Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG): Renaissance alliierter Verfassungspolitik [1 ed.] 9783428494897, 9783428094899

Der Autor stellt eine umfassende Auseinandersetzung mit Entstehung, Bedeutung, Anwendung und Reform der Schlüsselnorm zu

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German Pages 181 Year 1999

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Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG): Renaissance alliierter Verfassungspolitik [1 ed.]
 9783428494897, 9783428094899

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CHRISTOPH NEUMEYER

Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG)

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 789

Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG) Renaissance alliierter Verfassungspolitik

Von Christoph Neumeyer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Neumeyer, Christoph: Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG) : Renaissance alliierter Verfassungspolitik / von Christoph Neumeyer. Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 789) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09489-1

Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09489-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist im Wintersemester 1997/98 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation vorgelegt worden. Meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Martin Kriele, gilt mein besonderer Dank nicht nur für die Anregung und Betreuung dieser Arbeit, sondern auch für die juristisch wie menschlich gewinnbringende gemeinsame Zeit am Seminar für Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Danken möchte ich außerdem Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Böckstiegel, der die Zweitbegutachtung übernahm, sowie Herrn Prof. Dr. Heiner Wilms, der mir stets mit fachlichem Rat und organisatorischer Unterstützung zur Seite stand. Die Veröffentlichung wurde finanziell gefordert von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln sowie vom Bundesministerium des Innern. Beiden gilt ebenfalls mein Dank.

Christoph Neumeyer

Inhaltsübersicht Einleitung

15 Erster Teil Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

§ 1 Konkurrierende Gesetzgebung in der deutschen Verfassungstradition

19

§ 2 Auftrag des Frankfurter Dokuments Nr. 1

24

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

26

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

36

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

53

§ 6 Zusammenfassung des ersten Teils

79

Zweiter Teil Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur § 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum

82

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

92

§ 9 Die Rechtsprechung im Spiegel des Schrifttums

110

§ 10 Bewertung des Meinungsstandes

123

§ 11 Zusammenfassung des zweiten Teils

129

Dritter Teil Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel - Das Reformprojekt § 12 Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages

131

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission des 12. Bundestages und Grundgesetzreform 1994

139

§ 14 Bewertung der Reform

155

§ 15 Zusammenfassung des dritten Teils

171

Gesamtergebnis und rechtspolitischer Ausblick

173

Literaturverzeichnis

175

Inhaltsverzeichnis Einleitung

15 Erster Teil Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

§ 1 Konkurrierende Gesetzgebung in der deutschen Verfassungstradition

19

I.

Frankfurter Reichsverfassung von 1849

20

II.

Reichsverfassung von 1871

21

III.

Weimarer Reichsverfassung

22

§ 2 Auftrag des Frankfurter Dokuments Nr. 1

24

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

26

I.

Aufgabe und Bedeutung des Konvents

26

II.

Meinungsbildung und Ergebnisse zur konkurrierenden Gesetzgebung

28

1. Entwurf der bayerischen Staatsregierung

28

2. Entwurf Ottmar Kollmann

29

3. Gang der Beratungen

30

Bewertung des Art. 34 HChE

34

III.

IV. Reaktion der Alliierten auf die Ergebnisse des Verfassungskonvents § 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

35 36

I.

Einleitende Plenarsitzungen

36

II.

Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung

38

III.

Erste und zweite Lesung im Hauptausschuß

43

IV. Einfluß des Memorandums der Alliierten vom 22. November 1948

46

V.

49

Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses

VI. Fünferausschuß

50

VII. Dritte Lesung im Hauptausschuß

51

VIII. Zwischenbilanz

52

10

nsverzeichnis

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

53

I.

Prüfung des Grundgesetz-Entwurfs

53

II.

Memorandum der Alliierten vom 2. März 1949

54

III.

Erste Reaktionen im Parlamentarischen Rat

58

IV. Vorentwurf des Siebenerausschusses

59

V.

61

Deutsch-alliierte Besprechung vom 8. März 1949

VI. Rückkehr zum Begriff „konkurrierende Gesetzgebung" im Entwurf des Siebenerausschusses vom 10. März 1949

62

VII. Öffentlicher Widerstand gegen die alliierten Forderungen

65

VIII. Entwurf des Siebenerausschusses vom 17. März 1949

66

IX. Memorandum der Alliierten vom 25. März 1949

67

X.

68

Antrag des Abgeordneten Dr. Hoch (SPD) im Hauptausschuß

XI. Signale zum Einlenken der Alliierten

70

XII. Deutsch-alliierte Schlußkonferenz vom 25. April 1949

72

XIII. Entwurf des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 2. Mai 1949

74

XIV. Vierte Lesung im Hauptausschuß und Verabschiedung des Grundgesetzes

76

XV. Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure vom 12. Mai 1949

78

§ 6 Zusammenfassung des ersten Teils

79

Zweiter Teil Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur § 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum I.

82

Bedürfnisfrage als Frage des politischen Ermessens

83

1. Beschränkung der Justitiabilität auf Ermessensmißbrauch

83

2. Vollständige Verneinung der Justitiabilität

84

II.

Bedürfnisfrage als unbeschränkt justitiable Rechtsfrage

85

III.

Bezüge zur Entstehungsgeschichte

86

IV. Bewertung des vom Bundesverfassungsgericht vorgefundenen Diskussionsstandes § 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts I.

Südweststaat-Urteil (1951)

88 92 92

nsverzeichnis II.

Schornsteinfeger-Urteil (1952)

93

III.

Erstes Ladenschlußgesetz-Urteil (1952)

94

IV. Straffreiheitsgesetz '49-Beschluß (1953)

95

V.

Weitere Rechtsprechung bis 1960

97

1. Konsolidierung und Harmonisierung

97

2. Intervention des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs

98

VI. Zweites Ladenschlußgesetz-Urteil ( 1961 )

100

VII. Beschluß zur baden-württembergischen Gemeindegerichtsbarkeit (1962) 101 VIII. Eisenbahnkreuzungsgesetz-Beschluß (1969)

104

IX. Weitere Rechtsprechung bis zur Verfassungsreform 1994

104

X.

107

Mißdeutet: Der Gewerbsunzucht-Beschluß (1965)

XI. Gesamtwürdigung der Rechtsprechung § 9 Die Rechtsprechung im Spiegel des Schrifttums

109 110

I.

Akzeptanz und Zustimmung

111

II.

Kritik

113

1. Hintergrund: Konsolidierung des Föderalismus

114

2. Konsequenz: Aktivierung der Bedürfnisklausel

117

Rechtspolitik

121

III.

IV. Bezüge zur Entstehungsgeschichte

122

§ 10 Bewertung des Meinungsstandes

123

§ 11 Zusammenfassung des zweiten Teils

129

Dritter Teil Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel Das Reformprojekt § 12 Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages

131

I.

Ausgangspunkt

131

II.

Empfehlung zur Neufassung des Art. 72 GG

132

III.

Sonstige Änderungsempfehlungen

134

IV. Kritik und Selbstkritik

135

V.

139

Wirkung der Enquête-Kommission

12

nsverzeichnis

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission des 12. Bundestages und Grundgesetzreform 1994 139 I.

Die Gemeinsame Verfassungskommission

140

II.

Reformempfehlungen zur Gesetzgebung

142

1. Konkurrierende Gesetzgebung

142

III.

a)

Modifikation des Art. 72 Abs. 1 GG

b)

Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG

c)

Einfügung der Nr. 2 a in Art. 93 Abs. 1 GG

d)

Anfügung des Art. 72 Abs. 3 GG

147

e)

Änderungen am Katalog des Art. 74 GG

147

143 146

2. Rahmengesetzgebung

148

3. Gesetzgebungsverfahren

149

4. Bezüge zur Entstehungsgeschichte und zum Schlußbericht der Enquête-Kommission des 7. Bundestages

151

Die Grundgesetzreform 1994

152

§ 14 Bewertung der Reform I.

142

155

Zwingende Konsequenzen

155

1. Erforderlichkeitskriterien als Rechtsbegriffe

155

2. Wegfall der Kriterien gemäß Nr. 1 und 2 der Bedürfnisklausel

156

3. Neues Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG ... 157 II.

Optionen

158

III.

Ansatzpunkte für die Lösung

162

1. Die Erwägungen des Parlamentarischen Rates: Gewaltenteilung

162

2. Rechtssicherheit und Autorität des Bundesverfassungsgerichts

165

3. Praktikabilität

167

4. Auswirkungen auf EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG

168

IV. Ergebnis

170

§ 15 Zusammenfassung des dritten Teils

171

Gesamtergebnis und rechtspolitischer Ausblick

173

Literaturverzeichnis

175

Abkürzungsverzeichnis abgedr.

abgedruckt

abl.

ablehnend

abw.

abweichend

a. F.

alte Fassung

BA

Bundesarchiv

B. d. M.

Büro der Ministerpräsidenten

BR

Bundesrat

BT

Bundestag

ChE

Herrenchiemsee-Entwurf

ders. / dies.

derselbe / dieselbe

Dok.

Dokument

Erg.

Ergebnis

Fn.

Fußnote

GG

Grundgesetz

GVK

Gemeinsame Verfassungskommission

HA

Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates

Hervorh.

Hervorhebung

HStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (siehe Literaturverzeichnis)

Hrsg.

Herausgeber

hrsgg.

herausgegeben

i. Erg.

im Ergebnis

insbes.

insbesondere

n. F.

neue Fassung

Pari. Rat

Parlamentarischer Rat

pp.

perge, perge

14

Abkürzungsverzeichnis

sten.

stenographisch

Verf.

Verfasser

Vorbem.

Vorbemerkung

Ziff.

Ziffer

zust.

zustimmend

Im übrigen wird hinsichtlich der Abkürzungen verwiesen auf: Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auflage, Berlin/New York 1993.

Einleitung Mit der Grundgesetzreform des Jahres 1994 erhielt Art. 72 GG, die Schlüsselnorm zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes, eine Neufassung. Bisheriger und neuer Wortlaut stehen sich wie folgt gegenüber:

Art. 72 GG a. F.

Art. 72 GG n. F.

(1) Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht.

(1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.

(2) Der Bund hat in diesem Bereiche das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil

(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.

Leine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert."

(3) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, fur die eine Erforderlichkeit im Sinne des Absatzes 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann."

16

Einleitung

Im Mittelpunkt des Reformprojekts stand die Novellierung der bislang sogenannten Bedürfnisklausel des Abs. 2. Der verfassungsändernde Gesetzgeber verfolgte das Ziel, die Gesetzgebungstätigkeit des Bundes auf den Gebieten der konkurrierenden Gesetzgebung zu begrenzen, indem er die in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Einschränkungskriterien modifizierte und hiermit die Erwartung verband, daß deren Einhaltung durch den Bundesgesetzgeber der umfassenden Rechtskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen solle. Zur Bekräftigung dieser Intention wurde im Katalog der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts erstmals eine Verfahrensart geschaffen, in welcher als Prüfungsmaßstab lediglich eine einzige Verfassungsnorm zur Anwendung kommt: Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG begründet jetzt die Zuständigkeit des Gerichts „bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht". Mit diesen Mitteln wollte man der in den letzten Jahrzehnten erfolgten weitgehenden Zurückdrängung der Landesgesetzgebung entgegenwirken. Eine Aussage darüber, ob die Novellierung dieser Zielvorstellung gerecht werden kann und ob sie es sollte, läßt sich nicht allein anhand des neuen Grundgesetztextes treffen. Die Reform der Bedürfnisklausel markiert den Schlußpunkt einer seit 1949 geführten Kontroverse um die Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG und kann deshalb einer sachgerechten Würdigung nur unterzogen werden, indem die Hintergründe dieser langjährigen Debatte sowie die Entwicklung der sie beherrschenden Auffassungen ausgeleuchtet werden. Insbesondere bedürfen die Gründe für den jahrzehntelangen Unwillen des Bundesverfassungsgerichts, über das Vorliegen eines Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung zu judizieren, einer Klärung. Dabei werden Fragen nach Stellung und funktionalen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit innerhalb des grundgesetzlichen Systems aktuell, die bereits den Parlamentarischen Rat beschäftigten und von diesem in einem noch heute duskussionswürdigem Sinne beantwortet wurden. Aus diesem Grunde greift die vorliegende Abhandlung zunächst weit zurück: Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG - vom Schrifttum der letzten Jahrzehnte wie auch von der Gemeinsamen Verfassungskommission völlig vernachlässigt - nimmt eine zentrale Rolle ein. Aus ihr lassen sich das Grundverständnis der Vorschrift sowie maßgebliche, auch angesichts der Neufassung unverändert relevante Gesichtspunkte für die Auslegung ableiten. Teil 1 der Arbeit widmet sich eingehend diesem Komplex. In Teil 2 wird die Entwicklung der Lehrmeinungen sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. untersucht. Diese Betrachtung schließt mit einer Bewertung des bis zur Grundgesetzreform erzielten Meinungsstandes. In Teil 3 wird sodann der Weg des Reformprojekts nachvollzogen, der mit der Einsetzung der ersten Enquête-Kommission Verfassungsreform im Jahre

Einleitung 1970 begann und mit der Grundgesetzreform des Jahres 1994 endete. Im Rahmen einer kritischen Würdigung des Reformergebnisses wird die Frage beantwortet, inwieweit die Bewertung des bisherigen Meinungsstandes und damit die Verfassungspraxis in bezug auf Art. 72 Abs. 2 GG einer Revision bedarf. Daraus folgen als Ergebnis der Arbeit die Beurteilung der aktuellen Rechtslage sowie eine Einschätzung der rechtspolitischen Perspektiven.

2 Neumeyer

Erster Teil

Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes nimmt nicht nur aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Tragweite für das Gefuge des Bundesstaates, sondern bereits im Hinblick auf die außergewöhnlichen Umstände seiner Entstehung in den Jahren 1948/49 eine exponierte Stellung innerhalb des Grundgesetzes ein. Jene Umstände sind aber im Laufe der jahrzehntelangen wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die Bedürfnisklausel zunehmend in Vergessenheit geraten, wenn nicht gar teilweise bewußt ignoriert worden. Da zudem durch die Neufassung des Art. 72 GG die entstehungsgeschichtlichen Bezüge zum Parlamentarischen Rat nunmehr endgültig abzubrechen drohen, besteht Anlaß, zu Beginn dieser Untersuchung die historischen Grundlagen der Schlüsselnorm zur konkurrierenden Gesetzgebung aufzuarbeiten. Ein vollständiges und damit aussagekräftiges Bild hierüber ist zu gewinnen, indem zunächst die verfassungshistorischen Wurzeln des durch Art. 72 GG normierten Kompetenztyps betrachtet werden und im Anschluß hieran der Weg nachvollzogen wird, den der Entwurf der Bestimmung während der Beratungen zum Grundgesetz durchlief. Letzterer führte vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im August 1948 über den Zuständigkeitsausschuß, den Hauptausschuß, den Fünferausschuß, den Siebenerausschuß und den allgemeinen Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates, schließlich über die Intervention der Besatzungsmächte und die sich hieran anschließenden deutsch-alliierten Verhandlungen bis hin zur Verabschiedung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949.

§ 1 Konkurrierende Gesetzgebung in der deutschen Verfassungstradition Die in den Art. 70 ff. GG niedergelegte Aufteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes in ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung sowie Rahmengesetzgebung1 ist keine verfassungsrechtliche Neuschöpfung des

1

Ferner kennt das GG noch die sog. Grundsatzgesetzgebung (vgl. Art. 91 a Abs. 2 Satz 2, Art. 109 Abs. 3, Art. 140 i. V. m. Art. 138 Abs. 1 Satz 2 WRV), die sich, abge2*

20

Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Grundgesetzes, sondern knüpft an die deutsche Verfassungstradition seit 1849 an.

I. Frankfurter Reichs Verfassung von 1849 So findet sich - bislang kaum beachtet - bereits in der gescheiterten Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 (FRV) 2 eine Differenzierung zwischen ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten des Reiches und solchen Zuständigkeiten, die nur bei einem Zugriff des Reichsgesetzgebers der Kompetenz der Einzelstaaten enthoben werden sollten. Allerdings waren die im Abschnitt „Die Reichsgewalt" (§§6 ff. FRV) aufgeführten Gesetzgebungskompetenzen noch nicht entsprechend dieser Differenzierung in übersichtlicher Katalogform geordnet. Die Unterscheidung wurde stattdessen durch die Formulierung der mehr oder weniger verstreut zwischen anderweitigen Regelungen auffindbaren Kompetenztitel angezeigt: Überwiegend wurden diese mit den Worten „Das Reich (bzw. 'Die Reichsgewalt') hat das Recht der Gesetzgebung über ..." eingeleitet3, während einigen Materien die Wendung „Das Reich (bzw. 'Die Reichsgewalt') ausschließlich hat die Gesetzgebung über ..." vorangestellt 4

war. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung des § 66 FRV aufschlußreich: „Reichsgesetze gehen den Gesetzen der Einzelstaaten vor, insofern ihnen nicht ausdrücklich eine nur subsidiäre Geltung beigelegt ist." Aus dieser Regelung geht indirekt hervor, daß die dem Reich zwar eröffneten, aber ihm nicht ausschließlich zugewiesenen Materien im Falle der Untätigkeit des Reichsgesetzgebers der Gesetzgebung der Einzelstaaten überlassen bleiben sollten. Andernfalls hätte sich nämlich die durch § 66 FRV beantwortete Konkurrenzfrage nicht gestellt. Es handelte sich demnach bei den einfachen Reichskompetenzen in der Sache bereits um echte „konkurrierende" Gesetzgebung entsprechend dem heutigen verfassungsrechtlichen Verständnis. Darüber hinaus finden sich in der Frankfurter Reichsverfassung bei einigen Kompetenzzuweisungen zusätzliche einschränkende Voraussetzungen: In den §§28 und 31 FRV wurde dem Reich die Gesetzgebung über das Eisenbahnwe-

sehen von der Unanwendbarkeit des Art. 72 Abs. 2 GG, nur terminologisch von der Rahmengesetzgebung unterscheidet, vgl. hierzu Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 g. 2 Abgedr. in: Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 304 ff. 3 So etwa in §§ 24, 28, 31, 38, 41 u. 47 FRV; ähnliche, sachlich gleichbedeutende Formulierungen in §§ 56, 57, 58, 59, 64 FRV. 4 Hervorh. v. Verf.; vgl. etwa §§ 13, 34, 40, 45 FRV.

§ 1 Konkurrierende Gesetzgebung in der deutschen Verfassungstradition

21

sen und die Landstraßen lediglich zugestanden, „soweit es der Schutz des Reiches oder das Interesse des allgemeinen Verkehrs erheischt". Eine ähnliche Formulierung wurde im § 62 FRV verwendet, der folgenden Wortlaut hatte: „Die Reichsgewalt hat die Gesetzgebung, soweit es zur Ausführung der ihr verfassungsmäßig übertragenen Befugnisse und zum Schutze der ihr überlassenen Anstalten erforderlich ist." Hier taucht der Gedanke der Erforderlichkeit auf - der bis heute unter den Wesensmerkmalen der konkurrierenden Gesetzgebung meistdiskutierte Begriff. Die Erforderlichkeitsklausel des § 62 FRV fungierte jedoch keineswegs als Beschränkung der dem zentralstaatlichen Gesetzgeber zugewiesenen Einzelkompetenzen, sondern bezeichnete die Voraussetzung fur eine zusätzliche, das Kompetenzsystem überlagernde Generalklausel. 5 Letztere war geeignet, die verfassungsmäßige Enumeration der Reichszuständigkeiten in ihrer Funktion als Sicherung der einzelstaatlichen Gesetzgebung zu relativieren, wenn nicht gar zu entwerten, denn das Reich konnte hiernach, soweit „erforderlich", in beinahe beliebigem Umfang zusätzliche Kompetenzen in Anspruch nehmen.

I I . Reichsverfassung von 1871 Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 18716 enthielt in ihrem Art. 4 erstmals eine Aufzählung von Reichskompetenzen in Form eines Katalogs, wie ihn das Grundgesetz in Art. 73, 74, und 75 beinhaltet. Dieser Katalog wurde eingeleitet mit den Worten: „Der Beaufsichtigung seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen die nachstehenden Angelegenheiten:..." Daneben finden sich jedoch an verstreuten Stellen quer durch die Reichsverfassung 1871 zahlreiche weitere Kompetenztitel. Über lediglich zwei Materien wurde dem Wortlaut nach - entsprechend der Handhabung in der Frankfurter Reichsverfassung - die Gesetzgebungszuständigkeit dem Reich „ausschließlich" eingeräumt. 7 Aber auch unter den übrigen dem Reich zustehenden Kompetenzen befanden sich solche, die der Landesgesetzgebung begriffsnotwendig verschlossen blieben, bei denen es sich mithin ebenfalls um ausschließliche Reichsgesetzgebung handelte.8 Insoweit war auch der besagte Katalog des Art. 4 keineswegs homogen.

5

Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 824. Abgedr. in: Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 289 ff. 7 Art. 35 Abs. 1 u. Art. 52 Abs. 2 u. 3 Reichsverfassung 1871. 8 So ζ. B. bei der Gesetzgebung über „das Militairwesen des Reichs und die Kriegsmarine" (Art. 4 Nr. 14) oder die „Organisation eines gemeinsamen Schutzes des 6

22

Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Zur Bezeichnung der dem Reichsgesetzgeber nicht ausschließlich zugewiesenen Gebiete bürgerte sich in der Literatur der Begriff der „fakultativen " Gesetzgebungszuständigkeit ein. 9 Der Betätigungsraum fur die Einzelstaaten auf diesem Feld der Gesetzgebung wurde - wiederum indirekt - durch die Grundsatzregelung des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 der Reichsverfassung 1871 bestätigt, die in Anlehnung an den erwähnten § 66 der Frankfurter Reichsverfassung 10 bestimmte: „Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen." Im übrigen wurde auf eine Generalklausel zugunsten des Reichsgesetzgebers, wie sie die Frankfurter Verfassung von 1849 in Gestalt des § 62 FRV enthalten hatte, verzichtet.

I I I . Weimarer Reichsverfassung Durch die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 (WRV) wurde die Differenzierung zwischen ausschließlicher und fakultativer Gesetzgebungszuständigkeit im Prinzip übernommen. Lediglich die Terminologie erfuhr eine Modifizierung, indem durch die Staatsrechtslehre anstelle des Begriffs der „fakultativen" Zuständigkeit die bis heute beibehaltene Bezeichnung „konkurrierende Gesetzgebung" etabliert wurde. 11 In den Wortlaut der Verfassung sollte dieser Begriff allerdings erst mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 Einzug halten. 12 Im Gegensatz zu den früheren Reichsverfassungen war in der WRV erstmals eine grundsätzliche Bestimmung zur Abgrenzung der legislativen Kompetenzarten ausdrücklich niedergelegt. Art. 12 Abs. 1 WRV lautete: „Solange und soweit das Reich von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht, behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung. Dies gilt nicht für die ausschließliche Gesetzgebung des Reiches."

Deutschen Handels im Auslande" (Art. 4 Nr. 7); näher Laband, Staatsrecht, Bd. 2, S. 121. 9 Vgl. Laband, a. a. O., S. 120, 122; Rengeling in: HStR IV, § 100, Rn. 42; Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 a. 10 Vgl. oben I. 11 Vgl. Anschütz, WRV, Art. 7, Anm. 1; Lassar in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 305; Poetzsch-Hejfter, WRV, Vorbem. 1 zu Art. 6-12; Stern, a. a. O. 12 Insoweit mißverständlich Rengeling in: HStR IV, § 100, Rn. 43 („... spricht die Weimarer Verfassung ... von einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz [Art. 7-11 WRV]").

§ 1 Konkurrierende Gesetzgebung in der deutschen Verfassungstradition

23

Die Formulierung des Satzes 1 entspricht prinzipiell der bis heute gültigen Definition, wie sie Art. 72 Abs. 1 des Grundgesetzes enthält. Eine weitere Annäherung an das Grundgesetz bestand darin, daß in der WRV die einzelnen Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung erstmals in klarer Systematik geordnet waren. Die Kataloge der Art. 7 bis 11 WRV standen in klarer Abgrenzung dem Katalog der ausschließlichen Gesetzgebung gemäß Art. 6 WRV gegenüber. 13 Die Aufteilung der konkurrierenden Kompetenz auf mehrere Artikel hatte den Zweck, für einige ihrer Materien besondere Einschränkungen zu Lasten des Reichsgesetzgebers vornehmen zu können. Während die meisten Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung in den einschränkungsfreien Art. 7 und 8 WRV aufgelistet waren, faßte man eine Reihe weiterer Gegenstände unter die Kataloge der „Bedarfsgesetzgebung" (Art. 9 WRV) und der „Grundsatzgesetzgebung" (Art. 10 u. 11 WRV). Hiernach unterschied die WRV also insgesamt vier verschiedene Arten der Reichskompetenz: - die ausschließliche Gesetzgebung, - die (unbedingt) konkurrierende Gesetzgebung, - die (bedingt) konkurrierende Bedarfsgesetzgebung und - die (bedingt) konkurrierende Grundsatzgesetzgebung. Im Rahmen der Bedarfsgesetzgebung gemäß Art. 9 WRV war die Inanspruchnahme eines der dort aufgeführten konkurrierenden Kompetenztitel nur erlaubt, „soweit ein Bedürfnis für den Erlaß einheitlicher Vorschriften" gegeben war. Es handelte sich also um eine Einschränkung des Reichsgesetzgebers mit ähnlicher Zielrichtung, wie sie im Grundgesetz des Jahres 1949 mit der sogenannten Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG zu Lasten des Bundesgesetzgebers normiert wurde. 14 Der Katalog der Weimarer Bedarfsgesetzgebung enthielt freilich nur zwei, allerdings sehr weit gefaßte Kompetenztitel, und zwar „die Wohlfahrtspflege" sowie „den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit". Die Entscheidung über das „Bedürfnis" wurde von der seinerzeit herrschenden Auffassung 15 in das gerichtlich nicht überprüfbare politische Ermessen des Reichsgesetzgebers gestellt. Bei der Grundsatzgesetzgebung gemäß Art. 10 und 11 WRV durfte das Reich nur „ i m Wege der Gesetzgebung Grundsätze" über die dort aufgeführten Gegenstände erlassen. Im Ergebnis bedeutete dies eine Einschränkung nach

13

Näher Anschütz, a. a. O. Maunz (in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 16) bezeichnet deshalb auch die konkurrierende Gesetzgebung des GG als „konkurrierende Bedarfsgesetzgebung". 15 Anschütz, WRV, Art. 9, Anm. 1; Lassar in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 307. 14

24

Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Regelungsdichte, -ausmaß und -Intensität hinsichtlich der betreffenden Materien und entsprach somit weitgehend der heutigen Rahmengesetzgebung gemäß Art. 75 GG. 16 Der Parlamentarische Rat war nach alledem bei den Beratungen zum Grundgesetz nicht gezwungen, hinsichtlich der Regelung der Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat verfassungsrechtliches Neuland zu betreten, sondern er konnte sich an einem bereits weit entwickelten und erprobten Modell abgestufter Zuständigkeiten orientieren.

§ 2 Auftrag des Frankfurter Dokuments Nr. 1 Als Ausgangspunkt der Schaffung des Grundgesetzes und damit auch der Entstehungsgeschichte des Art. 72 darf der 1. Juli 1948 genannt werden. An diesem Tag übergaben in Frankfurt die Militärgouverneure der drei Westalliierten, die Generale Clay (USA), Koenig (Frankreich) und Robertson (Großbritannien), an die Regierungschefs der in den westlichen Besatzungszonen liegenden deutschen Länder drei Dokumente, die als „Frankfurter Dokumente" ihren Platz in der Geschichte gefunden haben.17 Sie bildeten das wichtigste politische Ergebnis der am 2. Juni 1948 zu Ende gegangenen Londoner SechsMächte-Konferenz, auf der die drei westlichen Siegermächte unter Beteiligung der drei Benelux-Staaten die wesentlichen Vorgaben für die Zukunft Westdeutschlands als eigenständiges Staatswesen erarbeiteten. 18 Wichtigstes und für Deutschland folgenreichstes dieser Dokumente war das Dokument Nr. 1. Hierin wurden die Regierungschefs der westdeutschen Länder ermächtigt, eine „Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen, die spätestens zum 1. September 1948 zusammentreten sollte. Mit dieser Aufforderung zur Schaffung einer Verfassung für den westlichen Teil Deutschlands war der Weg zur Bildung eines selbständigen, in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien integrierbaren Staates vorgezeichnet. Eine gesamtdeutsche Lösung schien zu diesem Zeitpunkt aufgrund des sich stetig verschärfenden politischen Ost-West-Konfliktes - wie man auch auf Seiten der deutschen Politik nach langen Kontroversen schließlich konzedierte - zumindest auf absehbare Zeit undenkbar. 19 16

Vgl. Anschütz, WRV, Art. 10/11, Anm. 1; Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 a und f. Wortlaut der Frankfurter Dokumente abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 1, Dok. Nr. 4, S. 30 ff.; zur Übergabe der Dokumente und ihrem historischen Hintergrund näher Lange; Menschenwürde, S. 2 ff. 18 Lange, a. a. Ο. 19 Lange, a. a. Ο.; Wilms , Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, Teil 1, Kap. B. 17

§ 2 Auftrag des Frankfurter Dokuments Nr. 1

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Dokument Nr. 1 war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen der Position der Franzosen, die zur Befriedigung des eigenen Sicherheitsbedürfnisses einen extrem dezentralisierten und damit politisch und ökonomisch schwachen westdeutschen Staat anstrebten, und der Position der USA, die mit Blick auf die Entwicklung im Osten eine stabile und bestandsfähige staatliche Lösung erreichen wollten. 20 Da man übereingekommen war, daß die institutionelle Ausgestaltung der Verfassung weitgehend der deutschen Politik überlassen bleiben sollte, um nicht die künftige Verfassung in den Augen der westdeutschen, vor allem aber auch der ostdeutschen Bevölkerung von vornherein als alliiertes Diktat zu diskreditieren, wurden in Dokument Nr. 1 nur die folgenden, sehr allgemein gehaltenen inhaltlichen Anforderungen aufgestellt: „Die Verfassunggebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform desföderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält."21 Dies waren allesamt Gesichtspunkte, die auch innerhalb der deutschen Politik zumindest im Grundsatz kaum umstritten waren 22 , so daß hiervon eine wirkliche inhaltliche Einflußnahme der Alliierten (noch) nicht ausging. Jedoch sollte sich erweisen, daß in der Beurteilung der aus diesen Grundanforderungen abzuleitenden Konsequenzen, insbesondere hinsichtlich der Verwirklichung des Merkmals „Föderalismus", stark differierende Vorstellungen zutage treten würden. 23 Die Unbestimmtheit der Formulierungen im Dokument Nr. 1 verdeutlichte schließlich auch die Differenzen zwischen den jeweiligen Verfassungsvorstellungen der in London vertretenen Mächte, weil sie Ausdruck des kleinsten gemeinsamen Nenners ist, der auf der Sechs-Mächte-Konferenz erzielbar war. Die gemäß dem Frankfurter Dokument Nr. 1 termingerecht am 1. September 1948 in Bonn feierlich konstituierte Versammlung, deren 65 stimmberechtigte Mitglieder 24 durch die westdeutschen Landtage aus deren Mitte gewählt worden waren, erhielt entsprechend einem Wunsch der Ministerpräsidentenkonferenz die gegenüber dem Dokument Nr. 1 abgeänderte Bezeichnung „Parlamentarischer Rat". 20

Vgl. Lange, Menschenwürde, S. 3. Der Pari. Rat, Bd. 1, Dok. Nr. 4, S. 30 ff. [31]. 22 Dies gilt insbes. auch für die föderative Ordnung, vgl. Stern, Staatsrecht I, § 19 III 1; vgl. dazu beispielhaft die Ausführungen des Abgeordneten Adolf Süsterhenn (CDU) im Plenum des Pari. Rates, 2. Plenarsitzung am 08.09.1948, Sten. Berichte, S. 7 ff. [17 ff.]. 23 Überblick hierzu bei Pfeiffer, DÖV 1948, 89 [90]. 24 Zusätzlich nahmen 5 Abgeordnete aus Berlin in beratender Funktion teil. 21

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Von höchster Bedeutung im Rahmen der Entstehung des Art. 72 wie auch des bundesstaatlichen Systems des Grundgesetzes insgesamt ist jedoch zunächst ein anderes Gremium:

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee Im Anschluß an die Übergabe der Frankfurter Dokumente wurde von den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder eine Verfassungskonferenz einberufen, die vom 10. bis zum 23. August 1948, also unmittelbar vor dem Zusammentreten des Parlamentarischen Rates, im Schloß auf der Herreninsel im Chiemsee tagte. Diese Zusammenkunft fand als „Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee" ihren Platz in der Geschichte des deutschen Staatsrechts.25 Dabei handelte es sich um eine Runde von 22 in Verfassungsfragen sachkundigen Politikern und Juristen aus allen westdeutschen Ländern sowie aus Berlin, darunter so bedeutende politische Persönlichkeiten wie der Leiter der bayerischen Staatskanzlei und spätere CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Parlamentarischen Rat, Anton Pfeiffer (CSU) 26 , der Justizminister des Landes WürttembergHohenzollern und spätere Chef der SPD-Ratsfraktion, Prof. Carlo Schmid, sowie der Leiter der hessischen Staatskanzlei, Hermann Brill (SPD). 27

I. Aufgabe und Bedeutung des Konvents Der Herrenchiemsee-Konvent wurde mit der Aufgabe betraut, einen Entwurf für das Grundgesetz auszuarbeiten, um so dem Parlamentarischen Rat eine erste Diskussionsgrundlage zu liefern. Auf diese Weise wollte man sich seitens der Länderregierungen einen gewissen Einfluß auf die bevorstehende Verfassungsdebatte sichern. Die bayerische Regierung hatte sogar ursprünglich die Absicht verfolgt, auf Herrenchiemsee ein Dokument vom Charakter einer Regierungsvorlage der Länder zu verabschieden, konnte sich jedoch hiermit nicht durchsetzen. 28 Sowohl unter den Ministerpräsidenten als auch unter den Teilnehmern des Konvents wurde Einigkeit darüber erzielt, daß der auf Herrenchiemsee zu erarbeitende Entwurf keine verbindlichen Vorgaben aufstellen sollte, die die Entschlußfreiheit des Parlamentarischen Rates begrenzt hätten.29 25 Vollständige Sammlung des überlieferten Materials zum HerrenchiemseeKonvent in: Der Pari. Rat, Bd. 2; ausfuhrlicher historischer Überblick ebenda, S. VII ff. 26 Pfeiffer oblagen die organisatorische Vorbereitung und die Leitung der Tagung, vgl. Der Pari. Rat, Bd. 2, S. XI, LXVI. 27 Personalien zu den einzelnen Konventsteilnehmem a. a. O., S. XI ff. 28 Lange, Menschenwürde, S. 14. 29 Vgl. Der Pari. Rat, Bd. 2, S. CXV ff.

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

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Schon aufgrund der Einsetzungsmodalitäten waren auf dem Herrenchiemsee-Konvent die Interessen der Länder gegenüber den potentiellen Interessen des noch zu organisierenden Bundes eindeutig überrepräsentiert. Da es die Ministerpräsidenten der Länder waren, die den Konvent konstituierten, überrascht es kaum, daß selbst von sozialdemokratischer Seite ausschließlich solche Vertreter entsandt wurden, die persönlich eine eher föderalistische denn zentralistische Grundhaltung einnahmen.30 Letzteres gilt auch für den maßgeblichen Vertreter der Sozialdemokratie auf Herrenchiemsee, Carlo Schmid, der sich mit seinem klaren Bekenntnis zu einem gemäßigten Föderalismus in einen Gegensatz zu der vom SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher verkörperten, zentralistisch ausgerichteten Parteilinie begeben hatte.31 Erst recht gilt es natürlich für die übrigen Delegierten aus den süddeutschen Ländern, unter denen sich in Gestalt des erwähnten Anton Pfeiffer (CSU) sowie Josef Schwalber (CSU) 32 und Paul Zürcher (Badische CSV) 3 3 Persönlichkeiten befanden, die eine extrem föderalistische - ansatzweise bereits separatistische - Politik vertraten. 34 Insgesamt dominierten die süddeutschen Vertreter die Beratungen. 35 Vor allem Pfeiffer nutzte seine starke Stellung als organisatorischer Leiter des Verfassungskonvents zur umfassenden inhaltlichen Einflußnahme, um bis hin zur Abfassung des Schlußberichts strikt auf die Verwirklichung der bayerischen politischen Ziele hinzuwirken. 36 Zudem brachten die bayerischen Vertreter, um die Verhandlungen in ihrem Sinne zu steuern, einen von der bayerischen Staatsregierung erarbeiteten vollständigen Verfassungsentwurf in die Beratungen ein. 37 Mangels ausformulierter Alternativvorschläge wurde dieser Entwurf meist zwangsläufig zum Leitfaden der Diskussion. 30

Vgl. Personalien, a. a. O, S. XI ff.; ferner S. CVI. A. a. O., S. XXI, XXIII, XXXV ff. 32 Leiter der bayerischen Delegation. 33 Vertreter des Landes Baden. 34 Vgl. zu Pfeiffer a. a. O, S. XI-XIV; zu Zürcher a. a. O., S. XXIII f.; ferner Schwalbers Erläuterungen zum bayerischen Standpunkt bezüglich der Bundesorganisation, a. a. O., Dok. Nr. 12, S. 364 ff. [389 ff.]. 35 A. a. O., S. CHI, CXIV. 36 A. a. O., S. CVIII f.; Prof. Carlo Schmid (SPD) sah sich nach der ersten Aussprache über Kompetenzfragen angesichts der auf dem Konvent dominierenden Grundhaltung zu der Bemerkung veranlaßt: „Es ist mir bei der Debatte noch aufgefallen, daß man so gesprochen hat, als wären die Länder in diesen Dingen grundsätzlich gut und der Bund böse. Herr Küster sprach davon, man müsse besonders vorsichtig sein, und zwar mit dem Akzent, als wollte er sagen: Wer weiß, was der Bund mit diesen Rechten anfangt! Die Länder aber fangen damit grundsätzlich nur Gutes an, ihnen kann man das anvertrauen. Ich weiß nicht, ob wir von dieser Gemütslage aus zu den Fragen Stellung nehmen sollen. Ich glaube, hier halten sich Gut und Böse einigermaßen die Waage." (a. a. O., Dok. Nr. 3, S. 66 ff. [123]). 37 „Bayerischer Entwurf eines Grundgesetzes für den Verfassungskonvent", abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 1, S. 1 ff. 31

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Als Ergebnis seiner Arbeit legte der Verfassungskonvent einen Bericht vor, der einen artikulierten und zudem teilweise kommentierten Entwurf eines Grundgesetzes enthielt (fortan als „HChE" bezeichnet) 38 . Darüber hinaus wurden in einem „Darstellenden Teil" die Probleme hinsichtlich der einzelnen Abschnitte der Verfassung erläutert. Bezüglich solcher Materien, über die eine Einigung nicht herbeigeführt werden konnte, wurden Mehrheitsentscheidungen und abweichende Minderheitsstandpunkte oder auch gleichzuordnende Alternativlösungen jeweils gesondert dargestellt. 39 Es bestand also kein Zwang zum Konsens, wodurch der Bericht einen außerordentlich hohen Dokumentationswert verkörpert. Der Einfluß des HChE auf die nachfolgende Arbeit des Parlamentarischen Rates war sehr groß, denn der Entwurf wurde von den Ausschüssen des Parlamentarischen Rats oftmals als wichtigste Arbeits- und Formulierungsgrundlage verwendet. Dadurch ergab sich geradezu zwangsläufig, daß der HChE weitgehend die Struktur und vielfach auch den Inhalt des Grundgesetzes vorwegnahm. 40 Insbesondere im Hinblick auf das System der Gesetzgebungszuständigkeiten darf die Feststellung getroffen werden, daß die wesentlichen Weichenstellungen für die entsprechenden Regelungen des Grundgesetzes schon auf Herrenchiemsee erfolgten. Deshalb verdient der Verlauf jener Konferenz innerhalb der hier anzustellenden entstehungsgeschichtlichen Betrachtung besondere Aufmerksamkeit. I I . Meinungsbildung und Ergebnisse zur konkurrierenden Gesetzgebung Für die Erörterung der einzelnen Regelungsgegenstände der zu entwerfenden Verfassung bildete der Konvent drei Unterausschüsse. Mit der Kompetenzverteilung befaßte sich der Unterausschuß I I (Unterausschuß für Zuständigkeitsfragen) 4 1 Zu Sitzungsbeginn lagen diesem Ausschuß bereits zwei Unterlagen vor, die jeweils ausformulierte Vorschläge für die einschlägigen Verfassungsartikel enthielten: /. Entwurf der bayerischen Staatsregierung Zum einen existierte der bereits erwähnte bayerische Verfassungsentwurf. Zum anderen hatte der Vertreter Bayerns im Unterausschuß, Ottmar Kollmann, 38

„Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948", abgedr. a. a. O, Dok. Nr. 14, S. 504 ff. 39 Vgl. a. a. O., S. 505. 40 Vgl. die zutreffende Bewertung von Lange, Menschenwürde, S. 13. 41 Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 4, S. 136 ff. [177].

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

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zusätzliche Teilentwürfe eingebracht, die von ihm selbst in Artikel-Form ausgearbeitet worden waren und zum Teil deutlich vom offiziellen bayerischen Entwurf abwichen.42 Der bayerische Regierungsentwurf sah eine Unterteilung der Bundesgesetzgebung in einen Katalog von ausschließlichen und einen weiteren Katalog von konkurrierenden Zuständigkeiten vor. 43 Letzterer knüpfte jedoch zusätzlich an die Weimarer Tradition der Grundsatzgesetzgebung an, da er bei einigen Katalogziffern eine Beschränkung der Bundeszuständigkeit auf „Grundlagen" bzw. „Grundzüge" beinhaltete.44 Für den Gesamtbereich der konkurrierenden Zuständigkeit bestimmte Art. 4 Abs. 2 des Entwurfs: „Insolange und insoweit der Bund von dem Gesetzgebungsrecht nach Abs. 1 keinen Gebrauch macht, steht den Ländern das Recht der Gesetzgebung zu." 45 Diese Grunddefinition, die weitgehend mit dem Weimarer Vorbild (Art. 12 Abs. 1 WRV) 4 6 wie auch bereits mit dem späteren Art. 72 Abs. 1 des Grundgesetzes übereinstimmte, war im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen auf Herrenchiemsee sowie im Parlamentarischen Rat kein Gegenstand emsthafter Meinungsverschiedenheiten mehr. Zusätzliche Restriktionen bei der konkurrierenden Gesetzgebung, wie sie später in Gestalt der sogenannten Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 auftauchten, finden sich im Wortlaut des bayerischen Entwurfs dagegen nicht. Lediglich im kommentierenden Teil zu dem Entwurf war die folgende Anmerkung enthalten: „Im Rahmen ihrer Zuständigkeit regelt die Bundesgesetzgebung das, was zur Erfüllung des Bundeszwecks notwendig einheitlich für das ganze Bundesgebiet geregelt werden muß."47 2. Entwurf Ottmar Kollmann Der Kollmann-Entwurf ging in dieser Hinsicht weiter und kleidete die soeben zitierte Anmerkung in die Form eines Artikels, der mit „Grundsätze für die Gesetzgebung" überschrieben war. 48 Darüber hinaus wies Kollmann dem 42 Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 7, S. 233 ff; vgl. auch a.a.O., S. LXXXII f. 43 Vgl. Art. 3 u. 4 des bayer. Entwurfs, abgedr. a. a. Ο., Dok. Nr. 1, S. 1 ff. [2 f.]. 44 Vgl. Art. 4 Nr. 8, 9, 10 u. 11 des bayer. Entwurfs, abgedr. a. a. O., S. 3. 45 a.a.O. 46 Vgl. hierzu oben § 1. 47 Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 1, S. 1 ff. [36]. 48 Art. III Satz 1 des Kollmann-Entwurfs, abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 7, S. 233 ff. [235].

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Bund unter völligem Verzicht auf die Unterscheidung verschiedener Gesetzgebungsarten nur noch einen einheitlichen Katalog von Gegenständen zu, über die der Bund „das Recht der Gesetzgebung" haben sollte. 49 Diesem Katalog war folgende Grundnorm vorangestellt: „Die Gesetzgebung steht den Ländern zu, soweit sie nicht dem Bund übertragen ist und dieser vom Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat."50 Demnach beinhaltete der Kollmann-Entwurf im Ergebnis nur noch eine konkurrierende Gesetzgebung. Der Verzicht auf einen Bereich ausschließlicher Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes bedeutete den radikalsten Bruch mit den Zuständigkeitsregelungen der Weimarer Reichsverfassung. Insoweit erschien das Kompetenzsystem des bayerischen Regierungsentwurfs in Anbetracht der Kollmann'sehen Vorstellungen geradezu gemäßigt föderalistisch. Die Beantwortung der Frage, ob dieser Eindruck möglicherweise einer insgesamt wohlüberlegten Inszenierung der bayerischen Delegation entsprach, mit deren Hilfe die Durchsetzung des Regierungsentwurfs erleichtert werden sollte, muß dem Bereich der Spekulation überlassen werden. Gesichert ist hingegen die Erkenntnis, daß die Konzeption des bayerischen Regierungsentwurfs Unterstützung fand von Seiten des dem Unterausschuß I I als Sachverständiger angehörenden Freiburger Staatsrechtslehrers und späteren Kommentators des Art. 72 GG, Theodor Maunz. 51 Dieser hatte auf dem Konvent die Funktion des verantwortlichen Referenten für den Problemkreis Gesetzgebungszuständigkeiten inne 52 und kann somit - vor allem, wenn man die infolge des starken Zeitdrucks auf der Herrenchiemsee-Konferenz notwendige Arbeitsteilung berücksichtigt - als die für jenen Bereich zentrale Figur des Verfassungskonvents eingestuft werden. Die Annahme, daß Maunz das formulierte Ergebnis am ehesten in seinem Sinne zu gestalten vermochte, wird zudem dadurch erhärtet, daß er bei der abschließenden Aussprache im Plenum auf die Erteilung des Wortes zunächst ganz verzichten wollte, und zwar mit der Begründung, daß alles bereits in Schriftform vorliege. 53 3. Gang der Beratungen Im dem Unterausschuß, von dessen Sitzungen keine Wortlautprotokolle überliefert sind, sondern nur ein zusammenfassender Bericht 54 existiert, hatte 49 50 51 52 53 54

Art. II des Kollmann-Entwurfs, abgedr. a. a. O., S. 233 f. A. a. O., S. 233. Vgl. Der Pari. Rat, Bd. 2, S. LXXXVI. Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 13, S. 403 ff. [459]. A. a. O., S. 462 f. Bericht des Unterausschusses II, abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 9, S. 243 ff.

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

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von Anfang an Einigkeit darüber bestanden, daß man von der Viergliederung der Gesetzgebungsarten, wie sie in der WRV vorgenommen worden war (ausschließliche, konkurrierende, Bedarfs- und Grundsatzgesetzgebung), jedenfalls die beiden letztgenannten Arten nicht mehr in Form eigenständiger Kataloge in die Verfassung aufnehmen wollte. 55 Fraglich war nur, ob man noch weiter gehen und im Sinne Kollmanns nur eine einzige, als konkurrierende Zuständigkeit ausgestaltete Form der Bundesgesetzgebung übrig lassen sollte. Mit den dahingehenden Vorschlägen Kollmanns setzte man sich auseinander, wollte aber schließlich mehrheitlich nicht ganz so weit gehen. Den letztlich ausschlaggebenden Einwand brachten die norddeutschen Vertreter Fritz Baade (SPD) und Theodor Spitta ( F D P Γ vor, indem sie betonten, „für die Würde des Bundes habe es eine starke symbolische Kraft, einzelne Gesetzgebungszuständigkeiten völlig der Ländergesetzgebung zu entziehen und dadurch gegenüber sonstigen Zuständigkeiten herauszuheben", wobei sie die auswärtigen Angelegenheiten, die Staatsangehörigkeit und das Münzwesen als Beispiele nannten.58 Aus diesem Grund, so wurde argumentiert, könne zumindest auf einen kleinen Katalog der ausschließlichen Bundesgesetzgebung nicht verzichtet werden. Der Ausschuß entschloß sich deshalb dazu, in Anlehnung an den bayerischen Regierungsentwurf eine Zweigliederung der Gesetzgebungsarten vorzunehmen: Es wurde differenziert zwischen ausschließlicher Gesetzgebung und sogenannter Vorranggesetzgebung des Bundes59. Den mit einstimmigem Beschluß neu eingeführten, weil für präziser befundenen Begriff „Vorranggesetzgebung" wollte man dabei - wie der Konvent zur Vermeidung etwaiger Mißverständnisse auch in seinem abschließenden Bericht noch einmal nachdrücklich hervorhob - gleichbedeutend mit der hergebrachten Bezeichnung „konkurrierende Gesetzgebung" verstanden wissen. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß das Wort „konkurrierend" den falschen Eindruck erwecke, Bund und Länder würden in eine gleichberechtigte Konkurrenz nach dem Prioritätsprinzip treten; gerade so sei es aber nicht, sondern es bestehe bei dieser Gesetzgebungsart per definitionem eine jederzeitige Vorrangstel-

55

A. a. O., S. 246; ebenso der abschließende Bericht, a. a. Ο., Dok. Nr. 14, S. 504 ff. [525]. 56 Vertreter des Landes Schleswig-Holstein. 57 Senator und Vertreter der freien Hansestadt Bremen. 58 Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 9, S. 243 ff. [247 u. Fn. 6]; ebenso der abschließende Bericht, a. a. O., Dok. Nr. 14, S. 504 ff. [525 f.]. 59 Vgl. Art. 10-15 des Ausschußentwurfs, abgedr. a. a. Ο., Dok. Nr. 9, S. 243 ff.; Begründung a. a. O., S. 246 f. 60 A. a. Ο., S. 247 u. Fn. 5; ebenso der abschließende Bericht, a. a. Ο., Dok. Nr. 14, S. 504 ff. [525].

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

lung des Bundesgesetzgebers.61 Dieser einleuchtenden Begründung ist wenig hinzuzufügen. Der Begriff „Vorranggesetzgebung" wird dem verfassungsrechtlichen Institut in erheblich präziserer Form gerecht. 62 Er sollte sich aber letztlich nicht durchsetzen, weil er wenige Wochen vor Verabschiedung des Grundgesetzes im Frühjahr 1949 mit Rücksicht auf den Argwohn der Alliierten gegenüber zentralistischen Tendenzen, seien diese auch nur begrifflicher Natur, wieder zugunsten der alten Bezeichnung aufgegeben wurde. 63 Einige Katalogziffern der Vorranggesetzgebung wurden in Anlehnung an Art. 10 u. 11 WRV mit einer Beschränkung auf „Grundsätze" versehen. 64 Das Modell der bedürfnisbedingten Gesetzgebung entsprechend Art. 9 WRV wurde hingegen nicht mehr aufgegriffen. Für die ausschließliche Gesetzgebung und die Vorranggesetzgebung sah der Unterausschußentwurf 65 die folgenden Begriffsbestimmungen vor: „Art. 11 Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes haben die Länder nur dann die Befugnis zur Gesetzgebung, wenn sie hierzu in Bundesgesetzen ausdrücklich ermächtigt werden oder wenn ihre Gesetze lediglich den Vollzug von Bundesgesetzen zum Gegenstand haben. Art. 12 Im Bereich der Vorranggesetzgebung des Bundes behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß." Bis auf Satz 2 des Art. 12 nahmen diese Bestimmungen bereits weitgehend den Wortlaut der Art. 71 und 72 Abs. 1 des Grundgesetzes vorweg.. Auffallend, aber aufgrund der von Maunz noch unterstützten bayerischen Dominanz keineswegs überraschend ist, daß die Einschränkung des vorstehenden Art. 12 Satz 2 inhaltlich aus den beiden von bayerischer Seite vorgelegten und insoweit übereinstimmenden Entwürfen übernommen wurde. Zur Begrün-

61

A. a. O, Dok. Nr. 13, S. 403 ff. [460]. Ebenso Maunz in Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 6; Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 e; vgl. auch Badura, Staatsrecht, Kap. F, Rn. 33; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, §37 II 2 b; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 8. Aufl., Art. 72, Rn. 2; Ströfer, JZ 1979, 394 [395]. 63 Näher unten § 5 VI; femer Maunz/Zippelius, a. a. O.; Nawiasky , Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 38 u. 118. 64 Vgl. Art. 15 Nr. 6, 7a, 9, 10 u. 25 des Unterausschußentwurfs, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 9, S. 243 ff. [244 f.]. 65 A. a. O., S. 244. 66 Hervorh. v. Verf. 62

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

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dung der Art. 11 und 12 enthält der Unterausschußbericht lediglich den folgenden Satz: „Im Hinblick auf die Zweifelsfragen, die sich aus den Begriffen der ausschließlichen und der Vorranggesetzgebung ergeben, wurde es im Ausschuß als empfehlenswert bezeichnet, eine geprägte Formel in das Grundgesetz aufzunehmen, in der eine Begriffsbestimmung der ausschließlichen und der Vorranggesetzgebung gegeben werde."67 Eine kontroverse Debatte über den Inhalt der Artikel fand nicht - auch nicht während der abschließenden Aussprache im Plenum des Konvents 68 - statt. Ein Alternativvorschlag wurde ebenfalls nicht unterbreitet. Grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der konkurrierenden Gesetzgebung wurden lediglich von einem einzigen Konventsteilnehmer geäußert: Hermann Brill (SPD) befürchtete, daß der Bund von seiner Befugnis zur konkurrierenden Gesetzgebung in einem so starken Maße Gebrauch machen könnte, daß der Staatscharakter der Länder gefährdet werden könne. 69 Darüber hinaus sah Brill die Gefahr, daß der Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung durch Verfassungsänderungen erweitert werden könne. Als Konsequenz schlug er aber nicht vor, die Voraussetzungen für das Gebrauchmachen von der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis zu verschärfen, sondern er wollte einen Katalog bestimmter Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder unter eine Unveränderlichkeitssperre fallen lassen, wie sie das Grundgesetz in Gestalt des Art. 79 Abs. 3 enthält. Die überragende Mehrheit der Konventsteilnehmer lehnte jedoch diesen Vorschlag Brills nach eingehender Diskussion im wesentlichen ab, so daß Brill seinen Antrag zurückzog. 70 Somit wurden die oben wiedergegebenen Art. 11 und 12 des Unterausschußentwurfs mit unverändertem Wortlaut in den artikulierten GrundgesetzEntwurf von Herrenchiemsee - dort als Art. 33 und 34 - übernommen. 71 Ebenso machte sich der Verfassungskonvent die oben genannte, an Knappheit kaum zu überbietende Begründung des Unterausschusses durch deren wortgetreue Übernahme in seinen abschließenden Bericht zu eigen. 72 Im kommentierenden Teil des Abschlußberichtes 73 finden sich weder zu Art. 33 noch zu Art. 34 HChE irgendwelche Erläuterungen, obwohl gerade Satz 2 des Art. 34 HChE der Kommentierung bedurft hätte, weil diese Bestimmung ohne Vorbild in den früheren deutschen Verfassungen war. 67 68 69 70 71 72 73

A. a. O., S. 248. A. a. O., Dok. Nr. 13, S. 403 ff. [460 ff.]. A. a. O, S. 471, vgl. ferner a. a. O, Dok. Nr. 14, S. 504 ff. [559]. A. a. O., Dok. Nr. 13, S. 403 ff. [481]. A. a. O., Dok. Nr. 14, S. 504 ff [584]. Vgl. a. a. O., S. 526. A. a. O., S. 615 ff.

3 Neumeyer

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG I I I . Bewertung des Art. 34 HChE

Der Herrenchiemsee-Konvent unterbreitete einen Vorschlag fur die Definition der konkurrierenden Gesetzgebung, der im wesentlichen die Regelung des Art. 12 Abs. 1 WRV übernahm und noch keine dem späteren Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes entsprechende Beschränkung des Bundesgesetzgebers aufwies. Stattdessen enthielt Art. 34 HChE in seinem Satz 2 eine vergleichsweise milde, zudem als Soll-Vorschrift formulierte einschränkende Bestimmung („Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß."). Selbst diese Formulierung wäre wohl ersatzlos unterblieben, wenn nicht die von bayerischer Seite vorgelegten Entwürfe insoweit offenkundig präjudizielle Wirkung entfaltet hätten. Einer etwaigen Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht wäre die Beachtung des Art. 34 Satz 2 HChE durch den Bundesgesetzgeber ohnehin nicht zugänglich gewesen. Hiervon ging man sogar auf Seiten der bayerischen Urheber dieser Klausel nicht aus. Vielmehr wird die be wußte Ausklammerung der Justitiabilität in der vom leidenschaftlichen bayerischen Föderalisten und Konventsvorsitzenden Anton Pfeiffer vorgenommen Bewertung der Formulierung deutlich, in der es wörtlich heißt: „Außerdem stellt Art. 34 des Entwurfes ausdrücklich fest, daß hier der B u n d nur das r e g e l n s o l l , was e i n h e i t l i c h g e r e g e l t w e r d e n m u ß , ein Postulat, über dessen Einhaltung aber l e d i g l i c h der B u n d e n t s c h e i d e t ." 7 4 Gegen die Justitiabilität der Vorschrift spricht ferner eine grundsätzliche Stellungnahme im Bericht des zuständigen Unterausschusses, die anläßlich der Auseinandersetzung mit dem bei einigen Katalogziffern vorangestellten Begriff „Grundsätze" abgegeben wurde. Zur Begründung eines dem Bundesgesetzgeber einzuräumenden Ermessensspielraums bei der Auslegung dieses Begriffs heißt es: „Im Ausschuß bestand darüber Einigkeit, daß auf jeden Fall vermieden werden muß, politische Entscheidungen in die Form von Gerichtsurteilen einzukleiden."75 Im Ergebnis hatte der Herrenchiemsee-Konvent also die Vorranggesetzgebung exakt am Weimarer Vorbild der uneingeschränkten, insbesondere nicht an ein Bedürfnis gebundenen konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 7, 8 und 12 Abs. 1 WRV ausgerichtet und diese um eine nicht mehr gesondert ausgewiesene Grundsatzgesetzgebung ergänzt.

74 75

Pfeiffer, DÖV 1948, 89 [91]; Hervorhebungen im Original. Der Pari. Rat, Bd. 2, Dok. Nr. 9, S. 243 ff. [250].

§ 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

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Aus dem Ausbleiben einer Diskussion über Art. 34 HChE - etwa über weitergehende Einschränkungen, als sie in dessen Satz 2 vorgesehen waren - wird deutlich, daß offenbar unter den Konventsteilnehmern Einvernehmen darüber herrschte, daß die Voraussetzungen für die Vorranggesetzgebung (= konkurrierende Gesetzgebung) keinen geeigneten Ansatzpunkt für Bestrebungen zur Sicherung der Länderkompetenzen bildeten. Den Empfehlungen des Verfassungskonvents kommt für die Bewertung der Genese des Art. 72 GG insofern besonderes Gewicht zu, als der Verfassungskonvent schon aufgrund seiner personellen Besetzung irgendwelcher zentralistischen Tendenzen gewiß unverdächtig war. Das Übergewicht der Länderinteressen auf dem Konvent hatte im Gegenteil zur Folge, daß der auf Herrenchiemsee erarbeitete Entwurf eine dermaßen ausgeprägt föderalistische Gesamttendenz aufwies, daß die Parteiführung der SPD sich von ihm öffentlich distanzierte und seine Bedeutung für den Parlamentarischen Rat herunterzuspielen suchte.76 Umso mehr fällt auf, daß der Verfassungskonvent zur Definition der konkurrierenden Gesetzgebung eine rechtlich schrankenlose, weil nur durch die injustitiable „soft law"-Bestimmung des Art. 34 Satz 2 HChE begrenzte Regelung hervorbrachte, die im Vergleich mit der später im Grundgesetz als Art. 72 enthaltenen, durch die Bedürfnisklausel des Abs. 2 gekennzeichneten Bestimmung geradezu länderfeindlich anmutete.

IV. Reaktion der Alliierten auf die Ergebnisse des Verfassungskonvents Die Alliierten, deren Oberbefehlshabern der offizielle Bericht über den Verfassungskonvent am 10. September 1948 übersandt wurde, hielten sich mit Stellungnahmen sehr zurück - wohl nicht zuletzt deswegen, weil man in diesem frühen Stadium der Beratungen in jedem Falle vermeiden wollte, daß die westdeutsche Verfassung in den Geruch des alliierten Diktats geraten könnte. 77 Es ist jedoch aufgrund überlieferter interner Berichte von alliierten Stellen davon auszugehen, daß der auf Herrenchiemsee erarbeitete Entwurf insgesamt die Billigung der Besatzungsmächte fand. 78 Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß man sich auf alliierter Seite zu diesem Zeitpunkt, also im Sommer 1948, bei weitem noch nicht so tiefgreifend mit der westdeutschen Verfas76

Der Pari. Rat, Bd. 2, S. CXX. Vgl. a. a. O., S. CXXIV. Auf dieser Linie liegt auch eine Äußerung der britischen Militärregierung gegenüber dem Pari. Rat, wonach „nur konkrete Entscheidungen der Militärgouverneure veröffentlicht werden sollten, jedoch keine Bemerkungen, die in internen Besprechungen gefallen sind.", vgl. Drucks, des Büros der Ministerpräsidenten, Außenstelle Bad Godesberg, v. 17.09.1948, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 8, Bl. 88. 78 Vgl. Der Pari. Rat, Bd. 2, S. CXXVI ff. 77

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

sungsdebatte beschäftigte, wie dies Monate später während des Fortschreitens der Beratungen des Parlamentarischen Rates geschah. So kann es kaum verwundern, daß etliche Regelungen, die später auf alliierte Kritik stoßen sollten darunter auch der hier relevante Art. 34 HChE - , noch nicht im einzelnen beanstandet wurden. Intern wurden jedoch unter den Aliierten bereits zunehmend konkrete, zudem teilweise untereinander stark differierende Vorstellungen darüber entwikkelt, was unter dem im Frankfurter Dokument Nr. 1 verwendeten Begriff „Föderalismus" konkret zu verstehen sei und wie weit die grundsätzlich geforderte „angemessene Zentralinstanz" mit eigenen Machtbefugnissen gegenüber den Ländern ausgestattet werden sollte. Die französische Seite etwa vertrat bereits seit den ersten beiden Nachkriegsjahren in der Föderalismus-Frage zunächst extreme, erst nach und nach einer leichten Mäßigung unterliegende Positionen, die in ihrer ursprünglichen Form auf die Bildung eines bloßen Staatenbundes statt eines Bundesstaates in Deutschland hinausgelaufen wä-

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat I. Einleitende Plenarsitzungen Am 1. September 1948, wenige Tage nach der Beendigung des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee, erfolgte die Konstituierung des Parlamentarischen Rates. Zu dessen Vorsitzendem wurde aufgrund einer zuvor erfolgten interfraktionellen Absprache Konrad Adenauer gewählt. 80 Es folgte am 8. und 9. September 1948 eine wenig ins Detail gehende Generaldebatte im Plenum über die Position und Aufgabe des Parlamentarischen Rates sowie die Eckpfeiler des zu schaffenden Verfassungswerkes. Von vielen Rednern - abgesehen natürlich von den Vertretern der radikal oppositionellen KPD, die vom ersten Tag an in nahezu jeder Sitzung die sofortige Einstellung der Beratung einer westdeutschen Verfassung beantragtewurde nachdrücklich betont, daß der Parlamentarische Rat eine rein deutsche, im Verhältnis zu den Besatzungsmächten völlig frei und selbständig arbeitende Institution sei, und daß diese einen Ausdruck deutscher Volkssouveränität bil79

Vgl. Memorandum des französischen Außenministers zur Organisation einer deutschen Verfassung v. 17.01.1947, BA, Bestand Ζ 5, Anhang, Bd. 6, Bl. 8 ff.; dazu Bewertung, a. a. Ο., Bl. 25 ff., insbes. Bl. 30. 80 1. Plenarsitzung (kostituierende Sitzung) des Pari. Rates am 01.09.1948, Sten. Berichte, S. 1 ff.; Überblick zu Aufgabenstellung, Zusammensetzung, Organisation und Arbeitsweise des Pari. Rates bei Lange, Menschenwürde, S. 38 ff.

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

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de, weil sie den grundsätzlich jedem Volk gegebenen Anspruch auf politische Selbstorganisation verwirkliche. 81 In dieser Hinsicht zurückhaltender äußerte sich dagegen Prof. Carlo Schmid schon in seinem einleitenden Bericht vor dem Plenum. 82 Tatsächlich richteten die Alliierten zur Sicherstellung ihrer Präsenz während der Grundgesetzberatungen jeweils Verbindungsstäbe in Bonn ein, die sich aus - durchweg einigermaßen sachkundigen - Offizieren zusammensetzten und später zusätzlich durch zivile Experten unterstützt wurden. Die Verbindungsstäbe erhielten alle Protokolle und Drucksachen des Parlamentarischen Rates unmittelbar zugestellt und waren häufig auch persönlich bei den Beratungen 83

anwesend. In diesem Zusammenhang muß jedoch sogleich klargestellt werden, daß die Teilnahme an Beratungen ausschließlich in beobachtender Funktion erfolgte. Keinem der alliierten Vertreter wurde jemals in einer offiziellen Sitzung des Rates oder eines seiner Ausschüsse das Wort erteilt. Während der erwähnten einleitenden Veranstaltungen wurde im übrigen auf Einzelheiten des Grundgesetzentwurfs, wie etwa die Normierung der Gesetzgebungskompetenzen, allenfalls in der Form des kursorischen Überblicks eingegangen.84 Dabei gab der Abgeordnete Dr. Menzel (SPD) zu bedenken, daß man bei Verzicht auf die Regelung einer Kompetenz-Kompetenz verstärkt auf höchste Genauigkeit bei den Formulierungen der Kompetenzkataloge achten müsse, „damit später keine unnötigen Streitigkeiten entstehen, damit wir vor allem nicht jede Frage vor den künftigen Verfassungsgerichtshof bringen müssen." 85 Die Tragweite dieser zum damaligen Zeitpunkt selbstverständlichen Feststellung sollte sich erst viel später erweisen! Nach der zweitägigen Generaldebatte im Plenum stieg man umgehend in die Einzelberatungen ein, für die ein Hauptausschuß sowie insgesamt sieben Fachausschüsse gebildet wurden. Später kam noch ein „Allgemeiner Redaktionsausschuß" für die redaktionelle Koordinierung der Arbeitsergebnisse hinzu. Am 20. und 21. Oktober 1948 fanden unterdessen noch zwei weitere Plenarsitzungen statt, in denen eine Aussprache zu verschiedenen Fragen des

81 Lange, a. a. O., S. 16; beispielhaft sind der Auszug aus der Eröffnungsrede Adenauers am 01.09.1948 (Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 4) sowie der Bericht Süsterhenns vor dem Plenum (a. a. O., S. 17 ff.); ferner Bericht des Abgeordneten Dr. Schwalber (SPD) vor dem Plenum (a. a. O., S. 34). 82 Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 8 ff. 83 Lange, a. a. O., S. 46. 84 Vgl. etwa die Ausführungen Dr. Menzels (SPD) über die „Klassifizierung der Gesetzgebung" (Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 32) sowie diejenigen Dr. Schwalbers (CSU) über die „Kompetenzabgrenzung" und die „Vorranggesetzgebung" (a. a. O., S. 37). 85 A. a. O., S. 32.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Grundgesetzes erfolgte. 86 Diese beiden Sitzungen wurden außerplanmäßig auf Antrag der SPD einberufen, um die bislang wenig interessierte Öffentlichkeit stärker an den Beratungen des Parlamentarischen Rates teilhaben zu lassen.87 Sie wurden nachträglich als „Erste Lesung" im Plenum behandelt88, obwohl hierbei nicht alle Aspekte des Grundgesetzes erörtert wurden, sondern lediglich die Präambel, die Gestaltung der Länderkammer, Finanzfragen und ferner das Wahlrecht. Eine nach Artikeln gegliederte Debatte fand dagegen nicht statt. Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen wurde überhaupt nicht angesprochen, weil man diesen Spezialfragen offenbar wenig öffentliches Interesse beimaß und daher eine Debatte im Plenum nicht für notwendig hielt. Weitere Erörterungen im Plenum des Parlamentarischen Rates unterblieben zunächst. Die nächste Plenarsitzung, die sich mit dem Grundgesetz befaßte, wurde erst am 6. Mai 1949, also mehr als 6 Monate später, abgehalten.89 In den Mittelpunkt trat zunächst die Arbeit in den Fachausschüssen, von denen für die vorliegende Betrachtung allein der Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung relevant ist.

I I . Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung Die konstituierende Sitzung des Ausschusses für Zuständigkeitsabgrenzung (fortan als Zuständigkeitsausschuß bezeichnet)90, dem unter anderem die Beratung des Problemkreises Gesetzgebungszuständigkeiten oblag, fand am 15. September 1948 statt. Der Zuständigkeitsausschuß machte den Entwurf von Herrenchiemsee weitestgehend zur Grundlage seiner Arbeit. 91 Diese enge Anlehnung führte nicht nur dazu, daß die dort beschlossene Zweigliederung der Gesetzgebungsarten (ausschließliche Gesetzgebung und Vorranggesetzgebung) beibehalten wurde,

86

6. und 7. Plenarsitzung des Pari. Rates am 20. und 21.10.1948, a. a. O., S. 69 ff. Vgl. die Begründung von Prof. Carlo Schmid (SPD) für den SPD-Antrag auf Einberufung der Plenarsitzung (a. a. O., S. 69 f.); zu den Hintergründen der Interesselosigkeit der Öffentlichkeit im Hinblick auf die Entstehung des Grundgesetzes Lange, a. a. O., S. 46 u. 58 ff. 88 So ausdrücklich der Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 18.02.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 121, Bl. 43 ff. [47]; vgl. ferner die Einteilung der Beratungsgegenstände im Inhaltsverzeichnis zu: Pari. Rat, Sten. Berichte. 89 9. Plenarsitzung des Pari. Rates am 06.05.1949, Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 169 ff; in der Zwischenzeit wurde lediglich noch eine Sitzung zum Wahlgesetz abgehalten, vgl. 8. Plenarsitzung des Pari. Rates am 24.02.1949, a. a. O., S. 125 ff. 90 Vollständige Sammlung der Sitzungsprotokolle in: Der Pari. Rat, Bd. 3. 91 Vgl. hierzu a. a. O., Dok. Nr. 1, S. 1 ff. [2]; Dok. Nr. 2, S. 4 ff. [5]; Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [42]; Zusammenfassung a. a. O., S. XVII. 87

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sondern wurde auch bei der Formulierung der Grundsatznorm zur Vorranggesetzgebung deutlich, fur die man Art. 34 HChE schlicht übernahm. Eine weitere inhaltliche Diskussion des Artikels fand während der im Zuständigkeitsausschuß abgehaltenen Beratungen nicht statt. Die „Aussprache" in erster Lesung beschränkte sich ausweislich des Protokolls der 2. Sitzung auf den folgenden Satz des Ausschußvorsitzenden: „Vors. [Wagner]: .... Ich darf wohl feststellen, daß wir uns über den Inhalt der Artikel 33 und 34, die eine Definition dessen bedeuten, was man unter ausschließlicher Gesetzgebung und Vorranggesetzgebung versteht, einig sind. Die Definitionen entsprechen unserer Auffassung. (Zustimmung)"92 Gemeint waren die Art. 33 und 34 HChE 93 , die daraufhin mit unverändertem Wortlaut und gleicher Numerierung in den Entwurf des Zuständigkeitsausschusses eingefügt wurden. 94 Damit hatte man zugleich auch die auf Herrenchiemsee eingeführte neue Bezeichnung „ Vorranggesetzgebung", über die ebenfalls nicht mehr debattiert wurde, gebilligt. Die zweite Lesung der Art. 33 und 34 in der 12. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses erschöpfte sich darin, daß die Artikel noch einmal kommentarlos verlesen und gebilligt wurden. 95 Somit blieb auch der Zuständigkeitsausschuß nähere Erläuterungen zu der in Art. 34 Satz 2 enthaltenen Einschränkung („Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß.") schuldig. Jedoch kann aus diversen Äußerungen von Ausschußmitgliedern während der Erörterung der einzelnen Materien der Vorranggesetzgebung indirekt der Schluß gezogen werden, daß man Art. 34 Satz 2 jedenfalls nicht als juristisch wirksame Einschränkung der Bundeskompetenz ansah oder verstanden wissen wollte. Insbesondere bei der Diskussion über die Bundeskompetenzen für die öffentliche Fürsorge und das Flüchtlingswesen96 sowie über die Polizeikompetenzen97 kam die Prämisse zum Ausdruck, daß der Bund, sobald ihm ein konkurrierender Kompetenztitel zustünde, die Materie nach seinem freien Ermessen zu hundert Prozent ausfüllen dürfe. 98 92

A. a. O., Dok. Nr. 2, S. 4 ff. [17 f.]. Vgl. oben § 3 II. 94 Vgl. Art. 33 u. 34 nach dem Stand der Ausschußberatungen v. 08.10.1948, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 3, Dok. Nr. 12, S. 428 ff. [429]. 95 A. a. O., Dok. Nr. 14, S. 482 ff. [503]; vgl. Art. 33 u. 34 i. d. F. der zweiten Lesung des Zuständigkeitsausschusses, Stand v. 14.10.1948, abgedr. a. a. Ο., Dok. Nr. 15, S. 528 ff [529]. 96 A. a. O., Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [76 ff.]. 97 A. a. O., Dok. Nr. 5, S. 173 ff. [174 ff.]. 98 Vgl. insbesondere a. a. O, Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [86 u. 90]; Dok. Nr. 5, S. 173 ff. [186 u. 193]. 93

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Deshalb wurde bei besonders strittigen Gegenständen bisweilen erwogen, besondere Einschränkungen innerhalb der jeweiligen Katalogziffer zu formulieren. So schlug der Abgeordnete Blomeyer (CDU) für Ziffer 11 des Kataloges 99

der Vorranggesetzgebung die folgende Fassung vor: „Land- und Forstwirtschaft, soweit die einheitliche Förderung von Pflanzenbau und Tierzucht, die Sicherung der Ernährung und die Ein- und Ausfuhr Bundesgesetze erfordern." 100 Hinsichtlich der Effizienz einer derartigen Einschränkung erhob jedoch der bayerische Abgeodnete Dr. Laforet (CSU) sogleich den resignierenden Einwand: „'Soweit ... Bundesgesetze erfordern'. Diese Worte setzen den Bund bei der Vorranggesetzgebung in die Lage, eine Tätigkeit der Länder auszuschließen, und zwar nach Ermessen des Bundes, denn ob ein Bundesgesetz erforderlich ist, entscheidet allein der Bund."101 Mit der gleichen Begründung hatte Dr. Laforet zuvor bereits die Wiederbelebung der Bedarfsgesetzgebung nach Weimarer Vorbild abgelehnt: „Denn das war doch ein Schwimmen. Denn über den Bedarf hat der befunden, der die Kompetenz hatte. Das ist genau so wie die Anwendung des Begriffs 'soweit erforderlich'; denn über die Erforderlichkeit befindet nicht etwa das Verfassungsgericht, sondern allein der Gesetzgeber."102 Der Abgeordnete Dr. Strauß (CDU) lehnte den für Ziffer 11 vorgeschlagenen Erforderlichkeitszusatz ebenfalls ab, aber aufgrund gegenläufiger Erwägungen: „... die Schwierigkeit besteht darin, in einem Katalog die Vorranggesetzgebung so konkret auszudrücken, daß später nicht ein Streit zwischen Bund und Ländern entsteht, den dann ein unglücklicher Verfassungsgerichtshof zu schlichten berufen wäre. Das ist der Grund, weshalb ich so schwere Bedenken gegen die Formulierung von Herrn Blomeyer habe, daß wir in den Vorrangkatalog den 'Soweit-Satz' hereinbringen. Es wird eine ständige Quelle von Streitmöglichkeiten entstehen, wenn überhaupt eine Vorlage an den Bundesrat oder Bundestag kommt. Dieser Streit kann auch nachträglich entstehen, indem ein Land den Verfassungsgerichtshof anruft, der dann in einer ganz fürchterlichen Lage ist, hier einen Maßstab rechtlicher Art zu finden, um zu sagen, hier ist es erforderlich, hier sind es politische oder wirtschaftspolitische Entscheidungen, aber keine rein rechtsmäßigen."103

99

Später in Art. 74 Nr. 17 GG geregelt. Der Pari. Rat, Bd. 3, Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [370]. 101 A. a. 0.,S. 371. 102 A. a. O., Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [78]. 103 A. a. O., Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [375]. 100

§4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

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Mit diesen Einwänden setzte sich Dr. Strauß durch. 104 Der Ausschuß war sich einig, daß jedenfalls das Bundesverfassungsgericht mit dem Problem der Abgrenzung der konkurrierenden Kompetenz nicht behelligt werden sollte. War man demnach wegen möglicher Unwägbarkeiten bei der Auslegung schon bei einer einzigen Katalogziffer nicht bereit, eine Erforderlichkeitsklausel aufzunehmen, so kann daraus gefolgert werden, daß man umso weniger daran dachte, die noch viel unbestimmtere und darüberhinaus den gesamten Katalog der Vorranggesetzgebung betreffende Einschränkung des Art. 34 Satz 2 als justitiable Beschränkung des Bundesgesetzgebers anzuwenden. Erne wirksame Einschränkung sowie gleichzeitig effiziente Gewährleistung der Gesetzgebungsgewalt des Bundes sah man vielmehr in einer äußerst sorgfältigen und abgewogenen Formulierung der Einzelmaterien der konkurrierenden Gesetzgebung105, außerdem im Grundsatz des Vollzuges der Bundesgesetze durch die Länder 106 sowie - was wohl als die wichtigste Sicherung angesehen wurde und noch heute wird - in der Mitwirkung der Länder bei der Willensbildung des Bundes durch den Bundesrat. 107 Dementsprechend breiten Raum nahmen diese Gegenstände in den Beratungen des Parlamentarischen Rates und seiner Ausschüsse ein. So wurde im Zuständigkeitsausschuß um die einzelnen Materien des Katalogs der Vorranggesetzgebung zum Teil noch einmal hart gerungen, obwohl insoweit ebenfalls der Herrenchiemsee-Entwurf die Beratungsbasis bildete. 108 104

A. a. O., S. 384 f. Vgl. etwa Ernst Reuter (SPD), a.a.O., Dok. Nr. 2, S. 4 ff. [21]; ähnlich Dr. Strauß (CDU), a. a. O., Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [42]. 106 Dieser Grundsatz war schon frühzeitig von allgemeinem Konsens getragen, vgl. Art. 42 Abs. 1 in der Zusammenstellung der Beratungsgegenstände v. 30.09.1948, abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 7, S. 299 ff. [301]. 107 Dr. Strauß (CDU) bringt diese Haltung auf den Punkt in der 3. Ausschußsitzung, a. a. O., Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [43]; vgl. ferner Wagner (SPD), a. a. O., Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [399]. 108 So beispielsweise bei den Kompetenztiteln für das Enteignungsrecht (a. a. O., Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [54 ff.]), das Wirtschaftsrecht (a.a.O., S. 68 ff.; Dok. Nr. 9, S. 323 ff. [352 ff.]; Dok. Nr. 23, S. 644 ff. [650 ff.]), das Recht der öffentlichen Fürsorge (Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [76 ff.]; Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [389 ff.]), das Lichtspielwesen (Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [93 ff.]), das Recht der Zulassung zu ärztlichen Berufen (Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [104 ff.]; Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [400 ff.]; Dok. Nr. 14, S. 482 ff. [515 f.]), die Land- und Forstwirtschaft (Dok. Nr. 9, S. 323 ff. [356 ff.]; Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [369 ff.]; Dok. Nr. 13, S. 435 ff.), die Flurbereinigung (Dok. Nr. 10, S. 368 ff. [385 ff.]; Dok. Nr. 13, S. 435 ff. [476 ff.]), das Jagdwesen (Dok. Nr. 20, S. 586 ff. [606 ff.]; der Titel gelangte später in den Katalog der Rahmengesetzgebung, vgl. Art. 75 Nr. 3 GG) und das Notariat (Dok. Nr. 19, S. 569 ff. [582 f.]; Dok. Nr. 20, S. 586 ff. [602 ff.]; vgl. auch Pari. Rat, Verh. des HA, S. 83 ff. u. 355 ff.). Lange Diskussionen gab es auch - trotz generellen Konsenses über den Grundsatz der Polizeihoheit der Länder - über die Schaffung und Reichweite von Bundeskompe105

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Beibehalten wurde die Beschränkung einiger Katalogziffern hinsichtlich der Regelungstiefe, jedoch wurde der hierzu auf Herrenchiemsee verwendete Begriff „Grundsätze" durch die neue Bezeichnung „Rahmenvorschriften" er, , 109

setzt. Der Katalog wurde im übrigen deutlich gestrafft: Aus den 38 Ziffern des Art. 36 HChE wurden schließlich 21 Ziffern. 110 Dieser Erfolg wurde teilweise durch Zusammenfassung von Einzelziffern unter eine Ziffer, teilweise durch Verschiebung von Kompetenzen in den Katalog der ausschließlichen Gesetzgebung erzielt. Wirklich zugunsten der (ausschließlichen) Landeskompetenz herausgenommen wurde kaum etwas, denn die Straffung hatte vor allem optische Gründe: Es sollte nicht schon durch die Länge des Kataloges der Eindruck einer Allzuständigkeit des Bundes erweckt werden. 111 Während der Debatten über den Kompetenzkatalog trat ferner wieder der schon auf Herrenchiemsee zu beobachtende föderalistische Nord-Süd-Konflikt in Erscheinung. So mahnte der Abgeordnete Dr. Hoch (SPD): „Was ich möchte ist, die Entwicklung nicht zu verbauen, die Entwicklung, die kommen wird, und die auf eine viel stärkere Vereinheitlichung unseres Staats- und Verfassungslebens wieder hinauslaufen wird. [...] Ich fürchte nur unsere geistige Haltung, vor allen Dingen in Ländern, die südlich des Mains liegen."112 Deutliche Worte fand auch der Abgeordnete Dr. Reif (FDP) gegenüber dem bayerischen Vertreter Dr. Laforet: „Vielleicht denkt Herr Geheimrat Laforet auch einmal daran, daß es einen Bundesrat geben wird. Sie tun so, Herr Geheimrat, als wenn die künftige Bundesregierung aus ehemaligen Nationalsozialisten bestünde und einen Bundestag hinter sich hätte, der nur die eine Aufgabe vor sich sieht, die Süddeutschen zu vergewaltigen."113 Die Haltung der süddeutschen Föderalisten illustriert demgegenüber folgender Dialog zwischen Dr. Hoch und Dr. Laforet:

tenzen im Polizeiwesen, wobei vor allem die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes lange fraglich war (Der Pari. Rat, Bd. 3, Dok. Nr. 3, S. 41 ff. [52 f.]; Dok. Nr. 5, S. 173 ff. [174 ff.]; Dok. Nr. 11, S. 407 ff. [410 f.]; Dok. Nr. 14, S. 482 ff. [507 f.]). Letzteres wurde schließlich im Katalog der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes verankert, vgl. Art. 35 Nr. 9 i. d. F. des Zuständigkeitsausschusses, Stand v. 18.11.1948, abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 22, S. 642; vgl. schließlich Art. 73 Nr. 10 GG. 109 Vgl. Art. 36 Nr. 10 u. 11 i. d. F. des Zuständigkeitsausschusses, Stand v. 18.11.1948, abgedr. in: Prot. Pari. Rat, Bd. 3, Dok. Nr. 22, S. 642 f. 110 Vgl. Art. 36 i. d. F. des Zuständigkeitsausschusses, Stand v. 18.11.1948, abgedr. a. a. Ο. 111 Vgl. die Bemerkung des Abgeordneten Dr. Hoch (SPD): „Jemand, der stark föderalistisch veranlagt ist, bekommt einen Schrecken, wenn er diesen Riesenkatalog sieht." (a. a. O., Dok. Nr. 2, S. 4 ff. [14]). 112 A. a. O., Dok. Nr. 9, S. 323 ff. [354]. 113 A. a. O, Dok. Nr. 20, S. 586 ff. [605].

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

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Dr. Hoch: „... Man sollte sich im Bunde zu Hause fühlen und ihn als ein Stück dieses Föderalismus betrachten, als eine freiwillige Einordnung zu einem höheren Zweck." Dr. Laforet: „Gewiß, das hat man auch getan. Aber das ist so mißbraucht worden, daß jetzt die Befürchtung alle anderen Erwägungen leider überwiegt. Das Mißtrauen ist größer als das Vertrauen." 114 Die zunehmende Gereiztheit, die dieser Konflikt auf Seiten der norddeutschen Länder hervorrief, belegt die berühmt gewordene Äußerung eines Hamburger Abgeordneten, die außerhalb des Parlamentarischen Rates fiel: „Sie werden sich doch von diesen Bergvölkern nicht die Verfassung vorschreiben lassen."115 Der Zuständigkeitsausschuß beendete seine Beratungen mit seiner 21. Sitzung am 7. Dezember 1948. Als wesentliche Ergebnisse sind für die vorliegende Betrachtung festzuhalten: 1. Die auf Herrenchiemsee beschlossene Zweiteilung der Bundesgesetzgebung in ausschließliche und Vorranggesetzgebung wurde übernommen, wobei einige Katalogziffern der Vorranggesetzgebung mit einer Beschränkung auf „Rahmenvorschriften" versehen wurden. 2. Die vom Herrenchiemsee-Konvent erarbeiteten Definitionen sowohl der ausschließlichen Gesetzgebung (Art. 33 HChE) als auch der Vorranggesetzgebung (Art. 34 HChE) wurden unverändert und in gleicher Bezifferung in den Grundgesetzentwurf übernommen. 3. Die in Art. 34 Satz 2 enthaltene Soll-Vorschrift wurde auch vom Zuständigkeitsausschuß nicht als verfassungsrechtlich wirksame Einschränkung des Bundesgesetzgebers betrachtet. I I I . Erste und zweite Lesung im Hauptausschuß Die nächste Station der Beratungen zur Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen war der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates. Dieser bestand aus 21 Mitgliedern aller im Parlamentarischen Rat vertretenen politischen Gruppierungen, wobei SPD und CDU/CSU - ebenso wie im Plenum des Rates - in jeweils gleicher Stärke vertreten waren. Den Vorsitz führte Prof. Carlo Schmid (SPD). Der in öffentlicher Sitzung tagende 116 Hauptausschuß hatte die Aufgabe, die von den Fachausschüssen erarbeiteten Teilentwürfe zu koordinieren und in strittigen Fragen politische Vorentscheidungen zu treffen, die die 114 115 116

A. a. O, Dok. Nr. 26, S. 717 [731]. Vgl. a. a. O., S. XX, Fn. 52. Vgl. Pari. Rat, Verh. des HA, S. 1.

Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

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Beschlußfassung im Plenum vorbereiten und erleichtern sollten. 117 Aufgrund dieser Aufgabenstellung ergab es sich, daß der Hauptausschuß seine eigentliche Tätigkeit erst mit dem Vorliegen der ersten Teilentwürfe der Fachausschüsse Mitte November 1948 begann, also fast zwei Monate nach seiner Konstituie118

rung. Gleich zu Beginn der Beratungen sah sich Prof. Carlo Schmid zu folgender Bemerkung veranlaßt: „Wenn ich mir zu einem Satz des Herrn Kollegen Walter, nämlich, daß die Stellungnahme der Besatzungsmächte für unsere Arbeiten maßgeblich sein wird, kurz eine Bemerkung erlauben darf, so möchte ich dazu als meine Meinung äußern, daß wir unsere Arbeit nach unserem besten Wissen und Gewissen zu leisten haben. Den Besatzungsmächten bleibt es überlassen, zum endgültigen Ergebnis unserer Arbeit Stellung zu nehmen; ich glaube nicht, daß es nützlich sein könnte, wenn sie in unsere laufende Arbeit - sei es im Wege von Ratschlägen, sei es im Wege von 'Warnungen' - eingriffen." 119 Später sollte sich erweisen, daß die von Prof. Schmid in Bezug auf die Alliierten angemahnte Linie nicht mit voller Konsequenz durchzuhalten war. Parallel zum Hauptausschuß tagte der Allgemeine Redaktionsausschuß, der sich aus drei Abgeordneten zusammensetzte (Dr. Heinrich von Brentano [CDU] 1 2 0 , Dr. Thomas Dehler [FDP] und Dr. August Zinn [SPD]) und die Aufgabe hatte, die Teilentwürfe der Fachausschüsse im Sinne einer redaktionellen Geschlossenheit des Gesamtentwurfs textlich zu überarbeiten. 121 Allerdings faßte der Redaktionsausschuß seinen Auftrag gelegentlich weiter auf und nahm auch inhaltliche Korrekturen am Grundgesetz-Entwurf vor. 1 2 2 Für die Beratung des in diesem Entwurfsstadium als „Abschnitt III: Der Bund und die Länder" bezeichneten Abschnitts, der die später in den Art. 70 ff. enthaltenen Bestimmungen zur Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen beinhaltete, wurde der zwischenzeitlich vom allgemeinen Redaktionsausschuß 123 redigierte Entwurf des Zuständigkeitsausschusses verwendet. Der Redaktionsausschuß hatte in Satz 2 des vom Zuständigkeitsausschuß beschlossenen Art. 34 aus stilistischen Gründen ein Wort gestrichen:

117

Vgl. die einfuhrenden Bemerkungen Prof. Carlo Schmids, Pari. Rat, Verh. des HA, S. 1. 118 Die zweite, auf die Konstituierung folgende Sitzung des Hauptausschusses fand am 11. November 1948 statt, vgl. Pari. Rat, Verh. des HA, S. 1 f. 119 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 2. 120 An seine Stelle trat Anfang Mai 1949 Prof. Hermann v. Mangoldt (CDU). 121 Vgl. Pfeiffer, DÖV 1948, 89. 122 Der Pari. Rat, Bd. 7, S. VIII. 123 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 74.

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Fassung des Zuständigkeitsausschusses: „Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß."124 Fassung des Allgemeinen Redaktionsausschusses: „Der Bund soll nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß."125 Mit dieser - inhaltlich unbedeutenden - Modifikation des Satzes 2 wurde Art. 34 in die erste Lesung des Hauptausschusses eingebracht. 126 Zu einer Diskussion über den Artikel sah auch in diesem Kreis niemand einen Anlaß. Jedoch ergab sich eine weitere redaktionelle Änderung aufgrund einer Anregung des Abgeordneten Kaufmann (CDU), die seitens des Ausschusses ohne Widerspruch durch einstimmigen Beschluß umgesetzt wurde: Das Wort „Vorranggesetzgebung" wurde ausgetauscht durch die Formulierung „Gesetz127

gebung, bei welcher der Bund den Vorrang hat". Kaufmann hatte zur Begründung angeführt, daß die von ihm empfohlene Formulierung für den Laien verständlicher sei. 128 Die zweite Lesung im Hauptausschuß passierte Art. 34 ohne weitere Veränderungen und wiederum ohne Aussprache. 129 Wie bereits in den Verhandlungen des Zuständigkeitsausschusses130 kommt auch im Hauptausschuß während der Debatte über den Katalog der Vorranggesetzgebung (Art. 36 des Entwurfs) das Grundverständnis des Parlamentarischen Rates vom Wesen der konkurrierenden Gesetzgebung zum Ausdruck. So betonte etwa der Abgeordnete Wagner (SPD) bei den Erörterungen zum Kompetenztitel für „Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen" (später in Art. 74 Nr. 6 GG), daß „ ... wir mit der jetzigen Regelung, die Materie in die Vorranggesetzgebung aufzunehmen, dem neuen Bundesparlament die Möglichkeit gegeben haben, davon Gebrauch zu machen, um die Zuständigkeit der Länder damit ohne weiteres auszuschalten.

124 Art. 34 Satz 2 i. d. F. der zweiten Lesung des Zuständigkeitsausschusses, Stand v. 14.10.1948, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 3, Dok. Nr. 15, S. 528 ff. [529]; Hervorh. v. Verf. 125 Art. 34 Satz 2 i. d. F. des Allg. Redaktionsausschusses gem. Drucks. Nr. 279 v. 16.11.1948, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 2, S. 36 ff. [47]. 126 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 77. 127 A. a. O. 128 A. a. O. 129 A. a. O., S. 350. 130 Vgl. oben II. 131 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 360.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Aus solchen und ähnlichen Äußerungen geht abermals hervor, daß die materielle Unbeschränktheit der Vorranggesetzgebung ständige Geschäftsgrundlage war, wenn über die Einordnung einzelner Materien in die Kataloge der ausschließlichen oder der Vorranggesetzgebung diskutiert wurde. Wie auch in dem oben angeführten Beispiel der Flüchtlingsangelegenheiten diente diese Durchschlagskraft der Vorranggesetzgebung bisweilen als Hauptaurgument dafür, bestimmte Materien nicht in die ausschließliche Gesetzgebung einzuordnen, weil man dies angesichts einer unbedingten Vorrangkompetenz als entbehrlich ansehen konnte. Breiten Raum in den Verhandlungen des Hauptausschusses nahm die Diskussion über Zusammensetzung und Kompetenzen der Länderkammer beim Bund ein, wobei insbesondere die Fra^e nach deren Gleichberechtigung bei der Gesetzgebung lange umstritten war. 1 2 Dieser Problemkreis wurde zu einem zentralen Punkt der Beratungen, an dem sich die eher zentralistischen und die eher föderalistischen Bestrebungen im Parlamentarischen Rat kristallisierten. Hier und nicht etwa bei der Definition der Vorranggesetzgebung wurde die Entscheidung ausgefochten, inwieweit der Bund beim Gebrauchmachen von seinen Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder Rücksicht zu nehmen haben würde. Diese Tatsache gilt es bei der Beurteilung des späteren Art. 72 GG im Auge zu behalten. Als Ergebnis der zweiten Lesung im Hauptausschuß bleibt folgende Fassung des Art. 34 auf dem Stand vom 20. Januar 1949 festzuhalten: „Im Bereich der Gesetzgebung, bei welcher der Bund den Vorrang hat, behalten die Länder das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Der Bund soll nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß." 133

I V . Einfluß des Memorandums der Alliierten vom 22. November 1948 Die Alliierten, die über ihre Verbindungsoffiziere die Arbeit der Ausschüsse des Parlamentarischen Rates intensiv beobachteten134, hatten bislang offiziell noch keinen Anstoß an der Fassung des Art. 34 wie überhaupt am Grund132

Vgl. a. a. O., S. 123 ff. u. 139 ff. Art. 34 i. d. F. der zweiten Lesung des Hauptausschusses, Stand v. 20.01.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 5, S. 202 ff. [228]. 134 Lange, Menschenwürde, S. 46; Der Pari. Rat, Bd. 3, S. XXII f. Die alliierten Verbindungsoffiziere erhielten beispielsweise Einsicht in die Wortprotokolle der Ausschußsitzungen. Daneben griff man auch zu verdeckten Mitteln: So wurden etwa die Telefone Adenauers und möglicherweise auch weiterer führender Persönlichkeiten von alliierten Stellen abgehört. 133

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

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gesetz-Entwurf genommen. Jedoch begann insbesondere auf französischer Seite der Unmut über die allgemeine Entwicklung der Grundgesetz-Beratungen zu wachsen. Bereits Anfang Oktober 1948 hatten französische Vertreter in vertraulichen Gesprächen mit deutschen Abgeordneten 135 allgemein die „zentralistische Entwicklung" im Parlamentarischen Rat gerügt, welche „alle ihre Befürchtungen überträfe", und vorsorglich daran erinnert, daß die Militärgouverneure den Entwurf des Parlamentarischen Rates auch ablehnen könnten, wenn er ihnen aus dem einen oder anderen Grund nicht gefiele. Auch von amerikanischer Seite wurden in persönlichen Gesprächen mit Abgeordneten Mahnungen im Hinblick auf eine zu stark zentralistisch orientierte Entwicklung geäußert. 136 Die Mahnungen der Alliierten betrafen aber überwiegend die Finanzverfassung sowie die Gestaltung der Länderkammer 137 , während Einzelheiten hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenzen nicht beanstandet wurden. Mitte Oktober 1948 verdichteten sich im Parlamentarischen Rat aufgrund der diversen informellen Stellungnahmen alliierter Vertreter Befürchtungen, wonach mit Einwänden und Nachbesserungswünschen der Alliierten in Bezug auf den Grundgesetz-Entwurf gerechnet werden müsse und daher - entgegen der ursprünglichen Zeitplanung - eine Fortsetzung der Beratungen bis ins 138

Frühjahr 1949 wahrscheinlich sei. Mit ihrem Memorandum vom 22. November 1948 139 gaben die Militärgouverneure gegenüber dem Parlamentarischen Rat eine erste offizielle Stellungnahme zu den Arbeiten am Grundgesetz ab, in der die verfassungspolitischen Vorgaben, die im Frankfurter Dokument Nr. 1 nur in sehr groben Zügen niedergelegt waren, eine gewisse Konkretisierung erfuhren. So wurden etwa Grundanforderungen an die Ausgestaltung der Länderkammer, die Finanzverfassung sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit umschrieben. Außerdem wurde der Grundsatz der Ausführung aller Bundesgesetze durch die Länder gefordert. Die Verwaltung durch bundeseigene Behörden sollte nur in enumerativ festzulegenden Ausnahmefällen zulässig sein. Femer sollten bestimmte Gebiete, dar-

135

Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 08.10.1948, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 118, Bl. 83 f. 136 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 19.10.1948, a. a. Ο., Bl. 46. 137 Vgl. dazu den Entwurf einer Stellungnahme der Militärgouverneure zur Finanzverfassung v. 19.10.1948, übergeben an den Vizepräsidenten des Pari. Rates, Schönfelder, am 20.10.1948, BA, Bestand Ζ 5, Anhang, Bd. 6, Bl. 203 f.; Aktennotitz über eine Besprechung mit alliierten Verbindungsoffizieren v. 21.10.1948, a. a. O., Bl. 207; Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 10.11.1948 über eine mündliche Stellungnahme der Alliierten zum Grundgesetz, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 119, Bl. 239. 138 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 19.10.1948, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 118, Bl. 46. 139 Abgedruckt bei Lange, Menschenwürde, S. 51.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

unter Erziehungswesen und Kultur, der Bundeskompetenz vollständig entzogen sein. 140 Über die Vorstellungen der Alliierten im Hinblick auf die Grundsätze der konkurrierenden Gesetzgebung finden sich dagegen in dem Memorandum vom 22. November 1948 noch keinerlei Anhaltspunkte. Auch im übrigen war dessen Einfluß auf die Arbeit des Parlamentarischen Rates sehr gering, da zum einen seitens der Alliierten auch diesmal wieder recht allgemeine, kaum Einzelheiten enthaltende Formulierungen gewählt wurden und zum anderen der Hauptausschuß aufgrund eines gemeinsamen Antrags aller Fraktionen - mit Ausnahme der KPD - den Beschluß faßte, das Memorandum nicht als Weisung, sondern als bloße Erläuterung der Vorgaben des Dokuments Nr. 1 anzusehen und daher zur Tagesordnung überzugehen. 141 Einen Grund für diese einmütig rigorose Behandlung des Memorandums im Parlamentarischen Rat bildete paradoxerweise nicht zuletzt ein Interessengegensatz: Die Sozialdemokraten wollten sich aufgrund ihrer eher zentralistisch geneigten Grundhaltung über den Inhalt des Memorandums, insbesondere über die Vorgaben bezüglich der Finanzverfassung, möglichst hinwegsetzen.142 Die konservativ-föderalistisch eingestellten Kräfte dagegen sahen in dem Memorandum die Gefahr, daß der Föderalismus in den Augen der Bevölkerung diskreditiert werde, indem er plötzlich als Mittel der alliierten Besatzungspolitik mit dem Ziel der Schwächung Deutschlands erscheine. 143 Somit bestand im Parlamentarischen Rat zunächst weiterhin Konsens darüber, daß nicht in eine Diskussion mit den Alliierten über Einzelfragen des Grundgesetzes eingetreten, sondern das Grundgesetz erst nach seiner Fertigstellung als Ganzes präsentiert werden sollte. Hiernach wollte man die Alliierten vor die Entscheidung stellen, das Grundgesetz entweder insgesamt abzulehnen oder aber zu billigen. 144 A u f diese Weise glaubte man, möglichst weitgehend von inhaltlichen Einflußnahmen verschont bleiben zu können, da die politische Lage in Mitteleuropa und nicht zuletzt auch vertrauliche Andeutungen briti-

140 Vgl. Analyse zum „Verhältnis des Grundgesetzentwurfes in der vom Hauptausschuß bisher beschlossenen Fassung zu den Forderungen der Denkschrift der Militärgouverneure" v. 06.12.1948, BA, Bestand Ζ 5, Bd. 140, Bl. 1 ff. 141 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 111 f. 142 Dies geht u. a. hervor aus den Äußerungen Prof. Carlo Schmids (SPD) zu den alliierten Vorgaben in Bezug auf die Finanzverfassung, vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 22.11.1948, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 19, S. 43 ff. [45]. 143 Vgl. Stellungnahme des Abgeordneten Binder (CDU) zum Memorandum v. 22.11.1948, Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 25.11.1948, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 119, Bl. 212 f. 144 So zusammenfassend der Abgeordnete Maier (SPD) in der 28. Sitzung des HA am 18.12.1948, Pari. Rat, Verh. des HA, S. 331 ff. [337].

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

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scher und amerikanischer Verbindungsoffiziere 145 eine hohe Wahrscheinlichkeit begründeten, daß man auf alliierter Seite eine Ablehnung des Grundgesetzes und damit das vorläufige Scheitern des Weststaates nicht riskiert hätte.

V. Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses Im Anschluß an die zweite Lesung im Hauptausschuß, die am 20. Januar 1949 beendet worden war 1 4 6 , wurde der Grundgesetzentwurf wiederum vom Allgemeinen Redaktionsausschuß redigiert. Letzterer sprach die Empfehlung aus, Art. 34 nicht mehr als eigenständigen Artikel stehen zu lassen, sondern ihn als zweiten Absatz zu Art. 36, der den Katalog der Einzelmaterien der Vorranggesetzgebung beinhaltete, zu ziehen. Dabei wurde die vom Hauptausschuß beschlossene Begriffsumschreibung („Gesetzgebung, bei welcher der Bund den Vorrang hat") 1 4 7 wieder fallen gelassen, weil sie bereits in dem - nunmehr als Abs. 1 vorangestellten - Art. 36 des Hauptausschuß-Entwurfs enthalten war. Ferner kehrte der Redaktionsausschuß die Reihenfolge der beiden Sätze des bisherigen Art. 34 um. Hiernach ergab sich folgende Entwurfsfassung: „Artikel 36 (1) Der Bund hat den Vorrang bei der Gesetzgebung über: (Nr. 1 bis 22: Katalog der Einzelmaterien) (2) Der Bund soll im Bereich der Vorranggesetzgebung nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß. Die Länder behalten das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht."148 Zusätzlich wurde vom Redaktionsausschuß der Vorschlag unterbreitet, in dem Verfassungsabschnitt zur Bundesgesetzgebung nicht nur das Gesetzgebungsverfahren, sondern darüberhinaus auch die Kompetenzverteilung zu regeln. Hieraus resultierte die Empfehlung, die bisherigen Art. 33 bis 36 aus dem Abschnitt „Bund und Länder" in den Abschnitt „Die Gesetzgebung des Bundes" zu übernehmen. 149 Zur Erleichterung der dritten Lesung behielt der Redaktionsausschuß jedoch in seinem Entwurf zunächst die bisherige Einordnung der Artikel bei. 1 5 0 145 Vgl. etwa Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 02.12.1948 (vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 119, Bl. 172. 146 46. Sitzung des Hauptausschusses am 20.01.1949, Pari. Rat, Verh. des HA, S. 599 ff. [601]. 147 Vgl. oben III. 148 Art. 36 i. d. F. des Allg. Redaktionsausschusses, Stand v. 25.01.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 5, S. 202 ff. [229 ff.] 149 A. a. O, S. 220 u. 250. 150 A. a. O., S. 220.

4 Neumeyer

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG VI· Fünferausschuß

Der Hauptausschuß unterbrach seine Beratungen nach der zweiten Lesung des Grundgesetzes bis zum 8. Februar 1949. Währenddessen fanden im sogenannten Fünferausschuß interfraktionelle Gespräche über den Grundgesetzentwurf statt. 151 Dieser informelle Ausschuß 152 , der sich aus je zwei Vertretern von SPD und CDU/CSU sowie einem Vertreter der FDP zusammensetzte153, wurde von den beteiligten Fraktionen gebildet, um die zu diesem Zeitpunkt unter den großen Parteien noch umstrittenen und daher eines Kompromisses bedürftigen Fragen einer zügigen Einigung entgegenzufuhren, so daß die anstehende dritte Lesung im Hauptausschuß keine besonderen Probleme mehr aufwerfen würde. Die wichtigsten der verbliebenen Streitpunkte waren die Frage der Gleichberechtigung der zweiten Kammer und die Entscheidung zwischen einer Bundesoder einer Länderfinanzverwaltung. Der Fünferausschuß legte, nachdem die zunächst von ihm am 31. Januar 1949 unterbreiteten Vorschläge noch einmal auf den Widerstand vor allem der Kirchen und der süddeutschen Regierungen gestoßen waren 154 , am 5. Februar erneut einen Kompromißvorschlag in Form eines vollständig überarbeiteten Grundgesetzentwurfes vor. 1 5 5 Dieser Entwurf kam durch abermalige Zugeständnisse beider politischen Lager zustande: In der Frage der Länderkammer kam die SPD, die ursprünglich eine Senatslösung gefordert hatte, weitgehend der CDU/CSU entgegen, indem sie den ausschließlich mit Regierungsvertretern zu besetzenden Bundesrat sowie dessen weitreichende Einspruchs- und Zustimmungsbefugnisse akzeptierte. Im Gegenzug billigte die CDU/CSU in der Finanzverfassung die von SPD und FDP geforderte starke Bundesfinanzverwal156 tung. Mit diesem Entwurf sah die überwältigende Mehrheit des Parlamentarischen Rates nicht nur die letzten Streitfragen unter den Fraktionen als erledigt an, sondern ging auch davon aus, daß der Entwurf in seiner Gesamtheit mit den Forderungen der Alliierten gemäß dem Memorandum vom 22. November 1948 im Einklang stehe. Lediglich die CSU, der die vorliegende Fassung in födera-

151

Zum Fünferausschuß näher Lange, Menschenwürde, S. 80 ff. Vgl. zur Stellung des Fünferausschusses die Ausführungen der Abgeordneten Dr. Suhr (SPD) und Dr. Becker (FDP) im Hauptausschuß, Verh. des HA, S. 651 u. 671 f. 153 Mitglieder waren: Prof. Carlo Schmid (SPD), Dr. Walter Menzel (SPD), Dr. Heinrich v. Brentano (CDU), Theophil Kaufmann (CDU), Prof. Hermann HöpkerAschoff (FDP). 154 Vgl. Lange, Menschenwürde, S. 81 f. 155 Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 7, S. 339 ff. 156 Vgl. Wilms, Ausländische Einwirkungen, Teil 4, Kap. E. 152

§ 4 Meinungsbildung im Parlamentarischen Rat

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listischer Hinsicht noch immer nicht weit genug ging, versuchte weiterhin, in Gesprächen mit alliierten Vertretern ihre Vorbehalte deutlich zu machen. 157 Das System der Bundesgesetzgebung bildete im Fünferausschuß keinen Gegenstand besonderer Auseinandersetzungen mehr. Die Vorschläge des allgemeinen Redaktionsausschusses zur konkurrierenden Gesetzgebung158 wurden weitgehend übernommen: Erstens wurde der bisherige Art. 34 als Abs. 2 zum Katalog des Art. 36 gezogen, wobei inhaltlich exakt die Formulierung des Redaktionsausschusses beibehalten wurde. Zweitens wurden sämtliche Artikel über die ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung in den Abschnitt „Die Gesetzgebung des Bundes" verschoben. 159 Neu war hingegen die erstmals im Entwurf des Fünferausschusses als gesonderter Katalog auftauchende Rahmengesetzgebung. 160 Es handelte sich dabei jedoch weniger um eine inhaltliche als um eine lediglich gesetzestechnische Neuerung, denn der Katalog der Rahmengesetzgebung wurde im wesentlichen dadurch geschaffen, daß aus dem Katalog der Vorranggesetzgebung gemäß Art. 36 diejenigen Kompetenztitel, welche schon zuvor mit der ausdrücklichen Beschränkung auf „Rahmenvorschriften" versehen waren 161 , in einen gesonderten Art. 36 a ausgegliedert wurden.

V I I . Dritte Lesung im Hauptausschuß Nach der Vorlage des Kompromißentwurfs des Fünferausschusses folgte innerhalb weniger Tage, und zwar vom 8. bis 10. Februar 1949, die dritte Lesung im Hauptausschuß. Dieser machte sich die Vorschläge des Fünferausschusses weitestgehend zu eigen, so auch die soeben behandelten systematischen Änderungen bei der Normierung der Gesetzgebungskompetenzen: 1. Nachdem auch Prof. Hermann v. Mangoldt (CDU) sich - wie vom Allgemeinen Redaktionsausschuß und vom Fünferausschuß empfohlen - für die Einfügung der Kompetenzzuweisungsnormen (Art. 33 bis 36 des Entwurfs) in den Abschnitt „Die Gesetzgebung des Bundes" ausgesprochen hatte, beschloß der Hauptausschuß in der dritten Lesung diese neue Einordnung. 162 Damit 157

Lange, Menschenwürde, S. 83. ObenV. 159 Vgl. Abschnitt VIII im Entwurf des Fünferausschusses, Stand v. 05.02.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 7, S. 339 ff. [366 ff.]. 160 Art. 36 a des Entwurfs, abgedr. a. a. O., S. 368. 161 Vgl. Nr. 6, 16 u. 17 des Art. 36 Abs. 1 i. d. F. der zweiten Lesung des Hauptausschusses, Stand v. 20.01.1949, abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 5, S. 202 ff. [229 f.]. 162 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 621, 627 u. 645. 158

4*

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

zeichneten sich im Bereich der Gesetzgebung die Konturen der endgültigen Systematik des Grundgesetzes ab. 2. Ebenfalls in Übereinstimmung mit den beiden jüngsten Entwürfen wurde beschlossen, daß die Grundsatznormen zur ausschließlichen Gesetzgebung (bislang Art. 33) und zur Vorranggesetzgebung (bislang Art. 34) an die jeweiligen Kompetenz-Kataloge, also an die Art. 35 und 36 des Entwurfs, jeweils als Abs. 2 angehängt werden sollten. 163 Dabei erhielt Art. 36 Abs. 2 die folgende, redaktionell leicht bereinigte Fassung: „Der Bund soll auf diesen Gebieten 6 4 nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß. Die Länder behalten das Recht der Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht."165 3. Schließlich einigte sich der Hauptausschuß auch auf die vom Fünferausschuß vorgeschlagene Einführung eines gesonderten Artikels über die Rahmengesetzgebung. 1 6 6 V I I I . Zwischenbilanz Mit dem in dritter Lesung vom Hauptausschuß verabschiedeten Grundgesetz-Entwurf war ein Kompromiß unter den deutschen Parteien erzielt worden. Alle strittigen Fragen waren auf der Grundlage der vom Fünferausschuß ausgehandelten Vorschläge einer mehrheitsfähigen Lösung zugeführt worden, so daß das Grundgesetz kurzfristig und ohne nennenswerte weitere Änderungen in zweiter und dritter Lesung vom Plenum des Parlamentarischen Rates hätte verabschiedet werden können. Letzteres gilt auch für die Grundnorm zur Vorranggesetzgebung. Im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit darüber, die auf Herrenchiemsee beschlossene Begriffsbestimmung - also die aus Art. 12 WRV übernommene Definition zuzüglich appellhafter Restriktion durch eine allgemein gehaltene SollVorschrift - inhaltlich unverändert in das Grundgesetz zu übernehmen. Eine qualifizierte Bedürfnisregelung von der Art, wie sie später Art. 72 Abs. 2 GG aufweisen sollte, war gerade nicht vorgesehen. Eine derartige Bestimmung wurde von keinem einzigen Mitglied des Parlamentarischen Rates beantragt 163

A. a. O., S. 627. Die durch Verf. hervorgehobenen Worte traten an die Stelle der vorherigen Formulierung „im Bereich der Vorranggesetzgebung". 165 Art. 36 Abs. 2 i. d. F. der dritten Lesung des Hauptausschusses, Stand v. 10.02.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 8, S. 396 ff. [425]; vgl. dazu Verh. des HA, S. 649. 166 Art. 36 a i. d. F. der dritten Lesung des Hauptausschusses, Stand v. 10. Februar 1949, abgedr. a. a. O.; vgl. dazu Verh. des HA, S. 652. 164

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

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oder auch nur erwogen. Daß sie am Ende dennoch Eingang ins Grundgesetz fand, beruht - wie im folgenden zu zeigen sein wird - auf Einflüssen, welche nicht dem Willen der Väter des Grundgesetzes unterlagen.

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten I. Prüfung des Grundgesetz-Entwurfs Nach dem Abschluß der dritten Lesung am 10. Februar 1949 tagte der Hauptausschuß - abgesehen von der am 22. und 23. Februar durchgeführten Beratung des Wahlgesetzes für die Wahlen zum ersten Bundestag167 - zunächst nicht mehr. Man war übereingekommen, daß der Grundgesetz-Entwurf nunmehr zunächst mit den Militärgouverneuren erörtert werden sollte. Sowohl auf der deutschen als auch auf der alliierten Seite wollte man eine Ablehnung der Verfassung durch die Besatzungsmächte nach deren Verabschiedung im Plenum des Parlamentarischen Rates keinesfalls riskieren, um nicht mittels des dann unvermeidlichen öffentlichen Eklats den Gegnern eines westdeutschen Staates zusätzliches Propagandamaterial zu liefern und die Weststaatsgründung auf unbestimmte Zeit zu verzögern. 168 Deshalb sollten die abschließenden Lesungen im Plenum erst nach der Stellungnahme der Alliierten beginnen, von welcher man freilich erwartete, daß sie positiv oder allenfalls in Detailfragen kritisch ausfallen würde. Entsprechend dieser Planung wurde der Grundgesetz-Entwurf in der Fassung der dritten Lesung des Hauptausschusses den Militärgouverneuren formlos zugeleitet. In einem Memorandum vom 17. Februar 1949, welches dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Dr. Adenauer, am darauffolgenden Tag durch den Leiter des englischen Verbindungsstabes mündlich vorgetragen wurde 169 , ließen die Militärgouverneure den Parlamentarischen Rat wissen, daß sie derzeit überprüften, ob der Entwurf den Forderungen im alliierten Memorandum vom 22. November 1948 entspreche. Gegebenenfalls könne es notwendig werden, zunächst über einzelne Punkte eine Stellungnahme ihrer Regierungen einzuholen, weshalb der Parlamentarische Rat mit einer gewissen Verzögerung rechnen müsse.

167 52. und 53. Sitzung des Hauptausschusses am 22. u. 23.02.1949, Pari. Rat, Verh. des HA, S. 687 ff. 168 Die Hintergründe schildert ausführlich: Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 07.02.1949 (vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 121, Bl. 103 ff.; vgl. auch Lange, Menschenwürde, S. 84; Wilms , Ausländische Einwirkungen, Teil 4, Kap. E. 169 Pari. Rat, Drucks. Nr. 616, BA, Bestand Ζ 5, Bd. 133, Bl. 213.

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Teil 1: Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Diese recht schleppende Behandlung der Sache war wohl in erster Linie darauf zurückzufuhren, daß die Alliierten untereinander hinsichtlich ihrer verfassungspolitischen Zielvorstellungen nach wie vor uneins waren. Während Frankreich einen möglichst ausgeprägten Föderalismus noch immer deswegen anstrebte, weil es sich hiervon eine Schwächung Deutschlands versprach, verfochten die USA die föderalistische Staatsform aufgrund der eigenen Föderalismustradition unter entgegengesetzten Vorzeichen, nämlich zum Zwecke der Stabilisierung der künftigen deutschen Demokratie. Die englische Labourregierung schließlich hätte von ihrer sozialistischen Warte aus in viel weitergehendem Maße zentralistische Ansätze gebilligt. Dieser grundsätzliche Dissens veranlaßte die Militärgouverneure dazu, den Grundgesetzentwurf zunächst durch ihre Experten eingehend analysieren zu lassen, um sodann eine gemeinsame Linie gegenüber dem Parlamentarischen Rat finden zu können. 170

I I . Memorandum der Alliierten vom 2. März 1949 Die mit großer Spannung erwartete gemeinsame Stellungnahme der Alliierten zum Grundgesetz erfolgte am 2. März 1949. An diesem Tag trafen sich die drei Militärgouverneure, die Generale Clay, Koenig und Robertson, im Gebäude des alliierten Hauptquartiers in Frankfurt mit einer Delegation des Parlamentarischen Rates, die aus dem Ratspräsidenten Dr. Adenauer sowie vier Mitgliedern des Fünferausschusses bestand. 171 Im Verlauf der Besprechung verlas General Robertson ein umfangreiches und als „vertraulich" bezeichnetes Memorandum, welches der deutschen Delegation anschließend auch in schriftlicher Form übergeben wurde. 172 In diesem Memorandum erfuhren die noch nicht erfüllten Forderungen der Besatzungsmächte zum Grundgesetz eine Präzisierung. Einleitend wurde festgestellt, daß der Entwurf des Parlamentarischen Rates „in einer Reihe von Bestimmungen" mit den Grundsätzen des Memorandums vom 22. November 1948 173 nicht im Einklang stehe, zugleich wurde jedoch zugestanden, daß der Entwurf als Ganzes beurteilt würde und man daher durchaus bereit sei, kleinere Abweichungen von den alliierten Vorstellungen hinzunehmen. Einige wenige Bestimmungen würden allerdings „in bedauerlichem Maße" von jenen Grundsätzen abweichen. Auf diese wurde sodann im einzelnen eingegangen, wobei die Militärgouverneure erstmals vollständig ausformulierte Änderungsvor-

170

Vgl. Lange, a. a. O., S. 84 f. Protokoll der Besprechung v. 02.03.1949 (engl. Fassung) abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 46, S. 120 ff. 172 Im Wortlaut abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 47, S. 131 ff. 173 Vgl. oben § 4 IV. 171

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

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Schläge zu bestimmten Grundgesetz-Artikeln unterbreiteten. Die Formulierungsvorschläge sollten aber, wie von alliierten Vertretern betont wurde, nur als Anregungen, nicht hingegen als bindende Wortlautvorgaben verstanden werden. 1 4 Betrachtet man den alliierten Beanstandungskatalog, so lag das eigentlich Überraschende dieses Memorandums weniger in den erwartungsgemäß geäußerten Bedenken zur Finanzverfassung sowie zu einigen anderen, zwischen deutscher und alliierter Seite seit langem umstrittenen Punkten, als vielmehr in der völlig unerwarteten Unterbreitung einer Neufassung fur den bis dahin nicht umstrittenen Art. 36 des Hauptausschuß-Entwurfs, des Vorläufers von Art. 72 GG. Die entsprechende Passage des Memorandums wird nachstehend im Wortlaut wiedergegeben: „Erstens möchten wir darauf hinweisen, daß die Zuständigkeiten der Bundesregierung, wie sie jetzt in Artikel 36 niedergelegt sind, nicht genügend klar definiert sind, um die Stellung der Länder in einemföderativen System angemessen zu wahren. Um dies zu verbessern, regen wir an, daß Sie die jetzigen Artikel 36 und 36 a streichen und einen neuen Artikel 36 an die Stelle setzen, der sehr weitgehend auf Ihrem eigenen jetzigen Wortlaut beruhend im wesentlichen wie folgt lauten könnte: Artikel 36 (1) Die Länder behalten die Gesetzgebung auf den im folgenden aufgezählten Gebieten, außer wenn es offenbar für ein einziges Land unmöglich ist, wirksame Gesetze zu erlassen, oder wenn solche Gesetze, falls erlassen, den Rechten oder Interessen anderer Länder schädlich wären. In solchen Fällen, und vorausgesetzt, daß die Interessen der verschiedenen Länder offenbar, unmittelbar und im ganzen berührt sind, hat der Bund das Recht, die nötigen und angemessenen Gesetze zu erlassen: «175

(Es folgte der - ebenfalls von den Alliierten modifizierte - Katalog der Einzelmaterien der Vorranggesetzgebung) Nach dem alliierten Vorschlag sollte also zunächst der vom Fünferausschuß eingeführte Katalog der Rahmengesetzgebung (Art. 36 a des Entwurfs) wieder gestrichen werden; statt dessen sollte es bei der bloßen Zweiteilung der Gesetzgebungsarten verbleiben. Offenbar hatte die Ausweisung der Rahmengesetzgebung als zusätzliche Variante der Bundesgesetzgebung eine sehr ungünstige politische Wirkung auf die Alliierten ausgeübt. Diese schienen die Ausgliederung einiger Kompetenztitel in den neuen Art. 36 a nicht als redaktionelle Bereinigung - mehr stand tatsächlich nicht dahinter - , sondern vielmehr als abermalige Ausdehnung der Bundeszuständigkeiten gegenüber den Ländern anzusehen. 174

Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 03.03.1949 über das alliierte Memorandum v. 02.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 196 ff. [197]. 175 Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 47, S. 131 ff.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Die Rahmengesetzgebung beabsichtigten die Alliierten jedoch auf eine Weise zu eliminieren, die sich unter Zugrundelegung der mit dem Memorandum verbundenen Intention als ausgesprochen kontraproduktiv erwies. In dem Textvorschlag des Memorandums waren nämlich die in Art. 36 a des Hauptausschuß-Entwurfs enthaltenen Kompetenztitel bis auf eine Ausnahme 176 in den Katalog der Vorranggesetzgebung gemäß Art. 36 schlicht wieder eingegliedert worden, und zwar ohne daß bei den betreffenden Ziffern eine Beschränkung auf Rahmenvorschriften ergänzt wurde. 177 Daher hätte die Realisierung der alliierten Formulierung zur Reintegration der Rahmengesetzgebung letztlich eine Stärkung der Bundesgesetzgebung zulasten der Länder bewirkt. Da aber eine Stärkung der Zentralgewalt sicherlich nicht im Sinne der Alliierten lag, konnte dieser Vorschlag nur auf einem Mißverständnis beruhen. Anders verhielt es sich mit dem empfohlenen Wortlaut zur Definition der Vorranggesetzgebung, durch den ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers äußerst rigorosen Beschränkungen unterworfen worden wäre: Der Bund hätte hiernach ein Gesetzgebungsrecht nur bei offenbarer Unmöglichkeit einer wirksamen Regelung durch Landesgesetz oder bei erwiesener Schädlichkeit einer landesgesetzlichen Regelung gegenüber anderen Ländern beanspruchen können. Hinzu kam die weitere, hinsichtlich ihrer Wirkungsweise nebulose Voraussetzung, daß die Interessen der betroffenen Länder „offenbar, unmittelbar und im ganzen berührt" sein müßten. Hätte man diese Vorgabe so ins Grundgesetz übernommen, so wäre das in Deutschland seit der Weimarer Zeit gefestigte Leitbild vom Wesen der konkurrierenden Gesetzgebung in sein genaues Gegenteil verkehrt worden, nämlich in eine Vorranggesetzgebung der Länder. Ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers wäre zur jeweils begründungspflichtigen Ausnahme geworden, womit die Grundprämisse, unter welcher der Parlamentarische Rat den Katalog des Art. 36 formuliert hatte, ausgehebelt worden wäre. Darüber, wie es zu den alliierten Formulierungsvorschlägen kam, konnte bis heute keine vollständige Aufklärung erzielt werden. Nach der gegenwärtigen Quellensituation spricht jedoch vieles dafür, daß neben dem bereits angesprochenen Mißverständnis bezüglich der Intention des vom Fünferausschuß neugeschaffenen Artikels über die Rahmengesetzgebung noch ein anderer, wesentlich bedeutsamerer Umstand ausschlaggebend war: Der Leiter des britischen Verbindungsstabes in Bonn gab in ersten Gesprächen über das Memorandum zu erkennen, daß einige der dort aufgestellten

176 Art. 36 a Nr. 1 (Rechtsverhältnisse der Landes- und Gemeindebediensteten) wurde ersatzlos gestrichen. 177 Vgl. Art. 36 Nr. 24, 25 und 26 i. d. F. des alliierten Memorandums v. 02.03.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 47, S. 131 ff. [133].

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Forderungen vor allem deswegen kaum verhandelbar seien, weil Frankreich hierzu eine unnachgiebige Haltung einnähme; dabei nannte er unter anderem die Art. 36 und 36 a des Grundgesetz-Entwurfs (Vorrang- und Rahmengesetzgebung). 178 Noch unmißverständlicher äußerte sich der britische Militärgouverneur, General Robertson, der bei inoffiziellen Gesprächen bemerkte, daß hinsichtlich der Nachbesserungsforderungen auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen französische Wünsche ausschlaggebend gewesen seien. 179 Dazu paßt die Bekundung des französischen Botschafters Poncet, allenfalls die Terminologie, nicht aber Sinn und Inhalt der alliierten Vorschläge seien verhandelbar, denn diese Bemerkungen seien das letzte Wort zum Bonner Verfassungsentwurf. 180 Diese Aussagen machen deutlich, daß der unvermittelte Eingriff der Militärgouverneure in den Bereich der Grundsätze der gesetzgeberischen Kompetenzverteilung maßgeblich auf französisches Betreiben zurückzuführen ist. Erklären läßt sich die Intervention der Franzosen damit, daß diese feststellen mußten, wie das Grundgesetz sich auf allen Regelungsgebieten am Modell eines Bundesstaates mit relativ ausgeprägter Zentralgewalt orientierte, während vom französischen Konzept des bloßen Staatenbundes nicht mehr viel übrig geblieben war. Deshalb wurde mit aller Kraft nach Möglichkeiten gesucht, das Ruder noch einmal in die andere Richtung herumzureißen. Dabei stieß man auf die Definition der Vorranggesetzgebung und erkannte hierin ein Einfallstor für grundsätzliche Korrekturen. Vergegenwärtigt man sich im übrigen den Gang der damaligen Ereignisse und berücksichtigt dabei, daß in den maßgeblichen internen Verhandlungen auch die drei Militärgouverneure untereinander nicht einig waren, so drängt sich die Annahme auf, daß derartige Änderungsvorschläge nicht bis zur letzten verfassungsrechtlichen Konsequenz durchdacht waren. So finden sich etwa Hinweise darauf, daß die Franzosen sich schlicht hinter die verfassungspolitische Haltung Bayerns als die in föderalistischer Hinsicht extremste Position stellten, ohne jedoch mit den entsprechenden Argumenten sowie den Hintergründen des vom Parlamentarischen Rat bereits gefundenen Kompromisses vertraut zu sem. Wenn auch die von den Alliierten vorgelegte Neufassung der in Art. 36 enthaltenen Definition der Vorranggesetzgebung später nicht vollständig vom 178 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 07.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 155 f. [156]; weiterer Bericht v. 07.03.1949 (streng vertraulich), a. a. O., Bl. 152. 179 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 14.03.1949, a. a. O, Bl. 1 f. [2]. 180 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 07.03.1949, a. a. O., Bl. 147. 181 Drucks, des B. d. M. Wiesbaden an die 11 Länderchefs v. 10.03.1949 (persönlich, streng vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 9, Bl. 267.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Parlamentarischen Rat übernommen wurde, kann die Unterbreitung des Memorandums vom 2. März 1949 als Geburtsstunde der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG angesehen werden. I I I . Erste Reaktionen im Parlamentarischen Rat Mit den dargestellten Forderungen zur Gesetzgebung sowie weiteren Änderungswünschen der Alliierten, worunter insbesondere die Ablehnung der von der SPD herausverhandelten Bundesfinanzverwaltung ins Gewicht fiel, war der im Fünferausschuß nach zähem Ringen gefundene Kompromiß gefährdet, da nach diesen Vorschlägen wieder eine extrem föderalistische Tendenz in die Verfassung gelangte. Der bayerischen Staatsregierung und mit ihr der CSUFraktion im Parlamentarischen Rat waren diese Tendenzen natürlich recht; die CSU verkündete sogar, daß ihr die Vorschläge der Alliierten in föderalistischer Hinsicht noch immer nicht weit genug gingen. 182 In der SPD dagegen fühlte man sich um den Erfolg der Verhandlungen im Fünferausschuß betrogen. Bezüglich der Gesetzgebungszuständigkeiten bestand die SPD darauf, daß ein echter Vorrang für den Bund bestehen müsse, um zu verhindern, daß in der Praxis die Bundesregierung aufgrund einer primären Gesetzgebungszuständigkeit der Länder machtlos werde. 183 Der Vorsitzende der SPD-Fraktion des Parlamentarischen Rates, Prof. Carlo Schmid, erklärte unmittelbar nach Übergabe des Memorandums, daß die Ansichten der Alliierten über die Vorranggesetzgebung mit dem Standpunkt der großen Mehrheit des Parlamentarischen Rates unvereinbar seien. 184 Die Vorschläge zu diesem Punkt brächten Deutschland wieder den Zustand, wie er vor der Schaffung der Zweizonenverwaltung bestanden habe; denn praktisch würde hiermit den Ländern, nicht aber dem Bund auf wichtigen Gebieten der Vorrang bei der Gesetzgebung eingeräumt. Auch in der CDU formierte sich Widerstand. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Ratsfraktion, Dr. Süsterhenn, wird in einem Bericht vom Tage nach der Übergabe des Memorandums mit der Äußerung zitiert, die alliierte Denkschrift biete eine Verhandlungsbasis, jedoch „mit Ausnahme der unannehmbaren Neufassung des Katalogs der Vorranggesetzgebung". 185 Selbst Konrad Adenauer - ansonsten gegenüber Kompromissen mit den Alliierten im Interesse einer möglichst raschen Verabschiedung des Grundgesetzes nicht ab182

Lange, Menschenwürde, S. 87; vgl. auch Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 04.03.1949 (vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 167 ff. [169]; weiterer Bericht v. 19.03.1949 (vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 122, Bl. 143. 183 Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 19.03.1949, a. a. O., Bl. 143 ff. [144]. 184 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 03.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 193 ff. [194]. 185 A.a.O.

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geneigt - gab bereits in den ersten Tagen nach Unterbreitung des Memorandums gegenüber alliierten Vertretern eindeutig zu erkennen, daß die Vorschläge zur Änderung des Art. 36 sich in dieser Form nicht verwirklichen ließen. 186 Diese und ähnliche Äußerungen belegen, daß die Forderungen der Alliierten zur Vorranggesetzgebung aus deutscher Sicht völlig unerwartet auftauchten und am Kernbestand des verfassungspolitischen Konsenses im Parlamentarischen Rat rührten. 187 IV. Vorentwurf des Siebenerausschusses Für die nun erneut notwendig gewordenen interfraktionellen Verhandlungen und Beratungen mit alliierten Vertretern wurde der bisherige Fünferausschuß zum Siebenerausschuß erweitert, da nun je ein Abgeordneter der DP und des Zentrums, die bislang nicht vertreten waren, zusätzlich aufgenommen wurden. 188 Was den Siebenerausschuß erwartete, umreißt Lange in seinem Werk zur Geschichte des Parlamentarischen Rats treffend: „Die Beratungen des Grundgesetzes traten in ihre dramatischste Phase und sollten alle Beteiligten für die nächsten zwei Monate in Atem halten."189 Der Abgeordnete Prof. Hermann Höpker-Aschoff (FDP), Mitglied des Siebenerausschusses und späterer Bundes Verfassungsrichter, äußerte am 7. März 1949, der Siebenerausschuß sei nach sorgfältigem Studium des Memorandums zu der Ansicht gekommen, daß man versuchen müsse, den Entwurf des Hauptausschusses gegenüber den Alliierten aufrecht zu erhalten. Die Forderungen der Alliierten zur Vorranggesetzgebung lehnte Höpker-Aschoff ab. Es müsse eine Gewähr dafür bestehen, daß der Bund legiferieren könne, wenn die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes eine einheitliche Gesetzgebung für angebracht hielten, denn man könne in Deutschland nicht etwa zwölf verschiedene Strafgesetze oder zwölf verschiedene Scheidungsgesetze gebrauchen. 190 Prof. Carlo Schmid (SPD), nach internen Berichten als „mutmaßlicher Wortführer" des Siebenerausschusses bezeichnet 191 , äußerte, daß die Anmerkungen 186

Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 04.03.1949 (vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 167 ff. [171]. 187 Vgl. zur einheitlichen Haltung beider großen Fraktionen (SPD und CDU/CSU) zu diesem Punkt: a. a. Ο., Bl. 170 f.; femer Menzel, DV 1949, 312 [312 f.]. 188 Lange, a. a. O., S. 88. Mitglieder des Siebenerausschusses waren: Prof. Carlo Schmid (SPD), Dr. Walter Menzel (SPD), Dr. Heinrich v. Brentano (CDU), Theophil Kaufmann (CDU), Prof. Hermann Höpker-Aschoff (FDP), Johannes Brockmann (Zentrum), Dr. Hans Christoph Seebohm (DP). 189 Lange, a. a. O., S. 87. 190 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 07.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 104 ff. 191 Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 08.03.1949, a. a. O, Bl. 76 ff. [76].

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

im Memorandum zu Art. 36 auf einem MißVerständnis der Alliierten hinsichtlich des Begriffs „Vorranggesetzgebung" zu beruhen schienen, weil offenbar verkannt werde, daß schon nach der Formulierung des Hauptausschusses die Länder das erste Recht zur Gesetzgebung hätten, und zwar solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch mache. 192 Dennoch einigte sich der Siebenerausschuß schon vor Beginn der Verhandlungen mit alliierten Vertretern auf eine Neuformulierung der Definition der Vorranggesetzgebung, um hiermit die Bedenken im Hinblick auf eine zu extensive Handhabung der Gesetzgebungskompetenzen durch den Bund auszuräumen. Diese Formulierung lautete wie folgt: „Die Länder behalten das Recht der Gesetzgebung bei den nachstehend aufgeführten Sachgebieten, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch macht. Er soll von diesem Recht nur Gebrauch machen, wenn die Interessen von mehr als einem Land berührt werden oder, falls solche Gesetze von einem Land erlassen, den Rechten anderer Länder schädlich wären, oder wenn der Zweck des Gesetzes nur durch ein Bundesgesetz erreicht werden kann. (In einem solchen Falle und vorausgesetzt, daß die Interessen mehr als eines Landes berührt werden, hat der Bund das Recht, die nötigen, angemessenen Gesetze zu erlassen.)"193 Mit dem vorstehenden, als Soll-Vorschrift gehaltenen Entwurf wurden zwar die Voraussetzungen für das Tätigwerden des Bundesgesetzgebers im Vergleich zum alliierten Textvorschlag gelockert. Dennoch basierte er auf letzterem und nicht mehr auf Art. 36 Abs. 2 des Hauptausschuß-Entwurfs. Damit war besiegelt, daß die Entwicklung der späteren „Bedürfnisklausel" - aus deutscher Sicht als Ergebnis eines Mißverständnisses - Eigendynamik gewann und somit irreversibel wurde. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch gleichzeitig, daß der Siebenerausschuß einmütig die Auffassung vertrat, daß die Beurteilung der Frage, ob im Einzelfall die Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers vorlägen, gleich wie diese nun formuliert würden, eine rein politische Ermessensentscheidung darstelle, die von den gesetzgebenden Organen des Bundes zu treffen und der richterlichen Nachprüfung durch das Verfassungsgericht jedem Falle entzogen sei. 194 Man betrachtete also die qualifizierte Umschreibung der Voraussetzungen für die Vorranggesetzgebung letztlich als rein kosmetische Maßnahme zur Besänftigung der Alliierten. In der Sache - injustitiable Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers - sollte sich hierdurch gegenüber der bislang unumstrittenen und seit dem Herrenchiemsee-Konvent quer durch alle Beratungssta-

192 193 194

A. a. O., Bl. 77. A. a. O., Bl. 77. A. a. O., Bl. 77 f.

in

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tionen des Grundgesetzes inhaltlich beibehaltenen Formulierung des Art. 34 (später Art. 36 Abs. 2) nichts ändern. Ferner bestand im Siebenerausschuß bezüglich der von den Alliierten beanstandeten Rahmengesetzgebung Einigkeit darüber, den entsprechenden Art. 36 a des Hauptausschuß-Entwurfs möglichst unverändert beizubehalten, weil man es für wenig sinnvoll erachtete, durch die geforderte Wiedereingliederung der dort genannten Gegenstände in den Katalog der Vorranggesetzgebung die Beschränkung der Bundesbefugnisse auf Rahmenvorschriften entfal195

len zu lassen. V. Deutsch-alliierte Besprechung vom 8. März 1949 A m 8. März 1949 fand die erste Zusammenkunft des zusätzlich um die beiden CDU-Abgeordneten Dr. Binder und Dr. Lehr erweiterten Siebenerausschusses mit den alliierten Verbindungsoffizieren statt. 196 Bei diesem Treffen wurden die Nachbesserungswünsche zur Vorranggesetzgebung erörtert. Die Verhandlungen über diesen Punkt wurden auf alliierter Seite ausschließlich vom französischen Delegationsleiter Laloy geführt, während die britischen und amerikanischen Verbindungsoffiziere hierzu schwiegen - eine weitere Bestätigung für die französische Urheberschaft der entsprechenden Forderungen im Memorandum vom 2. März 1949. Laloy beanstandete, die vom Parlamentarischen Rat vorgeschlagene Fassung des Art. 36 Abs. 2 weise zwar in die richtige Richtung, sei aber zu unbestimmt und gebe damit keine hinreichend sichere Garantie für die Position der Länder. Daher könne in der Praxis mit dieser Klausel keine konkrete Wirkung erzielt werden. 197 Hierauf entgegnete Prof. Carlo Schmid 198 , er frage sich, wer die in Zweifelsfällen anstehende Entscheidung, ob die im alliierten Entwurf formulierten Voraussetzungen für die Bundesgesetzgebung gegeben seien oder nicht, treffen solle. Falls diese Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht zufallen sollte, müsse dies dazu führen, daß dem Gericht faktisch Gesetzgebungskompetenz zuwachse. Man könne es aber nicht einem Gericht überlassen, zu entscheiden, ob ein Gesetz notwendig sei oder nicht. Eine solche Entscheidung liege außerhalb jeder gerichtlichen Kompetenz.

195

A. a. O., Bl. 78. Wortlautprotokoll der Besprechung v. 08.03.1949 abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 51, S. 150 ff. 197 A. a. O, S. 153. 198 A.a.O., S. 153 f. 196

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Mit seiner Antwort bestätigte Laloy 1 9 9 die Befürchtungen Prof. Schmids. Er unterstellte, daß es schon nach der vom Parlamentarischen Rat vorgeschlagenen Fassung des Art. 36 Abs. 2 nur dem Bundesverfassungsgericht überlassen bleiben könne, über eventuelle Streitigkeiten zwischen Bundesgesetzgeber und Ländern zu entscheiden. Daraus zog er die Schlußfolgerung, daß die alliierte Fassung keine grundlegende Änderung, sondern lediglich eine Präzisierung der von deutscher Seite unterbreiteten Formulierung bedeute. Diese - möglicherweise bewußte - Fehlinterpretation des vom Hauptausschuß verabschiedeten Art. 36 Abs. 2 wurde von Seiten der deutschen Delegation aufgrund der ohnehin angespannten Situation nicht richtiggestellt. Wagte man aber gegenüber den Alliierten nicht einzugestehen, daß Art. 36 Abs. 2 stets nur als injustitiabler politischer Appell verstanden wurde, so blieb für eine grundsätzliche Argumentation gegen die Bewertung Laloys keine Basis. Trotzdem versuchte Prof. Schmid, eine Modifizierung der alliierten Formulierung zugunsten der Befugnisse des Bundesgesetzgebers zu erreichen. 200 Laloy ging jedoch auf konkrete Textvorschläge nicht mehr ein, sondern betonte, daß die Intention des Memorandums - Abfassung präziserer Kriterien für das Tätigwerden des Bundesgesetzgebers - offenbar deutlich geworden sei, während der genaue Wortlaut in der Verantwortlichkeit des Parlamentarischen Rates lie201

ge. Bezüglich der Rahmengesetzgebung erläuterte der Abgeordnete Kaufmann, daß deren geforderte Wiedereingliederung in die Vorranggesetzgebung das Ziel einer Begrenzung der Bundeskompetenzen konterkariere 202 , und stieß insoweit 203

bei Laloy auf Verständnis. VI. Rückkehr zum Begriff „konkurrierende Gesetzgebung" im Entwurf des Siebenerausschusses vom 10. März 1949 Aufgrund der starren Haltung, die der französische Verhandlungsführer Laloy bei der Frage der Vorranggesetzgebung in der Besprechung vom 8. März 1949 an den Tag gelegt hatte, verdichteten sich im Siebenerausschuß Befürchtungen, daß aufgrund der wenig griffigen Kriterien der alliierten Formulierung permanenter Streit vor dem Bundesverfassungsgericht drohe, welches dann über den Vorwurf des Ermessensmißbrauchs gegenüber dem Bundesgesetzgeber zu entscheiden hätte. Dies werde, so glaubte man weiter vorauszusehen, 199 200 201 202 203

A. a. O., S. 154. A.a.O.,S. 154. A. a. O., S. 154 f. Vgl. oben II. Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 51, S. 150 ff. [155].

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dazu fuhren, daß lange Zeit Zweifel darüber bestehen würden, ob das jeweils betroffene Gesetz endgültige Wirksamkeit erlangen werde oder nicht. Der Bundesgesetzgeber werde so zu einem Übermaß an Vorsicht genötigt, wodurch eine Lähmung seiner Gesetzgebungstätigkeit eintreten könne. Die Länder wiederum hätten in diesem Fall Veranlassung zu einem noch selbständigeren Vorgehen. 204 Man sah einen regelrechten Teufelskreis der Rechtszersplitterung vorher, der unweigerlich auch eine wirtschaftliche Schwächung des westdeutschen Staates nach sich gezogen und damit nicht nur den französischen Vorstellungen entsprochen, sondern letztlich auch sowjetischen Interessen in die Hände gespielt hätte. Die Kompromißfähigkeit der insgesamt eher zentralistisch ausgerichteten SPD schien zudem in diesen Tagen durch die geforderte Verschiebung des föderalen Gleichgewichts zugunsten der Länder überstrapaziert zu werden. Insbesondere der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher betrieb einen Kurs des hartnäckigen Widerstands gegen die alliierten Forderungen. Eine Sonderkonferenz des erweiterten Parteivorstands der SPD in Köln hatte zum Ergebnis, daß den SPD-Abgeordneten des Parlamentarischen Rates Grenzen ihres Verhandlungsspielraums insoweit gesetzt wurden, als zumindest bei den Artikeln über die Finanzverwaltung und die Vorranggesetzgebung in jedem Falle auf dem ursprünglichen Inhalt des Grundgesetzentwurfs bestanden werden sollte. Im Hinblick auf die Vorranggesetzgebung sollte keinesfalls zugelassen werden, daß in der Praxis das Bundesverfassungsgericht Gesetzgebungsgewalt erhalte. 205 Deshalb sah sich der Siebenerausschuß genötigt, obwohl nach dem Verlauf der Besprechung vom 8. März 1949 mit einem wesentlichen Nachgeben der Alliierten eigentlich nicht mehr gerechnet werden konnte, abermals zu versuchen, sich gegenüber den alliierten Forderungen zu behaupten. Man war bestrebt, eine Formulierung zu finden, die einerseits die nachteiligsten Auswirkungen der von den Militärgouverneuren vorgeschlagenen Regelung zu vermeiden suchte und sich damit noch im Toleranzbereich der SPD befand, andererseits die Intention des Memorandums nicht offen ignorierte. Bei einem erneuten Treffen mit den alliierten Verbindungsoffizieren am 10. März 1949 206 unterbreitete der erweiterte Siebenerausschuß einen neuen Textvorschlag, der jetzt als Art. 95 c beziffert war und wie folgt lautete:

204 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 12.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 24 ff. [25 f.]. 205 Vgl. weiterer Bericht v. 12.03.1949, a. a. O., Bl. 7 f. 206 Wortlautprotokoll der Besprechung abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 54, S. 187 ff.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG „(1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat. (2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, 1. wenn eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung eines oder mehrerer Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. wenn die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz den Interessen anderer Länder schädlich wäre oder 3. wenn der Zweck des Gesetzes nur durch ein Bundesgesetz erreicht werden kann oder 4. wenn die Wahrung der Rechtseinheit oder der Wirtschaftseinheit die Regelung durch ein Bundesgesetz erfordert." 207

Als augenfälligste Neuerung wurde mit diesem Entwurf der seit Herrenchiemsee etablierte Begriff „Vorranggesetzgebung" wieder gegen die alte Bezeichnung „konkurrierende Gesetzgebung" ausgetauscht. Den Absatz 1 und mit ihm die veränderte Terminologie hatte der Siebenerausschuß wörtlich aus einer ihm von der bayerischen Staatsregierung unterbreiteten Textfassung 208 übernommen. Mit diesem Schritt nutzte der Siebenerausschuß eine in psychologischer Hinsicht vielversprechende Möglichkeit, ohne Preisgabe inhaltlicher Positionen den Alliierten ein Entgegenkommen hinsichtlich der Grundsätze der Kompetenzverteilung zu signalisieren. Außerdem gewann mit dem vorstehenden Entwurf der systematische Aufbau des künftigen Art. 72 Abs. 2 GG seine Konturen. Die Ziffern 1 und 2 des Abs. 2 entsprachen wiederum wörtlich dem bayerischen Entwurf, der sich freilich auf diese beiden Ziffern beschränkte und somit recht exakt an .der Vorlage des alliierten Memorandums vom 2. März 1949 orientierte. Demgegenüber hatte der Siebenerausschuß sich auf die Anfügung der in Ziffer 3 und 4 enthaltenen zusätzlichen Kriterien geeinigt, wofür vor allem die mehrfach geäußerten Bedenken Prof. Carlo Schmids 209 ausschlaggebend gewesen sein dürften. Auf alliierter Seite bezog wiederum allein der Franzose Laloy zu der Vorlage Stellung. 210 Er bemerkte, daß der Parlamentarische Rat sich mit diesem Vorschlag in die richtige Richtung bewege, wandte jedoch sogleich ein: „Es besteht aber immer noch eine erhebliche Meinungsverschiedenheit über die Organisation des ganzen Systems, die erheblich bleibt. Die Militärgouverneure sind von dem Grundsatz ausgegangen, daß normalerweise die Gesetzgebungsbefugnis bei 207

Abgedr. a. a. O., S. 188 f.; Hervorh. v. Verf. Abgedr. in: Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 12.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 24 ff. [30]. 209 Vgl. oben V.; femer: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 56, S. 203. 210 A. a. O., Dok. Nr. 54, S. 187 ff. [192]. 208

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den Ländern liegt. Die Zuständigkeit der Länder ist die Regel. In dem Text, der vor uns liegt, ist zu Beginn die Zuständigkeit der Länder als die Regel klar festgestellt. Aber das ist nur ein Grundsatz. Unmittelbar danach wird es klar, daß die wirkliche Regel die Zuständigkeit des Bundes ist. Dies ist eine grundsätzliche Bemerkung, die wir fur sehr wichtig halten. Zweitens haben wir den Eindruck, daß sogar in dem Rahmen, wie er von den Vertretern des Parlamentarischen Rates gewählt worden ist, in Art. 95 c Abs. 2 sich eine sehr erhebliche Ausdehnung der Kompetenz des Bundes zur Gesetzgebung über das hinaus findet, was wir im Sinne haben. Das gilt besonders von Ziff. 3 des Abs. 2 von Art. 95 c und in gewissem Umfang auch von Ziff. 4 des Abs. 2 von Art. 95 c." 211 Nach dieser Stellungnahme in der Unterredung vom 10. März 1949 schien sich abzuzeichnen, daß die vom Siebenerausschuß ergänzten Ziffern 3 und 4 des Art. 95 c Abs. 2 nicht durchsetzbar sein würden. Die französische Ankündigung einer absolut unnachgiebigen Haltung war offenbar keine leere Drohung.

V I I . Öffentlicher Widerstand gegen die alliierten Forderungen Inzwischen formierte sich auch außerhalb des Parlamentarischen Rates Widerstand gegen die alliierten Forderungen zur konkurrierenden Gesetzgebung: Ratspräsident Dr. Adenauer verlangte öffentlich ein Nachgeben der Alliierten. 212 Der Gewerkschaftsrat der Bizone sah in den Vorschlägen vom 2. März eine Gefahr für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und den sozialen Frieden, weil eine einheitliche Politik auf diesen beiden Gebieten unmöglich gemacht würde. 213 Vor allem aber in den Reihen der deutschen Juristenschaft wurde heftiger Protest laut. So erfolgte eine Eingabe von 250 Berliner Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates.214 Man fürchtete als Folge der vorgeschlagenen Fassung des Art. 36 eine rechtshistorisch beispiellose Zerschlagung der in den letzten hundert Jahren gewachsenen Rechtsentwicklung, die zu einer bestens bewährten und allseits als positiv bewerteten Vereinheitlichung auf wichtigen Rechtsgebieten wie dem Bürgerlichen Recht, Strafrecht, Prozeßrecht und Wirtschaftsrecht sowie der Gerichtsverfassung geführt habe. Da diese zentralen Materien allesamt zur konkurrierenden Gesetzgebung zählten, sah man als Konsequenz der alliierten 2,1

A.a.O. Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 14.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 3 f. 2,3 A.a.O. 214 Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 17.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 122, Bl. 163 f.; in die gleiche Richtung zielte auch die Petition des Rechtsanwalts und Geheimen Justizrats Dr. Seelmann-Eggebert v. 16.03.1949, BA, Bestand Ζ 5, Bd. 159, Bl. 93 ff. 212

5 Neumeyer

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Formulierung eine Zersplitterung in landesrechtliche Regelungen, die in ihrer Tendenz von den jeweiligen politischen Majoritäten bestimmt und damit einen Rückfall der deutschen Rechtsentwicklung um bis zu 100 Jahre bedeuten würden, voraus. Die Juristenschaft sah sich um den Erfolg der Arbeit betrogen, die zur Schaffung der Reichsjustizgesetze des Jahres 1877 geleistet worden war. Bereits die unterschiedliche Gesetzgebung in den Besatzungszonen nach 1945 habe, so die erwähnte Eingabe, zur Genüge erkennen lassen, daß die Rechtseinheit ohne schwerwiegende Schädigungen des deutschen Staats- und Wirtschaftslebens nicht aufgegeben werden könne.

V I I I . Entwurf des Siebenerausschusses vom 17. März 1949 Unter dem Eindruck des öffentlichen Protestes, welcher der harten Haltung der SPD zusätzlichen Rückenwind verschaffte, entschloß sich das inzwischen auf elf Personen angewachsene215, aber weiterhin als Siebenerausschuß bezeichnete interfraktionelle Gremium, Zugeständnisse an die Alliierten weiterhin nur in kleinsten Schritten zu machen. A m 17. März legte der Siebenerausschuß deshalb eine gegenüber der zuletzt beanstandeten Fassung vom 10. März modifizierte Version des umstrittenen Art. 95 c Abs. 2 vor, die wie folgt lautete: „Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, 1. wenn eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. wenn die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 3. wenn die Wahrung der Rechtseinheit oder der Wirtschaftseinheit eine bundesgesetzliche Regelung erfordert." 216 Das vom Franzosen Laloy zuvorderst beanstandete, tatsächlich aber kaum aussagekräftige Kriterium gemäß Nr. 3 des vorherigen Entwurfs („... wenn der Zweck eines Gesetzes nur durch ein Bundesgesetz erreicht werden kann") hatte man fallengelassen, womit die Unterteilung des Absatzes in nunmehr drei Ziffern sich in Übereinstimmung mit der endgültigen Gestalt des späteren Art. 72 Abs. 2 GG befand. Im übrigen hatte auch der Wortlaut von Nr. 1 und Nr. 2 nach leichter redaktioneller Überarbeitung seine endgültige Fassung angenommen. Außerdem wurde gegenüber den Alliierten die schon mit dem Entwurf vom 10. März vollzogene Rückkehr zum Begriff „konkurrierende Gesetzgebung"

215

Vgl. Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 12.03.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 123, Bl. 24. 216 Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 10, S. 457.

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nochmals als wesentliches Entgegenkommen dargestellt. Der Abgeordnete Kaufmann (CDU) erläuterte hierzu, daß „der ursprüngliche Katalog (gemeint ist der Katalog der Vorranggesetzgebung gem. Art. 36 des Hauptausschuß-Entwurfs) sich auf die Bundeszuständigkeit bezog, während heute in der konkurrierenden Gesetzgebung die Länderzuständigkeit als erste festgelegt ist." 217 Mit diesem Sperrfeuer scheinbarer Zugeständnisse hoffte man, die unveränderte Beibehaltung des bedeutsamsten Kriteriums der Rechts- und Wirtschaftseinheit gemäß Nr. 4 des Entwurfs vom 10. März (jetzt als Nr. 3) kaschieren zu können. Den neuen Entwurf, der daneben auch den Katalog der Rahmengesetzgebung beibehielt 218 , unterbreitete der erweiterte Siebenerausschuß den alliierten Verbindungsstäben in einer Besprechung am 18. März 1949 219 , in der man sich ohne eingehende Diskussion über die deutschen Vorschläge auf den 25. März 1949 vertagte. 220

IX. Memorandum der Alliierten vom 25. März 1949 Die Folgebesprechung zwischen dem Siebenerausschuß und den alliierten Verbindungsoffizieren am 25. März 1949 221 dauerte nur 15 Minuten. In dieser Sitzung wurde vom neuen Leiter des französischen Verbindungsstabes Sauvagnargues, dem Nachfolger Laloys, gegenüber der deutschen Delegation eine Erklärung verlesen, die anschließend wiederum auch schriftlich in Form eines Memorandums überreicht wurde. 222 Hierin wurde mitgeteilt, daß die Militärgouverneure von den am 18. März überreichten Vorschlägen des Siebenerausschusses offiziell keine Kenntnis genommen hätten. Eine offizielle Stellung223

nähme sei erst nach der Verabschiedung des Grundgesetzes zu erwarten. Sodann ließ man, ohne auf einzelne Problempunkte einzugehen, die Vertreter des Parlamentarischen Rates in knapper Form wissen: „Vor den Versuchen, die Sie in einzelnen Punkten gemacht haben, um den Wünschen, die die Militärgouverneure ausgedrückt haben, Rechnung zu tragen, und als 217

Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 57, S. 206 ff. [207]. Art. 98 (36 a) des Entwurfs v. 17.03.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 10, S. 457 ff. [459]. 219 Wortlautprotokoll abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 57, S. 206 ff. 220 A.a.0.,s.210. 221 Wortlautprotokoll abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 58, S. 211 ff. 222 Private Übersetzung aus dem amtlichen engl. Text des Memorandums v. 25.03.1949 in: BA, Bestand Ζ 5, Bd. 202, Bl. 171. 223 Der Pari. Rat, Bd. 8, a. a. O., S. 212. 218

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG ein Resultat der Meinungsaustausche, die hier in Bonn während der letzten Sitzung und während persönlicher Unterhaltungen stattgefunden haben, ist es ganz klar, daß Sie völlig verstehen, was die Militärgouverneure im Sinn hatten. Daher werden Sie kaum überrascht sein, zu hören, daß wir in der Lage sind, Ihnen zu sagen, daß der Vorschlag des Siebenerausschusses nicht der Mitteilung vom 2. März entspricht."224

Erst Wochen später erläuterte der Leiter des amerikanischen Verbindungsstabes, Dr. Simons, im Gespräch mit dem Leiter der bayerischen Staatskanzlei, Anton Pfeiffer (CSU), daß der Passus, wonach die Deutschen anscheinend sehr wohl begriffen hätten, was in dem alliierten Memorandum vom 2. März gemeint sei, sich vor allem auf die vom Siebenerausschuß zuletzt unterbreitete Neufassung des Art. 95 c Abs. 2 beziehe. 225 Daraus wird deutlich, daß die Militärgouverneure die Formulierungen vom 17. März 2 2 6 bereits in den Bereich des Akzeptablen einordneten. Als problematisch wurden demgegenüber nach wie vor die Vorschläge des Siebenerausschusses zur Finanzverfassung angesehen, so daß sich das alliierte Interesse allmählich auf diesen Punkt verlagerte. Die hieraus resultierende Verbesserung der deutschen Verhandlungsposition hinsichtlich der konkurrierenden Gesetzgebung wurde aber nach der Verlesung des Memorandums vom 25. März zunächst nicht erkannt.

X. Antrag des Abgeordneten Dr. Hoch (SPD) im Hauptausschuß Nach der pauschalen Zurückweisung der deutschen Vorschläge galt es herauszufinden, wie wahrscheinlich es sein würde, daß das Grundgesetz bei einem Beharren des Parlamentarischen Rats auf dem Entwurf des Siebenerausschusses tatsächlich von den Militärgouverneuren abgelehnt werden würde. Zu dieser Zeit mehrten sich Hinweise darauf, daß die Alliierten zwar mit allen Mitteln versuchten, Korrekturen des Grundgesetzentwurfes in ihrem Sinne zu erreichen, jedoch eine Unnachgiebigkeit des Parlamentarischen Rates auf dem bislang erreichten Verhandlungsstand in letzter Konsequenz wohl nicht zum Anlaß nehmen würden, das Grundgesetz scheitern zu lassen.227 Überdies kursierten Gerüchte, wonach die SPD seitens der britischen Labour-Regierung auf dem Wege inoffizieller Kontakte dazu ermutigt wurde, keine weiteren Zu224

A. a. O. Vgl. Protokoll über ein Gespräch zwischen Pfeiffer und Leusser sowie den amerikanischen Verbindungsoffizieren Dr. Simons und Pabsch in Frankfurt a. M. am 20.04.1949, abgedr. a. a. O., S. 237 ff. [241]. 226 Oben VIII. 227 Vgl. Aktennotiz über die vertrauliche Information eines deutschen Journalisten an Dr. Adenauer v. 29.03.1949 bezüglich einer Äußerung eines bekannten französischen Journalisten über die alliierte Taktik, BA, Bestand Ζ 5, Anhang, Bd. 6, Bl. 327; ferner Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 02.04.1949, BA, Bestand Ζ 12, Bd. 122, Bl. 100 ff. [101]; Grabbe, VfZ, Bd. 26 (1978), 393 [400]. 225

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

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geständnisse in Sachen Föderalismus zu machen. 228 Der amerikanische Militärgouverneur, General Clay, sah dagegen in der strikten Verfolgung der föderalistischen Forderungen des Memorandums nicht zuletzt eine Sicherung gegen den von der SPD propagierten sozialistischen Umbau der Gesellschaft, der nur mit Hilfe einer mächtigen Zentralgewalt durchsetzbar erschien. In einem Nachgeben gegenüber Kurt Schumacher sah Clay zudem die Gefahr, daß die SPD hieraus erhebliches propagandistisches Kapital mit der Folge einer verbesserten Ausgangsposition bei den bevorstehenden Bundestagswahlen gewinnen würde. 229 Indessen verlor die Verhandlungsführung der Militärgouverneure in diesen Tagen an Bedeutung, weil die zu treffenden Entscheidungen auf eine andere Ebene verlagert wurden: Vom 5. bis 8. April 1949 fand in Washington eine Konferenz der Außenminister der drei Westmächte statt, auf deren Tagesordnung neben der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages auch der sich zuspitzende deutsch-alliierte Verfassungsstreit stand. Seitens dieser Konferenz erging am 5. April über die Militärgouverneure eine schriftliche Erklärung an den Parlamentarischen Rat, in welcher die Außenminister ihrer Hoffnung Ausdruck gaben, daß - so wörtlich - „der Parlamentarische Rat und die verantwortlichen deutschen Parteiführer den Empfehlungen der Militärgouverneure die nötige Beachtung schenken" würden. Anläßlich der Überreichung des Schreibens wurde von alliierten Vertretern gerügt, daß das Schicksal des Deutschen Volkes bei den maßgeblichen Politikern offensichtlich von parteipolitischen Prestigegesichtspunkten abhängig gemacht werde. 231 A m späten Nachmittag desselben Tages trat nach fast 6-wöchiger Beratungsunterbrechung der Hauptausschuß zu seiner 54. Sitzung zusammen.232 Da die Erklärung der Außenminister erst wenige Stunden alt war und somit noch keine Gelegenheit zu deren Erörterung innerhalb der Fraktionen bestanden hatte, vertagte sich der Ausschuß auf den folgenden 6. April, an dem mit der 55. Sitzung 3 3 die 4. Lesung des Grundgesetzes eingeleitet wurde. Die SPD beharrte auf den einstimmig gefaßten Beschlüssen des Siebenerausschusses vom 17. März 1949 234 als äußerstes Zugeständnis zugunsten des 228

Vgl. etwa die Bemerkungen des Abgeordneten Renner (KPD) im Hauptausschuß, Verh. des HA, S. 733; femer Lange, Menschenwürde, S. 92. 229 Zu den Hintergünden der anti-sozialdemokratischen Haltung General Clays vgl. Grabbe, a. a. O., S. 402 ff. 230 Mitteilung der Außenminister von Frankreich, England und den USA v. 05.04.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 61, S. 218. 231 Vgl. Bericht über die Presseerklärung eines alliierten Vertreters, abgedr. a. a. Ο., Dok. Nr. 62, S. 221 f. 232 Pari. Rat, Verh. d. HA, S. 727 ff. 233 A. a. O., S. 731 ff. 234 Oben Vili.

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Föderalismus und erhob diese durch den Abgeordneten Dr. Hoch (SPD) zum Antrag. 235 Dadurch wurden die im Siebenerausschuß erzielten Ergebnisse auch der Öffentlichkeit bekannt. Die CDU hielt dagegen eine vom Siebenerausschuß auszuarbeitende weitere Nachbesserung im Sinne der alliierten Forderungen fur verantwortbar, um das Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht zu gefährden. 236 Der SPD-Vorsitzende Schumacher warf der Union deswegen vor, sie versuche, sich von dem gefundenen Kompromiß zu lösen, um mit Hilfe der Alliierten extrem föderalistische und partikularistische Vorstellungen durchsetzen zu können. „Die linksrheinischen und bayerischen Föderalisten", sagte Schumacher, „möchten jetzt die Ernte in die Scheune bringen." 237 Eine Einigung zwischen den großen Fraktionen kam somit vorerst nicht zustande. Ohne den Antrag des Abgeordneten Dr. Hoch zur Abstimmung zu stellen, beschloß der Hauptausschuß gegen die Stimmen der SPD die vorläufige Unterbrechung der vierten Lesung des Grundgesetzes zugunsten weiterer interfraktioneller Beratungen sowie erneuter Fühlungnahme mit den Alliierten. 238

X I . Signale zum Einlenken der Alliierten A m 14. April fand eine Besprechung zwischen einer vom Ratspräsidenten Dr. Adenauer geleiteten elfköpfigen Delegation des Parlamentarischen Rates und den drei Militärgouverneuren statt. 239 In dieser Konferenz wurde nicht über Einzelprobleme des Grundgesetzes diskutiert. Stattdessen verlas der Abgeordnete Dr. Menzel (SPD) für die deutsche Delegation eine gemeinsame Erklärung zum Stand der Grundgesetz-Beratungen. 240 Darin wurde mitgeteilt, daß nach der Ablehnung des im Siebenerausschuß gefundenen Kompromisses durch das alliierte Memorandum vom 25. März ein Stillstand in den Beratungen des Parlamentarischen Rates eingetreten sei. Dr. Adenauer erklärte auf Nachfrage, daß vom Parlamentarischen Rat ein konkreter Termin für die Unterbreitung neuer Vorschläge nicht genannt werden könne, da eine Überwindung der internen Krise derzeit nicht absehbar sei. 241

235 Pari. Rat, Drucks. Nr. 690, BA, Bestand Ζ 5, Bd. 134; vgl. hierzu auch Füßlein/Matz, AöR, Bd. 75 (1949), 346 [349]. 236 Pari. Rat, Verh. d. HA, S. 731. 237 Vgl. Erklärung Schumachers an den Pari. Rat v. 05.04.1949, Sekretariatsumdruck Nr. 36 des Pari. Rates, BA, Bestand Ζ 5, Bd. 202, Bl. 195; Grabbe, a.a.O., S. 401 f. 238 Pari. Rat, Verh. des HA, S. 737. 239 Wortlautprotokoll abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 4, Dok. Nr. 9, S. 112 ff. 240 A.a.O.,S. 132 f. 241 A. a.O., S. 133.

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Hierüber äußerte sich General Clay sehr besorgt und verlangte nachdrücklich jede Anstrengung, das Grundgesetz fertigzustellen. Angesichts der Entwicklung der internationalen Lage sei zu befürchten, daß eine weitere Verzögerung des Grundgesetzes die Gefahr eines irreversiblen Scheiterns der Weststaatsgründung mit sich bringe. Die letztgenannte Feststellung Clays wurde auf dessen Wunsch nicht in das Sitzungsprotokoll aufgenommen. 242 Clay bot an, in einem gemeinsamen großen Verhandlungstermin die letzten Schwierigkeiten auszuräumen und Schloß dabei ausdrücklich auch verbleibende Differenzen zwischen den Fraktionen des Parlamentarischen Rates ein. Dieser Termin wurde auf den 25. April 1949 festgelegt. 243 In dem Erbieten zur gemeinsamen Lösung am Verhandlungstisch anstelle des fortgesetzten Austauschs von schriftlichen Entwürfen und Memoranden lag ein deutliches Signal der Alliierten zum Entgegenkommen. Angesichts der sich zuspitzenden internationalen Lage - der Sowjetunion drohte die Mobilisierung öffentlichen Drucks in Richtung auf eine gesamtdeutsche Lösung unter Aufgabe der Westeinbindung zu gelingen - wollte man die Gründung der Bundesrepublik Deutschland zügig zum Abschluß bringen. Nach den Planungen der Westalliierten sollte das Grundgesetz bis spätestens Mitte Mai 1949 verabschiedet sein. 244 A m 22. April 1949 wurde dem Parlamentarischen Rat durch die Militärgouverneure ein weiteres Schreiben der Washingtoner Außenministerkonferenz ausgehändigt245, das bereits am 8. April 1949 verfaßt, jedoch von den Militärgouverneuren entsprechend einem ihnen von der Außenministerkonferenz eingeräumten Ermessen bewußt zurückgehalten worden war. 2 4 6 Erst jetzt - da das Gelingen einer Einigung zwischen den deutschen Parteien zweifelhaft erschien - wurde es auf intensives Drängen der Engländer und gegen den hartnäckigen Widerstand General Clays mitgeteilt. 24 In dem Schreiben signalisierten die Außenminister ein Nachgeben, indem sie nicht mehr auf konkrete Formulierungen eingingen, sondern die „wohlwollende Würdigung" deutscher Vorschläge zusicherten, sofern diese jedenfalls in ihrer Zielsetzung mit den alli248

ierten Absichten übereinstimmten. 242

A. a. O., S. 133 f. u. Fn. 36; „Ergänzende Bemerkungen" Anton Pfeiffers (CSU) zum Protokoll der Sitzung v. 14.04.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 69, S. 232 ff. [234]. 243 Der Pari. Rat, Bd. 4, a. a. O., S. 135 ff. 244 Näher Lange, Menschenwürde, S. 91 ff. 245 Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 71, S. 244. 246 Grabbe, a. a. O., S. 408. 247 A. a. O., S. 408 ff. 248 Die Hintergründe des Schreibens vom 22.04.1949 und die Ereignisse dieser Tage schildert der Bericht des B. d. M. Bad Godesberg v. 23.04.1949 (vertraulich), BA, Bestand Ζ 12, Bd. 122, Bl. 42 ff.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Zum Problem der konkurrierenden Gesetzgebung nahmen die Außenminister wie folgt Stellung: „In der Frage des Artikels 36 (95 c) werden sie (die Außenminister) auch jede Formulierung wohlwollend würdigen, 1. die von den Bundeszuständigkeiten alle diejenigen Sachgebiete ausscheidet, die durch das Londoner Abkommen ausdrücklich ausgeschlossen worden sind; 2. die fìir die Länder ausreichende Befugnisse sicherstellt, die sie instand setzen, unabhängige und kräftige staatliche Körperschaften zu sein; 3. die für die Bundesregierung ausreichende Befugnisse in den wichtigen staatlichen Aufgabenbereichen sicherstellt, die sie instand setzen, wirksam diejenigen Aufgaben zu erfüllen, bei denen die Belange von mehr als einem Land wesentlich und notwendigerweise berührt werden."2 Unter diesen Vorzeichen, die eine gewisse Entspannung der Lage im Parlamentarischen Rat bewirkten, fanden weitere interfraktionelle Verhandlungen statt, die am 24. April 1949 zu einer Einigung aller sich um ein Zustandekommen des Grundgesetzes bemühenden Parteien führten. Dabei kam man angesichts der vorstehenden Äußerung der Außenminister überein, daß der Entwurf des Siebenerausschusses für den Art. 95 c wohl durchsetzbar sein würde und deshalb in unveränderter Form zur Grundlage der bevorstehenden Konferenz gemacht werden sollte.

X I I . Deutsch-alliierte Schlußkonferenz vom 25. April 1949 Am 25. April traf in Frankfurt eine auf 17 Köpfe erweiterte Delegation des Parlamentarischen Rates zu den vereinbarten Abschlußverhandlungen mit den Militärgouverneuren zusammen. 250 In diesen Verhandlungen, die teils innerhalb der deutschen Delegation, teils gemeinsam mit den Militärgouverneuren geführt wurden, einigte man sich über alle noch strittigen Punkte. Für die Definition der konkurrierenden Gesetzgebung wurde seitens der deutschen Delegation wiederum der Entwurf des Siebenerausschusses vom 17. März 1949 251 präsentiert, wobei Art. 95 c dieses Entwurfs nun wieder als Art. 34 beziffert war. Erwartungsgemäß nahmen die Militärgouverneure Anstoß an der weiten Formulierung des in Abs. 2 Nr. 3 enthaltenen Kriteriums (Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit). 252 General Clay mahnte an, daß insoweit zumindest ein verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz für die Länder sichergestellt werden müsse. 249 250 251 252

Der Pari. Rat, Bd. 8, a. a. O. Protokoll abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 73, S. 248 ff. Oben VIII. Der Pari. Rat, Bd. 8, a. a. O., S. 251.

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

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Prof. Carlo Schmid bemühte sich, die Bedenken zu zerstreuen. 253 Er erläuterte, daß angesichts der umfassenden Kompetenzen, die der Grundgesetzentwurf dem Bundesverfassungsgericht einräume, selbstverständlich jedes Land, welches sich durch den Bund in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt sehe, eine gerichtliche Klärung herbeiführen könne. Dies gelte auch für die Tätigkeit des Bundesgesetzgebers im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz. General Clay wandte daraufhin nicht ohne Scharfsinn ein, daß angesichts der weiten Formulierung der Nr. 3 auch das Verfassungsgericht Schwierigkeiten haben werde, zu beurteilen, ob der Bundesgesetzgeber die Begriffe der Rechts- und Wirtschaftseinheit zutreffend ausgelegt habe. 254 Prof. Schmid entgegnete, daß ein Gericht seiner Natur gemäß nicht in jedem Falle über das notwendige Maß an rechtlicher oder wirtschaftlicher Einheit entscheiden könne; jedoch könne es stets darüber wachen, ob der Bund seine aus Art. 34 folgenden Befugnisse rechtsfehlerhaft angewendet habe. Trotz dieser Erläuterungen, mit denen Prof. Schmid seine eigene Auffassung wie auch diejenige des Siebenerausschusses hinsichtlich der Justitiabilität der Regelung geflissentlich in den Hintergrund stellte, bestanden die Militärgouverneure weiterhin auf einer Präzisierung der Formulierung. 255 Dr. Adenauer bat um eine fünfminütige Unterbrechung der Sitzung, da man sich innerhalb der deutschen Delegation abstimmen müsse. Danach gab Adenauer - sicherlich nicht ganz ohne Kalkül - bekannt, daß vor einer Abänderung des Art. 34 zunächst weitere Beratungen unter den Fraktionen in Bonn erfolgen müßten. General Clay reagierte entrüstet und erinnerte an den allseits vereinbarten Zweck dieses Treffens, der darin bestehe, zu einer Lösung zu gelangen und nicht etwa die Probleme wiederum zu vertagen. Daraufhin bat Dr. Adenauer um eine weitere Unterbrechung der Konferenz, über die der Abgeordnete Dr. Walter Strauß (CDU) später bemerkte: „Wir haben ... uns dann in eine Ecke zurückgezogen und noch einige Änderungen durchgeführt. Ich entsinne mich, daß wir in einem ganz kleinen Kreise, an dem auch Herr Laforet teilgenommen hat, überlegten: Wie steht es denn mit der Überprüfung der Bedürfnisfrage? Wir waren uns in diesem kleinen Kreise einig, daß das Verfassungsgericht lediglich den Mißbrauch des Ermessens des Bundesgesetzgebers prüfen könne, nicht aber die Bedürfnisfrage als eine Ermessensfrage, zu deren Entscheidung ausschließlich der Bundestag und der Bundesrat berufen sind."256 Nach eineinhalbstündiger Beratung hatte sich die deutsche Delegation auf eine Neufassung der strittigen Formulierung gemäß Abs. 2 Nr. 3 verständigt, 253 254 255 256

A. a. O., S. 252. A. a. O. A. a. O., S. 253. W. Strauß in: Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, S. 119; vgl. auch S. 176.

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Teil 1: Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

die den Militärgouverneuren vom Abgeordneten Dr. Katz (SPD) vorgestellt wurde 257 und folgenden Wortlaut hatte:

„3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert" 258 Dr. Katz hob die durch den „insbesondere"-Einschub geschaffene Präzisierung von Rechts- und Wirtschaftseinheit auf den individualrechtlichen Aspekt hervor und erläuterte hierzu, daß der einzelne Bürger seine individuellen Rechte nur dann in allen Bundesländern tatsächlich verwirklichen könne, wenn ein gewisser rechtlich-ökonomischer Mindeststandard überall gewährleistet sei. Ob dieses weiteren Zugeständnisses erhoben die Militärgouverneure keinen weiteren Widerspruch mehr, sondern erklärten sich nunmehr mit der Intention der Vorschrift grundsätzlich einverstanden. General Clay bekundete lediglich, daß ihm die Übersetzung ins Englische noch nicht klar sei. Daraufhin übersetzte der britische Militärgouverneur, General Robertson, die deutsche Formulierung wie folgt: „Because the maintenance of legal or economic unity demands it in order to promote the economic interests of the Federation or to insure reasonable equality of economic opportunity to all persons."259 Diese Übersetzung entsprach nicht exakt dem Wortsinn der deutschen Formulierung. 260 Sie verschärfte nämlich die Voraussetzungen für den Bundesgesetzgeber, indem sie das Ziel der Rechts- oder Wirtschaftseinheit ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten anerkannte. 261 Trotzdem bestätigte Dr. Adenauer, daß die Übersetzung korrekt sei, womit das Einvernehmen mit den Alliierten hergestellt war. X I I I . Entwurf des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 2. Mai 1949 Da die auf der Konferenz vom 25. April erzielte Einigung nicht schriftlich fixiert wurde, erarbeitete in den folgenden Tagen der Allgemeine Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates einen entsprechend modifizierten 257

Der Pari. Rat, Bd. 8, a. a. O., S. 254 f. Hervorh. der Änderung v. Verf. 259 A. a. O., S. 256. 260 Die Rückübersetzung der Formulierung General Robertsons lautet wie folgt: „Weil die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit sie erfordert, um die wirtschaftlichen Interessen des Bundes zufördern oder eine angemessene Gleichheit wirtschaftlicher Möglichkeiten für alle Menschen sicherzustellen." 261 Näher Herrfahrdt in: Bonner Kommentar, GG, Art. 72, Anm. II 3. 258

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

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Grundgesetz-Entwurf, der schon am 2. Mai 1949 vorgelegt wurde. 262 Für die Formulierung des Art. 34 konnte der Redaktionsausschuß gemäß dem Verhandlungsergebnis vom 25. April im wesentlichen die Fassung des Siebenerausschusses vom 17. März (dort Art. 95 c) zugrundelegen. Einzuarbeiten war lediglich die während der Konferenz formulierte Ergänzung („insbesondere die Wahrung ..."). Darüber hinaus nahm der Redaktionsausschuß aber in Abweichung von der am 25. April ausverhandelten Textfassung noch eine weitere Änderung vor, die auf den ersten Blick lediglich stilistischer Natur zu sein schien: Das den Kriterien der Nr. 1 bis 3 des Art. 34 Abs. 2 jeweils vorangestellte Wort „wenn" wurde ausgetauscht durch die als Obersatz formulierte, grammatisch wie gesetzestechnisch eigentlich überflüssige Wendung „soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil". Dieser Obersatz prägte den bis zur Verfassungsreform 1994 für die Bezeichnung des Art. 72 Abs. 2 GG allgemein gebräuchlichen Begriff „Bedürfnisklausel". Sofern man dieser Formulierung später überhaupt nähere Beachtung schenkte, wurde allgemein davon ausgegangen, daß sich hierdurch sachlich nichts geändert hatte, weil dem Wort „Bedürfnis" gegenüber seiner konkreten Umschreibung in den nachfolgenden Ziffern 1 bis 3 keine eigenständige Bedeutung beizumessen sei. 263 Dies trifft aber nicht zu, wie die folgende Äußerung eines der drei Mitglieder des Allgemeinen Redaktionsausschusses, des späteren hessischen Ministerpräsidenten August Zinn (SPD), belegt: „Der Redaktionsausschuß hat dann einen Obersatz eingefügt, nach dem der Bund im Falle eines Bedürfnisses von diesem Gesetzgebungsrecht Gebrauch machen könne, weil er beabsichtigte, damit die Zuständigkeit oder Möglichkeit auszuschließen, das Vorliegen der Voraussetzungen durch den Verfassungsgerichtshof nachprüfen zu lassen, und zwar in Anlehnung an die Rechtsprechung zur Grundsatzgesetzgebung der Weimarer Verfassung." 264 Mit dem Begriff „Bedürfnis" wollte man also den politischen Ermessenscharakter der vom Bundesgesetzgeber zu treffenden Entscheidung über die Voraussetzungen des Abs. 2 klarstellen, mithin die in den deutsch-alliierten Schlußverhandlungen angeklungene Justitiabilitätsfrage im Sinne der einhelligen Auffassung des Siebenerausschusses und damit entgegen der Intention der Militärgouverneure entscheiden.

262 GG-Entwurf i. d. F. des Allgemeinen Redaktionsausschusses, Stand v. 02.05.05.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 12, S. 497 ff. 263 So etwa Achterberg, DVB1. 1967, 213 [218]; Gruson, Die Bedürfniskompetenz, S. 30; v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 14. 264 Zinn in: Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, S. 98.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

Nach alledem findet sich im Entwurf des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 2. Mai 1949 unter dem VII. Abschnitt „Gesetzgebung des Bundes" als Art. 34 der hiernach nicht mehr veränderte Wortlaut des späteren Art. 72 GG: „(1 ) Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht. (2) Der Bund hat in diesem Bereiche das Gesetzgebungsrecht, soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil 1. eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann oder 2. die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder 3. die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert." 265 Vollständigkeitshalber sei schließlich erwähnt, daß auch die Rahmengesetzgebung (Art. 36 a der Entwurfsfassung) gegenüber den alliierten Forderungen erfolgreich verteidigt werden konnte, und zwar mitsamt der Kompetenztitel für das Recht des öffentlichen Dienstes in Ländern, Gemeinden und sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften sowie für die allgemeinen Rechtsverhältnisse von Presse und Film. 2 6 6 X I V . Vierte Lesung im Hauptausschuß und Verabschiedung des Grundgesetzes Am 5. und 6. Mai 1949 erfolgte auf der Grundlage des vom Redaktionsausschuß vorgelegten Entwurfs eine vierte Lesung im Hauptausschuß267, in der die genannten Änderungen des Art. 34 diskussionslos übernommen wurden. 268 Aufgrund der Ergebnisse dieser Lesung wurde sodann ein neuer GrundgesetzEntwurf gefertigt 269 , in dem der Artikel seine endgültige Bezifferung als Art. 72 erhielt. 270 Ebenso wurden die Kataloge der ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebung sowie der Rahmengesetzgebung jetzt als Art. 73, 74 und 75 eingeordnet. 271 265

Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 12, S. 497 ff. [513]. A. a. O., S. 515. 267 5 7. und 58. Sitzung des Hauptausschusses am 05. und 06.05.1949, Pari. Rat, Verh. des HA, S. 743 ff 268 A. a. O., S. 754 f. 269 GG-Entwurf i. d. F. der vierten Lesung des Hauptausschusses, Stand v. 05.05.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 13, S. 532 ff. 270 A. a. O., S. 548 f. 271 A. a. O., S. 549 ff. 266

§ 5 Revision des Ergebnisses durch die Alliierten

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A m 6. Mai 1949 fand auf Basis dieses Entwurfs die zweite Lesung des Grundgesetzes im Plenum des Parlamentarischen Rates statt 272 , in der keine Änderungen mehr vorgenommen wurden. 273 Am 8. Mai 1949 erfolgte die dritte und letzte Lesung im Plenum, während der noch einmal Gelegenheit zu einer allgemeinen Aussprache über Fragen des Grundgesetzes bestand. 274 Hierbei brachte der Abgeordnete Dr. Menzel für die SPD nochmals bedauernd zum Ausdruck, daß die Alliierten im Frankfurter Dokument Nr. 1 zunächst nur die allgemein gehaltene Vorgabe einer föderalistischen Verfassung aufgestellt und damit suggeriert hätten, daß die verfassungsmäßige Ausgestaltung dieses Föderalismus allein im Ermessen des Parlamentarischen Rates liege. Später habe man dann durch immer neue Interventionen „tropfenweise" erkennen lassen, daß man mit der Föderalismus-Vorgabe sehr viel konkretere Forderungen verband und daß deren Verwirklichung keineswegs im Ermessen des Rates liegen sollte. Durch diese Vorgehens weise sei manche unnötige Arbeit und manche politische Enttäuschung verursacht worden. 275 Dr. Menzel vergaß aber zugleich nicht, darauf hinzuweisen, daß die Forderungen der Alliierten „glücklicherweise" nicht in vollem Umfang verwirklicht worden seien. Jene Vorschläge hätten eine Zerreißung Deutschlands in souveräne Kleinstaaten und damit einen beispiellosen staatsrechtlichen Rückschritt bedeutet, ein Schreckgespenst, welches Dr. Menzel mit Hilfe eines Heinrich-Heine-Zitats treffend pointierte: „Und als ich auf dem St. Gotthard stand, da hört' ich Deutschland schnarchen, Es schlief da unten in sanfter Ruh von sechsunddreißig Monarchen."276 Nach der Aussprache wurde das Grundgesetz kurz vor Mitternacht des 8. Mai 1949 mit 53 Ja-Stimmen (SPD, CDU, FDP sowie 2 von 8 CSU-Abgeordneten) gegen 12 Nein-Stimmen (6 CSU-Abgeordnete, KPD, DP, Zentrum) verabschiedet. 277

272

9. Plenarsitzung des Pari. Rates am 06.05.1949, Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 169 ff. 273 Vgl. GG-Entwurf i. d. F. der zweiten Lesung im Plenum des Pari. Rates, Stand v. 06.05.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 7, Dok. Nr. 14, S. 571 ff. [587 ff.]. 274 1 0. Plenarsitzung des Pari. Rates am 08.05.1949, Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 197 ff. [201 ff.]. 275 A. a. O., S. 206. 276 A. a. O. 277 A. a. O., S. 238.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

A m 12. Mai 1949 erfolgte die offizielle Genehmigung des Grundgesetzes durch die drei alliierten Militärgouverneure 278 , welches daraufhin in der letzten Sitzung des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 279 feierlich ausgefertigt und verkündet wurde. 280

XV. Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure vom 12. Mai 1949 Das Genehmigungsschreiben vom 12. Mai 1949 281 nahmen die Militärgouverneure zum Anlaß, noch einmal auf ihr Verständnis der von ihnen nur zähneknirschend akzeptierten Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG einzugehen, indem sie die während der Schlußkonferenz vom 25. April 1949 durch General Robertson vorgenommene - wie gezeigt nicht ganz korrekte - englische Übersetzung 282 nochmals wiedergaben. Dazu führten sie aus, daß diese Übersetzung damals von der deutschen Seite akzeptiert worden sei, weshalb die alliierten Hohen Kommissare den Artikel künftig in Übereinstimmung mit diesem englischen Text auslegen würden. 283 Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß die einschränkende Auslegung des Art. 72 Abs. 2 Nr. 3, wie sie in dem Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Ausdruck kam (Reduzierung auf Gesichtspunkte der Wirtschaftseinheit), zu keinem Zeitpunkt eine Geltung als verbindliches Präjudiz für die Auslegung des Grundgesetzes beanspruchen konnte. Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit hatte sich stets am Wortlaut zu orientieren, der eben nicht allein auf das wirtschaftliche Moment abstellte und daher mit der engen Auslegung durch die Militärgouverneure nicht zu vereinbaren war. 2 8 4 Dessenungeachtet war zunächst befürchtet worden, daß die Alliierten die in dem Schreiben vertretene Auslegung als Maßstab bei der Handhabung des ihnen nach dem Besatzungsstatut zustehenden Einspruchsrechts gegen Bundesgesetze verwenden würden. Da von dem Einspruchsrecht aber bis zur Aufhe-

278 Vgl. Wortlautprotokoll der deutsch-alliierten Besprechung v. 12.05.1949, abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 78, S. 264 ff.; Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure an Dr. Adenauer v. 12.05.1949, abgedr. a. a. O., Dok. Nr. 80, S. 273 f. 279 1 2. und letzte Plenarsitzung des Pari. Rates am 23.05.1949, Pari. Rat, Sten. Berichte, S. 271 ff. 280 BGBl 1949, S. 1 ff. 281 Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 8, Dok. Nr. 80, S. 273 f. 282 Vgl. Oben XII. 283 Vgl. Punkt 7 des Schreibens v. 12.05.1949, Der Pari. Rat, Bd. 8, a. a. O, S. 274. 284 So schon Grewe, DRZ 1949, 349 [351]; ders. in: Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, S. 28 ff. [32 f.]; ebenso Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 24.

§ 6 Zusammenfassung des ersten Teils

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bung des Besatzungsstatuts im Jahre 1955 kein Gebrauch gemacht wurde, sollte sich diese Befürchtung nicht bewahrheiten.

§ 6 Zusammenfassung des ersten Teils Entsprechend den Empfehlungen des Herrenchiemsee-Konvents hatte der Parlamentarische Rat ohne längere Diskussion und mit breiter Mehrheit beschlossen, den Kompetenztypus der konkurrierenden Gesetzgebung nach dem Vorbild der deutschen Verfassungstradition, zuletzt definiert in Art. 12 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung, prinzipiell unverändert in das Grundgesetz zu übernehmen. 285 Die Einführung der neuen und treffenderen, schließlich aber wieder aufgegebenen Bezeichnung „Vorranggesetzgebung" bedeutete lediglich eine terminologische Modifikation. Ergänzt wurde die Weimarer Definition um eine Soll-Vorschrift, die dem von der bayerischen Staatsregierung auf Herrenchiemsee unterbreiteten Verfassungsentwurf entstammte. Diese sehr unbestimmt gefaßte Norm („Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß.") stellte aber selbst nach bayerischer Auffassung lediglich eine politische Richtlinie für den Bundesgesetzgeber, nicht jedoch eine verfassungsgerichtlich überprüfbare Voraussetzung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz dar. Auf dieser Grundlage erarbeiteten der Zuständigkeitsausschuß, der Hauptausschuß und der Fünferausschuß des Parlamentarischen Rates unter stetigem Zwang zum Ausgleich zwischen Bundes- und Landesinteressen die Kompetenzkataloge der Art. 73, 74 und 75 GG. Gleichsam als roter Faden durch die gesamten Beratungen des Parlamentarischen Rats zog sich das Einvernehmen darüber, daß die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern in möglichst eindeutiger Weise zu erfolgen habe. Keinesfalls sollte diese Abgrenzung durch Verwendung zweifelhafter Begriffe zum Gegenstand künftiger verfassungsgerichtlicher Auseinandersetzungen gemacht werden. Allein aufgrund der Intervention der Alliierten vom 2. März 1949 wurde die vom Parlamentarischen Rat beschlossene Vorranggesetzgebung ^konkurrierende Gesetzgebung nach Weimarer Prägung) auf eine konkurrierende Bedarfsgesetzgebung reduziert. 286 Die Beibehaltung der hergebrachten Bezeich285

Daher kann der Bewertung von Stern (Staatsrecht II, § 37 II 3 e), der die Voraussetzungen der konkurrierenden Gesetzgebung als „von Anfang an umstritten" bezeichnet, nicht gefolgt werden. 286 Maunz, a. a. O., Rn. 16; ebenso v. Mangoldt/Klein, GG, 2. Aufl., Art. 72, Anm. IV 2 m. w. N.

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Teil 1 : Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG

nung „konkurrierende Gesetzgebung" vermag über diesen Befund nicht hinwegzutäuschen.287 Wäre darüber hinaus der von den Alliierten mit dem Memorandum vom 2. März 1949 vorgegebene, noch weitergehende Wortlaut zum Inhalt des Art. 72 GG geworden, so hätte der hierdurch normierte Gesetzgebungstyp sich nur noch als Vorranggesetzgebung der Länder bezeichnen lassen. Nach der als repräsentativ für den gesamten Parlamentarischen Rat (mit Ausnahme der CSU) anzusehenden Auffassung des Ratsabgeordneten und späteren nordrheinwestfälischen Innenministers Dr. Walter Menzel (SPD) hätte eine vollständige Umsetzung der alliierten Vorstellungen „niemals zu der von uns allen erstrebten Zusammenführung der drei westlichen Zonen, sondern zur Stabilisierung von elf Ländersouveränitäten geführt." 288 Demgegenüber konnte die Situation durch den hartnäckigen Widerstand des Siebenerausschusses teilweise entschärft werden. So konnte die insbesondere von Prof. Carlo Schmid stets mit Nachdruck verfochtene „Wahrung der Rechtsoder Wirtschaftseinheit" als Positivkriterium für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers (Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG) durchgesetzt werden, obwohl dies im klaren Widerspruch zum alliierten Memorandum von 2. März 1949 stand. Durch ihre generalklauselartige Fassung versprach diese Bestimmung, dem Bund die erstrebte Vorrangstellung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung weitgehend sicherzustellen. Dieser Erfolg war nicht zuletzt auf die verhandlungstaktisch sehr wirksame Hinzufügung des Begriffs der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" in der Schlußkonferenz vom 25. April 1949 zurückzuführen, womit deutlich gemacht wurde, daß Rechts- und Wirtschaftseinheit kein Selbstzweck sind, sondern einen erheblichen individualrechtlichen Einschlag besitzen. Ohne diese Präzisierung wäre die Bestimmung des Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG von den Alliierten höchstwahrscheinlich als zu weit gefaßt abgelehnt worden. Nicht ohne psychologische Wirkung war ferner die vom Siebenerausschuß vollzogene Rückkehr vom neu eingeführten Begriff „Vorranggesetzgebung" zu der föderalistischer anmutenden Weimarer Terminologie „konkurrierende Gesetzgebung" geblieben. Schließlich hatte der Allgemeine Redaktionsausschuß in Gestalt des in letzter Minute eingefügten Bedürfnis-Obersatzes den Alliierten ein Kukucksei ins Nest gelegt, über dessen Funktion verständlicherweise zunächst Stillschweigen gewahrt wurde, um die Genehmigung des Grundgesetzes nicht zu gefährden. Intern war man sich auf deutscher Seite darüber einig, daß durch den Begriff „Bedürfnis" der politische Charakter der vom Bundesgesetzgeber zu treffenden Entscheidung manifestiert und damit eine Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG in möglichst weitem Umfang ausgeschlossen werden sollte. 287 288

Vgl. auch Stern, a. a. O., § 37 II 3. Menzel, DV 1949, 312.

§ 6 Zusammenfassung des ersten Teils

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Trotz aller vom Parlamentarischen Rat eingebauten Sicherungsmechanismen zugunsten einer effektiven Vorrangstellung des Bundesgesetzgebers bei der konkurrierenden Gesetzgebung war aber zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Grundgesetzes noch nicht eindeutig absehbar, wie Art. 72 Abs. 2 GG vom künftigen Bundesverfassungsgericht ausgelegt werden würde - denn dieses hatte aufgrund der immensen Weite der gesetzlichen Formulierung die Kompetenz erhalten, über die Intensität seiner Rechtskontrolle selbst zu befinden.

6 Neumeyer

Zweiter Teil

Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur § 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum Die im Parlamentarischen Rat zutage getretenen grundsätzlichen Divergenzen hinsichtlich der Ausprägung des Föderalismus fanden nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ihre Fortsetzung in der juristischen Diskussion über die Auslegung der einschlägigen Verfassungsartikel. Bereits die Weinheimer Tagung über das Thema „Bundesrecht und Bundesgesetzgebung" am 22. und 23. Oktober 19491, zu der das Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Frankfurt zahlreiche Gäste aus Politik, Rechtsprechung, Staatsrechtslehre und Anwaltschaft eingeladen hatte, führte zu einer Wiederbelebung der aus dem Parlamentarischen Rat bekannten Positionen. In diesem Kontext vermag es kaum zu überraschen, daß schon vor der Konstituierung des Bundesverfassungsgerichts die Auslegung der in Art. 72 Abs. 2 GG enthaltenen Bedürfnisklausel zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung wurde. Den Anstoß zu der Diskussion gab die Anfang der 50er Jahre hochaktuelle Streitfrage, ob im Rahmen der Anwendung der Übergangsbestimmung des Art. 125 GG 2 die Fortgeltung von Reichsrecht zusätzlich von der Feststellung eines Bedürfnisses gemäß Art. 72 Abs. 2 GG abhängig zu machen sei.3 Die Beantwortung dieser Frage setzte eine Klärung der rechtlichen Tragweite der Bedürfnisklausel voraus. Hierzu wurden verschiedene Grundpositionen vertreten, deren literarischer Niederschlag auch im Hinblick

1

Vgl. hierzu den Tagungsbericht „Bundesrecht und Bundesgesetzgebung"; Liste der Teilnehmer ebenda, S. 8 ff.; Überblick zur Tagung bei Ule, DV 1949, 611 f. 2 Wortlaut des Art. 125 GG: „Recht, das Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes betrifft, wird innerhalb seines Geltungsbereiches Bundesrecht, 1. soweit es innerhalb einer oder mehrerer Besatzungszonen einheitlich gilt, 2. soweit es sich um Recht handelt, durch das nach dem 8. Mai 1945 früheres Reichsrecht abgeändert worden ist." 3 Näher Ringelmann in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 18 ff.; das BVerfG entschied diese Frage im Jahre 1952 im negativen Sinne in BVerfGE 1, 283 [293 ff.]; seitdem stRspr, vgl. BVerfGE 7, 18 [25]; 7, 330 [337]; 23, 113 [122].

§ 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum

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auf die heutige Diskussion um die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG unvermindert aufschlußreich ist.

I. Bedürfnisfrage als Frage des politischen Ermessens 7. Beschränkung der Justitiabilität

auf Ermessensmißbrauch

Im Schrifttum wurde damals überwiegend die Auffassung vertreten 4, daß die Bedürfnisfrage als Frage des politischen Ermessens anzusehen sei, über die allein der Bundesgesetzgeber zu entscheiden habe. Diese Entscheidung sollte vom Bundesverfassungsgericht lediglich unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmißbrauchs überprüfbar sein.5 Damit befand man sich in Übereinstimmung mit dem Willen der Mehrheit des Parlamentarischen Rates. Begründet wurde diese Interpretation der Bedürfnisklausel im wesentlichen mit dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung. Die Bejahung oder Verneinung eines Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung stelle eine politische Entscheidung dar, die den zur Gesetzgebung berufenen Organen Bundestag und Bundesrat vorbehalten sei. Ein Richter könne nicht die Befugnis in Anspruch nehmen, das politische Urteil der gesetzgebenden Organe durch sein eigenes richterliches Urteil zu ersetzen.6 Außerdem wurde auf die praktischen Schwierigkeiten hingewiesen, welche die Beantwortung derartiger politischer Fragen einem Gericht voraussichtlich bereiten würde. 7 Ferner bezog man sich auf die Weimarer Tradition in Gestalt der zur Bedarfskompetenz gemäß Art. 9 WRV herrschenden Auslegung8, welche die Beantwortung der Bedürfnisfrage in das Ermessen des Reichsgesetzgebers gestellt hatte.9 4 Grewe in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 31 f., 172, 175; Strauß, ebenda, S. 119; Wimmer, ebenda, S. 179; Höpfner, MDR 1949, 654 [656]; H. P. Ipsen, DV 1949, 486 [491]; v. Mangoldt, GG, Art. 72, Anm. 3; E. Wolff, DRZ 1950, 1 [4]; Zinn, AöR, Bd. 75 (1949), 291 [298]; ders., NJW 1949, 684 [687]; ders. in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 54, 61 u. 98; ähnlich Giese, GG, Art. 72, Anm. 3. 5 Im Erg. ähnlich, wenn auch von abweichenden, zudem untereinander entgegengesetzten Grundpositionen ausgehend: Herbert Krüger, DÖV 1950, 536 [538 f., 541] (grds. justizfreier politischer Akt, aber trotzdem gerichtliche Kontrolle bei Willkür) sowie Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 39 u. 117 f. (grds. justitiabel, denn es sei „nicht so, daß die Auffassung der gesetzgebenden Faktoren des Bundes unbedingt maßgebend wäre", andererseits aber „sicherlich in großem Umfang Ermessenssache"). 6 Statt aller: E. Wolff, a. a. Ο. 7 Giese, a. a. O.; Nawiasky , a. a. O., S. 117. 8 Vgl. hierzu oben § 1 III. 9 So etwa Grewe, a. a. O., S. 32.

6*

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur 2. Vollständige

Verneinung der Justitiabilität

Noch weitergehend lehnte eine andere Ansicht 10 selbst die eingeschränkte Justitiabilität der Bedürfnisentscheidung des Bundesgesetzgebers unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmißbrauchs ab. Diese Auffassung wurde damit begründet, daß auch die Frage nach den Grenzen des gesetzgeberischen Ermessens eine in höchstem Maße politische Frage darstelle, weil auch sie nur aufgrund politischer Wertungen zu beantworten sei, zumal in der Praxis die Ermessensmißbrauchsprüfung kaum von einer materiellen Prüfung der Hauptentscheidung getrennt werden könne. Es wurde davor gewarnt, die fundamentale Stellung der Legislative als einziger zur Gestaltung des Gemeinschaftslebens demokratisch legitimierter Instanz durch Überdehnung richterlicher Kompetenzen zu untergraben. 11 Das Bundesverfassungsgericht werde durch eine Mißbrauchsprüfung in den politischen Kampf hineingezogen, der letztlich auf justizförmige Weise nicht auszutragen sei, vielmehr „die Justiz dabei alles zu verlieren" habe.12 Aufgrund ähnlicher Bedenken legte Bachof die Konsequenz nahe, die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht als Rechtsnormen, sondern lediglich als injustitiable „politische Direktiven" anzusehen.13 Weiterhin wurde auf die Wesensverschiedenheit zwischen legislativen und verwaltungsbehördlichen Entscheidungen hingewiesen, aufgrund welcher die Ermessensfehlerlehre als ein nach spezifisch verwaltungsrechtlichen Kategorien ausgerichtetes Institut bei der Überprüfung gesetzgeberischer - und damit von politischen Motiven determinierter - Akte keine Anwendung finden könne. 14 So gab etwa Hans Schneider 5 zu bedenken, daß ein neutraler Dritter wie es eben auch der Richter sei - zwar beurteilen könne, ob beispielsweise ein Polizist sich bei einer Amtshandlung von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen, denn was hier sachfremd sei, ergebe sich aus den gesetzlich beschriebenen Aufgaben der Polizei. Hingegen könne im Bereich der Politik jeder erdenkliche, auf das Staatsleben bezogene Gesichtspunkt ein Entscheidungsmotiv bilden, weshalb hier der Einfluß „sachfremder" Erwägungen vom Richter kaum feststellbar sei.

10 Bachof VVDStRL, Bd. 9 (1952), 118 f.; ders., DRZ 1950, 341 [342 u. Fn. 6]; Bühler in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 121; Heimerich, ebenda, S. 178; Seuffert, ebenda, S. 122, 181; Dernedde, DVB1. 1950, 414 [415]; Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte, S. 34; ähnlich Apelt, VVDStRL, Bd. 9 (1952), 119 [119 f.] 11 Apelt, a. a. O., S. 120. 12 So Dernedde, a. a. O. 13 Bachof, a.a.O.,S. 119. 14 Schneider, a. a. O., S. 39 ff.; Apelt, a. a. O., S. 119 f.; Bachof, a. a. Ο., ders., DRZ 1950, 341 [342, Fn. 6]; Dernedde, a. a. O. 15 A. a. O., S. 41.

§ 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum

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Einen weiteren pragmatischen Gesichtspunkt führte Bühler 6 an, indem er betonte, daß für die überragenden Aufgaben der Nachkriegsjahre, insbesondere für die Sicherung der Ernährung und für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, primär der Bund die Verantwortung trage und kein Land geneigt sei, ihm diese Verantwortung abzunehmen. Daher müsse bei zweifelhaften Verfassungsfragen stets die Erhaltung der Bewegungsfreiheit der Bundesorgane den Ausschlag geben, die nicht durch ständige Sorge vor Einsprüchen der Länder gelähmt werden dürfe. II. Bedürfnisfrage als unbeschränkt justitiable Rechtsfrage Von einer in der Minderheit befindlichen Gegenmeinung17 wurde die Frage nach dem Vorliegen des Bedürfnisses für eine bundesgesetzliche Regelung als reine Rechtsfrage angesehen, die in vollem Umfang der Überprüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts unterliege. Ein Ermessensspielraum bei der Bedürfnisprüfung wurde dem Bundesgesetzgeber nicht zugestanden. Kratzer 8 führte dazu in seiner - wohl eingehendsten - Darlegung dieser Position aus, daß in Art. 72 Abs. 2 GG ausdrücklich und präzise festgelegt sei, unter welchen Voraussetzungen ein Bedürfnis anzunehmen oder aber zu verneinen sei. Mithin könne in jedem Einzelfall vom Bundesgesetzgeber nur eine einzige rechtmäßige Entscheidung getroffen werden. Gebe es aber nur eine Entscheidungsmöglichkeit, so könne kein Fall der Ermessensausübung vorliegen. Bei der Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG handele es sich demzufolge „um Rechtsanwendung, nicht um eine Ermessensentscheidung, sonach um eine Angelegenheit, die nach den allgemeinen Regeln der richterlichen Nachprüfung unterworfen" sei. Eine Begründung der gegenteiligen Auffassung aus der zur Bedarfsgesetzgebung gemäß Art. 9 WRV herrschenden Meinung (Ermessensentscheidung des Reichsgesetzgebers) lehnte Kratzer mit dem Argument ab, daß es in Art. 9 WRV gerade an einer qualifizierten Umschreibung der Voraussetzungen für die Bedürfnisprüfung, wie sie nunmehr das Grundgesetz beinhalte, gefehlt habe.19 Im übrigen sei die Weimarer Praxis schon damals keineswegs unbestritten gewesen.20 16

Bühler, a. a. O., S. 167. Fröhler, DVB1. 1950, 490 [492]; Kratzer, DVB1. 1950, 396 ff.; Ringelmann in Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 22, 27, 173 f., 182 f.; zust. Hamann, GG, Art. 72, Anm. 4; Herrfahrdt in: Bonner Kommentar, Art. 72, Anm. II 3 a. E.; grds. für Überprüfbarkeit durch BVerfG auch Schäfer, DRZ 1950, 26 [29 f.]. 18 Kratzer, a. a. O. 19 Ebenso Fröhler, a. a. O. 20 Ebenso Schäfer, a. a. Ο. 17

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur

Weiterhin wies Kratzer darauf hin, daß Meinungsverschiedenheiten zwischen einem Land und dem Bund über die Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG unter die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG fielen, und deshalb im Falle einer Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf Ermessensmißbrauch aus Art. 93 GG „ein Hauptanwendungsfall herausgeschnitten" würde. 21 Damit würde den Ländern auf einem für ihre bundesstaatlichen Rechte essentiell wichtigen Gebiet jegliche Sicherung und Rechtskontrolle entzogen, was mit den Grundgedanken der föderalistischen Verfassung nicht vereinbar sei. Kratzer gelangte nach alledem zu dem Ergebnis: „Wenn von einem Lande das Vorliegen des Bedürfnisses für eine bundesgesetzliche Regelung nach Art. 72 Abs. 2 bestritten wird, kann und muß das hierwegen angerufene Bundesverfassungsgericht die Sach- und Rechtslage nach jeder Richtung prüfen." 22 Fröhler 23, der sich der Auffassung Kratzers anschloß, hielt es sogar für „nachgerade verwunderlich", daß man überhaupt auf den Gedanken verfallen könne, der Verfassungsgesetzgeber hätte im Hinblick auf Art. 72 Abs. 2 GG eine Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers gewollt. Schließlich handele es sich bei der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen um einen zentralen Punkt der bundesstaatlichen Verfassung, an welchem die Gewährung umfassenden Rechtsschutzes selbstverständlich sei. I I I . Bezüge zur Entstehungsgeschichte In den meisten der vorstehend erörterten frühen Veröffentlichungen zur Problematik des Art. 72 Abs. 2 GG wurde auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift herangezogen - ein Aspekt, der in den folgenden Jahrzehnten weitgehend aus dem Blickfeld geraten sollte. So hoben die Vertreter einer Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle hervor, daß die Formulierung der Bedürfnisklausel nicht dem Willen des deutschen Verfassungsgesetzgebers entspreche, sondern vielmehr das Ergebnis einer alliierten Intervention darstelle. 24 Damit stand ein starkes Argument für das Bestreben zur Verfügung, die Bedeutung der Bedürfnisklausel

21

Kratzer, a. a. O., S. 397. Kratzer, a. a. Ο. 23 Fröhler, a. a. Ο. 24 v. Mangoldt , GG, Art. 72, Anm. 1; Dernedde, DVB1. 1950, 414 [415]; ders., DV 1949, 315 [315 f.]; Höpfner, MDR 1949, 654 [655]; E. Wolff, DRΖ 1950, 1 [4]; Zinn in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 98; vgl. ferner Apelt, NJW 1949, 482 [484]. 22

§ 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum

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durch eine entsprechend bundesfreundliche Auslegung zu dämpfen, anstatt sie durch rigorose verfassungsgerichtliche Kontrolle noch zu steigern. August Zinn, zuvor Mitglied des Parlamentarischen Rates und zu dieser Zeit Justizminister des Landes Hessen25, äußerte sich im Zirkel der bereits erwähnten Weinheimer Tagung sehr viel offener über den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund seines Eintretens für eine beschränkte Justitiabilität: Nachdem er dargelegt hatte, daß die enumerative Regelung des Art. 72 Abs. 2 GG allein auf alliierte Intervention zurückzuführen sei, erinnerte er an die Absicht des Allgemeinen Redaktionsausschusses, mit der Formulierung des BedürfnisObersatzes die Justitiabilität des gesamten Art. 72 Abs. 2 GG definitiv auszuschließen.26 Die einhellige Haltung des Parlamentarischen Rates zu dieser Frage hob auch der ehemalige Ratsabgeordnete Walter Straußf 7 hervor, indem er an den Verlauf der internen Unterredung der deutschen Delegation während der SchlußVerhandlungen mit den Alliierten am 25. April 1949 erinnerte. Damals hätten sogar überzeugte Föderalisten wie der bayerische Vertreter Laforet nach Wegen gesucht, dem Bundesverfassungsgericht ein Eingreifen zu verwehren. Strauß leitete daraus das Erfordernis einer möglichst restriktiven Auslegung der Bedürfnisklausel her. Mit einer eindrucksvollen Stellungnahme zur Entstehungsgeschichte hob sich ferner ein Aufsatz von Kern 28 heraus, in dem dieser ausführt: „Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß sowohl die Grundsätze wie die Einzelheiten der Abfassung der Art. 72 ff. GG auf die Intervention der Besatzungsmächte zurückgehen. Der Parlamentarische Rat hatte eine staatsrechtlich klare Form der bundesstaatlichen Gesetzgebungskonkurrenz in Gestalt der „Vorranggesetzgebung" herausgearbeitet. Sowohl der Begriff als auch seine verfassungstechnische Funktion wurden durch Verfassungsintervention der Alliierten aus dem Entwurf des Grundgesetzes entfernt und nach mühsamen Verhandlungen schließlich durch eine bedingt konkurrierende Gesetzgebungskompetenz i. S. einer von besonderer Bedürfnisprüfung abhängigen Bedarfskompetenz ersetzt. Die bedürfnisbedingte, konkurrierende Gesetzgebungskompetenz in der Form des Art. 72 Abs. 2 GG geht deshalb ausschließlich auf eine interventionistische Korrektur des deutschen Verfassungsgebers durch die Besatzungsmächte zurück, [...] Keine deutsche Partei und keines der jetzt zur Bundesrepublik zusammengeschlossenen Länder hat eine „Föderalisierung" der deutschen Rechtssetzungskompetenzen in der jetzigen Form der bedürfnisbedingten Bundesgesetzgebungsbefugnis gewollt. Der deutsche Verfassungsgeber hätte diese Lösung nicht verwirklicht, hätte in diesem Punkt die Freiheit der Verfassungsentscheidung bestanden."

25

Später wurde Zinn Ministerpräsident des Landes Hessen. Zinn, a. a. Ο.; näher oben § 5 XIII. 27 Strauß in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 119, 150, 176; zust. Η. P. Ipsen, ebenda, S. 140. 28 MDR 1950, 68. 26

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur

Auch die Minderheit der Vertreter einer umfassenden Rechtskontrolle ging auf die Genese ein, jedoch befand man sich hier naturgemäß in der Defensive. So wehrte sich Schäfer 29 dagegen, unter Hinweis auf die alliierte Intervention „die Regelung des Art. 72 Abs. 2 als der deutschen Rechtsauffassung widerstreitend zu diskreditieren". Dies sei deshalb unangebracht, weil schließlich die Mehrheit des Parlamentarischen Rates jene Regelung im ordnungsgemäßen Verfahren verabschiedet habe. Ringelmann 0 schließlich wandte ein, daß Art. 72 Abs. 2 GG keineswegs ausschließlich als Produkt alliierten Einflusses betrachtet werden dürfe, weil auch in früheren Entwürfen des Parlamentarischen Rates durchaus der Bedürfnisgedanke ausgesprochen worden sei, wenn auch nicht in Form der Auffächerung in drei Einzelklauseln. Gemeint war damit die seit dem HerrenchiemseeKonvent verwendete Soll-Bestimmung (Art. 34 Satz 2 HChE 31 ). I V . Bewertung des vom Bundesverfassungsgericht vorgefundenen Diskussionsstandes Aus einer Bewertung des vorstehend umrissenen Diskussionsstandes kann ein Bild über die staatsrechtliche Ausgangslage gewonnen werden, in welcher das Bundesverfassungsgericht seine Position zur Bedürfnisklausel zu finden hatte. Hierzu sind die von den Vertretern der verschiedenen Auffassungen vorgebrachten Argumente einander gegenüberzustellen. Zunächst wies die für volle Justitiabilität eintretende Mindermeinung mit Recht darauf hin, daß der Bestimmung des Art. 72 Abs. 2 GG trotz des alliierten Einflusses keine im Vergleich zu anderen Grundgesetz-Artikeln eingeschränkte Wirksamkeit beigemessen werden konnte. Denn aufgrund der einheitlichen Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat verbot sich eine juristische Differenzierung zwischen „deutschen" und „alliierten" Artikeln. Die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG war daher wie jede andere gültige Rechtsnorm in erster Linie nach ihrem objektiven Bedeutungsgehalt auszulegen. Der Wortlaut sprach insofern für die Argumentation der Mindermeinung, als diese sich dagegen wandte, die zur Weimarer Bedarfsgesetzgebung gemäß Art. 9 WRV herrschende Auslegung heranzuziehen: Es trifft zu, daß die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 GG aufgeschlüsselte Bedürfnisklausel im Vergleich zu der völlig unbestimmten Regelung des Art. 9 WRV strengere Voraussetzun29

DRZ 1950, 26 [29]. In: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 153. 31 Wortlaut: „Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muß."; näher oben § 3 II 3. 30

§ 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum

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gen für die Annahme eines Bedürfnisses aufstellte. Der Verweis auf die zur Weimarer Zeit herrschende Meinung vermochte deshalb nicht überzeugend zu begründen, daß die grundgesetzliche Regelung ebenso eingeschränkt justitiabel sei. 32 Untersuchte man jedoch den Normtext des Art. 72 Abs. 2 GG näher, so stieß man innerhalb der Qualifizierungen wiederum auf zahlreiche unbestimmte Formulierungen wie „Bedürfnis", „Interessen der Gesamtheit", „Rechts- oder Wirtschaftseinheit" und „Einheitlichkeit der Lebens Verhältnisse". Der Begriff „Bedürfnis" ließ zudem die entscheidende Frage offen, wer dieses Bedürfnis zu formulieren hatte. In Anbetracht dessen war die These Kratzers, wonach in jedem Einzelfall nur eine einzige rechtmäßige Entscheidung denkbar sei 33 , nicht haltbar. Somit sprach der Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG trotz seiner aufwendigen Formulierung jedenfalls nicht zwingend für eine umfassende Rechtskontrolle des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Bundesgesetzgeber. Folglich konnte allein aufgrund einer Betrachtung des Normtextes keiner der beiden Auffassungen der Vorzug eingeräumt werden, so daß weitere Auslegungshilfen heranzuziehen waren. Die Systematik des Grundgesetzes bestätigte einerseits den von der Mindermeinung angeführten hohen Stellenwert des Föderalismus als grundlegendes Verfassungsprinzip. Andererseits gab eine systematische Betrachtung zusätzlich Aufschluß darüber, auf welche Weise das Grundgesetz das bundesstaatliche System gewährleisten wollte. So zeigte sich, daß im VII. Abschnitt des Grundgesetzes knappe und präzise gefaßte Bestimmungen vorherrschten. Vor allem die Kompetenzkataloge der Art. 73, 74 und 75 GG, aber auch die grundlegenden Bestimmungen der Art. 70, 71 und 72 Abs. 1 GG spiegeln das Streben des Parlamentarischen Rates nach möglichst eindeutigen Formulierungen im Bereich der Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen wieder. Die vergleichsweise komplizierte Bedürfnisregelung des Art. 72 Abs. 2 GG, die mit einer Vielzahl auslegungsbedürftiger Begriffe die durch Art. 74, 75 und 72 Abs. 1 GG zugewiesenen Bundeskompetenzen relativierte, erschien hier als Fremdkörper. Eine zurückhaltende Rechtskontrolle im Sinne der herrschenden Meinung konnte die mit diesem Fremdkörper verbundenen Unsicherheiten zumindest teilweise neutralisieren. Ebenfalls auf die Systematik des Grundgesetzes konnte sich der von der herrschenden Auffassung angeführte Gesichtspunkt der Gewaltenteilung als ein Grundprinzip der Verfassung stützen. Das hiermit verbundene Hauptargument, daß die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Tatbestände aufgrund politischer

32 33

Insoweit kritisch auch Rotberg in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 123 f. Oben II.

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur

Wertungen auszufüllen seien, die nicht durch Richterspruch ersetzt werden könnten, blieb seitens der Mindermeinung unwiderlegt. Eine Betrachtung des Normzwecks führte zur Entstehungsgeschichte und warf zunächst die Frage auf, ob hierbei die von den Alliierten verfolgte Intention - justitiable Eindämmung der Bundesgewalt - oder aber der Wille des Parlamentarischen Rates zugrundezulegen waren. Die Antwort auf diese Frage gibt das Frankfurter Dokument Nr. 1 vom 1. Juli 1948 34 , aus dem eindeutig hervorgeht, daß allein der Parlamentarische Rat den Status des Verfassungsgebers beanspruchen konnte. Die Interventionen der Alliierten hatten demgegenüber stets nur inoffiziellen Charakter und konnten daher verfassungsrechtlich verbindliche Auswirkungen nur zeitigen, sofern sie sich im verabschiedeten Wortlaut der Verfassung eindeutig niederschlugen und somit dem Parlamentarischen Rat als dessen Wille zuzurechnen waren. Daraus folgt, daß bei zweifelhaften Regelungen wie dem Art. 72 Abs. 2 GG diejenige Zielvorstellung, die der Parlamentarische Rat zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Grundgesetzes mit der Vorschrift verband, den unbedingten Vorrang gegenüber einer etwa abweichenden Intention der Besatzungsmächte genießt. Der Parlamentarische Rat aber war davon ausgegangen, daß die gemäß Art. 72 Abs. 2 GG zu treffende Bedürfnisentscheidung in das gerichtlich allenfalls auf Mißbrauch überprüfbare Ermessen des Bundesgesetzgebers zu stellen sei. Diese Intention hatte im übrigen auch einen objektiven Ausdruck im Wortlaut der Norm gefunden, und zwar in Gestalt des Bedürfnis-Obersatzes, der kurz vor Verabschiedung des Grundgesetzes in bewußter Abweichung vom deutsch-alliierten Verhandlungsergebnis vom 25. April 1949 vorangestellt worden war. 35 Die Teleologie vermochte daher die Mindermeinung ebenfalls nicht zu stützen. Für die herrschende Meinung sprach außerdem der weitere, genetisch bedeutsame Umstand, daß der Parlamentarische Rat die Kompetenzkataloge der Art. 74 und 75 GG in dem Bewußtsein formuliert hatte, die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz sei im Grundsatz bestimmt durch die aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 WRV übernommene schrankenlose Definition, lediglich ergänzt um die als politische Richtlinie gedachte Soll-Bestimmung aus Art. 34 Satz 2 HChE. Von der Existenz der einschränkenden Bedürfnisvoraussetzungen ging dagegen bei der langwierigen Entwicklung des Kompetenzsystems der Art. 70 ff. GG, insbesondere im Rahmen der harten Auseinandersetzungen um den Zuständigkeitskatalog des Art. 74 GG 3 6 , niemand aus.

34 35 36

Abgedr. in: Der Pari. Rat, Bd. 1, Dok. Nr. 4, S. 30 ff.; näher oben § 2. Vgl. oben § 5 XIII. Vgl. oben § 4 II.

§ 7 Art. 72 Abs. 2 GG im frühen Schrifttum

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Der Hinweis Ringelmanns 37 auf die ursprüngliche Formulierung des Parlamentarischen Rates und den angeblich auch hier schon verkörperten Bedürfnisgedanken griff dagegen nicht durch, weil bei der Klausel des Art. 34 Satz 2 HChE das Fehlen jedweder gerichtlichen Nachprüfbarkeit evident war und sich deshalb hieraus ein Argument für die Justitiabilität der neuen Regelung schwerlich ableiten ließ. Die für die Lehre von der Bedürfnisfrage als Rechtsfrage grundlegende Argumentation von Kratzer % schließlich litt daran, daß die Entstehungsgeschichte nicht berücksichtigt wurde. So sah Kratzer mögliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG als einen „Hauptanwendungsfall" im Zuständigkeitskatalog für das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 GG an, dessen Beschränkung sich mit „Grundgedanken" der Verfassung keinesfalls vertrage. Dabei übersah er erstens, daß der Katalog des Art. 93 GG sich bereits längst in seiner endgültigen Fassung im Grundgesetz-Entwurf befunden hatte, als die Alliierten am 2. März 1949 erstmals die Formulierung einschränkender Voraussetzungen für die konkurrierende Gesetzgebung forderten. Zweitens hatten zu diesem Zeitpunkt auch sämtliche als solche zu bezeichnenden „Grundgedanken" der Verfassung ihre Gestalt angenommen. A u f dem Gebiet der bundesstaatlichen Gesetzgebung lautete einer dieser Grundgedanken, daß eine Behelligung des Bundesverfassungsgerichts mit Fragen der Kompetenzabgrenzung möglichst vermieden werden müsse. Gleichermaßen widerlegbar argumentierte Fröhler, der ebenfalls auf die Entstehungsgeschichte nicht einging, andererseits aber - fehlgehend - spekulierte, daß „der Verfassungsgesetzgeber schwerlich eine Ermessensentscheidung gewollt haben" könne. 39 Somit sprachen systematische, teleologische sowie entstehungsgeschichtliche Erwägungen für die von der herrschenden Meinung vertretene Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG. Hinzu trat der Gesichtspunkt der Praktikabilität, da von der Mindermeinung keine Lösung für die von der Gegenauffassung reklamierten praktischen Schwierigkeiten bei der richterlichen Überprüfung der Bedürfnisfrage angeboten wurde. Sogar die kompromißlose Variante der herrschenden Auffassung, die für eine richterliche Enthaltsamkeit selbst hinsichtlich einer Ermessensmißbrauchsprüfung eintrat, konnte mit dem Hinweis auf die Wesensverschiedenheit von legislativem und exekutivem Ermessen sowie auf die Untrennbarkeit der Mißbrauchsprüfung von der materiellen Prüfung der Hauptentscheidung durchaus 37 38 39

Oben III. Oben II. Fröhler, DVB1. 1950, 490 [492]; vgl. oben II.

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur

beachtliche Argumente vorweisen, die durch die Mindermeinung nicht aufgegriffen oder gar entkräftet wurden. Demzufolge läßt sich der Diskussionsstand Anfang der 50er Jahre zusammenfassend dahingehend bewerten, daß den herrschenden Auffassungen, die für eine zumindest stark eingeschränkte verfassungsgerichtliche Überprüfung der Bedürfnisvoraussetzungen eintraten, keine schlüssige Konzeption entgegengesetzt wurde.

§ 8 A r t . 72 Abs. 2 G G in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In Anbetracht des dargestellten Diskussionsstandes im Schrifttum richtete sich der Blick auf Karlsruhe, wo das Bundesverfassungsgericht am 7. September 1951 seine Arbeit aufnahm. 40

I. Südweststaat-Urteil (1951) Die erste - im einschlägigen Schrifttum freilich nahezu unbeachtet gebliebene - Äußerung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedürfnisklausel findet sich im sogenannten Südweststaat-Urteil vom 23. Oktober 1951.41 In dieser Entscheidung des Zweiten Senats erklärte das Gericht das auf Art. 118 Satz 2 GG gestützte „Erste Gesetz zur Durchführung der Neugliederung in dem die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern umfassenden Gebiete" für nichtig. Durch das Gesetz sollten die Wahlperioden der Landtage Badens und Württemberg-Hohenzollerns über die in der jeweiligen Landesverfassung festgelegte Zeit hinaus verlängert werden. Nachdem die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers für eine derartige Regelung bereits wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip sowie gegen das bundesstaatliche Prinzip des Grundgesetzes verneint worden war, prüfte der Senat zusätzlich im Rahmen einer Hilfsbegründung die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG. Er stellte dabei fest, daß vorliegend allein die Bedürfnisalternative der Nr. 1 - keine Möglichkeit wirksamer Regelung durch Landesgesetz - in Betracht komme, diese jedoch nicht erfüllt sei, weil die von der Landtagsverlängerung betroffenen Länder auch nach Erlaß des Neugliederungsgesetzes noch die Möglichkeit gehabt hätten, die Verlängerung ihrer Landtage selbständig wirksam zu regeln. Sodann heißt es in dem Urteil wörtlich: 40 41

Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 1. BVerfGE 1,14.

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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„Eine Regelung der Angelegenheit durch ein Bundesgesetz war also nicht erforderlich und das Gesetz wäre nach Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 GG nicht zulässig."42 Diese Ausführungen des Zweiten Senats schienen darauf hinzudeuten, daß das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 entgegen der herrschenden Lehre als justitiable Rechtsfragen behandeln würde.

I I . Schornsteinfeger-Urteil (1952) Ein halbes Jahr später gab auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Stellungnahme zur Bedürfnisklausel ab. Er hatte sich mit den Verfassungsbeschwerden mehrerer Bezirksschornsteinfegermeister gegen das vom Bund erlassene „Gesetz zur Ordnung des Schornsteinfegerwesens" vom 22. Januar 1952 zu befassen. 43 Die Beschwerdeführer rügten unter anderem, daß die Voraussetzungen zum Erlaß eines Bundesgesetzes gemäß Art. 72 GG nicht gegeben seien. Eine solche Rüge ist im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde zulässig, weil eine Eingriffsnorm, die wegen Verstoßes gegen Kompetenzvorschriften verfassungswidrig wäre, außerhalb der „verfassungsmäßigen Ordnung" im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG stünde und deshalb dieses Grundrecht verletzen würde. 44 Das Gericht konnte jedoch in der betreffenden Entscheidung diese Zulässigkeitsfrage noch offen lassen, weil die Verfassungsbeschwerden bereits wegen der behaupteten Verletzung weiterer Grundrechte unproblematisch zulässig waren. 45 Die Verfassungsbeschwerden wurden mit Urteil vom 30.04.1952 zurückgewiesen. In der Begründung wurde die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Erlaß des angegriffenen Gesetzes auf Art. 74 Nr. 11 GG (Handwerksrecht) gestützt. Zum darüberhinaus erforderlichen Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG führte der Erste Senat aus: „Dabei ist zunächst zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht das Vorliegen eines Bedürfnisses überhaupt prüfen kann oder ob es sich hier nicht - wie es für den ähnlichen Fall der 'Bedarfs-Gesetzgebung' nach Art. 9 der Weimarer Verfassung fast allgemein angenommen wurde - um eine nicht-justitiable Frage des gesetzgeberischen Ermessens handelt. Es können gewichtige Gründe dafür geltend gemacht werden, die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung der Bedürfnis42

BVerfGE 1, 14 [35 f.]. BVerfGE 1,264. 44 Vgl. BVerfGE 6, 32 [41] („Elfes-Urteil"); zur Bedeutung des Individualrechtsschutzes für die Sicherung des Kompetenzsystems Bullinger, DOV 1970, 761 [774 ff.]; vgl. ferner Übersicht zur Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 72 Abs. 2 GG in: JA 1971,253. 45 BVerfGE 1,264 [271]. 43

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur frage - von Fällen eines Ermessensmißbrauchs durch den Gesetzgeber abgesehen zu verneinen."46

Die damit aufgeworfene Frage wurde jedoch in diesem Urteil noch offen gelassen, weil ihre Beantwortung als nicht entscheidungserheblich angesehen wurde. Für einen Ermessensmißbrauch auf Seiten des Bundesgesetzgebers sah das Gericht beim Schornsteinfegergesetz keinerlei Anhaltspunkte und erachtete selbst für den Fall, daß die verfassungsgerichtliche Zuständigkeit zur Kontrolle der Bedürfnisfrage allgemein bejaht werden sollte, jedenfalls vorliegend die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 und 3 GG als vom Bundesgesetzgeber ausreichend dargetan. 47 Trotzdem hatte der Erste Senat bereits deutlich zu erkennen gegeben, daß er den vom Zweiten Senat im Südweststaat-Urteil eingeschlagenen Weg nicht weiterzuverfolgen beabsichtigte. Stattdessen hatte er seine Zweifel an der verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit des Bedürfnisses gemäß Art. 72 Abs. 2 GG in einer Weise angemeldet, welche - wie sich im folgenden zeigen wird die künftige Entwicklung der Rechtsprechung zu dieser Frage bereits vorwegnehmen sollte. I I I . Erstes Ladenschlußgesetz-Urteil (1952) Nur wenige Wochen nach der Verkündung des Schornsteinfeger-Urteils ergriff der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts abermals die Gelegenheit zu einer Äußerung über Art. 72 Abs. 2 GG. Mit seinem Urteil vom 20. Mai 195248 über die Verfassungsmäßigkeit landesgesetzlicher Ladenschlußregelungen in Baden und Bremen 49 entschied er die bis dahin kontrovers diskutierte Frage nach der Anwendbarkeit des Art. 72 Abs. 2 GG im Rahmen der Übergangsbestimmung des Art. 125 GG. 5 0 Im Einklang mit der hierzu herrschenden Auffassung im Schrifttum stellte das Gericht fest, daß die Fortgeltung einer reichsrechtlichen Norm als Bundesrecht gemäß Art. 125 GG nicht davon abhängig sei, daß ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG bestehe.51 In diesem Zusammenhang sprach der Erste Senat auch die Frage der verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 46

BVerfGE 1,264 [272 f.]. BVerfGE 1,264 [273]. 48 BVerfGE 1,283. 49 „Gesetz über den Ladenschluß" des Landes Baden v. 28.03.1951; „Gesetz über die Ladenverkaufszeiten" der Hansestadt Bremen v. 18.07.1950 i. d. F. des Gesetzes v. 17.10.1950. 50 Vgl. hierzu bereits oben § 7. 51 BVerfGE 1,283 [293]. 47

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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GG an, ließ sie aber erneut ausdrücklich offen. 52 Nachfolgend ging er - zum ersten und zugleich einzigen Mal in der Rechtsprechung des Gerichts - auf die Entstehungsgeschichte der Bedürfnisklausel ein: „Die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates ergeben nicht, daß zu dem heutigen Art. 125 GG besondere Erörterungen über die Bedürfnisklausel stattgefunden hätten, nachdem Art. 72 Abs. 2 GG seine heutige Fassung auf ein Memorandum der Militärgouverneure vom 2. März 1949 hin erhalten hatte. Immerhin hat der Abgeordnete Zinn auf der Weinheimer Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten vom 22./23. Oktober 1949 zur Geschichte des Art. 125 ausgeführt (Bundesrecht und Bundesgesetzgebung 1950, S. 97 ff.), man habe bei der Einfügung des Art. 125 dem bereits früher erkennbaren Bestreben, irgendeine Materie möglichst einheitlich zu regeln, Rechnung tragen wollen. Art. 72 Abs. 2 GG habe ursprünglich folgendermaßen gelautet: 'Der Bund soll (im Bereich der Vorranggesetzgebung) nur regeln, was einheitlich geregelt werden muß.' Als er dann auf Intervention der Militärgouverneure seine heutige Fassung erhalten habe, sei Art. 125 GG bewußt nicht mehr geändert worden, um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden (vgl. auch Strauß ebenda S. 149 ff.)." 53 Als weitere Begründung für die Entscheidung zum Verhältnis zwischen Art. 72 Abs. 2 und 125 GG wurde der Aspekt der Rechtssicherheit angeführt, der die Schaffung einer möglichst klaren und eindeutigen Übergangsregelung voraussetze. Hierzu heißt es darauf wörtlich: „Eine solche Regelung würde aber Art. 125 GG nicht darstellen, wenn man seine Auslegung mit der zweifelhaften und nach Meinung vieler nur begrenzt justitiablen Bedürfnisfrage des Art. 72 Abs. 2 GG belastet hätte."54 Nach dieser Bekräftigung der bereits im Schornsteinfeger-Urteil geäußerten Zweifel hinsichtlich der Justitiabilität durch den Ersten Senat war ein Umschwenken in Richtung auf die vom Zweiten Senat im Südweststaat-Urteil eingeschlagene Linie kaum mehr vorstellbar. Umso gespannter durfte man nunmehr einer Klärung dieser Divergenz zwischen den beiden Spruchkörpern im Rahmen künftiger Entscheidungen entgegensehen. IV. Straffreiheitsgesetz '49 - Beschluß (1953) Im Folgejahr hatte das Bundesverfassungsgericht - wiederum durch seinen Ersten Senat - über eine Richtervorlage des Amtsgerichts Markt Oberdorf zu entscheiden. Dieses hielt das „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit" 52 53 54

A. a. O. BVerfGE 1,283 [294]. BVerfGE 1,283 [295].

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Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur

vom 31. Dezember 1949 („Straffreiheitsgesetz'49") fur verfassungswidrig, und zwar unter anderem deswegen, weil ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG nicht gegeben sei. Demgegenüber erklärte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 22. April 195355 das beanstandete Gesetz für verfassungsgemäß. Nachdem der Senat die Bundeszuständigkeit für den Erlaß des Gesetzes aus Art. 74 Nr. 1 GG (gerichtliches Verfahren / Strafvollzug) hergeleitet hatte 56 , führte er aus: „Sonach war der Bund für den Erlaß des Straffreiheitsgesetzes nach Art. 74 Ziff. 1 GG zuständig. Einer Prüfung der Frage, ob für den Erlaß dieses Gesetzes ein Bedürfnis im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG anzuerkennen ist, bedarf es zu dieser Feststellung nicht. Die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, ist eine Frage pflichtmäßigen Ermessens des Bundesgesetzgebers, die ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen ist." 57 Mit diesen Ausführungen hatte der Erste Senat das Problem so gelöst, wie er es in den beiden zuvor erörterten Entscheidungen bereits angedeutet hatte: Die Beantwortung der Frage nach dem Bedürfnis sollte dem Ermessen des Bundesgesetzgebers anheimgestellt werden, womit eine allgemeine verfassungsgerichtliche Überprüfung ausschied. Die von der Mindermeinung im Schrifttum 58 verfochtene Lösung einer umfassenden Rechtskontrolle war damit verworfen. Der zitierte Kernsatz der Entscheidung lehnt sich - freilich ohne ausdrückliche Inbezugnahme - überwiegend wörtlich an die entsprechende Formulierung 59

in einem Aufsatz des bereits mehrfach genannten August Zinn an, der selbst Mitglied des Parlamentarischen Rates war und diese Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG bereits im Jahre 1949 vertreten hatte. In der vorausgegangenen Entscheidung zum Ladenschlußgesetz hatte sich der Erste Senat, wie bereits dargelegt, sogar ausdrücklich auf Äußerungen Zinns berufen und sie überdies eingehend zitiert. Diese Anlehnung des Bundesverfassungsgerichts an Zinn wird verständlich, wenn man den Umstand berücksichtigt, daß der Beschluß des Ersten Senats zum Straffreiheitsgesetz '49 unter dem Vorsitz des ersten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Hermann Höpker- Aschoff, \ erging. Wie bei der Darstellung der Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG gezeigt , war Höpker-Aschoff Mitglied des Siebenerausschusses des Parlamentarischen 55 56 57 58 59 60

BVerfGE 2, 213. BVerfGE 2, 213 [220 ff.]. BVerfGE 2, 213 [224]. Oben §7 II. AöR, Bd. 75 (1949), 291 [298]. Vgl. oben § 5 IV.

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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Rates, mithin an allen entscheidenden Verhandlungen mit den Alliierten über Änderungen am Grundgesetz-Entwurf persönlich beteiligt gewesen. In diesen Verhandlungen hatte sich Höpker-Aschojf, der die Diskussionen über den langwierigen Streitpunkt Finanzverfassung auf deutscher Seite nahezu alleine führte, als einer der unnachgiebigsten Verfechter der Positionen des Parlamentarischen Rates bewährt. Vier Jahre später war ihm nunmehr als Verfassungsrichter vergönnt, höchstpersönlich daran mitzuwirken, kraft des verfassungsgerichtlichen Interpretationsmonopols an einem zentralen Punkt des Grundgesetzes, an dem sich der Parlamentarische Rat trotz zäher Verhandlungen schließlich den Forderungen der Besatzungsmächte hatte beugen müssen, im Nachhinein eine „Befreiung" vom alliierten Diktat zu erreichen. In der Begründung seines Beschlusses führt der Erste Senat zu der Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers weiter aus: „Zwar sind - im Gegensatz zu Art. 9 WRV - die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts zur konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund (Art. 72 Abs. 2 GG) im einzelnen bezeichnet. Hierdurch wird die Ermessensfreiheit des Bundesgesetzgebers eingeengt, der Entscheidung der Bedürfnisfrage bleibt jedoch der Charakter einer echten Ermessensentscheidung. Die Frage, inwieweit diese Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen wäre, falls der Bundesgesetzgeber die seinem Ermessen gesetzten Grenzen verkannt oder das ihm eingeräumte Ermessen mißbraucht hätte, bedarf hier keiner Beantwortung; denn für die Feststellung einer Überschreitung oder mißbräuchlichen Ausübung dieses Ermessens bei Erlaß des Straffreiheitsgesetzes fehlt es an jedem Anhalt." Damit war die Frage nach der Reichweite der Überprüfungskompetenz noch immer nicht vollständig geklärt. Das Gericht behielt sich nämlich vor, möglicherweise - im Einklang mit der kompromißlosen Variante der herrschenden Lehre 62 - sogar hinsichtlich eines etwaigen Ermessensmißbrauchs durch den Bundesgesetzgeber seine Prüfungszuständigkeit zu verneinen. V. Weitere Rechtsprechung bis 1960 1. Konsolidierung

und Harmonisierung

In der Rechtsprechung der folgenden Jahre begnügte sich das Bundesverfassungsgericht, wenn die Frage nach dem Bedürfnis für den Erlaß eines Bundesgesetzes gemäß Art. 72 Abs. 2 GG aktuell wurde, jeweils mit einem kurzen Hinweis auf die entsprechenden Ausführungen in der Entscheidung zum Straffreiheitsgesetz '49 oder aber mit deren schlichter Wiederholung. 63 Dabei wur61

BVerfGE 2, 213 [224 f.]. Oben §712. 63 BVerfGE 4, 115 [127 f.] (Besoldungsgesetz NW); E 10, 234 [245] (Straffreiheitsgesetz 1954). 62

7 Neumeyer

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den die vom Ersten Senat geprägten Formulierungen auch vom Zweiten Senat übernommen. Letzterer stellte keinen Bezug zu seinem Überprüfungsansatz im Südweststaat-Urteil 64 mehr her, so daß sich die Verfassungsrechtsprechung insgesamt von der im Schrifttum vertretenen Mindermeinung im Hinblick auf die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG distanziert hatte. Das Urteil zum Straffreiheitsgesetz '49 kann folglich als grundlegend für die Auslegung der Bedürfnisklausel angesehen werden. Mit dem Beschluß vom 15. Dezember 1959 65 über die Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes über den Erlaß von Strafen und Geldbußen und die Niederschlagung von Strafverfahren und Bußgeldverfahren vom 17. Juli 1954" („Straffreiheitsgesetz '54") klärte das Bundesverfassungsgericht endlich auch die Frage nach seiner Überprüfungskompetenz im Falle des Ermessensmißbrauchs: Das Gericht prüfte hier, ob der Bundesgesetzgeber „die seinem Ermessen gesetzten Grenzen verkannt und das ihm eingeräumte Ermessen mißbraucht habe", und verneinte dies im konkreten Fall. Damit war klargestellt, daß künftig im Einklang mit der überwiegenden Auffassung im Schrifttum 67 zumindest die Mißbrauchskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommen werden sollte. 68 Letztere entfaltete jedoch - soviel sei bereits vorweggenommen - bis heute keine praktische Relevanz, weil das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung von Bundesgesetzen am Maßstab des Art. 72 Abs. 2 GG niemals zur Annahme einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensmißbrauchs durch den Bundesgesetzgeber gelangte. 2. Intervention des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs Zwischenzeitlich unternahm der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen Vorstoß gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, indem er seinen Vorlagebeschluß vom 3. Dezember 1954 69 zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des sogenannten Apothekenstoppgesetzes des Bundes70 unter anderem mit dem Fehlen eines Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG begründete und gegenüber dem Bundesverfassungsgericht anregte, aus diesem Anlaß seine einschlägige Rechtsprechung ei64

Vgl. oben I. BVerfGE 10,234. 66 BVerfGE 10, 234 [246]. 67 Oben §71 1. 68 Ebenso Gruson y Die Bedürfniskompetenz, S. 90. 69 BayVGH n. F. 7, 160 (= DVB1. 1955, 166 ff.). 70 „Gesetz über die vorläufige Regelung der Errichtung neuer Apotheken" v. 13.01.1953 i. d. F. der Änderungsgesetze v. 04.07.1953 u. 10.08.1954. 65

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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ner nochmaligen Prüfung zu unterziehen. An der bisherigen Karlsruher Judikatur kritisierte der Verwaltungsgerichtshof, daß die hiernach entfallende Rechtskontrolle zur Sicherung der Länderzuständigkeiten mit dem bundesstaatlichen Aufbau, wie ihn das Grundgesetz vorgesehen habe, schwerlich vereinbar sei. Unabhängig hiervon handele es sich aber beim Apothekenstoppgesetz jedenfalls um einen Fall, in dem der Bundesgesetzgeber die Grenzen seines Ermessens überschritten habe. 71 Zur Enttäuschung der bayerischen Richter ging der für die Entscheidung über diese Vorlage zuständige Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 30. Mai 1956 72 auf die Bedürfnis-Problematik überhaupt nicht ein, sondern erachtete das Apothekenstoppgesetz wegen mangelnder Bestimmtheit als unvereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes und erklärte es mit dieser Begründung für nichtig. 73 Dabei wich der Senat einer Stellungnahme zur Bedürfnisfrage offensichtlich bewußt aus: In seiner Begründung bejahte er nämlich zunächst - ebenfalls entgegen der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs - die generelle Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers aus Art. 74 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft, hier: Gewerbe), prüfte im Anschluß daran aber sogleich die Vereinbarkeit des Gesetzes mit materiell-rechtlichen Anforderungen der Verfassung 74, obwohl sich an die generelle Kompetenzfeststellung gemäß Art. 74 GG zunächst die Prüfung der weiteren Voraussetzungen gemäß Art. 72 Abs. 2 GG hätte anschließen müssen, weil erst hierdurch die abschließende Entscheidung über das Vorliegen einer konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes zu treffen war. 75 Eine etwaige Verneinung des Bedürfnisses hätte ergeben, daß das Gesetz kompetenzwidrig erlassen worden wäre, womit das Bundesgesetz schon wegen formeller Verfassungswidrigkeit für nichtig hätte erklärt werden müssen. A u f die Übereinstimmung mit materiellem Verfassungsrecht wäre es dann gar nicht mehr angekommen. Offenbar wollte das Bundesverfassungsgericht nach seiner Grundsatzentscheidung zu Art. 72 Abs. 2 GG das Wiederaufleben der Diskussion über die Bedürfnisklausel vermeiden und zog es deshalb vor, den Widerstand gegen seine Rechtsprechung, der nicht ganz zufällig von bayerischer Seite ausging, ins Leere laufen zu lassen.

71

BayVGH n. F. 7, 160 [165] mit abl. Anm. Seilmann, DVB1. 1955, 168 [169 f.]. BVerfGE 5, 25. 73 BVerfGE 5, 25 [31]. 74 A.a.O. 75 So auch in anderen Entscheidungen praktiziert, vgl. BVerfGE 1, 264 [272 f.]; 2,213 [224 f.]. 72

100 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur V I . Zweites Ladenschlußgesetz-Urteil (1961) Anläßlich zweier Verfassungsbeschwerden gegen das Ladenschlußgesetz des Bundes76 setzte sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 196177 nochmals eingehender mit der Bedürfnisklausel auseinander und prägte dabei neue Formulierungen. Erstmals rückten die besonderen Voraussetzungen der Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG (Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit und Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse) in den Vordergrund. Der Senat führt dazu aus: „Die Entscheidung darüber, ob ein solches Bedürfnis vorliegt, weil eine der in Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 GG näher bestimmten Voraussetzungen gegeben ist, hat zunächst derjenige zu treffen, dem es obliegt zu handeln, also der Bundesgesetzgeber. Was insbesondere Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG anlangt, so ist der Bundesgesetzgeber nicht darauf beschränkt, einer bereits bestehenden Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse mit bundeseinheitlicher Gesetzgebung lediglich zu folgen. Es kann ihm nicht versagt sein, auf das ihm erwünscht erscheinende Maß an Einheitlichkeit im Sozialleben hinzustreben. Hierin liegt eine politische Vorentscheidung, die das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu respektieren hat, weil es die Aufgabe jedes Gesetzgebers ist, Lebensverhältnisse - insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft gestaltend zu ordnen. Der Bundesgesetzgeber hat sich dann aber gemäß Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG zu fragen, ob die von ihm angestrebte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sein eigenes Tätigwerden erfordert; nur dann darf er die Bedürfnisfrage bejahen."78 Damit hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt, daß der Begriff der „Wahrung" weit auszulegen ist und auch die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse umfaßt. 79 Im Anschluß an diese Ausführungen nahm das Gericht erstmals eine rechtliche Qualifizierung der in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG genannten Voraussetzungen vor: „Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit und Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sind zwar Rechtsbegriffe. Sie sind jedoch so unbestimmt, daß ihre Konkretisierung weitgehend darüber entscheidet, ob zu ihrer Erreichung ein Bundesgesetz erforderlich ist." 80 Die Positivkriterien für die Bejahung des Bedürfnisses nach bundesgesetzlicher Regelung wurden also als unbestimmte Rechtsbegriffe eingestuft. Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte hinsichtlich deren „Konkretisierung" um-

76 „Gesetz über den Ladenschluß" v. 28.11.1956 i. d. F. der Änderungsgesetze v. 17.07.1957 und v. 14.11.1960. 77 BVerfGE 13, 230 u. 13,237. 78 BVerfGE 13, 230 [233]. 79 Heute auch im Verfassungswortlaut klargestellt, vgl. Art. 72 Abs. 2 in der seit 15.11.1994 geltenden Fassung. 80 BVerfGE 13, 230 [233 f.].

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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schrieb das Bundesverfassungsgericht sodann mit der folgenden, seither vielfach zitierten Formulierung: „Das Bundesverfassungsgericht ist deshalb auf die Prüfung beschränkt, ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat." Im Anschluß hieran setzte sich das Gericht erstmals mit einzelnen, vom Bundesgesetzgeber vorgebrachten Argumenten fur eine bundeseinheitliche Regelung auseinander. 82 Schien sich in all diesen Neuerungen des zweiten Ladenschlußgesetz-Urteils bereits eine Wende der Karlsruher Bedürfnisklausel-Judikatur vom Ermessen hin zum unbestimmten Rechtsbegriff abzuzeichnen, mithin - sofern man die von der neueren verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre entwickelten Grundsätze83 übertrug - auch zu einer Verschärfung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 84 , so wurde dieser Vermutung freilich noch in derselben Entscheidung weitgehend die Grundlage entzogen. Das Bundesverfassungsgericht formulierte nämlich sein fallbezogenes Ergebnis, zu dem es nach summarischer Prüfung der Argumentation des Bundesgesetzgebers gelangte, wie folgt: „Bei dieser Sachlage läßt sich nicht feststellen, daß der Bundesgesetzgeber seinen Ermessensbereich überschritten hat."85 Die unbekümmerte Weiterverwendung der Begriffs „Ermessensbereich" auch im Zusammenhang mit unbestimmten Rechtsbegriffen läßt den Schluß zu, daß der Erste Senat hier wohl doch keine konsequente Differenzierung nach verwaltungsrechtlichen Kriterien und damit eine Fortentwicklung seiner frühen, allein auf der Ermessensterminologie basierenden Rechtsprechung einleiten wollte. Ob diese Schlußfolgerung tatsächlich zutrifft, wird eine Betrachtung der nachfolgenden Entscheidungen zeigen. V I I . Beschluß zur baden-württembergischen Gemeindegerichtsbarkeit (1962) Einen weiteren Ansatz zu verstärkter Kontrolle der Bedürfnisvoraussetzungen lieferte ein halbes Jahr später der Zweite Senat mit seinem Beschluß vom

81

BVerfGE 13, 230 [234]; wiederholt in E 13, 237 [239]. BVerfGE 13, 230 [234]. 83 Vgl. etwa Bachof, JZ 1955, 97 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7; krit. Ossenbühl, DÖV 1968, 618 ff. 84 Vgl. Scholz, Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 252 ff. [259 f.]. 85 BVerfGE 13, 230 [234]; Hervorh. v. Verf. 82

102 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur 9. Mai 1962.86 Diese Entscheidung hat in der Literatur zu Art. 72 Abs. 2 GG 87

kaum Resonanz gefunden , was wohl mit der atypischen Konstellation des zugrundeliegenden Sachverhalts und der dadurch bedingten lediglich mittelbaren Relevanz der Bedürfnisfrage zusammenhängen mag. Das Bundesverfassungsgericht hatte über einen Vorlagebeschluß zu entscheiden, mit dem das Amtsgericht Kehl die Verfassungswidrigkeit des vom Land Baden-Württemberg erlassenen „Gesetzes über die Gemeindegerichtsbarkeit" vom 7. März 1960 geltend machte. Das Gesetz sah in Anknüpfung an eine alte Rechtstradition für eine Reihe zivilrechtlicher Bagatellstreitigkeiten vor, daß in erster Instanz ein besonderes gemeindliches Laiengericht zuständig sein sollte, sofern beide Parteien in derselben Gemeinde ansässig waren. Im Gegensatz zum vorlegenden Amtsgericht erachtete das Bundesverfassungsgericht diese landesrechtliche Regelung für verfassungsgemäß. In seiner Begründung ging der Zweite Senat anläßlich der Prüfung eines etwaigen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz unter anderem auf den Gesichtspunkt der Rechtseinheit im Bundesgebiet ein und führte hierzu aus, der Bundesgesetzgeber habe zwar auf dem hier betroffenen Gebiet der Gerichtsverfassung die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit, sei jedoch „nach dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht gehalten, im Interesse der Rechtseinheit im Bundesgebiet die im § 14 Nr. 2 GVG überkommene Zulassung landesrechtlicher Gemeindegerichte zu beseitigen."88 Weiter heißt es wörtlich: „Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß das Grundgesetz die Berücksichtigung derartiger historisch vorgeprägter Besonderheiten der Gerichtsorganisation in den einzelnen Ländern ausschließen wollte. Für die Beibehaltung des Vorbehalts sprach auch, daß die württembergische und badische Gemeindegerichtsbarkeit sich nach allgemeiner Auffassung wegen ihrer besonderen Volksnähe, ihrer Einfachheit und Billigkeit bewährt hatte. Es bestanden also ausreichende sachliche Gründe dafür, den Ländern die Einrichtun^der Gemeindegerichtsbarkeit in den traditionellen Grenzen weiterhin freizustellen." Es handelte sich also bei der Prüfung des Gemeindegerichtsgesetzes um eine Sachlage, die von den „klassischen" Fällen des Art. 72 Abs. 2 GG insoweit abweicht, als hier nicht die Zulässigkeit einer unitarisierenden Bundesregelung, sondern vielmehr umgekehrt die Zulässigkeit der ausdrücklichen Eröffnung landesrechtlicher Differenzierungen durch Bundesgesetz zu prüfen war. Das Bundesverfassungsgericht billigte das differenzierende Bundesgesetz, weil es ein Gebot zu bundeseinheitlicher Regelung ablehnte.

86

BVerfGE 14,56. Ausnahme: Krüger, BayVBl. 1984, 545 [548]. 88 BVerfGE 14, 56 [75]; § 14 GVG wurde allerdings inzwischen geändert und läßt heute als „Besondere Gerichte" nur noch Schiffahrtsgerichte zu. 89 BVerfGE 14, 56 [75 f.]. 87

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

103

Obwohl sich diese Entscheidung auf die Maßstäbe des Gleichheitssatzes stützte und keinen ausdrücklichen Hinweis auf Art. 72 GG enthielt, ließen sich hieraus Anhaltspunkte für die Interpretation von Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG entnehmen: Zum einen stellte das Gericht mit den genannten Äußerungen klar, daß in Nr. 3 jedenfalls kein Auftrag zur Herstellung von Rechtseinheit gesehen werden kann. 90 Zum anderen wäre mit der vom Zweiten Senat gegebenen Begründung, hätte der Entscheidung umgekehrt die bundesgesetzliche Abschaffung der Gemeindegerichtsbarkeit zugrundegelegen, das Bedürfnis gemäß Art. 72 Abs. 2 GG zu verneinen gewesen. Allerdings bedarf die Bewertung von Krüger der den Gemeindegerichtsbarkeit-Beschluß des Zweiten Senats als Ausnahmefall der Verneinung eines Bedürfnisses hervorhebt, zumindest einer Ergänzung: Diese Entscheidung bedeutet nämlich trotzdem keinen Widerspruch zur übrigen Judikatur des Gerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG. Hierin wird zwar eine Begründung geliefert, die gewiß auch für eine Bedürfnisprüfung mit negativem Ergebnis tauglich gewesen wäre. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß es im konkreten Fall eben nicht um die Bedürfnisprüfung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG ging, sondern um die davon scharf zu trennende Frage, ob aus dem Gleichheitssatz, und zwar in seiner - (auch) in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG enthaltenen - Konkretisierung der „Rechtseinheit im Bundesgebiet", möglicherweise ein Gebot zur Unitarisierung ableitbar sei. Dies wurde im konkreten Fall verneint, was in erster Linie auf den weiten Ermessensspielraum zurückzuführen ist, den das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber in bezug auf den Gleichheitssatz in ständiger Rechtsprechung einräumt, denn „erst wenn für eine vom Gesetzgeber angeordnete Differenzierung sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind, kann von einer Verletzung des Gleichheitssatzes gesprochen werden." 92 Nach alledem muß auch diese Entscheidung des Zweiten Senats zwar unter die wenigen zugunsten einer höheren Kontrolldichte verwertbaren Ansätze eingeordnet, nicht aber als Inkonsequenz innerhalb der Judikatur zu Art. 72 GG verstanden werden.

90

So zutreffend Krüger, a. a. Ο. A.a.O. 92 BVerfGE 14, 56 [74], stRspr, vgl. auch BVerfGE 3, 58 [135 f.]; 4, 7 [18], 13,356 [361 f.]. 91

104 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur V I I I . Eisenbahnkreuzungsgesetz-Beschluß (1969) Die zuletzt getroffene Feststellung wird bestätigt durch den 1969 ergangenen Beschluß desselben Senats des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes über Kreuzungen von Eisenbahnen und Straßen" („Eisenbahnkreuzungsgesetz") vom 14. August 1963.93 Mit dieser Entscheidung Schloß sich der Zweite Senat der vom Ersten Senat im Ladenschlußgesetz-Urteil des Jahres 1961 94 formulierten, durch die Einordnung der Bedürfnisvoraussetzungen als unbestimmte Rechtsbegriffe gekennzeichneten Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG ausdrücklich an: „Hat der Bundesgesetzgeber das Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung bejaht, so ist das Bundesverfassungsgericht auf die Prüfung beschränkt, ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat (vgl. BVerfGE 4, 115 [127 f.]; 13,230 [233 f.])." 95 Wiederum wurde im konkreten Fall verneint, daß der Bundesgesetz^eber „seinen Ermessensbereich nach Art. 72 Abs. 2 GG überschritten" habe. Auf eine Klärung der Tragweite der Begriffe „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff 4 bei der Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG wartete man auch in dieser Entscheidung vergeblich.

IX. Weitere Rechtsprechung bis zur Verfassungsreform 1994 Die weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zur Neufassung des Art. 72 GG im Zuge der Verfassungsreform 1994 lieferte keine neuen Gesichtspunkte zur Anwendung der Bedürfnisklausel, sondern begnügte sich in der Regel mit einem knappen Verweis auf die oben erörterten grundlegenden Entscheidungen aus den 50er- und 60er- Jahren. 97 Die durch das Ladenschlußgesetz-Urteil des Jahres 1961 genährte Vermutung einer Revision der frühen Rechtsprechung zugunsten verschärfter verfassungsgerichtlicher Kontrolle sollte nicht bestätigt werden. Zwar hatte das Gericht in jener Entscheidung zu der praktisch nahezu allein relevanten Nr. 3 des 93

BVerfGE 26, 338. Vgl. oben VI. 95 BVerfGE 26, 338 [382 f.]. 96 BVerfGE 26, 338 [383]. 97 BVerfGE 33, 224 [229]; 34, 9 [39]; 65, 1 [63]; 65, 283 [289]; 67, 299 [326 f.]; 78, 249 [270 f.]; vgl. ferner die nichtssagende, wohl als Bejahung des Bedürfnisses zu verstehende Formulierung in BVerfGE 38, 1 [11] („Interesse an einer übereinstimmenden Regelung von der Sache her"). 94

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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Art. 72 Abs. 2 GG festgestellt, daß es sich bei den dortigen Kriterien um unbestimmte Rechtsbegriffe handele, doch war in den praktischen Ergebnissen eine Abweichung von der zuvor eingehaltenen Linie nicht festzustellen. Lediglich der dogmatische Ansatz des Bundesverfassungsgerichts schien sich verändert zu haben, was sich jedoch bei näherem Hinsehen ebenfalls als Trugschluß erwies, weil nicht einmal die modifizierte Terminologie konsequent durchgehalten wurde. Vielmehr finden sich in Entscheidungen beider Senate bis in die jüngste Zeit Verweisungen, in denen nicht etwa nur auf das LadenschlußgesetzUrteil - „unbestimmte Rechtsbegriffe" - , sondern auch auf die Entscheidungen 98

der frühen 50er-Jahre - „Ermessen" - ausdrücklich Bezug genommen wird , so daß ein Bruch mit dieser Rechtsprechung ausgeschlossen werden kann. Sobald das Gericht neuerdings im Zusammenhang mit den Bedürfniskriterien von der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe sprach, räumte es sogleich ein, daß ein weiter politischer Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers bestehe. Mit seiner recht blutleeren Formel, daß nur zu überprüfen sei, ob der Bundesgesetzgeber die in Abs. 2 enthaltenen Begriffe „im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten" habe, zog sich das Gericht letztlich ebenso konsequent von der Kontrolle zurück, wie es nach den Formulierungen der frühen Rechtsprechung der Fall war. Nach alledem ist eine Kontinuität der Ergebnisse bei wechselnder Terminologie festzustellen. Spekulationen über einen veränderten dogmatischen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts sind deshalb wenig ergiebig. Unter den jüngeren Entscheidungen verdient noch ein Urteil aus dem Jahre 1972" Hervorhebung, mit dem über die Verfassungsmäßigkeit des Ersten Hessischen Besoldungsanpassungsgesetzes100 entschieden wurde. Der in der bisherigen Rechtsprechung lediglich abstrakt behandelte Fall eines Ermessensfehlers bei der Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG wird hier vom Bundesverfassungsgericht durch ein konkretes - wenn auch noch immer hypothetisches Beispiel veranschaulicht: Es sei „eindeutig und evident (vgl. BVerfGE 1, 264 [272 f.]; 2, 213 [224 f.]; 10, 234 [245]; 26, 338 [382 f.]), daß der Gesetzgeber das ihm in Art. 72 Abs. 2 GG eingeräumte Ermessen überschreitet", falls er seine ihm gemäß Art. 74 a Abs. 1 GG eingeräumte Kompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung etwa dazu nutzen sollte, dem Landesgesetzgeber eine besoldungsrechtliche Übergangsregelung für beamtete Kammermusiker zu verbieten, die in ihrer

98

Vgl. BVerfGE 33, 224 [229]; 34, 9 [39]; 65, 283 [289]; 78, 249 [270]. BVerfGE 34, 9. 100 „Erstes Gesetz zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts in Bund und Ländern" des Landes Hessen v. 24.05.1971. 99

106 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur Auswirkung lediglich drei Personen, nämlich die letzten drei beamteten Kammermusiker in Hessen, beträfe. 101 Es ist einleuchtend, daß in einem solchen Falle schlechthin kein Gesichtspunkt erkennbar ist, aus dem sich ein Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung begründen ließe. In derartigen Extremfällen versagt auch das weit gefaßte Kriterium gemäß Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG. Andererseits verdeutlicht gerade dieses Beispiel ob seiner Abgelegenheit, wie gering die Wahrscheinlichkeit war, daß der Bundesgesetzgeber beim Gebrauchmachen von einem Kompetenztitel der konkurrierenden Gesetzgebung einen Weg beschritte, welchen ihm das Bundesverfassungsgericht aufgrund Art. 72 Abs. 2 GG versperrt hätte. Erwähnung verdient ferner ein 1973 ergangener Beschluß des Zweiten Senats 102 , mit dem die Verfassungswidrigkeit der im Hessischen Pressegesetz103 enthaltenen Regelungen zur Zeugnisverweigerung festgestellt wurde. Nachdem der Senat aus Art. 74 Nr. 1 GG (gerichtliches Verfahren) die Kompetenz des Bundes für eine derartige Regelung hergeleitet hatte, prüfte er - ohne Art. 72 Abs. 2 GG zu zitieren - das „Bedürfnis nach Rechtseinheit" als Voraussetzung für eine bundesgesetzliche Regelung. Hierzu wurde ausgeführt, daß die seit Erlaß der Reichsjustizgesetze im Jahre 1877 bestehende Rechtseinheit auf dem Gebiet des Prozeßrechts nicht der Gefahr einer partiellen Zersplitterung ausgesetzt werden dürfe; ansonsten könne das Aussageverweigerungsrecht eines Presseangehörigen innerhalb ein und desselben Verfahrens allein davon abhängen, in welchem Bundesland er vernommen werde. 104 Aufgrund dieser Erwägungen bejahte der Senat das Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung. Im übrigen wird in der Entscheidung aber kein Zusammenhang mit der bisherigen Rechtsprechung zur Reichweite der Überprüfungskompetenz hergestellt, wohingegen in späteren Entscheidungen105 wieder ausdrücklich Bezug auf die frühere Rechtsprechung genommen wird. Deshalb verbietet es sich, aus dem Beschluß zum Hessischen Pressegesetz die Inanspruchnahme einer erweiterten Überprüfungskompetenz hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG herzuleiten.

101 102 103 104 105

BVerfGE 34, 9 [39]. BVerfGE 36, 193. „Gesetz über Freiheit und Recht der Presse" des Landes Hessen v. 20.11.1958. BVerfGE 36, 193 [209 f.]. BVerfGE 65, 1 [63]; 65, 283 [289]; 67, 299 [327]; 78, 249 [270].

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

107

X. Mißdeutet: Der Gewerbsunzucht-Beschluß (1965) Im Rahmen eines Beschlusses aus dem Jahr 1965 106 , mit dem anläßlich einer Bayerischen Verordnung über das Verbot der Gewerbsunzucht 107 über die Frage entschieden wurde, ob Rechtsverordnungen eines Landesorgans aufgrund der Ermächtigung in Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG als Bundes- oder als Landesrecht einzustufen seien, ging das Bundesverfassungsgericht mit folgendem Satz auf Art. 72 Abs. 2 GG ein: „Die dort aufgestellten Voraussetzungen laufen im Ergebnis . . . darauf hinaus, daß 'Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung' mit 'Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung' gleichzusetzen ist" 1 0 8 Aus dieser Äußerung werden vielfach Schlußfolgerungen gezogen, die weit über die damit verbundene Intention des Zweiten Senats hinausgehen, weil sie den argumentativen Zusammenhang unberücksichtigt lassen. So wird etwa in der Formulierung eine an die bisherige Rechtsprechung anknüpfende „weitere Erleichterung für den Bundesgesetzgeber" erblickt. 109 Umgekehrt glauben andere hierin eine Beschränkung der Bundeskompetenz dahingehend zu erkennen, daß der Bundesgesetzgeber seine Befugnisse ausschließlich zum Erlaß bundeseinheitlicher Regelungen ausüben, also etwa regionale Verschiedenheiten mittels einer auf einzelne Länder beschränkten oder regional differenzierten bundesgesetzlichen Regelung nicht berücksichtigen dürfe. 110 Bei näherer Betrachtung bietet jedoch der Gewerbsunzucht-Beschluß für derartige Interpretationen keine tragfähige Grundlage. In der fraglichen Entscheidung waren nämlich die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG überhaupt nicht zu prüfen, sondern es ging allein um die Frage, ob Rechtsverordnungen von Landesorganen, die aufgrund der in Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltenen Ermächtigung erlassen werden, als Landesrecht oder als Bundesrecht anzusehen sind. Für deren Beantwortung wurde zum Vergleich die Situation bei der Gesetzgebung herangezogen, wobei unter anderem auf die konkurrierende Gesetzgebung eingegangen wurde. 111 Deshalb kann dem fraglichen Satz auch keine tragende Funktion innerhalb der Begründimg beigemessen werden. 106

BVerfGE 18,407. Verordnung der bayerischen Staatsregierung über das Verbot der Gewerbsunzucht v. 21.09.1960. 108 BVerfGE 18, 407 [415]; Hervorh. vom BVerfG. 109 So Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 e; Krüger, BayVBl. 1984, 545 [546]. 110 Diese These des BVerfG entnehmen aus dem zitierten Satz: Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 72, Rn. 7; Rengeling in: HStRIV, §100, Rn. 121; Menger/Erichsen, VerwArch. 1966, 64 [66 f.]; v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 16; ähnlich Gruson, Die Bedürfniskompetenz, S. 62 ff. 111 Vgl. BVerfGE 18,407 [414 ff.]. 107

108 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur Dessenungeachtet erscheint aber die dortige Gleichsetzung von „bundesgesetzlich" und „bundeseinheitlich" nicht einmal als durchdachtes Ergebnis einer vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG. Dem Gericht ging es erkennbar lediglich darum, nachzuweisen, daß das Kompetenzsystem des Grundgesetzes von der Voraussetzung ausgeht, daß im Bereich aller Gesetzgebungsarten die verbliebenen Landeskompetenzen stets durch Landesgesetze auszufüllen seien, es mithin im Bereich der Rechtsverordnungen nicht anders sein könne. Hinsichtlich der Reichweite der Landeskompetenzen wurde als Richtschnur auf die je nach Regelungsgegenstand unterschiedliche Tolerierbarkeit regionaler Verschiedenheiten abgestellt. Seien derartige Verschiedenheiten nicht zu dulden, so könne im Falle der konkurrierenden Gesetzgebung ein „Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung" gemäß Art. 72 Abs. 2 GG bejaht werden. Innerhalb dieser Argumentation mußte also das Bundesverfassungsgericht das Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung als (mögliche!) Begründung eines Bedürfnisses im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG herausstellen. Dabei ist durchaus zuzugestehen - insoweit kann die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts im gegebenen Zusammenhang keineswegs als Fehlgriff betrachtet werden - , daß ein Bedürfnis zum Erlaß eines Bundesgesetzes tatsächlich in den allermeisten Fällen deswegen geltend gemacht wird, weil ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung der betreffenden Materie vorliegt. Daß jedoch darüber hinaus ein im Einzelfall denkbares Bedürfnis nach bundesgesetzlicher, aber eben nicht bundesweit einheitlicher Regelung geächtet werden sollte, kann in die beiläufige und nicht sonderlich strikt formulierte Aussage des Bundesverfassungsgerichts nicht hineingelegt werden. Vielmehr sind regionale Unterschiede berücksichtigende Bundesgesetze unter Beachtung des in Art. 3 GG verankerten Willkürverbots jederzeit möglich, was beispielsweise durch die Koexistenz von Anwaltsnotariat und hauptberuflichem Notariat in der bundesrechtlichen Notariatsverfassung 112 oder durch die frühere bundesgesetzliche Förderung der Zonenrandgebiete bestätigt wird. 1 1 3 Die logische Grenze möglicher regionaler Differenzierung im Rahmen eines Bundesgesetzes zeigt im übrigen das Bundesverfassungsgericht noch in derselben Entscheidung auf, indem es betont: „Die Regelung einer bestimmten Materie durch Bundesrecht, das in allen Ländern der Bundesrepublik regional verschieden wäre, widerspräche dem bundesstaatlichen Aufbau". 114

112

Vgl. hierzu BVerwG MDR 1962, 503 [504]; § 3 Abs. 1 u. 2 BNotO. So im Erg. zutreffend Gruson, a. a. O., S. 62 ff., mit weiteren Beispielen; v. Münch, a. a. O.; Rengeling, a. a. O. 114 BVerfGE 18, 407 [416], Hervorhebung v. Verf. 113

§ 8 Art. 72 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des BVerfG

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Daraus läßt sich aber nicht entnehmen, daß Regelungen fur mehrere - aber nicht alle - Einzelländer oder Ausnahmen für einzelne Länder innerhalb eines Bundesgesetzes unzulässig sein sollten. Das aus den vorstehenden Zusammenhängen gewonnene Bild wird schließlich dadurch vervollständigt, daß weder in der Entscheidung irgendein Bezug zu der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG hergestellt, noch die fragliche Formulierung in späteren Entscheidungen jemals wiederholt wurde. 11 Der Beschluß des Zweiten Senats vom 23. März 1965 darf nach alledem als bedeutungslos für die Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG angesehen werden.

XI. Gesamtwürdigung der Rechtsprechung Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen einer ständigen Rechtsprechung im Ergebnis die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG verneint. Es überantwortete die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen für den Erlaß eines Bundesgesetzes im Rahmen der konkurrierenden Kompetenz entsprechend der Bedürfnisklausel vorliegen, dem Bundesgesetzgeber und zog sich auf die Prüfung der Frage zurück, ob eine evidente Mißachtung der Bedürfnisklausel vorliegt. Daß die Begründung hierfür zwischen der Annahme einer nur auf Ermessensmißbrauch überprüfbaren Ermessensentscheidung und der Einräumung eines überaus weiten - und daher ebenfalls kaum justitiablen - tatbestandsseitigen Beurteilungsspielraums wechselt, vermag die Geschlossenheit dieser Rechtsprechung nicht in Zweifel zu ziehen. 116 Hinzu kommt, daß im Rahmen des meist einschlägigen Bedürfhiskriteriums gemäß Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 G G 1 1 7 nicht nur das Bewahren, sondern auch das Herstellen einheitlicher Lebensverhältnisse mittels bundesgesetzlich zu 118 veranlassender Maßnahmen als zulässig angesehen wurde. So vermag es nicht zu verwundern, daß ein Verstoß des Bundesgesetzgebers gegen Art. 72 Abs. 2 GG in seiner ursprünglichen Fassung vom Bundesverfassungsgericht in keinem Fall festgestellt wurde.

115

Unzutreffend verweisen v. Münch und Pieroth (jeweils a.a.O.) auf BVerfGE 26, 338 [383]. 116 Zutreffend Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 17. 117 Zu den Gründen für die praktische Bedeutungslosigkeit der Nr. 1 u. 2 vgl. Maunz, a. a. O., Rn. 21 u. 22. 118 Vgl. BVerfGE 13, 230 [233]; zust. Gruson, a. a. O., S. 48; zu weitgehend Wengler, JZ 1965, 135 [136], der aus Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 bei Vorliegen eines Bedürfnisses sogar eine Verpflichtung zur Rechtsvereinheitlichung ableitet.

110 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur Mit dieser Rechtsprechung war der Bestimmung des Art. 72 Abs. 2 GG, die dem Kompetenzsystem der Art. 70 ff. GG allein aufgrund alliierter Intervention übergestülpt worden war, die praktische Wirksamkeit versagt, stattdessen die vom Verfassungsgeber vorgesehene Kompetenzordnung etabliert worden. Das Gericht hatte ein Stück verfassungspolitischer Autonomie, welches vom Parlamentarischen Rat übergeordneter Ziele wegen geopfert werden mußte, wiederhergestellt. Auffällig bleibt jedoch, daß das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsauffassung zu dieser Frage zu keinem Zeitpunkt in einer breit angelegten, alle Gesichtspunkte umfassend beleuchtenden Grundsatzentscheidung dargelegt hat, sondern eher beiläufig und apodiktisch darüber judizierte. Dabei wären gewiß die Gründe, die dem Gericht eine weitgehende Abstinenz von justizförmiger Kontrolle über die Handhabung der Bedürfnisklausel ratsam erscheinen ließen, einer vertieften Erörterung würdig gewesen. Daß eine umfassende, aus sich heraus verständliche und überzeugende Erläuterung durch das Bundesverfassungsgericht unterblieb, sollte sich später in zweifacher Hinsicht rächen: Zum einen sollten Reformbestrebungen, die die Revision der Karlsruher Rechtsprechung durch eine Korrektur des Wortlauts des Art. 72 Abs. 2 GG zum Ziel hatten, kaum in argumentative Bedrängnis geraten, denn das Fehlen einer durchdringenden Begründung durch das Bundesverfassungsgericht hatte auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem offenbar paralysiert. Zum anderen sind Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtslehre nunmehr, nachdem Art. 72 Abs. 2 GG im Zuge der Verfassungsreform des Jahres 1994 unter ausdrücklicher Revisionsabsicht hinsichtlich der bisherigen Rechtsprechung - neu gefaßt wurde, gezwungen, die bisherige Entwicklung umso gründlicher aufzuarbeiten, um künftig zu einem verfassungsrechtlich tragfähigen und praktisch realisierbaren Umgang mit der neuen Vorschrift zu gelangen.

§ 9 Die Rechtsprechung im Spiegel des Schrifttums Nachdem in den Jahren vor der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1953 119 eine lebhafte wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Auslegung der Bedürfnisklausel geführt worden war, flaute anschließend die Debatte überraschend schnell ab. Es dauerte nahezu zwei Jahrzehnte, bis sich ein neues Meinungsbild in der Lehre formiert hatte. Letzteres knüpfte weder inhaltlich noch in seiner Gesamttendenz an die frühe Diskussion an. 119

BVerfGE 2, 213 [224 f.]; oben § 8 IV.

§ 9 Die Rechtsprechung im Spiegel des Schrifttums

111

I. Akzeptanz und Zustimmung Von einem Großteil der Staatsrechtslehre wurde die Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG akzeptiert. Dabei wurde jedoch zumeist die Überantwortung der Bedürfnisfrage an das Ermessen des Bundesgesetzgebers lediglich zur Kenntnis genommen und wiedergegeben, nicht aber theoretisch vertieft. 120 Diese bloße Rezeption der Judikatur erscheint angesichts der Knappheit, wenn nicht gar Unzulänglichkeit der vom Bundesverfassungsgericht gegebenen Begründungen verwunderlich. Immerhin sind einige wenige weiterführende Begründungsansätze aus dem Schrifttum erwähnenswert. So bemerkten Hamann (jr.)/Lenz m, die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 GG genannten Voraussetzungen stellten „ i m wesentlichen nur politische Regelungsmaximen dar, die, insbesondere in Nr. 3, bereits die Vermutung für die Notwendigkeit unitarischer Rechtsetzung implizieren" und aus denen sich jedenfalls „nur in beschränktem Umfang justitiable Maßstäbe" herleiten ließen. Weiterhin stellten Hamann/Lenz fest, daß die mit dem zweiten Ladenschlußgesetz-Urteil 122 weiterentwickelte Terminologie sich keinesfalls als Grundlage einer intensivierten verfassungsgerichtlichen Kontrolle verstehen lasse. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall, weil in dieser Entscheidung zugleich ausgesprochen worden sei, daß der Bundesgesetzgeber im Rahmen der Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG nicht nur die Rechts- und Wirtschaftseinheit wahren dürfe, sondern darüber hinaus die Befugnis habe, auf das ihm erwünscht erscheinende Maß an Einheitlichkeit hinzustreben. Damit sei es dem Bundesgesetzgeber gestattet worden, die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG nach Maßgabe ausschließlich politischer Prärogative überhaupt erst zu schaffen. Auch von anderen Autoren 123 wurde die Weite und Unbestimmtheit der Bedürfnisvoraussetzungen, insbesondere der Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG, hervorgehoben, aufgrund welcher sich regelmäßig nicht widerlegen lasse, daß die dort genannten Voraussetzungen gegeben seien, wenn der Bundesgesetzgeber im Bereich des Katalogs gemäß Art. 74 GG tätig werde. Die Unmöglichkeit einer 120 Vgl. etwa Badura, Staatsrecht, Kap. F, Rn. 33 u. 35; Giese, GG, 4. Aufl., Art. 72, Anm. 3; Giese/Schunck, GG, 9. Aufl., Art. 72, Anm. 3 u. 5; Hesse, Verfassungsrecht, 19. Aufl., Rn. 240; v. Mangoldt/Klein, GG, 2. Aufl., Art. 72, Anm. IV 5; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 37 II 2 b; Seilmann, DVB1. 1955, 168 [170]; SchmidtBleibtreu/Klein, GG, 7. Aufl., Art. 72, Rn. 5 ff.; Stein, Staatsrecht, § 34 III b; Vogel in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 22, Rn. 64. 121 Hamann/Lenz, GG, 3. Aufl., Art. 72, Anm. B.4. 122 Vgl. oben § 8 VI. 123 Vgl. etwa v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 23; Schneider, Gesetzgebung, Rn. 91; ferner Kretschmer in: Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Bd. 9 (1974), 97 [111].

112 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur effektiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle wurde als logische Folge dieser Rechtslage angesehen. Um eine nähere Inhaltsbestimmung der in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Kriterien bemühte sich Gruson. 124 Hinsichtlich der praktisch nahezu allein bedeutsamen Klausel gemäß Nr. 3 traf dieser folgende Feststellungen: Die Rechtseinheit sei erforderlich, soweit rechtliche Differenzierungen die Freizügigkeit des Rechts- und Wirtschaftsverkehrs sowie die persönliche Freizügigkeit der Bürger innerhalb des Bundesgebietes behinderten. 125 Der Aspekt der Wirtschaftseinheit könne geltend gemacht werden, wenn landesrechtliche Verschiedenheiten sich nachteilig auf die Gesamtwirtschaft der Bundesrepublik auswirkten, indem sie etwa wirtschaftliche Schranken zwischen den Ländern errichteten oder ein erhebliches wirtschaftliches Gefalle zwischen einzelnen Ländern verursachten. 126 Eine zur Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderliche Regelung müsse sich jedenfalls meßbar und spürbar zugunsten der Gesamtwirtschaft auswirken, was Gruson beispielhaft für wesentliche Aspekte des 127

Ladenschlußgesetzes in Frage stellte. Auf das Kriterium der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse schließlich könne sich der Bundesgesetzgeber berufen, soweit landesrechtliche Differenzierungen Schranken, soziales Gefalle oder gar soziale Spannungen zwischen den Ländern schafften, was insbeondere bei so128 zialstaatlichen Regelungen der Fall sein könne. Trotz dieser Präzisierungsversuche übernahm Gruson aus dem zweiten Ladenschlußgesetz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 129 die Einstufung der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Kriterien als unbestimmte Rechtsbegriffe. 130 Damit sah er jedoch die Frage nach deren Justitiabilität noch nicht hinreichend beantwortet, denn unbestimmte Rechtsbegriffe könnten - entsprechend der verwaltungsrechtlichen Lehre - entweder voll justitiabel sein oder einen Beurteilungsspielraum zulassen. Im Verhältnis zwischen Staat und Bürger setze die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG der Einräumung von Beurteilungsspielräumen sehr enge Grenzen. Art. 72 Abs. 2 GG betreffe aber nicht das Staat/Bürger-Verhältnis, sondern das Bund/Länder-Verhältnis, in welchem Art. 19 Abs. 4 GG nicht gelte. In diesem Zusammenhang betonte Gruson unter ausdrücklichem Widerspruch gegen eine von Lerche geäußerte Ansicht 1 3 1 - , daß das Bundesverfassungsgericht eben nicht in gleicher Weise Hü124 125 126 127 128 129 130 131

Gruson, a.a.O. A.a.O.,S. 53. A. a. O., S. 56. A. a. O., S. 57 f. A.a.O.,S. 58. Vgl. oben § 8 VI. Gruson, a. a. O., S. 99 ff. Lerche, Bay VB1. 1958,231 [235].

§ 9 Die Rechtsprechung im Spiegel des Schrifttums

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ter des Landesbereichs gegenüber Zugriffen des Bundes sei, wie es Hüter des Individualbereichs gegenüber Zugriffen des Staates sei; vielmehr könne hier durchaus mit zweierlei Maß gemessen werden. 132 Aufgrund dieser Erwägungen gelangte Gruson zu dem Ergebnis: „Zur Rechtfertigung eines gesetzgeberischen Beurteilungsermessens im Rahmen des Art. 72 II müssen demnach nicht die strengen Anforderungen erfüllt sein, die für die Zulässigkeit des Beurteilungsermessens im Staat/Bürger-Verhältnis gestellt werden. Es ist nicht erforderlich, daß das Gericht seiner Struktur und Tätigkeit nach ungeeignet ist, die Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe nachzuprüfen. Es genügt hier bereits, daß der Gesetzgeber zur Beurteilung besser in der Lage ist als das Gericht. Das ist immer dann der Fall, wenn die Anwendung der Rechtsbegriffe politische Werturteile erfordert." 133 Zum Umfang des Beurteilungsspielraums bei Art. 72 Abs. 2 GG führte Gruson 3 4 aus, daß die Interpretation der dort enthaltenen Rechtsbegriffe gerichtlich voll überprüfbar sei. Dagegen erforderten die Tatsachenfeststellung und die Subsumtion Vermutungen, Schätzungen sowie komplexe politische Werturteile, die eine „spezifische Aufgabe des Gesetzgebers" darstellten und von diesem besser als vom Richter erfüllt werden könnten. Der Richter könne beispielsweise kaum überprüfen, ob etwa ein Flurbereinigungsgesetz die Rentabilität der Landwirtschaft künftig erhöhen werde. Er könne nur fragen, ob dies, die Richtigkeit unterstellt, für Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG relevante Erwägungen seien. Daher sei bei Tatsachenfeststellung und Subsumtion ein Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers angezeigt. Insgesamt sah Gruson Art. 72 Abs. 2 GG als bewährt an, weil er sich als hinreichend flexibel erwiesen habe, die unvermeidliche Unitarisierung in einem zunehmend zusammenwachsenden Bundesstaat auch ohne KompetenzKompetenz-Regelung zugunsten des Bundes zu ermöglichen. 135 Damit bewegte sich die Untersuchung Grusons im Ergebnis auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts. Ihr - bedauerlicherweise viel zu wenig beachtetes - Verdienst liegt darin, daß mit ihrer Hilfe die Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG auf eine dogmatisch fundierte Grundlage hätte gestellt werden können.

I I . Kritik Neben verbreiteter billigender Rezeption und vereinzelter rechtfertigender Vertiefung erhoben sich im Laufe der Zeit auch zahlreiche Stimmen, die sich 132 133 134 135

Gruson, a. a. O., S. 105. A. a. O., S. 106; Hervorh. im Original. A. a.O.,S. 108 ff. A.a.O., S. 113 ff.

8 Neumeyer

114 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG nicht abfinden wollten. Während diese Kritik in den ersten Jahren nach der 1953 ergangenen, grundlegenden Entscheidung zum Straffreiheitsgesetz 136 zunächst noch recht verhalten und oberflächlich ausfiel 137 , sind seit den späten 60er-Jahren fundiertere wissenschaftliche Stellungnahmen unterbreitet worden. 1. Hintergrund:

Konsolidierung

des Föderalismus

Die allmählich intensiver werdende Debatte um die Bedürfnisklausel bezog ihren Antrieb aus der allgemeinen Diskussion um die Entwicklung des bundesdeutschen Föderalismus. Diese Diskussion führte alsbald zu einem Konsens darüber, daß das bundesstaatliche System sich seit 1949 in vielfältiger Weise verschoben habe und daß diese Verschiebungen im Ergebnis auf eine Stärkung der Zentralgewalt und eine Schwächung der Bundesländer hinausliefen. 138 Derartige Verschiebungen erkannte man an erster Stelle im Bereich der Gesetzgebung, wofür neben mehrfachen Erweiterungen der in Art. 73 bis 75 GG enthaltenen Kompetenzkataloge mittels Verfassungsänderung vor allem die ausufernde, den Ländern kaum mehr gesetzgeberischen Gestaltungsraum belassende Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen durch den Bund verantwortlich gemacht wurde. Letzteres wiederum führte man maßgeblich darauf zurück, daß die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG 139

sich als wirkungslos erwiesen hatte. Konrad Hesse konstatierte diese Entwicklung im Jahre 1962 mit seiner berühmt gewordenen Schrift „Der unitarische Bundesstaat", trat ihr jedoch mit Gelassenheit gegenüber, denn angesichts der Bedürfnisse des industrialisierten und sozialen Rechtsstaats hielt Hesse es für eine Zwangsläufigkeit, daß der Kreis derjenigen Aufgaben, die zweckmäßigerweise im Landesbereich geregelt werden könnten, stetig schrumpfe. 140 Dies belegte er mit der Erkenntnis, daß sogar im Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung die Länder selbst zunehmend Anlaß sähen, Vereinheitlichungen auf dem Wege freiwilliger Selbstkoordinierung - später unter dem Begriff „kooperativer Föderalismus" erörtert 141 - herbeizuführen. 142 Gleichzeitig sei ein Wandel im Bewußtsein der

136

BVerfGE 2, 213 [224]; vgl. oben § 8 IV. Vgl. etwa Hamann, GG, Art. 72, Anm. 4. 138 Grundlegend Bullinger, DÖV 1970, 761 ff.; Katzenstein, DÖV 1958, 593 ff. 139 Bullinger, a. a. O., S. 764; Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 15; Katzenstein, DÖV 1958, 593 [594 ff.]; Scheuner, DÖV 1966, 513 [517]; Stern, Staatsrecht I, § 19 III 3 b; ders., Staatsrecht II, § 37 II 3 e. 140 Hesse, a. a. O., S. 13. 141 Vgl. Scheuner, a. a. O., S. 518 f. 142 Hesse, a. a. O., S. 19 ff. 137

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bundesdeutschen Bevölkerung zu beobachten, in welchem die Kultivierung regionaler Eigenarten keinen besonders hohen Stellenwert mehr genieße.143 Den derart gewandelten deutschen Föderalismus charakterisierte Hesse mit dem vielzitierten Begriff „unitarischer Bundesstaat".144 Aus seinem Befund zog Hesse die Schlußfolgerung, daß alle Versuche, die Unitarisierung aufzuhalten, vergeblich, wenn nicht gar gefährlich für die normative Kraft der Verfassung sein müßten, betonte jedoch zugleich, daß Unitarisierung keine Zentralisierung bedeute.145 Der bundesstaatlichen Ordnung komme nämlich in erster Linie eine gewaltenteilende Funktion zu, und diese Funktion könne ebensogut wie durch eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten der Länder (vertikale Gewaltenteilung) auch durch den Einfluß des Bundesrates auf die Bundesgesetzgebung (horizontale Gewaltenteilung) gewahrt werden. Dieser Einfluß sei sogar seit Inkrafttreten des Grundgesetzes noch deutlich gesteigert worden und bringe auch zunehmend das Gewicht der regelmäßig äußerst sachkundigen Länderbürokratie im Gesetzgebungsverfahren zur Geltung. 146 In jener neuen Form der Gewaltenteilung durch vermehrten Einfluß der Länder auf die gesamtstaatliche Willensbildung sah Hesse die zeitgemäße Variante der Bundesstaatlichkeit, die den Föderalismus überkommener Prägung, der sich aus der Individualität historisch gewachsener Einzelstaaten rechtfertigte, abgelöst habe. 147 Die in der weiteren Diskussion dieses Themas sich herausbildende und schließlich weitaus überwiegende Auffassung teilte zwar die Diagnose, nicht jedoch die Bewertung Hesses. Der vermehrte Einfluß auf die Bundesgesetzgebung, den die Länder über den Bundesrat aufgrund verstärkter informeller Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren sowie erweiterter Zustimmungserfordernisse erlangten 148 , wurde gerade nicht als hinreichender Ausgleich für den Verlust eigener Gesetzgebungskompetenzen im Sinne des Prinzips „kommunizierender Röhren" 149 akzeptiert. Zur Begründung wurde angeführt, daß der Bundesrat nicht die Landesgesetzgeber, sondern die Landesregierungen repräsentiere, daß aufgrund des im Bundesrat geltenden Mehrheitsprinzips sowie 143 Hesse, a. a. O., S. 14; insoweit zust. Bullinger, a. a. O., S. 762, sowie Scheuner, DÖV 1962, 641 [645], der „angesichts dieses Lebensgefuhls der Bevölkerung . . . die Formel des Art. 72 Abs. 2 Ziffer 3 GG von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, noch gedacht als Begrenzung, umgekehrt zum eigentlichen Träger der Vereinheitlichung" sich entwickeln sah.. 144 Hesse, a. a. O., S. 14. 145 A. a. O., S. 21. 146 A. a. O., S. 21 ff. 147 A. a. O., S. 32. 148 Bullinger, a. a. O., S. 766; Hesse, a. a. O., S. 22; Katzenstein, a. a. O., S. 597 ff.; Scheuner, DÖV 1966, 513 [517]. 149 Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 39.



116 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur parteipolitischer Rücksichten die Interessen einzelner Länder stets vom Schicksal der Überstimmung bedroht seien und schließlich, daß ein Machtzuwachs des Bundesrates, der mit einer Schwächung der Länderpotenz und somit auch des politisch-legitimen Gewichts der im Bundesrat vertretenen Landesregierungen einhergehe, die Legitimität des Verfassungsorgans Bundesrat überhaupt in Zweifel ziehe. 150 Scheuner sah den im Sinne Hesses auf eine lediglich horizontal gewaltenteilende Funktion reduzierten Föderalismus bereits in bedenklicher Nähe zum dezentralisierten Einheitsstaat.151 Zwar wurde ein gewisser faktischer Unitarisierungsdruck aufgrund sozialstaatlich-egalitärer Bedürfnisse sowie der praktischen Zwänge der hochtechnisierten und mobilen Industriegesellschaft durchaus anerkannt 152, jedoch sah man andererseits nach wie vor in vielen Bereichen einen lebendigen regionalen Pluralismus wirken, der es rechtfertige, die bundesstaatliche Organisationsform auch in ihrer vertikalen Verteilung der Entscheidungskompetenzen zu erhalten. 153 Mit der vertikalen Gewaltenteilung verband man eine Stabilisierung der Demokratie, und zwar durch Verstärkung der politischen Teilhabemöglichkeiten des einzelnen, größere Lebensnähe der Entscheidungsträger, gesunden Wettbewerb zwischen den Ländern untereinander und im Verhältnis zum Bund sowie die daraus resultierende Möglichkeit des Experiments. 154 Überdies gewann die Auffassung an Boden, daß durch sinnvolle Dezentralisierung bestimmter Aufgaben die Effizienz des wirtschaftlichen Gesamtsystems sogar noch gesteigert werden könne. 155 Demgemäß wurde zur Erhaltung der vom Grundgesetz vorgesehenen Staatlichkeit der Länder überwiegend für unabdingbar erachtet, diesen einen Grundbestand eigener Gesetzgebung zu gewährleisten, um die Länder „als Zentren politischer Entscheidung lebendig zu erhalten". 156

150

Eingehend Lerche, a. a. O., S. 39 ff.; ferner Bullinger, a. a. O., S. 767; Katzenstein, a. a. O., S. 603; Kretschmer in: Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Bd. 9 (1974), 97 [118 f.]. 151 Scheuner, DÖV 1962, 641 [646]. 152 Bullinger, a. a. O., S. 762 u. 768; Scheuner, a. a. O., S. 645; ders., DÖV 1966, 513 [517]; Scholz, Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 252 ff. [254]. 153 Scheuner, DÖV 1962, 641 [648]. 154 Lerche, a. a. O., S. 10 f.; Stern in: Überlegungen zur Verfassungsreform, S. 43 ff. [48]. 155 Vgl. Kisker, Der Staat 1975, 169 [172 f.]. 156 Bullinger, a. a. O., S. 762 (vgl. auch S. 768, mit dem aus heutiger Sicht jedenfalls nicht unbedenklichen Hinweis auf die positive Entwicklung des Föderalismus in Jugoslawien); ähnlich Kisker, a. a. O., S. 173; Scheuner, a. a. O., S. 642; Stern, Staatsrecht I, § 19 III 2 b; selbst Hesse räumte schließlich ein, daß eine gänzliche Beseitigung der Landesgesetzgebung sich schon im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG verbiete (AöR, Bd. 98(1973), 1 [17]).

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117

2. Konsequenz: Aktivierung der Bedürfnisklausel Aufgrund der vorstehend umrissenen, seit Ende der 60er Jahre verbreitet vertretenen Situationsbeurteilung lag der Versuch nicht fern, die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG zu aktivieren, um den Umfang der Bundesgesetzgebung einzudämmen. Vereinzelte Warnungen vor einem »juristischen Stellungskrieg" 157 zwischen Bund und Ländern, der einer gedeihlichen Entwicklung des Föderalismus abträglich sei, verhallten indessen weithin ungehört. So wurde im Schrifttum zunehmend Kritik an der zurückhaltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG laut. Viele forderten, daß das Gericht den unbestimmten Rechtsbegriffen der Bedürfnisklausel durch eine genauere Interpretation schärfere Konturen verleihen müseo

158

se. Achterberg 159 untersuchte die Rechtsnatur der Bedürfnis-Entscheidung und gelangte zu dem Ergebnis, daß es sich bei Art. 72 Abs. 2 GG um einen „Mischtatbestand" handele, bei dem auf der Tatbestandsseite (Vorliegen eines Bedürfnisses) unbestimmte Rechtsbegriffe anzuwenden und auf der Rechtsfolgenseite (Erlaß eines Bundesgesetzes) ein Ermessen auszuüben sei. 160 Die Auslegung der durch die unbestimmten Rechtsbegriffe umschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen sei gerichtlich überprüfbar. Dafür spreche der Zweck der Norm, der darin bestehe, „das Verhältnis zwischen Bund und Ländern so zu regeln, daß beide Staatsebenen möglichst wenig angetastet werden." 161 Die Bedürfnisklausel solle sicherstellen, daß die Überordnung des Bundes gegenüber den Ländern die Ausnahme bleibe. Das mit dem Bedürfnisbegriff verbundene „planerische Element" stehe einer gerichtlichen Kontrolle nicht entgegen, denn das Bundesverfassungsgericht könne nachprüfen, „ob die Bundesgesetzgebung nach den im Zeitpunkt der Kompetenzübernahme - auf den es hier ankommt -

157

So Scheuner, DÖV 1966, 513 [517], der eine Häufung verfassungsgerichtlicher Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern in dem seines Erachtens ohnehin gegenüber früheren deutschen Verfassungen recht starren föderalen System des Grundgesetzes ablehnt und stattdessen zu mehrföderaler Verständigung rät (ebenda, S. 515 f. u. 520). 158 Achterberg, DVB1. 1967, 213 ff.; Bothe in: Alternativkommentar, GG, Art. 72, Rn. 12; Hendler, ZG 1987, 210 [213 ff.]; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, 6. Aufl., Rn. 540 ff.; Kisker, a.a.O., S. 188; Krüger, Bay VB1. 1984, 545 ff.; Lerche, BayVBl. 1958, 231 [234 f.]; ders., Übermaß u. Verfassungsrecht, S. 345 f.; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 18 f.; Pestalozza, NJW 1981, 2081 [2084]; Rengeling in: HStR IV, § 100, Rn. 124; Scholz, Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 252 ff. [261 ff.]; Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 e; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 395 ff. 159 DVB1. 1967, 213 ff. 160 A. a. O., S. 218. 161 A. a. O., S. 219.

118 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur bestehenden Plänen beispielsweise für die Rechts- und Wirtschaftseinheit erforderlich ist." 1 6 2 Abschließend relativierte Achterberg jedoch seine Überlegungen wie folgt: „Zugestandenermaßen spielt dabei, wie aber auch sonst bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, ein Element des ' Schätzens ' und ' Wägens ' eine Rolle, bei dem Maßstäbe - außer vom Bundesgesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht insoweit offen zu legenden Planzielen - weithin fehlen. Das kann jedoch durch die Einräumung eines Beurteilungsspielraums berücksichtigt werden, ohne daß auf die gerichtliche Kontrolle überhaupt verzichtet zu werden braucht." 163 Maunz x( A kritisierte, daß die in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG enthaltenen Tatbestandsmerkmale zwar mit Recht als unbestimmte Rechtsbegriffe eingestuft worden seien, andererseits aber wie Ermessensbegriffe behandelt würden. Das Ermessen werde dabei auf der Tatbestandsseite der Norm eingeräumt, wogegen gerade bei Kompetenznormen rechtsstaatliche Bedenken bestünden. Mit seiner Rechtsprechung verstoße das Bundesverfassungsgericht gegen den unbestrittenen Grundsatz, daß die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe Aufgabe der Judikative sei. Weiterhin stellten Maunz und andere - in Anlehnung an die Argumentation Achterbergs - ebenfalls auf den Zweck des Art. 72 Abs. 2 GG ab, der in einer Eindämmung der Bundesgesetzgebung bestehe und vom Bundesverfassungsgericht nicht gewahrt werde. 165 Art. 72 Abs. 2 GG sei „für Vorführungen richterlicher Selbstbeschränkung nicht der geeignete Schauplatz". 166 Vielmehr müsse diese Abstinenz, wie Jörn Ipsen formuliert, „als Versagen der Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen werden." 167 In diesem Zusammenhang wiesen die Kritiker darauf hin, daß die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung der Bedürfnisfrage im Widerspruch zu der ansonsten zu beobachtenden Tendenz stehe, die Beziehungen innerhalb des politischen Systems als umfassend rechtlich geordnet anzusehen.168 So habe sich das Gericht oftmals auch in hochpolitischen Angelegenheiten nicht gescheut, seine Prüfungskompetenz wahrzunehmen. 169

162

A. a. O., S. 220. A. a. O., S. 220. 164 In: Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 18 f. 165 Hendler, a. a. O., S. 214; Maunz, a. a. Ο., Rn. 18. 166 Hendler, a. a. O., S. 216; ähnlich J. Ipsen, a.a.O., Rn. 550 („Irrweg des »judicial self-restraint«"); Pestalozza, a. a. Ο. 167 J. Ipsen, a. a. Ο., Rn. 540. 168 So Bothe, a. a. O. 169 So J. Ipsen, a.a.O., Rn. 541. 163

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119

Ein weiterer Widerspruch wurde - im Anschluß an Lerche 7 0 - darin gesehen, daß das Bundesverfassungsgericht bei Gesetzen, die den Bereich der Grundrechte berührten, eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehme, während eine solche Prüfung im Rahmen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht stattfinde. 171 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip sei durchaus auch im Kompetenzbereich fruchtbar zu machen.1 2 Femer wurde auf die Rechtsprechung zum Begriff „Rahmenvorschriften" in Art. 75 GG verwiesen, mit welcher das Bundesverfassungsgericht ebenfalls unbestimmte Rechtsbegriffe näher definiert habe. 173 Konkrete Vorschläge zu einer intensivierten Bedürfnisprüfung unterbreiteten Krüger 7 4 und Scholz 175. Krüger erinnerte daran, daß Einheitlichkeit keinen Selbstzweck darstelle und forderte deshalb, daß in jedem Streitfall eingehend zu prüfen sei, ob von einer differierenden Landesgesetzgebung eine nachhaltige Störung des bundesstaatlichen Gesamtsystems ausgehe. Nur wenn diese Frage zu bejahen sei, könne ein Bedürfnis für eine Regelung der betroffenen Materie durch Bundesgesetz anerkannt werden. Ansonsten sei stets im Auge zu behalten, daß der Föderalismus die Funktion einer Wettbewerbsordnung habe, die den Ländern ermöglichen solle, um die jeweils besten gesetzlichen Lösungen zu konkurrieren. 176 Als Negativbeispiel für ein ohne Bedürfnis erlassenes Bundesgesetz nannte Krüger die bundesweite Einführung der sogenannten Gruppenuniversität durch den damaligen § 38 HRG, die jede fruchtbare Konkurrenz unter den Ländern hinsichtlich der effizientesten Organisationsform ihrer Hochschulen ersticke, ohne daß hierfür ein hinreichender, bundesstaatlich relevanter Grund hätte angeführt werden können. 177 Andererseits räumte Krüger ein, daß nicht bei allen Materien der konkurrierenden Gesetzgebung eine gleichermaßen intensive Bedürfniskontrolle durchgeführt werden könne. 178 So sei „bei vielen Kompetenznormen die Notwendigkeit bundeseinheitlicher Regelungen von vornherein einleuchtend", wobei er beispielhaft die Ziffern 1 bis 4a, 9, 10, 14, 19, 22 u. 24 des Art. 74 GG sowie

170 BayVBl. 1958, 231 [235], vgl. bereits oben I; ferner ders., Übermaß und Verfassungsrecht, S. 345 f. 171 Bothe, a. a. O.; Maunz, a. a. O., Rn. 19; Stettner, Kompetenzlehre, S. 397 ff. 172 Stettner, a. a. O. 173 Kisker, a. a. O., S. 188; Maunz, a. a. O. 174 BayVBl. 1984, 545 ff. 175 Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 252 ff. 176 A. a. O., S. 549; vgl. auch Maunz, a. a. Ο., Rn. 2. 177 Krüger, a. a. O., S. 550 f. 178 A. a. O., S. 548.

120 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur die Ziffern 3 und 4 des Art. 75 GG nannte. Bei anderen Materien, wie etwa den in den Ziffern I I a und 16 des Art. 74 GG aufgeführten Gegenständen, müsse dem Bundesgesetzgeber jedenfalls „ein großer Entscheidungsfreiraum" bei der Bejahung des Bedürfnisses eingeräumt werden. 179



Scholz gründete seine Überlegungen zur Bedürfnisklausel auf die Feststellung, daß die Problematik der Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG weniger im Fehlen einer dogmatisch klaren Einordnung der dort genannten Kriterien als Ermessensfragen oder als unbestimmte Rechtsbegriffe zu suchen sei, sondern vielmehr in den praktischen Ergebnissen liege, die jedenfalls darauf hinausliefen, daß die Bedürfnisklausel allein durch eine politische Vorentscheidung des Bundesgesetzgebers ausgefüllt werde, die vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu respektieren sei. Aus diesem Befund zog er die ernüchternde Bilanz: „Die Maßstäbe des Art. 72 II GG laufen funktionell nunmehr leer; sie spielen keine praktisch-verfassungspolitische Rolle mehr." 180 Gleichwohl erhob Scholz keine prinzipiellen Einwände dagegen, den Bundesgesetzgeber aufgrund seiner gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit als den primär berufenen Entscheidungsträger im Rahmen der Bedürfnisfrage anzusehen. Die in Art. 72 Abs. 2 GG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe seien in derart hohem Maße konkretisierungsbedürftig, daß dem Bund eine „Entscheidungsprärogative" zugebilligt werden müsse, die - insoweit könne dem Bundesverfassungsgericht nicht widersprochen werden - eine Justitiabilität der getroffenen Entscheidungen „sicherlich nur unter außerordentlich engen Vor181 aussetzungen" zulasse. Den „zentralen Fehler" des Bundesverfassungsgerichts, durch welchen die in Art. 72 Abs. 2 GG niedergelegten Maßstäbe vollständig leerliefen, sah Scholz hingegen darin, daß das Erfordernis „funktionaler Qualifikation", bezogen auf die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 - 3 GG, mißachtet werde. 182 Unter „funktionaler Qualifikation" ist nach Scholz die Bewertung und kompetenzrechtliche Einordnung eines konkreten Rechtssatzes im Hinblick auf Ziel und Wirkung desselben zu verstehen. 183 Hierzu entwickelte Scholz ein Prüfungsschema 184, mit dessen Hilfe er nicht nur das Ziel eines Gesetzes nach der Vorstellung des Bundesgesetzgebers, sondern vor allem seine erkennbare bzw. vorab abschätzbare typische Wirkung erfassen wollte. Danach soll die vom 179 180 181 182 183 184

Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 252 ff. A. a. O, S. 260; zust. Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 e. Scholz, a. a. O., S. 260. A. a. O., S. 261 f.; zust. Rengeling in: HStR IV, § 100, Rn. 124. Scholz y a. a. O., S. 261. Α. a. Ο., S. 262 ff.

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Bund jeweils in Anspruch genommene Klausel des Art. 72 Abs. 2 GG in der Weise geprüft werden, daß ein hypothetischer Rechtsfolgenvergleich der beabsichtigten bundesgesetzlichen Regelung mit einer gleichgerichteten landesgesetzlichen Regelung durchgeführt werde. Nur wenn hiernach die landesrechtliche Regelung am Maßstab des Art. 72 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 3 GG gleichsam durchfalle, solle die Entscheidung des Bundesgesetzgebers als verfassungsgemäß anzusehen sein. Im zweiten Ladenschlußgesetz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 185 sah Scholz einen vielversprechenden, in der Folgezeit aber brachliegenden Ansatz zu einer verstärkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle, den er in Richtung seines Modells für ausbaufähig hielt. 1 8 6 In der Tat findet sich in dieser Entscheidung die von Scholz intendierte Differenzierung zwischen der grundsätzlich zu respektierenden politischen Vorentscheidung des Bundesgesetzgebers, auf das ihm erwünscht erscheinende Maß an Einheitlichkeit im Sozialleben hinzustreben, und der sich hieran anschließenden, prinzipiell justitiablen Frage, ob das 187

angestrebte Ziel ein eigenes Tätigwerden des Bundesgesetzgebers erfordert. Allerdings versieht Scholz sein Modell abschließend mit der Einschränkung, daß das Bundesverfassungsgericht die von ihm intendierte funktionale Überprüfung nur in Form einer Evidenzkontrolle durchführen, mithin die Entscheidung des Bundesgesetzgebers nur bei offenkundiger Fehlsamkeit gegenüber den Maßstäben des Art. 72 Abs. 2 GG verwerfen könne. 188 Diese Einschränkung ergebe sich daraus, daß die vorzunehmende Rechtsfolgenkontrolle „auf wesentlich hypothetische bzw. ex ante-orientierte Beurteilungen angelegt oder U

. 189

angewiesen sei. I I I . Rechtspolitik Weil einer Änderung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG trotz aller lautstarken Kritik letztlich wenig Chancen eingeräumt wurden, wurde die Bedürfnisklausel zum Gegenstand nicht nur verfassungsrechtlicher, sondern auch rechtspolitischer Diskussion. So vermochte Kisker 90 die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „im Ergebnis" deshalb nicht zu beanstanden, weil Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG wegen der Weite seiner Formulierung letztlich immer einen Bedürfnisgrund für den Bundesgesetz185 186 187 188 189 190

BVerfGE 13, 230 [233 f.]; näher oben § 8 VI. Scholz, a. a. O., S. 263 u. 264. Vgl. BVerfGE 13, 230 [233]. Scholz, a. a. O., S. 264. A. a. O., S. 263 f. Der Staat 1975, 169 [188].

122 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur geber liefere. Kisker forderte deshalb die Streichung dieser Klausel und wollte sich stattdessen mit den in Nr. 1 und 2 des Art. 72 Abs. 2 GG genannten Kriterien begnügen.191 Maunz vertrat zwar schon de lege lata eine Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 192 , unterzog jedoch zugleich die Arbeit des Verfassungsgebers scharfer Kritik: „Die Ziffer 3 ist so weit gefaßt, daß praktisch jedes sachgerechte Bundesgesetz über die in Art. 74 aufgeführten Gegenstände darunter fällt, es sei denn, daß aus ihm selbst (aus seinem Inhalt und seiner Zweckrichtung) hervorgeht, daß es der Rechtsund Wirtschaftseinheit entweder nicht dienen will oder nicht dienen kann. Γ...] Die Wirkung des Gesetzes ist also zur Voraussetzung seines Erlasses gemacht."1 3 Auch andere Autoren resignierten vor der Unbestimmtheit des Art. 72 Abs. 2 GG ebenso wie vor der gefestigten Karlsruher Rechtsprechung und befürworteten stattdessen eine Lösung des Problems durch Verfassungsreform. 194

I V . Bezüge zur Entstehungsgeschichte Im Vergleich zum Schrifttum der ersten Nachkriegsjahre 195 fällt an der vorstehend dargestellten Diskussion auf, daß der Bezug zur Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG mittlerweile in bemerkenswertem Maße abhandengekommen war. So gingen die meisten Autoren im Rahmen ihrer Auslegungsbemühungen auf die verfassungshistorische Vorgeschichte, die Umstände der Entstehung und insbesondere die mit der Vorschrift verbundenen Zielvorstellungen des Parlamentarischen Rates überhaupt nicht mehr ein. Andere beriefen sich gar darauf, daß mit einer intensivierten verfassungsgerichtlichen Kontrolle dem Willen der „Väter des Grundgesetzes" zur Wirkung verholfen werden solle. 196 In der Kommentierung von Maunz heißt es ohne weitere Differenzierung: „Unbestrittenermaßen wollte das Grundgesetz in Art. 72 Abs. 2 zum Schutz der Länder vor einer allzu überhandnehmenden bundesgesetzlichen Regelung rechtliche Schranken für diese aufstellen." 197

191

A.a.O.,S. 183. Vgl. oben II 2. 193 Maunz, a. a. Ο., Rn. 23; zust. Stern, Staatsrecht II, § 37 II 3 e; kritisch zu dieser Bewertung Gruson, Die Bedürfniskompetenz, S. 52. 194 Kretschmer in: Verfassung u. Verfassungswirklichkeit, Bd. 9(1974), 97 [99, 111]; Stettner, Kompetenzlehre, S. 396. 195 Oben § 7. 196 Vgl. etwa Krüger y a. a. O., S. 551. 197 Maunz, a. a. O., Rn. 18; Hervorh. v. Verf. 192

§ 10 Bewertung des Meinungsstandes

123

Hendler 198 warf dem Bundesverfassungsgericht vor, „gegen rechtsmethodische Grundsätze" zu verstoßen, indem es das aus der Entstehungsgeschichte folgende Ziel des Art. 72 Abs. 2 GG, welches in einer wirksamen Eindämmung der Bundesgesetzgebung bestehe, mißachte. Bemerkenswerterweise geriet gerade die Ziffer 3 des Art. 72 Abs. 2, für die der Parlamentarische Rat in den Verhandlungen mit den Alliierten so lange gekämpft hatte, ins Zentrum der Kritik. 1 9 9 Einer der Hauptvertreter dieser Kritik, Theodor Maunz 20°, hat jedoch andererseits den Nachweis gefuhrt, daß für die in den Ziffern 1 und 2 des Art. 72 Abs. 2 GG geregelten Bedürfnisgründe, die das alliierte Memorandum vom 2. März 1949 allein vorgesehen hatte, kaum praktische Anwendungsfälle vorstellbar seien. 201 Damit hat Maunz indirekt bestätigt, daß die Ergänzung der Ziffer 3 einer praktischen Notwendigkeit entsprach. Die verbreitete Mißachtung der entstehungsgeschichtlichen Zusammenhänge beruht in den meisten Fällen wohl nicht auf einer ergebnisorientierten Ignoranz gegenüber den Ereignissen des Frühjahres 1949 und den Intentionen des Parlamentarischen Rats, sondern ist unter anderem dadurch erklärbar, daß eine Vielzahl der heute hierzu verfügbaren Materialien erst seit den späten 80er Jahren nach und nach veröffentlicht worden oder nach Ablauf von Sperrfristen im Bundesarchiv in Koblenz einzusehen ist.

§ 10 Bewertung des Meinungsstandes Im Vergleich zum Schrifttum der ersten Nachkriegsjahre 202, dessen weitaus überwiegender Teil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG bereits vorweggenommen hatte, tendierte das jüngere Schrifttum in die entgegengesetzte Richtung. Den Hintergrund der zunehmenden Kritik an der Judikatur bildete ein grundsätzlich unterstützenswertes und bis heute aktuelles Anliegen: Erne Staatlichkeit der Länder, die auf die bloße Mitwirkung an der Willensbildung des Bundes und im übrigen auf den Vollzug der Bundesgesetzgebung reduziert würde, wäre letztlich eine Hülle ohne Kem und damit keine Eigen198

ZG 1987, 210 [214]; ähnlich J. Ipsen (Staatsorganisationsrecht, 6. Aufl., Rn. 541), der sich erstaunt zeigte, „gerade im Bereich des Art. 72 Abs. 2 GG auf eine derartige richterliche Zurückhaltung zu stoßen." 199 Vgl. Hendler, a. a. O., S. 213 f.; Kisker, a. a. O., S. 188; Krüger, a. a. O., S. 546; Maunz , a. a. O., Rn. 23. 200 A.a.O. 201 A. a. 0.,Rn. 21 u. 22. 202 Vgl. oben §7.

124 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur Staatlichkeit mehr, wie sie das Grundgesetz mit dem in Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 garantierten bundesstaatlichen Prinzip voraussetzt. Ein lebendiger Föderalismus fordert daher - wie die überwiegende Ansicht zu Recht betont - nicht nur Elemente horizontaler, sondern auch vertikaler Gewaltenteilung, was bedeutet, daß den Ländern ein Kembestand originärer Gesetzgebungskompetenzen zu gewährleisten ist. Diese durchaus zu billigende verfassungspolitische Grundsatzforderung allein vermochte jedoch eine gesteigerte Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG noch nicht stichhaltig zu begründen. Ein Anlaß zur Änderung der Rechtsprechung konnte daraus nur hergeleitet werden, wenn sich zugleich neue, verfassungsrechtlich relevante Gesichtspunkte für die Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG ergeben hätten, die den im frühen Schrifttum erzielten Diskussionsstand hätten überholt erscheinen lassen. Zutreffend war zunächst die vom Bundesverfassungsgericht im zweiten Ladenschlußgesetz-Urteil vorgenommene und von der Lehre nahezu einhellig akzeptierte Einstufung der in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Bedürfnis Voraussetzungen als unbestimmte Rechtsbegriffe. Daß es sich hierbei, wie anfangs teilweise vertreten wurde, um bloße politische Direktiven ohne Rechtsnormcharakter handelte 203 , wäre zwar anhand der Lehre vom justizfreien Hoheitsakt zu begründen 204 , jedoch muß diese Lehre angesichts des grundgesetzlichen Bekenntnisses zur umfassenden justizfÖrmigen Kontrolle gerade auch des sogenannten politischen Bereichs als nicht mehr haltbar angesehen werden. 205 Hinzu kommt, daß die ausführliche enumerative Regelung von Voraussetzungen für die Bundeskompetenz, wie sie in Art. 72 Abs. 2 GG niedergelegt war, schon aufgrund ihrer objektiv erkennbaren Zielrichtung als eine Rechtsnorm und nicht - wie etwa die Soll-Vorschrift des Art. 34 Satz 2 HChE - als „soft law" oder bloße politische Richtlinie anzusehen war. 2 0 6 Insoweit war die dog207

matische Grundlegung Achterbergs überzeugend. Allerdings wurde die Rechtsnormqualität und damit zugleich die grundsätzliche Justitiabilität der Bedürfnisklausel spätestens mit der genannten Entscheidung zum Ladenschlußgesetz auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannt. Nur hatte das Gericht gleichzeitig dem Bundesgesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Auslegung der in Art. 72 Abs. 2 GG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe eingeräumt, was vom rechtsdogmatischen Stand-

203

Vgl. oben § 7 I 2. Vgl. Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte; Herbert Krüger, DÖV 1950, 536 ff. 205 Vgl. Klein, Bundesverfassungsgericht und richterliche Beurteilung politischer Fragen, S. 11 ff. 206 Im Ergebnis ebenso Gruson, a. a. O., S. 96 ff. 207 DVB1. 1967, 213 ff. 204

§ 10 Bewertung des Meinungsstandes

125

punkt aus im Grundsatz nicht angreifbar war. 208 Ein Zwang zu höherer verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte konnte also nur durch den Nachweis begründet werden, daß im Falle der Bedürfnisklausel ein Beurteilungsspielraum nicht angezeigt oder jedenfalls zu weit gewählt sei. Hierzu machten die Kritiker des Bundesverfassungsgerichts nicht zu Unrecht geltend, daß das Gericht vielfach bewiesen habe, auch vor einer Beurteilung politischer Fragen keineswegs zurückzuschrecken. Zutreffend konnte überdies angeführt werden, daß ein umfassender, auch auf den Bereich der Politik sich erstreckender Rechtsschutz im Einklang mit dem Willen der Ver209

fassungsväter steht. In Gestalt des Normenkontrollverfahrens bildete und bildet noch heute die Beilegung politisch relevanter Auseinandersetzungen sogar einen der Schwerpunkte der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. 210 Soweit jedenfalls für die Beantwortung einer vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Frage eine Rechtsnorm besteht, muß diese angewendet werden, und zwar unabhängig von möglichen politischen Wirkungen der Entscheidung. 211 Ein Rückgriff auf die vom amerikanischen Supreme Court entwickelte „political question"-Doktrin mit dem Ziel der Entscheidungsverweigerung ist in einem solchen Fall nicht möglich. 212 Jedoch ist mit diesen Erwägungen das Problem der Kontrolldichte, welches sich dem Richter stellt, sobald zwar eine Rechtsnorm vorhanden, diese aber, wie im Fall des Art. 72 Abs. 2 GG, sehr unbestimmt gefaßt war, noch nicht gelöst. 213 Dies verdeutlicht die Definition, mit der Friedrich Klein die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts umrissen hat: „Entscheidend bleibt allein, ob der Streit an Hand einer inhaltlich näher bestimmbaren Rechtsnorm entschieden werden kann."214 Hieraus ergibt sich, daß die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle sich an der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabes zu orientieren hat. 215 Dies eröffnet dem Richter die Möglichkeit, eine durch die Weite der Rechtsnorm implizierte Beurteilungsbandbreite ebenso wie eine teilweise nicht vorhandene rechtliche Determinierung zu behandeln und dementsprechend den Umfang seiner Nachprüfung zu beschränken. Folglich entlastet der pauschale Hinweis 208

So auch Achterberg, a. a. O., S. 219 f. In diesem Sinne überzeugend Klein, a. a. O., S. 6; ferner Vogel, DÖV 1978, 665 [666]. 210 Zutreffend Klein, a. a. O., S. 7; Schenke, NJW 1979, 1321 [1322]. 211 Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 32. 212 Zutreffend Stern, a. a. O.; Kriele, NJW 1976, III [780]; Schenke, a. a. O., S. 1325; ferner Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 469. 213 Vgl. Stern, a. a. O. 214 Klein, a. a. O., S. 24, Hervorh. v. Verf. 215 Vgl. Schiaich, a. a. O., Rn. 502. 209

126 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur auf die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts (auch) in politischen Fragen nicht davon, im Einzelfall eine sachgerechte Grenzziehung unter dem - das Grundgesetz ebenso beherrschenden - Aspekt der Gewaltenteilung vorzunehmen, indem bei der Anwendung einer unbestimmten Verfassungsnorm die politischen von den rechtlichen Gesichtspunkten geschieden werden und hiemach die Dichte der Rechtskontrolle bestimmt wird. Einer solchen Abgrenzung kann nicht mit dem Hinweis auf die Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan entgegengetreten werden, denn diese Stellung besitzt das Gericht nur als Teil der Judikative im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und nicht etwa als Teil der zur politischen Gestaltung berufenen Staatsleitung.216 Das Bundesverfassungsgericht hat sich deshalb auf juristisch begründbare Entscheidungen zu beschränken und Entscheidungen, die nur politisch begründbar sind, zu verweigern. 217 Der zugunsten eines verringerten Beurteilungsspielraums bei Art. 72 Abs. 2 GG weiterhin angeführte Hinweis auf das Übermaß verbot griff ebenfalls nicht durch. Zwar erschien es auf den ersten Blick nicht abwegig, Art. 72 Abs. 2 GG dahingehend auszulegen, daß der Bund den Ländern nicht mehr wegnehmen dürfe, als nach dem - sinngemäß angewendeten - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vertretbar wäre. Jedoch ist das in der Grundrechtslehre entwickelte Übermaßverbot auf den Bereich des bundesstaatlichen Kompetenzsystems nicht übertragbar. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu zutreffend ausgeführt: „Für die Argumentationsfigur des 'milderen Mittels' bietet die Kompetenzordnung des Grundgesetzes keine Grundlage. Ein milderes Mittel ist dort denkbar, wo der Staat in die Rechtssphäre der Bürger eingreift, nicht jedoch bei der Anwendung der Kompetenzordnung und -Verteilung zwischen Bund und Ländern, wo es um feste und eindeutige Grenzziehungen geht."218 Das Anliegen möglichst wenig interpretationsbedürftiger Grenzziehungen innerhalb des Kompetenzsystems ergibt sich auch aus dessen Entstehungsgeschichte. 219 Gleichwohl wurde eine beschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung am Maßstab des Art. 72 Abs. 2 GG auch vom Bundesverfassungsgericht bereits durch-

216 Badura y Mahrenholz-Festschrift, S. 869; vgl. auch Klein (a. a. O.), der seine oben wiedergegebene Definition um folgende Anmerkung ergänzt: „Sicher ist schließlich, daß ein Verfassungsgericht seiner Urteilsfindung nicht zukünftige, ungewisse Umstände zugrundelegen, daß es nicht zukünftige politische Entwicklungen prognostizieren darf."; ebenso J. Ipsen, Staatsrecht I, 8. Aufl., Rn. 870. 217 Kriele, a. a. O., S. 778; näher ders., Theorie der Rechtsgewinnung, S. 177 ff. 218 BVerfGE 67, 256 [289]; ebenso E 81, 310 [338]; Rengeling in: HStR IV, § 100, Rn. 22. 219 Vgl. oben Teil 1.

§ 10 Bewertung des Meinungsstandes

127

geführt, und zwar in Gestalt der Mißbrauchskontrolle. Das Beispiel in dem 1972 ergangenen Urteil zum Ersten Hessischen Besoldungsanpassungsgesetz220 - Erlaß eines Bundesgesetzes für drei hessische Musiker - zeigt, wann ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers im Rahmen der konkurrierenden Kompetenz als unverhältnismäßig einzustufen gewesen wäre. Eine demgegenüber erweiterte Verhältnismäßigkeitsprüfung hätte dem Bundesverfassungsgericht hingegen genau diejenigen politischen Wertungen und Prognosen abverlangt, derer sich das Gericht aus guten Gründen enthielt. Hiermit wäre nämlich ein extremer Unsicherheitsfaktor in die Kompetenzabgrenzung geraten, durch den jede voraussehbare Kalkulation unmöglich gemacht worden wäre. Problematisch wäre eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auch dann gewesen, wenn sie, wie Stettner vorgeschlagen hat 2 2 1 , nicht hinsichtlich des „Ob", sondern nur hinsichtlich des „Wie" bundesgesetzgeberischer Tätigkeit, d. h. hinsichtlich der Regelungsdichte eines konkurrierenden Bundesgesetzes durchgeführt worden wäre. Denn auch bei dieser Lösung hätte bei jedem einzelnen Bundesgesetz ein Streit darüber entstehen können, ob diese oder jene Einzelregelung des Gesetzes noch angemessen sei oder nicht, womit im Ergebnis eine noch größere Rechtsunsicherheit entstanden wäre, als es bei einer Kontrolle des „Ob", also der generellen Zulässigkeit eines konkurrierenden Bundesgesetzes, der Fall gewesen wäre. Der Hinweis auf die Rechtsprechung zur Rahmengesetzgebung gemäß Art. 75 GG schließlich überzeugte ebenfalls nicht. Denn die Frage, ob ein Bundesgesetz sich auf „Rahmenvorschriften" beschränkt, also den Ländern noch substantiellen Spielraum für eigene Ausfüllungsgesetze läßt, ist eben nicht durch politisch-prognostische, sondern allein durch rechtstechnische Erwägungen zu beantworten und stellt daher eine reine Rechtsfrage dar. 222 Den durchgreifendsten Einwand gegen eine gesteigerte Justitiabilität der Bedürfnisklausel schließlich lieferten deren engagierteste Befürworter selbst: Die von diesen angebotenen Lösungsvorschläge wurden nämlich jeweils unter den Vorbehalt politischer Einschätzungsprärogativen gestellt: So beschränkte Scholz die verfassungsgerichtliche Überprüfungskompetenz auf eine bloße „Evidenzkontrolle" und wollte eine Verwerfung der vom Bundesgesetzgeber getroffenen Entscheidungen nur bei „offenkundiger Fehlsamkeit" gegenüber den Maßstäben des Art. 72 Abs. 2 GG zulassen. Damit wären 220

Vgl. oben § 8 IX. Stettner, Kompetenzlehre, S. 398. 222 So bereits im Jahre 1949 zutreffend Grewe in: Bundesrecht u. Bundesgesetzgebung, S. 38 f.; ebenso Gruson, a. a. O., S. 107 f.; Majer, Verfassungsgerichtsbarkeit und Bund-Länder Konflikte, S. 52. 221

128 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur die nach dem Modell von Scholz erzielbaren Ergebnisse wohl nicht wesentlich von denjenigen der Rechtsprechung abgewichen, denn die empfohlene bloße Evidenzkontrolle hätte die gerichtliche Kontrollkompetenz letztlich wiederum auf diejenigen Fälle reduziert, die das Bundesverfassungsgericht als Fragen des Ermessensmißbrauchs behandelte.223 Für die Widerlegung dieser zu befürchtenden Konsequenz lieferte Scholz leider keinerlei Anhaltspunkte, denn seine Thesen zur Effektivierung der Bedürfnisklausel blieben abstrakt. Praktische Beispiele wurden nicht genannt. Im Ergebnis boten deshalb die von Scholz unterbreiteten Vorschläge zwar einen - auch aus heutiger Sicht - dogmatisch durchaus reizvollen und diskutablen Ansatz, unter praktischen Aspekten jedoch letztlich nicht mehr als eine verfeinerte - und damit immerhin überzeugendere - Begründung für den vom Bundesverfassungsgericht eingeschlagenen Weg. Auch Achterberg kam nicht umhin, ein „Element des Schätzens und Wägens" zu konstatieren, welches durch die Einräumung eines Beurteilungsspielraums berücksichtigt werden müsse. 224 Damit bestätigte er die Thesen Grusons, der die Notwendigkeit eines Beurteilungsspielraums bei Tatsachenfeststellung 225

und Subsumtion der Bedürfnisvoraussetzungen eingehend begründete. Krüger schließlich nahm von seiner Forderung nach intensivierter verfassungsgerichtlicher Kontrolle gleich einen ganzen Katalog von Materien aus, weil in diesen Fällen das Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung „von vornherein einleuchtend" sei. Diese Einschränkung war ebenso zutreffend wie geeignet, die Forderung nach gesteigerter Justitiabilität überhaupt in Zweifel zu ziehen. Eine unterschiedlich hohe Kontrolldichte innerhalb des Katalogs des Art. 74 GG wäre darauf hinausgelaufen, daß sich konkurrierende Bundeskompetenzen „erster Klasse" und solche „zweiter Klasse" herausgebildet hätten, wodurch die Rechtssicherheit im Kompetenzsystem noch stärker als durch eine generelle und umfassende Bedürfniskontrolle gefährdet worden wäre. Da nahezu alle übrigen Vertreter einer intensivierten verfassungsgerichtlichen Bedürfniskontrolle gänzlich auf konkrete Vorschläge zu deren Realisierung verzichteten, läßt sich an dieser Stelle das Fazit ziehen, daß der vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Beurteilungsspielraum zugunsten des Bundesgesetzgebers nicht durchgreifend in Zweifel gezogen wurde, weshalb eine überzeugende Alternative zur Rechtsprechung nicht vorgelegt werden konnte. Weil jedoch andererseits, wie bereits dargelegt, eine tiefergehende Begründung der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG nur im Rahmen vereinzelter Monographien gegeben wurde, war bereits vorgezeichnet, daß rechtspolitische Bestrebungen zur Reform des Art. 72 223 224 225

Vgl. auch Majer, EuGRZ 1980, 98 [107, Fn. 118]. Vgl. oben § 9 II 2. Vgl. oben §91.

§ 11 Zusammenfassung des zweiten Teils

129

Abs. 2 GG mit dem Ziel, die Ergebnisse der einschlägigen Rechtsprechung zu revidieren, keinen nennenswerten und in sich geschlossenen wissenschaftlichen Widerstand zu überwinden haben würden.

§ 11 Zusammenfassung des zweiten Teils In den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Grundgesetzes sah die weitaus überwiegende Ansicht im Schrifttum die Frage nach dem Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG als eine vom Bundesgesetzgeber zu treffende politische Ermessensentscheidung an, die vom Bundesverfassungsgericht allenfalls unter den Gesichtspunkt des Ermessensmißbrauchs überprüft werden könne. Damit befand sich die herrschende Lehre in Übereinstimmung mit dem dokumentierten Willen des Parlamentarischen Rates. Gegenüber einer Mindermeinung, welche die Bedürfnisfrage unter Hinweis auf deren qualifizierte Umschreibung im Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG als uneingeschränkt justitiable Rechtsfrage ansah, konnte die damals herrschende Lehre nicht nur auf den trotz seiner Breite sehr unbestimmten Wortlaut, auf die Entstehungsgeschichte und die Systematik, sondern auch auf den Grundsatz der Gewaltenteilung, das Demokratieprinzip sowie den Gesichtspunkt der Praktikabilität verweisen. Das Bundesverfassungsgericht Schloß sich nach anfänglicher Unsicherheit ab dem Jahr 1953 der herrschenden Lehre an und entwickelte hieraus eine ständige Rechtsprechung. Obwohl die Terminologie des Gerichts uneinheitlich blieb, gestand es im Ergebnis bei der Auslegung der in Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG enthaltenen Tatbestandsmerkmale (Rechts- und Wirtschaftseinheit, Einheitlichkeit der Lebens Verhältnisse), die sich in der Praxis als die nahezu allein bedeutsamen Bedürfnisalternativen erwiesen, dem Bundesgesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum zu. Lediglich für den Fall einer grob mißbräuchlichen Bejahung der Bedürfnisfrage behielt sich das Bundesverfassungsgericht vor, die Entscheidung des Bundesgesetzgebers zu verwerfen; hierzu sah es sich jedoch in keinem einzigen konkreten Fall veranlaßt. Diese Rechtsprechung wurde von einem Großteil der Staatsrechtslehre übernommen, dabei jedoch kaum dogmatisch durchdrungen. 226 Erst seit den späten 60er Jahren wurden auch kritische Stimmen gegenüber dem Bundesverfassungsgericht laut. Den Anlaß zu dieser Kritik bildete eine 226

Lediglich Gruson hat die Berechtigung eines Beurteilungsspielraums dargelegt, vgl. oben § 9 I. 9 Neumeyer

130 Teil 2: Die Auslegung der Bedürfnisklausel in Rechtsprechung und Literatur allgemeine Tendenz zur Unitarisierung im Bundesstaat, die vor allem darin zum Ausdruck kam, daß der Bund seine konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten inzwischen weitgehend ausgeschöpft und diese zusätzlich noch durch mehrere Grundgesetzänderungen erweitert hatte. Zwangsläufige Folge war eine fortschreitende Verkleinerung des gesetzgeberischen Gestaltungsraums der Bundesländer. In dieser Situation erinnerte man sich der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG und erkannte hierin einen Ansatzpunkt für die Eindämmung der Bundesgesetzgebung und damit für eine Konsolidierung der Eigenstaatlichkeit der Länder. So wurde vielfach gefordert, daß das Bundesverfassungsgericht seine Kontrollkompetenz in bezug auf Art. 72 Abs. 2 GG emster nehmen und sich um eine genauere Interpretation der darin enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe bemühen müsse. Die wenigen konkreten Vorschläge allerdings, die hierzu unterbreitet wurden, blieben zum einen recht abstrakt und büßten zum anderen dadurch an Überzeugungskraft ein, daß sie die von der ehemals herrschenden Meinung angeführten, die Rechtsprechung stützenden Argumente nicht aufgriffen und somit auch nicht entkräfteten. Insbesondere die Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG, aus der die stichhaltigsten Gründe für die zurückhaltende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herzuleiten waren, wurde völlig vernachlässigt. Hinzu kam, daß die Kritik ihre eigene Basis untergrub, indem sie die Forderung nach intensivierter Bedürfniskontrolle jeweils mit einschränkenden Vorbehalten, wie etwa der Beschränkung auf „Evidenzkontrolle", der Einräumung einer „Entscheidungsprärogative" zugunsten des Bundesgesetzgebers oder der Berücksichtigung eines „Elements des Schätzens und Wägens" versah. Angesichts dieser Einschränkungen blieb fraglich, inwieweit sich die angebotenen Lösungsalternativen im Ergebnis nennenswert von der Lösung des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden würden. Somit blieb die Lehre den Nachweis schuldig, daß Art. 72 Abs. 2 GG tatsächlich als Ansatzpunkt für eine praktikable und wirksame Eindämmung der Bundesgesetzgebung tauglich war. Zusammenfassend kann deshalb die Feststellung getroffen werden, daß sich zwar das Meinungsbild im Schrifttum zur Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG ausgelöst durch ein billigenswertes staatspolitisches Anliegen - zunehmend gegen die Rechtsprechung wendete. Jedoch wurde diese Wendung, die zugleich eine Abkehr von der früher herrschenden Lehre bedeutete, verfassungsrechtlich nicht überzeugend genug begründet, als daß sie für das Bundesverfassungsgericht hinreichenden Anlaß hätte bieten können, seine Rechtsprechung zur Bedürfnisklausel zu revidieren.

Dritter Teil

Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel Das Reformprojekt § 12 Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages Trotz der anhaltenden und teilweise massiven Kritik war eine Änderung der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG, die in Teil 2 dieser Abhandlung eingehend dargestellt worden ist, nicht zu erwarten. Vor diesem Hintergrund formierten sich allmählich rechtspolitische Aktivitäten mit dem Ziel einer Neufassung der Bedürfnisklausel. Derartige Revisionsbestrebungen konnten sich erstmals mit Aussicht auf Erfolg im Rahmen der 1970 vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquête-Kommission Verfassungsreform artikulieren. Mit der Auflösung des 6. Bundestages im Jahre 1972 mußte diese Kommission zwar vorläufig ihre Arbeit einstellen, wurde jedoch 1973 vom 7. Bundestag erneut eingesetzt. I. Ausgangspunkt Die Enquête-Kommission hatte 21 Mitglieder, die sich zu je einem Drittel aus Abgeordneten des Bundestages, Vertretern der Länder sowie Sachverständigen, darunter auch mehreren Staatsrechtslehrern, zusammensetzten.1 Sie erhielt den Auftrag, Reformvorschläge zu erarbeiten, um die Verfassung unter Beibehaltung der bewährten Grundstruktur durch maßvolle Modifikationen an die seit dem Jahre 1949 veränderten Rahmenbedingungen und Erfordernisse anzupassen und dabei, soweit voraussehbar, auch zukünftige Entwicklungen zu berücksichtigen. 2 Zum Schwerpunkt der Kommissionsberatungen entwickelten sich die das Bund/Länder-Verhältnis berührenden Verfassungsfragen. 3 Die Arbeitsergebnisse wurden als „Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform" im Dezember 1976 vorgelegt. 4 1 2 3 4

9*

Vgl. Auflistung aller Mitglieder in BT-Drucks. 7/5924, S. 4. A. a. O., S.2. Vgl. Stern in: Überlegungen zur Verfassungsreform, S. 43 [45]. Veröffentlicht am 09.12.1976 als BT-Drucks. 7/5924.

132

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

In dem Bericht stellte die Kommission fest, daß aufgrund der allgemeinen Tendenz, immer mehr Lebensbereiche immer perfektionistischer durch Gesetz zu regeln, der Gesetzgebung eine Schlüsselposition innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung zugewachsen sei.5 In enger Anlehnung an die herrschende Auffassung im jüngeren Schrifttum räumte man einerseits ein, daß die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet anzustreben und hierfür auch das erforderliche bundesgesetzliche Instrumentarium bereitzustellen sei, betonte jedoch andererseits, daß eine bundesstaatliche Ordnung die Existenz von Ländern voraussetze, die nicht auf die Funktion von Verwaltungseinheiten beschränkt, sondern Träger politischer Entscheidungsgewalt seien. Besonderen Wert legte die Kommission in diesem Zusammenhang auf die Stärkung des politischen Wettbewerbs zwischen den Ländern, durch den die Erprobung unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen auf dem überschaubaren Gebiet eines Landes ermöglicht werde, was Fortschritten im gesamten Bundesgebiet den Weg bereiten könne.6 Aufgrund der praktischen Wirkungslosigkeit des Art. 72 Abs. 2 GG war es nach Auffassung der Enquête-Kommission dem Bund gelungen, durch die weitgehende Ausschöpfung sowie die Vermehrung 7 seiner konkurrierenden Zuständigkeiten die Gesetzgebung weitestgehend an sich zu ziehen. Das politische Gewicht der Länder habe sich dadurch nahezu auf das in Art. 79 Abs. 3 GG garantierte absolute Mindestmaß verringert. 8 Aus diesen Gründen wurden erhebliche Änderungen im Bereich der Art. 70 ff. GG empfohlen, um die Position der Länder bei der Gesetzgebung zu konsolidieren.

I I . Empfehlung zur Neufassung des Art. 72 GG Als „Kern der Neuregelung" 9 präsentierte man eine Neufassung des Art. 72 GG, die wie folgt lautete:

5

BT-Drucks. 7/5924, S. 123. A. a.O.,S. 123, 126 f. 7 Vgl. z. B. Art. 74 Nr. 4 a, 10 a, 11 a, 19 a, 24 sowie Art. 74 a GG. 8 BT-Drucks. 7/5924, S. 123, 126 f. - Aus Art. 79 Abs. 3 ist u. a. eine Garantie für einen Mindestbestand originärer Rechtsetzungsmöglichkeiten der Länder zu entnehmen, so die h. M., vgl. Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79, Rn. 33; Lücke in: Sachs, GG, Art. 79, Rn. 26; Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 46; Scheuner, DÖV 1966, 513 [517]; Stern, a. a. O., S. 51; anders noch Hesse (Der unitarische Bundesstaat, S. 33), der von Art. 79 Abs. 3 GG lediglich die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes geschützt sieht. 9 BT-Drucks. 7/5924, S. 131. 6

§ 12 Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages

133

„(1) Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht. (2) Der Bund ist in diesem Bereich zur Gesetzgebung befugt, wenn und soweit die für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderliche Rechtseinheit, die Wirtschaftseinheit oder die geordnete Entwicklung des Bundesgebietes nur durch eine bundesgesetzliche Regelung zu erreichen ist. (3) Bundesgesetze nach Absatz 2 sind auf diejenigen Regelungen zu beschränken, die erforderlich sind, um die dort genannten Ziele zu erreichen; das Weitere ist der Landesgesetzgebung zu überlassen. (4) Übt der Bund seine Befugnisse nach Absatz 3 durch den Erlaß von Richtlinien für die Landesgesetzgebung aus, so sind die Länder verpflichtet, diese innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist durch Landesgesetz zu verwirklichen. (5) Auf Antrag des Bundesrates oder eines Landes entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob ein Bundesgesetz den Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 entspricht. Art. 93 bleibt unberührt." 10 Während also die Grunddefinition der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Abs. 1 des Art. 72 GG unverändert als Abs. 1 beibehalten wurde, wollte man die Bedürfnisklausel des bisherigen Abs. 2 durch die neuen Formulierungen in Abs. 2, 3 und 5 des Kommissionsentwurfs drastisch verschärfen. Mit dem vorgeschlagenen Abs. 2, welcher im übrigen der seit 1994 in Kraft befindlichen Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG bereits sehr nahe kommt, sollten die bisherigen Bedürfniskriterien durch eine mit verfassungsgerichtlich voll überprüfbaren Rechtsbegriffen ausgefüllte Erforderlichkeitsklausel ersetzt werden. 11 Diese Erforderlichkeitsklausel basierte auf der Bedürfnisalternative Nr. 3 des bisherigen Art. 72 Abs. 2 GG, während die dort in Nr. 1 und 2 enthaltenen Kriterien mit Rücksicht auf ihre praktische Bedeutungslosigkeit aufgegeben wurden. Um das dem Bundesgesetzgeber bislang zugestandene Ermessen einzuschränken, wurde der Begriff des Bedürfnisses ersetzt durch das Erfordernis, daß das gesetzgeberische Ziel „nur durch eine bundesgesetzliche Regelung zu erreichen ist". Folgende Zielsetzungen wurden dabei anerkannt: - die „Wirtschaftseinheit"; - die „Rechtseinheit", jedoch nur, soweit sie „für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" erforderlich sei (der Begriff der Einheitlichkeit wurde durch den weniger unitarisierungsfÖrdernden Begriff der Gleichwertigkeit ersetzt); 10 11

A.a.O.,S. 123. Vgl. Begründung, a. a. O., S. 131; Stern, a. a. O., S. 55.

134

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

- die „geordnete Entwicklung des Bundesgebietes" als neu hinzugetretenes Kriterium. Außerdem wurde gemäß Art. 72 Abs. 3 des Entwurfs für den Fall, daß die Voraussetzungen für eine bundesgesetzliche Regelung bejaht werden, nunmehr zusätzlich die Regelungsintensität ausdrücklich unter den Erforderlichkeitsvorbehalt entsprechend den in Abs. 2 genannten Kriterien gestellt.12 Mit einer Realisierung dieser zweistufigen Erforderlichkeitsprüfung wäre im gesamten Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung praktisch die bloße Rahmen- oder Richtliniengesetzgebung zum Regelfall, die bundesgesetzliche Vollregelung dagegen zum Ausnahmefall geworden. Abs. 4 des Entwurfs zu Art. 72 sollte verhindern, daß in der Praxis die Regelung des Abs. 3 durch das Ausbleiben jeglicher wirksamen Normierung diskreditiert werden könnte, und verpflichtete deshalb die Landesgesetzgeber zu einer fristgemäßen Umsetzung bundesgesetzlicher Richtlinien. Schließlich sollte gemäß Art. 72 Abs. 5 des Entwurfs in Zweifelsfällen das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine bundesgesetzliche Regelung, und zwar auf beiden Stufen der Erforderlichkeitsprüfung (gemäß Abs. 2 und Abs. 3 des Entwurfs), in die Pflicht genommen werden. Damit sollte eine Änderung der bisherigen zurückhaltenden Rechtsprechung bewirkt werden. 13

I I I . Sonstige Änderungsempfehlungen Um die im Zentrum der Reformbestrebungen stehende Neufassung des Art. 72 GG gruppierten sich weitere Änderungsvorschläge der Enquête-Kommission zur Gesetzgebung. So sollten die bislang auf die Artikel 74, 74 a und 75 GG verteilten Kompetenztitel in einem neuen Art. 74 zusammengefaßt werden, womit eine gesondert ausgewiesene Rahmengesetzgebung entfallen wäre. Diese Empfehlung war konsequent, denn gemäß Art. 72 Abs. 3 des Kommissionsentwurfs sollten - wie soeben dargelegt - bundesgesetzliche Vollregelungen ohnehin nur noch im Ausnahmefall zulässig sein. Dennoch wurde ein zusätzlicher Ausgleich für den Wegfall des Art. 75 GG vorgesehen, indem gemäß Art. 74 Abs. 2 des Entwurfs auf den meisten der bislang zur Rahmengesetzgebung zählenden Gebiete eine Zustimmungspflicht des Bundesrates eingeführt werden sollte. 14

12 13 14

Vgl. Begründung, BT-Drucks. 7/5924, S. 131. Vgl. Begründung, a. a. O., S. 132 f. A. a. O., S. 125.

§ 12 Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. B u n d e s t a g e s 1 3 5 Ferner sollte durch Änderung des Art. 77 Abs. 4 GG ein Einspruch, den der Bundesrat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Stimmen gegen ein Bundesgesetz erhebt, nur noch mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags anstelle der bislang ausreichenden einfachen Zweidrittelmehrheit zurückgewiesen werden können. 15

I V . Kritik und Selbstkritik Obwohl die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG im Bericht der EnquêteKommission keine Berücksichtigung fand, wurden die der Bedürfnisklausel zugrundeliegenden Erwägungen des Parlamentarischen Rates - jedenfalls ihrem Inhalt nach - zum Gegenstand der Debatte. Die in Art. 72 Abs. 5 des Kommissions-Entwurfs festgeschriebene Inpflichtnahme des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung der Erforderlichkeitsvoraussetzungen war nämlich innerhalb der Enquête-Kommission sehr umstritten. Die folgende Passage aus dem Vorwort zum Schlußbericht der Kommission illustriert die Problematik: „ ... gegenseitige Achtung und Selbstbeschränkung der Verfassungsorgane ist fur die Wirkungskraft und für die Bestandskraft einer Verfassung von großer Bedeutung. Die Verfassungsorgane würden letztlich ihren eigenen Rang beeinträchtigen, wenn sie sich nicht im Rahmen ihrer originären Aufgaben hielten. [...] Das gilt für das Bundesverfassungsgericht, wenn es zuläßt, daß die Grenze zwischen ihm und dem Bundesgesetzgeber undeutlich wird; es begibt sich in den politischen Tagesstreit zum Nachteil seiner Autorität." 16 Dementsprechend vertrat eine starke Minderheit innerhalb der Kommission in einem Sondervotum 17 die Ansicht, daß es sich bei der Frage, ob der Bundesgesetzgeber bei Inanspruchnahme einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz die föderativen und die unitarischen Interessen eingehend gewürdigt und zweckmäßig ausgeglichen habe, unabhängig von der Formulierung der Erforderlichkeitsklausel um eine ausschließlich auf politischer Ebene zu treffende Entscheidung handele. Hierzu heißt es in dem Sondervotum: „Der Bundesgesetzgeber trifft seine Entscheidungen im Rahmen des Artikels 72 GG nach pflichtgemäßem Ermessen. Seine Ermessensentscheidung ist das Resultat aus vielschichtigen Abwägungen, die von politischen Wert-, Ziel- und Zweckvorstellungen und der Bewertung zukünftiger Entwicklungen geprägt werden. Der 15

A. a. O., S. 125; Begründung S. 134. Kritik an der Regelung des Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG findet sich schon im Jahre 1950 bei Nawiasky, Grundgedanken, S. 59. Dennoch überstand sie nicht nur die Enquête-Kommission, sondern auch die Verfassungsreform 1994 ohne Änderung. 16 BT-Drucks. 7/5924, S. 2 f. 17 Sondervotum Barbarino, Held, Jaeger, Leidinger, Lemke und Schreckenberger, a. a. O., S. 135 ff.

136

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Bundesgesetzgeber hat danach bei seinen Entscheidungen einen breiten Ermessensspielraum. An dieser Situation werden die von der Kommission beschlossenen neuen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer Kompetenz durch den Bund nichts ändern."™ Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht gab das Sondervotum hiemach zu bedenken: „Würde dies (die Prüfung der Ausgewogenheit der vom Bundesgesetzgeber angestellten Überlegungen zur Erforderlichkeitsfrage, der Verf.) einer neutralen Stelle außerhalb der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe übertragen, so müßte diese insoweit an die Stelle des Bundesgesetzgebers treten, eine Lösung, die die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und damit die Eigenständigkeit der gesetzgebenden Gewalt in diesem Punkte aufheben würde. Sollte das Bundesverfassungsgericht diese zentrale Stelle sein, so widerspräche das seiner Aufgabe, Recht zu sprechen; außerdem wäre es damit sachlich überfordert." 19 Aus diesem - mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konformen - Befund glaubte die Kommissionsminderheit die Konsequenz ziehen zu müssen, anstelle des für politische Zweckmäßigkeitsfragen nicht zuständigen Verfassungsgerichts den Bundesrat als Schiedsinstanz bei der Erforderlichkeitsfrage gemäß Art. 72 Abs. 2 GG einzusetzen. Hierzu sollten dem Bundesrat erweiterte Zustimmungs- bzw. Einspruchsrechte im Gesetzgebungsverfahren zugebilligt werden, um im Falle einer ungerechtfertigten Inanspruchnahme der konkurrierenden Kompetenz durch den Bund zu einem Interessenausgleich auf politischer Ebene zu gelangen.20 Das Bundesverfassungsgericht sollte dagegen - wie bisher - nur über die äußersten rechtlichen Grenzen des Ermessensspielraums des Bundesgesetzgebers wachen.21 Auch von seiten einer damals parallel zur Enquête-Kommission tagenden Länderkommission Verfassungsreform wurde es mehrheitlich abgelehnt, die Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu erweitem; stattdessen forderte man auch hier einen verstärkten Einfluß des Bundesrats. 22 Die Mehrheit innerhalb der Enquête-Kommission hatte dagegen die Bundesratslösung verworfen. Zur Begründung wurde im wesentlichen angeführt, daß hierdurch der Bundesrat gleichsam zum Richter in eigener Sache bestimmt und damit ein nachhaltiger Gewichtsverlust des Bundestages zugunsten des Bundesrates bewirkt würde. Eine derartige Machtverschiebung laufe aber dem

18 19 20 21 22

A.a.O.,S. 136. A. a. O., S. 136. A.a.O.,S. 137. A.a.O.,S. 136. A. a. O., S. 7 f.

§ 12 Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. B u n d e s t a g e s 1 3 7 parlamentarischen System des Grundgesetzes zuwider, da der Bundesrat nicht aus allgemeinen und unmittelbaren Volkswahlen hervorgehe. 23 Diesen Bedenken trat Klaus Stern, der als Sachverständiger der Kommission angehörte, mit einem eigenen Sondervotum 24 entgegen. Nach seiner Auffassung sollte dem Bundesrat im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung eine auf Art. 72 GG gestützte „kompetenzwahrende Einspruchsbefugnis" gewährt werden. Diese sollte sich vom allgemeinen Einspruchsrecht dadurch unterscheiden, daß der Bundestag vor der Zurückweisung eines solchen Einspruchs zunächst das Bundesverfassungsgericht anrufen müsse, welches dann entscheiden sollte, ob sich der Bund an die in Art. 72 GG vorgegebenen Grenzen gehalten habe. Demgegenüber befürchtete aber die Kommissionsmehrheit, daß durch eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts schon während eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens erhebliche Verzögerungen desselben zu erwarten seien. Mit der konsequenten Bundesverfassungsgerichtslösung gemäß Art. 72 Abs. 5 des Kommissionsentwurfs sei dagegen, so die Mehrheitsbegründung, eine verfassungsgerichtliche Kontrolle erst nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens möglich. 25 Allerdings wurde auch die Lösung über den mehrheitlich empfohlenen Art. 72 Abs. 5 von Seiten ihrer Verfechter keineswegs als optimal, sondern lediglich als kleinstes unter mehreren Übeln angesehen, um der neuen Erforderlichkeitsklausel gemäß Art. 72 Abs. 2 des Entwurfs zur Wirkung zu verhelfen. 26 So war man sich durchaus der Tatsache bewußt, daß mit der vorgeschlagenen Formulierung dem Bundesverfassungsgericht Entscheidungen von politischem Charakter übertragen würden. 27 Außerdem räumte die Kommissionsmehrheit ein, daß die Neufassung des Art. 72 GG eine Verstärkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zwar nahelege, sie jedoch keineswegs garantiere. In der Begründung wurde hierzu ausgeführt: „Der Sinn des Absatzes 5 liegt vor allem in dem Appell an das Bundesverfassungsgericht ('entscheidet'), seine Wächterfunktion über die Einhaltung der Schranken der Absätze 2 und 3 wahrzunehmen; eine Garantie dafür, daß das Gericht dies auch tut, kann die Neufassung nicht geben. Die formelle Zuständigkeit ergibt sich schon heute aus Artikel 93 GG, insbesondere aus Absatz 1 Nr. 1 und 2." 28

23

A.a.O.,S. 129, 132. A.a.O.,S. 138 f. 25 A.a.O.,S. 132. 26 Zu dieser Form der „Negativauslese" kritisch Fiedler, Majer, EuGRZ 1980, 98 [100 f.]. 27 BT-Drucks. 7/5924, S. 132. 28 A.a.O. 24

DÖV 1977, 580 [584];

138

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Mit dieser zurückhaltenden Prognose näherte man sich der die Bundesratslösung vertretenden Minderheit, die fest davon ausging, daß eine Reform des Art. 72 Abs. 2 GG wirkungslos bleiben werde: „Die Auffassung der Kommission, Artikel 72 Abs. 5 (neu) werde das Bundesverfassungsgericht veranlassen, aus seiner nach unserer Ansicht aus der Natur der Sache gegebenen Reserve herauszutreten, erscheint uns nicht begründet."29 Auch der spätere Verfassungsrichter Hans Hugo Klein, ebenfalls Mitglied der Enquête-Kommission, hielt die empfohlene Neufassung des Art. 72 GG aus den im genannten Minderheitsvotum angeführten Gründen für nicht erfolgversprechend. Er verfaßte jedoch ein eigenes Sondervotum 30, worin er sowohl den Mehrheitsvorschlag als auch die Bundesratslösung ablehnte, weil er letztere als ungebührliche Behinderung der Gesetzgebungstätigkeit des Bundes betrachtete. Klein sah daher im Ergebnis keinen Anlaß zur Änderung der bestehenden Verfassungslage. In der Tat war die von der Enquête-Kommission Verfassungsreform vorgeschlagene Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG kaum dazu geeignet, den Ermessensbereich bzw. Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers gegenüber dem früheren Rechtszustand nennenswert einzuengen. 1 Dies lag nicht zuletzt an der Unschärfe des neu eingeführten Kriteriums der „geordneten Entwicklung des Bundesgebietes", zu welchem bereits in der Begründung eingeräumt wird, daß dieses „der notwendigen Dynamik Raum" lasse.32 Auch im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des empfohlenen Art. 72 Abs. 2 ging die Kommission von einem „notwendigerweise geringen Bestimmtheitsgrad dieser Begriffe" aus.33 Vor diesem Hintergrund war die Prognose, daß Art. 72 Abs. 5 des Kommissionsentwurfs leerlaufen würde, nicht von der Hand zu weisen. Kritische Stellungnahmen im Schrifttum griffen überdies grundsätzliche Bedenken hinsichtlich einer verstärkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf, wie sie bereits im eingangs genannten Minderheitsvotum zum Kommissionsbericht 34 geäußert worden waren und sich vor allem auf den Aspekt der Gewaltenteilung stützten: Man sah die Grenzziehung zwischen rechtsprechender und gesetzgebender Gewalt und damit zugleich die Autorität des Bundesverfassungsgerichts in Gefahr, wenn dieses gezwungen werde, in wirtschafts- und

29

Sondervotum Barbarino pp., a. a. O., S. 135 [136 f.]. Sondervotum Klein, a. a. O., S. 139 f. 31 So auch das Sondervotum Barbarino pp., a. a. O., S. 135 [136]; Majer , EuGRZ 1980, 158 [164]; dies., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 59; skeptisch femer Fiedler, a. a. O., S. 582; Maunz in Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 25. 32 BT-Drucks. 7/5924, S. 131. 33 A.a.O.,S. 132. 34 Sondervotum Barbarino, pp., a. a. O., S. 135 ff. 30

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

139

sozialpolitische Leitentscheidungen des Gesetzgebers hineinzuregieren und sich damit in die politische Auseinandersetzung zu begeben.35 Außerdem wurden Zweifel angemeldet, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt die erforderliche Analyse- und Prognosekapazität besitze, um die tief in die Sachstruktur einer Materie hineinreichende Frage nach dem Bedürfnis für ein Bundesgesetz und darüberhinaus nach der erforderlichen Regelungstiefe dieses Gesetzes zu beantworten. 36 In diesem Zusammenhang wurde auch auf die Gefahr eines Mißbrauchs des auf Art. 72 GG gestützten Normenkontrollrechts zum Zwecke einer Blockade der Bundesgesetzgebung hingewiesen.37

V. Wirkung der Enquête-Kommission Die von der Enquête-Kommission Verfassungsreform im Dezember 1976 unterbreiteten Empfehlungen vermochten den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zur Durchführung einer entsprechenden Grundgesetzreform zu bewegen. Lediglich wenige Einzelvorschläge der Kommission, nicht aber die Neuordnung der Art. 70 ff. GG, wurden realisiert. 38 Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG zeigte sich unbeeindruckt. 39 Ungeachtet dieser eher bescheidenen Erfolgsbilanz hatte die Enquête-Kommission mit den von ihr ausgearbeiteten Entwürfen zur Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen ein wichtiges Präjudiz für spätere Reformprojekte geschaffen.

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission des 12. Bundestages und Grundgesetzreform 1994 Neuen Auftrieb erhielt die Reformdebatte mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Art. 5 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 sprach die folgende Empfehlung aus:

35

Vgl. Majer, a. a. O., S. 159 f. u. 164; dies., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 42 ff.; v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 30; femer die Äußerungen Zeidlers bei Busch, DVB1. 1978, 322 [325]. 36 Majer, EuGRZ 1980, 158 [160 u. 166]; Wahl, AöR, Bd. 103 (1978), 477 [509]. 37 Majer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 66. 38 So ζ. B. die Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages bis zum Zusammentritt eines neuen Bundestages (Art. 39 Abs. 1 GG) und die verfassungsmäßige Verankerung des Petitionsausschusses (Art. 45 c GG), vgl. BT-Drucks. 7/5924, S. 5 f. 39 Vgl. BVerfGE 65, 1 [63]; 65, 283 [289]; 67, 299 [327]; 78, 249 [270].

140

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

„Die Regierungen der beiden Vertragsparteien empfehlen den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere - in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990,

[...]." Durch die ausdrückliche Inbezugnahme des sogenannten „EckpunkteBeschlusses" der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990 40 war den verfassungspolitischen Vorstellungen der Länder hohes Gewicht beigemessen worden. Mit diesem Beschluß hatten die Ministerpräsidenten „als erste wesentliche Schritte zur Stärkung der bundesstaatlichen Ordnung" eine Reihe von Grundgesetzänderungen vorgeschlagen. 41 Darunter befand sich auch die Forderung nach Neufassung des Art. 72 GG, für deren Formulierung man sich eng an den im vorausgegangenen Abschnitt behandelten Entwurf der Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages anlehnte.

I. Die Gemeinsame Verfassungskommission Die Empfehlung des Einigungsvertrages wurde als allgemeiner Auftrag zu einer kritischen Überprüfung des Grundgesetzes, auch und gerade im Hinblick auf schon lange vor der Wiedervereinigung diskutierte verfassungspolitische Anliegen, verstanden. Zum Zwecke der Durchführung dieses Auftrags trat am 16. Januar 1992 die „Gemeinsame Verfassungskommission" von Bundestag und Bundesrat, paritätisch besetzt mit insgesamt 64 Mitgliedern beider Organe, zusammen. Aufgrund des Besetzungsmodus waren in der Gemeinsamen Verfassungskommission zwar alle Bundestagsfraktionen sowie sämtliche Landesregierungen vertreten, jedoch fehlte es im Gegensatz zur Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages an der stimmberechtigten Mitwirkung unabhängiger Sachverständiger aus dem Bereich der Staatsrechtslehre. 42 Die der Kommission angehörenden Verfassungsrechtler Rupert Scholz (CDU) und Hans-Jochen Vogel (SPD) traten nicht als Sachverständige, sondern als Abgeordnete ihrer Fraktionen auf - mit allen daraus resultierenden faktischen Bindungen. Scholz bekleidete zudem, gleichberechtigt neben Henning Voscherau (SPD), das Amt des Vorsitzenden der Kommission. 43 So ergab sich, daß 40 41 42 43

Abgedr. in: ZParl, Bd. 21 (1990), 461 ff. A. a. O., S. 462 f. Vgl. Mitgliederübersicht in BT-Drucks. 12/6000, S. 120 ff. A.a.O.,S. 5.

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

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Vertreter der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung nur im Rahmen von Expertenanhörungen zu Wort kamen 44 , von denen jedoch keine dem Thema der bundesstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen gewidmet wurde. 45 Zu diesen strukturellen Defiziten trat der Umstand hinzu, daß entsprechend dem Einsetzungsbeschluß der Gemeinsamen Verfassungskommission 6 fur die Verabschiedung der Reformempfehlungen jeweils das Quorum einer Zweidrittelmehrheit erforderlich war. Damit sollte einerseits schon bei der Unterbreitung der Vorschläge die für deren Realisierung zu überwindende Hürde des Art. 79 Abs. 2 GG berücksichtigt, andererseits ein verstärkter politischer Druck auf die Gesetzgebungsorgane erzielt werden. 47 Notwendige und durchaus erwünschte Folge des Zweidrittelquorums war aber auch der Zwang zum Kompromiß unter den beiden großen Fraktionen CDU/CSU und SPD, was die Ausarbeitung einer auf gegenseitigen Zugeständnissen basierenden „Paketlösung" begünstigte. Negativ betrachtet lag hierin natürlich ebenso die Gefahr des schlichten „Kuhhandels" durch Verknüpfung nicht sachverwandter Reformvorhaben, die jeweils für sich von einer überzeugten Zweidrittelmehrheit nicht getragen worden wären. 48 Nach alledem vermag es nicht weiter zu überraschen, daß im Unterschied zur früheren Enquête-Kommission Verfassungsreform aus dem Kreis der Gemeinsamen Verfassungskommission des 12. Bundestages trotz ihrer dreifach höheren Mitgliederzahl kein einziges Sondervotum zu den Kommissionsempfehlungen verfaßt wurde. Dementsprechend wurde auch die Problematik der konkurrierenden Gesetzgebung nicht mit einer den Arbeitsergebnissen der Enquête-Kommission vergleichbaren Differenziertheit beleuchtet. In die Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission flössen die Empfehlungen einer im März 1991 vom Bundesrat eingesetzten „Kommission Verfassungsreform" ein, deren Arbeitsschwerpunkt „die verfassungsrechtlichen Fragen einer Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa" bildeten.49

44

Vgl. a. a. O., S. 11. Vgl. Übersicht Anhörungen, a. a. O., S. 167. Stattdessen wurde hierzu allein eine Delegation der Präsidenten der Landesparlamente gehört, vgl. GVK, Sten. Bericht 5. Sitzung; femer Rohn/Sannwald, ZRP 1994, 65 [66], mit der zutreffenden Feststellung, „daß primär ein politisches und kein wissenschaftliches Interesse die Arbeit prägte." 46 BT-Drucks. 12/6000, S. 119. 47 A.a.O.,S.9. 48 Vgl. hierzu die Kritik von Kriele, FAZ v. 21.12.1993, S. 7; „Zusammensetzung und Arbeitsstil" der GVK bemängelt auch Stern, FAZ v. 26.01.1995, S. 8. 49 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 6, sowie Bericht der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates, abgeschlossen am 14.05.1992, BR-Drucks. 360/92, Rn. 1. 45

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Mit dem am 5. November 1993 vorgelegten abschließenden Bericht 50 unterbreitete die Gemeinsame Verfassungskommission ihre Vorschläge zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes.

I I . Reformempfehlungen zur Gesetzgebung Der Ausgangspunkt der Kommissionsarbeit im Bereich der bundesstaatlichen Gesetzgebung unterschied sich nicht wesentlich von demjenigen der Enquête-Kommission Verfassungsreform der 70er Jahre. Nach wie vor sah man den Föderalismus, vor allem im Hinblick auf seine vertikal-gewaltenteilende Funktion, aufgrund einer noch immer andauernden Gewichtsverschiebung zugunsten des Bundes in Gefahr. Als Hauptursachen dieser Entwicklung wurden die extensive Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit sowie der Möglichkeit zur regelungsintensiven Rahmengesetzgebung durch den Bund angesehen. Den damit verbundenen Bedeutungszuwachs des Bundesrats betrachtete man als nur unvollkommenen Ausgleich für den Verlust originärer Gesetzgebungskompetenzen der Länderparlamente. 51 1. Konkurrierende

Gesetzgebung

Der wichtigste Reformvorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission auf dem Gebiet der Gesetzgebung bestand in einer Neufassung des Art. 72 GG, verbunden mit der ausdrücklichen Zuweisung der Überprüfungskompetenz an das Bundesverfassungsgericht durch Einfügung einer besonderen Verfahrensart in den Katalog des Art. 93 Abs. 1 GG (hierzu nachstehend a bis d). 5 2 Hinsichtlich der einzelnen Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung wurden beim Katalog des Art. 74 GG nur geringfügige (hierzu nachstehend e) 53 , bei Art. 74 a GG überhaupt keine Änderungen empfohlen. a) Modifikation des Art. 72 Abs. 1 GG Das in Art. 72 Abs. 1 GG definierte Prinzip der konkurrierenden Gesetzgebung sollte im Grundsatz beibehalten, jedoch wie folgt modifiziert werden:

50 51 52 53

Bericht der GVK v. 05.11.1993, veröffentlicht als BT-Drucks. 12/6000. Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 32. A.a.O.,S. 16 f., 131, 135. Vgl. a. a. O., S. 31, 132; Begründung S. 34 f.

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

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„(1) Im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat" 54 Hierdurch sollten zwei seit langem bestehende Streitfragen geklärt werden 55 : Zum einen sollte klargestellt werden, daß ein konkurrierendes Bundesgesetz eine (inhaltliche) Sperrwirkung zu Lasten der Landesgesetzgebung nur entfaltet, soweit durch das Gesetz selbst, das heißt durch seinen Inhalt, eine abschließende Regelung der betroffenen Materie zum Ausdruck kommt. 56 Die Wendung „durch Gesetz" erfaßt dabei im Einklang mit der bisherigen Rechtslage nicht nur Bundesgesetze im formellen Sinne, sondern auch Rechtsverordnungen. 57 Zum anderen wollte man eindeutig festlegen, daß die (zeitliche) Sperrwirkung eines konkurrierenden Bundesgesetzes erst nach Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens eintritt. In dieser Hinsicht ist der Erfolg der Neufassung des Art. 72 Abs. 1 GG jedoch zweifelhaft, denn schon jetzt ist neuer Streit darüber entbrannt, welcher Zeitpunkt mit der Formulierung „Gebrauch gemacht hat" nun genau gemeint ist: Teilweise wird darunter der Zeitpunkt des Parlamentarischen Gesetzesbeschlusses verstanden 58, während andere eine Sperrwirkung erst mit der Verkündung des Bundesgesetzes annehmen.59 b) Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG Weil die bisherige Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG von der Gemeinsamen Verfassungskommission - insbesondere aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht konzedierten mangelnden Justitiabilität - als „eines der Haupteinfallstore für die Auszehrung der Länderkompetenzen" bewertet wurde 60 , hielt man eine verbesserte Regelung für geboten. Ebenso wie 20 Jahre früher in der Enquête-Kommission Verfassungsreform 61 wurde zunächst wiederum eine „politische Lösung" diskutiert. Die zu54

Hervorh. d. Änderungen v. Verf. (Altfassung: „ . . . von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht."); vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 30 f. 55 Vgl. hierzu Jarass, NVwZ 1996, 1041 [1043 ff.]; v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 6 ff. m. w. N. 56 Vgl. Begründung, BT-Drucks. 12/6000, S. 33. 57 Zutreffend RybakJHofmann, NVwZ 1995, 230 [231] m. w. N. 58 So Dellmann in: Seifert/Hömig, GG, Art. 72, Rn. 2; Sannwald, NJW 1994, 3313 [3315 f.]; ders., ZG 1994, 134 [138]. 59 Degenhart in: Sachs, GG, Art. 72, Rn. 27; Jarass, a. a. O., S. 1043 f.; Rybak/Hofmann, a. a. O., S. 230. 60 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 33. 61 Oben §12 IV.

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

vor vom Bundesrat eingesetzte Kommission Verfassungsreform hatte folgende Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG vorgeschlagen: „(2) Der Bund ist in diesem Bereiche zur Gesetzgebung befugt, wenn und soweit nach einer im Gesetz gesondert zu treffenden Feststellung die für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderliche Rechtseinheit, die Wirtschaftseinheit oder die soziale Einheit nur durch eine bundesgesetzliche Regelung zu erreichen ist. Bundesgesetze nach Satz 1 sind auf diejenigen Regelungen zu beschränken, die erforderlich sind, um die dort genannten Ziele zu erreichen. Die Feststellung nach Satz 1 bedarf der Zustimmung des Bundesrates."62 Die im letzten Satz dieser Formulierung festgelegte Zustimmungskompetenz des Bundesrates hinsichtlich der Erforderlichkeit eines Bundesgesetzes hatte die Bundesratskommission mit dem Argument begründet, daß sich auf diese Weise alle Versuche erübrigen würden, das Bundesverfassungsgericht für jenes „im Kem letztlich eine politische Frage" darstellende Problem in die Pflicht zu nehmen.63 Jedoch war eine Bundesratslösung in der Gemeinsamen Verfassungskommission letztlich ebensowenig mehrheitsfähig wie seinerzeit in der EnquêteKommission 64 , weil dieses Modell in der praktischen Konsequenz die gesamte konkurrierende Gesetzgebung sowie die Rahmengesetzgebung zur zustimmungsbedürftigen Gesetzgebung, gemacht hätte. Dies hätte praktisch eine Gleichordnung von Bundestag und Bundesrat, mithin eine drastische Verschiebung des grundgesetzlichen Legislativsystems bedeutet65, deren unerwünschte Auswirkungen der Abgeordnete Vogel (SPD) vor der Kommission wie folgt verdeutlichte: „Ich bitte, einen Moment zu überlegen: Im Bundesrat ist, wenn ich es richtig im Kopf habe, die Mehrheit 35 Stimmen. Wenn die gesamte konkurrierende Gesetzgebung zustimmungsbedürftig wird, dann genügen 35 Stimmen, um jede Gesetzgebung auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung - ich drücke es jetzt höflich aus nicht möglich zu machen. Man könnte auch von 'blockieren' reden."66 Somit verständigte man sich auch diesmal auf eine »juristische Lösung" und beschloß, die in drei einzeln bezifferte Alternativen untergliederte Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG zur Verbesserung ihrer Justitiabilität durch die folgende, erheblich verkürzte Formulierung zu ersetzen:

62

BR-Drucks. 360/92, Rn. 56; Begründung Rn. 57 ff. BR-Drucks. 360/92, Rn. 59. 64 Vgl. oben § 12 IV. 65 Vgl. Begründung, BT-Drucks. 12/6000, S. 33; ferner Stellungnahme des Abgeordneten v. Stetten (CDU), GVK, Sten. Bericht 4. Sitzung, S. 13 („schlichtweg eine Entmachtung des Bundes"). 66 GVK, Sten Bericht 4. Sitzung, S. 25. 63

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

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„(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht."67 Um die verfassungsrechtliche Verbindlichkeit der Vorschrift zu intensivieren, wurde der bisherige Obersatz „soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, w e i l . . a u f g e g e b e n zugunsten der Anknüpfung „wenn und soweit... eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht". Hiemach erscheint es sachgerecht, den aus jenem Obersatz abgeleiteten Begriff „Bedürfnisklausel" als obsolet zu betrachten und stattdessen die von der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgeschlagene Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG als Erforderlichkeitsklausel zu bezeichnen. Die in Nr. 1 und 2 des bisherigen Art. 72 Abs. 2 GG enthaltenen Bedürfnisalternativen (fehlende Wirksamkeit und mögliche Bundesschädlichkeit einer landesgesetzlichen Regelung) 68 wurden von der Verfassungskommission - wie schon von der früheren Enquête-Kommission69 - ersatzlos gestrichen. Stattdessen wurde die bislang in Nr. 3 enthaltene Alternative als alleiniges Kompetenzkriterium übernommen, freilich unter begrifflichen Präzisierungen und Verschärfungen: Anstelle der alten Formulierung „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus" wurde die von der EnquêteKommission überlieferte Wendung „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" gewählt. Damit wurde erstens der Begriff der Einheitlichkeit zur bloßen Gleichwertigkeit, welche auch durch unterschiedliche landesrechtliche Lösungen erzielt werden kann, abgeschwächt.70 Zweitens sollte in räumlicher Hinsicht nicht mehr allein die Relevanz „über das Gebiet eines Landes hinaus", sondern erst der Blick auf das gesamte „Bundesgebiet" für die Begründung der Erforderlichkeit genügen. Drittens wurde aber auch ein Zugeständnis an die zu Nr. 3 der alten Bedürfnisklausel seit langem herrschende Meinung gemacht, indem der Bundesgesetzgeber nicht nur zur „Wahrung", sondern nunmehr ausdrücklich auch zur - zukunftsbezogenen - „Herstellung" gleichwertiger Lebensverhältnisse ermächtigt werden sollte. 71

67

BT-Drucks. 12/6000, S. 16, 131 ; Begründung S. 33 f. Wortlaut des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. oben § 5 XIII. 69 Vgl. oben § 12 II. 70 Zu diesem Begriff näher Rohn/Sannwald, ZRP 1994, 65 [68 u. Fn. 50]; SchmidtBleibtreu/Klein, GG, 8. Aufl., Art. 72, Rn. 7. 71 So bereits BVerfGE 13, 230 [233]. 68

10 Neumeyer

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Nicht aufgenommen wurde im übrigen das von der Enquête-Kommission Verfassungsreform in die Diskussion gebrachte, jedoch äußerst teigige Kriterium der „geordneten Entwicklung des Bundesgebietes".72 Ferner eliminierte die Gemeinsame Verfassungskommission den Begriff der „Wirtschaftseinheit", wohingegen die „Wahrung der Rechtseinheit" weiterhin als Positivkriterium für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers beibehalten wurde. Jedoch darf nach dem Wortlaut die Rechtseinheit nicht Selbstzweck sein 73 , sondern muß „ i m gesamtstaatlichen Interesse" liegen. Eine weitere Einschränkung hinsichtlich des Kriteriums der Rechtseinheit könnte sich daraus ergeben, daß die Neufassung hier - im Gegensatz zur Formulierung bei der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse - weiterhin nur von „Wahrung", nicht aber von „Herstellung" spricht. Hieraus könnte auf dem Wege eines Umkehrschlusses gefolgert werden, daß im Hinblick auf die Rechtseinheit die erwähnte, bislang herrschende Meinung nicht übernommen, ein Hinstreben auf erweiterte Rechtseinheit also nicht mehr anerkannt werden sollte, und zwar ungeachtet eines etwa vorliegenden gesamtstaatlichen Interesses. Träfe dies zu, so wäre zu erwarten, daß der textlich eher subtile Befund eine Erläuterung im Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission gefunden hätte. Weil das aber nicht der Fall ist, kann - jedenfalls in diesem Punkt - ein bewußter Bruch mit der Rechtsprechung nicht angenommen werden. Offenbar handelt es sich lediglich um eine redaktionelle Unsauberkeit. 74 c) Einfügung der Nr. 2 a in Art. 93 Abs. 1 GG Jeden Zweifel an der Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG wollte die Gemeinsame Verfassungskommission mit einer weiteren Grundgesetz-Änderung ausräumen: In Anlehnung an Art. 72 Abs. 5 des Entwurfs der EnquêteKommission Verfassungsreform 75 wurde für künftige Streitigkeiten über die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung eine spezielle Art des verfassungsgerichtlichen Verfahrens vorgesehen. Dies geschah jedoch nicht im Rahmen des Art. 72 GG, sondern durch Erweiterung des Katalogs der Zuständigkeiten des Gerichts gemäß Art. 93 Abs. 1 GG um eine neu einzufügende Nr. 2 a mit folgendem Wortlaut:

72

Vgl. oben § 12 II. Vgl. Begründung, BT-Drucks. 12/6000, S. 34. 74 I. Erg. ebenso Degenhart in: Sachs, GG, Art. 72, Rn. 12; dersStaatsrecht I, Rn. 110; Dellmann in: Seifert/Hömig, GG, Art. 72, Rn. 3; Rybak/Hofmann, NVwZ 1995, 230 [231 a. E.]; ähnlich auch Schmehl, DÖV 1996, 724 [727]. 75 Wortlaut oben § 12 II. 73

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

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„2 a. bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes;"7 Mit dieser neuen Verfahrensart wird im Unterschied zur herkömmlichen abstrakten Normenkontrolle die entsprechende Antragsbefugnis nicht nur den Landesregierungen, sondern darüberhinaus dem Bundesrat und erstmals auch den Landesparlamenten zugebilligt. Begründet hat die Verfassungskommission diesen Schritt mit der besonderen Betroffenheit der Landesparlamente durch die konkurrierende Gesetzgebungstätigkeit des Bundes.77 Dabei wurden systematische Bedenken, die unter dem Aspekt des unzulässigen Eingriffs in die landesinterne Zuständigkeitsordnung von einigen Kommissionsmitgliedern geäußert wurden 78 , zurückgestellt. d) Anfügung des Art. 72 Abs. 3 GG Um der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG auch im Hinblick auf bereits in Kraft befindliche Bundesgesetze Wirksamkeit zu verleihen, ergänzte die Kommission Art. 72 GG um den nachstehenden Abs. 3: „(3) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne von Absatz 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann."79 Mit Hilfe dieser Vorschrift sollte ermöglicht werden, Landeszuständigkeiten im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung wieder auszudehnen. Allerdings wurde die Rückübertragung allein vom Willen des Bundesgesetzgebers abhängig gemacht. Eine von Länderseite vorgeschlagene eigenständige, von der Mitwirkung des Bundes unabhängige Rückholbefugnis der Länder hatte die Kommission zuvor entsprechend einem Antrag der Bundesregierung abgelehnt, und zwar „aus Gründen der Rechtssicherheit und der Konfliktvermeidung". 80 e) Änderungen am Katalog des Art. 74 GG Bei drei Ziffern des Katalogs der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 74 GG wollte die Verfassungskommission die Kompetenzen des Bundes beschneiden:81 76

BT-Drucks. 12/6000, S. 17 u. 135; Begründung S. 36. Vgl. Begründung, a. a. O., S. 36; ferner Stellungnahme des Kommissionsvorsitzenden Voscherau (SPD), GVK, Sten. Bericht 4. Sitzung, S. 23 f. 78 Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Scholz (CDU) und Kleinert (FDP), GVK, Sten. Bericht 11. Sitzung, S. 21. 79 BT-Drucks. 12/6000, S. 31 u. 131. 80 Vgl. Begründung, a. a. O., S. 34. 81 A. a. Ο., S. 31, 132; Begründung S. 34 f. 77

io*

148

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

- iNr. 5 („Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland") wurde in den Katalog der Rahmengesetzgebung überfuhrt. - Nr. 8 („Staatsangehörigkeit in den Ländern") wurde mangels praktischer Bedeutung ersatzlos gestrichen. - In Nr. 18 wurde die Bundeskompetenz für das „Bodenrecht" durch den in Klammem gesetzten Zusatz „ohne das Recht der Erschließungsbeiträge" eingegrenzt. Andererseits wurden auch Erweiterungen der Bundeskompetenz empfohlen, indem Art. 74 GG durch zwei zusätzliche Katalogziffern ergänzt wurde: - Nr. 25 für die „Staatshaftung" und - Nr. 26 für die „künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen sowie Regelungen zur Transplantation von Organen und Geweben". Betreffend das Recht der Staatshaftung (Nr. 25) wollte zwar auch die Länderseite die Möglichkeit bundesgesetzlicher Regelung zwecks Beendigung einer langjährigen Diskussion endlich sichergestellt sehen, jedoch setzten die Länder zum Ausgleich die Empfehlung durch, daß Art. 74 GG um einen Abs. 2 mit folgendem Wortlaut ergänzt werde: „(2) Gesetze nach Absatz 1 Nr. 25 bedürfen der Zustimmung des Bundesrates." 2. Rahmengesetzgebung Die Empfehlung der Enquête-Kommission des 7. Bundestages, die Rahmengesetzgebung mit der konkurrierenden Gesetzgebung zu verschmelzen 82, wurde von der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht aufgegriffen. Stattdessen sah der Kommissionsentwurf eine Verschärfung der in Art. 75 GG normierten Voraussetzungen für die Rahmengesetzgebung vor. Ziel dieser Verschärfung war es, der bislang praktizierten weitgehenden Ausschöpfung der Rahmenkompetenzen durch den Bund zugunsten einer verringerten Regelungstiefe entgegenzutreten. Hierzu sollte zunächst der Obersatz des Art. 75 GG - jetzt aufgrund der Gliederung in Absätze als Abs. 1 - wie folgt neugefaßt werden: „(1) Der Bund hat das Recht, unter den Voraussetzungen des Artikels 72 Rahmenvorschriften fur die Gesetzgebung der Länder zu erlassen über: . . . " 82

Vgl. oben § 12 II u. III. Hervorh. d. Änderungen v. Verf.; vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 31, 132; Begründung S. 35; ebenso die Empfehlung der Bundesratskommission, BR-Drucks. 360/92, Rn. 60. 83

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

149

Außerdem sollte Art. 75 GG um folgenden Abs. 2 ergänzt werden: „(2) Rahmenvorschriften dürfen nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten."84 Da somit die Rahmenkompetenz für den Regelfall zur bloßen Richtlinienkompetenz gegenüber dem Landesgesetzgeber reduziert wurde, mußte dem Bund, der nun stärker als bisher auf die landesrechtliche Umsetzung seiner Rahmengesetze angewiesen sein würde, ein entsprechender Rechtsanspruch eingeräumt werden. Einen solchen Anspruch schuf der Entwurf der Verfassungskommission durch Anfügung eines Abs. 3 an Art. 75 GG, für dessen Formulierung Art. 72 Abs. 4 des Entwurfs der Enquête-Kommission Verfassungsreform als Vorlage diente: „(3) Erläßt der Bund Rahmenvorschriften, so sind die Länder verpflichtet, innerhalb einer durch das Gesetz bestimmten angemessenen Frist die erforderlichen Landesgesetze zu erlassen."86 Femer betonte die Verfassungskommission in der Begründung, die Grundregel des Art. 75 Abs. 1 GG binde die Rahmengesetzgebung „nach wie vor an die - jetzt verschärften - Voraussetzungen des Artikel 72 GG". 8 7 Im Katalog der Rahmengesetzgebung schließlich wurde - neben der Einfügung der aus der konkurrierenden Gesetzgebung gestrichenen Kompetenz für den „Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland" (jetzt Art. 75 Abs. 1 Nr. 6 GG) - eine Präzisierung der „Grundsätze des Hochschulwesens" gemäß Art. 75 Nr. 1 a GG vorgesehen. Letztere sollten nur noch unter die Bundeskompetenz fallen, soweit sie „die Zulassung zum Studium, die Studiengänge, die Prüfungen, die Hochschulgrade, das wissenschaftliche und künstlerische Personal betreffen". 88 Außerdem wurde empfohlen, die „allge89

meinen Rechtsverhältnisse des Films" aus Art. 75 Nr. 2 GG zu streichen. 3. Gesetzgebungsverfahren Emeut diskutiert wurde der bereits von der Enquête-Kommission Verfassungsreform unterbreitete Vorschlag in bezug auf das in Art. 77 Abs. 4 Satz 2

84 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, a. a. O.; noch strenger die Empfehlung der Bundesratskommission, BR-Drucks. 360/92, Rn. 63 („Rahmenvorschriften dürfen keine ins einzelne gehenden und erschöpfenden Regelungen, enthalten."). 85 Vgl. oben § 12 II. 86 BT-Drucks. 12/6000, S. 31, 132; Begründung S. 36; ebenso die Empfehlung der Bundesratskommission, BR-Drucks. 360/92, Rn. 66. 87 Begründung, BT-Drucks. 12/6000, S. 35. 88 A. a. O., S. 16, 132; Begründung S. 35. 89 A. a. O, S. 17, 132; Begründung S. 35 f.

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

GG festgeschriebene Recht des Bundestages, einen vom Bundesrat „mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner Stimmen" beschlossenen Einspruch „mit einer Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens der Mehrheit der 90

'*

Mitglieder" zurückzuweisen. Die Länderseite befürwortete in Ubereinstimmung mit der Empfehlung der Enquête-Kommission91 eine Angleichung des Zurückweisungsrechtes dahingehend, daß der Bundestag einen derart qualifizierten Einspruch des Bundesrates nur noch mit „einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder" solle zurückweisen können. 92 Die Bundesregierung konnte jedoch durchsetzen, daß die Gemeinsame Verfassungskommission diese Verschärfung ablehnte. Zentrales Argument war, daß die Verstärkung des Gewichts eines qualifizierten Einspruchs zu einer unangemessenen Annäherung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen führen würde. Damit wiederum sah man die Position des zur bloßen Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung berufenen Bundesrats in Richtung auf ein echtes Zwei-Kammer-System verschoben, was vom Grundgesetz eben nicht vorgesehen sei. 93 Ungeachtet der Ablehnung des Änderungsvorschlags zu Art. 77 Abs. 4 GG stärkte die Verfassungskommission aber auch im Gesetzgebungsverfahren die Rechte der Länder. So wurden mehrere Korrekturen des Art. 76 GG empfohlen, die eine Verlängerung der Beratungsfristen für Gesetzesvorlagen im Bundesrat sowie die Verpflichtung des Bundestages beinhalteten, über Vorlagen des Bundesrates „in angemessener Frist" zu entscheiden.94 Außerdem wurde Art. 80 GG um zwei zusätzliche Absätze ergänzt: Abs. 3 räumt dem Bundesrat ein Initiativrecht für den Erlaß von Rechtsverordnungen ein, die seiner Zustimmung bedürfen; Abs. 4 ermöglicht den Landesregierungen, von einer bundesgesetzlichen Verordnungsermächtigung gemäß Art. 80 Abs. 1 GG alternativ zur Verordnung auch durch den Erlaß eines Gesetzes Ge95

brauch zu machen.

90

Vgl. oben § 12 III; BT-Drucks. 12/6000, S. 40. BT-Drucks. 7/5924, S. 125. 92 Vgl. Empfehlung der Bundesratskommission, BR-Drucks. 360/92, Rn. 41. 93 BT-Drucks. 12/6000, S. 40. 94 Vgl. Änderungsempfehlungen zu Art. 76 Abs. 2 u. 3, a. a. O., S. 17, 132 f.; Begründung S. 36 ff. 95 Vgl. zu den (später vom verfassungsändernden Gesetzgeber sämtlich übernommenen) Änderungen im Bereich des Gesetzgebungsverfahrens Hofmann, NVwZ 1995, 134 ff. 91

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

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4. Bezüge zur Entstehungsgeschichte und zum Schlußbericht der Enquête-Kommission des 7. Bundestages Auf die Entstehungsgeschichte des Art. 72 GG wurde im Rahmen der Verhandlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht eingegangen.96 So rezipierte man die im Schrifttum bereits etablierte Verkennung der mit Art. 72 Abs. 2 GG verbundenen Intentionen des Parlamentarischen Rates97, indem etwa der Abgeordnete Jahn (CDU) unwidersprochen feststellen konnte: „Die Prüfung der Bedürfnisklausel ist sicherlich nicht so erfolgt, wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes dies ursprünglich gewollt haben."98 In ähnlicher Weise verteidigte der Kommissionsvorsitzende Scholz (CDU) die Neufassung der Bedürfnisklausel, indem er dem Bundesverfassungsgericht vorwarf, daß es „nicht nur die Justitiabilität des Art. 72 II GG praktisch ausgeschlossen hat, sondern darüberhinaus die gerade föderative Sperrwirkung, die der Grundgesetzgeber mit dieser Regelung verfolgte, im Ergebnis zunichte gemacht hat."99 Zumindest in anderer Form wurde jedoch ein gewisses Maß an historischer Kontinuität angedeutet, indem ausweislich des Berichts der Gemeinsamen Verfassungskommission die Arbeitsergebnisse der Enquête-Kommission Verfassungsreform in die Beratungen „einflossen". 100 In bezug auf Art. 72 GG gilt dies freilich allenfalls für das dortige Mehrheitsvotum, wobei selbst dieses offenbar um die seinerzeitig eingeräumten Zweifel und Bedenken bereinigt wurde. Lediglich zwei Äußerungen zeugen von Selbstkritik innerhalb der Gemeinsamen Verfassungskommission. Der Abgeordnete Kleinert (FDP) gab zu bedenken: „Es wäre an dieser Stelle eine sehr interessante Frage, ob wir unsere gesetzgeberische Verantwortung zu einem gewissen Teil auf jeweils acht Damen und Herren abladen können."101 Der damalige bayerische Staatsminister Dr. Stoiber (CSU) griff diese Bemerkung auf und fügte hinzu: „Ich muß allerdings darauf aufmerksam machen, daß all unsere Überlegungen letzten Endes von den acht Verfassungsrichtern, von denen Herr Kleinert gerade gesprochen hat, im Prinzip sehr schnell wieder zu Makulatur erklärt werden können, wenn eben 96

Vgl. BT-Drucks. 12/6000 sowie GVK, Sten. Berichte 4., 5., 7. u. 11. Sitzung. Vgl. oben § 9 IV. 98 GVK, Sten. Bericht 5. Sitzung, S. 11; femer ders., ebenda, S. 18. 99 Scholz, ZG 1994, 1 [11]; femer ders., GVK, Sten. Bericht 4. Sitzung, S. 25. 100 Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 6. 101 GVK, Sten. Bericht 11. Sitzung, S. 13. 97

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

unsere Überlegungen vom Bundesverfassungsgericht nicht geteilt werden und es trotz eines geänderten Art. 72 bei seiner Rechtsprechung bleibt. Ich hoffe das nicht, aber ich schließe es nicht ganz aus."102 Diese beiden Aussagen bewegten den Dr. Voscherau (SPD) zu folgender Erklärung:

Kommissionsvorsitzenden

„Da zwei Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission darauf hingewiesen haben, was immer wir hier täten, könne das Bundesverfassungsgericht per Federstrich wieder aufheben, liegt mir doch daran, festzustellen, daß die Gemeinsame Verfassungskommission Änderungen des Grundgesetzes deswegen zur Annnahme empfiehlt, weil sie die Absicht hat, die in den fünfziger Jahren begründete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch den Verfassunggeber zu ändern. Dies sollte für ein solches eventuelles Verfahren als unser gemeinsamer Wille im Protokoll festgehalten werden." 103 Auf die eingehend begründeten Bedenken, welche in den diversen Sondervoten zum Bericht der füheren Enquête-Kommission niedergelegt waren, wurde nicht emsthaft eingegangen. Ignoriert wurde auch das bereits im Anschluß an die damaligen Empfehlungen diskutierte Kapazitätsproblem des Bundesverfassungsgerichts. Letzteres in die Betrachtung mit einzubeziehen, hätte umso näher gelegen, als dieses Problem sich im Laufe der letzten 20 Jahre unablässig verschärft hat. Folglich wird im Rahmen dieser Untersuchung hierauf noch einzugehen sein. I I I . Die Grundgesetzreform 1994 Die von der Gemeinsamen Verfassungskommission unterbreiteten Reformvorschläge wurden, soweit sie bis dahin nicht bereits umgesetzt waren 104 , im Januar und März 1994 durch einen gemeinsamen Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP 1 0 5 sowie einen gleichlautenden Gesetzentwurf des Bundesrates 106 in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Die Bundesregierung erhob in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf 107 in bezug auf die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG und die Einfügung der Nr. 2 a in Art. 93 Abs. 1 GG schwerwiegende Bedenken. 108 So sah sie in der 102

A. a. O., S. 14. A.a.O.,S. 19. 104 Vgl. zu den durch den Vertrag von Maastricht veranlaßten GG-Änderungen das Gesetz zur Änderung des GG v. 21.12.1992, BGBl 1992, Teil I, S. 2086; Überblick hierzu bei Jahn, DVB1. 1994, 177 [178 f.]. 105 BT-Drucks. 12/6633. 106 BT-Drucks. 12/7109. 107 BT-Drucks. 12/7109, S. 13 ff. 108 A.a.O.,S. 14 ff. 103

§ 13 Gemeinsame Verfassungskommission und Grundgesetzreform 1994

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Reform der Bedürfnisklausel „erhebliche Gefahren für die Handlungsfähigkeit des Gesamtstaates und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland", weil dieser „Formelkompromiß" nach wie vor keine objektiv überprüfbaren Maßstäbe für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern liefere, vielmehr die Begriffe weiterhin durch ausschließlich politische Wertungen auszufüllen seien, hinsichtlich derer das Bundesverfassungsgericht nunmehr in eine „politische Schiedsrichterrolle" gedrängt werde. Letzteres werde zu erheblicher Rechtsunsicherheit gerade im Bereich der zivilrechtlichen und wirtschaftsrechtlichen Gesetzgebung führen. Diesen Bedenken der Bundesregierung Schloß sich auch der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP an und sprach deshalb mehrheitlich die Empehlung aus, sowohl die geplanten Änderungen des Art. 72 GG als auch die Einfügung der Nr. 2 a in Art. 93 Abs. 1 GG ersatzlos zu streichen. 109 Einziger Erfolg der Einwände war, daß im anschließenden Vermittlungsverfahren die Erforderlichkeitsklausel wieder um den von der Gemeinsamen Verfassungskommission suspendierten Begriff „Wirtschaftseinheit" ergänzt wurde. 110 Im übrigen wurde jedoch die von der Verfassungskommission vorgelegte Neufassung des Art. 72 GG ebenso wie die Ergänzung der Nr. 2 a in Art. 93 Abs. 1 GG 1 1 1 unverändert verabschiedet, womit man sich über die Stellungnahmen von Bundesregierung und Rechtsausschuß weitestgehend hinwegsetzte. Dies geschah auf Druck der Länder und der SPD, welche die Befürchtungen der Bundesregierung nicht teilten, vielmehr die Neufassung der Bedürfnisklausel als „wesentlichen Teil des in der Gemeinsamen Verfassungskommission gefundenen Gesamtkompromisses zur Rejustierung der bundesstaatlichen Ordnung" verteidigten. 112 Insbesondere könnten vom Bundesverfassungsgericht für das - von der Bundesregierung besonders heftig kritisierte - Merkmal des „gesamtstaatlichen Interesses" objektivierbare Kriterien entwickelt werden, die eine Rechtskontrolle ermöglichten, ohne das Gericht zum politischen Schiedsrichter zu machen. 113 Anhaltspunkte für derartige objektivierbare Kriterien wurden freilich auch jetzt noch nicht mitgeteilt. Nachdem aber der Bundesrat gegenüber einem „Aufschnüren" des Pakets der Verfassungsänderungen durch die Bundestagsmehrheit damit drohte, die gesamte Verfassungsreform ge109

Vgl. Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses v. 28.06.1994, BT-Drucks. 12/8165, S. 4 (Beschlußempfehlung Nr. 3), S. 13, 15, 31 f., 34; ähnliche Bedenken äußerte femer der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, vgl. ebenda, S. 24 f. 110 Vgl. Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses v. 02.09.1994, BTDrucks. 12/8423, S. 4. 111 Wortlaut oben II 1 c. 1,2 Vgl. BT-Drucks. 12/8165, S. 31 f. 113 A.a.O.

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

schlossen abzulehnen, schien eine weitere Diskussion über Art. 72 GG politisch nicht mehr vertretbar. 114 Mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 115 , das am 15. November 1994 in Kraft trat, erhielt Art. 72 GG folgenden Wortlaut: „(1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. (2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. (3) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne des Absatzes 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann." Femer wurden auch die oben dargestellten Änderungsempfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zu Art. 74, 75, 76 und 80 GG verwirklicht, allerdings mit Ausnahme der vorgeschlagenen Einschränkung der Bundeskompetenz für das Hochschulwesen (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 a GG), auf die wegen massiver Bedenken der Bundesregierung 116, des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft 117, des Rechtsausschusses118 sowie vieler Vertreter der 119 Hochschullehre verzichtet wurde. Über die Kommissionsempfehlung hinausgehend wurde Art. 75 Abs. 1 GG noch um einen Satz 2 ergänzt, der den neuen Art. 72 Abs. 3 GG für entsprechend anwendbar erklärte und damit die dort geregelte Rückübertragungsbefugnis des Bundes bei Wegfall der Erforderlichkeit auch auf das Gebiet der Rahmengesetzgebung erstreckte.

114

Vgl. Berichterstattung in der FAZ v. 27.08.1994, S. 1 u. 2; v. 31.08.1994, S. 1; v. 02.09.1994, S. 1. 115 BGBl 1994, Teil I, S. 3146 ff. 116 Vgl. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/7109, 13 ff. [16 f.]. 117 BT-Drucks. 12/8165, S. 25. 118 A. a. O., S. 32 f. 119 Vgl. ζ. B. Kriele, FAZ v. 21.12.1993, S. 7, der den entsprechenden Kommissionsvorschlag einprägsam als „Tollhausartikel" qualifizierte, sowie postum Stern, FAZ v. 26.01.1995, S. 8.

§ 14 Bewertung der Reform

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§ 14 Bewertung der Reform Mit der Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG sowie der Einrichtung der neuen Verfahrensart gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG verfolgte der verfassungsändernde Gesetzgeber das Ziel, die Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers zu verschärfen und gleichzeitig eine effektive verfassungsgerichtliche Überprüfung dieser Voraussetzungen sicherzustellen. Das Bundesverfassungsgericht soll zur Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG bewegt werden. Eine Antwort auf die Frage, ob diese mit der Reform verbundenen Erwartungen erfüllt werden können und sollten, setzt voraus, daß zunächst diejenigen rechtlichen Vorgaben herausgefiltert werden, die als eindeutig im Grundgesetztext zum Ausdruck gebrachter Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers auch für das Bundesverfassungsgericht indisponibel sind.

I. Zwingende Konsequenzen 1. Erforderlichkeitskriterien

als Rechtsbegriffe

Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat durch die oben dargestellten Grundgesetzänderungen sowie deren Begründung eindeutig klargestellt, daß es sich bei den Kriterien des Art. 72 Abs. 2 GG um Rechtsbegriffe handelt, deren Anwendung einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen soll. Damit ist es dem Gericht künftig verwehrt, die fraglichen Voraussetzungen für die konkurrierende Bundesgesetzgebung wie in seinen frühen Entscheidungen als „ihrer Natur nach nicht justitiabel und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen" anzusehen.120 Vielmehr muß jedenfalls im Grundsatz die Justitiabilität bejaht werden. Als zwingende Konsequenz hieraus ergibt sich eine Verschärfung der Anforderungen an die Darlegungspflicht des Bundesgesetzgebers hinsichtlich der Erforderlichkeit gemäß Art. 72 Abs. 2 GG. 1 2 1 Die Begründung einer Gesetzesvorlage muß künftig durch entsprechend substantiierte Ausführungen erkennen lassen, daß der Bundesgesetzgeber sich im konkreten Fall emsthaft und kritisch mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob die Verwirklichung des (selbst-)gesetzten Ziels die beabsichtigte bundesgesetzliche Regelung in der vorgesehenen 120

Vgl. BVerfGE 2, 213 [224]; hierzu oben § 8 IV. Ebenso Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 109; Rybak/Hofmann, NVwZ 1995, 230 [231]; Sannwald, NJW 1994, 3313 [3316]; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 8. Aufl., Art. 72, Rn. 7; Sommermann, Jura 1995, 393 [395]; teilweise abw. Schmehl, DÖV 1996, 724 [729]. 121

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Regelungstiefe erforderlich macht. 122 Dabei muß auch nachzuvollziehen sein, daß gesetzespolitische Alternativen, die den Ländern größeren Regelungsspielraum belassen hätten, vom Bundesgesetzgeber geprüft worden sind. 123 So wird dem Bundesverfassungsgericht ermöglicht, die rechtsfehlerfreie Anwendung der Erforderlichkeitsvoraussetzungen zu beurteilen. Unterbleibt die Darlegung der Erforderlichkeit, so könnte das betreffende Bundesgesetz - ungeachtet des im Verfassungsprozeß geltenden Untersuchungsgrundsatzes 124 - unter Hinweis auf Nichtgebrauch des tatbestandlichen Ermessens gemäß Art. 72 Abs. 2 GG verworfen werden. Das Darlegungserfordernis wird voraussichtlich in Zukunft zu ausführlicheren Erörterungen im Gesetzgebungsverfahren hinsichtlich der Unabdingbarkeit einer bundesgesetzlichen Regelung führen und damit in manchen Fällen, deren Anzahl allerdings nicht überschätzt werden sollte, den Verzicht auf ein Bundesgesetz zugunsten der Landesgesetzgebung bewirken. 2. Wegfall der Kriterien

gemäß Nr 1 und 2 der Bedürfnisklausel

Auf die in Nr. 1 und 2 der ursprünglichen Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG genannten Positivkriterien (fehlende Wirksamkeit bzw. Bundesschädlichkeit einer hypothetischen landesgesetzlichen Regelung) 125 kann sich der Bundesgesetzgeber fortan nicht mehr berufen. Allerdings wurde bereits festgestellt, daß diese beiden Alternativen im Vergleich zu der - durch die Neufassung im Kem übernommenen - Bedürfhisalternative Nr. 3 nur geringe praktische Bedeutung erlangten. 126 Die weitaus meisten der unter Nr. 1 und 2 der alten Bedürfnisklausel subsumierbaren Fälle werden auch durch die neue Erforderlichkeitsklausel erfaßt. Wenn nämlich eine Angelegenheit „durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht wirksam geregelt werden kann" (Art. 72 Abs. 2 Nr. 1 GG a. F.), wird der Erlaß einheitlichen Bundesrechts zugleich auch „ i m gesamtstaatlichen Interesse" liegen. Ähnliches gilt für den Fall, daß ein potentielles Landesgesetz „die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte" (Art. 72 Abs. 2 Nr. 2 GG a. F.). Eine konkrete Auswirkung der Bereinigung liegt allenfalls darin, daß die Möglichkeit zur Schaffung von partikularem Bundesrecht, beispielsweise in Form einer nur für die Küstenländer geltenden und zugleich allein in deren In-

122 Ähnlich bereits Isensee, NJW 1993, 2583 [2586], der jedoch sicherheitshalber das Darlegungserfordernis ausdrücklich im Verfassungstext verankert sehen wollte. 123 Insoweit zutreffend Scholz/Meyer-Teschendorf ZRP 1996,404 [406]. 124 Dies verkennt Schmehl, a. a. Ο. 125 Wortlaut des Art. 72 GG a. F. oben § 5 XIII. 126 Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 72, Rn. 21 f.; vgl. auch oben § 8 XI, § 9 IV.

§ 14 Bewertung der Reform

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teresse liegenden bundesgesetzlichen Regelung 127 entfällt, weil die Erforderlichkeit eines solchen Bundesgesetzes anhand der im neuen Art. 72 Abs. 2 GG verbliebenen Kriterien auch bei weitester Auslegung nicht mehr zu begründen wäre. 128 In der Verfassungspraxis wird also die Streichung der beiden ersten Bedürfnisalternativen durch die Gemeinsame Verfassungskommission nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Viel bedeutsamer ist demgegenüber der Umstand, daß durch eben diese Bereinigung die Reform des Art. 72 GG in einen inneren Widerspruch geraten ist, der den historischen Bezugsverlust des verfassungsändernden Gesetzgebers besonders evident werden läßt: Die in Nr. 1 und 2 der bisherigen Bedürfnisklausel enthaltenen Voraussetzungen für die konkurrierende Gesetzgebung verkörperten den Ursprung des Art. 72 Abs. 2 GG. Denn im Memorandum vom 2. März 1949 gaben die alliierten Militärgouvemeure erstmalig den Anstoß zur Restriktion der konkurrierenden Gesetzgebung, indem sie eine Vorschrift formulierten, welche dem Bund nur unter diesen beiden Voraussetzungen ein Gesetzgebungsrecht zugestand.129 Den Alliierten, aber auch dem Parlamentarischen Rat war dabei nicht nur bewußt, daß diese Kriterien sehr eng gefaßt waren, sondern vor allem, daß sie aufgrund ihrer Enge justitiabel sein würden. 130 Deshalb bestand der Siebenerausschuß des Parlamentarischen Rates darauf, daß der Text um die generalklauselartigen Kriterien der „Rechtseinheit" und der „Wirtschaftseinheit" ergänzt werde, welche dem Bundesgesetzgeber nahezu freie Hand bei der Inanspruchnahme seiner konkurrierenden Kompetenzen zu geben und damit zugleich eine Schlüsselrolle des Bundesverfassungsgerichts zu verhindern versprachen. 131 Angesichts dieser Zusammenhänge bleibt rätselhaft, warum die Gemeinsame Verfassungskommission, deren Intentionen in bezug auf Art. 72 Abs. 2 GG denjenigen der Alliierten weitaus näher standen als denjenigen des Parlamentarischen Rates, ihre neue Erforderlichkeitsklausel ausgerechnet auf die vom Parlamentarischen Rat zur Bewaffnung des Bundes entwickelten Kriterien reduzierte. 3. Neues Normenkontrollverfahren

gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG

Das eigens für die Überprüfung der Erforderlichkeitsvoraussetzungen gemäß Art. 72 Abs. 2 GG geschaffene Verfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG 127

Vgl. v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 30. Insoweit abw. Rybak/Hofmann, a. a. O., S. 233, jedoch mit zweifelhafter Begründung über den Begriff „gleichwertige Lebensverhältnisse". 129 Vgl. oben § 5 II. 130 Vgl. oben § 5 V u. VI. 131 Vgl. oben § 5 VI, VII, VIII u. insbes. XII. 128

158

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

stellt einen Sonderfall der abstrakten Normenkontrolle dar. 132 Daneben kann ein Verstoß gegen die Erforderlichkeitsklausel auch weiterhin im herkömmlichen Normenkontrollverfahren gemäß Nr. 2 des Art. 93 Abs. 1 GG durch die dort Antragsberechtigten geltend gemacht werden, wobei in diesem Verfahren auch die Geltendmachung weiterer Nichtigkeitsgründe statthaft ist. 133 Die praktische Bedeutung des neuen Verfahrens gemäß Nr. 2 a liegt somit hauptsächlich darin, daß der Kreis der Antragsberechtigten erweitert wurde. Die Erforderlichkeitsrüge gemäß Art. 72 Abs. 2 GG ist jetzt auch dem Bundesrat und vor allem den erstmals im Normenkontrollverfahren antragsberechtigten Landesparlamenten eröffnet. Die Konsequenzen aus der Einbeziehung der Landesparlamente sind bislang nicht absehbar. Insbesondere aufgrund instabiler Mehrheitsverhältnisse in einzelnen Landtagen könnte ein zusätzlicher Faktor der Unberechenbarkeit hinsichtlich der Anstrengung eines Normenkontrollverfahrens und damit hinsichtlich der Bestandskraft konkurrierender Bundesgesetze entstehen. Die Landesregierungen, die nunmehr sowohl im Verfahren gemäß Nr. 2 des Art. 93 Abs. 1 GG als auch im Verfahren gemäß Nr. 2 a antragsberechtigt sind, haben künftig eine Wahlmöglichkeit zwischen beiden Anträgen. Materielle Kriterien für die Anwendung des Art. 72 Abs. 2 GG lassen sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG nicht ableiten. Dennoch wird bisweilen mit dem Argument, daß die neue Verfahrensvorschrift andernfalls leerliefe, eine Wende der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG als zwingend erachtet. 134 Eine solche Argumentation unterliegt jedoch einem Zirkelschluß, der zwar mit der rechtspolitischen Intention der Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission, nicht aber mit der Systematik des Grundgesetzes vereinbar ist. Art. 93 GG normiert ausschließlich verfassungsgerichtliche Zuständigkeiten, während die vom Gericht anzulegenden Entscheidungsmaßstäbe allein der jeweils streitentscheidenden Verfassungsnorm zu entnehmen sind. Daran vermag die Eingrenzung der neuen Zuständigkeitsziffer auf die Überprüfung einer einzigen Grundgesetzbestimmung nichts zu ändern.

I I . Optionen Die weitgehende Anlehnung der neuen Erforderlichkeitsklausel an die Terminologie aus Nr. 3 der Altfassung des Art. 72 Abs. 2 GG hat zur Folge, daß 132

So zutreffend Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 511; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93, Rn. 17 ff.; Sturm in: Sachs, GG, Art. 93, Rn. 51. 133 Vgl. Degenhart u. Sturm, jeweils a. a. Ο. 134 Sturm, a. a. Ο., Rn. 50; ähnlich Pieroth, a. a. Ο., Rn. 23 a; Schmehl, DÖV 1996, 724 [728].

§ 14 Bewertung der Reform

159

die neue Erforderlichkeitsklausel in Gestalt der Formulierungen „gleichwertige Lebensverhältnisse", „Rechts- oder Wirtschaftseinheit" sowie „gesamtstaatliches Interesse" nach wie vor eine Vielzahl höchst unbestimmter Rechtsbegriffe aufweist. Insbesondere der Begriff „gesamtstaatliches Interesse" eröffnet geradezu uferlose Auslegungsmöglichkeiten. 135 Die Wendung „gleichwertige Lebensverhältnisse" läßt den Ländern zwar rein begrifflich größeren Spielraum für unterschiedliche Regelungen als die alte Formulierung „einheitliche Lebensverhältnisse", doch existiert kein objektiver Maßstab dafür, welche Anforderungen an eine Gleichwertigkeit zu stellen sind. 136 Schon der Begriffsbestandteil „Wert" impliziert den Einfluß von Wertvorstellungen. Ein erstes praktisches Beispiel für die aus dieser Neuerung resultierende Unsicherheit bildet der Umstand, daß die fragliche Formulierung von ostdeutschen Politikern zunächst abgelehnt wurde, weil diese befürchteten, daß sich aufgrund der Abschwächung der „Einheitlichkeit" zur bloßen „Gleichwertigkeit" das Ungleichgewicht zwischen alten und neuen Bundesländern verfestigen könne. 137 Aufgrund des vorstehenden Befundes lassen sich zwei Möglichkeiten für die Anwendung der neuen Erforderlichkeitsklausel in Erwägung ziehen: Zum einen könnte die Reform unter Berücksichtigung der von der Gemeinsamen Verfassungskommission gegebenen Begründung in die Verfassungspraxis umgesetzt werden, indem die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Kriterien fortan als zwar unbestimmte, aber gerichtlich uneingeschränkt nachprüfbare Rechtsbegriffe behandelt werden. Zum anderen könnte aber auch auf eben jene - durch die Reform nicht verbesserte - Unbestimmtheit der Erforderlichkeitskriterien verwiesen werden. Hierauf gestützt, könnte zwar eine Rechtskontrolle durchgeführt, deren Dichte jedoch niedrig gehalten werden, indem ein erheblicher Beurteilungsspielraum zugunsten des Bundesgesetzgebers offengehalten wird. Insofern würde die mit der Ladenschlußgesetz-Entscheidung des Jahres 1961 präzisierte Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG, welche die Rechtsnormqualität der bisherigen Bedürfnisvoraussetzungen ausdrücklich anerkannt hatte, einen unverändert verfassungskonformen Lösungsansatz darstellen. Allerdings hatte der in der Ladenschlußgesetz-Entscheidung verkörperte dogmatische Fortschritt im Ergebnis keine Änderung gegenüber der bis dorthin

135

Eine Präzisierung gegenüber der Altfassung vermissen auch Jarass, NVwZ 1996, 1041 [1042]; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 72, Rn. 8 a. E.; Model/Müller, GG, Art. 72; fehlgehend dagegen Scholz/Meyer-Teschendorf, ZRP 1996, 404 [405], mit der aus der Konimissionsbegründung übernommenen, aber nicht belegten Behauptung, Art. 72 Abs. 2 GG sei gegenüber der bisherigen Fassung „tatbestandlich ungleich schärfer gefaßt". 136 Zutreffend Rohn/Sannwald, ZRP 1994, 65 [68 u. Fn. 50]; Schmidt-B leibtreu/ Klein, GG, 8. Aufl., Art. 72, Rn. 7. 137 Vgl. GVK, Sten. Bericht 11. Sitzung, S. 16 f.

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

geübten Praxis bewirkt. 138 Deshalb hätte erne Übernahme dieser Rechtsprechung zur Konsequenz, daß die Reform des Art. 72 Abs. 2 GG im praktischen Ergebnis leerliefe, was wiederum die Frage aufwirft, ob dieser Weg eine Mißachtung des verfassungsändernden Gesetzgebers und damit einen Verstoß gegen die Grundsätze subjektiv-teleologischer Verfassungsauslegung bedeuten würde. Diese Frage kann jedoch verneint werden. Ausschlaggebend ist nämlich in erster Linie der Wortlaut der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG, welcher eben nicht als Präzisierung gegenüber der alten Bedürfnisklausel bezeichnet werden kann und deshalb kein zwingendes Gebot enthält, einen Beurteilungsspielraum gegenüber dem Bundesgesetzgeber zu verweigern. Auch in der Begründung hat der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht dargelegt, warum ein Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers nunmehr zwingend ausgeschlossen sein soll; stattdessen wurde hier lediglich das rechtspolitische Ziel - Verbesserung der Justitiabilität - in abstrakter Form erläutert. 139 Darüberhinaus waren die Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission von einer gewissen Hilflosigkeit hinsichtlich der praktischen Realisierung der Reformempfehlung gekennzeichnet. Selbst der bereits in Nr. 3 der Ursprungsfassung des Art. 72 Abs. 2 GG enthaltene, nunmehr ins Zentrum gerückte Begriff der „Erforderlichkeit" führt nicht weiter. Dogmatisch fruchtbare Erkenntnisse, welche über die gängige Begriffsaufschlüsselung (erforderlich = geeignet + notwendig) hinausgingen, lassen sich hieraus kaum gewinnen. 140 Insbesondere kann das Erforderlichkeitskriterium nicht als Verfassungsgebot zu einer justizförmigen Verhältnismäßigkeitsprüfung verstanden werden, weil der für die Beurteilung von Grundrechtseingriffen entwickelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - wie bereits erörtert 141 - auf das kompetenzrechtliche Bund/Länder-Verhältnis nicht übertragbar ist. 14 2 Auch ein Gebot, vorrangig die Möglichkeit bundeseinheitlich koordinierter Landesgesetzgebung zu berücksichtigen, kann daraus nicht abgeleitet werden. Denn der Sinn landeseigener Gesetzgebungskompetenzen besteht in der Erhaltung föderaler Vielfalt und eben nicht im Betreiben der Unitarisierung. 143

138

Vgl. oben § 8 IX. Vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 33. 140 Exemplarisch Dellmann in: Seifert/Hömig, GG, Art. 72, Rn. 3 a. E; Hömig, ebenda, Art. 93, Rn. 13; jegliche eigenständige Bedeutung des Erforderlichkeitsbegriffs verneinen Rybak/Hofmann, NVwZ 1995, 230 [232]. 141 Oben §10. 142 Zutreffend Degenhart in: Sachs, GG, Art. 72, Rn. 10; ders., Staatsrecht I, Rn. 109. 143 Vgl. Rybak/Hofmann, a. a. O., mit dem zutreffenden Hinweis darauf, daß auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht das Ziel verfolgt habe, die bundeseinheitli139

§ 14 Bewertung der Reform

161

Folglich liegt es nahe, den Begriff „Erforderlichkeit" in Art. 72 GG nicht anders als in Art. 104 a Abs. 4 Satz 1 GG 1 4 4 auszulegen, wo dieser Begriff ebenfalls verwendet wird: Die dort normierte Erforderlichkeitsklausel fur finanzielle Eingriffe des Bundes in den Landesbereich wurde vom Bundesverfassungsgericht 145 unter Hinweis auf die Unbestimmtheit der an die Erforderlichkeit anzulegenden Maßstäbe als weitgehend injustitiabel beurteilt. Dabei wurde ausdrücklich auf die Ladenschlußgesetz-Entscheidung zu Art. 72 Abs. 2 GG 1 4 6 Bezug genommen. 147 Aus der Normierung der besonderen Verfahrensart in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG kann das Bundesverfassungsgericht im übrigen - wie oben erläutert - erst recht keine materielle Vorgabe hinsichtlich der Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG, insbesondere hinsichtlich des Umfangs eines dem Bundesgesetzgeber zu gewährenden Beurteilungsspielraums, entnehmen. Einen wirksamen, der Disposition des Bundesverfassungsgerichts entzogenen Zwang zu dichterer Rechtskontrolle hätte der Gesetzgeber nur ausüben können, wenn er die Terminologie des Art. 72 Abs. 2 GG durch Verwendung wesentlich enger gefaßter Begriffe vollständig revidiert hätte. Die Frage, ob der Weg einer derart drastischen Verschärfung der Klausel angesichts praktischer Erfordernisse überhaupt offen stand oder ob nicht vielmehr eine extreme Unbestimmtheit der zu verwendenden Begriffe in der Natur der Sache liegt, braucht an dieser Stelle nicht beantwortet zu werden. Nach wie vor darf es jedenfalls ohne Verfassungsverstoß dem Gericht selbst überlassen bleiben, ob es die mit der Reform verbundenen Intentionen zum Anlaß nimmt, seine Kontrollkompetenz in größerem Umfang als bisher in Anspruch zu nehmen, oder ob es sie weiterhin im Sinne eines strikten Judicial self-restraint" handhabt. 148 che Gesetzgebung des Bundes durch eine bundeseinheitliche Landesgesetzgebung zu ersetzen; a. A. Schmehl, DÖV 1996, 724 [726]. 144 Wortlaut: „Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) gewähren, die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums erforderlich sind." 145 BVerfGE 39, 96 [114 f.]. 146 BVerfGE 13, 230 [233 f.]; hierzu oben § 8 VI. 147 Das BVerfG (E 39, 96 [114 f.]), führt wörtlich aus: „Die Voraussetzungen des Art. 104 a Abs. 4 Satz 1 GG für das finanzielle Eingreifen des Bundes in den Landesbereich sind als Rechtsbegriffe so unbestimmt, daß sich die verfassungsgerichtliche Prüfung darauf beschränken muß, ob der Bundesgesetzgeber oder die Beteiligten an Verwaltungsvereinbarungen diese Begriffe im Prinzip zutreffend ausgelegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten haben (vgl. BVerfGE 13,230 [233 f.] zu Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG)." 148 Die letztgenannte Möglichkeit räumen ebenfalls ein: Der damalige bayerische Staatsminister Dr. Stoiber, GVK, Sten. Bericht 11. Sitzung, S. 14 (vgl. bereits oben §12114); im Schrifttum Hendler, DÖV 1993, 292 [296]; Müller, RdJB 1994, 11 Neumeyer

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Im folgenden wird daher zu untersuchen sein, ob die seit 1949 geführte Auslegungsdiskussion im Zuge der Reform über den modifizierten Wortlaut hinaus um neue Gesichtspunkte bereichert wurde, welche eine Abkehr von der bisherigen Verfassungspraxis überzeugend zu begründen vermögen.

I I I . Ansatzpunkte für die Lösung 1. Die Erwägungen des Parlamentarischen

Rates: Gewaltenteilung

Aufgrund der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG liegt es nicht fem, die Entstehungsgeschichte der Ursprungsfassung nunmehr als irrelevant für die Auslegung zu betrachten. In der Tat verbietet sich in normgenetischer Hinsicht ein direkter Rückgriff auf die Ereignisse im Frühjahr 1949. Stattdessen sind primär die Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission des 12. Bundestages zugrundezulegen, die faktisch den verfassungsändernden Gesetzgeber repräsentierte. Diese Verfassungskommission begab sich in einen diametralen Gegensatz zur Haltung des Parlamentarischen Rates, indem sie das Ziel verfolgte, die Voraussetzungen für die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung in die Form einer verfassungsgerichtlich voll überprüfbaren Rechtsnorm zu gießen. Verwunderlich erscheint aber, daß dieser Bruch mit dem Parlamentarischen Rat von der Gemeinsamen Verfassungskommission offenbar gar nicht wahrgenommen wurde. Nur so ist zu erklären, daß man nicht nur versäumte, sich mit der Entstehungsgeschichte des Reformobjekts Bedürfnisklausel und den sich daraus ergebenden Argumenten gegen eine unbeschränkte Justitiabilität auseinanderzusetzen, sondern sogar für sich in Anspruch nahm, mit der Reform endlich den wahren Willen der Väter des Grundgesetzes zu realisieren. 149 Aus diesen Gründen muß sich das Produkt der Gemeinsamen Verfassungskommission erneut an den Erwägungen des Parlamentarischen Rates messen lassen, zumal auch das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F. maßgeblich auf jene Erwägungen gestützt hat. Dabei ist an erster Stelle der Gesichtspunkt der Gewaltenteilung zu nennen. Der Parlamentarische Rat wollte eine Justitiabilität der in seinem GrundgesetzEntwurf nicht vorgesehenen, sondern von den Alliierten aufoktroyierten Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vor allem deswegen verhindern, weil man befürchtete, daß andernfalls die Grenzziehung zwischen Bundesverfassungsgericht und rechtsetzender Gewalt an einem entscheidenden Punkt ihrer Klarheit 467 [487]; strikt ablehnend dagegen Kenntner, recht I, 8. Aufl., Rn. 541. 149 Vgl. oben § 13 II 4.

ZRP 1995, 367 ff.; J. Ipsen, Staats-

§ 14 Bewertung der Reform

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beraubt werde. Die Frage nach der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung wurde als rein politische Ermessensentscheidung betrachtet, welche die gesetzgebenden Organe des Bundes zu treffen hätten. Selbst die gegenüber jeglicher Ausweitung zentralstaatlicher Kompetenzen feindselig gestimmte bayerische Seite hatte in der Sache bereits seit dem Herrenchiemsee-Konvent die Auffassung vertreten, daß eine Überantwortung bundesstaatlicher Kompetenzprobleme an das Bundesverfassungsgericht keine sinnvolle Stärkung föderalistischer Positionen bedeute. 150 Diese einmütige Haltung des Parlamentarischen Rates schlug sich in dem Bemühen um eine möglichst knappe und unzweideutige Terminologie nieder, wie sie die übrigen Bestimmungen der Art. 70 bis 75 GG kennzeichnet. Die für den Katalog des Art. 74 GG zunächst vorgesehene und nur zur athmosphärischen Beruhigung der deutsch-alliierten Verhandlungen preisgegebene Bezeichnung „Vorranggesetzgebung" verdeutlichte, daß auf den dort aufgeführten Gebieten eine materielle Vorentscheidung zugunsten des Bundes 151 getroffen worden war, mit welcher man alles andere als die Provokation verfassungsjuristisch subtiler Abgrenzungsfragen bezweckte. Den Intentionen des Parlamentarischen Rats schlossen sich zuerst die herrschende Lehre und danach auch das Bundesverfassungsgericht an und trugen dem politischen Charakter der Bedürfnisentscheidung Rechnung, indem sie dem Bundesgesetzgeber einen weiten Ermessensbereich bzw. Beurteilungsspielraum zubilligten. 152 Erst das jüngere Schrifttum tendierte aufgrund staatspolitischer Erwägungen dazu, die herrschende Praxis als Beitrag zur übermäßigen Unitarisierung im Bundesstaat zu mißbilligen, vermochte jedoch, wie bereits eingehend dargelegt wurde 153 , keine verfassungsrechtlich überzeugende Begründung für eine abweichende Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG zu liefern. Im Gegenteil hat die Kritik, soweit sie überhaupt näher konkretisiert wurde, die vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Handhabung der Bedürfnisklausel letztlich bestätigt, weil jede der angebotenen Auslegungsalternativen dadurch relativiert wurde, daß man dem Bundesgesetzgeber eine mehr oder minder weit reichende Einschätzungsprärogative zubilligte. Stets wurden solche Vorbehalte mit dem prognostischen und gestalterischen Element begründet, welches im Wesen legislativen Handelns liege und durch richterliches Urteil nicht ersetzt werden dürfe. Die knappe Begründung der Gemeinsamen Verfassungskommission steuerte keine neuen Gesichtspunkte bei, welche die unter dem Aspekt der Gewaltentei-

150 151 152 153

11

Vgl. oben § 3 II, III; § 4 II, III, VIII; § 5. Insoweit zutreffend Schmehl, DÖV 1996, 724 [728]. Vgl. oben §§ 7 u. 8. Oben §10.

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

lung vorgebrachten Bedenken zerstreuen können. Auf die mit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung verbundenen Schwierigkeiten wurde nicht eingegangen. Somit muß die Praxis den objektiven Befund zugrundelegen: Noch immer sind die in Art. 72 Abs. 2 GG verwendeten Rechtsbegriffe derart unbestimmt, daß ihre Konkretisierung einen Akt der politischen Gestaltung darstellt. Allein der unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber kann festlegen, welches Maß an Vereinheitlichung für die „Gleichwertigkeit" der Lebensverhältnisse oder die „Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit" im „gesamtstaatlichen Interesse" zweckmäßig ist. So kann eine „Gleichwertigkeit" nur festgestellt werden, wenn zuvor der hierin enthaltene Begriff „Wert" entsprechend den Zielvorstellungen der politischen Mehrheit mit Leben erfüllt wird. Zudem kann begriffslogisch nur aus der Perspektive der übergreifenden Instanz, also des Bundes, festgestellt werden, ob die Lebensverhältnisse in den Gliedstaaten angleichungsbedürftig sind. Das „gesamtstaatliche Interesse" hat ohnehin der Bund als alleinige den Gesamtstaat repräsentierende Instanz zu formulieren. 154 Dazu müssen notwendig Prognosen und politische Wertungen getroffen werden, die einer Vielzahl von Anschauungen und Rahmenbedingungen Rechnung tragen müssen, welche ihrerseits einem zeitbedingten Wandel unterworfen sind. Diesen Wertungen fehlt jede objektive Nachprüfbarkeit. Will also das Bundesverfassungsgericht sich nicht im Rahmen seiner Rechtskontrolle selbst an die Stelle des Bundesgesetzgebers setzen, indem es die erforderlichen Prognosen und politischen Abwägungen selbst vornimmt, so muß es dem Bundesgesetzgeber nach wie vor erhebliche Beurteilungsspielräume hinsichtlich der in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Voraussetzungen einräu155

men. Keinesfalls darf dem Bundesgesetzgeber die materielle Beweislast für die Erforderlichkeit aufgebürdet werden 15 , die nicht zu verwechseln ist mit der oben erwähnten Darlegungslast. 157 Objektiv nicht nachprüfbare politische Wertungen und Prognoseentscheidungen sind niemals einem gerichtsfesten Beweis zugänglich; sie können lediglich in möglichst nachvollziehbarer Weise

154 Zutreffend Rybak/Hofmann, NVwZ 1995, 230 [232]; Sannwald, NJW 1994, 3313 [3316]; Schmidt-B leibtreu/Klein, GG, 8. Aufl. 1995, Art. 72, Rn. 7. 155 Im Ergebnis ebenso Degenhart in: Sachs, GG, Art. 72, Rn. 11 ff.; ders., Staatsrecht I, Rn. 109 f.; Dellmann in: Seifert/Hömig, GG, Art. 72, Rn. 3; Katz, Staatsrecht, Rn. 426; Müller, RdJB 1994, 467 [487]; Rybak/Hofmann, a. a. O, S. 231 ff.; Sannwald, a. a. O.; ferner Jarass, NVwZ 1996, 1041 [1042]; Schmidt-Bleibtreu/Klein, a. a. O; anders, jedoch ohne überzeugende Begründung J. Ipsen, Staatsrecht I, 8. Aufl., Rn. 540 f.; ferner Berlit, RuP 1994, 194 [201]; unklar Schmehl, a. a. O. 156 So aber Kenntner, ZRP 1995, 367 [368]; dagegen wie hier Degenhart in: Sachs, GG, Art. 72, Rn. 10. 157 Oben I 1 ; vgl. ferner zur materiellen Beweislast in Abgrenzung zu der im Verfassungsprozeß nicht relevanten formellen Beweislast Kriele, NJW 1976, III [781].

§ 14 Bewertung der Reform

165

dargelegt werden, um dem Bundesverfassungsgericht eine Einschätzung zu ermöglichen, ob die Erforderlichkeit aufgrund sachgerechter Erwägungen bejaht wurde. Eine materielle Beweislastverteilung zu Lasten des Bundes hätte dessen regelmäßiges Unterliegen im Verfassungsrechtsstreit um die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG zur Folge - ein Ergebnis, welches der Bedeutung der konkurrierenden Gesetzgebung als des wichtigsten Gestaltungsinstruments des Bundes in keiner Weise mehr gerecht würde. Daß die Respektierung eines politischen Entscheidungsspielraumes bei der Überprüfung der Erforderlichkeit gemäß Art. 72 Abs. 2 GG nicht als Inkonsequenz des Bundesverfassungsgerichts gegenüber seiner ansonsten oftmals anzutreffenden Bereitschaft, auch in politisch umstrittenen Fragen zu entscheiden, anzusehen ist, wurde bereits bei der Bewertung des jüngeren Schrifttums darge158

legt. Ebenso wurde dort bereits festgestellt, daß der im Grundrechtsbereich beheimatete Übermaßgedanke genausowenig wie die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auf den Bereich der bundesstaatlichen Kompetenzordnung übertragen werden kann. 159 Schließlich wurde auch gezeigt, daß der in Art. 75 GG enthaltene Begriff „Rahmenvorschriften", der vom Bundesverfassungsgericht als grundsätzlich voll überprüfbar angesehen wird, insoweit nicht mit dem Begriff „Erforderlichkeit" in Art. 72 Abs. 2 GG vergleichbar ist. 1 6 0 Nach alledem können die Erwägungen des Parlamentarischen Rats gegen eine justizförmige Bedürfniskontrolle, die sich primär auf den politischen Charakter der Bedürfnisentscheidung und somit den Aspekt der Gewaltenteilung stützten, auch unter der neuen Erforderlichkeitsklausel unverändert Gültigkeit beanspruchen. 161 2. Rechtssicherheit und Autorität des Bundesverfassungsgerichts Gegen eine umfassende Justitiabilität der Erforderlichkeitsklausel spricht weiterhin der Aspekt der Rechtssicherheit. Gerade der Bereich der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung verlangt Rechtsnormen, die eine eindeutige und im Regelfall auch ohne gerichtliche Klärung berechenbare Abgrenzung der Zuständigkeiten vornehmen. Dieser Forderung wurde die Ursprungsfassung des Art. 72 Abs. 2 GG in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts noch 158

Oben § 10. Oben § 9 I, § 10. 160 Oben § 10. 161 An diesem Punkt der Untersuchung wird die Unhaltbarkeit der Situationsbeurteilung von Kenntner (a. a. O) deutlich, welcher meint, daß „das BVerfG in einer Rechtsprechung erstarrt ist, die zwar aus ihrer historischen Entstehung verständlich ist, heute aber nicht mehr zeitgemäß ist und weder dem Wortlaut des Grundgesetzes noch dem Willen des (historischen sowie aktuellen) Verfassunggebers entspricht." 159

166

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

gerecht, indem sie den Bundesgesetzgeber lediglich im Falle evidenter Fehlauslegung der Bedürfniskriterien mit der Verwerfung seiner gesetzgeberischen Entscheidung bedrohte. Bei einer weitergehenden oder gar unbeschränkten gerichtlichen Überprüfung bliebe die Kalkulierbarkeit der grundgesetzlichen Zuständigkeitsordnung nur erhalten, wenn zugleich präzisere rechtliche Maßstäbe für die vom Bundesgesetzgeber zu treffende Entscheidung geschaffen worden wären. Dies ist aber, wie eingehend dargelegt wurde, nicht der Fall. Aufgrund der Vielschichtigkeit der für die Erforderlichkeitsbeurteilung nachzuvollziehenden gesetzgeberischen Erwägungen käme den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts notwendigerweise lediglich Einzelfallbedeutung zu. Eine präjudizielle Wirkung entsprechend den Geboten von Kontinuität und Berechenbarkeit, welche regelmäßig die juristische im Unterschied zur politischen Entscheidung kennzeichnet , wäre kaum zu erzielen. Dies zöge eine erhebliche Rechtsunsicherheit und damit eine Flut von Verfahren nach sich. Das Bundesverfassungsgericht sähe sich in eine permanente Schiedsrichterrolle an zentraler Stelle des bundesstaatlichen Kompetenzsystems gedrängt. Die Folgen für die Effektivität der Gesetzgebungsarbeit des Bundes und damit nicht zuletzt für die auf verläßliche Rahmenbedingungen angewiesene Wirtschaft wären - wie die Bundesregierung mit Recht zu bedenken gab - unabsehbar. 163 Zudem würde die ohnehin fortschreitende Verlagerung von gestalterischpolitischer Entscheidungsverantwortung auf die Ebene des Verfassungsrechts, die schon im Hinblick auf das Demokratieprinzip grundsätzlich zu mißbilligen ist 1 6 4 , weiter beschleunigt. Die darin liegende Überdehnung der richterlichen Kompetenzen birgt die Gefahr eines Autoritäts- und Legitimationsverlustes des Bundesverfassungsgerichts in sich, weil das Gericht über die Entscheidung vermeintlicher Rechtsfragen in Wahrheit mitten in die politische Auseinandersetzung gezogen würde 165 , und zwar in weit höherem Maße, als dies über Fragen der Grundrechte, aber auch des Parlaments- und Wahlrechts ohnehin un162

Kriele, NJW 1976, III [779]. Vgl. Stellungnahme der Bundesregierung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks. 12/7109, S. 13 [15]. Gänzlich a. A. G. Schmidt, DOV 1995, 657 ff., mit der viel zu einseitigen und im Ergebnis abwegigen Argumentation, daß Art. 72 Abs. 2 GG bei „unionskonformer Auslegung" wegen eines aus Art. 7 a Abs. 2 EGV abzuleitenden Verbots partikularer Wirtschaftseinheiten insoweit ohnehin keinen praktischen Anwendungsbereich mehr habe. 164 Gegen die hierdurch drohende Gefahr der „Konstitutionalisierung der Tagespolitik" mit der Folge von „Entpolitisierung und Juridifizierung der Entscheidungsfindung" und somit einer Machtverschiebung vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber hin zur Dritten Gewalt wendet sich mit Recht Wolfgang Schäuble, FAZ v. 13.09.1996, S. 12. 165 Zutreffend Majer, EuGRZ 1980, 158 [164]; v. Münch in: v. Münch, GG, Art. 72, Rn. 30; ähnlich Bullinger, DÖV 1970, 797 [798]. 163

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vermeidlich ist. Die normative Bestimmtheit verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung 166 würde einen weiteren Rückschlag erleiden, die Befriedungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts 167 weiter in Frage gestellt. Insbesondere zu Zeiten, da die im Bund in der Opposition befindlichen politischen Kräfte die Mehrzahl der Landtage dominieren, würde dies zu einer kritischen Rolle des Gerichts führen, weil in dieser Situation besonders häufig mit Normenkontrollanträgen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG zu rechnen ist. Die Gefahr des Mißbrauchs des Bundesverfassungsgerichts als Verhinderungsinstanz gegenüber der Bundesgesetzgebung durch Berufung auf Art. 72 Abs. 2 GG liegt nahe. 3. Praktikabilität Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat das Bundesverfassungsgericht bei der Erfüllung der durch Art. 72 Abs. 2 GG gestellten Aufgabe im Stich gelassen. Eine gesteigerte Rechtskontrolle wird dem Gericht zwar nahegelegt, jedoch wird ihm weder durch den neuen Wortlaut noch durch die Gesetzesbegründung noch durch etwa stichhaltige Lösungsansätze im Schrifttum ein Instrumentarium zur Seite gestellt, mit dessen Hilfe sich diese Rechtskontrolle praktisch durchführen ließe. Würde das Bundesverfassungsgericht den Versuch unternehmen, die Erforderlichkeit eines konkurrierenden Bundesgesetzes in jedem Einzelfall umfassend - also ohne die Zubilligung eines Beurteilungsspielraums gegenüber dem Bundesgesetzgeber - nachzuprüfen, so sähe sich das Gericht mutmaßlich vor kaum lösbare Kapazitätsprobleme gestellt. 168 Schon jetzt befindet sich das Bundesverfassungsgericht in einem permanenten, mit einer sich stetig verlängernden durchschnittlichen Verfahrensdauer verbundenen Überlastungszustand, dessen Konsequenzen der ausgeschiedene Richter Emst-Wolfgang Bökkenförde wie folgt beschreibt: „Nicht erst in der Feme droht dem Gericht ein Kollaps von innen her, er steht vielmehr im Sinne einer unmittelbar drohenden Gefahr konkret bevor." 169 Die Beurteilung der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG erfordert Tatsachenfeststellungen in bisher unbe166

Strikte Normgebundenheit richterlicher Verfassungspraxis fordert mit Recht Badura, Mahrenholz-FS, S. 869 [874 u. 881 ff.]. 167 Zutreffend hervorgehoben von Schenke, NJW 1979, 1321 [1324]; Vogel, DÖV 1978, 665 [668]. 168 Wiederum zutreffend Majer, a.a.O., S. 160 u. 166; vgl. auch Wahl, AöR, Bd. 103 (1978), 477 [509]. 169 Böckenförde, ZRP 1996, 281 [282].

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

kanntem Ausmaß. Die sachgerechte Würdigung des in einem derartigen Verfahren zu erwartenden Materials, bestehend aus umfangreichen Sachverständigengutachten, amtlichen Stellungnahmen und langwierigen Anhörungen, würde einen zeitlichen Aufwand beanspruchen, der einerseits für jeweils lange Zeit die sonstige Arbeit des betroffenen Karlsruher Senats blockieren, andererseits das zu überprüfende Bundesgesetz derart lange in der juristischen Schwebe halten würde, daß eine Lähmung der Bundesgesetzgebung eintreten müßte. 170 Das antragstellende Organ sähe sich im Hinblick auf die vorauszusehende Verfahrensdauer dem Vorwurf gezielter Sabotage der Bundesgesetzgebung ausgesetzt. Die Einrichtung eines Dritten Senats beim Bundesverfassungsgericht wäre jedenfalls unumgänglich 171 , ist jedoch bislang nicht absehbar. Angesichts der Bedeutung des verfassungsgerichtlichen Kapazitätsproblems im Hinblick auf die Praktikabilität der Neuregelung bleibt unverständlich, daß hierüber im Verlauf der Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht diskutiert wurde. Während allerorts nach Möglichkeiten zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts gefahndet wird, leistete die Gemeinsame Verfassungskommission einen Beitrag unter entgegengesetzten Vorzeichen. 4. Auswirkungen auf EU-Angelegenheiten gemäß Art. 23 GG Ein weiterer Ansatzpunkt für die Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG ergibt sich aus dem ebenfalls von der Gemeinsamen Verfassungskommission erarbeiteten Art. 23 GG n. F. Dieser regelt in den Absätzen 4 bis 6 ein differenziertes System von Mitwirkungsbefugnissen der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union, wobei drei kompetentielle Kategorien unterschieden werden: - Wenn im Bereich „ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat", hat die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates zu berücksichtigen, ist hieran aber nicht gebunden (Art. 23 Abs. 5 Satz 1 GG). 1 7 2 - In einem Bereich von „Gesetzgebungsbefugnissen der Länder" ist dagegen die Auffassung des Bundesrates „maßgeblich zu berücksichtigen", was bedeutet, daß diese im Streitfall Vorrang genießt (Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG). 1 7 3 - In einem dritten Bereich, der „ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder" betrifft, ist die Wahrnehmung der mitgliedschaftlichen Rechte der

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Vgl. Majer, a. a. O. Zutreffend Kriele, FAZ v. 21.12.1993, S. 7. Vgl. Begründung, BT-Drucks. 12/6000, S. 23. Vgl. Begründung, a. a. Ο; Streinz in: Sachs, GG, Art. 23, Rn. 108.

§ 14 Bewertung der Reform

169

Bundesrepublik in der EU „vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder" zu übertragen (Art. 23 Abs. 6 GG). Nachdem für die letztgenannte Kategorie im Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission klargestellt wurde, daß hierunter nur Materien fallen, für die überhaupt kein - also auch kein konkurrierender - Kompetenztitel zugunsten des Bundes vorhanden ist 1 7 4 , haben sich zunächst geäußerte Befürchtungen 175 zerstreut, wonach der Bund seine Vertretungskompetenz in den Organen der EU gemäß Art. 23 Abs. 6 GG an die Länder verlieren könnte, sobald er eine Erforderlichkeit gemäß Art. 72 Abs. 2 GG nicht nachweisen könne. Dennoch erlangt Art. 72 Abs. 2 GG Einfluß auf das System des Art. 23 GG, weil die Abgrenzung unter den beiden erstgenannten Mitwirkungskategorien ausweislich der Kommissionsbegründung 1 6 unter Heranziehung der neuen Erforderlichkeitsklausel zu erfolgen hat. So erläutert die Gemeinsame Verfassungskommission den von Art. 23 Abs. 5 Satz 1 GG erfaßten Bereich wie folgt: „Damit ist der Bereich umschrieben, für den der Bund von seinem Recht zur bundesgesetzlichen Regelung gemäß Artikel 72 Abs. 2 GG Gebrauch gemacht hat oder wegen eines bestehenden Bedürfnisses für eine bundesgesetzliche Regelung zumindest Gebrauch machen könnte."177 Für das Anwendungsfeld des Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG, der die Vorrangstellung des Bundesrats regelt, ergab sich hiemach konsequenterweise folgende Eingrenzung: „Danach erstreckt sich die gesteigerte Mitwirkungsform auf alle Kompetenztitel der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung, für die der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat und mangels eines dahin gehenden Bedürfnisses nach Artikel 72 Abs. 2 GG auch keinen Gebrauch machen könnte." Damit ist die Entscheidungskompetenz der Bundesregierung in EUAngelegenheiten auf sämtlichen von Art. 74, 74 a und 75 GG erfaßten Gebieten, also dem weitaus überwiegenden Teil aller Bundeszuständigkeiten, vom Erforderlichkeitsvorbehalt gemäß Art. 72 Abs. 2 GG potentiell betroffen. 179 Daraus folgt, daß jede im Zusammenhang mit Art. 72 Abs. 2 GG bestehende Rechtsunsicherheit auf das System des Art. 23 GG durchschlägt. Würde das Ergebnis einer verfassungsgerichtlichen Erforderlichkeitsprüfung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG künftig unkalkulierbar, weil das Bundesverfassungsgericht einzelfallorientierte legislative Wertungen jeweils nachzuvollziehen versuchte,

174 175 176 177 178 179

BT-Drucks. 12/6000, S. 23 f. Vgl. Kriele, a. a. O. BT-Drucks. 12/6000, S. 22 f. A.a.O. A. a. O. Näher Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23, Rn. 126.

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Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

so würde die ohnehin komplizierte und zahlreiche Abgrenzungsfragen aufwerfende Regelung des Art. 23 GG vollends unpraktikabel. Der Einfluß Deutschlands als Nation auf die gesamteuropäische Willensbildung würde von permanentem innerstaatlichen Kompetenzstreit überschattet und dadurch geschwächt. 180 Somit spricht auch die systematische Zusammenschau mit Art. 23 GG gegen eine unbeschränkte Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG.

I V . Ergebnis Die Reform des Art. 72 Abs. 2 GG hat keine präziseren Voraussetzungen für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes hervorgebracht als sie in Nr. 3 der bisherigen Fassung enthalten waren. Die in Nr. 1 und 2 der Ursprungsfassung aufgeführten, vergleichsweise engen und somit möglicherweise in höherem Maße justitiablen Kriterien wurden von der Gemeinsamen Verfassungskommission gestrichen. Nach wie vor sind somit die in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Erforderlichkeitstatbestände primär aufgrund politisch-prognostischer, nicht aber juristischer Wertungen auszufüllen. Das neu eingerichtete Verfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG ändert an diesem Befund nichts, denn der hierdurch zum Ausdruck gebrachte verfassungspolitische Wille des Gesetzgebers hat keine hinreichende Stütze in der als Entscheidungsmaßstab allein anwendbaren neuen Erforderlichkeitsklausel gefunden. Deshalb behalten die Erwägungen des Parlamentarischen Rates ebenso Gültigkeit wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG a. F. und die jene Rechtsprechung bestätigende Bewertung des bis181

herigen literarischen Meinungsstandes. Der Grundsatz der Gewaltenteilung, die Forderungen nach Rechtssicherheit und Normgebundenheit des Richterspruchs, die Wahrung der Autorität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, die Grenzen der Praktikabilität und schließlich auch die über Art. 23 Abs. 5 GG berührte Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Union gebieten, daß Art. 72 Abs. 2 GG weiterhin entsprechend den Grundsätzen des zweiten Ladenschlußgesetz-Urteils des Bundesverfassungsgerichts 182 ausgelegt wird. Zwar hat die durch den Wegfall des „Bedürfnis"-Begriffs sowie die Gesetzesbegründung erfolgte Klarstellung, daß es sich bei den Erforderlichkeitsvor-

180 An die Kräfte zehrende Wirkung aufwendiger juristischer Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern erinnerte bereits Scheuner, DÖV 1966, 513 [517]. 181 Oben §10. 182 BVerfGE 13, 230 [233 f.].

§ 15 Zusammenfassung des dritten Teils

171

aussetzungen jedenfalls um Rechtsbegriffe handelt, zur Folge, daß der Bundesgesetzgeber fortan substantiiert darzulegen hat, aufgrund welcher Erwägungen er die Alternative einer landesrechtlichen Regelung verworfen hat. Bei der rechtlichen Würdigung dieser Erwägungen hat das Bundesverfassungsgericht aber einen weiten politisch-prognostischen Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers zu respektieren. Dessen Entscheidung kann nur bei evidenter Mißachtung der in Art. 72 Abs. 2 GG aufgestellten materiellen Vorgaben verworfen werden.

§ 15 Zusammenfassung des dritten Teils Die anhaltende Kritik an der Wirkungslosigkeit des Art. 72 Abs. 2 GG in der Verfassungspraxis bildete die Basis für Reformbestrebungen, welche von der Enquête-Kommission Verfassungsreform des 7. Bundestages in konkrete Empfehlungen zur Änderung des Grundgesetzes umgesetzt wurden. Der im Jahre 1976 von dieser Kommission vorgelegte Entwurf zur Neufassung des Art. 72 GG sah die Ablösung der Bedürfnisklausel durch eine gestraffte Erforderlichkeitsklausel vor. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen dieser Klausel wurden jedoch weitgehend in Anlehnung an die Bedürfnisalternative Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG a. F formuliert. Allerdings wurde Art. 72 GG in dem Entwurf der Enquête-Kommission um eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an das Bundesverfassungsgericht ergänzt, um den Willen zur Justitiabilität der Neuregelung zu bekräftigen. Dieser Vorschlag war bereits innerhalb der Enquête-Kommission, die zu einem Drittel aus Sachverständigen auf dem Gebiet des Verfassungsrechts bestand, auf massiven Widerstand gestoßen. In mehreren Sondervoten wurde kritisiert, daß dem Bundesverfassungsgericht mit der vorgeschlagenen Neufassung des Art. 72 GG legislative Entscheidungen aufgebürdet würden. Die zunächst nicht realisierte Reformempfehlung der Enquête-Kommission des 7. Bundestages wurde nach der Wiedervereinigung Deutschlands von der Gemeinsamen Verfassungskommission des 12. Bundestages aufgegriffen. Der unvermindert aktuellen verfassungspolitischen Forderung, die Position der Länder bei der Gesetzgebung zu konsolidieren, suchte man auch zwei Jahrzehnte später durch eine Verschärfung der Voraussetzungen für die konkurrierende Bundesgesetzgebung gerecht zu werden. Die Lösung der Gemeinsamen Verfassungskommission unterschied sich nicht wesentlich vom Vorschlag der Enquête-Kommission: Wiederum wurde Art. 72 Abs. 2 GG, aufbauend auf dem bisherigen Bedürfniskriterium gemäß Nr. 3, zu einer Erforderlichkeitsklausel umformuliert; wiederum wurde zusätzlich eine besondere Art der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle - diesmal allerdings nicht in Art. 72 GG, sondern im Zuständigkeitskatalog des Art. 93 GG - eingeführt.

172

Teil 3: Von der Bedürfnisklausel zur Erforderlichkeitsklausel

Die neue Verfahrensart gewährt erstmals auch den Landesparlamenten ein Antragsrecht im Normenkontrollverfahren. Die Kompetenzkataloge der Art. 74 bis 75 GG erfuhren zwar Detailänderungen, wurden jedoch keiner emsthaften Revision unterzogen. Eine Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG fand ebensowenig statt wie eine kritische Reflexion der empfohlenen Lösung, wie sie bei der früheren Enquête-Kommission Verfassungsreform in mehreren eingehenden Sondervoten öffentlich zum Ausdruck gekommen war. Erst im anschließenden Gesetzgebungsverfahren wurden durch Bundesregierung und Rechtsausschuß ähnliche Bedenken erhoben, wie sie in den genannten Sondervoten zum Schlußbericht der Enquête-Kommission geäußert worden waren. Allerdings fand die mit dieser Kritik verbundene Forderung, die von der Verfassungskommission vorgeschlagenen Änderungen bei Art. 72 und 93 GG ersatzlos fallen zu lassen, kein Gehör, da der Bundesrat für diesen Fall damit drohte, das gesamte unter den großen Fraktionen des Bundestages ausgehandelte Paket der Verfassungsänderungen scheitern zu lassen. So wurde die Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission zu Art. 72 Abs. 2 GG lediglich um das zunächst aufgegebene Kriterium der „Wirtschaftseinheit" ergänzt und im übrigen - ebenso wie die neue Verfahrensart gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a GG - geltendes Verfassungsrecht. Eine nähere Betrachtung der Tatbestandsmerkmale des neuen Art. 72 Abs. 2 GG ergibt, daß diese nicht weniger unbestimmt gefaßt sind als die in Nr. 3 der bisherigen Bedürfnisklausel enthaltenen Kriterien. Die Kommissionsbegründung und selbst die Staatsrechtslehre vermochten ebenfalls keine weiteren Gesichtspunkte beizusteuern, welche neue Perspektiven für die Anwendbarkeit der Erforderlichkeitskriterien eröffnet hätten. Deshalb bleiben diejenigen Erwägungen, welche schon unter der Altfassung des Art. 72 Abs. 2 GG für einen weiten Beurteilungsspielraum des Bundesgesetzgebers sprachen - Gewaltenteilung, Rechtssicherheit und Praktikabilität - , auch unter der Neufassung gültig. Hinzu treten die sich verschärfende Überlastung sowie aktuelle Legitimationsprobleme des Bundesverfassungsgerichts und schließlich Abgrenzungsschwierigkeiten im Zusammenhang mit dem neuen Art. 23 GG. A l l dies hat zur Konsequenz, daß die Auslegung des Art. 72 Abs. 2 GG weiterhin an den Grundsätzen der zweiten Ladenschlußgesetz-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu orientieren, unterdessen jedoch die Darlegungspflicht des Bundesgesetzgebers hinsichtlich der Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung zu verschärfen ist.

Gesamtergebnis und rechtspolitischer Ausblick Ebensowenig wie die Staatsrechtslehre hat der verfassungsändernde Gesetzgeber einen Weg aufgezeigt, auf dem die Erforderlichkeit eines konkurrierenden Bundesgesetzes zum Gegenstand umfassender verfassungsgerichtlicher Kontrolle befördert werden könnte, ohne daß die grundgesetzliche Ordnung zugleich an anderer Stelle Schaden nähme. Ein solcher Weg ist auch nicht in Sicht, weil die Bandbreite möglicher Erwägungen, die ein Bundesgesetz im Einzelfall sinnvoll erscheinen lassen, nur durch extrem weit gefaßte Rechtsbegriffe abgedeckt werden kann. Sämtliche in den letzten Jahrzehnten diskutierten Formulierungsvorschläge, darunter auch die von seiten der Länder unterbreiteten, orientierten sich bei allen Unterschieden im Detail stets an der weiten Terminologie in Nr. 3 des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. Hartnäckig wiederkehrende Begriffe wie „Rechtseinheit", „Wirtschaftseinheit", „gleichwertige Lebensverhältnisse" oder „gesamtstaatliches Interesse" sind nicht nur Ausdruck einer gewissen Phantasielosigkeit. Vielmehr belegt ihre ausgeprägte verfassungspolitische Überlebensfähigkeit, daß innerhalb der deutschen Politik offenbar ein Gesamtkonsens dahingehend besteht, die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem weiten Feld der konkurrierenden Gesetzgebung keinesfalls durch rigorose juristische Restriktion zur bloßen Notfall- oder Hilfskompetenz zu degradieren. Die Unbestimmtheit und politische Wertungsbedürftigkeit der Erforderlichkeitskriterien liegt also in der Natur der Sache. Erweist sich somit die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG als Fehlschlag, so dürfte - endlich - eine Erkenntnis zutage treten, zu der bereits die Gemeinsame Verfassungskommission hätte gelangen können, wenn sie sich mit dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund der Vorschrift auseinandergesetzt hätte: die Erkenntnis, daß eine wie auch immer formulierte Bedürfnis- oder Erforderlichkeitsklausel ein prinzipiell ungeeignetes, weil dem grundgesetzlichen Kompetenzsystem wesensfremdes Mittel darstellt, die Länderzuständigkeiten im Bereich der Gesetzgebung zu schützen. Damit wäre der Weg zu einer Nachbesserung des Grundgesetzes geebnet1, bei der Bund und Länder einen auch künftig gesicherten Umfang von Gesetzgebungskompetenzen der Länder verbindlich festlegen müßten, ohne das Problem nach Karlsruhe zu deligieren. Dies könnte etwa durch die Einfügung

1

Diese Option sieht auch Hendler, DÖV 1993, 292 [296].

174

Gesamtergebnis und rechtspolitischer Ausblick

künftig entstehender oder durch die Verschiebung bereits vorhandener Kompetenztitel in die Rahmengesetzgebung erfolgen, die nunmehr aufgrund der Neufassung des Art. 75 GG in Verbindung mit der einschlägigen - und noch entwicklungsfähigen - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 2 zuverlässiger gegen die übermäßige Ausweitung des Bundesrechts gesichert werden kann. Möglich und wünschenswert ist andererseits, daß der Bund die mit der Grundgesetzreform zum Ausdruck kommende verfassungspolitische Strömung auch ohne juristischen Zwang umsetzt. Dies könnte sich in Form einer „aktiven Dezentralisierungspolitik" 3 äußern, mit welcher der Bund mehr Zurückhaltung zugunsten der Länder bei der Inanspruchnahme seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen üben, vor allem aber von der Option des neuen Art. 72 Abs. 3 GG intensiven Gebrauch machen würde. Nicht zuletzt diente dies der Entlastung des Bundesgesetzgebers, wodurch dieser die Möglichkeit erhielte, seine personellen und zeitlichen Mittel auf die wirklich wesentlichen gesetzgeberischen Projekte zu konzentrieren. Die aufgrund der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG festgestellte Verpflichtung zu vertiefter Darlegung der Erforderlichkeit eines Bundesgesetzes könnte in dieser Hinsicht Wirkung entfalten, indem sie die Diskussion um Alternativen zur umfassenden bundesgesetzlichen Regelung belebt.

2 3

BVerfGE 4, 115 [129 f.]; 7, 29 [41 f.]; 36, 193 [202]. Scholz/Meyer-Teschendorf, ZRP 1996, 404 [405].

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