hingegen typischerweise durch ihren inferentiellen Kontext eingeführt („Elektronen sind mikrophysikalische Systeme mit negativer Elementarladung und einer Masse von 511 keV“). Nichtsdestoweniger kann es auch im Falle solcher Begriffe möglich sein, Umstände anzugeben, in denen diese Begriffe von einem Experten nicht-inferentiell verwendet werden können. Jemand, der die entsprechende Ausbildung durchlaufen hat (ein Physiker), kann den Begriff »Elektron« in einer geeigneten experimentellen Situation nicht-inferentiell anwenden. Man kann beispielsweise vertreten, dass der Physiker nicht aus der Aussage „Hier sind Spuren in der Nebelkammer“ auf die Aussage „Hier sind Elektronen“ schließt, sondern die letztere Aussage nicht-inferentiell verwendet. Im Zweifelsfall – beispielsweise wenn ein skeptischer Philosoph hinzutritt – mag der Physiker geneigt sein, sich auf die Aussage „Hier sind Spuren in der Nebelkammer“ zurückzuziehen, weil er mit dieser Aussage ein geringeres Risiko der Widerlegung eingeht. Aber daraus folgt nicht, dass die Aussage „Hier sind Elektronen“ aus der Aussage „Hier sind Spuren in der Nebelkammer“ abgeleitet ist – ebensowenig wie daraus, dass mit einer Aussage wie „Dies scheint ein Baum zu sein“ das Risiko der Widerlegung minimiert ist, folgt, dass die Aussage „Dies ist ein Baum“ abgeleitet ist aus der Aussage „Dies scheint ein Baum zu sein“.7 Brandom (1994, Kapitel 2) spezifiziert den inferentiellen Kontext einer gegebenen Aussage p, indem er drei Arten des Überganges zu anderen Aussagen unterscheidet: 1) semantische Implikation: Eine Aussage der Art p impliziert eine Reihe weiterer Aussagen in dem Sinne, dass diese aus jener deduziert werden können. Diese Beziehung ist weitaus eingeschränkter als das Konditional der formalen Logik. Gemeint ist eine Implikation, die konstitutiv für die Bedeutung der durch sie verbundenen Aussagen ist. Die Aussage „Dies ist ein Elektron“ impliziert beispielsweise die Aussagen „Dies ist ein Elementarteilchen“, „Dies ist negativ geladen“. 2) Unterstützung: Eine Aussage der Art p stützt eine Reihe weiterer Aussagen in dem Sinne, dass eine Induktion zu diesen auf jene gestützt werden kann. Die Aussage „Dies ist ein Elektron“ unterstützt beispielsweise die Aussage „Dies ist zum Aufbau eines Stromkreises geeignet“. 3) Ausschluss: Eine Aussage der Art p schließt eine Reihe weiterer Aussagen aus in dem Sinne, dass die betreffenden Aussagen nicht zusammen
209 vertreten werden können. Die Aussage „Dies ist ein Elektron“ schließt beispielsweise die Aussage aus „Dies hat keine Ladung“. Diese Position ist ein semantischer Holismus: Bedeutung kommt einer Aussage nicht isoliert zu, sondern nur in inferentiellen Beziehungen zu anderen Aussagen. Was bestimmt diese inferentiellen Beziehungen? Und welche inferentiellen Beziehungen sind für die Bedeutung einer Aussage konstitutiv? Gemäß einer pragmatischen Theorie der Bedeutung sind es normative, soziale Praktiken, welche die inferentiellen Beziehungen determinieren. Brandom (1994, Kapitel 1) führt die genannten drei Arten inferentieller Beziehungen auf folgende Arten von normativen Übergängen zwischen Aussagen zurück: 1) Implikation geht zurück auf Festlegung (commitment): Eine Aussage der Art p zu machen legt eine Person darauf fest, auf Anfrage eine Reihe weiterer Aussagen zu akzeptieren. Wenn man zum Beispiel die Aussage macht, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist, ist man auf die Aussage festgelegt, dass in Köln Karneval gefeiert wird. 2) Unterstützung geht zurück auf Berechtigung (entitlement): Eine Aussage der Art p zu machen berechtigt eine Person zu einer Reihe weiterer Aussagen. Die Aussage beispielsweise, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist, berechtigt eine Person zu der Aussage, dass internationale Medien über den Kölner Karneval berichten werden – sowie zu der Aufforderung, den Karneval zu besuchen, sofern man zu der entsprechenden Zeit in Köln ist. 3) Ausschluss geht zurück auf verschlossene Berechtigung (precluded entitlement): Eine Aussage der Art p zu machen verschließt einer Person die Berechtigung zu einer Reihe weiterer Aussagen. Die Aussage beispielsweise, dass der Kölner Karneval weltbekannt ist, verschließt einer Person die Berechtigung zu der Aussage, dass der Kölner Karneval ein bloßes Provinzspektakel ist. Bedeutung wird demnach durch genau diejenigen Inferenzen fixiert, die auf diese drei Arten pragmatischer Normen zurückgeführt werden können. Da dieses soziale Normen sind, ist Bedeutung eo ipso öffentlich, von den Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft geteilt. In einer Pragmatik, die sozial und normativ ist, stellt sich mithin nicht das Problem, wie Bedeutung intersubjektiv sein kann – angesichts dessen, dass die de facto gezogenen Inferenzen von Person zu Person variieren. Wir können in dieser Position das, was für Aussagen gilt, auf Überzeugungen übertragen. Etwas ist
210 nur dann eine Überzeugung, wenn es aussagbar ist, weil nur durch die Aussage die Beziehungen der Festlegung, der Berechtigung und der verschlossenen Berechtigung determiniert werden können, in denen Bedeutung – bzw. der begriffliche Inhalt einer Überzeugung – besteht. Brandom zufolge ist diese Pragmatik grundlegend: Wir sind denkende Wesen, weil wir uns wechselseitig so behandeln, dass wir auf bestimmte Aussagen (und Handlungen) festgelegt sind, zu bestimmten Aussagen (und Handlungen) berechtigt sind und uns die Berechtigung zu bestimmten Aussagen (und Handlungen) verschlossen ist. Brandom (1994, Kapitel 3) spricht von deontischem Buchführen: Personen verhalten sich in einer sozialen Gemeinschaft wechselseitig zueinander als Buchführer über ihre Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen. Damit stellt sich das Verhältnis zwischen dieser normativen Pragmatik und der genannten inferentiellen Semantik wie folgt dar: • Die inferentiellen Beziehungen, in denen die Bedeutung einer Aussage besteht, supervenieren auf normativen Praktiken, in denen Personen sich wechselseitig so behandeln, dass sie auf etwas festgelegt sind, zu etwas berechtigt sind und die Berechtigung zu etwas verschlossen ist. • Die Beschreibung von Bedeutung im Sinne einer Beschreibung dieser inferentiellen Beziehungen kann im Prinzip auf eine Beschreibung dieser normativen Praktiken reduziert werden. Diese Beziehungen der Supervenienz und der prinzipiellen Reduzierbarkeit gelten wiederum für wissenschaftliche Aussagen ebenso wie für Alltagsaussagen. Gemäß dieser normativen Gebrauchstheorie ist die Bedeutung einer Aussage durch die Normen des Gebrauchs dieser Aussage in einer Gemeinschaft zu einer Zeit bestimmt – in dem Maße wie Bedeutung überhaupt bestimmt ist. Bedeutung lässt sich nicht vollständig explizit machen: Man kann nicht die Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen, welche die Bedeutung einer Aussage der Art p bilden, abschließend aufzählen. Man kann nur eine Reihe paradigmatischer Beispiele für solche Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen angeben. Der inferentielle Kontext, in dem Bedeutung besteht, ist offen. Diese Offenheit läuft jedoch nicht auf eine philosophisch angreifbare Unbestimmtheit hinaus. Für alle zwei Begriffe F und G gilt, dass sich der inferentielle Kontext einer Aussage des Typs „Dies ist F“ von dem inferentiellen Kontext einer Aussage des Typs „Dies ist G“ unterscheidet. Dieses trifft auch zu auf Begriffe wie »Kaninchen« und »zeitliche Phase eines
211 Kaninchen«, um Quines berühmtes Beispiel für die Unbestimmtheit von Bedeutung aufzunehmen.8 Aus „Dies ist eine zeitliche Phase eines Kaninchen“, aber nicht aus „Dies ist ein Kaninchen“, kann man schließen „Dies hat zeitliche Teile“. Dabei kann man erklären, was es heißt, zeitliche Teile zu haben, ohne auf Kaninchen Bezug zu nehmen. Das heißt: Diese Position vermeidet Quines Unbestimmtheits-Herausforderung, was Bedeutung betrifft, ohne in irgendeiner Weise auf eine mentalistische Semantik zurückgreifen zu müssen. Ferner ist Bedeutung dieser Semantik zufolge wandelbar: Die Aussagen, auf die man durch eine Aussage der Art p festgelegt ist, zu denen man berechtigt ist und zu denen eine Berechtigung verschlossen ist, sind nicht ein für alle Mal fixiert. Insbesondere neuartige Situationen, denen wir begegnen (neue Erfahrungen), können dazu führen, dass neue Festlegungen und Berechtigungen anerkannt werden und manche der bisherigen Festlegungen und Berechtigungen aufgegeben werden. Es gibt demnach keine festen Identitätsbedingungen für Bedeutung – weder in der Zeit noch zu einer Zeit. Dieses trifft für Alltagsbegriffe ebenso wie für wissenschaftliche Begriffe zu. Beispielsweise hat sich die Bedeutung aller Aussagen, in denen der Begriff »Elektron« verwendet wird, im zwanzigsten Jahrhundert infolge der Quantenphysik geändert. Gemäß dieser Position gibt es keine klare Trennung zwischen wissenschaftlichen Begriffen und Alltagsbegriffen. Wissenschaftliche Begriffe haben sich aus Alltagsbegriffen entwickelt durch Wandel und Erweiterung des inferentiellen Kontextes. Wissenschaftliche Begriffe haben ihrerseits wiederum Auswirkungen auf Alltagsbegriffe, indem sie zu einem Bedeutungswandel von Alltagsbegriffen führen können. Wissenschaftliche Theorien der Astronomie hatten beispielsweise zur Folge, dass die Inferenz von „Dies ist die Erde“ zu „Dies ist flach“ ausgeschlossen wurde und stattdessen eine Beziehung der semantischen Implikation von „Dies ist die Erde“ zu „Dies ist kugelförmig“ anerkannt wurde. Ebenso gehört Folgendes heute zu den Anwendungsbedingungen, die man meistern muss, um über den Begriff »Planet« zu verfügen: Man muss wissen, dass der Begriff »Planet« auf die Erde zutrifft, seine Anwendung auf die Sonne hingegen ausgeschlossen ist. Offenheit der inferentiellen Beziehungen, die bedeutungskonstitutiv sind, beinhaltet auch, dass die Beziehungen, welche die Bedeutung einer Aussage bestimmen, nicht in der Weise abgeschlossen sind, dass sie eine gesamte Theorie oder eine gesamte Sprache umfassen müssen. Bedeutungskon-
212 stitutiv für eine Alltagsaussage wie „Dies ist ein Baum“ sind Aussagen wie „Bäume haben einen Stamm, Äste, häufig Blätter, sind Pflanzen, beherbergen Vögel, lassen sich zur Holzgewinnung nutzen etc.“. Solche Platitüden muss man kennen, um über den Begriff »Baum« zu verfügen. Daraus folgt aber nicht, dass man das gesamte Alltagswissen besitzen muss, um über den Begriff »Baum« verfügen zu können. Um den Begriff »Baum« zu meistern, muss man beispielsweise nicht unbedingt den Begriff »Fisch« besitzen. Etwas Ähnliches gilt für wissenschaftliche Begriffe. Um über den Begriff »Elektron« zu verfügen, muss man Inferenzen meistern wie „Elektronen sind mikrophysikalische Systeme, sind negativ geladen, haben eine Masse von 511 keV etc.“. Man ist damit aber nicht auf eine gesamte ausgearbeitete Theorie festgelegt. Das Argument ist Folgendes: Ein Experimentalphysiker muss den Begriff »Elektron« meistern. Der Experimentalphysiker braucht aber nicht Stellung zu beziehen in der Kontroverse um die Natur des Elektron (Quantentheorie versus Bohms Theorie verborgener Parameter etc.). Es gibt mithin bedeutungskonstitutive Inferenzen für Aussagen, welche den Begriff »Elektron« enthalten, die diesseits solcher Kontroversen stehen – obwohl der Begriff »Elektron« ein theoretischer Begriff im Unterschied zu einem Alltagsbegriff ist.9 Die Gemeinschaft, deren Praktiken die Bedeutung von Aussagen bestimmen, kann die Gemeinschaft der Sprecher einer natürlichen Sprache sein, muss es aber nicht. Für wissenschaftliche Begriffe ist die relevante Instanz die Gemeinschaft der Forschenden auf dem betreffenden Gebiet. Eine natürliche Person kann dementsprechend mehreren solchen Gemeinschaften angehören, deren Praktiken die Bedeutung der Aussagen auf einem bestimmten Gebiet fixieren. Inwieweit beinhalten diese Ausführungen eine Antwort auf das Problem des Regelfolgens? Diese Position versucht, dieses Problem auf folgende Weise zu vermeiden: Die Praktiken, sich wechselseitig so zu behandeln, dass man auf bestimmte Aussagen festgelegt und zu bestimmten Aussagen berechtigt ist, zeigen, wie einer Person eine Unterscheidung zwischen korrektem und inkorrektem Regelfolgen zur Verfügung stehen kann. Diese Praktiken vermitteln den beteiligten Personen ein praktisches Wissen im Sinne eines Wissens darum, welche Übergänge von einer normativen Einstellung zu anderen normativen Einstellungen angemessen sind, ohne dass diese normativen Einstellungen selbst Gegenstand des Wissens zu sein brauchen. Sie verleihen den Personen auf diese Weise die Fähigkeit, Begriffe in unbestimmt vielen neuen Situationen korrekt zu verwenden.
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In welchem Sinne genau ist nun Bedeutung normativ? Bedeutung ist als solche selbst – das heißt, intrinsisch – normativ, indem die Bedeutung einer Aussage reduziert werden kann auf Normen der Festlegung, Berechtigung und verschlossenen Berechtigung, die Personen sich wechselseitig in sozialen Praktiken auferlegen und durch die sie denkende Wesen sind. Diese Normen können sich Personen jedoch nicht in der Weise auferlegen, dass die betreffenden Festlegungen, Berechtigungen und verschlossenen Berechtigungen Gegenstand ihres Glaubens sind – wie man sich zum Beispiel die Verpflichtung auferlegen kann, zu Weihnachten Geld für mildtätige Zwecke zu spenden. Eine solche Forderung würde zu einem infiniten Regress führen: Um über den Begriff F zu verfügen, müsste man zunächst über die anderen Bergriffe verfügen, mit denen Aussagen, in denen der Begriff F verwendet wird, durch Beziehungen der Festlegung, Berechtigung und verschlossenen Berechtigung verbunden sind. Um einen Begriff F zu besitzen und Aussagen der Art „Dies ist F“ zu bilden, muss eine Person die Umstände der Verwendung des Begriffs F zusammen mit den Festlegungen auf und Berechtigungen zu Aussagen anderer Art (und Handlungen) meistern. Es handelt sich dabei in erster Linie um ein praktisches Können, das sich daran zeigt, unter welchen Umständen eine Person eine Aussage der Art p macht und wie sie von einer Aussage dieses Typs zu anderen Aussagen (und Handlungen) übergeht. Eine Aussage der Art p zu machen und den entsprechenden Glaubenszustand einzunehmen, ist folglich durch ein normatives Merkmal gekennzeichnet – es heißt in erster Linie, eine Festlegung einzugehen. Die Zuschreibung von Aussagen und Überzeugungen zu Personen besteht darin, diesen Personen einen bestimmten normativen Status zuzuschreiben – auf etwas festgelegt und zu etwas berechtigt zu sein.10 Diese intrinsische Normativität der Bedeutung hat eine wichtige wissenschaftstheoretische Konsequenz: Es gibt keine Trennung zwischen einer wissenschaftlichen Theorie als etwas, das als solches selbst nicht normativ ist, und Normen als etwas, das von Außen an eine wissenschaftliche Theorie herangetragen wird. Eine wissenschaftliche Theorie kann deskriptiv sein, indem sie Fakten in der Welt beschreibt. Aber selbst das deskriptive Vokabular ist intrinsisch normativ, indem seine Bedeutung durch normative, soziale Praktiken festgelegt wird. Wissenschaftliche Theoriebildung ist ein normatives Unternehmen – und zwar nicht in erster Linie deshalb, weil dieses Unternehmen auf Normen ausgerichtet ist (wie die Normen der Wahrheit, der Kohärenz oder der experimentellen Überprüfbarkeit), son-
214 dern deshalb, weil die Bestimmung der Bedeutung der wissenschaftlichen Aussagen eine normative Angelegenheit ist. 2. Soziale Praktiken ohne sozialen Relativismus Eine soziale, normative Theorie der Bedeutung wissenschaftlicher Aussagen wirft die Frage nach einem sozialen Relativismus auf – dies umso mehr, als die im vorigen Abschnitt angesprochenen Erwägungen den Argumenten nahezustehen scheinen, mit denen Thomas Kuhn (1962)11 und Paul Feyerabend (1962) die Aufmerksamkeit der wissenschaftstheoretischen Forschung auf die sozialen Praktiken der wissenschaftlichen Gemeinschaften gelenkt haben. Kuhn und Feyerabend bringen diesen Fokus in Verbindung mit einem semantischen Holismus in folgendem Sinne: Die Bedeutung der Aussagen einer wissenschaftlichen Theorie besteht in inferentiellen Beziehungen aller dieser Aussagen untereinander – inferentielle Beziehungen, die in sozialen Praktiken der betreffenden ForscherGemeinschaft bestimmt werden. Zwei verschiedene Theorien desselben Gegenstandsbereichs – klassische Mechanik vs. Quantenmechanik, Newtons Theorie der Gravitation vs. allgemeine Relativitätstheorie etc. – können durch radikal verschiedene solche inferentielle Beziehungen gekennzeichnet sein (zum Beispiel Gravitation als Fernwirkung vs. Gravitation als Krümmung der Raum–Zeit). In diesem Falle sind die Begriffe der beiden Theorien nicht ineinander übersetzbar. Diese Unübersetzbarkeit betrifft auch die Beobachtungsaussagen der beiden Theorien. Auch die Bedeutung der Beobachtungsaussagen besteht in inferentiellen Beziehungen, welche die jeweiligen theoretischen Terme umfassen. Die beiden Theorien sind daher inkommensurabel – es gibt kein gemeinsames Maß für sie. Es ist jedoch fraglich, ob die skizzierte normative Theorie der Bedeutung wirklich auf diese radikale Inkommensurabilität festgelegt ist, welche die rationale Vergleichbarkeit konkurrierender Theorien ausschließt. Zunächst einmal kann man sagen, dass es nur Sinn macht, von der Inkommensurabilität solcher Theorien zu sprechen, die einen gemeinsamen Gegenstandsbereich haben. Wie wird dieser Gegenstandsbereich identifiziert? Es scheint, dass zur Identifikation eines gemeinsamen Gegenstandsbereiches eine Beschreibung erforderlich ist, die neutral ist in Bezug auf die konkurrierenden Theorien – das heißt, eine Beschreibung, die von den beiden inkommensurablen Theorien impliziert wird, ohne ihrerseits eine dieser Theorien zu implizieren. Diese Beschreibung ist nicht theoriefrei in einem absoluten Sinne – es gibt gemäß einer inferentiellen Semantik kein reines Beobach-
215 tungsvokabular. Diese Beschreibung ist lediglich nicht auf eine der konkurrierenden Theorien festgelegt. In vielen Fällen kann das Alltagsvokabular oder auch das Vokabular, über das ein Experimentator im Unterschied zu einem theoretischen Wissenschaftler verfügen muss, eine solche neutrale Beschreibung bereitstellen. Die Aussagen der Alltagssprache erhalten ihre Bedeutung durch inferentielle Beziehungen; diese Beziehungen reichen aber nicht bis hin zu Aussagen – umstrittener – wissenschaftlicher Theorien. Die bedeutungskonstitutiven Inferenzen wissenschaftlicher Theorien umfassen hingegen Inferenzen bis hin zu Aussagen der Alltagssprache, da wissenschaftliche Theorien eine Anbindung an die Erfahrung benötigen. Auf dieser Grundlage kann man argumentieren, dass eine normative, pragmatische Theorie der Bedeutung und der aus dieser folgende semantische Holismus nur eine gemäßigte Inkommensurabilität implizieren, die einige theoretische Terme betrifft, aber nicht die rationale Vergleichbarkeit konkurrierender wissenschaftlicher Theorien ausschließt.12 Die Offenheit der inferentiellen Beziehungen, die im vorigen Abschnitt ausgeführt wurde, verhindert es also gerade, dass die skizzierte normative, pragmatische Theorie der Bedeutung auf die These einer radikalen Inkommensurabilität festgelegt ist. Kuhn (1962) in der ersten Auflage der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und Feyerabend (1962) legen nahe, dass eine wissenschaftliche Theorie ein ganzes Weltbild impliziert, so dass wir es letztlich mit einer Inkommensurabilität von Weltbildern zu tun haben. Der Referent der betreffenden Aussagen sind dann nicht mehr einzelne Gegenstände oder Gegenstandsbereiche in der Welt, sondern die Welt insgesamt. Die Inkommensurabilität besteht in Folgendem: Jedes Weltbild stellt eine eigene Perspektive auf die Welt dar, die mit den anderen Perspektiven unvergleichbar ist, weil es keine Bedeutungen von Aussagen gibt, die invariant in Bezug auf verschiedene Perspektiven sind.13 Man kann dann so weit gehen, zu sagen, dass die neuzeitliche Wissenschaft insgesamt und zum Beispiel die Mythen der homerischen Götter zwei verschiedene, inkommensurable Perspektiven auf die Welt sind. Eine soziale, pragmatische Theorie der Bedeutung und der soziale Holismus legen uns in keiner Weise auf eine solche Position fest. In seinem berühmten Aufsatz „On the very idea of a conceptual scheme“ (1974) argumentiert Donald Davidson auf der Grundlage des semantischen Holismus, dass die Idee verschiedener, miteinander inkommensurabler Perspektiven auf die Welt inkohärent ist.14 Eine Perspektive in diesem Sinne wäre ein
216 epistemisches Bindeglied, das zwischen die Aussagen oder Überzeugungen einer Person und deren Bezugsgegenstände in der Welt tritt. Davidson argumentiert, dass die Annahme eines solchen epistemischen Bindegliedes nicht kohärent expliziert werden kann. Er knüpft damit an das an, was Sellars (1956) als den Mythos des Gegebenen denunziert hat. Der semantische Holismus ermöglicht es nach Sellars und nach Davidson gerade, die Erkenntnistheorie eines epistemischen Bindegliedes zwischen unseren Aussagen oder Überzeugungen und deren Bezugsgegenständen in der Welt zu überwinden. Wenn die Bedeutung der Aussagen (und der begriffliche Inhalt der Überzeugungen) in inferentiellen Beziehungen der Aussagen untereinander besteht, ist der Weg dazu frei, die Aussagen so zu konzipieren, dass sie sich direkt auf ihre Referenten in der Welt beziehen, ohne dass ein epistemisches Bindeglied dazwischentritt. Eine normative, pragmatische Theorie der Bedeutung ist also mit einem direkten Realismus vereinbar.15 Die Zurückweisung der Erkenntnistheorie eines epistemischen Bindegliedes stellt auch die prinzipielle Möglichkeit der Übersetzung zwischen verschiedenen Sprachen sicher. Was die Übersetzung zwischen Sprachen betrifft, die keinen gemeinsamen Ursprung haben, kann man innerhalb dieser Position Folgendes vertreten: Wenn man eine Übersetzung von einer bisher unbekannten Sprache ins Deutsche machen möchte, dann gibt es keine Fakten der Bedeutung, die eine Übersetzung im voraus als die korrekte fixieren. Der Erfolg der Übersetzung hängt vielmehr davon ab, ob es gelingt, eine Kommunikation zwischen zwei Sprachen oder zwei Kulturen herzustellen.16 Diese Position versucht, das Problem der Unbestimmtheit der Übersetzung auf dieselbe Weise zu vermeiden wie das Problem der Unbestimmtheit der Bedeutung (im Sinne des Problems des Regelfolgens): Es gibt keine im voraus fixierte korrekte Übersetzung, ebensowenig wie es Fakten gibt, die dem Gebrauch vorgängig eine Bedeutung fixieren. Die Frage der Übersetzung ist – genau wie die Frage der Bedeutung – eine Frage je kontingenterweise gelingender (oder auch nicht gelingender) Praxis. Diese pragmatische Theorie der Bedeutung läuft dementsprechend nicht auf eine pragmatische Theorie der Wahrheit hinaus – in dem Sinne, dass der Wahrheitswert unserer Überzeugungen von sozialen Praktiken abhängt. Man kann vielmehr Folgendes vertreten: Wenn einmal normative Praktiken Bedeutung bestimmt haben, dann hängt es von der Beschaffenheit der Welt ab, welche der Aussagen mit einer so bestimmten Bedeutung, die sich auf etwas in der Welt beziehen, wahr sind und welche falsch sind. Eine realistische Theorie der Wahrheit kann mit einer pragmatischen Theorie der
217 Bedeutung gerade deshalb verbunden werden, weil diese Theorie den Begriff der Bedeutung ohne Rekurs auf den Begriff von Wahrheitsbedingungen erläutert. Das ermöglicht es, die Theorie der Bedeutung von der Theorie der Wahrheit zu trennen: Man kann unterscheiden zwischen korrektem Begriffsgebrauch im Sinne der Normen, die in einer Gemeinschaft zu einer Zeit anerkannt sind, und der Wahrheit oder Falschheit der gemäß diesen Normen gebildeten Aussagen. Diese Normen determinieren Bedeutung und damit die Bedingungen, unter denen bestimmte Aussagen wahr sind; diese Normen sind aber nicht identisch mit den Wahrheitsbedingungen. Diese Position ermöglicht es dementsprechend auch, den theoretischen Aussagen wissenschaftlicher Theorien einen Wahrheitswert zuzusprechen und diesen Wahrheitswert realistisch zu verstehen – welche unserer theoretischen Aussagen wahr sind, superveniert auf der Beschaffenheit der Welt. Diese Position ist allerdings nicht auf den wissenschaftlichen Realismus festgelegt. 3.
Deskriptive oder normative Theorie der Bedeutung?
Kenntnis der Bedeutung der Aussagen einer Person kann man gemäß der skizzierten Theorie der Bedeutung nur dadurch erlangen, dass man an den betreffenden sozialen, normativen Praktiken, welche Bedeutung determinieren, teilnimmt. Ein außenstehender Beobachter – das heißt, ein Beobachter, der an diesen Praktiken nicht teilnimmt – ist dem Problem des Regelfolgens ausgeliefert: Ein solcher Beobachter hat nur Zugang zu endlichen Reihen von Verhalten, die mit unendlich vielen logisch möglichen Bedeutungs-Regeln vereinbar sind. Nur durch Teilnahme an den betreffenden normativen, sozialen Praktiken kann man das praktische Wissen erwerben, durch das Bedeutung für die Teilnehmenden an diesen Praktiken bestimmt ist. Das gilt für Alltagswissen ebenso wie für wissenschaftliches Wissen. Die Aussagen einer Person zu interpretieren, ist somit nur von innerhalb der Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis mit der betreffenden Person möglich. Indem man einer Person bestimmte Aussagen und Überzeugungen zuschreibt, nimmt man eine normative Einstellung gegenüber dieser Person ein. Man schreibt dieser Person bestimmte Festlegungen und Berechtigungen zu. Daraus, dass Bedeutung intrinsisch normativ ist, folgt jedoch nicht, dass die Theorie der Bedeutung eine normative im Unterschied zu einer deskriptiven Theorie ist. Wenn Hans eine Überzeugung der Art p Maria zu-
218 schreibt, dann betrachtet Hans Maria so, dass Maria sich auf weitere Überzeugungen festgelegt hat und zu weiteren Überzeugungen berechtigt ist. Hans muss diese Festlegung jedoch nicht selbst übernehmen. Man braucht die Überzeugungen, die man anderen zuschreibt, nicht selbst zu teilen. An einer gemeinsamen sozialen Praxis teilzunehmen und eine normative Einstellung gegenüber der Person, die man interpretiert, einzunehmen, ist eine notwendige Bedingung dafür, eine Person interpretieren zu können. Nichtsdestoweniger kann man zu den Überzeugungen einer Person, die man interpretiert, eine theoretisch-distanzierte Haltung einnehmen. Man kann diese Überzeugungen beschreiben, ohne eine normative Einstellung im Sinne einer Zustimmung oder Ablehnung gegenüber diesen Überzeugungen einzunehmen. Kurz, indem man Personen Überzeugungen zuschreibt, beschreibt man die Festlegungen und Berechtigungen, die diese Personen eingehen (deren normativen Status). Brandoms Konzept des deontischen Buchführens17 ist eher geeignet, eine solche beschreibende Haltung zu erfassen, denn eine bedeutungskonstituierende Praxis auf den Punkt zu bringen. Über Festlegungen und Berechtigungen anderer Buch zu führen, kann als eine theoretisch-distanzierte Einstellung aus der Position der dritten Person aufgefasst werden – im Unterschied zu einer Einstellung aus der Position der zweiten Person, die mit der ersten Person gemeinsam bedeutungskonstitutive Festlegungen und Berechtigungen aushandelt.18 Etwas Entsprechendes gilt für Überzeugungen, die von einer gesamten Gemeinschaft geteilt werden. Um eine fremde Sprache – oder eine wissenschaftliche Theorie in einem Gebiet, das für die betreffende Person neu ist – zu verstehen, muss man sich in die sozialen, normativen Praktiken der betreffenden Sprecher bzw. Forscher hineinarbeiten, das heißt, an diesen Praktiken teilnehmen. Das ermöglicht es jedoch gerade, zu diesen Praktiken dann eine theoretisch-distanzierte Einstellung einzunehmen und die betreffenden Aussagen und Überzeugungen zu beschreiben. Lance und O’Leary-Hawthrone (1997) vertreten hingegen eine andere Auffassung. Sie betrachten Aussagen über Bedeutung als an sich selbst vorschreibend.19 Das heißt, eine Beschreibung von Bedeutung ist nicht möglich. Aussagen über Bedeutung sind keine deskriptiven, sondern normative Aussagen. Jede Aussage über die Bedeutung einer gegebenen Aussage p ist ein Vorschlag für eine Vorschrift, wie man die Bedeutung von p verstehen soll. Das Hauptargument von Lance und O’Leary-Hawthrone ist dieses: Die normativen Beziehungen, welche die Bedeutung einer Aussage bzw. den begrifflichen Inhalt einer Überzeugung bestimmen, sind nicht explizit. Diese Beziehungen zumindest teilweise explizit zu machen, ist
219 nach Lance und O’Leary-Hawthrone keine Deskription impliziter Praktiken, sondern eine Präskription im Sinne eines Vorschlags für eine bindende Festlegung dieser Praktiken. Um ihre Position zu erläutern, erörtern sie das Beispiel von Kindern, die Fußball spielen, und eine Kodifikation der Regeln dafür, Fußball zu spielen. Diese Regeln beschreiben nicht eine bestehende Praxis, sondern sie sind ein Vorschlag dafür, Vorschriften zur Regulierung einer bestehenden Praxis zu erlassen (S. 222–223). Für Lance und O’Leary-Hawthrone ist Bedeutung mithin so sehr im Fluss, dass sie nicht in einer Beschreibung festgehalten werden kann. Jeder Versuch einer Beschreibung von Bedeutung ist de facto der Versuch, eine Vorschrift zu einer Weiterentwicklung der betreffenden Bedeutung in eine bestimmte Richtung aufzustellen. Auch wenn die normativen Beziehungen, welche die Bedeutung einer Aussage bzw. den begrifflichen Inhalt einer Überzeugung bestimmen, nicht explizit sind, folgt dennoch nicht die Position von Lance und O’Leary-Hawthrone, gemäß der es keine deskriptive Theorie der Bedeutung geben kann. Der Vorschlag für ein Explizit-Machen bedeutungskonstitutiver normativer Beziehungen (Festlegungen, Berechtigungen, verschlossene Berechtigungen) orientiert sich an einer bereits existierenden Praxis und versucht, so weit wie möglich diese Praxis auf den Begriff zu bringen. Selbst wenn dieses nicht immer in einer eindeutigen Weise möglich sein sollte, folgt daraus nicht, dass es keine Beschreibung dieser Praxis geben kann. Auch wenn Bedeutung wandelbar ist und sich ständig wandelt, so ist jeder Wandel von Bedeutung doch nur vor dem Hintergrund einer großen Menge an bedeutungskonstitutiven Beziehungen verständlich, die in diesem Moment stabil sind. Diese für Kommunikation vorausgesetzte Stabilität ermöglicht eine Beschreibung von Bedeutung – und damit die Unterscheidung zwischen einer Beschreibung von Bedeutungen und einer Bewertung von Bedeutungen als korrekt oder inkorrekt (Bewertung im Sinne dessen, bestimmte Festlegungen, Berechtigungen und verschlossene Berechtigungen herauszustreichen und andere zurückzuweisen). Trotz der intrinsischen Normativität von Bedeutung ist somit der Weg einer deskriptiven Theorie der Bedeutung gangbar. In beiden Fällen – eines deskriptiven wie eines präskriptiven Verständnisses der Explikation von Bedeutung – ist eine kritisch Einstellung zu den geteilten Bedeutungen möglich. Wie innerhalb einer Gemeinschaft einzelne Personen Aussagen bzw. Überzeugungen anderer einzelner Personen als inkorrekt bewerten können, so kann im Prinzip jede Person, die an diesen Praktiken teilnimmt, Überzeugungen, die von mehr oder weniger allen an-
220 deren Personen geteilt werden, als inkorrekt beurteilen und somit eine Reform der betreffenden Praktiken vorschlagen. Das Modell normativer, sozialer Praktiken von Brandom (1994) basiert auf Ich–Du Beziehungen zwischen einzelnen Personen; der sozialen Gemeinschaft als ganzer kommt kein besonderer Status zu. Auch die von einer gesamten Gemeinschaft geteilten Normen können einer Bewertung als korrekt oder inkorrekt unterzogen werden. Für die Wissenschaftstheorie bedeutet die Möglichkeit einer Beschreibung von Bedeutung dieses: Trotz der intrinsischen Normativität von Bedeutung ist eine rein deskriptive Wissenschaftsphilosophie möglich. Die intrinsische Normativität auf der Ebene des Gegenstandsbereichs – der wissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung – verhindert nicht, dass eine Beschreibung dieses Gegenstandsbereichs erfolgen kann. Diese Beschreibung besteht, wie jede Beschreibung, in Aussagen, deren Bedeutung normativ ist; aber das steht nicht dem entgegen, dass diese Aussagen sich beschreibend auf andere Aussagen (wissenschaftliche Theorien) beziehen können. Ferner ist eine Beschreibung der wissenschaftlichen Begriffs- und Theoriebildung nur in Teilnahme an den sozialen, linguistischen Praktiken der betreffenden Forschergemeinschaft möglich; aber diese Teilnahme ist gerade die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, eine beschreibende, theoretisch-distanzierte Einstellung gegenüber diesen Praktiken einnehmen zu können. Dennoch ist es fraglich, ob es sinnvoll ist, für eine rein deskriptive Wissenschaftstheorie einzutreten. Eine rein deskriptive Wissenschaftstheorie nutzt die Teilnahme an der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die erforderlich ist, um wissenschaftliche Theorien zu verstehen, nicht, um an der Fortentwicklung der betreffenden Praktiken selbst mitzuwirken. Sie koppelt sich damit von der Wissenschaftsentwicklung ab. Das Hauptargument für eine normative Wissenschaftstheorie im Rahmen der in diesem Beitrag vorgestellten Position ist dementsprechend dieses: Es ist sinnvoll, die Teilnahme, die zum Verstehen von Wissenschaft erforderlich ist, zu nutzen, um zur Weiterentwicklung der betreffenden normativen Praktiken beizutragen. Die intrinsische Normativität von Bedeutung stellt klar, dass es sich bei einer normativen Wissenschaftsphilosophie nicht darum handelt, von außen Normen an die wissenschaftliche Praxis heranzutragen. Es geht um eine normative Wissenschaftsphilosophie, die sich selbst als integraler Bestandteil der betreffenden wissenschaftlichen Praktiken versteht. Als Beispiel kann die Debatte um die Interpretation der Quantentheorie dienen: Die der Physik immanente Entwicklung von der klassischen Mechanik zur Quan-
221 tenmechanik wirft Interpretationsfragen auf, zu deren Klärung die begrifflichen Werkzeuge der Wissenschaftsphilosophie beitragen. Die entsprechenden wissenschaftsphilosophischen Analysen tragen ihrerseits wiederum zur Weiterentwicklung der Quantenphysik bis hin zur Konzeption bestimmter Experimente bei. Eine normative Wissenschaftsphilosophie kann sich also durchaus in die wissenschaftliche Entwicklung integrieren.
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1
Deutsch Kripke (1987).
2
Für eine ausführliche Darstellung des Problems siehe Esfeld (2002), Kapitel 3.1.
3
Wittgenstein (1953), insbesondere § 185, und Kripke (1982), Kapitel 2.
4
Vergleiche Wittgenstein (1953), § 202.
5
Deutsch Brandom (2000).
6
Deutsch Sellars (1999).
7
Siehe Brandom (1994), Kapitel 4.3.4, S. 221–226. Vergleiche ferner die Ausführungen von Hacking (1982), wieder abgedruckt als Hacking (1983), Kapitel 16, zum direkten Umgang mit Elektronen. 8
9
Quine (1960), Kapitel 2, besonders S. 51–53; deutsch Quine (1980).
Dieses Argument nimmt den sogenannten neuen Experimentalismus in der Wissenschaftsphilosophie auf. Vergleiche Hacking (1982), wieder abgedruckt als
223
Hacking (1983), Kapitel 16. Siehe zu dieser pragmatischen Theorie der Bedeutung ausführlich Esfeld (2002), Kapitel 3 bis 5.
10
11
Deutsch Kuhn (1973).
12
Vergleiche Carrier (2001).
13
Vergleiche zu Kuhn Hoyningen-Huene (1989).
14
In Davidson (1984), Kapitel 13; deutsch in Davidson (1986).
15
Siehe dazu Esfeld (2002), Kapitel 4.
16
Vergleiche Lance & O’Leary-Hawthrone (1997), Kapitel 1.
17
Brandom (1994), Kapitel 3. Siehe oben Abschnitt 1.
18
Vergleiche die diesbezügliche Kritik von Habermas (1999), S. 173–174, sowie Rödl (2000), S. 772–777.
19
Siehe Lance & O’Leary-Hawthrone (1997), Kapitel 3, insbesondere S. 208–227.
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