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German Pages 246 Year 2005
René Ceballos Der transversalhistorische Roman in Lateinamerika
TCCL - TEORÍA Y CRÍTICA DE LA CULTURA Y LITERATURA INVESTIGACIONES DE LOS SIGNOS CULTURALES (SEMIÓTICA-EPISTEMOLOGÍ A-INTERPRETACIÓN) TKKL - THEORIE UND KRITIK DER KULTUR UND LITERATUR UNTERSUCHUNGEN ZU DEN KULTURELLEN ZEICHEN (SEMIOTIK-EPISTEMOLOGIE-INTERPRETATION) TCCL - THEORY AND CRITICISM OF CULTURE AND LITERATURE INVESTIGATIONS ON CULTURAL SIGNS (SEMIOTICS-EPISTEMOLOGY-INTERPRETATION) Vol. 30 EDITORES/HERAUSGEBER/EDITORS: Alfonso de Toro Ibero-Amerikanisches Forschungsseminar Universität Leipzig [email protected] Dieter Ingenschay Institut fiir Romanistik Humboldt-Universität zu Berlin [email protected] Rafael Olea Franco El Colegio de México [email protected] Michael Rössner Institut für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München [email protected]
CONSEJO ASESOR/BEIRAT/PUBLISHING BOARD: Uta Feiten (Leipzig), Christopher Laferl (Salzburg), Gerhard Wild (Frankfurt am Main)
René Ceballos
Der transversalhistorische Roman in Lateinamerika Am Beispiel von Augusto Roa Bastos, Gabriel García Márquez und Abel Posse
Vervuert • Frankfurt am Main 2005
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Diese Arbeit ist Bestandteil des internationalen und transdisziplinären Projektes „Interkulturelle und interdisziplinäre Kommunikation in der Postmoderne und Postkolonialität. Lateinamerika und die Vielfalt der Diskurse", geleitet von Prof. Dr. Alfonso de Toro, Universität Leipzig, und unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Bonn. Vorliegende Arbeit wurde von der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig unter dem Titel „Der transversalhistorische Roman in Lateinamerika am Beispiel von Augusto Roa Bastos, Gabriel García Márquez und Abel Posse" im Jahre 2003 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Dr. phil. angenommen. Die Publikation dieser Arbeit wurde aufgrund eines Druckkostenzuschusses der Sparkasse Leipzig ermöglicht.
Alle Rechte vorbehalten © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2005 Wielandstr. 40 - D-60318 Frankfurt am Main T e l . : + 4 9 69 597 46 17 Fax: +49 69 597 87 43 [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 3-86527-238-X Umschlagentwurf: Michael Ackermann unter Verwendung der Fotografie Columbus' Mistake © Fotografie: Benjamin Knorrn Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Gedruckt in Spanien B-45.688-2005
Für Silvia, Johannes und Emilio
[...] nur mit ungenauen Ausdrücken kann man etwas genau bezeichnen. [...] die Ungenauigkeit ist keineswegs eine Annäherung, sie ist im Gegenteil der genaue Verlauf der Ereignisse. (Deleuze/Guattari 1976/1977: 33)
No es, pues, el lenguaje hablado el que diferencia al hombre del animal, sino la posibilidad de fabricarse un lenguaje a la medida de sus necesidades. (Roa Bastos 1974/ 2 1987: 159)
Danksagung
Für die wertvolle Unterstützung, Anregungen und zahlreichen Gespräche, die für die Anfertigung dieser Arbeit notwendig und hilfreich waren, möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Alfonso de Toro bedanken, der diese Dissertation betreut hat. Danken möchte ich auch Frau Dr. Claudia Angehrn für ihre stets hilfreichen Kommentare und Hinweise. Frau Dr. Claudia Gronemann, Frau Dr. Cornelia Sieber und Mirjam Metzger möchte ich auch einen großen Dank aussprechen, weil sie mich in stilistischen Fragen unterstützten, die Arbeit bei der Endredigierung lasen und mir wertvolle Hinweise gaben. Sehr herzlich möchte ich Silvia Ceballos für ihre geduldige, bedingungslose und ununterbrochene Unterstützung danken.
René Ceballos
INHALTSVERZEICHNIS 0.
Einleitung
1.
Von traditioneller zur postmodernen Auffassung der Geschichte... 15 1.0 Allgemeines 1.1 Geschichte als spezifisch kulturelle Größe 1.2 Zum Begriff Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert 1.2.1 Geschichtsverständnis im 18. Jahrhundert 1.2.2 Geschichtsverständnis im 19. Jahrhundert 1.3 Das 20. Jahrhundert: Wendepunkt der Geschichtsschreibung 1.3.1 Die Schule der'Annales' 1.3.2 Postmoderne und Geschichte 1.3.3 Kein Ende der Geschichte, nur eine Veränderung 1.3.4 Das geschichtliche Wissen, die geschichtliche Wahrheit und ihre Repräsentation
II.
Dichtung, Geschichte und deren "Erzählung"
2.1 Dichtung und Geschichte im Verhältnis zueinander 2.2 Geschichte erzählen oder Erzählen in der Geschichtsschreibung. Eine rhetorische Frage? 2.3 Erzählung als Erkenntnisprinzip?
III.
Vom traditionellen historischen zum transversalhistorischen Roman
3.1 Der traditionelle historische Roman in Lateinamerika 3.2 Warum transversal und nicht einfach neu? 3.2.1 Transversalität 3.3 Der transversalhistorische Roman 3.4 Das Historische im transversalhistorischen Roman 3.4.1 Das historische Subjekt im transversalhistorischen Roman 3.4.2 Zur Dekonstruktion im transversalhistorischen Roman 3.5 Epistemologische Verortung des transversalhistorischen Romans 3.6 Merkmale des transversalhistorischen Romans: £>e/g«/.shaftigkeit, Hybridität, Autoreferentialität und Metadiskursivität 3.6.1 Antimimetische Autoreferentialität und historiographische Metafiktion 3.6.2 Das Ereignis im transversalhistorischen Roman 3.6.3 Hybridisierung im transversalhistorischen Roman: der F-Faktor 3.7 Zusammenfassung
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15 16 21 22 24 26 27 32 39 42
47 47 49 60
67 67 69 73 75 82 85 89 91 99 100 104 110 114
IV.
El general en su laberinto oder die Entidealisierung eines Helden
4.1 Reisevorbereitung oder wie die Fiktion die Lücken der Geschichtsschreibung ausfüllt 4.2 Bolívar und die Frauen 4.3 Bolívar, der Mensch 4.4 Die Remythologisierung von Bolívar 4.5 Die (Des)Artikulation des Körpers 4.6 Der andere Bolívar V.
119 124 129 135 139 144
Vigilia del Almirante: Übersetzung der Schrift und kulturelle Translation 5.1 Die Neue Welt des Kolumbus 5.1.1 Ankunft in der Neuen Welt 5.1.2 Entdeckung und Verdeckung der Neuen Welt 5.1.3 Die Erfindung der Neuen Welt 5.2 Die Wiedererfindung von Kolumbus 5.2.1 Die Kon-Figuration von Kolumbus 5.2.2 Die Namen von Kolumbus oder der schreibbare Kolumbus 5.2.3 Colón y sus precursores 5.2.4 Kolumbus ist Don Quijote ist Kolumbus ist
VI. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 VII.
119
147 148 148 151 159 162 162 165 172 175
Los perros del paraíso, eine andere Sicht der Entdeckung
181
In-Version und (AufiBegehren der Geschichte Die Verwindung der Zeit Die Wiederholung der Geschichte Die Einschreibung in die Geschichte Kolumbus der Auserwählte, der Körper und das Paradies
181 184 189 193 196
Yo el Supremo: Verschiebung der Schrift und der Geschichte
205
7.1 Wieder- und Widerschreiben der Geschichte 7.1.2 Eine andere Repräsentation des Diktators 7.2 Hinter der (Schmäh-)Schrift ist vor dem Roman 7.3 Die Schrift im Dazwischen
Dissemination
206 214 217 219
VIII. Zusammenfassung
227
IX. Bibliographie 9.1 Primärliteratur 9.2 Sekundärliteratur
229 229 229
11
0.
Einleitung
Die vorliegende Arbeit schreibt sich prinzipiell in den Kontext der Literaturwissenschaft ein. Aufgrund der Fragestellung, welcher epistemologischen Strategien sich Romanautoren bedienen, um eine Dekonstruktion der Historiographie herbeizufuhren, erweist es sich als notwendig, einen Exkurs über die traditionelle Geschichtstheorie im Allgemeinen und über das modifizierte Geschichtsverständnis im 20. Jahrhundert im Besonderen voranzustellen. Es soll auch darauf hingewiesen werden, dass in einigen Fußnoten zusätzliche Begriffserklärungen und Informationen eingefugt worden sind, die für Historiker als selbstverständlich gelten können, nicht aber fur Literaturwissenschaftler. Bei der Fragestellung geht es um die Analyse von fiktional-historischen Romanen, die angesichts ihrer Vertextungsverfahren in dieser Arbeit als transversalhistorisch bezeichnet werden. Dieser Begriff möchte im Gegensatz zu der verbreiteten Bezeichnung "neuer historischer Roman" bereits in seiner Wortzusammensetzung das Verhältnis zwischen dem Diskurs traditioneller und neuer Historiographie einerseits und der Fiktion andererseits problematisieren. Der so bezeichnete Romantypus ist aufs engste mit grundlegenden Fragestellungen der neuen Geschichtsschreibung bzw. der neueren Geschichtsphilosophie verbunden. Das heißt, im Diskussionskontext einer Erneuerung des Geschichtsverständnisses werden jene Aspekte aufgegriffen, die fur die Analyse transversalhistorischer Romane von Bedeutung sind. Die intensiven Theoriediskussionen im Bereich der Geschichts- und Sozialwissenschaften eröffnen neue Perspektiven für die Interpretation literarischer Texte. Ein Teil der Diskussion in diesem Bereich wird von der "nouvelle histoire" gefuhrt, die auf den programmatischen Arbeiten von Marc Bloch und Lucien Febvre beruht. Mit der Gründung der Zeitschrift Annales d'histoire économique et sociale (nach dem Zweiten Weltkrieg: Annales. Economies. Sociétés. Civilisations) schufen sie die Grundlagen der neuen Geschichtsschreibung. Ihre Geschichtskonzeption basiert in erster Linie auf einer Abkehr von monokausalen Erklärungen. Gleichzeitig wendet sie sich von der traditionellen reinen Faktengeschichte ab. Historiker der so genannten Annales-Schule bemühen sich um eine interdisziplinäre Arbeit mit anderen Fachbereichen und versuchen, den Menschen in seiner alltagsweltlichen Totalität zu erfassen, sowie die bloße Chronik durch die Beschreibung von langfristig stabilen Strukturen ("longue durée") zu ersetzen. Die Ansätze der "nouvelle histoire" weiterführend werden die Thesen von Hayden White im Kontext der so genannten Metahistory mit berücksichtigt. White geht vom gleichen Status des historiographischen und fiktionalen Diskurses aus, insofern er eine durch das Erzählen konstituierte Tiefenstruktur ausmacht. Der Historiker vollzieht White zufolge einen im Grunde poetischen Akt, der das historische Feld präfiguriert und den Bereich bildet, in dem er die speziellen Theorien entwickelt, die zeigen sollten, wie Geschichte geschrieben wird. Mit dieser Auffassung stellt White
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Einleitung
den Wahrheitsanspruch der Geschichtsschreibung in bisher nie da gewesener Form in Frage. Die Entgrenzung der Geschichtsschreibung, wie sie die Annales-Historiker praktizieren, und die von White festgestellte Gleichstellung von historischen und fiktionalen Texten auf der Erzählebene spielen eine große Rolle für die Etablierung einer anderen Geschichtskonzeption. Vor diesem Hintergrund kann die Geschichtsrepräsentation in den zu analysierenden Romanen auch als eine andere Art, Geschichte zu schreiben, verstanden werden. Die nur kurz erläuterten Veränderungen im Geschichtsverständnis im Zusammenhang mit der Philosophie poststrukturalistischer Prägung bieten ein Instrumentarium an, das die ausgewählten Romane unter einer anderen Perspektive zu analysieren erlaubt. Vor allem weil diese Romane eine ähnliche Fragestellung aufwerfen und das Schreiben der Geschichte ständig thematisieren, stellen transversalhistorische Romane ebenfalls eine Entgrenzung der traditionellen Geschichtskonzeption dar. Die in diesen Romanen wiederholt auftauchende Problematisierung des Schreibens von Geschichte bildet eine Schnittstelle zu aktuellen Tendenzen der Geschichtsschreibung, aber auch zu den poststrukturalistischen Vorstellungen des Schreibens und der Sprache im Allgemeinen. Lange Zeit dominierte die Überzeugung von einer gezielten und stabilen Sprachbedeutung. Sogar die deskriptive und bedeutende Macht der Sprache wurde als präzise Ausdrucksform erachtet, so dass Bezeichnendes und Bezeichnetes als äquivalent galten. Dementsprechend konnte selbst die 'Ordnung der Dinge' in einer dialektischen Weltanschauung von binären Oppositionen gedacht werden. Auf diese Weise war es auch möglich eine Macht auszuüben, die sich von den kolonialen Diskursen bis zur Kontrolle elitärer Regierungsgruppen ausdehnte. Heute aber hat die semiotische Perspektive der Sprachfunktion eine Vielzahl von Ausweichmöglichkeiten eröffnet: Die Wege fuhren demnach zu einer Sprache hin, die sich durch ein permanentes Fluktuieren der Signifikation, durch Zeicheninstabilität und durch pluralistische Differenzierungen charakterisiert. Die Primärtexte dieser Arbeit bilden einen literarischen Aspekt dessen, was als das Epistem1 der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Sie stellen ein Repräsentationssystem dar, welches nicht mehr in traditioneller, d. h. mimetischer Form funktioniert, sondern vielmehr durch semantische Fluktuation und Instabilität, Diskontinuitäten, ahierarchische Unterteilungen, Pluralität, Juxtaposition u. ä. der unterschiedlichen Diskursarten gekennzeichnet ist. Die Autoren dieser Texte bevorzugen die erwähnten Charakteristika für die Wiedergabe bestimmter historischer Ereignisse; hinzu kommt noch die Anwendung einer narrativen Strategie, die unter dem Begriff der Metafiktionalität bekannt geworden ist. Das Modellhafte der ausgewählten Romane liegt in der thematischen Behandlung von drei Schwerpunkten der lateinamerikanischen Geschichte: der Entdeckung 1
Den Begriff Epistem verwende ich in Anlehnung an Foucault: "Darunter versteht er das dem alltäglichen Wissen, der Wissenschaft und der Philosophie einer Epoche zugrundeliegende, kognitive Ordnungsschema" (Fink-Eitel 1997: 38)
Einleitung
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Amerikas, der politischen Diktaturen und der sogenannten Helden der Geschichte (z. B. Kolumbus oder Bolivar).2 Diese Texte tragen mit ihrer Geschichtsdarstellung zur Beseitigung der sich mit der Zeit gebildeten "leyendas negras" um bestimmte historische Ereignisse und Persönlichkeiten bei und demonstrieren mit Nachdruck, dass die Geschichte eine Konstruktion ist. Gerade in diesem Punkt stimmt die angesprochene Korrespondenz der Romane mit der poststrukturalistischen Philosophie überein, insofern beide das Schreiben als eine Tätigkeit bezeichnen, die keinen endgültigen Sinn hervorbringt oder sucht. Das Schreiben von Geschichte kann als eine Art Reise verstanden werden, die von Sinn zu Sinn irrt, denn die Romane stellen nicht nur eine Reise oder einen Reisebericht dar, sondern konstituieren im übertragenen Sinne eine Sinnverschiebung, wie im Akt des Diktierens, Schreibens und Lesens in Yo el Supremo exemplifiziert werden kann. Beide Betrachtungsweisen schließen das semantische Feld der Bewegung mit ein, aufgrund derer sich kein allein gültiger Sinn konkretisiert. Wenn die Perspektive der Analyse weiterhin die Metaphorik der Bewegung verwendet, dann könnte weiterhin gesagt werden, dass diese Romane Fluchtlinien repräsentieren, mit deren Hilfe Expeditionen zum Anderen gestartet werden können. Dieses Andere wird aber nicht erklärt, sondern erkundet', seine Andersheit wird lediglich exploriert, weil das Andere nicht sagbar ist, es befindet sich jenseits der Sprache. In diesem Zusammenhang ist relevant, die Diskussion über die neue Geschichtsschreibung durch den transversalhistorischen Roman in Verbindung mit den Theorien des Postkolonialismus zu analysieren, da diese einen anderen Blick auf die Problematik verschaffen. Dementsprechend ermöglichen die ausgewählten Texte eine andere Perspektive in der Darstellung historischer Ereignisse, weil sie nicht auf eine Diskursart fixiert oder limitiert ist. Bei den ausgewählten Romanen handelt es sich um Geschichten, die ihren fiktionalen Status erkennen lassen, die aber mit dieser Anerkennung gleichzeitig die vermeintliche Bedeutungsstabilität der historiographisehen Ereignisdarstellung in Frage stellen, indem sie die Konstrukthaftigkeit und Verfahrensmechanismen der écriture von Geschichte offenbaren. Bei den transversalhistorischen Romanen geht es um eine Verdeutlichung dieser Konstrukthaftigkeit als einem Diskurs des Imaginären, der jedoch eine Art Pakt der Wahrhaftigkeit vorgibt, abgeschlossen zu haben. Das Bemühen der Historiographie, diesen Pakt aufrechtzuerhalten, wird in den Romanen auf einer metafiktionalen Ebene thematisiert und zum Teil mit stark ironisierenden Momenten hinterfragt. Zugespitzt formuliert kann behauptet werden, dass diese Romane Geschichte und nicht nur historisierende Fiktionen sind. Hierbei handelt es sich um Diskurse, die sich trotz ihres Bekenntnisses zur Fiktionalität als geschichtlich ausge-
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Diese Thematik trifft auf die hier behandelten Romane zu. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich in erster Linie mit Romanen aus den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas, dennoch sind die allgemeinen theoretischen Charakteristika transversalhistorischer Romane auch in anderen Ländern zu finden. Aus Brasilien können beispielsweise folgende Romane erwähnt werden: Viva o povo brasileiro von Joäo Ubaldo Ribeiro (1984 erschienen) und Boca do Inferno von Ana Miranda (1989 veröffentlicht).
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Einleitung
ben (durch die Einbeziehung historisch verifizierbarer Fakten), womit sie zugleich als eine neue Geschichtsschreibung charakterisiert werden können. Entscheidend ist, dass sie nicht die getreue Wiedergabe der Realität im Sinne der traditionellen Mimesis beanspruchen, sondern sich für narrative Mittel interessieren, mit deren Hilfe sie Realität erzeugen, sie repräsentieren und sich ihrer bemächtigen, um damit Geschichtein) und nicht die Geschichte wiederzuschreiben. Die Autoren solcher Romanen behandeln die Geschichte mit der Maske der Fiktionalität und präsentieren sich als Dichter-Historiker, die darum bemüht sind, beide Bereiche der Repräsentation (Geschichte und Fiktion) als sich überlappend darzustellen, ohne definitive Grenzen zwischen ihnen zu ziehen. Und nicht zuletzt kann die gut ausgewogene Repräsentation dieser Gratwanderung als einer der Gründe für den sowohl nationalen als auch internationalen Erfolg dieser Romane gelten.
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I.
VON TRADITIONELLER ZUR POSTMODERNEN AUFFASSUNG DER GESCHICHTE Once upon a time, in the realm of literary theory, 'history' stood as an unchallengeable reference-point, a solid and never-failing base for a radical and conservative alike; now it has become a question difficult enough to generate a noisy debate with no obvious prospect of agreement or compromise. (Attridge 1993: 183)
1.0 Allgemeines Bekanntlich schließt das Wort "Geschichte" zwei voneinander abhängige Bedeutungen ein: Die Geschichte bezeichnet einerseits einen Prozess und andererseits eine (literarische oder nicht-literarische) Erzählung. Neben dem Begriff "Geschichte" finden sich Synonyme wie "Historie" bzw. "Historia", die mehr oder weniger auf einen ähnlichen Sachverhalt verweisen und zum Teil undifferenziert verwendet werden. Im Folgenden wird nicht der Versuch unternommen, eine exhaustive Geschichte der Geschichtswissenschaft darzustellen. Es ist auch nicht beabsichtigt, eine breit angelegte sprachgeschichtliche Rekonstruktion der Begriffe "Geschichte" bzw. "Historie/Historia" anzubieten. Vielmehr soll die Entwicklung des Geschichtsbegriffs skizziert und den Weg verfolgt werden, den dieser bis zum heutigen Geschichtsverständnis zurückgelegt hat. Angesichts der ununterbrochenen Diskussion - auch in der Literaturwissenschaft - um den Geschichtsbegriff und das Geschichtsverständnis (von den Anfangen bis zur Gegenwart) wird weiterhin keinen Anspruch auf Vollständigkeit in der semantischen Analyse dieses Begriffs erhoben. Die folgenden Abschnitte sollen deshalb als ein Exkurs verstanden werden, um einige für meinen Argumentationszusammenhang zentrale Aspekte - wie das Verhältnis zwischen narrativ fiktionalen und (narrativ) historischen Texten - zu beschreiben. In diesem Kontext soll die Erläuterung des historischen Denkens auf seiner Objekt- und Metaebene erfolgen. Die erste Ebene umfasst den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart und den für die kulturelle Organisation des menschlichen Lebens wichtigen Darstellungsaspekt des Geschichtlichen. Auf der zweiten Ebene findet die Reflexion über jene Verfahren statt, die für die Darstellung und Vergegenwärtigung des Vergangenen in der menschlichen Lebenspraxis notwendig sind. Objekt- und Metaebene stellen deshalb zwei voneinander nicht trennbare Bereiche dar, wenn gleichzeitig der Entstehungsweg und das Selbstverständnis einer Wissensdisziplin wie der Geschichtsschreibung analysiert werden. Das Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander hat mit größerer oder minderer Beachtung - in verschiedenen Textsorten wie Vorworten, Einleitungen oder Festreden - von der Antike bis zur Postmoderne die Diskussion über den Charakter der Geschichtsschreibung begleitet (vgl. dazu Rüsen 1997a: 80-99).
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Auffassung der Geschichte
1.1 Geschichte als spezifisch kulturelle Größe Wird später von dem geschichtlichen Gehalt des Fiktionalen oder von der in fiktionalen Texten enthaltenen "historischen Wahrheit" die Rede sein, dürfte es nützlich sein, die Frage in Erinnerung zu bringen, was Geschichte ausmacht. Da der Begriff Geschichte im Laufe der Zeit - in verschiedenen Epochen und Kulturen - unterschiedlich konnotiert wurde, sollte die gestellte Frage folgendermaßen spezifiziert werden: Was ist Geschichte zu einem spezifischen kulturellen Zeitpunkt? Mit dieser Festlegung möchte ich die räumlich-zeitlichen Grenzen respektieren, die einen Begriff kulturell markieren. Eine Begriffsbegrenzung ist vonnöten, weil sich Begriffe in einer spezifischen Form entwickeln und mit der Zeit überhaupt erst entstehen können.' So zum Beispiel scheint die Unterscheidungslinie zwischen dem Begriff Geschichte und jenem der Poesie oder Literatur zum Teil sehr dünn zu sein, so sehr, dass uns manchmal das semantische Feld des Poesiebegriffs umfassender als jenes der Geschichte vorkommt. Dieser Fall tritt beispielsweise bei der Lektüre von Aristoteles' Poetik auf, wenn wir auf die Passage stoßen, welche die Dichtung als etwas "Philosophischeres und Ernsthafteres als die Geschichtsschreibung" auffasst (1451 b/1982:29; ausführliches Zitat unter Punkt 2.1 dieser Arbeit); eine Aussage, die auf den ersten Blick dem Begriff "Poesie" eine größere semantische Breite zugesteht. Bekräftigt wird diese Annahme dadurch, dass der Dichtung die Aufgabe der Nachahmung zugeteilt und vorbehalten wird, womit Aristoteles den Wirkungskreis der Dichtung weiter ausdehnt. Der Geschichtsschreibung bleibt demnach die Beschreibung des Partikulären reserviert. 2 Die Notwendigkeit, eine Eingrenzung des Geschichtsbegriffs vorzunehmen, zwingt mich, für das bereits erwähnte Vorhaben (Darstellung vom Verhältnis Fiktion und Geschichte) zunächst auf einen Begriff von Geschichte zu entscheiden. Der Geschichtsbegriff, mit dem ich arbeiten möchte, erfolgt aus der Betrachtung seiner Entwicklung aus heutiger Perspektive. In dieser Hinsicht richte ich mich nach einem entgrenzten Geschichtsbegriff, der im 20. Jahrhundert zu Tage getreten ist. Die Geschichtswissenschaft bildet eine Disziplin, welche - ihre Entwicklung betrachtend - Veränderungen unterliegt und Veränderungen vornimmt. Charakteristisch dafür sind unterschiedliche Geschichtskonzeptionen. So versteht Marc Bloch (1988:26) in seiner Apologie den Begriff Geschichte als die "Wissenschaft von Menschen in der Zeit". "Geschichte" heißt weiter bei Rainer Piepmeier (1983: 10) "die jeweils gegenwär-
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Mit der Eingrenzung auf einen bestimmten Zeitraum soll der semantische "Nullpunkt" nicht festgelegt werden, an dem der Begriff Geschichte entstanden ist. Die Intention liegt mehr darin zu zeigen, wie wir zum heutigen Geschichtsverständnis gekommen sind. Vor allem versuche ich, klarzustellen, dass der Geschichtsbegriff- wie jeder andere auch - sehr stark von den epochalen Begebenheiten beeinflusst wird.
2
Die Haltung, die dem Umgang mit Geschichte etwas "Ernstes" verleihen möchte, reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Sie ist nach Horst Günther dennoch nicht in erster Linie auf Aristoteles zurückzufuhren, sondern eher auf Descartes, der "das Arsenal des Vergangenen als 'historia'" abwertet und dem Begriff Wissenschaft einen höheren ("produktiveren") Rang zuschreibt (vgl. Günther 1979: 217-218).
Kapitel I
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tige, symbolisch vermittelte Rekonstruktion vergangenen Geschehens", und sie ist nach Hans-Jürgen Goertz (1998: 34) "Wissenschaft als historia rerum gestarum". Kurz gesagt: Die Geschichtswissenschaft ist eine Disziplin, welche den Wandel der Menschen in der Zeit untersucht und die Methoden und Regeln unterworfen ist, die aber keinesfalls statisch in ihren Annahmen bleibt. Weiterhin erfasse ich die Geschichte als Resultat und (narrative) Darstellung einer von der (Geschichts-)Theorie bestimmten historiographischen Arbeitsweise, die trotz aller angestrebten Objektivität ein gewisses Quantum an Subjektivität enthält und erlaubt. Die Konzeption von Geschichte als Wissenschaft ist eine relativ neue Idee. Dieser wissenschaftliche Geschichtsbegriff ist nach Goertz (1998: 30) eine Erfindung des 18. Jahrhunderts: Seine Entwicklung "bahnte sich in der Aufklärungszeit an und setzte sich im Historismus des 19. Jahrhunderts durch".3 Der wissenschaftliche Diskurs der Geschichte (der Historiographie) wird - wie jener anderer Wissenschaften - grundsätzlich dadurch charakterisiert, dass er institutionell sanktioniert ist: "Es gibt kein historisches Erzählen, wenn nicht die Beziehung zu einem Gesellschaftskörper und eine Wissensinstitution expliziert wird" (M. de Certeau 1991: 112; s. auch dazu ibd.: 76-82). Die Historiographie bzw. die Geschichte birgt in sich eine Doppelfunktion: GeschichteMachen und Geschichten-£rzäWe/? (vgl. M. Certeau 1991: 114), ein Merkmal, das bereits von Hegel unterstrichen wurde, mit dem Unterschied jedoch, dass für ihn mehr die Frage nach dem Politischem der Geschichte im Vordergrund stand: Geschichte vereinigt in unsrer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite und bedeutet ebenso gut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung. Diese Vereinigung der beiden Bedeutungen müssen wir für höherer Art als für eine bloße äußerliche Zufälligkeit ansehen [...]. [...] Aber der Staat erst führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, sondern sie selbst miterzeugt. (Hegel 1989: 114)
Eine heutzutage verbreitete Auffassung des Begriffs Geschichte bietet Michel de Certeau (1991:72), der den Begriff Geschichte im Sinne der Geschichtsschreibung gebraucht. Er versteht sie als "eine Praxis (eine Disziplin), ihr Ergebnis (einen Diskurs)" und das Verhältnis von beiden zueinander. Geschichte wird vor allem immer als geschriebene Geschichte verstanden. Denn all das Ungeschriebene, was zur Geschichte auch gehören könnte, aber ungeschrieben bleibt, wird ihr nicht zugerechnet und als mythische Ge3
Blanke (1994:63-64) bemerkt, dass im 19. Jahrhundert Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) und Leopold von Ranke (1795-1886) allgemein als die Begründer der "Verwissenschaftlichung" der Geschichte angesehen wurden. Dennoch fiigt er hinzu, dass es seit der deutschen Spätaufklärung "Geschichts'wissenschaft"' gibt (ibd.: 65). Vgl. auch dazu H. Schleier (1994:67-68), der Blankes Meinung teilt, die Geschichte habe in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen Impuls hinsichtlich ihrer Verwissenschaftlichung erfahren, jedoch den "Beginn einer neuzeitlichen Wissenschaft bereits im 17. Jahrhundert" ansetzt. Der Historiker Georg G. Iggers unterscheidet deutlich zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsw/sseracta/?. Unter dem ersten Begriff versteht er die traditionelle Vergangenheitsüberlieferung, unter dem zweiten "eine Erscheinung der modernen westlichen Welt", deren Entstehung "mit der Etablierung der Geschichte als ein Fach, das an Universitäten gelehrt und studiert wird" zusammenfallt (vgl. Iggers 1996: 16).
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Auflassung der Geschichte
schichte bezeichnet. In dieser Hinsicht stellt Heinz Krumpel am Beispiel von Schelling fest: Für Schelling ist mythisch diejenige Geschichte, welche Sagen aus einer Zeit enthält, in der die Begebenheiten noch nicht schriftlich aufgezeichnet werden konnten und nur mündlich weitergegeben wurden. (Krumpel 1992: 43)
Für den Historiker Reinhart Koselleck (21990: 211-212; 1995: 58-60) steht fest, dass, sobald sich die Geschichte als Wissenschaft etabliert, sie eine prinzipielle Aufgabe erfüllen sollte: sich mit den Zeitstrukturen beschäftigen, sowohl in der Geschichte im Singular als auch in den Geschichten im Plural. Solch eine Forderung wird von der Geschichtswissenschaft in gestärktem Maße in einer narrativen Art und Weise gelöst und zur Hauptunterscheidung zu den anderen Disziplinen innerhalb der Geisteswissenschaften gemacht.4 Um dieses Ziel zu erfüllen, erweist es sich als notwendig, eine deutliche Differenzierungslinie zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit zu ziehen. Allein die Ziehung einer deutlichen Grenze zwischen Zeit und Raum, zwischen dem Ort ihrer Untersuchung und jenem Ort, von wo aus sie agiert, fuhrt die Geschichte zu einer Position, die ihr einen allwissenden Hauch verleiht. Durch ihren Umgang mit der Zeitdarstellung und Zeitreduzierung kann sich die Geschichtsschreibung deshalb "höher" als der Leser einordnen, weil sie näher zu dem ist, "was autorisiert" (vgl. de Certeau 1991:120). Mit anderen Worten, die Geschichtsschreibung weiß mehr als ihre Leser; ihr Wissen basiert auf dem ihr durch die Disziplin gewährten institutionellen Rückhalt. Insofern könnte auch behaupten werden, dass der Diskurs einer historischen Darstellung ein auktorialer Diskurs ist. Den allwissenden Ton gewinnt die Geschichte aus ihrem Selbstverständnis heraus und aus ihren im 17. Jahrhundert etablierten Konstitutionsprinzipien (vgl. dazu Günther 1979:220 ff.). Hinzu kommt, dass die a priori gesetzten "narrativen Achsen" einer historischen Darstellung über einen deutlich definierten Anfang und ein Ende verfügen (vgl. dazu Stierle 1979: 92-97; Stempel 1990: 328 ff.), d.h. der Historiker weiß bereits, was in seiner (unserer?) Geschichte passiert, wie sie beginnt und wie sie enden wird (im Gegensatz zu Romanautoren, die öfters beteuern, sie seien von ihren Figuren 4
Vgl. Koselleck ( 2 1990: 212): Die Hintergrundsfrage nach den Zeitstrukturen soll es ermöglichen, spezifisch historische Fragen zu stellen, die auf geschichtliche Phänomene zielen, die von anderen Wissenschaften nur unter anderen Gesichtspunkten erschlossen werden. [...] Nur die zeitlichen [...] Strukturen können den historischen Erfahrungsraum 'sachimmanent' als einen eigenen Forschungsbereich gliedern. Vgl. dazu auch Günther (1979: 197): Die Einschränkung der historischen Zeit auf eine vorbildliche Epoche oder die Zerstückelung der ganzen Überlieferung [...] begründete die philologischhistorischen Wissenschaften [...]. Ähnlich hebt Rüsen (1982: 134) die besondere Stellung der Zeitkomponente für die narrative historische Darstellung hervor: In der "Sprachhandlung bildet sich 'Geschichte' als Sinngebilde einer gedeuteten Zeiterfahrung".
Kapitel I
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geleitet worden). Obgleich der Historiker die Anzahl der Fakten kontrollieren kann, um eine möglichst umfassende Geschichte zu schreiben, bleibt diese Geschichte per se unvollkommen. Das Schreiben der Geschichte wird somit einem unendlichen Prozess unterzogen, bei dem sich die Summe der Einzelfakten ständig erneuert und ergänzt. Es handelt sich um einen ständigen Aktualisierungsprozess, der, zugespitzt formuliert, in einer unendlichen Kreisbewegung verläuft: Die neueste Geschichte wird dann immer die bestinformierte sein. Paradoxerweise wird die fertig geschriebene Geschichte schnell obsolet. Trotzdem, dank ihres rektifizierenden Charakters wird sie mehr als ihre Leser wissen.5 Sie wird immer aus irgendeiner Gegenwart heraus geschrieben, dennoch heißt das nicht, dass die jeweilige Gegenwart als Telos oder als Erfüllung alles Vorhergehenden angesehen werden muss (Piepmeier 1983: 12). Die Gegenwart des Autors eines geschichtlichen Werkes ist wichtig, weil sie den zeitlichen Raum darstellt, aus dem eine bestimmte Interpretation vorgenommen wird. Diese zeitliche Positionierung gewinnt an Bedeutung, wenn nachfolgende Generationen ein historisches Phänomen von einer vergangenen Zeit aus der gegenwärtigen Perspektive analysieren wollen. Erst im Laufe der Zeit kann irgendein Ereignis als ein mögliches Resultat des Vorhergewesenen interpretiert werden, denn unser Gegenwartsverständnis ergibt sich zum Teil aus dieser Interpretation von Vergangenem. Zugleich impliziert diese Interpretation die Auswahl und Anordnung der unterschiedlichen gegebenen Tatsachen. Auf diese Weise verfahrt die Geschichtsschreibung, was nicht den Verdacht der Verfälschung hervorrufen soll. Diese Methode macht die Geschichte manipulierbar (vgl. Koselleck 1995: 61-62). Es handelt sich jedoch um eine Notwendigkeit, die Geschichte oder Geschichtsschreibung überhaupt ermöglicht: Sogar eine Geschichte, die sich universal nennt, ist nur ein Nebeneinander von lokalen Geschichten, innerhalb deren (und zwischen denen) die Lücken wesentlich zahlreicher sind als die ausgefüllten Stellen. (Lévi-Strauss 9 1994: 296)
Dieses Charakteristikum muss den geschichtlichen Diskurs nicht bedingen, dennoch scheint es, dass die traditionelle Geschichtsschreibung (oder die Geschichtsphilosophie) dazu tendierte, die Beschreibung historischer Begebenheiten als abgeschlossene Tatsachen darzustellen, womit die Gegenwart gezwungenermaßen zu einem Ziel oder Telos vergangener Ereignisse wurde. Die Gegenwart als Telos zu betrachten, bringt die Vorstellung einer kausal kontinuierlichen Geschichte mit sich, welche Diskontinuitäten nicht zulässt, und jenes für die Gegenwart irrelevante Geschehen unterdrückt. Geschichte so 5
Eine ähnliche Auffassung wird von Röttgers (1982) vertreten, der das Erzählen der Geschichtsschreibung als eine Kommunikationssituation versteht, bei der sich der Historiker wie ein Romancier der Geschehnisse bemächtigt und eine Geschichte konstruiert. Die Geschichte versteht er als einen "kommunikativen Text". Eine Position, die an Benjamins (1977:385-410) Auffassung von Geschichte und Erzählung erinnert. R. Barthes ( 1 4 1996) hebt als besonderes Merkmal im Schreiben von Geschichte und von Romanen die Verwendung des Imperfekts hervor. Im Gegensatz dazu finde ich die deutliche Unterscheidung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem oder sogar Zukunft in den historischen Darstellungen der transversalhistorischen Romane Lateinamerikas nicht. Hier fließen die Zeiten und Räume, ihre Geschichtsdarstellung ist transversal (v. dazu Kapitel III dieser Arbeit).
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Auffassung der Geschichte
verstanden erlaubt keinen Beitrag sogenannter Randgruppen, wodurch indirekterweise ein Ziel der Geschichte selbst - Geschehenes "wahrheitsgetreu" zu übermitteln - nicht hundertprozentig erreicht werden kann.6 Wenn die in dieser Form verstandene Geschichte weiter so agierte, würde sie nur "halbe" Wahrheiten übermitteln. Aus diesem Grund sind die Positionen der Annales-Schule und später auch der postmodernen Geschichtsschreibung von großer Hilfe gewesen, um eine Erneuerung im Geschichtsverständnis zu erreichen (s. Punkt 1.3 dieser Arbeit).7 Der Begriff Geschichte wird in Bezug auf den Zusammenhang dieser Arbeit in seinen theoretischen und praktischen Ebenen verwendet. Die theoretische Ebene konkretisiert sich als Reflexion über die Geschichte in der Geschichtstheorie, der Philosophie der Geschichte, der Historiographie, und die praktische Ebene kristallisiert sich im engeren Sinne als Geschichte, als die geschriebene Geschichte heraus (vgl. ausfuhrlich dazu Mendiola Mejia 1996). Insofern erfasse ich für die Zwecke des Vergleiches zwischen Fiktion und Geschichte beide Ebenen des Geschichtsbegriffs als eine Einheit, da sie Bestandteile des institutionalisierten historischen Diskurses sind und deshalb kontrastiv zum künstlerisch-literarischen Diskurs verstanden und verwendet werden können. Die unterschiedlichen semantischen Nuancen, welche die Begriffe "Geschichte" und "Historie" in sich verbergen, werden auch nicht vergessen, gleichwohl möchte ich sie als Synonyme verwenden. Geschichte und Geschichtsschreibung verstehe ich nicht lediglich als das Medium für die Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse für die menschliche Orientierung in einem hic et nunc, sondern fasse sie ebenfalls als einen Ausdruck der Denkweise und des Selbstverständnisses und -bildnisses einer Epoche auf. Vor diesem knappen Hintergrund halte ich es für sinnvoll, dieser Arbeit einen Exkurs "Zum Begriff 6
Der Anspruch der Geschichte, die "Wahrheit" zu vermitteln, ist keine Neuigkeit. Was in der Tat eine Erneuerung in der Vermittlung von Geschichte darstellt, ist die Behauptung, die Wahrheit sei nur aus einem "festen Standpunkt" zu ermitteln: Das Parteiergreifen des Historikers für eine politische, ökonomische oder ideologische Richtung ist ein "Produkt der Neuzeit": "Überspitzt formuliert: Parteilichkeit und Objektivität schließen einander aus" (vgl. Koselleck 1995a: 176; 178). Was Koselleck meint, ist die im 19. Jahrhundert herrschende Überzeugung, dass nur eine Wahrheit möglich sei, im Gegensatz zu dem bereits in den antiken Geschichtswerken und in der römischen Geschichtsschreibung bestehenden Anspruch, z. B. bei Sallust oder Tacitus, Wahrheit zu vermitteln, ohne auf Parteinahme zu verzichten (v. dazu Hug 1982: 89 ff.; Deininger 1998: 215), eine Haltung, die noch im 18. Jahrhundert z. B. bei Chladenius (in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft, v. dazu Höfner 1999) unter der Bezeichnung "Sehepunckt" vorhanden war. Ähnlich konzipiert sich Lévi-Strauss' ( 9 1994: 297) Geschichtsauffassung: Die Geschichte ist also niemals die Geschichte, sondern die Geschichte-für. Parteiisch, auch wenn sie es nicht wahr haben will, bleibt sie unvermeidlich partiell, was auch eine Art der Parteilichkeit ist. (Hervorhebung R.C.) Vgl. darüber hinaus auch Kosellecks Bemerkung über das Dilemma der heutigen Geschichtswissenschaft, welches darin besteht, "wahre Aussagen zu machen und doch die Relativität ihrer Aussagen zuzugeben und zu berücksichtigen" (1995a: 176).
7
Für das Verhältnis zwischen Postmoderne und Geschichte, vgl. u. a.: Küttleret al. (1993), Rüsen ( 1991 ), Ankersmit ( 1989), Flusser ( 1997).
21
Kapitel 1
Geschichte" (1.2 und 1.3) hinzuzufügen: Um zu zeigen, warum Geschichte so verstanden wird, wie wir es heute tun. 1.2 Zum Begriff Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert Als das Wort "historia" ins Lateinische übernommen wurde, erhielt es zu dessen ursprünglicher Bedeutung die semantische Ergänzung "Kunde, Kenntnis oder Wissensstoff'. Anhand dieser semantischen Differenzierung und im Unterschied zu der früheren römischen Geschichtsschreibung in Form von "annales" habe, so G. Scholz (1974:344), die Bezeichnung "historia" einen ersten "Sinn von Geschichte" erhalten.8 Mit der Verbreitung des Christentums scheint der Bedeutungswandel des Geschichtsbegriffs sich fortzusetzen. Die neuzeitliche Bedeutung von Geschichte, als zielgerichteter Gattungsprozess verstanden, steht in enger Verbindung mit der christlichen Geschichtsauffassung, in der sie als eine Herstellung des Heils konzipiert und zur Geschichte der Offenbarung wird - d.h. zum göttlich offenbarten Wissen. Zur gleichen Zeit und dank einer erneuerten semantischen Ergänzung oder Erweiterung - diesmal durch die christliche Theologie - erfahrt die Bezeichnung "historia" zunächst eine weitere allgemeine Bedeutung im Sinne von "Fabel", "Erzählung" und "Begebenheit".9 Als Konsequenz dieser semantischen Ausdehnung und mit der neuen Funktion des Begriffs Geschichte als Terminus für die Schriftauslegung werden die biblischen Erzählungen als wahre, tatsächlich stattgefundene Begebenheiten gelesen. Zur selben Zeit wurde das Schreiben der Geschichte als "Auftragswerk" einer Institution (König, Kirche, Bürger-
8
Der Ausdruck "Sinn der Geschichte" ist im deutsprachigen Raum ein relativ neuer Begriff, der sich "kaum vor der Mitte des 19. Jahrhunderts" nachweisen lässt und erst nach Beendigung beider Weltkriege zu einem Modewort wurde. Er stammt nicht aus der Antike, da es weder im Griechischen noch im Lateinischen eine semantische Entsprechung gibt, es handelt sich vor allem um einen modernen, durch die Geistesgeschichte geprägten Ausdruck (v. dazu Stückrath 1997: 4850). Das Verhältnis beider Wörter zueinander ändert sich zum Beispiel in der Kombination "historischer Sinn", die zwar auch nicht aus der Antike stammt, aber seit dem 18. Jahrhundert analog zu ästhetischem oder Schönheits-Sinn belegbar ist (v. Stückrath 1997: 56). Der Begriff "historischer Sinn" trägt eine teleologische Konnotation mit sich, weil er als die zeitliche Erstreckung und der zeitliche Wandel der menschlichen Welt aufgefasst wird (vgl. Rüsen 1997:18 ff.). Darüber hinaus bezeichnet Rüsen (ibd.: 28 ff.) Sinn als Integration der vier mentalen Operationen (Wahrnehmung, Deutung, Orientierung und Motivation), welche für die geistige Aneignung von Welt und Selbst notwendig sind. Bezüglich der historischen Sinnbildung unterscheidet Rüsen (1994: 16-19) vier Modi: die traditionelle historische Sinnbildung, die exemplarische, die kritische und die genetische.
9
Das eigentliche griechische Wort Historie, zeiget sowohl die Begebenheit an und vor sich betrachtet, als auch die Vorstellung derselben und die daraus erst fließende Erzählung an. [...] Daher ist der Begriff und die Bedeutung des Wortes Historie sehr weitläufig und begreift die Begebenheiten, die Zufalle, die historischen Sätze, die Umstände, die Geschichte, die Erzählungen und Nachrichten unter sich [...]. Dieses Zitat wurde der Allgemeinen Geschichtswissenschaft, aus dem ersten Kapitel ("Von der historischen Erkenntnis überhaupt"), § 17 ("Was das Wort Historie bedeute?") von Johann Martin Chladenius entnommen (apud Hardtwig 1990: 12).
22.
Auffassung
der
Geschichte
tum) möglich. Ältere Bücher wurden detailgetreu kopiert als Zeugnis des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit der Quellen nach dem Prinzip der imitatio, und die Geschichte wurde als Wortsinn der Schrift aufgefasst (vgl. dazu Goetz 1998: 235 ff.). Damit erhielt sie eine vierfach gegliederte Funktion: eine theologische (heilsgeschichtlich orientiert), eine politische (befasste sich mit der Geschichte von Reich und Kirche), eine personenorientierte (Individuen wurden als "Typen" dargestellt) und eine an die (Auftrags-) Institution gebundene Funktion (s. Goetz 1998: 236). 1 0 Der erste Schritt zu einem neueren Geschichtsbegriff, der die Basis eines modernen Geschichtsverständnisses bilden sollte, vollzog sich mit dem Übergang zum 18. Jahrhundert.
1.2.1
G e s c h i c h t s v e r s t ä n d n i s im 18. J a h r h u n d e r t
Mit der Transition von der Renaissance zur Aufklärung entwickelte sich die Geschichte zu einer Disziplin, deren kollektives Subjekt gleichzeitig ihr Untersuchungsobjekt wurde. Im Zuge der Abkopplung der Morallehre von der Theologie trat die Geschichte als eine Einrichtung auf, die sich der Untersuchung vom nationalen Ursprung der Völker, von Städten und den verschiedenen königlichen Häusern zuwandte und zwar nicht mit einer moralischen bzw. moralisierenden Prägung, sondern mit einer politischpragmatischen Absicht (Scholtz 1 9 7 4 : 3 5 2 - 3 5 3 ) . " Dieser im 18. Jahrhundert vollzogene Wandel wird auch als der Übergang von der sogenannten Heilsgeschichte in eine Weltgeschichte bezeichnet. 1 2 Ein durchaus wichtiger Schritt: An die Stelle der theologisch begründeten Universalgeschichte trat die Geschichte der Menschheit, die als Zivilisati10
V. dazu auch Borst (1990), der verdeutlicht, dass das Subjekt der Historiographie im Mittelalter nicht durch den Menschen als Individuum oder als Gattung konstituiert wurde, sondern dass ihre zentrale Intention in der Vermittlung einer Heilsgeschichte lag. Darüber hinaus stellte die Geschichte bis zum Ende des Mittelalters eine Kontinuität dar; sie charakterisierte sich als ein Ritual zur Verstärkung der Souveränität, als ein Mittel zur Machterhaltung und etablierte sich als ein "Diskurs der Souveränität" (v. ausfuhrlich dazu Foucault 1986).
11
Bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts lehrte die traditionelle Historiographie "politische Klugheitsregeln für Gegenwart und Zukunft" (Rüsen 1994: 17). Dieses Geschichtsverständnis behielt seine politische Prägung mit der Folge, dass es in den darauffolgenden Jahrhunderten zu einer Reduzierung des historischen Welthorizonts auf das Politische führte (vgl. Schieder 1976: 14; 22-23). Sogar die Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie der Geschichte wurde vom politischen Interesse motiviert (vgl. Scholtz 1974: 372-374).
12
Hegel (1989: 128) bezeichnete die Weltgeschichte als "die Auslegung des Geistes in der Zeit". Insofern werden Weltgeschichten als "rückwärtsgewandte Projektionen [verstanden], [als] ein Versuch, aus Geschichten wieder eine Geschichte zu machen" (Borst 1990: 456. Hervorhebung R.C.). Mit dieser Konzeptualisierung der Weltgeschichte wird deutlicht, dass ihr operatives Feld mit der Opposition binärer Kategorien zu kontextualisieren ist, denn - wie Alexandre Kojeve (1996: 62) schrieb - sie ist"[...] nichts anderes als die Geschichte der dialektischen, d.h. der aktiven Beziehung zwischen Herrschaft und Knechtschaft". Dieses binäre Verständnis der Geschichte ist gerade das, was später im 20. Jahrhundert die Postmoderne zu überwinden versucht (v. weiter unten Punkt 1.3.2).
Kapitel I
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onsprozess und Kulturentwicklung konzipiert wurde, jedoch ohne ihren alten teleologischen Charakter zu verlieren. Die Weltgeschichte bzw. die Menschheitsgeschichte im Kontext der Aufklärung anzusiedeln, hieß von nun an, die Geschichte der von Natur aus zur Freiheit bestimmten Menschen kritisch und kausal verknüpfend zu schreiben. Mit der Etablierung der Geschichtskonzeption als eine Wissensdisziplin fand eine weitere Differenzierung im Sprachgebrauch des Wortes statt. Geschichte wurde weiterhin als die Bezeichnung für den Entwicklungsprozess der Menschen gebraucht, sie galt zum Teil auch als Synonym von (Welt-)Geist und Vernunft, und nur durch diese konnte die Menschheit Geschichte haben. Die Vernunft wurde als jenes Vermögen aufgefasst, womit allein der Mensch in der Lage sei, seine eigene, alle Lebensbereiche betreffende Entwicklung in der Zeit kognitiv zu erfassen. Die Geschichte wurde zudem als eine universale Wissenschaft betrachtet, nicht nur weil in ihr die Darstellung der Vergangenheit eines Volkes oder eines Nationalstaates mit jener der historischen Menschheit konvergierte, sondern weil sie die Hoffnung auf einen vorantreibenden Fortschritt verbarg, ohne das Eigenmächtige der Geschehnisse und das Schicksalhafte der Menschen außer Acht zu lassen. Nach wie vor haftete diesem Geschichtsverständnis die Vorstellung einer linearen Ereigniskausalität und einer geradlinigen Zeitvorstellung an. Später wurde dieses Merkmal als Fortschrittskategorie (Spätaufklärung) bzw. als Kategorie der "Entwicklung" (Historismus) bezeichnet (s. Rüsen 1997a: 89). Ein weiterer wichtiger Wandel des Geschichtsbegriffs im 18. Jahrhundert stellte der Wechsel von einem Kollektiv- zu einem Singularsubstantiv dar: von Historien (i. e. Geschichten) zur Geschichte. Die Bezeichnung "Historie" wurde durch den Gebrauch des singularisierten Substantivs Geschichte etwa im Jahr 1750 "verdrängt" (Koselleck 1995: 47).13 Der Unterschied zwischen beiden Ausdrucksformen bestand darin, dass die Historie einen exemplarischen Bericht repräsentierte (ein Exemplum) und die Geschichte sich mehr als Ereignis und Darstellung verstand (ibd.: 48).14 Die Singularisierung des Begriffs "Geschichten" zu "Geschichte" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann als Folge der Bemühungen verstanden werden, sich von der bloßen Faktensammlung zu verabschieden, um zur Darstellung von zusammenhängenden Ereignissen überzugehen. Als Konsequenz dieser Entwicklung rückte der Begriff "historia", der primär den Bericht meinte,15 allmählich in den Hintergrund des Terminus "Geschichte", da diese den chro13
Darüber hinaus erwähnt Koselleck (1995: 58) die "Verzeitlichung der Geschichte" im 18. Jahrhundert, d.h. die "Freilegung einer nur von der Geschichte her bestimmten Zeit" als eine der Leistungen der damaligen Geschichtsphilosophie noch vor dem Historismus. Wichtig erscheint uns Kosellecks Feststellung über den konzeptionellen Übergang von Geschichten (im Plural) zur Geschichte (im Singular) auch deshalb, weil bemerkenswerterweise diese semantische Transformation im 18. Jahrhundert stattfindet, genau in jenem Jahrhundert, das für Foucault ( I 3 1995) einen entscheidenden Epochenumbruch in der abendländlichen Rationalität darstellte: der Übergang von der Renaissance zur Aufklärung (zum "klassischen Zeitalter").
14
Im Gegensatz dazu bemerkt Günther (1979: 206), dass die Verwendung des Begriffs "Historia" bereits bei Petrarca "das wesentliche von dem enthält, was der deutschen Bildung eines kollektiven Singulars von "Geschichte" zugeschrieben wird".
15
V. zum Beispiel Schnädelbach (1998: 598), der den Gebrauch des Begriffs "Historie" für jenen Bericht über das Geschehene (rerum gestarum memoria) vorbehält.
Auffassung der Geschichte
24
nologischen Geschehenszusammenhang überwiegend in den Mittelpunkt stellte. Dieser Wandel im Geschichtsverständnis bahnte auch die Herausbildung jener neuen Wissenschaft an, die als Philosophie der Geschichte bekannt und zugleich der Ort wurde, an dem sich die Vernunft als sinnverbürgende Instanz für die Geschichte angesiedelt hat. 1.2.2
Geschichtsverständnis im 19. Jahrhundert
Wegen des verbreiteten Interesses an der Geschichte könnte das 19. Jahrhundert auch das "historische Jahrhundert" (Scholtz 1974:367; 374) genannt werden. Diese Z e i t - v o n einer intensiven Beschäftigung mit geschichtlichen Ereignissen geprägt - änderte eine der Hauptfunktionen der Geschichtswissenschaft: Von der überwiegend philologisch ausgerichteten Traditionskritik ging sie zum Rekonstruktionsversuch geschichtlicher Ereignisse über(vgl. Schulin 1975:23-25). Eine den historischen Geschehnissen und dem Schreiben von Geschichte verstärkt zugewandte Aktivität zeichnete sich aus und hatte vermutlich ihren möglichen Ursprung im Bestreben, aus der bloßen Sammlung von Fakten eine Art Gesetzmäßigkeit des menschlichen Daseins - in Anlehnung an die Methoden der Naturwissenschaften - herauszubilden. Von einer intensiven Auseinandersetzung mit Hegels Geschichtsphilosophie und dem kantischen VemunftbegrifFwurde die Entwicklung der Geschichtswissenschaft zum Historismus begleitet. Die zum Historismus fuhrende Verwissenschaftlichung der Geschichte endete in einem zweifach verzweigten Weg: In der"Irrationalisierung" der Geschichte und im ideologischen und methodologischen Historismus (vgl. Scholtz: 1974: 372 ff., 1974a: 1141; Riedel 1995: 113 ff.). Die "Irrationalisierung" der Geschichte bezeichnete jene Absicht, die sich von der starken Präsenz der kantischen praktischen Vernunft und dem hegelschen System zu befreien versuchte, die gegen Aufklärungsdenken gerichtet war und aus der Geschichte das Individuelle hervorzuheben intendierte (Riedel 1995: 114; vgl. auch Schmidt-Biggemann 1991:27; Schulin 1975:21). Dieser Historismus kritisierte nicht nur die Positionen der Spätaufklärung, sondern versuchte mit seiner Orientierungsfunktion eine Methode aufzustellen, die sich zugleich von der Geschichtsphilosophie absetzte und sich als Quellenkritik und Darstellungsform begriff. Die bevorzugte Darstellungsvariante wurde für ihn die geschlossene epische Erzählform, um damit die nationale Identität hervorheben zu können (Rüsen 1993a: 95 ff., 1997a: 90-91). Dieser Historismusform stand der ideologisch-methodologische Historismus gegenüber, welcher eine positivistische Prägung aufwies und beabsichtigte, sich nur noch auf Tatsachen zu konzentrieren. Die aus seiner Entwicklung gewonnene Ideologie erreichte bei dieser Historismusform sogar den Status einer Weltanschauung ("Historizismus"), bei der sich dann alles "geschichtlich" interpretieren ließ (vgl. Scholtz 1974a: 1145-1146). Obwohl sich zwei Entwicklungswege zeigten, bestand Mitte des 19. Jahrhunderts für den Historismus keine Notwendigkeit, einen methodologisch-begrifflichen Apparat für die geschichtswissenschaftliche Bearbeitung historischer Ereignisse aufzustellen. Der Begriffsgebrauch lag mehr im Bereich der anschaulich-beschreibenden Darstellungen, im Gegensatz zu den analysierenden, explanatorischen Interpretationsmustern; dagegen überwog bei dem Gebrauch von Begriffen im 20. Jahrhundert eine erkenntnistheoreti-
Kapitel I
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sehe Funktion (vgl. Rohlfes 1975:59-61). Dennoch soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass der Historismus der Begrifflichkeit feindlich gesonnen war. Seine Verzweigung in verschiedene historische Wissenschaften erlaubte einerseits die Herausbildung allgemeingültiger Definitionen, so zum Beispiel in der Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, und zwang ihn andererseits zu einer erhöhten Reflexion in der Anwendung generalisierender Definitionen für die Bereiche der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte (vgl. Rohlfes 1975: 65). Der Historismus stellte wissenschaftstheoretisch die unbestreitbare Einsicht dar, dass seine Repräsentation von seinem Untersuchungsobjekt (Mensch) selber abhing, dennoch - und hier liegt das Paradox - versuchte der Historismus, Regeln und Normen zu finden, welche sich außerhalb geschichtlicher Veränderungen, d. h. ohne den menschlichen Einfluss, artikulieren ließen. Der Historismus unterstellte auf diese Weise, eine feststellbare vor- und unbewusste Intention im menschlichen Handeln aufspüren zu können, die ihm (dem Historismus) dann zum Erlangen historischer Erkenntnis verhelfen sollte.16 Um vom Historismus als Geschichtswissenschaft sprechen zu können, so Rüsen (1993a: 32), muss eine systematische Kontextualisierung von fünf Faktoren in ihrem sozialen Feld unternommen werden, die ihm seinen wissenschaftlichen Charakter verleihen: "Orientierungsbedürfhisse der Gegenwart, leitende Hinsicht auf die menschliche Vergangenheit, Regeln der empirischen Forschung, Formen der historiographischen Darstellung und Funktionen des historischen Wissens". Demnach wird Geschichtswissenschaft als ein dynamisch-methodologischer Prozess verstanden. Ihre Wissenschaftlichkeit lasse sich an ihrer Fähigkeit messen, die Dynamik parallel zur Entwicklung des Erkenntnisfortschritts zu halten, und sich dadurch als Paradigma aufzustellen. Hinzu kommt, dass sich der wissenschaftliche Charakter dieser Disziplin in ihrem metatheoretischen, d.h. in ihrer "eigenen Reflexionsarbeit" kristallisieren soll (vgl. Rüsen 1993a: 35 ff.). Trotz aller Bemühungen, so Rüsen (1993a: 113) weiter, sei es dem Historismus nicht gelungen, die ökonomische und soziale Dynamik der Kulturentwicklung in seine methodologische Konzeption zu integrieren, ein Mangel, der seine inhaltlichen Grenzen zeige. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass der Historismus mit seiner Konzeption von vergangenem menschlichen Handeln nachhaltig zu einer von der Aulklärung abweichenden Alternative, zur Verwissenschaftlichung des historischen Denkens und in großem Maße für die im 19. Jahrhundert stattfindende Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen beitrug. Jedes vergangene Ereignis durch Tatsachenforschung und Ereignissammlung thematisieren zu können und zu wollen, war eine dominierende Haltung der Geschichtswissenschaft in diesem Jahrhundert. Sie führte zu der prägnanten Kritik, die Nietzsche (1984) bereits 1873/1874 in seinen "Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtungen" auf den positivistischen Historismus ausübte. Nietzsche plädierte für eine kritische Geschichtsbetrachtung im Gegensatz zu der bis dahin praktizierten monumentalischen und antiquarischen Geschichtsbetrachtung, mit der dem Menschen zur Befreiung von der historischen Vernunft der Vergangenheit verholfen werden sollte. Er wollte die "Geschichtsbesessen-
16
Zum Erkenntnisprinzip des Historismus v. Rüsen (1993a: 17-28).
26
Auffassung der Geschichte
heit seines Zeitalters" (White 1994: 481) überwinden und "den Glauben an eine geschichtliche Vergangenheit, aus der wir eine einzelne, substantielle Wahrheit ziehen könnten" (ibd.: 427), zerstören. Jedoch bestimmte nach wie vor das politische Interesse im großen Maße das Geschichtliche. Im Gegensatz zur Literatur oder Philosophie wurde Geschichtsschreibung in ihren Formen von Landesgeschichte, Reichsgeschichte, europäischer Staatengeschichte, Welt- und Kulturgeschichte überwiegend als ideologisierende Beschreibung großer politischer Ereignisse verstanden (Schulin 1997:19-21), so dass die historische Darstellung von Revolutionen und Kriegen im 19. und 20. Jahrhundert weiter den größten Raum des geschichtlichen Interesses einnahm. Der oben erwähnte Diskurs der Souveränität (Foucault 1986) wandelte sich im Kontext des 19. Jahrhunderts in einen Diskurs des Rassenkampfes um. Dieser Wandel erzeugte einen Bruch im historischen Bewusstsein der Menschen, die eine Identifikation von König und Volk nicht mehr annehmen konnten, sondern ihre Interessen nach eine territoriale Machterhaltung richteten: Es bildete sich eine "Gegenhistorie" (Foucault 1986:34). Diese "Gegenhistorie" verstand sich als die Wortergreifung jener, die im "Schatten" standen und durch die Ausgrabung ihrer Verborgenheit ihr Recht auf Berücksichtigung verlangten (ibd.: 35-39). Dennoch war es aber erst im daraufkommenden Jahrhundert annähernd möglich, Geschichten dieser Art zu schreiben. 1.3 Das 20. Jahrhundert: Wendepunkt der Geschichtsschreibung Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in Gestalt des Neukantianismus 17 zunächst die Möglichkeit einer neuen Geschichtsbestimmung gesehen: Diese neukantianische Erkenntnistheorie versuchte, eine "generalisierende Methode zu erschließen, die zur Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge in der Wirklichkeit fuhrt" (Rüsen 1997a: 105). Weiter wurde versucht, eine für die Geschichte anwendbare positivistische Methode zu entwerfen, die eine "wissenschaftliche" Herangehensweise an die "Fakten" der menschlichen Taten erlauben (und legitimieren) sollte. Mit dieser Absicht wurde der Terminus Historismus am Ende des Ersten Weltkrieges wieder in die wissenschaftliche historische Diskussion aufgenommen, jedoch nicht um mit ihm eine Aktualisierung des historischen Denkens oder der geschichtlichen Forschung herauszuarbeiten, sondern um "die bedrohte Identität neu zu artikulieren" (Rüsen 1993a: 19 ff.). Diese Art "Bedrohung" entstand angesichts der Entwicklung neuerer Untersuchungsrichtungen - wie die von der sich langsam entwickelnden Soziologie vorgeschlagen - und führte zur Annahme, dass das etablierte geschichtswissenschaftliche Fach gerechtfertigt bzw. "neu" gedacht werden müsste (vgl. ibd.). Bei diesem Umdenken ging es einerseits darum, die Positionen des Historismus zu erneuern und ihn für die Veränderungen im politischen und sozialen Bereich aussagefahig zu machen. Andererseits bestand auch die Absicht, wesentliche Kor-
17
Vgl. dazu Lembeck ( 2 1999: 397-398) und Nastansky/Welter (1995: 989-990).
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rekturen am vom Historismus institutionalisierten historischen Denken vorzunehmen, wie es der von Karl Lamprecht präsentierte Versuch intendierte.18 Diese Erneuerungsversuche brachten wesentliche Veränderungen in der Geschichtskonzeption des 20. Jahrhunderts mit sich: Sie hing nicht mehr nur vom Vernunftanspruch des historischen Denkens ab, das aus der interpretatorischen Erfahrung menschlichen Handelns als Gewinn historischen Sinns betrachtet wurde. Vordergründig wurde sie von der Auffassung diktiert, die Gesellschaftskategorie und ihre Veränderungen in die Geschichtsschreibung zu integrieren, um die Historiographie zu einer kulturellen Sinngeschichte rechnen zu können. Gleichermaßen intensiv wurde aber auch darüber diskutiert, inwieweit das Arbeitsgebiet des historischen Wissens außer einer politischphilosophischen Sicht auch auf eine Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte ausgedehnt werden sollte.19 Im 20. Jahrhundert blieb die Geschichtsschreibung hinsichtlich der Entwicklung ihres wissenschaftlichen Charakters nicht statisch: Bereits zu Beginn des Jahrhunderts zeichneten sich erste Wandlungen ab, die ihren weiteren Verlauf bestimmen würden. Innerhalb der nachhaltigsten Veränderungen dieser Disziplin sind zwei Wendepunkte besonders hervorzuheben. Den ersten Wandel, der kurz umrissen wird, stellt die sogenannte "Schule" der Annales dar. Die zweite wichtige Veränderung im Geschichtsverständnis erfolgte nach den Erkenntnissen der postmodernen und poststrukturalen Philosophie, deren Einfluss sich nicht nur in der Geschichtswissenschaft zeigt, sondern in den gesamten Geisteswissenschaften. 1.3.1
Die Schule der "Annales"
Das Bestreben des Historismus, eine objektiv kohärente Geschichtskonzeption zu erarbeiten und sich theoretisch und methodologisch danach zu richten, ermöglichte der narrativen Darstellungsweise, sich als die dominante Form der Geschichtsschreibung durchzusetzen. Vor allem aber die Absicht, einen objektiven Zusammenhang der zeitlich ver18
Karl Lamprechts Versuch stellt im Deutschland der Jahrhundertwende die Ausnahme dar, eine kollektivistische Geschichtsauffassung zu vertreten, welche eine Verwandlung der Geschichtswissenschaft von einer politischen zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bzw. zu einer Kulturgeschichte vorgesehen hatte. Leider wurde diese Initiative von den traditionellen Historikern der damaligen Zeit im Allgemeinen abgelehnt (vgl. dazu Schulin 1975: 16; Blanke 1994:64; Rüsen 1993a: 23). Nicht nur Lamprecht, sondern auch andere Historiker versuchten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Erneuerung ihrer Fachdisziplin, dazu zählt Burke ( 1991 : 14-15) u. a.: Frederick Jackson Turner (USA), Ernest Lavisse, Emile Dürkheim und François Simiand. Im Gegensatz zu Lamprecht fanden später die von Max Weber erbrachten Untersuchungen zur Logik kulturwissenschaftlicher und historischer Erkenntnis großen Anklang.
19
V. fur die Konstitution einer kulturellen Sinngeschichte Rüsen (1997: 25-28; 44, Anm. 25) und Scholtz (1974: 381-382). Bezüglich einer Erneuerung der Geschichtswissenschaft und zur Berücksichtigung der Gesellschaftskategorie, vgl. Schulin (1975: 16-21), Schleier (1986: 108 ff.) und Lozek (1986: 113-115).
28
Auffassung
der
Geschichte
gangenen Begebenheiten zu erreichen, führte den Historismus zu einer auf das Politische verengten Sicht- und Darstellungsweise historischen Geschehens: Wirtschaftliche und soziale (Struktur-)Veränderungen blieben in seiner Betrachtung weitgehend ausgeschlossen. Die Überwindung dieses "Mangels" durch die Berücksichtigung anderer, vom Historismus vernachlässigter Bereiche war eines der Postulate der "Annales-Schule". 2 0 Diese Aufforderung verstand sich aber nicht als eine "Überwindung" des Historismus, vielmehr stellte sie eine Erweiterung und Vermehrung der bis dahin als historisch geltenden Gegenstände dar, mit denen sich die Geschichtswissenschaft befasst hatte. Auch in diesem Sinne kann sie als eine Bereicherung des Prinzips der historischen Erzählung aufgefasst werden. Wie schon erwähnt, forderten bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Autoren wie Emile Dürkheim, Karl Lamprecht und François Simiand Erneuerungen und Entgrenzungen des Fachs. Simiands Einstellung zufolge bestand die Hauptintention darin, die drei "Stammesgötzen der Historiker" - die Politik, das Individuum und die Chronologie - zu beseitigen (vgl. Burke 1991: 15) und zu einer systematisch quantifizierenden Wirtschaftsgeschichte zu fuhren (vgl. dazu Jockel 1984: 65; 69). 2 1 Ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnete sich eine deutliche Abhebung vom traditionellen Geschichtsverständnis ab. Zu dieser Zeit plädierten die Historiker Marc Bloch und Lucien Febvre für eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Humanwissenschaften mit der Absicht, eine histoire totale zu schreiben. Sie sollte aber nicht als eine allumfassende, allwissende und lückenlose Geschichte verstanden werden, sondern vielmehr als eine Geschichte des menschlichen Handelns statt einer überwiegend politischen Geschichte. Die histoire totale sollte nicht die Sammlung kleine20
Der Werdegang der Annales kann in drei Etappen eingeteilt werden. Die erste Etappe ging bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges und wurde von Lucien Febvre "gefuhrt"; die zweite wurde ab den 60er Jahren hauptsächlich von Braudels Arbeiten geprägt und die dritte sieht ab Mitte der 70er Jahren ihren Hauptvertreter in Jacques Le Goff(vgl. dazu Burke 1991 ). Es handelt sich nicht um eine "Schule" im eigentlichen Sinne, sondern eher um eine Bewegung, die Differenzen und verschiedene Entwicklungen zwischen ihren "Gruppenmitgliedern" erlaubt (v. Burke 1991: 8; Honegger 1977: 34). Die Gruppe der Annales ist spätestens seit den 60er Jahren keine kleine Gruppe mehr, und ihre Rezeption beschränkte sich nicht mehr nur auf das französische Territorium, aus diesem Grund schlägt der Historiker Peter Burke die Bezeichnung Annales-Bewegung vor.
21
Obwohl die Forderung nach einer "Erweiterung" der Untersuchungsbereiche der Geschichte erst im 20. Jahrhundert verstärkt zu finden ist, können wir sie nicht als ein absolutes Novum bezeichnen. Diese Forderung äußerten auch andere Autoren in den vergangenen Jahrhunderten. So vermisst zum Beispiel Voltaire (1744) eine "Geschichte der Menschen", die nicht nur über Kriege und Könige berichtet (vgl. Le Goff 1994: 26-28), oder Chateaubriand (1831), dereine Historiographie bevorzugte, die nicht nur auf das eigene Land Bezug nimmt, sondern die Nachbarländer mitberücksichtigt (vgl. ibd.: 29), und Michelet ( 1869), der eine Geschichte fordert, welche die Ideen und Sitten einer Nation mituntersucht (vgl. ibd.: 33). Auch außerhalb der Geschichtsschreibung sind solche Aufforderungen zu finden, beispielsweise bei dem Romancier Balzac, der im Avant propos( 1842) "aus Ursachen und Folgen allgemeine Naturgesetze ableiten" und daraus "eine Geschichte bzw. eine Historisierung der sozialen Phänomene [...] vornehmen" wollte (v. dazu A. de Toro 1999b: 57 und 75-76).
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rer Geschichten sein, sondern musste eher als eine Geschichte verstanden werden, in der Methodenpluralismus und interdisziplinäre Arbeit die Richtlinien der historischen Forschung vorzeichneten (vgl. dazu Jockel 1984:68-69). Diese Geschichtskonzeption stellte den ersten Versuch dar, eine vergleichende Geschichtswissenschaft zu praktizieren, welche sich aber nicht nur auf die Suche nach Parallelen und Ähnlichkeiten bzw. auf die Gegenüberstellung von Ereignissen reduzieren ließ, sondern ihre Aufgabe darin sah, "die "Originalität" der verschiedenen Gesellschaften freizulegen" (vgl. Bloch 1994:138). Es ging sowohl um eine "Neuorientierung als auch um einen Perspektivenwechsel" innerhalb der Historiographie (Le Goff 1994:38). Ihr Erfolg lag darin, dass aus der Forderung der Interdisziplinarität in der Geschichtsschreibung neue "Wissenschaften" wie die Humangeographie, die Ethnopsychiatrie, die soziale Mathematik, die Geschichte der Mentalitäten, die Geschichte der Außenseiter, des Körpers, der Sexualität etc. entstanden, welche sich hauptsächlich durch ihre interdisziplinäre Arbeitsweise charakterisieren lassen.22 Die Interdisziplinarität fand zum Beispiel zwischen historischer Demographie, Sozialgeschichte, Statistik, Linguistik, Psychologie und Geographie statt und bemühte sich, wirtschaftliche, politische und sozialpsychologische Faktoren in die Geschichtsschreibung mit einzubeziehen. Es handelte sich nicht um eine Juxtaposition, sondern um die Berücksichtigung jener Bereiche, die eine Verbindung zueinander herstellen könnten.23 Dem Primat der Interdisziplinarität folgend stand der Ereignisbericht nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Analysen. Die Konstruktion der Geschichte sollte nach einem Modellprinzip (einer Hypothese) erfolgen, das bestimmte Phänomene erklären kann: Ausgehend von konkreten Fragestellungen und Problemen entwerfen sie unter Benutzung aller nur möglichen Materialien Hypothesen und Erklärungsmodelle, die intersubjektiv nachprüfbar, rationaler Kontrolle zugänglich sind und deren Wert sich daran misst, inwieweit sie das Verstehen der jeweiligen Phänomene fördern. (Jockel 1984: 58-59)
Das von den Annales-Historikern propagierte Geschichtsverständnis sollte als Ergebnis einer Analyse stehen, welches "mit dem Erklären eine Einheit" bildete, zugleich weniger urteilte, dem verabsolutierenden hermeneutischen Verfahren entgegen stünde und den reflektierten Gegenwartsbezug nicht verlöre (vgl. dazu Jockel 1984:64-65). Nach diesen Prämissen bestand die Aufgabe dieser Historikergruppe in der Überwindung und Abkehr von monokausalen Erklärungen, die nur an der Oberfläche blieben und keine "wissenschaftliche Konstruktion des Dokuments" ermöglichten (Le Goff 1994: 20).24 Eine der Hauptbegriffe, die in Zusammenhang mit der Arbeit der Annales steht, war der von Fernand Braudel geprägte Terminus der longue durée. Abhängig von der Zeitex22
Zur Mentalitäts- oder Alltagsgeschichte vgl. ausfuhrlich Raulff (1989) und Borscheid (1990).
23
Vgl. dazu Burke (1991: 7-8, 60-61), Jockel (1984: 66; 72-73) und Le Goff(1994: 11-61).
24
Die Abkehr von der "großen" Persönlichkeitsgeschichte wird auch von den Annales-Historikern angestrebt. Sie gelingt dank des Einflusses der Soziologie, in deren Kontext die Arbeiten Dürkheims eine entscheidende Rolle spielten, weil sie verdeutlichten, dass "Menschenhaftigkeit und Gesellschaftlichkeit" untrennbar sind und das vereinzelte Individuum eine Abstraktion darstellt (vgl. dazu Jockel 1984: 68-69).
30
Auffassung der Geschichte
tension, die sie berücksichtigten, unterschied Braudel (1977: 50) drei Arten der Geschichtsschreibung: a) die traditionelle, auch Ereignisgeschichte genannt; b) die neue ökonomische und soziale Geschichtsschreibung, auch als Konjunkturgeschichte bekannt,25 welche etwas längere Zeitabläufe untersuchte (zwischen 10 und 50 Jahren) und c) die Geschichte des sehr langen Zeitablaufs, die das Gegenteil der histoire événementielle darstellte: die longue durée}6 Wie diese Einteilung zeigt, spielte die Zeit für Braudel die entscheidende Rolle in der historischen Analyse. Er hielt die Transformation in der Behandlung der Zeitabläufen im 20. Jahrhundert für den wichtigsten Unterschied zu der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Der Begriff der longue durée könne, so Braudel, die Bedeutung der langen Zeitphasen in der Geschichte besser hervorheben, da das "Ereignis" - der kurze Zeitablauf- "der eigenwilligste, der täuschendste der Zeitabläufe" sei, worauf das Misstrauen basiere, welches mancher Historiker der Ereignisgeschichte entgegenbringe (vgl. Braudel 1977:52). Für die Historiker impliziere die longue durée eine "Umwälzung des Denkens", so Braudel (ibd.: 58) weiter, ein Begriff, der sich fur die Beschreibung der in langsamen Rhythmen verlaufenden Geschichte gut eignet: für eine "verlangsamte Zeit, die manchmal fast an der Grenze von Bewegung überhaupt steht" (ibd.). Trotz der Begünstigung der Zeitkategorie für seine historischen Analysen befürwortete Braudel eindeutig den interdisziplinären Einsatz in der Geschichtsschreibung: Für mich ist die Geschichte die Summe aller möglichen Geschichten - eine Sammlung von Fächern und Gesichtspunkten von gestern, heute und morgen. Der einzige Irrtum wäre [...], eine dieser Geschichten unter Ausschluss der anderen zu wählen, (ibd.: 59).
Deshalb sollte die longue durée "nur eine Möglichkeit für eine gemeinsame Sprache der konkurrierenden Sozialwissenschaften darstellen"; andere "Leitlinien", die eine "erste Konvergenz" zwischen den Sozialwissenschaften schaffen könnten, bildeten z. B. die soziale Mathematik und die Geographie (Untersuchung mit Hilfe von Raummodellen) (vgl. Braudel 1977: 81-83). Für die Zwecke dieser Untersuchung scheint es mir ausreichend zu sein, auf die Entwicklung dieser "Bewegung" hingewiesen und vor allem ihren interdisziplinären Charakter hervorgehoben zu haben. Einen letzen Punkt möchte ich dennoch erwähnen, der unter der Rubrik "Geschichte des Anderen" oder "Geschichte der Außenseiter" Platz finden könnte.27 Diese zwei möglichen "Geschichtstypen" könnten durchaus als Ergeb25
Zum Begriff der Konjunkturgeschichte oder der quantitativen Geschichte v. Füret (1977: 86107), Burke (1991: 57 ff.) und Honegger (1977: 25 ff.).
26
Obwohl es hinsichtlich der Wirtschafte-, Kunst- und Literaturgeschichte bereits Untersuchungen gab, die längere Perioden und langfristige Veränderungen in der Geschichte umfassten, bezeichnete es Burke als ein "persönliches Verdienst" Braudels, "die komplexe Vermittlung zwischen Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur und Ereignissen in Verbindung mit der longue duree untersucht zu haben" (Burke 1991:46-47) und fugte noch hinzu: "Von Braudels Werk darf zu Recht gesagt werden, [...] dass es die Möglichkeiten seines Genres nachhaltig erweitert hat" (ibd.: 47).
27
Vgl. hier den von Jean-Claude Schmitt (1994: 201-243) verfassten Aufsatz mit dem Titel "Geschichte der Außenseiter".
Kapitel I
31
nis der von der Annales-Schule vorgeschlagenen Forschungsorientierung bezeichnet werden. Sowohl Le Goff (1994: 14) als auch Burke (1991: 103) erwähnen in ihren hervorragenden Büchern eine Untersuchung, die sie für eine besonders gute Leistung von einem Autor halten, der in seiner Arbeit die Vorgehensweise der Annales eingesetzt hat. Es handelt sich um Nathan Wachtel mit seiner 1971 erschienenen Untersuchung La visión des vaincus, "eine Geschichte der frühen Kolonialzeit Perus aus indianischer Sicht" (Burke 1991:103). Es ist für mich erstaunlich, dass keiner der beiden Historiker - Burke in erster Linie, weil er auf die Annales-Rezeption außerhalb Frankreichs eingeht (1991: 101 ff.) - den bekannten Historiker Miguel León-Portilla erwähnt. Dieser schrieb bereits Ende der 50er Jahre ein Buch mit dem Titel Visión de los vencidos (1959), in dem es um die Geschichte der Eroberung Mexikos aus Sicht der Eroberten geht. Hier ist nicht der Platz, um Kritik an diesem oder jenem Historiker zu üben, es soll auch nicht darüber diskutiert werden, ob dieser oder jener das erwähnte Buch kannte oder nicht, und noch weniger geht es mich um lokalen Patriotismus. Mit der Erwähnung von Miguel LeónPortilla möchte ich lediglich auf einen bekannten Historiker aus dem spanischsprachigen Raum hinweisen, der bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Methoden - die später die nouvelle histoire geradezu charakterisierten - erfolgreich angewandt hatte. Und aus diesem Grund sollte die Erwähnung seiner Vision de los vencidos in einem Überblick über die Entwicklung des Geschichtsverständnisses im 20. Jahrhundert nicht fehlen.28 Wichtig ist die Erwähnung der sogenannten Annales-Schule, weil die Historiker dieser Gruppe mit ihren Untersuchungen jenes "uniforme" Bild der Geschichte veränderten, welches im Mittelalter oder sogar in der Moderne vorherrschte. Die dominierende Vorstellung über eine "einheitliche" Moderne wurde mit ihren Arbeiten stark relativiert: Die unterschiedlichen Geschichten am Rande der offiziellen oder herrschenden Geschichte zeigten, dass es sich nicht um die Geschichte handelt, dass es diese als solche nicht gibt, sondern dass, um eine breitere Perspektive zu erreichen, die vielen kleinen, vielfältigeren und facettenreichen Geschichten berücksichtigt werden müssen. Im Grunde haben die Arbeiten der Annales gezeigt, das die Geschichte nicht geradlinig und eindimensional verlaufen ist und dass sie vor allem eine Konstruktion der Historiker ist. Diese Auffassung über die Konstrukthaftigkeit der Geschichte wird dann mit den in Frage gestellten Geschichtsrepräsentationen der Postmoderne verstärkt auftreten. Dies ist für die Literaturwissenschaft ein signifikanter Wendepunkt, denn gerade in den transversalhistorischen Romanen stellt der Konstruktionsprozess der Geschichte einen, wenn nicht den Hauptgegenstand dar.
28
Ein gutes Beispiel für die Verbreitung der Mentalitätsgeschichte in Lateinamerika stellt das Buch des venezolanischen Historikers Germán Carrera Damas (1969) dar, das als ein "esbozo de ensayo crítico de la historia de las ideas en Venezuela" (ibd.: 23) konzipiert ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Essays "Historia de las Historias de México" des mexikanischen Historikers Enrique Florescano hinweisen. Diese sind als Supplement der mexikanischen Zeitung La Jornada zwischen September 2000 und Juni 2001 erschienen und beschäftigen sich mit einer neuen Interpretation historischer Werke und Konzeptionen der mexikanischen Vergangenheit.
32 1.3.2
Auffassung der Geschichte Postmoderne und Geschichte
In Folge der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges war der "Fortschrittsgedanke" in der bis dahin gedachten Form nicht mehr weiterhin vertretbar. Die Gräueltaten dieses Krieges erzwangen geradezu die Etablierung bzw. Erarbeitung eines differenzierenden und modifizierten Geschichtsverständnisses. Die geradlinige, auf eine positive und progressive "Entwicklung" der Menschheit gerichtete Vorstellung, nach der sich die Geschichte schreiben ließ, musste zwangsläufig revidiert werden, wie Octavio Paz feststellt: La existencia de las armas nucleares ha hecho añicos todas las doctrinas del progreso y todas las teorías sobre el sentido de la historia. La gran victima filosófica de la bomba ha sido la idea que se habían hecho los hombres del futuro. (Paz 1990: 295)
Denn die Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts konnte nach diesem Krieg nicht mehr mit jenen Begriffen der Vergangenheit ("Fortschritt" und "Entwicklung") erzählt werden. Diese Zeit stellte eine Umwälzung in den unterschiedlichen Weltauffassungen dar und erste Züge dessen, was sich danach als Postmoderne herausbildete, bahnten sich in den verschiedenen politischen, sozialen, wissenschaftlichen und vor allem kulturellen Bereichen an. Jene Erklärungsmodelle, die versuchten, ein umfassendes Bild der Wirklichkeit zu geben, verloren ihre alleinige Herrschaft und Gültigkeit, da sie überwiegend nur eine Sicht der Geschehnisse zu vermitteln vermochten. Etwas später, in den 60er Jahren, kann ein Wendepunkt festgestellt werden, der sowohl gesellschaftliche als auch kulturelle Veränderungen bewirkte und der später mit dem Namen Postmoderne zu breiten Diskussionen gefuhrt hat. Die Bezeichnung postmodern fand in der Soziologie29 und in der Philosophie30 für den Zeitraum Verwendung, der in den postindustriellen Gesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges oder Ende der fünfziger Jahre anfing. Beide Disziplinen halten die Transformationen in den Technologie-, Kommunikations- und Wissenschaftsbereichen sowie ihre Auswirkungen auf das Wissen und die Weltanschauung für ausschlaggebend, wenn es um die Konstitution der postmodernen Zeit geht (zum Beispiel Satelliten- oder Computerkommunikation, Untersuchungen in Bereichen der Kernphysik und Genetik). Andererseits heißt dies nicht, dass die neuen Technologien den postmodernen Diskurs der Philosophie bedingen, sie beeinflussen lediglich das Wissen. Ausgehend von Lyotards Das Postmoderne Wissen sieht Welsch (1993:32) die Aufgabe der Philosophie darin, Antworten auf die "Her-
29
Beispielsweise unterscheidet Daniel Bell zwischen Agrargesellschaft, Industriegesellschaft und postindustrieller Gesellschaft. Letztere, so Bell ( 2 1994:145-150), wird durch fünf Merkmale charakterisiert: Entwicklung zur Dienstleistungswirtschaft, Vorrang einer Klasse professionalisierter und technisch qualifizierter Berufe, Primat des theoretischen Wissens, Planung der Technologie und Aufkommen einer neuen intellektuellen Technologie.
30
Lyotard (1986: 13-19) situiert den Anfang der Postmoderne in diesen Zeitraum und beschränkt sie auf die "höchstentwickelten" Gesellschaften. Dieses Phänomen der Postmoderne ist nicht nur für solche Gesellschaften restriktiv, denn eine derartige Einschränkung hieße, dass in Lateinamerika postmoderne Phänomene nicht vorhanden sind oder sein können (v. dazu A. de Toro 1991 und Rincön 1989).
Kapitel I
33
ausforderungen dieser Technologien" zu finden und "sie zu nutzen, soweit sie mit dieser Eigenart des Wissens vereinbar sind, sich ihnen aber entgegenzustellen, wo das nicht der Fall ist". Bei der genealogischen Analyse des Ausdrucks postmodern verweisen sowohl Welsch als auch Jencks fast auf dieselben Autoren, bei denen zum ersten Mal der Ausdruck postmodern oder Postmodernismus vorkommt.31 Beide sind sich darüber einig, dass der erste positive Gebrauch des Terminus postmodern in der Literaturdebatte bei Leslie Fiedler32 zu finden ist, denn obwohl es bereits Ende der fünfziger Jahre eine ähnliche Diskussion bei Irving Howe und Harry Levin gab, war der damals dominierende Ton eher nostalgisch und resignativ (vgl. dazu Welsch 1994:9 ff.). Demzufolge kann festgelegt werden, dass der heutige positive Gebrauch des Terminus postmodern seinen Anfang in der nordamerikanischen Literaturkritik der sechziger Jahre hat. Die Postmoderne verstehe ich nicht als ein irrationalistisches und antimodemes kulturelles Phänomen, sondern als eine geistige und epistemologische Haltung, bei der die Modernität nicht durch Überwindung, aber durch Erinnerung, Verarbeitung und Verwindung33 in einer Art Palimpsest34 oder Intertext miteinbezogen und berücksichtigt wird. Diese Postmoderne versteht sich nicht als Ablehnung, sondern als kritische, retrospektive (Re-)Lektüre der Moderne. Sie verarbeitet die bereits vorhandenen Strömungen, Richtungen und verschiedenen Ismen zu "etwas Neuem" und wird durch "Plurikodifikation" (s. A. de Toro 1991) charakterisiert. Die Postmoderne stellt vor allem ein Paradigma der Pluralität dar, ein Merkmal, das nicht nur der Postmoderne zueigen ist, da bereits die verschiedenen AvantgardeBewegungen gezeigt haben, in welch unterschiedlichen ästhetischen Richtungen und ge31
Vgl. Charles Jencks (1989: 8) und Wolfgang Welsch (1993: 12-16). Unter anderem sind bei diesen Kritikern Namen wie John Watkins Chapman, Rudolf Pann witz, Federico de Onis, Arnold Toynbee zu finden. Die Jahre, in denen der Terminus Postmoderne bei ihnen zu finden ist, sind 1870 bei Chapman, 1917 bei Pann witz oder 1934 bei Onis. Welsch und Jencks stimmen darin überein, dass bei diesen Autoren der Gebrauch des Terminus Postmoderne eine negative Konnotation beinhaltet.
32
Vgl. Leslie Fiedler (1994: 57-74). In diesem Essay, der 1969 zum ersten Mal gedruckt wurde, verlangt Fiedler für die Literatur die Aufhebung der Grenze zwischen dem "elitären" und dem "populären" Geschmack und meint provokativ, dass die neuen Romanformen "den Kompromiss des Marktplatzes" nicht furchten und dass sie entschieden drei Genres auswählen: Western, Science-fiction und Pornographie (ibd.: 62). Neben Welsch und Jencks bezeichnet auch Huyssen den Gebrauch des Terminus postmodern bei L. Fiedler als positiv. Die Protestbewegungen der 60er Jahre und die Tendenzwenden der 70er Jahre im kulturpolitischen Spektrum der USA zählt Huyssen (1993: 8, 13) als wichtige Elemente für das Etablieren der Postmoderne in den 80er Jahre im Bereich der Literatur. Mit einer ähnlichen Auffassung erwähnt Vester (1993: 79 ff.) einige Ereignisse der 60er und 70er Jahre im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der USA (u. a. Kennedys Ermordung, Vietnamkrieg, Ölkrise von 1973) als ausschlaggebend für die Konstituierung der Postmoderne.
33
Für die Verwendung dieser Termini, v. ausfuhrlicher A. de Toro (1991: 444).
34
Ich erfasse die Begriffe Palimpsest und Intertext, wie sie G. Genette (1993:9-20) und A. de Toro (1992: 159 ff.; 1994: 238) definieren.
34
Auffassung der Geschichte
genseitigen politischen Positionen diese Pluralität zum Ausdruck kommen kann. Gerade in ihrem Umgang mit der Pluralität aber unterscheidet sich die Postmoderne von der Avantgarde. In der Postmoderne finden sich keine trauernden Töne über die Vergangenheit noch irgendwelche sehnsüchtigen Diskurse, die eine bessere Zeit wiederzugewinnen versuchen. Hinzu kommt noch, dass die Postmoderne weder vereinheitlichende noch totalisierende Diskurse aufgreift, um sich zu konstituieren. Dies ist es, was Lyotard (1986: 112; 122) meint, wenn er vom Niedergang der "Metaerzählungen" spricht: "Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren [...]. Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist fiir den Großteil der Menschen selbst verloren." Demzufolge konstituiert sich das postmoderne Bewusstsein erst durch die Ablehnung der Uni form ierung, wodurch das positive und nicht pessimistische Aufnehmen der Einheitsauflösung gebildet werden kann. Im Anschluss an Welsch lässt sich der Beginn der Postmoderne dort feststellen, wo "die Trauer über den Verlust der Einheit überwunden, wo vielmehr die positive Kehrseite dieses Verlustes erfasst und entwickelt wird" (Welsch 1993: 127). Die Pluralität der Postmoderne besteht ferner in der Aufnahme von bereits Vorhandenem (Tradition und Moderne) und in dessen Nebeneinanderstellung und Bearbeitung zu einer veränderten Ausdrucksform, ohne dabei eine einfältige Zusammenfugung von zahlreichen Zitaten mit dem Ziel zu produzieren, alle in ihr vorhandenen Sprachen in ständigen Austausch und wechselseitige Kommunikation zu bringen: Ihre Pluralität versteht sich prinzipiell als ein Verfahren der Rekodifikation. Dieses Prinzip der reflektierenden und differenzierenden Pluralität lässt die Postmoderne vor allem frei geordnete epistemologische Räume gewinnen, welche gleichzeitig ihren gleichberechtigten und nicht hierachisierenden Umgang mit kulturellen Phänomenen bezeichnen. Walter Benjamin (1977a: 258-259) paraphrasierend kann gesagt werden, dass die Postmoderne eine mit Moderne und Tradition geladene "Jetztzeit" ist, welche das "Kontinuum der Geschichte" aufsprengt und den "Tigersprung ins Vergangene" durchaus wagt, ohne dabei einen nostalgischen oder neokonservativen Charakter aufzuweisen. Benjamins Auffassung stellt in erster Linie eine Kritik am Fortschrittsgedanken dar: Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muss die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden. [...] Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet, (ibd.: 258)
In seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" gilt Benjamins Kritik hauptsächlich dem Historismus; seine Position gegenüber der Geschichte ist vergleichbar mit jener der Postmoderne, wie ein Blick in sein Passagenwerk bestätigt: Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, dass der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird. (Benjamin 2 1998 fNl 1. 3]: 595. Im Orig. kursiv.)
Kapitel I
35
Der Begriff der Postmoderne soll als ein Relationsbegriff verstanden werden, der keinen Bruch, sondern eine zitierende "Kontinuität"35 der Moderne darzustellen versucht. Die Bezeichnung spricht eherfür die Moderne als gegen sie, denn als kulturgeschichtliches Phänomen, selbst wenn es zeitlich "nach" der Moderne eingeordnet wird, rekodifiziert sie die Moderne in Form eines neu organisierten Denkens und Wissens weiter. Ich verstehe die Postmoderne als eine veränderte geistige Haltung gegenüber dem traditionellen Wissen und Denken, die offen, dekonstruktionistisch, rhizomatisch, reflektiert pluralistisch und undogmatisch ist, ohne dabei einen Epochenbegriff zu suggerieren, der Anspruch auf eine geschichtsphilosophische Substantialität erhebt. Dieser Haltung - welche vor allem allgemeingültige Aussagen in Frage stellt und sich von universalistischen Theorien verabschiedet - liegt zugleich eine stärkere Beschäftigung mit Sprache und Schrift zugrunde, die bei der Betrachtung von Erklärungen und Vorstellungen einiger postmoderner Philosophen (beispielweise Derrida) festgestellt werden kann. Diese Bestrebung äußert sich auch in der Rolle, die Schrift und Sprache bei der diskursiven Konstitution der Welt spielen und in der Art und Weise, in der sie dieselbe konstruieren. Aufgrund der Thematisierung der Verhältnisse zwischen Schrift, Sprache und Realität auf einer metafiktionalen Ebene rücken in diesem Kontext fiktionale Texte postmoderner Prägung ins Zentrum der Analysen. An die Stelle der Realität, genauer gesagt, der Wirklichkeitsdarstellung, kann die Geschichte gesetzt werden. Mit der Berücksichtigung der Schrift und ihrer Rolle bei der Welterschaffung wird deutlich, dass die Wege der Fiktion und der Geschichte parallel zueinander laufen und dass sie sogar in der Verwendung ähnlicher stilistischer Operationen (z. B. Metaphern), um eine Welt zu vergegenwärtigen, vergleichbar sind. Anhand gleicher sprachlicher Mittel erschaffen und vermitteln die Fiktion und die Geschichte ihre jeweiligen Welten: erstere kreiert imaginäre, die zweite (re-)konstruiert vergangene Welten. Gerade darin liegt ihre Gemeinsamkeit: Beide Welten charakterisieren sich durch ihre "reale" Abwesenheit. Deshalb kommt ein entscheidender Beitrag postmoderner Romane zum Geschichtsverständnis in diesem Zusammenhang deutlich zum Tragen, denn, wie David Bennet (1990: 262) meint, Zeichen produzieren Wirklichkeit und diese wird wiederum zum Zeichen: "the past has been effaced, time has been textualized, leaving only representations, texts, pseudo-events, images without Originals: a spatial, rather than temporal, order of simulacra". Die Berücksichtigung der überragenden Rolle der Sprache und der Schrift, auch für die nicht fiktionalen narrativen Darstellungen, hat die Geschichtsauffassung unserer Zeit geprägt. Das postmoderne Geschichtsdenken, so Rüsen (1993:22-23), richte sich gegen
35
Die Kontinuität in der Postmoderne bezeichnet nicht einen Vorgang, der nur kausal einem anderen folgt. Die hier gemeinte "Kontinuität" bezieht sich auf bestimmte, als postmodern bezeichnete Phänomene, die durchaus in der Moderne auch hätten stattfinden können oder sogar ihren "Ursprung" bzw. erste Anzeichen in ihr hatten. Mit postmoderner Kontinuität designiere ich einerseits jenes Merkmal, das Endzeitvorstellungen von irgendwelchen kulturellen Erscheinungen verwischen soll -"post" bezeichnet also nicht das Ende einer Zeit. Sie darf aber andererseits nicht als eine kausallineare Folge von Ereignissen verstanden werden, sondern als eine Verwindungsart von Phänomenen unterschiedlicher Natur.
36
Auffassung der Geschichte
die "Logik genetischer Sinnbildung", d. h. gegen jene Geschichte, die als Folge linear kausaler Ereignisse verstanden wird, und plädiert eher für eine Sinnbildung im historischen Denken und für eine aus den rhetorischen Prozessen narrativer Vorgänge resultierende Historiographie. Genau an diesem Punkt treffen sich die Geschichtsschreibung und der transversalhistorische Roman: Die Ungleichzeitigkeit der Darstellung von Geschichte operiert als diskursive Schnittstelle, wie es etwa von Augusto Roa Bastos in Yo el Supremo (1974) praktiziert wird. In diesem Roman zeigt der Erzähler-Protagonist Francia (zum Beispiel in seiner Dreifaltigkeit YO/ÉL/TÚ), wie das Subjekt sich der Sprache bedient, um mit ihr zugleich Subjekt und Objekt der Geschichte zu werden: Te enseñaré el difícil arte de la ciencia escriptural que no es, como crees, el arte de la floración de los rasgos sino de la desfloración de los signos. [...] Escribir es despegar la palabra de uno mismo. Cargar esa palabra que se va despegando de uno con todo lo de uno hasta ser lo de otro. [...] Escribir no significa convertir lo real en palabras sino hacer que la palabra sea real. [...] La manía de escribir parece el síntoma de un siglo desbordado. [...] No hay mercadería más nefasta que los libros de estos convulsionarios. No hay peste peor que los escribones. Remendones de embustes, falsedades. (Roa Bastos 2 1987: 160, 161, 172)
Das veränderte Geschichtsverständnis in der Postmoderne und die von Roa Bastos ausgeübte Kritik an der traditionellen Geschichtsschreibung erinnert an Nietzsches Urteil über die "monumentalische" Geschichte und weist Ähnlichkeiten mit Foucaults Bezeichnung von einer anderen Form der Geschichte auf, die er Genealogie nannte. Bei der letzteren handle es sich um eine Form der Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt. (Foucault 1978: 32)
Wurde traditionellerweise die Geschichte als ein teleologischer und abgeschlossener Vorgang verstanden,36 so besteht dagegen das Anliegen der postmodernen Geschichtsschreibung in einer Erneuerung des historischen Denkens und in der Entwicklung einer gut abgewogenen Methode, die Vor- und Nachteile einer rationalistischen Untersuchung mit der Frage nach dem fiktionalen Charakter der Geschichtsschreibung verknüpft. Gerade in diesem Zusammenhang liegen die Vorteile einer postmodernen Geschichtsauffassung: Es geht nicht um die Ausblendung einer Betrachtungsweise zu Gunsten einer (gegensätzlichen) neueren Position. Vielmehr soll sich das Interesse auf das Ineinanderflie-
36
Es handelt sich um eine Position, die bereits im 18. Jahrhundert der Geschichte eine anhaltende Fortschrittsvorstellung zuschreibt. Theodor Lessing kritisiert diese andauernde Situation und meint, hinter den "Redensarten" von Fortschritt, Staat, Vaterland u. a. verstecke sich die "Selbstrechtfertigung für Macht- und Erfolgswilligkeiten herrschender oder herrschwilliger Gruppen" (1983: 134). Für eine weiterführende Kritik am "Entwicklungsbegriff', vgl. ibd.: Kap. XI (§§6065 S. 131-144).
Kapitel I
37
ßen mehrerer Perspektiven richten. Mit der Überlagerung von Perspektiven soll das Schreiben einer "umfassenderen" Geschichte ermöglicht werden: eine geschichtete Geschichte.37 Diese Position vertritt Foucault, wenn er seine "vorläufige Definition" von Genealogie gibt. Die Genealogie soll alle möglichen Wissensarten mitberücksichtigen und eine "Verbindung zwischen gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen" (Foucault 1978:62) sein: In Wirklichkeit geht es darum, lokale, diskontinuierliche, disqualifizierte Wissensarten ins Spiel zu bringen, die nicht legitimiert sind gegenüber der einheitlichen theoretischen Instanz, die den Anspruch erhebt, sie im Namen eines wahren Wissens und der Rechte einer Wissenschaft, die sich im Besitz von irgendjemand befände, zu filtern, zu hierarchisieren und zu klassifizieren, (ibid.)
Das Schreiben von Geschichte in der Postmoderne verabschiedet sich somit von der kanonisierten Vorstellung, dass die Geschichte die Ereignisse so wiedergeben soll, wie sie tatsächlich gewesen sind. Ereignisse werden dokumentiert und mit ihnen lässt sich dann die Geschichte konstruieren/schreiben. Der fiktionale Kolumbus von Roa Bastos hat beispielsweise diese Veränderung bereits verinnerlicht und behauptet: "Un documento prueba lo bueno y lo malo y todo lo contrario. Con el mismo documento se pueden fabricar historias diferentes y hasta opuestas" (Roa Bastos 1993: 183). Solch eine Position bewirkt eine Distanzierung vom traditionellen Verständnis der Geschichtsschreibung und insofern könnte sie auch als eine Distanzierung vom Logos bezeichnet werden. Dieser Abstand vom Logos ermöglicht das Schreiben einer exzentrischen Geschichte, welche vermutlich aufgrund des Desinteresses früherer politischer, herrschender Gruppen außer Acht gelassen wurde. Ihr geht es um eine Ver- und Überlagerung des Wissens, um die Verkettung desselben, unabhängig davon, ob die involvierten Disziplinen traditionellerweise miteinander Informationen austauschen oder nicht.38 Ist das 19. Jahrhundert das (wissenschafts-) historische genannt worden, so könnte das 20. als das Jahrhundert der Sprachphilosophie bezeichnet werden. Es ist eine Denkensrichtung identifizierbar, die sich von der Philosophie Schopenhauers über Nietzsche bis Foucault, Deleuze und Derrida erstreckt. Charakteristisch für das Schreiben von Geschichte in der Postmoderne ist die Debatte um die von der Sprache bedingte Konstrukthaftigkeit der Realität. In dieser Diskussion rücken die Merkmale aneinander, mit 37
Es handelt sich dabei um eine "Lagerung", die als "Nebeneinander" verschiedener Wissensrichtungen verstanden werden soll. Die interaktive Arbeit verschiedener Wissensgebiete führt Foucault (1993: 34-37) zufolge nicht in erster Linie zu einer Ausdehnung des Wissens, sondern zu einem simultanen Auftreten der soziologischen, technologischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und philosophischen Bereiche.
38
Foucaults Begriffe Genealogie und Archäologie können demzufolge ebenfalls innerhalb dieser Erneuerungsintention verstanden werden. Die Genealogie soll die "historischen Wissensarten aus der Unterwerfung" befreien und sie befähigen "zum Widerstand und zum Kampf gegen den Zwang eines theoretischen, einheitlichen, formalen und wissenschaftlichen Diskurses [...]" (Foucault 1978:65). Dabei ist die Archäologie "die spezifische Methode der Analyse der lokalen Diskursivitäten" (ibd.) und die Genealogie ist die "Taktik", die für die Befreiung eingesetzt wird.
38
Auffassung der Geschichte
denen literarische und historische Texte analysiert werden können. Die Feststellung, dass die Verfahren, mit denen beide Textsorten geschrieben werden, sich ähneln oder gar gleich sind, hat zu dieser Diskussion gefuhrt. In dieser Debatte - auch als linguistic turn bekannt (vgl. Rorty 1992) - wird generell anerkannt, dass Sprache eine wesentliche, zum Teil entscheidende, Rolle nicht nur in der Bedeutungs-, sondern auch in der Realitätskonstitution (i. e. in ihrer Repräsentation) spielt. Wenn sich einerseits diese Behauptung durchgesetzt hat - mit der Implikation, dass die Repräsentation Realität schafft - , kann sie aber andererseits keinesfalls bedeuten, dass nur das existiert, was als Repräsentation vorhanden ist.39 Es scheint so zu sein, dass dieser Aspekt der Sinn- und Realitätskonstitution der Sprache bei der Theoriebildung von der traditionellen Geschichtstheorie - auch im Zuge ihrer Modernisierung im 19. Jahrhundert - nicht immer gebührend mitberücksichtigt wurde, denn das gab der postmodernen Geschichtstheorie einen Anlass, die Betrachtungsweise der Geschichte zu ändern und ihre Aufmerksamkeit auch in Richtung der produktiven Rolle der Imagination zu lenken. Mit dieser neuen Orientierung rückt die allmählich akzeptierte Vorstellung, dass die Geschichte ein (narratives) wirklichkeitsschaffendes Konstrukt ist, ins Zentrum der postmodernen historischen Reflexion. Kraft dieser Prämisse wird auch die in der Geschichtstheorie verankerte Fortschrittskategorie eingeschränkt, welche zugleich eine Voraussetzung für die menschliche Weltveränderung und Selbsthervorbringung - nach dem Muster einer umgreifenden Zielgerichtetheit - darstellte. Die durch die traditionelle Geschichtstheorie suggerierte konventionelle Kontinuitätsvorstellung reiht sich mit der postmodernen Perspektivenveränderung lediglich als eine unter vielen Anordnungsmöglichkeiten von Geschichten ein. Die Poetik der Historiographie (s. Kap. II) erreicht durch diese Interessenverlagerung auf die sinnstiftende Funktion der Sprache eine der Methodologie der geschichtlichen Forschung gleichwertige Beachtung. Das Schreiben einer uniformen (bzw. uniformierenden) Geschichte, welche die Integration von Elementen menschlicher "Subjektivität" nicht vorsah, wird nicht weiter angestrebt. Die eingesetzte methodologische Unterstützung dehnte sich auf andere Bereiche aus, als die Historiker ihren Untersuchungskatalog mit Hilfe anderer Wissenschaften wie der Kulturanthropologie und Ethnologie erweitert haben (e. g. die Annales-Schule oder der New Historicism). Mit der von der Postmoderne angeregten Forderung von Beachtung der sprachlichen Sinnbildungsprozeduren im historischen Denken findet eine tiefgreifende Veränderung in einer wichtigen wissenschaftlichen und kulturellen Disziplin statt. Wenn sie dieser Frage nachgeht, wird sie ihren Aktionsradius bald erweitern müssen, so dass ihre epistemologische Ansiedlung an einem noch nicht deutlich definierten Ort zwischen den Bereichen Philosophie, Ästhetik, Medienwissenschaft, Ethnologie, Sprach- und Literaturwissenschaft zu finden sein wird.40
39
An diesem Punkt verweise ich a u f die " n e u e A u t o b i o g r a p h i e " als partikuläre Individualgeschichte, in der sich die Konstitution der Ich-Identität im Schreibakt bildet, weil diese sich ausschließlich durch die Konstrukthaftigkeit der Schrift definieren lässt (vgl. dazu G r o n e m a n n 2 0 0 2 ) .
40
D i e s e r noch nicht fest definierte Ort könnte die von B h a b h a ( 1 9 9 4 ) eingeführte B e z e i c h n u n g "third s p a c e " tragen, oder im S i n n e von Deleuze ( 1 9 8 0 ) als " D a z w i s c h e n " oder " F a l t e " b e z e i c h -
Kapitel
39
I
Dieser Aspekt der Diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft ist fiir den Literaturwissenschaftler von besonderem Interesse, weil in den bereits genannten transversalhistorischen Romanen dieser Wandel im Selbstverständnis der Geschichtsschreibung ständig problematisiert wird. Unter vielen anderen Beispielen findet sich in Vigilia del Almirante von Roa Bastos eine Parallelisierung im Schreiben von Geschichte, fiktionalen Texten und Psychologie: El historiador científico debe siempre hablar de otro y en tercera persona. El yo le está vedado. Los historiadores son de hecho "restauradores" de hechos. A partir de documentos reales, fabrican la ficción de teorías interpretativas semejantes a las "historias" y los diagnósticos clínicos sobre la mente humana. ¿Y son menos caóticos e indescifrables los hechos, llamados "históricos", que los inescrutables laberintos de la mente? [...] El yo de ellos [de los inventores de historias fingidas] es el yo del otro. [...] Su lenguaje es pues simbólico, no descriptivo. [...] Hay un punto extremo, sin embargo, en que las líneas paralelas de la ficción llamada historia y de la historia llamada ficción se tocan. El lenguaje simbólico siempre habla de una cosa para decir otra. Alguien escribe tales historias sobre Gengis Khan, Julio César o Juan el Evangelista [...]. Toma sus nombres e inventa una vida totalmente nueva. O finge escribir una historia para contar otra, [...] como las escrituras superpuestas de los palimpsestos. (Roa Bastos 1993: 68-69)
1.3.3
K e i n Ende d e r G e s c h i c h t e , n u r eine
Veränderung
Innerhalb der Diskussion um eine neue Geschichtsschreibung bzw. um deren Erneuerung stoßen wir auf Begriffe w i e "Verlust der Geschichte", "Ende der Geschichte" oder "Posthistoire". 41 D i e s e Bezeichnungen werden meistens in politisch-soziologischem Sinne verwendet, so zum Beispiel bei Francis Fukuyama (1992), 4 2 der das "Ende der Ge-
net werden. Für die Verwendung dieser Bezeichnung im Zusammenhang von Geschichte und Roman v. das Kapitel III dieser Arbeit. 41
Alfred Heuß (1959) spricht vom "Verlust der Geschichte" und vom "Ende der Geschichte" schreiben Autoren wie Arnold Gehlen (1978) und Francis Fukuyama (1992). Der Übergang von der Geschichte als "Erinnerung" - als Daseinsorientierung verstanden - zur Geschichte als Wissenschaft und die Institutionalisierung der Geschichte, gekoppelt an eine "zivilisatorisch-politische" Beschleunigung in den modernen Gesellschaften, lassen Alfred Heuß (1959:13-32) bedauernd und mit einem zum Teil resignativen Ton vom "Verlust der Geschichte" sprechen (ibd.: 44-57). Dieser Verlust bezieht sich auf Geschichte, die nur von Spezialisten ausgeübt und der nur in den Räumen und Dokumenten der Institutionen begegnet werden kann (ibd.: 58-61). Paradoxerweise fuhrt die Verwissenschaftlichung der Geschichte gleichzeitig zu ihrem Verlust, denn, so Heuß weiter, diese sei "reines Wissen" und dem "Automatismus des Erkennens" verfallen (ibd.: 70). Sie sei, laut Heuß, ein weiter entwickelter Historismus, "lebensfeindlich" (ibd.: 82) und nur auf fachliche Behandlung der Geschichte bedacht, der keine "geistige Relevanz" abzugewinnen sei (ibd.: 81).
42
Fukuyamas These vom "Ende der Geschichte" hat eine breite Diskussion ausgelöst, vgl. für eine Kritik dieser Position u. a. Bennett (1990), Conrad/Kessel (1994), Meyer (1993), Niethammer (1989; 1993), Pöggeler (1995). In der Kritik (vgl. Meyer 1993; Niethammer 1989; Pöggeler
40
Auffassung der Geschichte
schichte" als einen möglichen "Endpunkt" der Entwicklung aktueller Regierungsformen auffasst, als Punkt unüberbietbarer Vernunft.43 Der Ausdruck vom "Ende" im von Gehlen verwendeten Begriff bezieht sich auf eine Umwandlung in der Auffassung des Fortschrittsgedankens: Der Fortschritt wird als ein Stabilisierungsfaktor der bereits durch ihre Institutionen etablierten Macht verstanden, als ein "stationärer" Zustand oder als "Kristallisation" der Menschheit. Autoren, die vom Ende der Geschichte sprechen, stehen mehr oder weniger in der Tradition einer hegelschen Geschichtsphilosophie, und genau diese Situation ist diejenige, die sich durch die Annales-Schule oder postmoderne Auffassung der Geschichte verändert hat. Eine dialektische Erklärung des Weltgeschehens läuft Gefahr, die Komplexität desselben zu minimieren und zu vereinfachen. Solch eine Position scheint reduktionistisch zu sein, vor allem wenn die Bemühungen von Historikern der Annales oder der Postmoderne berücksichtigt werden, die eine möglichst große Zahl von Perspektiven oder sogenannte Randgruppen einbeziehen, um ein breites, nicht eingeschränktes geschichtliches Panorama zu offerieren. In den Erneuerungsversuchen über ein anderes Geschichtsverständnis sind nicht mehr die traditionellen Erklärungsmodelle das Wichtigste, sondern die aus ihnen resultierenden Probleme: Nicht mehr der Fortschritt interessiert, sondern die Probleme, welche die Modelle uns stell e n - a l s o Strukturvergleiche, Koinzidenzen von Repertoires, Syntax von Systemen, Informationstheorien, Kommunikation, Übersetzungen zwischen Modellen, Sprachanalysen, Spieltheorie. Die Gleichgültigkeit der Modelle erlaubt den Vergleich zwischen ihnen und ihr bewusstes Erfinden und Manipulieren. (Flusser 1997: 141)
Die Geschichte geht nicht zu Ende.44 Die Vorstellung der Vermittlung einer alleingültigen Wahrheit durch die Geschichte ist das, was sich verändert hat. Genau diese Tatsache ist in meinem literaturwissenschaftlichen Argumentationszusammenhang von Bedeutung. Warum also vom Ende sprechen? Vielmehr möchte ich von einer neuen Art zu Lesen sprechen - und dies impliziert zwangsläufig das Schreiben. Ein neues Verständnis 1995) herrscht Übereinstimmung darüber, dass der Begriff auf Arnold Gehlen zurückzufuhren ist, welcher sich zugleich auf Antoine A. Cournot bzw. Hendrik de Man bezieht. 43
Bereits Kant sieht in seiner "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" von 1784 als "Endpunkt" einer vernünftigen gesellschaftlichen Entwicklung den von Feinden befreiten "Völkerbund": Die Vernunft bringe den Staat"[...] aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus [...] und in einen Völkerbund" (Kant 1992 §7: 30). Dennoch ist diese teleologische Vorstellung von Kant nur als eine Hypothese, als ein heuristischer Vorschlag zu verstehen, und wird keinen empirischen Beweis finden können: Da sich die Wahrheit einer Hypothese über den Verlauf der menschlichen Entwicklung in der Geschichte als ganzer natürlich niemals vor dem Ende der Geschichte [...] beweisen lässt, kann eine solche Hypothese keinen entscheidenden empirischen Tests unterworfen werden. (Kleingeld 1996: 185-186)
44
Die Geschichte könnte nach Fukuyama deshalb "zu Ende" sein, weil er u. a. diese - in der diskursiven Tradition von Hegel - dem teleologischen Fortschrittsgedanken verpflichtet, liest und dementsprechend schreibt.
Kapitel I
41
von Geschichte wird also aus einer anderen Lektüre und Niederschrift erzeugt, wie sie die Autoren transversalhistorischer Romane praktizieren. An der Schnittstelle zwischen Wieder- und Widerschreibung von Geschichte tritt die Bedeutung transversalhistorischer Romane zutage, die eben diese Form zum Hauptgegenstand ihrer Tätigkeit erheben. So gesehen ist die Geschichte zu Ende und dennoch geht sie weiter. Es handelt sich nicht um ein Paradoxon. Diese Formulierung ist nur anscheinend ein Widerspruch, denn die Rede ist nicht vom Ende eines ganz bestimmten Geschichtsbegriffs, sondern eher von einer Veränderung. Mit Foucault kann gesagt werden, dass der "ideologische Gebrauch der Geschichte beweint" wird: Man wird also jedes Mal vom Mord der Geschichte tönen, wenn man in einer historischen Analyse [...] sieht, wie auf zu manifeste Weise die Kategorien der Diskontinuität und des Unterschiedes, die Begriffe der Schwelle, des Bruchs und der Transformation, die Beschreibung der Folgen und Grenzen benutzt werden. [...] [W]as man so stark beweint, ist nicht das Verschwinden der Geschichte, [...] was man beweint, ist jener ideologische Gebrauch der Geschichte [...]. (Foucault 7 1995a: 25-26. Hervorhebung R.C.)
Was zu Ende geht, ist der Glaube an eine teleologische Konstante in der Geschichte. Zu Ende ist der Glaube an eine stabile, sinnhaft konstruierte Weltgeschichte, die der Geschichtsphilosophie und dem Sinne des Fortschritts folgt (vgl. Niethammer 1989: 156157). Eine Geschichte, die den Wandel der Lebensweisen mitberücksichtigt, ist die Geschichte, die wir heute lesen und schreiben müssen. Mit diesem Wandel etablieren sich der Perspektivenwechsel und die Interdisziplinarität als "neues" System der Wissenschaft und bewirken die Ausdehnung ihres Untersuchungsbereiches. Mit dem Begriff der Veränderung soll der Konflikt in den Mittelpunkt gerückt werden, welcher zwischen einer nicht absolut zu Ende gehenden und einer nicht überall beginnenden Form, Geschichte zu betrachten und aufzufassen, besteht. Die Veränderung soll eine Allusion zum derridaschen Begriff der differance sein, bei dem der Buchstabentausch auf eine "generative Bewegung" und auf wahrzunehmende Transformationen und Differenzen hindeutet, welche sich in diesem neuen Ausdruck finden sollen: Die Aktivität oder die Produktivität, die in dem a der differance mitschwingen, verweisen auf die generative Bewegung innerhalb des Spiels der Differenzen. [...] Die Differenzen sind das Ergebnis von Transformationen; daher ist das Motiv der differance [...] mit dem statischen, synchronischen, taxonomischen, ahistorischen usw. Begriff der Struktur unvereinbar. (Derrida 1986: 68)
Im Gegensatz zur Veränderung suggeriert das "Ende der Geschichte" das Nichts als seinen Nachkommen. Dieses Verständnis wäre nichts anderes als das alte teleologische Prinzip, das eine transzendentale Heilung verspricht. Vom Ende der Geschichte zu sprechen, würde die Unmöglichkeit zeigen, Geschichte "anzuhalten". Dabei erfährt die Geschichte lediglich eine langsame Wandlung in ihren Konzeptionen, in ihren methodischen Auf- und Verarbeitungen sowie in ihren Darstellungsvarianten. Ein definitiver, unumkehrbarer Abschnitt kann nicht vollzogen werden, weil die bestehenden Denkstrukturen (Hierarchisierung der Untersuchungsobjekte, hegemoniale Einstellung gegenüber
42
Auffassung der Geschichte
dem Anderen) und das Machtmonopol, im weitesten Sinne verstanden, noch vorhanden sind, mit der Konsequenz, dass ihre Abschaffung nicht unmittelbar nach ihrer Feststellung oder Bewusstwerdung erfolgen kann. Aus denselben Gründen kann auch nicht die Rede von einer plötzlichen Erneuerung oder von einem überraschend auftretenden Anfang einer neuen Geschichte in ihrer Ganzheit sein. Solch ein Phänomen - Geschichte anders zu schreiben und zu lesen - findet nur mit der Zeit langsam statt, um zur Vollendung zu kommen. In dieser sich langsam entwickelnden Wandlung werden Spuren vom alten Geschichtsverständnis noch zu finden sein: Es handelt sich um ein Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichen, des Nebeneinanderstehens von zwei (oder mehreren) Möglichkeiten, um ein neues kulturelles Dasein zu bewältigen oder zu begreifen. 45 Vor diesem theoretischen Hintergrund scheint es wichtig zu sein, die Diskussion über eine andere Geschichtsschreibung mit den transversalhistorischen Romanen in Verbindung zu bringen, da sie uns - wie bereits erklärt - einen anderen Blick auf diese Problematik verschaffen können. Diese Romane sind nicht auf eine Diskursart fixiert oder limitiert, sondern vereinbaren in sich verschiedene, sich ergänzende, nebeneinander stehende Diskurstypen, ohne sich gegenseitig auszuschließen.
1.3.4
Das geschichtliche Wissen, die geschichtliche Wahrheit und ihre Repräsentation
Das geschichtliche Wissen kann nicht wie das naturwissenschaftliche auf seine Realität zurückgreifen. Obwohl die Realität der Naturwissenschaften sich in ständigem Wandel befindet, sind die großen Naturtransformationen unmittelbar oder kurze Zeit nach ihrem Geschehen nicht erfassbar, da sie in immens großen Zeitabständen stattfinden und deshalb für die menschliche Erfahrung simultan unerlebbar bleiben. 46 Sowohl die "wissenschaftliche" Natur als auch die durch die Gegenwärtigkeit ihres Seins unmittelbar erfahrbare (also die "naiv erfahrene" bzw. die "phänomenale") Natur stehen für den Menschen in keiner Weise in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander, sondern in einer gegenseitig sich bestätigenden Relation. 47 Beide Erkenntnisarten der Natur, die wissenschaftliche und die empirische, werden als gleichwertig "real" angesehen, ihr Erkenntnisgegenstand kann jederzeit zur Kontrolle herangezogen werden und ist im wörtlichen Sinne (be)greifbar. 45
Um in einer überspitzten Form dieses neue Dasein zu veranschaulichen, stelle ich eine provokante - vielleicht auch nur absurde - Frage: Sind Bleistifte und Kugelschreiber wegen des Gebrauchs von Computern zum Verfassen von Texten sofort (oder überhaupt) abgeschafft worden?
46
Die Naturtransformationen bzw. die Umwandlung und die Umformung der Erde spielen fur die menschliche Entwicklung eine gewichtige Rolle, dennoch bleiben sie verborgen (i. e. nicht unmittelbar erfahrbar), weil ihre Untersuchung nur in langen Zeitabständen berücksichtigt werden kann: zum Beispiel die Transformation bzw. Evolution der Gattung Mensch während der unterschiedlichen geologischen Zeitalter.
47
Beispielweise haben die newtonschen Gesetze der Physik trotz Relativitätstheorie nicht ihre Gültigkeit verloren.
Kapitel I
43
Die Erkenntnisse und das Wissen der wissenschaftlichen Geschichte können sich im Gegenteil dazu nicht einer Überprüfung in der Art eines naturwissenschaftlichen Experiments unterziehen; die von ihnen untersuchte und beschriebene Realität ist zwar "noch vorhandene" Wirklichkeit, aber keine, auf die in jedem Moment zurückgegriffen werden kann. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um eine aus Ereignissen rekonstruierte Realität. Und dennoch, trotz aller Konstruierbarkeit der Geschichte, soll diese neue Auffassung nicht instrumentalisiert werden, um damit eine mögliche Verdrängung der Erinnerung zu ermöglichen. So zum Beispiel könnte behauptet werden, dass das Morden zwischen zwei Staaten in einem Krieg notwendig gewesen ist, um daraus später ein friedliches Miteinander zu erreichen. Das Beispiel erscheint vielleicht absurd, aber es stellt eine latente Gefahr dar, die durch Verdrängung und psychologische Manipulation geschichtlicher Ereignisse potentiell vorhanden ist. Deshalb dürfte die Wiedergabe dieser Art von Erlebnissen - wie die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges nicht ohne den bewussten Einsatz von Zeugenberichten erfolgen (vgl. dazu ausfuhrlicher Young 1997). Demzufolge muss das Nichtvergessen die Prämisse für alle Berichte, Konstruktionen und Rekonstruktionen dieser jungen Vergangenheit sein; ein Unternehmen, das nur dann möglich ist, wenn die Erinnerung nicht erlischt.48 Die Reflexion soll nicht verloren gehen, aber sie darf nicht isoliert bleiben, daher ist ein intersubjektiver Diskurs in der Öffentlichkeit notwendig. Durch die Überwindung der traditionellen Auffassung von Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie, welche die Wahrheit als eine Übereinstimmung zwischen einer (logischen) Proposition und den Tatsachen erfasst, könnte teilweise behauptet werden, dass der traditionell-teleologische Geschichtsdiskurs beendet sei.49 Es ist ersichtlich, dass allein Kriterien wie Kohärenz, Evidenz, Konsens, Nützlichkeit usw. ungenügend sind, um eine Proposition als "wahr" zu bezeichnen. Solch eine Feststellung ist nicht neu, dennoch gab es bisher nicht die Möglichkeit, die Wahrheit als eine "Übereinstimmung mit einer hypothetischen Wirklichkeit" aufzufassen und sich anhand der Elimination von Irrtümern dem Ideal einer objektiven Wahrheit zu nähern.50 Diese (traditionelle)
48
Angesichts seiner unmittelbar erlebten Vergangenheit erscheint Heuß' bedauernder Ton um den Verlust bzw. die Verdrängung der Erinnerung berechtigt. Dieser Pessimismus oder Zweifel an der Geschichte ist keineswegs nur Heuß eigen. Ähnlich pessimistisch äußerte sich Th. Lessing: "Wer die Jahre 1914 bis 1918 wachen Sinnes erlebt hat, der weiß, was er künftig von Entwicklung und Fortschritt in Natur und Geschichte zu halten hat" (1983: 187). Der unmittelbar erlebte Krieg scheint ein Grund dafür zu sein, dass eine entscheidende Umorientierung des Denkens über die Geschichte vorgenommen oder verlangt wird. Beispielsweise schrieb Nietzsche (1984) seine zweite "Unzeitgemäße Betrachtung", Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, und Benjamin (1977a) verfasste seine Thesen Über den Begriff der Geschichte nach dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges.
49
Einschränkungen bei dieser Äußerung sind notwendig, weil es immer noch absolutistische Behauptungen gibt, welche die eine oder andere ethnische Gruppe oder gesellschaftlich-religiöse Form klischeehaft beurteilen.
50
Vgl. Ferber(1998: Kapitel IV, besonders S. 107-116). Die Unmöglichkeit, eine Proposition mittels verschiedener Kriterien als "wahr" zu bezeichnen, wird für Ferber mit dem Begriff"Super-
44
Auffassung der Geschichte
Wahrheitsauffassung stellt ein normatives Telos voraus, w e l c h e s das abendländische Denken der letzten zweitausend Jahre gekennzeichnet hat. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch verliert sie an Beständigkeit, ihr Boden wird mit Nietzsches radikalisierter, ästhetischer und fiktionaler Interpretation des Erkennens brüchig: Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Antropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind [...]. (Nietzsche 1982: 314) 5 ' Nietzsche zeigt, dass die Wahrheit eine mit fiktionalen Mitteln erzeugte menschliche Konstruktion ist, eine Annahme, die sich im darauffolgenden Jahrhundert weiter durchsetzen wird, so dass die Wissenschaft allmählich auch einen ästhetischen Charakter des Erkennens vertritt und ihr Wahrheitsmonopol nicht mehr aufrecht erhalten kann (vgl. dazu auch Welsch 2 1996: 485-509). 5 2 An diesem Punkt und im Rahmen einer gevenienz" überwunden, so dass eine Proposition oder ein System von Propositionen wahr ist, wenn es "wahr an sich [ist]" (ibd.: 105). 51
Vgl. auch Nietzsches Zarathustra, der vor dem blinden Glauben an die Wahrheit der Gelehrten ausdrücklich warnt: Hütet euch auch vor den Gelehrten! Diese hassen euch [...]. Solche brüsten sich damit, dass sie nicht lügen: aber Ohnmacht zur Lüge ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Hütet euch! [...] Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist. (Nietzsche 1994: 322 ["Vom höheren Menschen" § 9]) Nietzsches Haltung gegenüber der Wissenschaft ist skeptisch, in seiner "späte[n] Vorrede (oder Nachrede)" (1994a: 367 [§ 1 ]), Versuch einer Selbstkritik, zur Geburt der Tragödie drückt er diese deutlich aus: "Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen - die Wahrheit?" (1994a: 368-369 [§ 1 ]). Er bevorzugt lieber "[...] die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen" (ibd.: 370 [§ 2]).
52
Bernd Engler und Hayden White folgend herrschte im 19. Jahrhundert unter Historikern Konsens darüber, dass sie mit ihren Methoden historische Wahrheit erlangen können, und dass die externe Welt wiedergeben werden kann, wie sie wahrgenommen wird: Historical truth - historians proudly asserted - could be discovered or reconstituted by methods similar to those employed by scientists. Historians claimed that their representations of historical reality were factual in a way which implied a point-by-point correspondence to the extra textual 'reality' of verifiable occurrences or events. (Engler 1984: 19) Im frühen 19. Jahrhundert wurde es jedoch üblich, zumindest unter Historikern, Wahrheit mit Tatsache gleichzusetzen und Fiktion als das Gegenteil von Wahrheit und von daher als ein Hindernis fur das Verständnis von Realität statt als eine Weise ihres Erfassens zu betrachten. (White 1991: 147) Der historische Diskurs sollte aus diesem Grund nur aus "faktengetreuen Aussagen über ein Gebiet von Ereignissen bestehen" und "jegliche Spur des Fiktiven oder nur Vorstellbaren" musste aus ihm verbannt werden (White 1991: 147).
Kapitel I
45
schichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung kann der transversalhistorische Roman als eine Schnittstelle funktionieren, durch die sich unterschiedliche Auffassungen und Diskurse verbinden lassen. In dieser Weise fungiert der transversalhistorische Roman als kollektive Erinnerung und als Medium für scheinbar verlorengegangene historische Phänomene oder stellt den Problematisierungsort für ein verändertes Verhältnis zwischen Fiktion, Geschichte, Wirklichkeit, Diskurs (Schrift) und Wahrheit dar. Dass das Infragestellen der sprachlichen Fähigkeit, die Realität zu repräsentieren, auch keinen Halt vor der Geschichtsschreibung machte, war zu erwarten dennoch gibt es Bereiche in der Wiedergabe der Wirklichkeit, die eine bestimmte Haltung fördern. In diesem Zusammenhang stellt sich für die Geschichtswissenschaft in erster Linie das Problem der Wahrheitswiedergabe als besonders schwierig dar. Wirklichkeit oder Realität wahrhaftig wiederzugeben bzw. wahrheitsgetreu darzustellen, impliziert immer eine Parteinahme, eine Partialität. Diese erweist sich als unausweichlich, weil die Darstellungsform der (geschichtlichen) Wahrheit zugleich ihren Inhalt modelliert. Selbst die Geschichtsschreibung, die unparteiisch und objektiv darstellen will, sieht sich in die Verquickungen der Partialität miteinbezogen, ohne dass ihr Wahrheitsanspruch deswegen gemindert wird.53 Ungeachtet der Parteinahme, welche die Meinung eines Autors eines historischen Werkes möglicherweise in die eine oder andere Richtung lenkt, verlangt die Darstellung der historischen Wahrheit immer die faktische Unterstützung der Referentialität gegebener Tatsachen. Zwar bedürfen historische Dokumente jeglicher Art einer genauen Untersuchung, um zu vermeiden, dass die Aussagen, die darüber gemacht werden können, unbegründeten Äußerungen oder bloßen Meinungen entsprechen. Gleichwohl darf es keinesfalls akzeptabel sein, dass im Namen "irgendeiner" Wahrheit das Leugnen vergangener Ereignisse akzeptiert wird, besonders wenn ihre massive Materialität unübersehbar ist. Die vorurteilslose und sachliche Annahme dieser Tatsachen als primäre historische Quellen (im weitesten Sinne verstanden) ist unabdingbar: so darf zum Beispiel der Holocaust nicht geleugnet werden. Trotz aller revisionistischen Versuche, die auf eine opportunistische Art und Weise sich des Arguments der "ahierarchischen Wahrheiten" bedienen möchten, stellt der postmoderne Diskurs vom "Ende der großen Erzählungen" nicht das WAS der Geschichte in Frage, sondern ihr WIE: Wie und aus welcher Sicht sie dargestellt wird. Diese Haltung stellt einen Kernpunkt in der sogenannten Krise der Repräsentation dar, trotzdem ist aber der Inhalt der Geschichte unanfechtbar.54 Im Anschluss 53
Vgl. dazu Stierle (1979: 117): [die] Frage nach der historischen Wahrheit [kann] nicht mehr ohne Hinblick auf die komplementäre Frage nach den Bedingungen ihrer narrativen Vermittlung gestellt werden. [...] Form ohne Partialität, totalitätsermöglichende Form, ist undenkbar. Dies bedeutet für die Darstellung in der Historiographie, dass diese durch ihre Form "nicht anders als partial, perspektivisch gebunden, sein kann" (ibd.). Jedoch besagt diese Behauptung auch nicht, dass die Geschichtsschreibung deshalb notwendigerweise falsch oder nichtwahr sein muss.
54
Das Ergebnis geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen bezeichne ich hier als Inhalt der Geschichte. Das Resultat einer (oder mehrerer) Untersuchungen kann in der einen oder anderen
46_
Auffassung der
Geschichte
an Lyotard kann die Geschichtsschreibung einen wichtigen Beitrag zur "Protokollierung" der (historischen) Wirklichkeit leisten: Die Wirklichkeit ist nicht diesem oder jenem 'Subjekt' 'gegeben', sie ist ein Zustand des Referenten (das, worüber man spricht), der aus dem Vollzug von Ermittlungsverfahren, die nach einem einmütig gebilligten Protokoll definiert werden, hervorgeht und daraus erwächst, dass jedermann diesen Vollzug beliebig oft wiederholen kann. (Lyotard 2 1989: 18)
Die Repräsentation der Geschichte ist das, was sich vordergründig verändert hat. Für diese Transformationen hat die Berücksichtigung der sprachlichen Möglichkeiten, welche die literarische Sprache anbietet, eine wesentliche Rolle gespielt. Im nächsten Kapitel wird auf diese Aspekte eingegangen.
Weise dargestellt werden; der Inhalt kann unterschiedlich repräsentiert werden, dies darf aber nicht zur Leugnung oder zu einer unwahren (oder sogar absurden) Wiedergabe der Geschichte fuhren.
47
II.
Dichtung, Geschichte und deren "Erzählung" Der Roman kann alle produzierbaren Literaturformen annehmen, das gehört seit längerem zu seiner Theorie. Er ist nach Übereinkünften, und auch gegen sie, entwerft>ar - wie die Geschichte. (Lämmert 21990: 515. Hervorhebung R.C.) [...] narrative form in history, as in fiction, is an artifice, the product of individual imagination. (Mink 1978: 145)
2.1 Dichtung und Geschichte im Verhältnis zueinander Die erste bibliographische Referenz hinsichtlich der präskriptiven Aufgaben von Dichtung und Geschichte ist vermutlich die Poetik des Aristoteles. In dem bekannten 9. Kapitel verwendet er den Begriff Geschichtsschreibung als Synonym für Geschichte/"historia" und hebt hervor, dass ihr Unterschied zur Dichtkunst in ihrem Inhalt und nicht in ihrer Form liege. Diese mehr inhaltliche als formale Trennung stellt einen Versuch dar, die Aufgabenverteilung fiir Historiker und Dichter einzugrenzen und zu definieren. Die Form ihrer Mitteilungen (in Prosa oder in Versen) ist laut Aristoteles nicht primär das Entscheidende, sondern vielmehr die "Regeln", nach denen sie die Ereignisse wiedergeben: [...] Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, [...] was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. [...] der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich [...] vielmehr dadurch, dass der eine das wirkliche Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut -eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. (Aristoteles 1451b/1982: 29; 31)'
1
Trotz der privilegierten Stellung der Geschichte über Vergangenes zu berichten, sollten die enormen Leistungen nicht vergessen oder vernachlässigt werden, welche die historische Literatur (u. a. Heldenlieder, historisches Theater und historische Romane) bezüglich der Menschendeutung hervorgebracht hat. "Es wäre verfehlt, diese historische Literatur [...] als für die historische Erkenntnis belanglos abzutun", ermahnt der Historiker Theodor Schieder (1976:21) und erinnert zugleich daran, dass einst die Geschichtsschreibung durchaus "künstlerische Elemente" besaß und selbst ein Kunstwerk sein sollte (vgl. ibd.: 22), eine Sichtweise, die heute als umstritten gilt und teilweise nicht mehr berücksichtigt wird.
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Dichtung. Geschichte und deren Erzählung
Der Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsgehalt scheint demnach das Verhältnis von Geschichte und Dichtung zueinander zu bestimmen. Jedoch muss daraufhingewiesen werden, dass sowohl der literarische (fiktionale) als auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch Elemente der Rhetorik beansprucht und dadurch verschiedene sprachliche Nuancierungen erreicht werden können. Deshalb kann die wissenschaftliche Geschichtsschreibung nicht nur die "nackte" Wahrheit der Ereignisse darstellen (Ranke), denn der Sprachgebrauch erlaubt das unbemerkte Durchdringen von Wertungen und Urteilen in der Wiedergabe historischen Geschehens. Es ist Todorov (1995:89), der bezüglich des Verhältnisses zwischen Poesie und Geschichte an Stendhal erinnert. Dieser habe den Roman "höher" als die Geschichte und die Philosophie eingeschätzt: Stendhal considered the novel to be superior to history books [...] because it allows one to go beyond the factual; [...] to be superior to philosophy books and abstract treatises [...] because it stays within the realm o f t h e specific, and because it remains rooted in detail. (Todorov 1995: 89) 2
Die Geschichte als gedankliche Konstruktion begriffen wird langsam ein locus comunis und findet zugleich Anklang bei mehreren Autoren.3 Die Aufmerksamkeit wird in zunehmendem Maße auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Schreiben von Geschichte und dem Schreiben von Fiktion gerichtet, die meistens eintreten, wenn das Zusammenspiel (das Eindringen) der Einbildungskraft (Phantasie) und der wissenschaftlichen Objektivität deutlich werden. Für den Fall der Geschichtsschreibung vermerkt Koselleck (1997: 85-87): Wir bedürfen sogar der Erzählung, um das Aporetische zu veranschaulichen [...]. Insofern ergänzen Analyse und Erzählung einander, um unsere Urteilskraft zu schärfen [...]. Hinter oder vor oder zwischen den Wahrnehmungsebenen der Teilnehmer konstituiert sich das, was erst später [...] als die eigentliche oder die wahre oder die wirkliche Geschichte definiert wird. [...] Ferner muss bei der Rekonstruktion der [...] Geschichte berücksichtigt werden, was für die Agenten vorbewusst, unbewusst oder von ihnen gar nicht gewusst wurde [...]."
2
S. dazu auch Koselleck ( 3 1995: 52), der die Bezeichnung der Erzählungen und Romane als "wahrhaftige Geschichten" für den Ausdruck eines "neuen geschichtlichen Wirklichkeitsbewusstseins" hält. Vgl. beispielweise Muhlack (1997: 69; 72 ff.) für den Zusammenhang zwischen einer Nationalsprache und der Herausbildung der Geschichtsschreibung in Deutschland.
3
Ein Beispiel stellt u. a. Joachim Rohlfes (1975: 62) dar, der die historischen Fakten nicht als ein "Erkenntnis-Rohmateriar' begreift und behauptet, es gebe "keine historischen Fakten an sich, sondern nur solche, die durch begriffliche Vor-Entscheidungen konstituiert werden". Eine Gegenmeinung vertritt Schleier (1986: I I I ) , der betont, ein Historiker "konstruiere" die Geschichte nicht, er "rekonstruiere" sie, und Phantasie und Imagination "machen aus der Geschichtsschreibung noch keine Kunst".
4
Andere Beispiele, die diese Position stützen, sind Behauptungen wie Geschichte und geschichtliches Wissen seien "auf Phantasie angewiesen" und ihr Gegenstand komme "nur in der Einbil-
Kapitel II
49
2.2 Geschichte erzählen oder Erzählen in der Geschichtsschreibung. Eine rhetorische Frage? Das Problem der Darstellung des Vergangenen, der Repräsentation vergangenen menschlichen Handelns und deren Konstitution zu Geschichte beinhaltet das Schreiben und Denken von und über Geschichte seit der Unterteilung des menschlichen Denkens in unterschiedliche Bereiche: u. a. ästhetische, logische und politische. Die Formen der Repräsentation von Geschichte werden an die Interessen und Ansichten des Historikers gebunden und können auch nicht von den Funktionen und Methoden der Geschichtsschreibung unabhängig sein, weil sie selbst zu kognitiven Konsequenzen der historischen Erkenntnis beitragen. Von dieser Perspektive aus und in Bezug auf die Darstellung und den Wahrheitsanspruch der Historiographie bemerkt der Historiker Rudolf Vierhaus (1982: 5556): Die Darstellung ist damit wesentliches Mittel, der 'Wahrheit' der Geschichte als Vergangenheit nahe zu kommen. Dass dies nur unter Abstraktionen, also auch unter Vernachlässigung zahlloser Besonderheiten möglich ist, wird sich der Geschichtsschreiber immer bewusst sein und deshalb nicht den Anspruch auf Wahrheit, sondern allenfalls auf Wahrscheinlichkeit erheben. (Hervorhebung R.C.)
Die Problematik des erzählerischen Charakters der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung stellt eine ununterbrochene Diskussion dar. Es handelt sich hierbei um eine Diskussion, die bereits in der Antike begonnen hat und bis ins 20. Jahrhundert hineinreicht.5 Mit mehr oder weniger Beachtung haben sich Historiker im Laufe der Zeit der dungskraft zustande" (Heuß 1959: 12), oder: Ohne Phantasie gibt es keine Geschichte. [...] auch die am wissenschaftlichsten betriebene Geschichte kann nicht bestreiten, dass in ihrer Nähe die Dichter stehen. [...] Die Historiker haben nicht nur zu ihren Ahnen den epischen Sänger, sondern sie sind auch selbst Erzähler, Geschichtserzähler. (Heuß 1959: 11) Both the novel and the history are self-explanatory, self-justifying, the product of an autonomous or self-authorizing activity, and in both cases this activity is the a priori imagination. (Collingwood, The Idea of History, apud Engler 1984: 22. Hervorhebung R.C.) 5
Vgl. dazu Müller (1986) und Hug (1982). Letzterer hebt hervor, dass der narrative Charakter der historischen Darstellungen in der griechischen und römischen Geschichtsschreibung vorhanden ist, also bei Herodot, Thukydides, Sallust, Tacitus und Plutarch. Später, im 18. Jahrhundert, wird die Katechese, die als durchgängige Darstellungsform der Geschichte galt, zugunsten der Erzählung aufgegeben - diese Form bleibt später lediglich in der Pädagogik bestehen. Vgl. hierzu Pandel (1982: 39-40), welcher den Historiker Johann Matthias Schröckh als den ersten bezeichnet, der 1773 mit dieser Form "bewusst durchbricht". Im Bereich der Geschichtsdidaktik spielt die Erzählung ebenfalls eine entscheidende Rolle, ihre Entwicklung erreicht in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt und wird von Pandel (1982:41) als "narrative Rekonstruktion" bezeichnet, da die Schüler anhand der gegebenen Information selbst die Geschichte erzählen sollen.
50
Dichtung. Geschichte und deren Erzählung
Untersuchung dieser Dualität - Geschichte erzählen und Erzählen in der Geschichtsschreibung - gewidmet. Eine mögliche Motivation dieser Beschäftigung kann in einer Frage zusammenfasst werden: Ist die erzählerische Geschichtsdarstellung eine wissenskonstituierende Instanz oder handelt es sich dabei nur um eine andere Darbietungsform, historisches Geschehen zu vermitteln? Bereits im 19. Jahrhundert unterschied Droysen vier Formen der Geschichtsschreibung: Neben der "erzählenden" Form, als "Mimesis des Werdens" bezeichnet, stehen die untersuchende Darstellung, die didaktische lehrende Form und die diskursive Vermittlung (s. dazu Schleier 1986: 105; Rüsen 1993a: 115; 253 ff.). Zugleich umfassen diese Varianten vier andere Darstellungsmöglichkeiten: die pragmatische, die biographische, die monographische und die katastrophische.6 Trotz aller Divergenzen in der Konzeption der Geschichte darüber, ob sie mehr als Kunst oder mehr als Wissenschaft konzipiert wird, gibt es bis heute einen Konsens darüber, dass die Erzählung der dominierende Modus bzw. die geläufigste Variante in der Geschichtsdarstellung war und ist.7 Die Art der (Re-) Konstruktion von Geschichte nahm zu, als es darum ging, den kompilatorischen Charakter des Geschichtsverständnisses zu durchbrechen. Das historische Erzählen konnte sich sodann als die spezifische Form der Wiedergabe historischen Geschehens in den allgemeinen Geschichtsdarstellungen durchsetzen. Erzählen in der Geschichte meint "eine Form der Darstellung, für die das zeitliche Nacheinander von beschreibbaren Ereignissen und verstehbaren Handlungen zentral ist [...]" (Kocka 1984: 397). Im Anschluss an Rüsen schließt das Erzählen in der Geschichtsschreibung nicht notwendigerweise die Analyse von Strukturen und Prozessen aus, es wird als eine logische Form der Vermittlung von Geschehnissen verstanden, die zugleich eine Orientierung mit sich bringen soll: [...] 'Erzählen' bezeichnet die Logik historischer Sinnbildung. Historisches Erzählen ist dann das Ensemble derjenigen mentalen Operationen, in denen über Zeiterfahrung orientierende Sinnbestimmungen der menschlichen Lebenspraxis gebildet werden. (Rüsen 1993a: 114)8
6
Schleier (1986: 110) hebt seinerseits u. a. folgende Formen der Geschichtsschreibung neben der historischen Erzählung hervor: den Forschungsbericht, die historische Polemik, den historischen Essay und die geschichtsdidaktische Untersuchung.
7
Das ist die Meinung, die aus den Arbeiten verschiedener Historiker herausgelesen werden kann. Dazu zähle ich Baumgartner (1975; 1979), de Certeau (1991), Günther (1979), Kocka (1984), Koselleck ( 2 1990), Quandt (1982) und Rüsen (1982; 1993; 1994b).
8
Ich halte es nicht für sinnvoll, unter Erzählen nur eine logische Darstellungs- oder Sinnbildungsform zu verstehen. Dabei handelt es sich um zwei Konstituenten einer Möglichkeit historische Fakten oder Begebenheiten wieder- und weiterzugeben, die eng miteinander verbunden sind. Eine narrative Darstellung muss "vernünftig" (i. e. grammatikalisch-logisch) geschrieben werden, damit sie etwas "erzählen" kann. Diese traditionelle Vernunftvorstellung gibt lediglich eine der vielen möglichen Darstellungsformen an, in der Geschichte erzählt werden kann. Dieses Vernunftverständnis erweist sich als teilweise unbrauchbar, spätestens dann, wenn wir die Geschichtsdarstellungsformen in transversalhistorischen Romanen des ausgehenden 20. Jahrhun-
Kapitel II
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Mit dem im 19. Jahrhundert entstandenen historischen Roman sah sich die in zunehmendem Maße als positivistische Wissenschaft konzipierte Geschichtsschreibung vor das Problem gestellt, gezwungenermaßen eine andere, nicht narrative Darstellung für die Wiedergabe historischer Geschehnisse zu (er)finden. Dies habe zur Vernachlässigung der Untersuchung ihrer Literarität zugunsten ihrer Wissenschaftlichkeit geführt (vgl. Stierle 1979:108 ff.). Der Historiker Jürgen Kocka (1984) verdeutlicht, dass im Gegenteil dazu in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine stärkere Forderung nach Erzählen in der Geschichte als Reaktion gegen die Neigung von Historikern, Geschichte überwiegend strukturtheoretisch und analytisch zu erklären, verstanden werden kann. Hinzu kommt auch ein wachsendes Interesse an Geschichte von Seiten eines breiteren Publikums, das die narrative Darbietung historischer Ereignisse als eine verständlichere Form der Geschichte bevorzugt. 9 Vierhaus (1982:51) bemerkt hierzu, dass das Interesse an narrativer Geschichtsdarstellung proportional zum Interesse an "sozialgeschichtlichen Fragestellungen" steigt und als Folge der "dominierenden wissenschaftstheoretischen Anforderungen" zu verstehen sei, die "sich stärker auf Argumentation und Erklärung richten". Theorieorientierte Darstellung historischer Ereignisse unterscheidet sich von der erzählerischen Darbietung nicht durch Anwendung von Tabellen und Formeln, sondern dadurch, dass sie die "historische Argumentation" verwendet. Damit ist die in der wissenschaftshistorischen Darlegung vorhandene metatheoretische Reflexion des Historikers gemeint, welche sich um eine Erklärung und Begründung für die Verwendung von Begriffen bemüht, die Historiker in ihr Werk mit einfließen lassen. Das heißt jedoch nicht, dass das gesamte Werk nur in diesem Stil geschrieben werden soll, vielmehr handelt es sich bei der historischen Reflexion um Passagen, welche die vorhandenen narrativen Stellen der gesamten Darstellung unterbrechen (vgl. dazu Kocka 1984: 401 ff.; Stempel 1990: 343 ff.). Der absolute Verzicht auf narrativ-erklärende Momente in einer Darbietung historischer Geschehnisse ist nicht immer möglich, da eine Geschichte nicht hundertprozentig Struktur-, Prozess-, Erfahrungs- oder Handlungsgeschichte sein kann. Die Methoden der einen oder anderen historischen Richtung beeinflussen sich gegenseitig. Es besteht die Möglichkeit, dass eine bestimmte Position stärker zur einen oder anderen Seite neigt, was aber nicht dazu berechtigt, die ausgewählte und daher bevorzugte Darstellungsvariante übertrieben zu loben und die anderen abzuwerten oder zu dämonisieren. Ein Beispiel für eine mit starken Einwänden beladene Auffassung gegen die Theorieanwendung in der Geschichte stellt der polemische Text "Plädoyer für die historische Erzählung" von Golo Mann (1979; vgl. auch idem 1979a) dar: "Ich glaube an die ganze Theoriebedürftigkeit der Geschichte nicht. Die Historie ist eine Kunst, die auf Kenntnissen beruht, und weiter ist sie gar nichts" (Mann 1979:53). Theorie sei für ihn grundsätz-
derts analysieren wollen. Vor allem eine monokausal-logisch-lineare Vernunft hilft nicht dabei, Kulturphänomene zu erklären, die u. a. Paradoxien und Aporien involvieren, wie sie dieser Romantypus behandelt (s. dazu Kapitel III dieser Arbeit). 9
Diese Behauptung kann anhand der unzähligen Erscheinungen populärwissenschaftlicher Bücher (Abhandlungen) in "historischen Abteilungen" beliebiger Buchhandlungen überprüft werden.
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Dichtung. Geschichte und deren Erzählung
lieh menschliche Erfahrung, bewusst oder unbewusst im "Geist" des Historikers vorhanden. Die Erzählung in der Geschichte wird als Mittel, als eine Art Verknüpfungselement zwischen zwei Zeitpunkten eingesetzt, um damit eine zeitlich logische Darlegung historischer Begebenheiten zu ermöglichen. Die Auswahl der erzählerischen Form für die Darbietung historischer Ereignisse deutet auf die Entscheidung für ein Darstellungsverfahren hin, dessen Möglichkeiten, Erkenntnis zu gewinnen, durchaus vorhanden ist. In diesem der analytischen Wissenschaftstheorie entsprechenden Sinne konzipiert Danto (1980) den Begriff Erzählung: Es handelt sich nicht nur um ein "Darstellungsprinzip", sondern auch um ein Konstitutionsprinzip des geschichtswissenschaftlichen Gegenstandes und dessen Erforschung.10 Die erzählenden - i. e. die narrativ konstituierten - Sätze bieten die Möglichkeit, die "leidige Frage" zu lösen, ob die Geschichte Wissenschaft oder Kunst sei, nämlich "keines von beiden" (Danto 1980: 232). In Dantos Konzeption spielen erzählende Sätze für die Beschreibung von Ereignissen eine gewichtige Rolle: Ein Ereignis Ei kann nicht als Ursache eines Ereignisses E2 angesehen werden, solange E2 noch nicht stattgefunden hat. Erst wenn E2 zustande kommt, kann gesagt werden, E t sei eine Ursache oder eine logisch notwendige Bedingung für E2 gewesen." Sprachlich werden diese Ereignisse durch anleitende Formulierungen der Art "'sagte richtig vorher', 'veranlasste', 'regte an', 'begann', 'ging vorher', 'verursachte die Entstehung von'", etc. (Danto 1980:254). Das heißt, dank der narrativen Beschreibungen (in diesem Fall temporale Deiktika/Präteritum) können Sachverhalte als wahre bzw. falsche Begebenheiten dargestellt werden. Die Geschichte wird als eine kausal-logische narrative Einordnung bzw. Organisation der Vergangenheit verstanden, die Ereignisse nur dann a posteriori beschreiben kann, wenn sie (die Ereignisse) als das, was es zu beschreiben gilt, eingetreten sind. So verstanden enthält der Erzählungsbegriff zwei Ebenen für die (Re-)Konstruktion und Analyse historischer Texte: die temporal-logische Struktur und die daraus resultierende historische Argumentation. Aus diesem Grund soll zwischen zwei Ebenen des Begriffs "Erzählung" unterschieden werden. Erstens: Erzählung als eine poetologische - wenn auch die dominanteste - Form der Geschichtsschreibung, und zweitens: Erzählung als logische Struktur des Denkens, Erforschens und Schreibens von Geschichte, als "gnoseologisches Prinzip der Geschichtserkenntnis überhaupt" (Küttler 1986: 116).12
10
In Anlehnung an Danto (1980), Stempel ( 2 1990) und Stierle ( 2 1990) stimmt Baumgartner (1979: 263-269) der These zu, dass die Erzählung nicht nur Basis, sondern auch konstituierendes Prinzip der Geschichte und demzufolge auch der Geschichtsschreibung und der Geschichtswissenschaft ist. Er betont, Danto gehe es um "die implizite Struktur der Texte, Sätze, Ausdrücke, Prädikate" und um ihre "eigentümliche Reflexivität und Logik" (ibd.: 268).
11
Mit anderen Worten, die Geschichte muss auf die narrativen Vorteile, die Anachronismen bieten, gänzlich verzichten, um die Logik der Erzählung nicht zu verletzen. Bei der Geschichtsdarstellung im transversalhistorischen Roman verzichten die Autoren nicht auf den Einsatz von Anachronismen, im Gegenteil, sie sind ein wichtiger Bestandteil der Narration.
12
Vgl. auch Rüsen (1994: 9-10), der das Narrative der Geschichte vornehmlich als eine logische
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Neben der vorhergehenden Unterteilung in zwei Ebenen (der Form und der logischen Struktur) finden wir bei Rüsen (1982:135-136) eine weitere Differenzierung zwischen dem Erzählen der Geschichte und dem Erzählen in der "Literatur als Kunst", welche die zeitliche Dimension in den Vordergrund rückt. Das Erzählen in der Geschichte unterscheidet sich vom Erzählen in der Literatur durch drei "Eigenschaften einer Sinnbildung über Zeiterfahrung": Erstens durch die Einbindung des Erzählens ins Medium der Erinnerung; zweitens durch das Begreifen der Zeiterfahrung im Erzählen als eine Form der Kontinuitätsvorstellung (dabei wird die Kontinuität in Anlehnung an Baumgarten (1997) als das "Resultat der Deutung von Zeiterfahrung durch historisches Erzählen" verstanden) und drittens durch die Bildung einer Kontinuitätsvorstellung, welche die Identität der Erzählenden und Zuhörer sichert. Geschichten sind, so Röttgers (1982, besonders S. 31 f.), "Momente zugleich temporaler und sozialer Selbstverständigung von sozialen Zusammenhängen und Traditionszusammenhängen", die "Intersubjektivitäten" und "Intertemporalitäten" in einer Kommunikationssituation erzeugen, und später - dank ihrer "Iterierbarkeit" - zu einer Ablagerung von "Erzähltem" fuhren. Diese Ablagerung habe, so Röttgers (ibd.: 32) weiter, dann die Herausbildung von Erzählkonventionen und Erzähltraditionen zur Konsequenz, welche den Erzählmechanismus "von Geschichtswissenschaft aus lebensweltlichem Geschichtenerzählbedarf' ausmacht. Demnach ist Geschichte(n)erzählen eine menschliche Notwendigkeit und Tätigkeit, die dabei helfe, eine gemeinsame Vergangenheit herzustellen. Kurz gesagt: Die erzählende Geschichte macht aufgrund ihrer narrativen Strukturierung die Vergangenheit "erfahrbar" (Stierle 1979: 118). Vor allem verdeutlicht dieses Merkmal aber, dass nicht allein der Gegenstand - das Objekt der Untersuchung - den Charakter der Geschichte bedingt, entscheidender ist dagegen die Organisation der Darstellung. Die Form der Wiedergabe bildet ein grundlegendes Kriterium für die Konstitution des Gegenstandes, sie determiniert und bekräftigt somit den Charakter der Geschichte und ihre Konstrukthaftigkeit [...] als retrospektive Deutung des Vergangenen im Lichte späterer Ereignisse und unter einem Gesichtspunkt, der gegenwärtiger praktischer Kommunikation und nicht den Ereignissen selbst entstammt. [...] Dass historisches Wissen die Form der Erzählung hat, erweist es als Konstruktion in praktischer Absicht. (Baumgartner 1997: 218; 221)
Die Aussage, Geschichte als eine Konstruktion aufzufassen, die mit Hilfe von narrativen Elementen aufgebaut wird, verstärkt das "neue" Geschichtsverständnis, welches nicht von einer vorgegebenen Geschichte ausgeht, sondern eine logische Aneinanderreihung von verschiedenen Komponenten darstellt:
Form der Darstellung, als eine Denkform betrachtet, mit deren Hilfe das Geschichtsbewusstsein "die erinnerten Vorgänge zeitlicher Veränderungen in der Vergangenheit 'erzählt' [...]" und "sich daher immer in narrativ verfassten sprachlichen Gebilden" äußert (ibd.: 10).
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Erzählung
[...] [P]ast reality is made up o f various components, such as actions, events, historical processes, which may be the object o f historical enquiry. [...] [Historians] do not analyse a previously given historical reality, but define it first. 'Historical reality' is not a datum but a convention created by the reality effect. (Ankersmit 1989: 22) 1 3
Demnach stellen diese Komponenten und eine "Konvention" der Historiker die Elemente dar, welche die Geschichtsschreibung in die Nähe des Romans rücken lässt: Beide, Geschichte und Roman,produzieren Realität anhand ähnlicher Vertextungsverfahren. Die Anerkennung dieser Situation verdeutlicht die Aussage, dass die Grenze, mit der die Roman- und Geschichtsbereiche einst streng definiert wurden, heute durchlässig geworden ist. Die Tatsache zu erkennen, dass die gleiche Sprache und ihre rhetorischen Methoden beiden (oder mehreren) Diskursen zur Verfugung stehen, hat zur Infragestellung etablierter Theorien (sogenannter "Metaerzählungen") und zu einer Transformation im Denken über das Verhältnis zwischen fiktional-fiktiven und «arrai/v-wissenschaftlichen Texten gefuhrt. Solch eine Feststellung machte Roland Barthes bereits Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, und sie kann als ein Zeichen des Übergangs in ein neues Epistem (im Sinne Foucaults) verstanden und bezeichnet werden: [...] es vollzieht sich eine allgemeine Umwandlung der diskursiven Rede, eben die, durch die der Kritiker sich dem Schriftsteller nähert: wir erleben eine Krise des Kommentars, die vielleicht genauso bedeutsam ist wie jene, die in bezug auf das gleiche Problem den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance markiert. [...] Alles, was die Sprache berührt, wird also aufs neue in Frage gestellt: die Philosophie, die Geisteswissenschaft, die Literatur. (Barthes 1967: 6 0 ) ' 4
In dieser von Barthes vorgegebenen Richtung können auch die Arbeiten von Hayden White als eine Art Infragestellung der Geschichte und ihres Selbstverständnisses bezeichnet werden. In den Erläuterungen seiner Thesen bemüht er sich darum, deutlich zu zeigen, dass die Darstellung historischer Ereignisse in der Historiographie ohne die Verwendung von literarisch-rhetorischen Elementen (also einerßgurativen Sprache) nicht
13
Hier geht Ankersmit vom bekannten Begriff des "effet de réel" von Roland Barthes aus und lehnt seine Aussage an die Position von Behan McCullagh an, der annimmt, "there is a past reality which is as much a datum as the things we find around us in everyday life" (vgl. ibd.).
14
Möglicherweise hängt die von Barthes erwähnte "Krise des Kommentars" mit der "Befragung" i. e. mit der Infragestellung - des Kommentars selbst und mit dem Nicht-Gesagten, dem "nicht formulierten Rest des Denkens" zusammen, das kommentiert werden soll. Hinsichtlich des Begriffs "Kommentar" vgl. Foucaults ( 5 1 9 9 9 : 14) Aussage: [...] der Kommentar setzt per definitionem einen Überschuss des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraus, einen notwendigerweise nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat [...]. Aber Kommentieren setzt auch voraus, dass dieses Nicht-Gesprochene im Wort schläft und dass man, indem man es befragt, aufgrund einer dem Signifikanten eigenen Überfiille einen Inhalt zum Sprechen bringen kann, der gar nicht explizites Signifikat war.
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erreicht werden kann. Dießgurativen Elemente finden sich sowohl in der Historiographie als auch in der Philosophie der Geschichte und das versucht White anhand der Werke von vier Historikern und vier Philosophen zu beweisen: Michelet, Ranke, Tocqueville und Burckhardt einerseits, Hegel, Marx, Nietzsche und Croce andererseits.15 Dafür entwickelt er eine Poetik der Geschichte, mit der die Arbeit einer Metahistorie ermöglicht werden soll. Er erkennt an, dass viele Fragen über die Geschichte und ihre Praxis bereits kompetent von Philosophen, Historikern und sogar Literaturtheoretikern behandelt worden sind. Dennoch vermisst er dabei die Beantwortung der Frage nach dem "Status der historischen Erzählung" (White 1991: 101). Seines Erachtens haben bisherige Untersuchungen versäumt, [...] historische Erzählungen als das anzusehen, was sie am offensichtlichsten sind: sprachliche Fiktionen (verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften, (ibd.: 102. Im Orig. kursiv.)
Die Konstitution eines historischen Textes wird White zufolge nicht direkt als ein "rationaler" Vorgang, sondern eher als ein poetischer Akt charakterisiert, denn die "Konsistenz und Kohärenz" im Text sind "poetischer, genauer: sprachlicher Natur": Bevor der Historiker das begriffliche Register, das er zur Darstellung und Erklärung verwenden will, auf die Gegebenheiten des historischen Feldes übertragen kann, muß er das Feld vorstrukturieren, d.h. es als Gegenstand der geistigen Wahrnehmung konstituieren. (White 1994: 49. Im Orig. kursiv.)
Neben Daten und theoretischen Begriffen hält White die narrative Struktur für einen wichtigen Bestandteil, der in einem Ensemble zur Erklärung von Ereignissen der Vergangenheit berücksichtigt werden soll. Wichtig für sein Modell der historischen Erkenntnis ist jener in allen Geschichtsschreibungen enthaltene tiefenstrukturelle poetischsprachliche Gehalt, der "vorkritisch" die Form der historischen Erklärung determiniert und die Rolle des "metahistorischen Elements" spielt (White 1994:9). Gemeint ist eine figurative Sprache, die in der Tiefe jeder Geschichtsschreibung zu finden ist, und die der Historiker im Prozess des "Vertrautmachens des Unvertauten" (White 1991:12) anwendet, um seiner Geschichte eine Plotstruktur zu verleihen.16 Dieser Plot muss "als in den 15
Whites Auffassung folgend liegt der Unterschied zwischen der Geschichtsphilosophie und der Geschichtsschreibung in der Verlagerung des Figurativen. In der Geschichtsschreibung wird das figurative Element in "das Innere des Diskurses" verschoben und in der Geschichtsphilosophie wird es im Diskurs "an die Oberfläche" verlegt und zu einer Theorie aufgehoben (vgl. White 1991: 140).
16
Unter Plot versteht White (1990: 20) sowohl die Beziehungsstruktur, "die den in der Darstellung enthaltenen Ereignissen einen Sinn verleiht", als auch die "Teile", die "eines integrierten Ganzen identifizierbar" machen. Für eine deutlichere Erklärung der Verwendung von Plotstrukturen im Sinne von White, s. Stückrath (1997a); für die unterschiedlichen Konzeptionen von Plot in der Literaturwissenschaft, s. Antor(2001: 508-509).
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Ereignissen "vorgefunden" präsentiert werden" (White 1990: 34), damit sie in der Darstellung eines realen Geschehens die notwendige Kohärenz erhalten, die der Leser für die Verständigung der Geschichte benötigt. Der Historiker entscheidet a priori über Art und Charakter seiner Geschichte. Zugleich stellt er damit fest, dass die dargestellten Beziehungen zwischen den Ereignissen diesen nicht immanent sind, sondern dass sie in der vorgestellten Form "nur im Kopf des Historikers" (White 1991:116) existieren. Demzufolge vollzieht sich das Schreiben der Geschichte nach einem vorher bestimmten - fast phänomenologischen - Verstehensprozess (Präfiguration), der sich der Hauptformen figurativer Rede (Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie) bedient, und den Ereignissen "aufgrund poetischer Mittel eine diskursive Form auferlegt" (White 1990: 59).17 Diese Tatsache ergibt sich allein aus der Verwendung von Sprache, da diese eine zweite Bedeutung - in einer figurativen Ebene - hinter dem Geschriebenen impliziert: Diese figurative Ebene wird durch einen konstruktiven Prozess, der poetischer Natur ist, hergestellt, die den Leser des Textes mehr oder weniger unterschwellig darauf vorbereitet, sowohl die Beschreibung der Tatsachen als auch deren Erklärung als einerseits plausibel und andererseits als einander angemessen zu akzeptieren. (White 1991: 135. Im Orig. kursiv.)
Neben der Tätigkeit der Präfiguration unterscheidet White (1994) drei Hauptstrukturierungsformen {modes) oder Erklärungsstrategien, die Historiker einsetzen, um Texte über Geschichte zu erzeugen und sie zu erklären: 1. Die formale, explizite oder diskursive Schlussfolgerung (mode of argument) bezieht sich auf die innere Logik der Erklärung der Geschichte, die der Historiker anwendet, um die Ereignisse begreiflich zu machen. Hierbei fuhrt White vier paradigmatische Schlussfolgerungen ein, die eine historische Erklärung annehmen kann: die formativistische, die organizistische, die mechanistische und die kontextualistische. 2. Die narrative Strukturierung (mode of emplotment) erzählt eine nach ästhetischen Kriterien konstruierte Geschichte. Dabei handelt es sich um die Art der Erzählstruktur,
17
Die Präfiguration soll als eine Art /Vä-Interpretation des historischen Materials verstanden werden, die vom Historiker vorgenommen wird, bevor er seine Geschichte schreibt und ihr dabei eine bestimmte Form gibt. Diese /Vd-Interpretation ergibt sich aus einer bereits vorhandenen Menge von Beziehungen, die im "Mythos, in der Fabel und der Folklore, in den wissenschaftlichen Kenntnissen, der Religion und der Literatur der Kultur, der der Historiker selbst angehört, konzeptualisiert sind" (White 1991: 116). Die Präfiguration soll demnach als eine vorkulturelle Entwicklung aufgefasst werden, welche eine "ontogenetische Basis" der tropologischen Arten von Denken und seiner Relationen zu dem Diskurs bildet (vgl. Meilard 1987: 17; vgl. auch White 1991: 13). Ausgehend von Piaget stellt White fest, dass die Tropologie in enger Verbindung mit der menschlichen Psychogenesis steht. Der Übergang von einem "metaphorischen Erfassen" der Wirklichkeit zu einer "metonymischen Verteilung ihrer Elemente in die Kontiguität einer Serie" ist eine Realitätsauslegungsmodalität, welche er Präfiguration nennt (vgl. White 1991: 13).
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die nach dem Vorbild eines wichtigen literarischen Genres eine von vier Formen annehmen kann: Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire. 3. Die ideologische Implikation (mode ofideological implication) sagt aus, dass jede historische Darstellung so gestaltet ist, dass sie moralische oder politische Beurteilungen beinhaltet. Demnach kann die "ideologische Dimension einer historischen Darstellung" (White 1994: 38) eine der vier ideologischen Implikationen haben: anarchistisch, radikal, konservativ oder liberal. Zusammen mit der erwähnten Präfiguration bestimmt dieses Modell der drei Strategien (modes) den sogenannten "historiographischen Stil" des Historikers, der auf "einer eigentümlichen Kombination der narrativen Strukturierung, der formalen Argumentation oder Schlussfolgerung und der ideologischen Implikation" beruht (White 1994:47). Mit diesem Modell lenkt White die Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Aspekt, der nach seiner Meinung vernachlässigt geblieben war: Dass sich hinter der sprachlichen Darstellung von vergangenen Ereignissen auch ein von der Imagination produzierter poetischer Akt verbirgt, der den Inhalt der Geschichte entscheidend mitbestimmt. Damit verbindet er das Problem der Erzählung in der historischen Theoriediskussion mit der Rolle der Imagination (Einbildungskraft) und der Produktion (im wissenschaftlichen Diskurs) einer spezifischen menschlichen Wahrheit. Mit dieser These befindet sich White in der Nähe des Literatur- und Sprachtheoretikers Roland Barthes (1969: 21), der den "Figuren der Rhetorik", also den Tropen, eine große Bedeutung beimisst, da es sich bei ihnen "um eine Form der Welt" handelt, "die ebenso wichtig ist wie die geschichtlich betrachtete Darstellung des Raumes bei den Malern". Die historischen Werke für White - wie die literarischen Werke für Barthes - sollen diesem Verständnis zu Folge als ein Zeichen aufgefasst werden, das nicht als "Wirkung einer Ursache", sondern als "das Bedeutende eines Bedeuteten" (ibd.: 24) erfasst wird. Mit der Betonung des sprachlichen Charakters von geschichtlichen Arbeiten hebt White zugleich ihre zeichenhafte Funktion als Signifikant eines Signifikats hervor; und es ist gerade diese Besonderheit, die ihn zu der provozierenden Schlussfolgerung fuhrt: "Rein als sprachliche Kunstwerke gesehen sind Geschichtswerke und Romane nicht voneinander unterscheidbar" (White 1991: 145). Whites symmetrisches Modell - jede Unterteilung enthält jeweils vier Elemente18 habe ich zwecks Übersichtlichkeit graphisch zusammengefasst: 18
Das symmetrische "Vierteilige" in Whites Modell stellt einen der Kritikpunkte und eine Schwäche seiner Thesen dar. So zum Beispiel bleibt die Epik in diesem Modell unerwähnt, weil sonst, so Burke (1997: 81 ff.), diese die schematische Symmetrie zerstören würde. Stückrath bevorzugt den Ausdruck "Typologie" statt "Theorie" in Zusammenhang mit diesem Modell, da das Verfahren typologisch und nicht theoretisch sei: White "beschreibt nacheinander die vier Tropen und die mit ihnen verbundenen kognitiven Leistungen auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion" (Stückrath 1997a: 101), weiterhin differenziert er die Tropen nicht aus, "sondern reduziert sie jeweils auf einen Typus [...]" (ibd.). Obwohl Whites Thesen im Grunde bei anderen Autoren zu finden sind (vgl. dazu Burke 1997: 75-76), zeigt sich an den kritischen Stimmen - die White ent-
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58.
f
Metapher Präfiguration. Vorstrakturierung der Geschichte im Bewusstsein des Historikers
Metonymie Synekdoche Ironie
^"formativistische (Zerstreuende Strategie)
ÖD
C 2
W
«
S y — J3 (U u
Formale Schlussfolgerung (mode of argumenl). Vier Ausdrucksweisen Eine Erklärung des "Sinns des Ganzen"
organizistische (Integrative Strategie) J mechanistische (Reduktive Strategie)
•g T3 OD
•c 1) Romanze
Narrative Strukturierung (mode of emplotmenl). Modellierung der Erzählstruktur oder Handlung erfolgt durch vier Archetypen
Komödie Tragödie Satire
r Anarchistisch Ideologische Implikation (mode of ideological implication) erfolgt durch vier Taktiken
V
Radikal J ^ Konservativ Liberal Anarchistisch
w e d e r a l s "Verräter" v e r d a m m e n o d e r als "Guru" b e j u b e l n (ibd.: 7 3 ) - , d a s s s e i n e A n s i c h t e n ins o f e r n i n n o v a t i v ( g e w e s e n ) sind, da s i e z u i n t e n s i v e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n mit d i e s e m T h e m a herausgefordert haben.
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Hayden Whites Hauptthese fußt auf der Feststellung, dass das historiographische Schreiben grundsätzliche Strukturale Ähnlichkeiten mit dem literarisch-poetischen Schreiben aufweist, insofern der Historiker einen poetischen Akt vollzieht, wenn er das historische Feld präfiguriere, um zu einer historischen Darstellung zu gelangen (vgl. White 1994: 11 f.). 19 Was aber heißt, einen poetischen Akt zu vollziehen? Allein dieser Ausdruck rückt die Analyse historiographischer Werke sehr nah an jene der Literaturwissenschaft, denn die Poetizität ist ein "Merkmal zur Unterscheidung literarischer Texte von nichtliterarischen" (Rühling 1996: 38). Kann dann, mit anderen Worten, behauptet werden, dass ein Historiker zum Dichter wird, indem - oder weil - er einen poetischen Akt vollzieht? Nein, muss die entschiedene Antwort lauten. Obwohl der Historiker sich ähnlicher Verfahren bedient und sich sein Umgang mit Sprache auf den ersten Blick nicht viel von jenem Umgang des Dichters unterscheidet, ist das Endprodukt des Historikers kein fiktionaler Text. Die Gemeinsamkeit zwischen Historikern und Romanautoren besteht vielmehr in den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln, um Sinn herzustellen: Tatsache ist, dass Geschichte [...] in der gleichen Weise sinnvoll gemacht wird, wie der Dichter oder der Romanautor dies versuchen [...]. Es spielt keine Rolle, ob die Welt als real oder lediglich vorgestellt verstanden wird; die Art der Sinnstiftung (making sense) ist die gleiche. (White 1991: 121)
Keinesfalls übernimmt ein Text durch den Vollzug eines "poetischen Aktes" eine "poetische Funktion" als direkte Konsequenz dieses Verfahrens. Der "poetische Akt" entspricht nicht unmittelbar der Fiktionalisierung eines Textes: Die Erzählmethoden der Ge-
19
Obwohl Stierle ( 1979: 115) Zweifel darüber äußert, ob Whites "System" geeignet sei, um "das Feld der Historiographie vollständig zu erfassen", räumt er ein, dass damit eine "Morphologie der historiographischen Gattungen" in "greifbare Nähe gerückt" sei, und dass die Methoden der modernen Erzählanalyse bei der Bildung solch einer Morphologie von Nutzen sein können. Stierle (1979: 88) erklärt die "Krise der narrativen Historiographie" als Folge der "Krise des Erzählens" und behauptet: Allein als Erklärungsrelation scheint Narrativität noch eine 'wissenschaftliche' Funktion haben zu können fur die Abarbeitung jener nicht systematisierbaren Reste gesellschaftlicher Systeme, die sich in die Kontingenz entziehen. Es gibt auch Historiker, die Whites Auffassung nicht teilen, vgl. dazu Schleier (1986); Lozek (1986); Küttler(1986). Lozek (1986:114 und ibd. Anm. 5) lehnt entschieden Whites Position ab, indem er den ausgeweiteten Begriff der Erzählung fur die Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft nicht als die "bestimmende Grundstruktur historischer Erkenntnis und Darstellung" auffassen möchte. Dagegen stimmt er eher Rüsens Position zu, nach der der Erzählbegriff "rational" erfasst und "frei von irrationalistischen Einflüssen" in einer theorieorientierten Geschichtswissenschaft gebraucht werden kann. Seinerseits erklärt Küttler ( 1986:117) die Regeln der Wissenschaftlichkeit fur das Primat der Geschichtswissenschaft "auch gegenüber dem narrativen Element" und vermerkt, dass diese Position in Übereinstimmung mit den meisten Fachhistorikern aller Richtungen steht. Er bezeichnet die Narrativitätstheorie in der Geschichtsschreibung als Reduktionismus, denn man könne auch nicht die Mathematik als Wissenschaft auf das bloße Zählen reduzieren.
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schichtsschreibung und der Literatur sind zwar ähnlich, nicht aber ihre Intention. Obwohl es sich bei einem Text über Geschichte auch um eine "Erzählung" handelt, stellt dieser mit seinen Äußerungen einen Wahrheitsanspruch, den ein fiktionaler Text nicht unmittelbar beabsichtigt. Auch wenn die Geschichte und die Literatur sich derselben Sprache bedienen (müssen), sollte nicht vergessen werden, dass der Hauptunterschied zwischen beiden Textsorten grundsätzlich in der Funktion und der Intention des jeweiligen Textes (und seines Autors) liegt. Besonders die (Erzähl-)Verfahren der Historiographie im Gegensatz zu jenen im Roman zeichnen sich durch eine chronologisch-lineare narrative Achse aus, deren "primäre Relevanzbedingung" (Stierle 1979: 93) auf ihren voneinander deutlich differenzierten zwei Extremen - Anfang und Ende - basiert. In diesem Kontext, der Geschichte als poetischen Akt erfasst, verdient ein Autor besondere Erwähnung, der auf exemplarische Art und Weise der sprachlichen Praxis und der narrativen Form Bedeutung beimisst: Michel Foucault. Sein Buch Wahnsinn und Gesellschaft ( l2 1996) kann als eines der ersten Beispiele gezählt werden, das überzeugend das Verhältnis von Sprache und Geschichte miteinander verbindet. Er zeigt, dass die Geschichte des Wahnsinns sprachlich determiniert ist und beweist damit, dass die Analyse der diskursiven Praktiken eine Lenkung unserer Vorstellung der Dinge zur Folge haben und somit zu einer veränderten Sprech- und Denkweise führen kann. Wahrheit und Fiktion stellen für ihn keine sich ausschließenden Kategorien dar, sondern sind Teile eines Dispositivs. Und auf die Frage nach dem "fiktiven Charakter" in seiner Analyse Der Wille zum Wissen ( 8 1995) antwortet er eindeutig, dass er Fiktionen geschrieben habe: Was das Problem der Fiktion anbetrifft, das ist für mich ein sehr wichtiges Problem; ich bin mir dessen voll bewusst, dass ich niemals etwas anderes geschrieben habe als fictions. Ich will nicht sagen, dass das außerhalb von Wahrheit liegt. Es scheint mir die Möglichkeit zu geben, die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem Fiktions-Diskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, dass der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, "fabriziert", was noch nicht existiert, also "fingiert". (Foucault 1978: 117)
Aus dieser Perspektive gesehen, beschränkt sich der Begriff Fiktionalität dann nicht mehr nur aufjene narrativ-poetischen Texte, die den großen Bereich der Fiktion ausmachen. Fiktion ist demzufolge auch nicht gleich mit Fiktivität zu setzen. Sie deutet lediglich auf die Möglichkeit hin, dass der Leser mit der (wahrscheinlichen) Fiktivität des Erzählten rechnen muss. Das Fiktive und das Faktum erfüllen gemeinsam in einer narrativfiktionalen Erzählung die Funktion des Erzählens. Fiktion ist hier nicht mehr Nachahmung/Erfindung, sondern ein diskursives Verfahren und wird damit zur Fiktionalisierung, d. h. einer Semiosis, einem diegetisch ordnenden Prozess.
2.3 Erzählung als Erkenntnisprinzip? Es scheint ein Grundtenor zu sein, die Erzählung nicht als ausreichende Form für den Erkenntnisgewinn zu betrachten. Vielmehr besteht ein Konsens darüber, sie sei nur eine Darstellungsform. Deutlich wird dies von Historikern nicht gesagt, aber zwischen den Zeilen lässt sich diese Behauptung vermuten, die folgendermaßen ausformuliert werden
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könnte: die Form an sich trägt nichts zur historischen Erkenntnis bei. Solch eine Aussage würde anderenorts konsequenterweise bedeuten, auch der transversalhistorische Roman trage zur historischen Erkenntnis nichts bei. Im Gegensatz zu diesen schleierhaften Vermutungen (oder Unterstellungen) vertrete ich die These, dass der transversalhistorische Roman gerade durch sein dekonstruktives Verfahren sehr wohl zur historischen Erkenntnis beitragen kann, vor allem, weil er durch das Einbeziehen unterschiedlicher Diskurspraktiken auf einer gleichberechtigten Ebene die Behandlung historischer Begebenheiten aus anderen Perspektiven erlaubt. Die verschiedenen Wissensgebiete lassen sich durch die Analysen und Ergebnisse einer differenzierenden Untersuchungsperspektive erweitern und ergänzen. Angesichts der Delegitimierung der großen Erzählungen (Lyotard) kann die Wissensvermittlung im 20. Jahrhundert nicht mehr nur die Domäne der Wissenschaft bleiben; demzufolge soll der Wissensgewinn das Resultat interdisziplinärer und miteinander konkurrierender nicht nur wissenschaftlicher Diskurse sein. Befürworter und Gegner einer erzählerischen Darbietung historischen Geschehens sollten dennoch die breiten Möglichkeiten und Einschränkungen, die eine dekonstruierende Erzählweise für die Verbreitung verschiedener Ereignisse anbietet (z. B. jene des Films oder des Romans), weder übersehen noch verkennen.20 In diesem Kontext stelle ich folgende Frage: Inwieweit unterscheiden sich fiktionale Erzählungen strukturell von historisch-wissenschaftlichen (also jenen der Geschichtsschreibung)? In ihrer Strukturiertheit können sie sich nicht viel voneinander unterscheiden, da das Darstellungsmittel, wodurch sie die Sinnkonstituierung erlangen, in erster Linie von der Sprache gegeben wird. Es ist bekannt, dass fiktionale Erzählungen einen sekundär modellbildenden Charakter (Lotman 1973) haben, sie bedienen sich einer Sprache zweiten Grades. Auch in dieser Art und Weise strukturieren sich die historischwissenschaftlichen Erzählungen, sie verwenden ebenfalls eine sekundäre (i. e. wissenschaftliche) Sprache und die narrativen Elemente bilden einen Bestandteil ihres Aufbaus.21 Mit einer interdisziplinären Analyse unter Berücksichtigung der Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft wird nicht suggeriert, die Geschichtswissenschaft solle die Geschichtsdarstellung, wie sie der transversalhistorische Roman praktiziert, übernehmen. Angesichts seiner Art, Geschichte darzustellen, stelle ich lediglich die Hypothese auf, dass diese neue Textsorte durch ihren dekonstruktionistischen Diskurs einen anderen Zugang zur Geschichte ermöglicht. In diesem Sinne führt der
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Jedem Genre sind - trotz seiner revolutionierenden Innovationen - Einschränkungen auferlegt. So zum Beispiel soll nicht vergessen werden, dass ein Film - so wahrheitstreu er sein mag - immer der Einschränkung eines "gerahmten Bildes" unterlegen ist. Die Erneuerungen eines bestimmten Genres finden nicht unbedingt in der unmittelbaren Darstellung statt, sondern sind in den Wechselwirkungen eines epistemologisch-kulturell ausgedehnten Kontexts zu suchen.
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Stierle (1979: 106) vertritt diese Meinung nicht und scheint der Sprache der Geschichtsschreibung keine besonders ausgereifte Stellung bzw. keinen fachspezifischen Charakter einzuräumen; von ihr behauptet er: "Es ist eine Sprache des common sense, keine Begriffssprache, die einem Feld des Wissens zuzuordnen wäre".
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transversalhistorische Roman eine andere Perspektive ein, welche das geschichtliche Wissen erweitern kann, wie an den konkreten Romanbeispielen zu zeigen sein wird. Die Art und Weise, in der die narrativen (d. h. poetisch-rhetorischen) Sinnbildungsprozeduren des transversalhistorischen Romans analysiert werden, kann auch als Verfahren für die Interpretation wissenschaftlich-historischer Texte eingesetzt werden und so auch zur Entdeckung und Forschung eines vielleicht anders gestalteten Geschichtsbewusstseins beitragen. Es soll nicht den Eindruck entstehen, dass die "Methoden" der Geschichtswissenschaft für die Bearbeitung historischer Begebenheiten nicht geeignet seien, sondern lediglich nahe gelegt werden, dass die "Methoden" der Literaturanalyse durchaus als Ergänzung dazu angewendet werden können. Es handelt sich auch nicht um eine sich dialektisch ausschließende Opposition zweier oder mehrerer Verfahrensanalysen, sondern darum, eine Auswahl zu treffen, die möglichst viele unterschiedliche Perspektiven erlaubt - wie die Genealogie - um zu einer ergiebigeren Geschichtsinterpretation zu gelangen. Wenn die Theorie in der methodischen Operation der Interpretation quellenkritisch ermittelter Tatsachen, welche a posteriori zu einem historischen Zusammenhang zusammengefügt werden, eine wichtige Rolle spielen darf, warum sollten die Tropen (die rhetorischen Topoi) für die Analyse der sprachlichen Gestaltung einer a posteriori erstellten Geschichte vernachlässigt werden? Die sprachlichen Topoi sind für die Analyse der Geschichte ein wichtiges Element und fundamental für ihre Herausbildung; deshalb dürfen sie nicht vernachlässigt werden. Rüsen bemerkt in diesem Zusammenhang: Rhetorik gibt der Vergangenheit einen 'Ort' in der Gegenwart, und diese Verortung erscheint bereits in den sprachlichen Topoi der historischen Deutung und nicht erst in der historiographischen Darstellung. (1993a: 127)
Beide Betrachtungsweisen zu kombinieren, um zu einem vielfaltigeren, interpretatorischen Ergebnis zu gelangen, scheint uns eine Alternative zu sein, um den Streit über den erzählerischen Charakter der Geschichtsschreibung etwas zu mildern. Damit richte ich die Aufmerksamkeit nicht nur auf den Erzählcharakter der Geschichte, um ihn von anderen textual-methodischen Merkmalen abzuheben und als das grundlegende Element der Geschichtsschreibung anzusehen, sondern plädiere hingegen für eine transversale, textdiskursiv-übergreifende Betrachtung verschiedener Textsorten, ohne ihren jeweiligen disziplinen-spezifischen Charakter in den Vordergrund zu stellen und eine Untersuchungsperspektive zu bevorzugen.22 Das Schreiben von transversalhistorischen Roma-
22
Ähnlich muss das Verhalten gegenüber dem Erklärungscharakter der Geschichte sein. Aus den verschiedenen Erklärungstypen (deduktiv-nomologisch, probabilistisch, partiell, genetisch, funktional, rational, dispositionell, teleologisch und narrati v), die der Geschichtsschreibung zur Verfugung stehen, darf nicht eine einzige Variante gegenüber den anderen bevorzugt werden. Vgl. dazu Baumgartner ( 1 9 7 9 : 2 7 1 ff.), der eine kurze Darstellung der verschiedenen Erklärungstypen anbietet und die Einheit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung nicht in ihren "inhomogenen" Erklärungstypen, sondern in ihrem Erzählcharakter sieht:
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Kapitel II
nen kombiniert ein gründliches Recherchieren historischer Fakten mit komplizierten narrativen Verfahren, welche die Innovationen bzw. Anforderungen der gegenwärtigen philosophischen Richtungen und der veränderten Wahrnehmungsmöglichkeiten miteinbeziehen, die die Welt anders darzustellen versuchen. Das Nebeneinandersetzen unterschiedlicher Zeitebenen und Geschehnisse wird in Form eines narrativen Spiels dargestellt, welches ein Bewusstsein für historische Ereignisse mit einem starken Gegenwartsbezug entwickelt. Dieses durch das Ludische der Erzählverfahren erlangte Bewusstwerden über die verschiedenen Möglichkeiten, Geschichte zu schreiben, ermöglicht gleichzeitig ein anderes Verständnis für die Schwierigkeiten der Darstellung von menschlichen Handlungen, welche sich simultan oder zu unterschiedlichen Zeiten weit voneinander ereignet haben. Das parallele Wissen von vergangenen und zeitgenössischen Begebenheiten sowie das Spiel mit Anachronismen erweitern oder entgrenzen in einem transversalhistorischen Roman das Wirkungsfeld der geschichtlichen Darstellung, so dass die historische Relation (bzw. die Referenz) sich nicht nur auf eine entfernte Vergangenheit beschränkt, sondern auch mit der Gegenwart bestehen kann. Solch eine Evokationskraft, Geschichte ins Gedächtnis zu rufen, gelingt dem transversalhistorischen Roman durchaus: In Yo el Supremo impliziert oder provoziert die Figur des Diktators Francia (19. Jahrhundert) einen Vergleich zum Diktator Stroessner (20. Jahrhundert); an einer anderen Stelle erinnert der Bau der Fortaleza de San José "frente a Itapua" an den Bau des Staudammes von Itaipü und an das Abkommen zwischen Paraguay und Brasilien über den Zurückverkauf der produzierten Elektrizität. Der transversalhistorische Roman ist ein geeignetes Beispiel dafür, dass sowohl in der Literatur als auch in der Geschichtsschreibung die Subjektivität als die Sinnquelle der Erkenntnis akzeptiert wird und sich durchsetzt. Roman und Geschichte bieten eigene Antworten auf die komplexe Frage nach der Vergangenheitsdarstellung, dennoch erweitert die parallele Betrachtung beider Ansichten die Dimensionen, aus denen diese wiedergegeben und gedeutet werden können. Geschichtsschreibung und transversalhistorischer Roman wollen "wahre Geschichten" erzählen; der entscheidende Unterschied liegt aber darin, dass die erstere größtenteils "wissenschaftlich" - durch verschiedene theoretisierende Methoden - beweisbare, nach einer bestimmten Struktur konzipierte Geschichten wiedergibt, woraus sich ein Wahrheitsanspruch ergibt, und der zweite nur bedingt Beweise über seinen historischen Inhalt erbringen kann (etwas, das er auch nicht erbringen muss). Gemeinsam ist beiden Erzählformen, dass sie sich wie ein kommunikativer Text (in einer gegeben Erzählsituation) erfassen und analysieren lassen. Diese Analogie vollzieht sich vor allem auf der Ebene ihrer Struktur: Beide zeichnen sich durch eine primäre Form des Narrativen aus.23 Sie differenzieren sich demnach nicht in dieser
Die Historie hat ihre Homogenität in der Erzählstruktur, die erklärende Kraft aber beruht nicht auf der Erzählung selbst, sondern auf verschiedenen Erklärungstypen, die in die Erzählung integriert sind, (ibd.: 273) 23
Mit "primärer" Form des Narrativen bezeichne ich eine grammatikalisch-logische, nicht unbedingt kausale Einordnung von Ereignissen, die auch eine Handlung ergeben können. Vgl. zum
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Dichtung. Geschichte und deren Erzählung
Form, sondern in der Behandlung eines bestimmten Inhalts, in der Intention und im Charakter, den sie der narrativen Darstellung aufprägen (aufzwingen) und darin, ob die fiktionalen Ereignisse oder die wissenschaftlich nachprüfbaren, beweisbaren Fakten überwiegen. Zu dieser angesprochenen Struktur des Narrativen gehört auch die Behandlung der Sprache. Der Roman bedient sich einer literarisch-poetischen Sprache, die der Diskurs mit Mehrdeutigkeit anreichert, ohne ihn dadurch zu verfälschen. Die Historiographie benutzt dagegen eine "praktische Rede", welche keine grammatikalischen, syntaktischen und semantischen Abweichungen erlaubt. Dies kann erklären, warum die Kategorie des Ästhetischen fiir die Geschichtsschreibung nicht wichtiger als die Kategorie des Rhetorischen ist, da ihre sprachliche Beschaffenheit in erster Linie auf der letzten basiert. Die Rhetorik koordiniert die im historiographischen Werk herrschenden sprachlichen Beziehungen und garantiert zugleich - mit Hilfe des "historischen Topos" - die sprachliche Verständigung zwischen dem Werk und ihren Adressaten: ' Historischer Topos' ist die terminologische Bezeichnung für solche die Geschichtsschreiber und ihre Adressaten verbindenden Arten von Rede oder Sprache, in denen Handeln und Identitätsbildung zeitlich orientiert werden. (Rüsen 1994b: 44)
Auf die Frage, ob die Erzählung im transversalhistorischen Roman ein Erkenntnisprinzip konstituiert, muss eine positive Antwort erfolgen, weil diese neue Textsorte nicht nur die Resultate der historischen Forschung in Form der Erzählung berücksichtigt, sondern weil in ihr die verschiedenen philosophischen Möglichkeiten der Weltauffassung und Weltanschauung nebeneinander dargestellt werden können. Somit entsteht durch den transversalhistorischen Roman die Dekonstruktion traditioneller Annsichten der Historiographie, denn selbst wenn die narrativen bzw. fiktionalen Mittel für die Geschichtskonstruktion als nicht geeignet für die Wiedergabe wissenschaftlich-historischer Erkenntnis bezeichnet werden, betrifft das den Roman nicht, weil er nur erzählen kann. Das Spezifische der traditionellen Geschichtsschreibung liegt darin, dass sie die Inhalte des historischen Geschehens zu linearen Synthesen verarbeitet, sie konstruiert eine (z. T. imaginäre) Zeitreihe, die stets in Form von Kontinuität erscheint. Diese aus diskontinuierlichen Elementen zu einer Einheit konstituierte historische Kontinuität bildet das traditionelle "narrative" Verfahren der Geschichtsschreibung, ein Modell, dessen Zusammensetzungsstrategie von Ereignissen den Eindruck der räumlichen und zeitlichen Linearität oder der unmittelbaren Kontiguität der Geschehnisse hervorruft. Diesem Modell folgend wird es zwangsläufig Momente der Geschichte geben, die der Wissenschaftler kognitiv nicht erschließen kann. Solche Momente lassen sich auch als "schwarze Löcher" oder "weiße Wände" (Deleuze/Parnet 1980: 24-25) der Geschichte bezeichnen, und können vom Romancier - in einer "Verkettung" mit dem Historiker - anhand der Imagination und der Kombination verschiedener Diskursarten und narrativen Strategien zu einer "Fluchtlinie" durchgezogen werden. Diese sich bildende "Fluchtlinie" - in der
Beispiel Hardtwigs (1979: 296) Auffassung, welche die Funktion der Erzählung in der Geschichtswissenschaft auf die bloße Darstellung der Forschungsresultate reduziert.
Kapitel II
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Form eines transversalhistorischen Romans - erreicht "das Reich des 'Dazwischen'" (Deleuze/Parnet 1980:21), indem sie die Homogenität der verschiedenen Systeme, aus denen sie entstammt, sprengt. Mit anderen Worten, die vom Romancier gezogene Fluchtlinie entfaltet die wissenschaftlich-kognitiv nicht zu erschließenden Momente der Geschichte. Diese durch fehlende Quellen verursachten und nicht zu schließenden Lücken der Geschichte werden im Allgemeinen von den Romanciers geschlossen, die den Sprung über das Datensammeln hinaus wagen, um eine andere, manchmal unsichtbare Realität zu entdecken: La imaginación es el nombre del conocimiento en literatura y en arte. Quien sólo acumula datos veristas, jamás podrá mostrarnos, como Cervantes o como Kafka, la realidad no visible y sin embargo tan real como el árbol, la máquina o el cuerpo. La novela ni muestra ni demuestra al mundo, sino que añade algo al mundo. Crea complementos verbales del mundo. Y aunque siempre refleja el espíritu del tiempo, no es idéntica a él. (Fuentes 1993: 18. Hervorhebung R. C.)
Der transversalhistorische Roman - als Kunst aufgefasst - erreicht auf diese Weise eine deleuzianische "Mehrsprachigkeit"24, die ihn das unsichtbare, verborgene oder vergessene "Ereignis erfassen" (Deleuze 1993a: 232) lässt. Ähnlich äußert sich Carlos Fuentes: [...] [E]l punto donde la novela concilia sus funciones estéticas y sociales se encuentra en el descubrimiento de lo invisible, de lo no dicho, de lo olvidado, de lo marginado, de lo perseguido [...]. La conciencia del escritor con la legitimación histórica del poder, que fue la norma de la antigüedad clásica y aun de ciertas modernidades progresistas, no será ya posible. Ha triunfado Don Quijote: Nunca más debe haber una sola voz o una sola lectura. La imaginación es real y sus lenguajes son múltiples. (Fuentes 1993: 21. Hervorhebung R. C.)
Da der Roman durch diese "Mehrsprachigkeit" auch in der Lage ist, "Realität zu schaffen", suggeriert er zugleich eine andere Lektüre der Geschichte: Die dargestellten Ereignisse in einem transversalhistorischen Roman korrespondieren nach wie vor mit der Geschichte, und dennoch haben sie sich verändert. In diesem Zusammenhang fragt sich der Romanautor Carlos Fuentes: ¿Es separable el contenido de una novela de la forma en que responde a la pregunta acerca de cómo traducir la experiencia de la realidad en formas específicas? ¿No es la historia de toda novela una evocación de la historia más que una correspondencia con la historia? (Fuentes 1993: 26. Im Orig. kursiv.)
Indem die Erzählmodi des transversalhistorischen Romans die Geschichte evozieren, repräsentieren sie zugleich ein weiteres Beispiel der historiographischen Dekonstruktion traditioneller Geschichtsschreibung. Die Verschiedenartigkeit der narrativen Konstrukti-
24
Mehrsprachigkeit bedeutet nicht nur die Verfügung über mehrere in sich jeweils homogene Sprachsysteme; primär ist es die Flucht oder Variation, von der jedes System betroffen ist, die dessen Homogenität hintertreibt. (Deleuze 1980: 12)
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Dicht um. Geschichte und deren Erzählung
onen in dieser Textsorte stellt einen abrupten Bruch mit der Linearität der traditionellen Historiographie dar, da der Romancier in alle Richtungen (i. e. rhizomatisch) schreiben, beschreiben und «/«schreiben kann, es gibt keine geradlinige Darstellungsvorschrift; der Roman kann gleichzeitig Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart anbieten.25 In diesem Kontext verfugt der Romanautor über mehr Freiheit hinsichtlich seiner Positionierung in der Zeit als der Historiker: Der Autor eines Romans kann beispielweise (s)eine Geschichte "en lengua de hoy [...] en el no tiempo" erzählen, wie es Roa Bastos (1993: 11) für seine Reise des Kolumbus versucht. Der Historiker steht immer in einer Position, aus der er die Vergangenheit beschreibt und (re)konstruiert; der Autor eines Romans steht dagegen an keiner fixierten Stel le, diese ist für ihn variabel: "La novela nos dice que aun no somos. Estamos siendo" (Fuentes 1993:27). Der Autor eines transversalhistorischen Romans schreibt also über ein Werden (im Sinne von Deleuze), das in Opposition zum traditionellen Geschichtsverständnis steht, denn letzteres umfasst Informationen über ein Sein oder ein Gewesen-Sein.
25
Aussagen über die Zukunft sind dem Historiker in jeder Hinsicht untersagt, denn damit würde er seinen Kompetenzbereich verlassen.
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III. VOM TRADITIONELLEN HISTORISCHEN SALHISTORISCHEN ROMAN
ZUM
TRANSVER-
Das Schreiben ist genau [der] Raum, in dem die Personen der Grammatik und die Ursprünge des Diskurses sich vermischen, verschwimmen und sich im Unauffindbaren verlieren: Das Schreiben ist die Wahrheit, nicht der Person (des Autors), sondern der Sprache. (Barthes 1988: 12)
3.1 Der traditionelle historische Roman in Lateinamerika Mehr als in anderen literarischen Genres wird im historischen Roman das gespannte Verhältnis zwischen Geschichte und Literatur in den Mittelpunkt gestellt. Vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert geltenden philosophischen Geschichtsvorstellungen entstand der historische Roman vermutlich als Folge der Herausbildung eines spezifischen Geschichtsbewusstseins (s. dazu Kap. I dieser Arbeit). Die Menschen erfuhren Geschichte als etwas, was ihr Leben beeinflussen konnte und begannen sich zunehmend für politische Vorgänge zu interessieren. Dies soll eine der Voraussetzungen sein, so Wolfgang Menzel (apud Gallmeister 1991: 160-161), die für die Entstehung des historischen Romans eine wichtige Rolle gespielt hat. Eine zweite liegt in der Übereinstimmung darin, dass der schottische Schriftsteller Walter Scott mit seinen Romanen großen Einfluss auf die Konstituierung dieser Textsorte ausgeübt hat und deshalb als Begründer derselben bezeichnet werden kann (vgl. Aust 1994: 63 ff.). Im Zuge der wachsenden Industrialisierung, der Technisierung und des Anwachsens des Proletariats sei, so Gallmeister (1991: 164), ebenfalls das Interesse an historischen Romanen gestiegen, da in diesen die Suche nach "Harmoniekonzeptionen als Gegenbilder zu einer verstörenden Gegenwart" oder der Wunsch der Legitimation - vor allem seitens des Bürgertums - der "Zielvorstellungen durch geschichtliche Analogien" implizit war. Mit der Etablierung als neues Genre zeichneten sich in der Entwicklung des historischen Romans zwei Tendenzen ab: Während eine Richtung zu dem sogenannten "Professorenroman" (ibd.: 165; Aust 1994: 5) führte, dessen Autor um Fakten und "wissenschaftliche" Treue bemüht war, betraf die zweite das Verfassen von unterhaltenden historischen Romanen, bei denen die dargestellte Vergangenheit in den Hintergrund tritt und diese banalisiert wird. Aus der Variante des unterhaltenden historischen Romans entwickelte sich der sogenannte "Kostümroman" (Gallmeister 1991: 165), bei dem die Vergangenheit mehr als historisches Kolorit und zunehmend als "abenteuerliche, fremde" (ibd.) Kulisse benutzt wurde. Der Einfluss historischer Romane scottscher Prägung zeichnete sich in Spanien und Lateinamerika bereits im 19. Jahrhundert ab. Die in Spanien veröffentlichten Übersetzungen seiner Romane wurden in Lateinamerika unterschiedlich rezipiert: Sie
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Zum transversalhistorischen
Roman
wurden bewundert und mit hohem Lob bedacht oder aber drastisch abgelehnt (s. dazu Márquez Rodríguez 1991: 35; lañes 1999: 3; 27 ff.). Relativ früh, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erscheint Xicoténcatl (1826 auch Jicoténcal oder Jicotencal geschrieben), der als erster historischer Roman Lateinamerikas gilt. Der anonyme Autor - es wird vermutet, er sei Mexikaner (vgl. Márquez Rodríguez 1991: 36) oder Kubaner (s. Ianes 1999: 66-67, Note 43) - beschreibt das "Treffen zweier Welten", lobt die Tlaxkalteken - ein den Azteken verfeindetes Volk, das den spanischen conquistadores zu deren Triumph über letztere mit verholfen hat, und kritisiert die spanischen Eroberer (s. Mentón 1993: 35). Im Anschluss an Márquez Rodríguez (1991) stellt dieser Roman in seiner Struktur eine Abweichung des von Scott mit seinen Romanen verbreiteten Modells dar: Im Modell des schottischen Autors handeln die fiktiven Hauptfiguren vor einem historischen Kontext, der eine zweitrangige Rolle spielt; in Xicoténcatl treten dagegen nachweislich historische Figuren in den Vordergrund und bilden den Kernpunkt des Romans: "Sus personajes son históricos. Destacan Hernán Cortés, la Malinche y los Xicoténcatl [...]. [...] Sus episodios y personajes centrales son veraces" (ibd.: 36). Ein weiterer Roman, der diesem veränderten Modell folgt, ist Enriquillo - der erste Teil erschien 1879 und der zweite 1882 - des dominikanischen Autors Manuel de Jesús Galván (1834-1910). Sein zentrales Thema ist die Entdeckung, Eroberung sowie der Beginn der Kolonialisierung von Haiti; u. a. treten historische Figuren wie Kolumbus, seine Brüder und Bartolomé de las Casas auf (s. dazu ibd.: 37-38). Neben diesen Romanen, die in erster Linie die Eroberung Amerikas und die Zeit unmittelbar danach behandeln, gibt es andere historische Romane, die eher einen politischen Charakter haben: Zum Beispiel Amalia (1855 erschienen) des argentinischen Autors José Mármol (1817-1871), der mit diesem im Exil geschriebenen Roman dezidiert Kritik an der Tyrannei des argentinischen Diktators Juan Manuel Rosas übt und bei den damaligen Lesern großen Erfolg hatte (s. ibd.: 39; Herrera 1995: 154-155).' Parallel zum politischen Interesse legten die Autoren von historischen Romanen in Lateinamerika auch ein Hauptaugenmerk auf die soziohistorische Darstellung der Figuren, diese bevorzugten sie zumeist gegenüber einer psychologischen Beschreibung derselben. Aus dieser Perspektive spricht José Emilio Pacheco von einer "Privatisierung der Geschichte" im lateinamerikanischen Roman, das heißt von einer "Geschichte des privaten Lebens", einer "Geschichte der Leute, die keine Geschichte haben" (apud Mentón 1993: 32, Note 4). Der historische Roman, diskursiv zum großen Teil "ligado a la descolonización y al surgimiento de las nuevas naciones-estado bajo la égida del liberalismo" (lañes 1999: 6), entwickelte sich weiter und führte dann zu Entstehung sogenannter nationaler Romane in einigen Ländern, die neben der Unterstützung der liberalen Ideologie 1
Außer Romanen mit politischem Charakter und jenen, die sich der Geschichte Lateinamerikas widmen, wurden auch historische Romane geschrieben, welche eine Geschichte außerhalb des Kontinents berücksichtigten, zum Beispiel Las dos reinas de Chipre (1878-79) von Soledad Acosta (s. Ianes 1999: 4). Einen ausführlicheren Überblick über die historischen Romane des lateinamerikanischen 19. Jahrhunderts bietet Enrique Anderson Imbert (1951).
Kapitel III
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dieser Zeit eine nationale Gebundenheit im Leser zu erwecken beabsichtigten. Mit dieser politisch-ideologisch "orientierenden" Funktion (ibd.: 5) haben sie geholfen, von einer "kolonialen Mentalität" zu einem "nationalen Bewusstsein" (ibd.: 7) überzugehen.2 Auf diese Weise "instrumentalisiert" versteht der Kritiker Raúl lañes den historischen Roman des 19. Jahrhunderts als eine diskursive Maschine historischer Legitimierung innerhalb des nationenbildenden Prozesses: Es a partir de ese instrumentalismo del género novelístico concebido como máquina discursiva de legitimización histórica y de respuesta alegórica al interrogante de la nacionalidad que se puede entender la implantación y la práctica decimonónica de la novela histórica en Hispanoamérica en el marco político fundacional y organizativo de los nuevos estados, (ibd.: 23-24)
Aber nicht nur Romane mit einer dezidierten politischen Absicht oder einer nationalen identitätsbildenden Funktion wurden während des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika geschrieben. So findet man auch die sogenannten "novelas colonialistas" (ibd.: 42), welche die Kolonialzeit als historischen Kontext thematisieren. Beispiele dafür sind aus Mexiko La hija del judío (1848-1850) von Justo Sierra, aus Argentinien La novia del hereje (1845-1850) von Vicente Fidel López, aus Kolumbien Ingermina (1844) von Juan José Nieto, aus Peru Gonzalo Pizarro (ca. 1839) von Asencio Segura und, vielleicht der letzte historische Roman des 19. Jahrhunderts im Stil der Romantik, Durante la reconquista (1897) von Alberto Biest Gana aus Chile (vgl. Mentón 1993: 36). Vor dem hier kurz skizzierten epistemologisch-politischen Hintergrund der traditionellen historischen Romane kann behauptet werden, dass diese Textsorte, gemäß den damaligen philosophischen Ideen, einen hegemonialen Diskurs verbreitet hat. Insofern tragen sie jenen legitimierenden Charakter, welcher sogenannten Metaerzählungen eigen ist, und können demnach als logozentrisch gerichtete Diskurse bezeichnet werden. 3.2 Warum transversal und nicht einfach neu? Die unter diesem Punkt zu erläuternden Merkmale einer innovativen Textsorte folgen nicht dem Ziel der Feststellung, ob die Bezeichnung transversalhistorischer Roman 2
Ianes (1999: 5) bezeichnet weiterhin den lateinamerikanischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts als einen textuellen Ort, in dem der Diskurs des Historismus zum Ausdruck kommt: Una de esas textualidades apuntada a la conformación de un ideario colectivo abstracto y hegemonizador en el que se funde la concepción liberal del estado y de la comunidad nacional será la novela histórica. [...] [L]a novela proveerá el espacio textual donde el historicismo romántico articulará [...] un discurso cercano a las abstracciones colectivas [...].
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Zum transversalhistorischen
Roman
zutreffend ist oder nicht, denn seine Qualifizierung und Klassifizierung reduzieren sich weder auf die Erfüllung traditioneller oder nicht-traditioneller Gattungsmerkmale noch auf eine taxonomische Objektivierung innerhalb einer Wissenschaft. Diese Bezeichnung steht vielmehr mit der Beschreibungsnotwendigkeit und der Definition eines literarischen Phänomens oder einer literarischen Erscheinung der Gegenwart in Verbindung, für deren Erklärung sich die Prägung des Begriffs transversalhistorisch als operationale Kategorie als hilfreich erweist. Für besonders bildhaft halte ich diese Bezeichnung, weil sie in einem Wort die Art der Verknüpfung zwischen Geschichte und Fiktion verdeutlicht, nämlich: transversal. Dieses Merkmal charakterisiert demnach die Erscheinung und Bezeichnung ein und desselben literarischen Phänomens, dessen Analyse in einen transdisziplinären Kontext eingebettet wird und mit Hilfe einer disziplinübergreifenden Methode erklärt werden kann. Eine literarische Repräsentation historischer Ereignisse, wie sie sich in transversalhistorischen Romanen manifestiert, scheint jene Aussage von Maurice Blanchot (apud Todorov 1990: 13-14) zu bewahrheiten, nach der die Genregrenzen nicht mehr von Bedeutung sind. Eine ähnliche Position wurde bereits vor ihm geäußert und zwar durch einen Schriftsteller, dessen Werk den Literaturtheoretikern ebenfalls klassifikatorische Probleme bereitet: Jorge Luis Borges. In einem seiner berühmtesten Texte, "Tlön, Uqbar, Orbis Tertius" aus dem Jahr 1940, erzählt Borges über den imaginären Planeten Tlön, auf dem dessen Philosophen (allesamt Metaphysiker) die Metaphysik als einen Zweig der phantastischen Literatur bezeichnen: "[...] Juzgan que la metafísica es una rama de la literatura fantástica" (Borges l9 1992: 24). Mit dieser Behauptung weist Borges auf den fiktionalen-spekulativen Status des philosophischmetaphysischen Diskurses hin. Die Vergegenwärtigung einer "Erneuerung" (ohne die positiven oder negativen Konnotationen, die dieses Wort mit sich trägt, mit einbeziehen zu wollen) oder die Veränderung eines Elements innerhalb einer früher festgelegten Norm (z. B. zeitgenössische historische Romane gegenüber "alten", traditionellen historischen Romanen) drängen zu einer entsprechenden Veränderung oder Aktualisierung bei deren Bezeichnung. Eine sprachliche Lösung, welche auf einfachstem Wege das Charakteristikum einer Veränderung hervorhebt, stellt die Addition von Präfixen dar: So entstehen beispielsweise Begriffe wie neuer historischer Roman (nueva novela histórica). Auf eine tiefgreifende Veränderung allein mit den Mitteln der Sprache (und möglichst in einem Wort) hinzuweisen und somit ein zu beschreibendes Phänomen in seiner ganzen Tragweite zu umfassen, stellt eine Schwierigkeit dar. Dieser Begriff sollte deshalb nicht einfach neu sein, vielmehr sollte erneuern. Um dieses Ziel zu erreichen, muss eine physikalische (in diesem Fall optische) Veränderung bei der Lektüre desselben zustande kommen, die der begrifflichen, geistigen oder ästhetischphilosophischen Veränderung, die konnotiert werden soll, entspricht. Eine Entsprechung zu finden, die nicht auf die bekannte Gleichsetzung "dies ist jenes" zurückgreift, ist schwer vorstellbar, da wir dazu gezwungen sind, unsere alte Sprache (die vielleicht sogar noch mit dem alten Denken beladen ist) zu benutzen, wenn wir eine Verständigung wünschen und erreichen wollen. Dennoch scheint es möglich zu sein,
Kapitel 111
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dass sich durch unseren Sprachgebrauch Veränderungen in die Sprache einschleichen bzw. die "alte" Sprache unterminiert wird und zu einer "Befreiung" unseres Denkens fuhren kann.3 Aus den aufgeführten Gründen hängt u. E. gegenwärtig die Bezeichnung einer (literarischen) Textsorte mehr davon ab, wie sie gelesen wird als davon, wie sie geschrieben wurde.4 Inhalt und Form eines literarischen Textes sind nach wie vor entscheidend für dessen Klassifizierung, dennoch spielt die Art und Weise, in der ein literarischer Text gelesen wird, für dessen Analyse und taxonomische Einordnung in eine Gattung ebenfalls eine determinierende Rolle, die mit berücksichtigt werden muss. Vor diesem Hintergrund kommt man zu einem Punkt, an dem zwei scheinbar voneinander unabhängige Tätigkeiten durch ihre Gemeinsamkeiten deutlich vereinbart werden können: Das Schreiben und das Lesen sind streng genommen nicht "auseinander" zu halten. Obwohl hier bereits von Genregrenzenauflösung die Rede gewesen ist, soll in keiner Weise der Eindruck entstehen, dies intendiere, die literarischen Gattungen abzuschaffen. Es geht vielmehr darum, bei einem "neuen" Sprachgebrauch mitzuwirken, der sich unserem aktuellen Denken annähert und es reflektiert. Dieser literaturwissenschaftliche Standpunkt entspricht der Haltung, die höchstwahrscheinlich auch der Autor eines transversalhistorischen Romans gegenüber den traditionellen historischen Romanen einnimmt. In Übereinstimmung mit Jorge Luis Borges (1997: 350) kann gesagt werden: [...] los géneros literarios dependen, quizás, menos de los textos que del modo en que éstos son leídos. El hecho estético requiere la conjunción del lector y del texto y sólo entonces existe. Es absurdo suponer que un volumen sea mucho más que un volumen. Empieza a existir cuando el lector lo abre. Entonces existe el fenómeno estético, que puede parecerse al momento en el cual el libro fue engendrado.
3
Insofern könnte die Rede von der Erschaffung einer "subversiven" Sprache sein. Ende der 60er Jahre bezeichnete der Schriftsteller Carlos Fuentes die Sprache einiger lateinamerikanischer Autoren als "revolutionär". Dies drücke sich, so Fuentes weiter, in einer der schwierigsten Funktionen der Literatur aus, "afirmar en el lenguaje la vigencia de todos los niveles de lo real", und wird in der sprachlichen Kreativität und Schöpfung von Autoren wie Dario, Neruda, Reyes, Paz, Borges, Huidobro, Vallejo, Lezama Lima, Cortázar und Carpentier entdeckt und entwickelt (Fuentes 1997: 94). Derrida hat andererseits mehrmals gezeigt, dass eine Erneuerung der Sprache und der Benennungen bzw. Bezeichnungen nicht notwendigerweise vom Anhängen irgendwelcher Adjektive oder Adverbien abhängig sein soll. Dies beweisen seine Begriffe différance, trace, etc.
4
Einen Schritt, der "nicht nur die spezifische Beschaffenheit des Textes, sondern auch die des lesenden Subjekts untersucht" (Suchsland 1992: 80-81) zu vollziehen, impliziere, so Suchsland weiter, die Berücksichtigung anderer Fachrichtungen tur die Analyse von literarischen Texten, beispielsweise der Psychoanalyse. Es handelt sich um eine Umwertung, die aus dem Lesen eine nicht mehr passiv auszuübende Tätigkeit macht, sondern es durch das "Schreibbare" ersetzt und damit den Leser nicht in einen "Konsumenten", sondern in einen "Textproduzenten" verwandelt (vgl. dazu Barthes 1976: 8 IT.).
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Zum transversalhistorischen
Roman
Die hier zu behandelnden Romane lediglich als "neuhistorisch" zu bezeichnen, hieße nach den vorangegangenen Überlegungen, die Extension ihrer "Erneuerungen" nicht angemessen zu betrachten. Der Begriff transversalhistorisch bezeichnet im Gegensatz dazu zutreffender jene in den Romanen zu beobachtenden diskursiven Transformationen. Der transversalhistorische Roman versetzt den Leser in einen Bereich, in dem eine räumlich-zeitliche Orientierung im traditionellen (i. e. im dialektisch binäroppositionellen) Sinne nicht mehr möglich ist: Oben/Unten, Vorher/Nachher, Gegenwart/Vergangenheit/Zukunft, etc. verlieren durch das Transversale ihre Wichtigkeit, da die durch Transversalität5 hervorgerufenen Beziehungen eher als ein rhizomatisches Netzwerk zu verstehen sind. Eines dieser Oppositionspaare - zum Beispiel die Gegenüberstellung Raum versus Zeit - scheint innerhalb der Literatur mit dem Aufkommen postmoderner Romane (ab den 60er Jahren) obsolet geworden zu sein. Dieselbe Opposition kam aber bereits 1928 für einen Autor wie Jorge Luis Borges nicht mehr in Frage: Creo delusoria la oposición entre los dos conceptos incontrastables de espacio y tiempo. [...] Con otras palabras: la relación espacial [...] es una especificación como tantas otras, no una continuidad. (Borges 1986: 37) 6
Mit dem Begriff transversalhistorisch möchte ich die Aufmerksamkeit nicht nur auf Vertextungsverfahren innerhalb der literarischen Tradition lenken, sondern möchte vor allem betonen, dass die Bezeichnung nueva novela histórica zu kurz greift, wenn es darum geht, die Funktion und Interaktion unterschiedlicher Kräfte (zum Beispiel kognitive, moralische und ästhetische Diskurse) zu beschreiben. Der von vielen Kritikern 7 verwendete Terminus nueva novela histórica enthält keine Zeichen von den im Denken bereits stattgefunden ( T r a n s f o r m a t i o n e n im Schreiben, Lesen, Sprechen, Wahrnehmen, usw. Der Begriff transversalhistorischer Roman, in einem kulturellen postmodernen und postkolonialen Kontext angesiedelt, "sagt das Ereignis [und] nicht das Wesen oder die Sache" (Deleuze/Guattari 2000: 27). Es handelt sich demzufolge weder um eine essentialistische Auffassung dieser künstlerischen Ausdrucksformen - bekannt als Roman, ob neu oder neuhistorisch - , noch um ein ultimativ neues Genre, sondern um den Versuch, diese Textsorte anders zu begreifen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sie ihre konstituierenden 5
Zu diesem Begriff s. weiter unten Punkt 3.2.1. Meine Begriffsverwendung lehnt sich an jene philosophische Auffassung von Wolfgang Welsch ( 4 1993; 2 1996) an, welcher auch die Verwendung des Terminus bei Deleuze/Guattari, Foucault, Lyotard und Derrida feststellt (vgl. dies bezüglich Welsch 2 1996: 367-371).
6
Für Borges ist nicht nur diese Opposition, sondern selbst die Zeit "trügerisch"
(delusorio):
El tiempo, si podemos intuir esa identidad, es una delusión: la indiferencia e inseparabilidad de un momento de su aparente ayer y otro de su aparente hoy, bastan para desintegrarlo. (Borges 1994: 41) 7
Vgl. u. a. Ainsa (1991), Mentón (1993), Pulgarín (1995) und die Beiträge in Domínguez (1996) und Kohut (1997).
Kanitel III
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Diskurse (prinzipiell die Literatur und die Geschichte) durch das Verhältnis Lesen/Schreiben in Frage stellt. Vor allem will der Ausdruck transversal verdeutlichen, dass die Grenzen (Geltungsanspruch und Ziele bzw. Intentionen) dieser Textsorte nicht trennscharf definiert sind oder sein können: In ihr findet eine Verflechtung, eine Verkreuzung von verschiedenen (kognitiven, moralischen und ästhetischen) Diskursarten statt, deren schwankende Abgrenzungen einerseits nicht definitiv verdeutlicht werden können, weil sie ineinander fließend übergehen, aber andererseits hervorheben, dass die Vergangenheit nicht rekonstruiert wird, sondern lediglich eine vom Autor abhängige konstruierte Darstellung derselben ist. Nicht zuletzt dieser durchlässige, permeable Zustand der Genreabgrenzung unterstreicht, dass historische Geschehnisse nicht eindeutig präzisiert werden, da sie nicht mimetisch wiedergegeben werden können, wie sie eigentlich gewesen sind. 3.2.1
Transversalität
In den kommenden Punkten (s. 3.6 weiter unten) werden einige Merkmale des transversalhistorischen Romans erläutert, die eng miteinander verknüpft sind. Unter diesem Punkt wird der Kern des Begriffs transversalhistorisch - die Transversalität expliziert. Der Begriff der Transversalität soll - an den Terminus der transversalen Vernunft angelehnt - als ein heuristisches Mittel verwendet werden, um die literarische Praxis dieser Textsorte zu erklären. Die transversale Vernunftskonzeption scheint mir in diesem Zusammenhang sehr hilfreich zu sein, weil sie Diskurse verschiedener Art zusammenhalten kann, ohne dass zu befurchten wäre, dass die "Zusammensetzung" (in diesem Fall der transversalhistorische Roman) als "irrational" bezeichnet wird. Mit Hilfe des Begriffs der Transversalität möchte ich auch den hybriden Charakter dieser Romane verdeutlichen,8 da bei der Transversalität von gleichberechtigten Diskursen - philosophischen, historiographischen und künstlerischen - die Rede sein kann, die nicht miteinander um eine fuhrende, allgemeingültige Position konkurrieren, sondern ihre gegenseitige Komplementierung, Konnexion und Übergänge im "dritten Ort" des transversalhistorischen Romans hervorheben und zu ihm hinfuhren. Der Begriff Vernunft spielt weiterhin eine orientierende und regulierende Rolle zwischen den in dieser Textsorte mitspielenden und miteinander widerstreitenden Rationalitäten (also dem historischen, philosophischen und literarischen Verstand). Hervorgehoben werden muss aber, dass die Vernunft in dieser Zusammensetzung ihre prinzipiellen Aufgaben nicht verliert: Sie wird weiterhin als das Vermögen bezeichnet, das zwischen unterschiedlichen bzw. konkurrierenden Formen von Rationalität operiert, zwischen ihnen schlichten und für ihr korrektes Verhalten sorgen kann:
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Die Verbindung der Termini Transversalität und Hybridität stammt von A. de Toro (1999; 2001).
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Roman
Vernunft bleibt nötig, weil es ihre Eigenart ist, sich auf die Gesamtheit der Rationalitäten zu beziehen, und weil ihre Aufgabe darin liegt, für das korrekte Verhältnis der Rationalitäten Sorge zu tragen. [...] Vernunft hat das korrekte Verhältnis der diversen Formen von Rationalität zum Thema. [...] Vernunft bezieht sich auf Verstandesformen, auf Typen der Rationalität. (Welsch 2 1996: 624-625)
Die transversale Vernunft charakterisiert sich demnach dadurch, dass sie Vernunft bleibt, aber Übergänge zwischen heterogenen Elementen (Rationalitäten) schafft. Die Richtung der Übergänge ist beliebig und kann nicht festgestellt werden, sie ist weder eine lineare (horizontale oder vertikale) Fortbewegung, noch ist sie eine synthetisierende Aufliebung. Damit ist sie in der Lage, neue Sichtweisen zu erschließen, weil sie die Differenzen nicht auslöscht, sondern für eine nicht hierarchisierende Pluralität von Rationalitätsformen plädiert. Als bestimmend für diese Vernunftskonzeption erweist sich, dass die [...] transversale Vernunft über bloße Rationalität hinausgeht, indem sie eine Vielzahl divergierender Perspektiven ins Auge fasst, die den Horizont der einzelnen Rationalität überschreiten [...]. [Sie] erschließt neue Sichtweisen, sprengt eingefahrene Horizonte auf. (Welsch 2 1996: 909) Transversale Vernunft ist nicht die Vernunft einer arche [...] sie ist eine Vernunft der Bewegung, (ibd.: 764)
Neben der bereits erwähnten epistemologischen Verortung der transversalhistorischen Romane in der Postmoderne und Postkolonialität stelle ich ein starkes Interesse an der Mehrsprachigkeit und deren Möglichkeiten fest, eine Erneuerung in der diskursiven Repräsentation zu erreichen. Die Mehrsprachigkeit bezieht sich im Allgemeinen auf eine polysystematische Interaktion aller Beteiligten, deren Eigenständigkeit im Zusammenspiel berücksichtigt wird und nicht verloren geht. Die Sprache wird als eine sich bewegende (vitale) Sprache aufgefasst. In der Mehrsprachigkeit des transversalhistorischen Romans wird darüber hinaus von einer "Mentalität" oder einer Intention des Konsenses Abstand genommen, mit dem Ziel, den paralogischen Dissens stärker zu vertreten. Dieses Ziel kann dank der Verabschiedung von den verabsolutierenden Diskursen erreicht werden, die eine universal geltende und allumfassende Analyse bestimmter Phänomene angestrebt haben. Diese "Verabschiedung von Metaerzählungen" impliziert auch die Distanzierung von vorhandenen Begriffen und/oder die Erneuerung von tradierten Termini. Unter den neuen Bezeichnungen, die einen häufigeren Gebrauch in den postmodernen bzw. postkolonialen Diskursen erfahren, befinden sich jene Konzepte, die von Philosophen des sogenannten Poststrukturalismus eingeführt wurden. Zu diesen Erneuerungen zähle ich u. a. die von Deleuze und Guattari geprägten Termini "Fluchtlinie", "Dazwischen" und "Rhizom". In diesem Zusammenhang kann die Bezeichnung transversal als Synonym oder Ergänzung zur Konzeption des Dazwischen (dieser Begriff wurde bereits im Kapitel II, Punkt 2.3 erwähnt) betrachtet werden. Das
Kapitel III
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Dazwischen, wie das Rhizom, soll als eine "Logik des UND" verstanden werden, die "Anfang und Ende annulliert" (Deleuze/Guattari 1992: 41). Das Dazwischen stellt den angesprochenen "dritten Ort" dar, also eine Mitte, die "kein Mittelwert" ist, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden. Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, die vom einen zum anderen geht und umgekehrt, sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang oder Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt. (Deleuze/Guattari 1992: 42. Im Orig. kurisv.)
Das transversale Vernunftverständnis erlaubt eine funktionierende Verflechtung von unterschiedlichen Diskurspraktiken (zum Beispiel literarischen und wissenschaftlichen Diskursen), welche ihre Heterogenität und Pluralität nicht glättet oder vereinheitlicht, sondern sie in einen "dritten" Bereich hineingleiten lässt, um ein weiteres Operationsfeld zu bilden (beispielsweise der eindeutige Bezug zu Nietzsches Philosophie im Roman Los Perros del Paraíso, in dem diese Philosophie de- und reterritorialisiert wird). Dieser epistemologische Ort verzichtet auf starre hierarchisierende Strukturen und gewinnt somit einen "nomadischen" Charakter, mit dessen Hilfe die jeweiligen Differenzen ausgehandelt und nicht gedämpft oder aufgehoben werden: Er stellt einen Kreuzungspunkt zwischen verschiedenen Denkstrategien dar. Diese Auffassung entspricht den Vorstellungen der Transversalität, weshalb sie auch als eine gefaltete Linie bezeichnet werden kann: "Die Linie ist nie gleichmäßig, der Punkt ist nur eine Krümmung der Linie. Genauso zählen nicht Anfang und Ende, sondern die Mitte" (Deleuze 1993a: 233). Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen halte ich die Bezeichnung transversalhistorischer Roman auf diesen Romantypus für zutreffend. Er durchdringt, durchquert und tangiert nicht nur die traditionellen Formen der Gattung Roman, sondern auch jene der traditionellen Geschichtsschreibung, und zeigt dabei, wie sich die unterschiedlichen Diskursarten in die kulturelle Welt einschreiben. Diese Romanform bewegt sich nicht im Kreis einer bereits etablierten narrativen Form. Sie bedient sich zwar der verschiedenen Elemente, welche die eine oder andere Diskursart anbieten, und verwandelt sie in eine neue Form, aber ohne dabei im Bann jener in sich aufgenommenen Diskursarten zu verweilen. 3.3 Der transversalhistorische
Roman
Am Beispiel der Beziehung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung kann das Verhältnis zwischen zwei Diskursarten dargestellt werden. Laut allgemeiner Auffassung bestand der herausragendste Unterschied einst im fiktionalen bzw. nichtfiktionalen Charakter beider Textsorten. Für den Autor eines Romans war zutreffend, dass er mit der Darstellung der Geschichte bewusst gespielt und dadurch den Diskurs nach seinem eigenen Wunsch zwanglos modelliert und manipuliert hat, um Fiktion zu
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Zum transversalhistorischen
Roman
erzeugen. Der Romanautor verfugt dabei über absolute Freiheit bei der Gestaltung seines Textes und über absolutes Wissen in Bezug auf den (z. T. erfundenen, empirisch nicht verifizierbaren) Inhalt. Diese Position erlaubt dem Romancier, eigene Urteile über die Geschichte zu fällen, und lässt gleichzeitig eine Spannung im narrativfiktionalen Diskurs entstehen. Zwar entscheidet erstens die Behandlung der distinktiven Merkmale der narratologischen Ordnung - nach Genette (1992: 65-94) Ordnung, Schnelligkeit, Frequenz, Modus, Stimme - über den fiktiven oder faktischen Charakter des Textes; dennoch ist es heute praktisch unmöglich, eine streng differenzierende Linie zu ziehen, die auf der narratologischen Ebene reine Fiktion von reiner NichtFiktion unterscheidet: Ein solches Beispiel existiert, so Genette (ibd.: 92) weiter, nur "im Reagenzglas des Poetikers".9 Obwohl der transversalhistorische Roman zum Teil noch Merkmale des traditionellen historischen Romans aufweisen kann, soll er sich von diesem besonders durch das Verfahren der historiographischen Metafiktion unterscheiden. Dieser Begriff wurde von der amerikanischen Literaturkritikerin Linda Hutcheon (1988) geprägt und beschreibt primär Merkmale der Romane, die sich in das Denken der Postmoderne einbetten lassen. Die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Fiktion findet im Begriff der Metafiktion, wie ihn die Kritikerin Patricia Waugh definiert, einen adäquaten Ausdruck: Metafiction is a term given to fictional writing which self-consciously and systematically draws attention to its status as an artefact in order to pose questions about the relationship between fiction and reality. (Waugh 1993: 2)
Die Merkmale des postmodernen Romans können auch für das Schreiben der transversalhistorischen Romane Lateinamerikas angewendet werden. Abgesehen von den narrativen Techniken, die postmoderne Romane grundsätzlich charakterisieren, entspricht der von Hutcheon vorgegebene Zeitraum, in dem der postmoderne Roman sich mehr oder weniger etabliert, jener Zeit, in die ich die Textsorte transversalhistorischer Roman einordne: dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Einige der grundlegenden Charakteristika, die sowohl den transversalhistorischen als auch den "postmodernen" Roman bezeichnen, sind: Metafiktion, Metadiskursivität, mehrfache Kodierung, keine mimetische Repräsentation, Ironie, Selbstreferentialität, etc. Der Terminus "historiographic metafictions" beschreibt "the more paradoxically and historically form" in der postmodernen Fiktion (Hutcheon 1988: 40).'° Mit den Aus9
Genette (ibd.: 83) verortet die narratologischen Divergenzen zwischen der fiktionalen und faktischen Erzählung in der Beziehung Autor(A)-Erzähler(N)-Person(P), bei der "A = N —» faktuale Erzählung, A * N —» fiktionale Erzählung''' ergeben. Er betont, dass diese Formeln sich nicht auf die onomastische oder biographische Identität von Autor und Erzähler - wie in den Erzählungen von Borges - beziehen. Im Falle Borges' handelt es sich im Gegensatz dazu, so Genette weiter, um eine heterodiegetische Fiktion, welche einer logisch widersprüchlichen Formel folgender Art entspräche: A * N und A = P, wobei N = P (vgl. ibd.: 87).
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Weiterhin bezeichnet Hutcheon die "historiographic metafiction" als "fundamentally contradictory, offering only questions, never final answers" (ibd.: 42).
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fiihrungen in dieser Arbeit möchte ich diesen Begriff nicht verwerfen, denn es bestehen deutliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Transversalhistorischen - das durchaus historiographische Fiktionen bezeichnet - und der historiographischen Metafiktion, besonders im Zusammenhang mit den in beiden Termini implizierten Konzeptionen der Metasprachlichkeit und mit der Charakterisierung der literarischen und historiographischen Diskurse als kulturelle Konstruktionen: Historiographie metafiction refutes the natural or common-sense methods of distinguishing between historical fact and fiction. It refuses the view that only history has a truth claim, both by questioning the ground of that claim in historiography and by asserting that both history and fictions are discourses, human constructs, signifying systems, and both derive their major claim to truth from the identity. (Ibd.: 93) [...] Historiographie metafiction shares the Foucaldian urge to unmask the continuities that are taken for granted in the western narrative tradition, and it does so by first using and then abusing those very continuities. (Ibd.: 98) [History and literature] [...] are both part of the signifying system of our culture, and therein lies their meaning and their value. (Ibd.: 140)
Dennoch scheint mir der Begriff historiographical metafiction nicht ausreichend zu sein, um das Funktionieren verschiedener Vertextungsstrategien eines transversalhistorischen Romans zu erklären." Vor allem erklärt dieser Begriff nicht, warum solche Romane als hybride diskursive Form bezeichnet werden können. Obwohl sich die Begriffe historiographic metafiction und nueva novela histórica in mehreren Untersuchungen im Zusammenhang mit diesem Thema durchgesetzt haben, erklären diese nicht, wie das Verhältnis zwischen ihren unterschiedlich strukturierenden Komponenten ist. Ein solches Beispiel stellt das vielerorts zitierte Buch über den lateinamerikanischen "neuen historischen" Roman von Seymour Mentón (1993) dar. Darin zählt der Autor 367 traditionelle und neue historische Romane auf, die zwischen 1949 und 1992 erschienen sind. Die fur ihn angemessenste Definition "la definición más apropiada" (ibd.: 33) - des historischen Romans stellt jene von E. Anderson Imbert (aus dem Jahr 1951) dar, laut derer ein Roman nur dann historisch ist, wenn seine Handlung nicht in die Lebenszeit des Romanautors fallt: "[...] Llamamos 'novelas históricas' a las que cuentan una acción ocurrida en una época ante-
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Der transversalhistorische Roman lässt keine Opposition zwischen dem Historischen und dem Fiktionalen zu, beide fließen in der Repräsentation ineinander. Dies scheint ein Unterschied zwischen dem Transversalhistorischen und der historiographic metafiction zu sein: Historiographic metafiction explicitly contests the presumptive power of history to abolish formalism. Its metafictional impulse prevents any suppression of its formal and fictive identity. But it also reinstates the historical, in direct opposition to most arguments for the absolute autonomy of art. (Ibd.: 94. Hervorhebung R. C.)
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rior a la del novelista" (ibd.).12 Dieser Definition folgend lehnt Menton es ab, einige Romane als historische Romane zu charakterisieren - zum Beispiel Terra Nostra -, weil sie bis in die Gegenwart des realen Autors hineinreichen.13 Warum dies ein Ausgrenzungskriterium für ihn darstellt, erklärt er jedoch nicht. Nach der in dieser Arbeit vertretenen postmodernen Auffassung scheint jenes Kriterium nicht ausreichend zu sein, denn der transversalhistorische Roman darf nicht auf den in ihm dargestellten Zeitraum reduziert werden. Vielmehr geht es bei dieser Textsorte um die Darstellungsweise und nicht nur um das Dargestellte; es geht um das Verhältnis Lesen-Schreiben, das sowohl den realen Autor als auch den Leser betrifft, und nicht zuletzt um die aus der Transdisziplinarität entstandene "neue Lektüre". Vor allem aber scheint Menton zu vergessen, dass der historische Roman zum Teil auch als Kritik an der Gegenwart zu verstehen ist. Denn sowohl der Autor als auch der Leser können nur aus ihrer jeweiligen "Gegenwart" agieren. Trotz der umfangreichen Aufzählung von neuen historischen Romanen in Lateinamerika für den Zeitraum von 1974 bzw. 1975 bis 1992 und des Versuchs, die Ursprünge und Definitionen derselben zu bestimmen, gewinnt der Leser des Buches von Menton keinen deutlichen Überblick über die sehr wichtigen Gemeinsamkeiten von historischem und fiktionalem Diskurs, über die Rolle von Mimesis, Fiktion und historischer Wahrheit und genauso wenig über die Historizität von Geschichte und Geschichten, über die Rolle von Text und Schrift oder von Oralität und Verschriftlichung. Ähnlich verhält es sich in der Untersuchung von A. Pulgarin (1995), die den Begriff "historiographische Metafiktion" ebenfalls in Anlehnung an Hutcheons Bezeichnung 12
Zu dieser Definition fügt Menton (1993: 42-45) noch sechs Elemente hinzu, die den neuen historischen Roman in Lateinamerika charakterisieren sollen: 1) die Subordinierung der Wiedergabe einer Epoche zugunsten bestimmter philosophischer Ideen; 2) die bewusste Umformierung der Geschichte durch Übertreibung, Anachronismen oder Auslassung bestimmter Daten; 3) die Fiktionalisierung historischer Figuren, die im Gegensatz zu den Romanen des 19. Jahrhunderts meistens "unbekannte" Personen porträtieren; 4) die Metafiktion; 5) die Intertextualität und 6) die Parodie, die Redevielfalt, das Dialogische und das Karnevaleske im Sinne Bachtins. Zu einer weiteren Kritik dieses Autors, s. A. de Toro (2000: 139-140, Note 2). All diese Merkmale bezeichnen im Allgemeinen auch den sogenannten postmodernen Roman (beispielweise bei Hutcheon 1988) und sagen über die spezifische Charakteristik des transversalhistorischen Romans nicht viel aus.
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Im Gegensatz dazu betont Fernando Ainsa ausdrücklich den neuhistorischen Charakter von Terra nostra (1975): "Carlos Fuentes ha sido el primero en desmantelar de un modo programático y total la novela histórica tradicional" (1991: 15). Alexis Márquez Rodríguez hebt auch in besonderer Weise diesen Roman von Fuentes hervor, und ohne ihm eine spezifische Klassifizierungskennzeichnung zu geben, bezeichnet er den Roman als den Höhepunkt im Entwicklungsprozess des historischen Romans: Terra nostra ist"[...] la cumbre de un proceso evolutivo de la novela histórica" (1991: 48). Es ist dennoch erstaunlich, dass beide Kritiker diesen als den ersten revolutionierenden Roman bzw. als einen Höhepunkt bezeichnen und nicht näher die Erneuerungen durch Yo el Supremo von Roa Bastos (1974) besprechen, obwohl beide in ihren Artikeln letzteren Roman kurz erwähnen und in ihre Listen wichtiger Romane aufnehmen.
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ebenfalls in Anlehnung an Hutcheons Bezeichnung (1988) benutzt, aber die Funktion und das Verhältnis zur Geschichte im Roman nicht erklärt. Bei dem transversalhistorischen Roman geht es nicht um eine Absage oder eine Ablehnung der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung und auch nicht um die Vertretung einer ahistorischen Position. Der transversalhistorische Roman kann als eine Art epistemologisches Nachwort "über die Schrift, gegen die Schrift, in der Schrift" (Derrida 1995: 49) der Geschichtsschreibung gelesen werden. Diese Haltung gegenüber der Lektüre transversalhistorischer Romane ist eng gekoppelt mit der Lektüreänderung in der neuen Geschichtsschreibung, besonders hinsichtlich der Überzeugung, dass jedem Text aufgrund seiner menschlichen Natur, ob narrativ-fiktional oder wissenschaftlich-objektiv, immer eine bewusste oder unbewusste Interpretation zugrunde liegt. Diese neue Position erkennt, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst, dass die Realität nicht mimetisch-repräsentierbar, sondern nur erzählbar (i. e. beschreibbar) ist.14 Wenn einige Formen der Geschichtsvermittlung (beispielsweise im Schulunterricht einiger lateinamerikanischer Länder) betrachtet werden, ist festzustellen, dass teilweise ohne Hinterfragung und ohne jeglichen Skeptizismus gegenüber den erzählten Ereignissen die Geschichte gelehrt, gelernt und angenommen wird. Gerade dieser Punkt bildet die Schnittstelle, an der sich transversalhistorische Romane in die Debatte einschreiben: Wir müssen die bereits gelernte Geschichte befragen, weil "[...] muy poco de lo importante queda escrito, de aquí la falsedad esencial de los historiadores" (Posse 41991: 109). Um sie zu hinterfragen, verfügt der transversalhistorische Roman über einen polyphonen-sprachlichen und literarischen Charakter. Diese sprachliche Polyphonie oder Mehrsprachigkeit verstehe ich im Sinne von Deleuze als eine "Fremdsprache" in der eigenen Sprache, in der "Muttersprache", d. h. als eine "minorisierende" Sprache, welche durch das "Stottern"15 die unterschiedlichen Systeme sprengt. Die Literatur entwirft in der Sprache, so Deleuze weiter, [...] eine Art Fremdsprache, die weder eine andere Sprache noch wiederentdeckter Dialekt, sondern ein Anders-Werden der Sprache ist, eine Minorisierung jener großen Sprache, ein Delirium, das sie fortreißt, eine Hexenlinie, die aus dem herrschenden System ausbricht. (Deleuze 2000a: 16)
14
Weder in der Wissenschaft noch in der Kunst kann die Rede von der Realität sein, da es sich bei dieser Bezeichnung um einen totalisierenden, nicht präzis definierbaren Begriff handelt. Die Realität kann weder vom wissenschaftlichen noch vom künstlerischen Diskurs als eine Totalität analysiert werden (vgl. ausfuhrlich dazu Derrida 6 1994: 436 ff.). Aus diesem Grund soll sie höchstens als eine subjektive, vom jeweiligen Denksystem abhängige, konstruierte Teilbeschreibung einer textexternen, als Referenz geltende Größe verstanden werden. In summa, der Begriff der Realität kann eher als ein kulturell abhängiges Konstrukt bezeichnet werden.
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Das "Stottern" der Sprache fangt dann an, wenn die Sprache nicht mehr als "ein homogenes System im Gleichgewicht" betrachtet wird (s. Deleuze 2000a: 145 ff. Hier S. 146. Vgl. auch dazu Deleuze/Parnet 1980: 12; 41).
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Vor diesem Hintergrund und nach den Erläuterungen in Kapitel II kann gesagt werden, dass Geschichte weder nur der sprachliche Niederschlag der Ereignisse, das beund geschriebene "real" stattgefundene Ereignis oder Faktum ist, noch ist sie nur der Signifikant irgendeines (mehr oder weniger) beliebigen Referenten, vielmehr stellt sie darüber hinaus die intelligible Translation der wahrgenommenen Welt dar. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass es sich nicht um die Welt als uniforme Einheit handelt, sondern um eine unendliche Vielfalt der Realien. Die dargestellte Geschichte, ob in einem Roman oder in einem wissenschaftlich autorisierten Geschichtswerk, soll verstärkt als ein poetischer Versuch verstanden werden, der eine mögliche Welt repräsentieren möchte.16 Die Darstellung der Geschichte in einem transversalhistorischen Roman erfolgt nicht prinzipiell in steigender chronologischer Reihenfolge, und es wird auch nicht angestrebt, sie so darzustellen, wie sie eigentlich gewesen ist, sondern sie wird vielmehr als eine in alle Richtungen übergreifende offene Re-präsentation wieder- und w/cfergeschrieben. Es handelt sich um eine dezentrierte Darstellung historischer Ereignisse, die nicht auf ein institutionalisiertes Sprachschema zurückgreift, da sie kein vereinheitlichendes, hegemonisch-machtergreifendes Zentrum besitzt, welches die Unterschiede zwischen verschiedenen Diskursarten markiert und deshalb ein Hinübergleiten der Ereignisse in verschiedene semiotische Welten erlaubt. Geschichte auf diese Art und Weise und in solch einem Roman zu schreiben, kann als subversiv bezeichnet werden, insofern sie als eine Variante gegen die traditionelle, kanonisch etablierte Geschichte konzipiert wird, und auch gegen sie gelesen werden kann. Sie kann auch als subversiv in dem Sinne bezeichnet werden, dass sie sowohl gegen gängige narrative Formen der institutionell legitimierenden Geschichtsschreibung als auch gegen die traditionellen literarischen Formen praktiziert wird. Auch als revolutionär im Sinne von Roland Barthes können diese Romane bezeichnet werden. In seiner inzwischen berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France (1977) räumt Barthes der Literatur diese Möglichkeit ein, nämlich durch die Sprache eine wahre Kulturrevolution einzuleiten: Diese heilsame Mogelei, diese Drückebergerei, diese großartige Täuschung, die es erlaubt, das Sprachsystem jenseits von Macht zu vernehmen, im Glanz einer permanenten Revolution der Sprache, nenne ich für mich: Literatur. (Apud Schiwy 1985a: 22)
Wahrscheinlich erscheint es paradox, wenn von "Subversion" und beliebigen Richtungen die Rede ist, da es sich traditionellerweise bei der Subversion um eine Position handelt, die sich entschieden gegen eine andere herrschende Macht stellt, um wiederum ihre eigene Überzeugung durchzusetzen. Das heißt, die Subversion wird normalerweise in einer binären Beziehung oder einfachen Opposition ausgetragen. Einerseits stimme ich diesem gängigen Subversionsverständnis zu, insofern es um die Deplazierung einer etablierten "Macht" geht. Es kann sich aber auch um eine Subversion des Lesers handeln, bei der dieser mit dem Autor zu einer gemeinsamen Kon16
Ähnliches gilt für andere Repräsentationsformen wie Film oder Theater.
Kapitel III
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struktion aufgefordert wird, die von beiden geschaffen wird und auf einer kontinuierlichen Umkehrung des Schreiben-Lesen-Verhältnisses basiert. Andererseits aber öffnet der transversalhistorische Roman nicht nur einer Sub- Vers ion - i. e. einer in der Tiefe verborgener Position - das Tor, sondern eröffnet zugleich eine nicht fest orientierte und dennoch solide und flexible Diskurseinstellung, welche mehrere Diskursformen miteinander mischt, und zum Teil auch fördert, ohne sich als allein gültige und angemessene Variation aufzudrängen. Denn um eine möglichst gelungene transversale Darstellung der Geschichte zu erreichen, darf der Text nicht nur auf einer Diskursart beharren, er darf nicht erstarren, er muss hodologisch, in summa, rhizomatisch sein. Der transversalhistorische Roman wird somit zu einer Text-Tour, zu einer unendlichen Reise ohne Ursprung und ohne aufgezwungenes Ziel, weil sein nomadischer Charakter ihn daran hindert, einer vorgegebenen Richtung zu gehorchen: Ungeachtet des Weges, welchen er gehen möchte, gelangt er ständig zu einer Position "dazwischen". Vor diesem Hintergrund ist beispielweise die Reise des literarischen Kolumbus von Roa Bastos eine, bei der wir nicht wissen, ob wir schon angekommen sind: En este viaje no cuentan meses ni años, leguas ni desengaños, días naturales ni artificiales. Un solo día hecho de innumerables días no basta para finar un viaje de imposible fin. [...] Cinco siglos son demasiado cortos para saber si hemos llegado. (Roa Bastos 1993: 18)
Aufgrund des subversiven Charakters und der oben erwähnten postmodernen Merkmale kann ich den transversalhistorischen Roman auch als ein postkoloniales, hybrides Kulturphänomen bezeichnen, als "an insurgent act of cultural translation", denn er "renews the past, refiguring it as a contingent 'in-between' space, that innovates and interrupts the performance of the present" (Bhabha 1994: 7). Im transversalhistorischen Roman konkretisiert sich eine kulturelle Manifestation, die sich weigert, eine bestimmte (bzw. bestimmende) Richtung einzuschlagen und deutlich zeigt, dass sogar das Schreiben von geschichtlichen Ereignissen von einem diskursiven Prozess der Signifikation abhängig ist, denn wie Bhabha weiter vermerkt: "Our task remains, however, to show how historical agency is transformed through the signifying process; how the historical event is represented in a discourse that is somehow beyond contror (ibd.: 12. Im Orig. kursiv.). Mit diesem Signifikationsverständnis wird durch den transversalhistorischen Roman der teleologische Rahmen der traditionellen Geschichtsauffassung gesprengt, welche das Vorhandensein eines zu erreichenden Ziels für unabdingbar hielt. Dieser Prozess verdeutlicht sich anhand der Vertextungsverfahren im Roman, besonders durch die metanarrative Problematisierung der Konstrukthaftigkeit historischer Ereignisse. Das Wieder- und Widerschreiben der Geschichte trägt zu einem neuen Verständnis der Geschichte bei, das keine ßxierbare und endgültige Bedeutung hat. Es geht nicht darum, der Geschichte ihre Wahrhaftigkeit abzusprechen, sondern darum zu demonstrieren, dass die sogenannten historischen Ereignisse Produkte - i. e. mögliche Signifikate - eines Zeichensystems sind, welche in der Gegenwart zu historischen Gegebenheiten erhoben werden. Zu behaupten, dass die narrativen Strukturen Ähnlichkeiten in zwei unterschiedlichen Bereichen
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82.
Roman
aufweisen, scheint in unseren Tagen nicht mehr übertrieben, dennoch geht es nicht nur um die Struktur eines Systems, sondern vielmehr um die Bedeutungsproduktion desselben. Und genau an diesem epistemologischen Kreuzungspunkt treffen sich beide Diskursarten - der wissenschaftliche und der literarische Diskurs - , denn beide bedienen sich ähnlicher Verfahren für ihre Textproduktion. Ihre Methoden, um Wahrheit oder Fiktion "herzustellen", weichen nicht - wie einst gedacht - grundsätzlich voneinander ab, im Gegenteil, das "poetische" Verfahren bei der Konstruktion von Geschichte wird sogar, wie bereits erwähnt, von einigen Historikern hervorgehoben. 3.4 Das Historische im transversalhistorischen
Roman
Es ist bekannt, dass die Zusammenstellung eines Textes eine a priori zu treffende Auswahl von konstituierenden Elementen impliziert. Dies gilt für einen Roman nicht weniger als für einen narrativen nicht-fiktionalen Text. Unter dieser Voraussetzung verlieren sich die von der Geschichtsschreibung beschriebenen historischen Ereignisse nicht in Darstellungen, die auf das kleinste Detail eingehen, weil solch ein Unternehmen Geschichte einfach unmöglich machen würde. Die Geschichte konzentriert sich daher auf die Regel, die besagt, der Historiker müsse das Allgemeine im Besonderen erkennen (vgl. Vossler 1979: 74-75). Um dieses bewerkstelligen zu körinen, muss der Historiker a priori eine Entscheidung darüber treffen, was er als "historisch" bezeichnen will und wird. Das Kriterium dafür findet sich nicht in den Geschehnissen selbst, denn sie sind "von Natur aus" nicht "historisch": Erst mit Hilfe einer Interpretation und abhängig von der Handhabung der Fakten (und dem späteren Umgang mit ihnen) wird aus einem "trivialen" Ereignis ein "historisches". Dieses Verfahren impliziert eine Auswertung und demzufolge auch eine Interpretation der vorhandenen Dokumente, Fakten, Ereignisse etc., welche als "historisch" katalogisiert wird (vgl. Carr 1997: 9-40). Im geschichtstheoretischen Sinne werden als "historisch" jene Berichte bezeichnet, die sich mit vergangenen Geschehnissen beschäftigen: Vergangenheitsbezug ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass es sich um eine spezifisch historische Darstellung handelt. [...] Die bloße Anwesenheit der Vergangenheit reicht nicht aus, um eine Präsentation 'historisch' zu machen. Erst dann, wenn die Vergangenheit selber in der Qualität einer differenten Zeit erscheint, also auf andere Zeiten (und dabei tendenziell auch auf die Gegenwart) bezogen wird, gewinnt sie die Qualität des spezifisch Historischen. (Rüsen 1997: 31. Hervorhebung R. C.) 17
17
Vgl. darüber hinaus folgende Ergänzungen zur Bezeichnung "historisches Erzählen", laut der man nur unter der Bedingung einer gleichzeitigen dreidimensionierten Operation von Inhalt, Form und Funktion des Dargestellten "Sinn" gewinnt (Rüsen 1997: 33-36):
Kapitel III
83
Zu sagen, dass der transversalhistorische Roman von "historischen" Begebenheiten handelt, erscheint vielleicht in erster Linie als banal. In Folge dessen muss dennoch gefragt werden, ob es in Anbetracht seines Umgangs mit der Zeit (Achronien, Zeitüberlagerungen, Prolepsen, Analepsen, etc.) noch berechtigt ist, von einer historischen Darstellung zu sprechen, vor allem wenn die oben aufgeführte Definition des Historischen berücksichtigt wird. Die Antwort muss in jedem Fall affirmativ sein. Die Bezeichnung "Darstellung historischer Ereignisse" ist mit Bezug auf den transversalhistorischen Roman durchaus berechtigt, gleichgültig ob sie den traditionellen Vorstellungen des Historischen entspricht oder nicht. Diese Romane spielen mit der Repräsentation verschiedener Zeitformen auf verschiedenen Ebenen, so dass sie die Zeitbehandlung zu einem ihrer Hauptthemen erheben. Insofern kann auch von der Behandlung "differenter Zeiten" die Rede sein, eine Betrachtung, die dem transversalhistorischen Roman den Zugang zum Historischen (auch im geschichtstheoretischen Sinne) ermöglicht. Die Zeitbehandlung im transversalhistorischen Roman ist nicht eine differenzierende, zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheidende, sondern eine differente im Sinne von Derridas (21999: 31 ff.) differance, wonach es möglicht ist, alle Zeiten nebeneinander zu behandeln. Die Zeitkategorie übernimmt nicht mehr die Rolle einer trennenden Markierung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem; diese einst deutliche Grenze wird im wörtlichen und nicht dialektischen Sinne aufgehoben. Mit der Aufhebung der traditionellen Zeitkonzeption verleiht diese Textsorte der Repräsentation einen nomadischen, bewegenden Charakter, womit dann besonders die Veränderlichkeit der Ereignisse (und deren Perzeption und Wiedergabe) hervorgehoben werden soll. Als einzige Einschränkung, welcher der transversalhistorische Roman subordiniert ist, ist die für die Sprache notwendige "lineare" Schreibweise anzusehen: Eine Einschränkung, der alle narrativen Texte unterliegen. Solch eine Definition des Historischen ist sowohl für den traditionellen historischen als auch für den transversalhistorischen Roman zutreffend, obgleich die in dieser Definition implizierte Vorstellung einer linearen Zeitkategorie für die Darstellung historischer Ereignisse im transversalhistorischen Roman keine entscheidende Rolle mehr spielt. Diese neue Textsorte transformiert die Zeit nicht in einem statischen Sinn, sondern verwandelt sie in eine Sinnstreuung. Die im transversalhistorischen Roman repräsentierten Geschehnisse ereignen sich kontinuierlich, d. h. sie aktualisieren sich in dem Moment der Lektüre: Sie geschehen wieder, indem sie geschrieben/gelesen werden. Ihre Aktualität besteht darin, dass sie den Leser zum (Nach)Denken auffordern und ihn dazu zwingen, sich danach zu fragen, ob das (his-
Die spezifisch 'historische' Ausrichtung der mentalen Operationen und kulturellen Praxen [...] lässt sich in der mentalen Prozedur paradigmatisch ausmachen, in der die auf Zeit bezogenen Erfahrungen verarbeitet und Selbst und Welt mit orientierender und motivierender Absicht gedeutet werden: dem historischen Erzählen. [...] 'Historisch' im weitesten Sinn ist diese mentale Transformation von Zeit in Sinn [...]. (Ibd.: 30)
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Zum transversalhistorischen
Roman
torisch) Repräsentierte wirklich und in dieser Form so gewesen sein konnte. Wenn das Verhältnis Schreiben/Lesen auf die Weise funktioniert, dann geschieht die Geschichte in actu. Exemplarisch dafür ist der Diktator im Gespräch mit seinem Hund Sultán in Yo el Supremo, wenn ersterer eine "symptomale" doppelte Lektüre verlangt. Diese Lektüre evoziert alle Laute, die dem Gedächtnis des Wortes entsprechen, um damit den in den Worten nicht enthaltenen Sinn ebenfalls zu gewinnen. Eine in dieser Weise praktizierte Lektüre verläuft in umgekehrter Richtung (Lesen und dann Schreiben) und offenbart das, was im geschriebenen Text versteckt bleibt: Lo escrito [...] tiene que ser leído primero; es decir, tiene que evocar todos los sonidos correspondientes a la memoria de la palabra, y estos sonidos tienen que evocar el sentido que no está en las palabras, sino que fue unido a ellas por movimiento y figura de la mente en un instante determinado, cuando se vio la palabra por la cosa y se entendió la cosa por la palabra. Symptomale, dirías tú. Lectura sintomática. Esa segunda lectura, con un movimiento al revés revela lo que está vedado en el propio texto, leído primero y escrito después. Dos textos de los cuales la ausencia del primero es necesariamente la presencia del segundo. Porque lo que escribes ahora ya está contenido, anticipado en el texto leíble, la parte de su propio lado invisible. (Roa Bastos 2 1987: 559) 1 8
Für die Konstituierung des historischen Sinns zählt der Historiker Jörn Rüsen (1997: 34 ff.) drei notwendig aufeinander abgestimmte Dimensionen auf: die inhaltliche, die formale und die funktionale. Wenn diese Erstreckungen oder Dimensionen in Bezug auf den transversalhistorischen Roman berücksichtigt werden, dann kann festgestellt werden, dass er auch in dieser Hinsicht einen historischen Sinn bildet. Die "inhaltliche" Dimension historischen Sinns, welche an die Wahrheit des Tatsächlichen gekoppelt ist, wird vom transversalhistorischen Roman erfüllt, insofern dieser keine Unwahrheiten vermittelt. Die zweite zu erfüllende Voraussetzung für das Erlangen historischen Sinns, die "formale" Dimension, bildet ebenfalls einen gewichtigen Teil der transversalhistorischen Romane. Bedingungen dieser "formalen" Dimension sind für historische Texte folgende: Nachvollziehbarkeit des Erzählten, Identifizierbarkeit des Referenzsubjekts, Anfang und Ende der einzelnen Erzählschritte. Die als dritte ausgeführte Bedingung für den historischen Sinn, die "funktionale" Dimension, findet im transversalhistorischen Roman auch ihre Erfüllung, insofern der historische Sinn im Roman den Adressaten betrifft und für "seinen Gebrauch der historischen gedeuteten Zeit zur Orientierung [...] in der Gegenwart" (ibd.: 35) konzipiert ist. Vor allem wird die "funktionale" Dimension als die "Kohärenz der als Geschichte vergegenwärtigten Vergangenheit" verstanden (ibd.). Auch wenn diese letzte Bemerkung für den traditionellen historischen Roman primär nicht zutreffend erscheint, ist sie im Gegensatz dazu für den transversalhistorischen Roman durchaus möglich; eine Tat18
Dieses Zitat verdeutlicht den metatextuellen Charakter mancher Romanstellen und zeigt zugleich, wie die Aufforderung (vom Erzähler an den Leser) geschieht: Durch die Verwendung der zweiten grammatikalischen Person.
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sache, die zugleich dessen epistemologische Verortung betont. Die "Orientierung in der Gegenwart" kann nur pragmatisch aufgefasst werden, und wenn hinsichtlich dieser Orientierung Zweifel darüber bestehen sollten, ob das im Roman "historisch Dargestellte" wahr oder falsch ist, betrifft diese Frage, aus philosophischer Sicht, die "krisenhafte" Situation unserer Zeit und kann deshalb nur mit den gleichen Mitteln dieser "Krise" bewältigt werden. Zusammenfassend kann also behauptet werden, dass sowohl die narrative historische Darstellung in der Geschichte als auch im Roman eine integrative Operation aus drei zusammenhängenden Komponenten des historischen Sinns ist: Diesen findet man sowohl im transversalhistorischen Roman als auch in der Geschichtsschreibung. Transversalhistorische Romane - mit ihrer Grenzauflösung zwischen Geschichte und Fiktion - betonen vor allem, dass es nicht möglich ist, das Schreiben von Geschichte in der Historiographie und in der Fiktion "schriftlich" auf der Ebene der Narration zu differenzieren und zu trennen.19 Diese Romane haben nicht als erste auf die dünne Trennungslinie zwischen beiden Diskursarten hingewiesen, aber mit ihren metafiktionalen Kommentaren und Überlegungen heben sie deutlich hervor, dass sowohl beim Schreiben von Fiktion, als auch beim Schreiben historiographischer Werke ähnliche Probleme auftauchen, welche mittels narrativer Konstruktionen gelöst werden können. 3.4.1
Das historische Subjekt im transversalhistorischen
Roman
Der transversalhistorische Roman behandelt die Geschichte nicht mehr als einen abgeschlossenen Vorgang, dessen Ton nur behauptend ist. Dieses distinktive Merkmal manifestiert sich am deutlichsten in der Darstellung bekannter, bereits in die Geschichte eingegangener oder institutionalisierter Persönlichkeiten, im Gegensatz zur Hagiographie, deren traditionelle Repräsentation meistens auf eine verherrlichende Art und Weise erfolgt. Solch glorifizierende Darstellungen hatten meistens eine identitätsbildende Funktion, um sie als Identifikationsinstanzen beim Leser fungieren lassen zu können. Diese Intention verfolgt der transversalhistorische Roman keinesfalls, denn die in ihm angewandten dekonstruierenden Vertextungsverfahren verhindern eine hermetisch abgeschlossene Repräsentation, bei der meistens die Bedeutungsstabilität des Dargestellten überragt. Wie bereits erläutert trägt er prinzipiell einen fragenden Charakter, der die Geschichte als einen Schreibprozess problematisiert und sie als solchen darstellt. Diese Absicht konkretisiert sich am besten in seiner Subjektrepräsentation, welche von der verbreiteten Erkenntnis begleitet wird, dass es nicht mehr möglich ist, eine Art Einheit des Subjekts darzustellen. Die Subjektrepräsentation in transversalhistorischen Romanen erfolgt überwiegend in einem die Figur brechenden ironisierenden Ton. Der Einsatz eines stark ironisierend-metafiktionalen Er19
Vgl. in diesem Zusammenhang die Schließung der "Lücken der Geschichte" in der Analyse von El general en su laberinto weiter unten.
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Zum transversalhistorischen
Roman
zählens ermöglicht, dass der angestrebte Bruch in der Darstellung einer einstigen nur positiv gesehenen und als Held bezeichneten Figur der Geschichte erreicht wird. Ein sehr markantes Beispiel bietet die Bolivar-Figur aus dem Roman El general en su laberinto. Der gealterte und schwache Bolívar in diesem Roman steht in starker Opposition zu den Kraft ausstrahlenden Monumenten, die von ihm in ganz Lateinamerika auf öffentlichen Plätzen gesichtet werden können, und die das ideale Bild dessen darstellen, was im Allgemeinen von ihm vorherrscht. In diesem Roman begegnet der Leser einem anderen Bolívar: En vez de Palomo Blanco, su caballo histórico, venía montado en una muía pelona con gualdrapas de estera, con los cabellos encanecidos y la frente surcada de nubes errantes, y tenía la casaca sucia y con una manga descosida. La gloria se le había salido del cuerpo. (García Márquez 1989: 23. Hervorhebung R. C.)
Es wurde auch bereits gesagt, dass die Darstellung geschichtlicher Ereignisse in transversalhistorischen Romanen nicht in einer definitiven Art und Weise geschieht, weshalb auch die Repräsentation bekannter Figuren der Geschichte nicht in traditioneller Weise erfolgen kann. Sogenannte institutionalisierte Helden der Geschichte einer Nation scheinen besonders gut geeignet für die Praxis einer Remythologisierung, weil sie bereits in einem kollektiven Bewusstein eingeschrieben sind. Aufgrund dieser allgemeinen Bekanntheit haben sie einen unbeweglichen Platz in der Geschichte erreicht, dessen Legitimation nicht in Frage gestellt wird: Sie sind keine Menschen mehr, sie wurden von der traditionellen Geschichtsschreibung und von verschiedenen Institutionen in gottähnliche Figuren aus Bronze und Marmor verwandelt. Und genau die Dekonstruktion solcher starren Bilder scheinen sich die Autoren von transversalhistorischen Romanen vorgenommen zu haben, wenn sie große Figuren der "Nationalgeschichten" wie Bolívar oder Kolumbus nicht mehr als unfehlbare, immer vernünftige Persönlichkeiten präsentieren, um sie vielmehr als unsichere, fragile Personen zu konzipieren. Diesen dekonstruktiven Prozess vollziehen sie, indem sie die als überragend geltenden Persönlichkeiten von dem für die Normalsterblichen unerreichbaren Sockel der Geschichte herunterholen und sie in ihren Romanen nicht mehr als jene tadellosen Helden der Institutionen Schule, Geschichte oder Tradition repräsentieren. Das durch die traditionellen Diskurse vermittelte Bild von ihnen wird somit dekonstruiert. Es handelt sich um eine Re-präsentation historischer Figuren, die aufgrund des Wahrnehmungswechsels der Weltgeschehnisse dem normalen Menschen näher gerückt werden. Die Überwindung der Maxime einer einzig gültigen Wahrheit manifestiert sich eindeutig in den unterschiedlichen (und zum Teil parallelen) Darstellungen ein und derselben Welt. Dieser Wechsel spiegelt sich notgedrungen in den verschiedenen Diskursen wider, ohne dabei in mimetische Formen der Wiedergabe zu verfallen, weil ein Diskurs nicht als eine unabhängige Einheit verstanden werden kann, die ihre Form und ihren Inhalt allein bestimmt, sondern als Praktik, die den sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen unterliegt und dadurch zu einem Wechsel in den Darstellungsformen gezwungen ist. Neben der Dekonstruktion historischer Persönlichkeiten zeigen transversalhistorische Romane, dass erst die Konstruktion historischer Subjekte die Konstruktion der
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Geschichte ermöglicht. Wenn die Geschichtsschreibung die Geschichte nicht als ein zufalliges Neben- und Nacheinander konzipiert, sondern als eine zusammenhängende Einheit von Ereignissen darstellt, dann steht sie vor der Notwendigkeit einen "Geschichtsträger", ein historisches Subjekt zu hypostasieren, wie der Historiker Rüsen erläutert: Die Geschichte gewann ihr zeitliches Profil als langfristige Erstreckung eines Großsubjekts [...] im übergreifenden Entwicklungszusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. (Rüsen 1997: 19)
Mit anderen Worten, das historische Subjekt kann sich verschiedenartig repräsentieren oder "verkörpern" lassen: Es kann sich u. a. um ein Individuum, einen Staat, eine Nation, ein Volk, die Menschheit, das Abendland, einen objektiven Geist oder eine Institution handeln. Diese strategische Konstruktion trägt den Nachteil in sich, dass das so konzipierte historische Subjekt die schweigende Menschenmasse verdrängt. Das selektive Verfahren, wodurch es entsteht, impliziert gleichzeitig seine Transzendenz gegenüber den empirischen Menschen. Gleichwohl in Analogie zum Individuum vorgestellt, zählt das historische Subjekt traditionellerweise nicht als Individuum, selbst dort nicht, wo es mit einer großen historischen Persönlichkeit zusammenfallt, denn was in solchen Fällen entscheidend ist, wird durch den Symbolcharakter der Darstellung dieser "überragenden" Persönlichkeit repräsentiert. Das historische Subjekt ist lediglich ein Symbol, eine Kategorie, der die Verallgemeinerungen des Individuellen zugrunde liegen: Sein tragendes Merkmal ist die Verkörperung eines Abstraktums in Form des Lebens (vgl. Lessing 1983: bes.: 22-31). Im Gegensatz dazu werden historische Subjekte im transversalhistorischen Roman mit all ihren Schwächen und Stärken dargestellt. Das heißt, dass ein Versuch unternommen wird, historische Subjekte nicht in traditioneller Manier als tadellose Helden wiederzugeben, sondern der Leser muss sich auf eine z. T. verwirrende Reise vorbereiten, welche vor allem durch die Simultanität der Diskurse (wie in Yo el Supremo) hervorgerufen wird. Die diskursive Gleichzeitigkeit kann in übertragenem Sinne für die geschichtliche Gleichzeitigkeit der Ereignisse stehen. Das heißt, die historischen Ereignisse werden nicht linear dargestellt, wie die traditionelle Geschichtsschreibung es praktizierte, sondern ihre Repräsentation im transversalhistorischen Roman geschieht im Werden. Der Leser muss, wie der Historiker, die verschiedenen Handlungssegmente und zusammenhängenden Ereignisse selbst zusammenbringen, denn ihre Verknüpfungen sind nicht unmittelbar vorgegeben. Selbstverständlich verfugt der Roman über eine "vorgegebene" und beabsichtigte Struktur, die jedoch nicht hierarchisch konzipiert ist und deshalb nicht gesagt werden kann, welches der oberste, der unterste oder der mittlere (Bestand)Teil ist, ohne der Struktur eine Fraktur zuzufügen und sie dadurch in eine andere umzuwandeln. Keiner ihrer Teile ist privilegiert (d. h. keiner von ihnen trägt eine besondere Auszeichnung, auch nicht das historische Subjekt). Das Merkmal der ahierarchischen Struktur ergibt sich aus der Vielfalt der Diskurse, die einen transversalhistorischen Roman konstituieren. Es handelt sich um partielle, nicht verabsolutierende Totalitäten, um ein Ganzes, das die unendlichen asymmetrischen Einheiten nicht leugnen oder verdrängen kann.
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Roman
Gerade dieses Aufbauprinzip wird auch für die Konstruktion eines historischen Subjekts verwendet. Ein Beispiel dafür stellt der fiktionale Kolumbus aus Vigilia del Almirante dar, der zugleich eine historische (den realen Kolumbus) und eine literarische Figur verkörpert. Letztere repräsentiert nicht nur den historischen Entdecker, sondern auch die kulturgeschichtlich eingeschriebene Figur des Entdeckers und des Reisenden, des Verrückten und des an-sich-Glaubenden. Um diese und weitere Merkmale in eine Figur bzw. in ein historisches Subjekt einzuschreiben, sind ebenfalls mehrere Diskurse notwendig, darunter auch jene der Literatur. Beispielsweise fuhrt der Weg für die Konstruktion und Charakterisierung eines kulturgeschichtlichen Kolumbus - wie ihn Roa Bastos konzipiert - über die Schriften des Hernando Colon und den Don Quijote von Cervantes bis zu dem von Jorge Luis Borges. Dank der dekonstruktiven Einsätze, um eine historische Figur oder einen Helden vom Podest der Unerreichbaren zu stoßen, bleiben die Subjekte in den transversalhistorischen Romanen "glaubhafte" bzw. "glaubwürdige" Individuen. Die Dekonstruktion historischer Figuren beabsichtigt keinesfalls, bestimmte Akteure der Geschichte nur zu karikieren, zu delegitimieren, oder sie sogar in einer lächerlichen Weise darzustellen und ihre historische Bedeutung somit zu verneinen. Colon, Bolivar oder Francia sind zwar die Hauptfiguren der hier zu analysierenden Romane, werden aber nicht als unerreichbare Helden dargestellt; sie haben vor allem durch die Dekonstruktion affektive Merkmale gewonnen: sie zeigen sich mit ihren Stärken und Schwächen. Es könnte der Eindruck entstehen, dass sie hauptsächlich als schwache Figuren dargestellt werden, was aber nicht der Fall ist. Historische Figuren weiterhin überwiegend als starke unbesiegbare Helden zu charakterisieren, wäre eine Rückkehr in traditionelle Darstellungsformen, in denen Affekte wie Angst, Depression, Unsicherheit, Unentschlossenheit, Passion etc. nicht vorkommen dürfen. Diese Romane lassen außerdem erkennen, dass Subjekte nicht mehr statisch und unbeweglich repräsentiert werden können. Da sie Teil einer nomadisch gewordenen Geschichte sind, können sie auch nicht definitiv beschrieben werden; sie sind ebenfalls Teil dieses Werdens, denn wie Bennett sagt: "[...] the subject of a deconstructive aesthetic is a subject in process" (1990: 276). Ein großer Gewinn in der Subjektrepräsentation und Subjektbehandlung dieser Figuren ist die Tatsache, dass sie facettenreicher wirken und nicht zu reinen Untersuchungsobjekten reduziert werden. Den Autoren gelingt es, die große Herausforderung zu bewältigen, das Andere als Subjekt und nicht als Objekt darzustellen. Dies erreichen sie, indem sie die vermeintlichen Helden zwischen historischen und fiktionalen Ereignissen oder zwischen einem Innen bzw. historisch Bekannten und einem Außen bzw. einem Erfundenen/Fiktionalen oszillieren lassen und diese dadurch weder räumlich noch zeitlich dingfest gemacht werden können. Es handelt sich um eine nomadische Repräsentation, die nicht aufhört, sich zu lesen und zu schreiben, die von innerhalb der Diskursivität operiert und sich aller Mittel bedient, um eine differance zum Ausdruck zu bringen. Die Subjektdarstellung historischer Persönlichkeiten im transversalhistorischen Roman offenbart sich im generativen Prozess des Schreibens/Lesens als eine Fiktion und demaskiert somit unsere Vorstellungen über vermeintliche Helden der Geschichte als bloße Illusionen oder Kon-
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Kapitel III
struktionen. Mit der oszillierenden Bewegung wird eine neue Figurenrealität geschaffen, die zugleich eine neue "literarische Wahrheit" bewirkt. Insofern ist es, im Anschluss an Ankersmit, möglich zu behaupten, dass die Darstellung historischer Ereignisse und Figuren in den transversalhistorischen Romanen in der Lage ist, zu einer Dekonstruktion unseres Geschichtsverständnisses zu fuhren: "In extremen Fällen kann literarische Wahrheit sogar einen Wandel unserer Geschichte und unserer Weltwahrnehmung bewirken" (Ankersmit 1999: 352). 3.4.2
Zur Dekonstruktion im transversalhistorischen
Roman
Mit der impliziten Einbettung gegenwärtiger philosophischer Probleme (beispielsweise als interdiskursive metasprachliche und metahistorische Abhandlungen) dekonstruiert der transversalhistorische Roman die traditionelle Weise der geschichtlichen Darstellung, wie sie sowohl im traditionellen historischen Roman als auch in der Historiographie praktiziert wurde. Den transversalhistorischen Roman verstehe ich als Dekonstruktion der Geschichte deshalb, weil er durch seinen pluralen Charakter eine kritische Stellung gegenüber bestehenden diskursiven Formen (beispielsweise der traditionellen Geschichtsauffassung) einnimmt, indem er neue Darstellungsformen (wie das nicht endende Zusammenspiel von Signifikanten) entfesselt und damit die institutionalisierten Sprachschemata umgeht.20 Die Dekonstruktion der Historiographie im transversalhistorischen Roman findet statt, wenn der Roman das sagt, was die Historiographie aufgrund ihrer wissenschaftlichen Zwänge verschwiegen hat, oder wenn er das äußert, worüber die Geschichte nicht offen spekulieren darf. Er besetzt die Nullpunkte der Geschichte mit Gegebenheiten und Bildern, die sich vielleicht so hätten ereignen können und erobert für sich ein Terrain wieder, das ihm anscheinend im Laufe der Zeit verloren gegangen war oder das ihm verweigert wurde: die Fähigkeit und das Recht, Wahrheit(en) zu vermitteln.21 Es geht nicht darum, in einen Wettstreit mit der Geschichte einzutre20
In einem Gespräch mit Henri Ronse erklärt Derrida, was er mit Dekonstruktion im Fall der Philosophie meint. Diese Definition kann auch auf die Problematisierung der Geschichte durch den transversalhistorischen Roman übertragen werden: Die Philosophie 'dekonstruieren' bestünde demnach darin, [...] in der getreust möglichen Weise und von einem ganz Inneren her zu denken, aber gleichzeitig von einem gewissen, für sie selbst unbestimmbaren, nicht benennbaren Draußen her festzulegen, was diese Geschichte verbergen oder verbieten konnte [...]. (Derrida 1986: 38) Zum Begriff Dekonstruktion s. auch J. Culler (1994) und P. Zima (1994).
21
Der transversalhistorische Roman füllt vermeintliche Lücken der Geschichte nicht mit Lügen aus, sondern mit einer Möglichkeit der geschichtlichen Darstellung, die aufgrund ihrer kulturellen Einschreibung in dieser dekonstruierten Form wiedergegeben werden kann und insofern wahrhaftig ist. Einige Beispiele in transversalhistorischen Romanen dafür sind die Ent-
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ten, sondern um die Möglichkeit, Erklärungsmodelle von Geschichte(n) zu erarbeiten. Die Geschichte und die Fiktion stehen sich nicht mehr in Opposition gegenüber, sondern verlaufen parallel zueinander. Es mag vielleicht eine Art Rückbesinnung auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "historia" bzw. "Historie" darstellen, aber das, was der transversalhistorische Roman mit der Geschichte unternimmt, ist ihre Auseinandersetzung in jeglicher Hinsicht: Diese Romanform analysiert, seziert die Geschichte. Die Dekonstruktion des Begriffs fangt bereits in dieser Rückbesinnung an und setzt sich im differenten Gebrauch derselben fort. Der Geschichtsbegriff wird weder allein in wissenschaftlichem Sinne, noch rein in seiner griechisch-lateinischen Bedeutung verstanden, sondern er wird mit all seinen bestehenden und all seinen möglichen Bedeutungen und Interpretationen gebraucht. In der Simultanität dieses Gebrauchs liegt das schwindelerregende Gefühl, das der Leser erfährt, wenn er einen transversalhistorischen Roman liest. Hinzu kommt noch, dass der Roman weder bearbeitet, noch lässt er zu, dass sich ein bestimmtes Bewusstsein entfaltet. Demzufolge verliert die Geschichtsschreibung durch die literarischen Verfahren (i. e. durch die praktizierte Dekonstruktion) des transversalhistorischen Romans jene während ihrer Modernisierung gewonnene "kulturelle Hegemonie im Bereich der öffentlichen Erinnerungsarbeit" (Rüsen 1991: 31). Der transversalhistorische Roman verdeutlicht somit den "fiktionalen" Charakter, welchem das Schreiben von Geschichte(n) allgemein "unterworfen" ist. Die Erzählmodi des transversalhistorischen Romans sind ein weiteres Beispiel der historiographischen Dekonstruktion traditioneller Geschichtsschreibung. Die Verschiedenartigkeit der narrativen Konstruktionen im transversalhistorischen Roman bildet einen abrupten Bruch mit der Linearitätswiedergabe historischer Ereignisse, da der Roman in alle Richtungen (i. e. rhizomatisch) schreiben, beschreiben und umschreiben kann; es gibt in ihm keinen geradlinigen Darstellungsfortschritt; der Roman kann gleichzeitig Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart anbieten.22 In diesem Kontext verfugt der Romancier über mehr Freiheit hinsichtlich seiner Positionierung in der Zeit als der Historiker. Aus der rückwärts gewandten Position des Historikers kann die Vergangenheit beschrieben und konstruiert werden; der Romanautor dagegen steht an keiner fixierten Position, denn diese ist für ihn variabel. Wie bereits gesagt wurde, liegt der erzählende Charakter sowohl der Geschichte als auch dem Roman zugrunde. Insofern sie als narrative Texte aufgefasst werden, bildet dieses Merkmal ein von ihnen untrennbares Konstitutionskriterium. Deshalb erscheint es als eine Notwendigkeit, beide Bereiche deutlicher voneinander zu unterscheiden. Dafür schlage ich eine operative Differenzierung vor, nach der die Geschichtsschreibung als System und der transversalhistorische Roman als Prozess aufdeckung Amerikas und die Figuren von Kolumbus (in Vigilia del Almirante, Los perros del paraíso, El Naranjo), von Bolívar (in El general en su laberinto) oder von Carlota und Maximiliano (in Noticias del Imperio). 22
Aussagen über die Zukunft sind dem Historiker in jeder Hinsicht untersagt, denn damit würde er in den Kompetenzbereich eines Hellsehers eintreten.
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gefasst werden. Paradigmatische, syntagmatische und pragmatische Dimensionen von Systemen und Prozessen finden sich sowohl in der Geschichte als auch im Roman auf der Textebene wieder und dank der narrativen Textstrukturierung können sie sich entfalten oder werden dadurch verdeutlicht. Da sich aber diese Dimensionen allein weder für die Differenzierung der Intention noch der Form beider narrativen Erscheinungen als ausreichend erweisen, sollte auch die Kategorie des Ludischen (als Spiel mit Zeit und Informationen) in den Vordergrund gerückt werden. Ein weiterer Fall für die Dekonstruktion des traditionellen Geschichtsverständnisses durch den transversalhistorischen Roman tritt ein, wenn Geschichte und Roman jeweils als System und Prozess verstanden werden. Die Geschichte als ein sich langsam veränderndes System zu konzipieren erlaubt dem transversalhistorischen Roman sich als ein Prozess zu konstituieren, der die starren Strukturen des Geschichtssystems unterminiert. Die technischen, i. e. narrativen Veränderungen, die ein Roman einfuhrt, können nicht unmittelbar in den historischen Diskurs aufgenommen werden, weil dieser durch eine von ihm untrennbare, festgelegte Opposition bedingt wird: Vergangenheit-Gegenwart. Bei der Historiographie handelt es sich um eine geometrisch feste Wahrnehmung und deren Wiedergabe: eine solide geradlinige Auffassung. Im Gegensatz dazu ist der transversalhistorische Roman unförmig, rhizomatisch, flüssig oder gasförmig,23 ein Zustand, der seine Strukturen dementsprechend beweglich macht. 3.5 Epistemologische Verortung des transversalhistorischen
Romans
Es wurde bereits erwähnt, dass sich der transversalhistorische Roman in einem postmodernen und postkolonialen Kulturkontext einbettet. In diesem Unterkapitel werden die Hauptmerkmale dieses Kontextes beschrieben, die für die Perspektive meiner Analyse notwendig sind. Die Postmoderne, als historisch-kulturelles Phänomen aufgefasst, lässt sich nach A. de Toro (1997: 12 ff.) durch drei wesentliche Merkmalen charakterisieren: Erinnerung, Verarbeitung und Verbindung. Diese drei Strategien stehen im Hintergrund meiner Analyse, wenn es darum geht, das "Funktionieren" oder die Verfahren der transversalhistorischen Romane zu erklären, und sie könnten auch mit den Begriffen der Konstruktion, der Translation und der Bemächtigung (apropiación) von Diskursen ergänzt werden.24 Sie sind eng miteinander verbunden, treten zusammen auf und
23
Für eine Erläuterung der verschiedenen "Aggregatzustände" im Denken, s. Deleuze (1993a: 179 ff., 195 ff.).
24
Den Begriff Translation verstehe ich als Deterritorialisierung von Figuren und Ereignissen aus ihrem historischen Ort und deren Reterritorialisierung in die Fiktion ihrer selbst (für die Begriffe De- und Reterritorialisierung, s. Deleuze/Guattari 1992). Dieses Translationsverständnis kann ohne den Einsatz von dekonstruktiven und ludischen (Ironie/Parodie) Verfahren nicht zustande kommen.
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werden ebenfalls als Strategien eines neuen Denkens verstanden, dessen Realisierung beispielsweise an den hier zu behandelnden Romanen demonstriert werden kann. Die Translation und apropiación sind nur in der Re-präsentation feststellbar, i. e. in der Wiedergabe von "Ereignissen", die gegen gängige Darstellungsformen präsentiert werden: Sie stellen notwendige Kategorien für die Wieder- und Widerschreibung der Geschichte dar. Zugleich ergeben sie sich als Resultat einer Gegen-Lektüre traditioneller, sowohl literarischer als auch historisch-sanktionierter Diskurse. Die Repräsentation in diesen Romanen versucht zu zeigen, wie die Realität (und die Geschichte) konstruiert, gelesen und wahrgenommen wird. Dazu spielt die Spezifizierung des Ortes bezüglich der Wahrnehmung eine entscheidende Rolle in der diskursiven Repräsentation der Art und Weise (des Wie). Demzufolge entscheidet die Verortung der Perspektive der Repräsentation (aus deren Sicht bzw. Empfinden gesprochen wird: Wer und wie, sowie von wo aus werden die verschiedenen Diskurse artikuliert) über das Erfassen der Kultur und der Wirklichkeit. Gemeint ist hier nicht die Festlegung des Sprechaktes einer spezifischen Figur im Roman. Es geht auch nicht darum zu sagen, A oder B sprächen in dieser oder jener Szene auf diese oder jene Weise - ohne dass diese Präzisierung deswegen an Bedeutung verliert - , sondern es geht darum festzustellen, welche epistemologische Basis dem transversalhistorischen Diskurs des Romans zugrunde liegt. Ein erster Schritt in die Richtung dessen, was ich Wieder- und Widerschreiben der Geschichte nenne, erfolgt durch die Anerkennung, dass die Geschichtsschreibung auch als ein "sekundäres modellbildendes System" verstanden werden kann.25 Diese Tatsache hat sich - mit größerer oder geringerer Akzeptanz - dank den Untersuchungen von White durchgesetzt. Der zweite Schritt kommt zustande, wenn - unter diesen Voraussetzungen und auf Grund dieser Merkmale - auch akzeptiert wird, dass die Geschichte keine endgültig fixierbare Bedeutung produzieren kann. Es mag sich paradox anhören, der Historiographie einen Zeichensystemcharakter zuzuschreiben und andererseits ihre Bedeutung "fluktuieren" lassen zu wollen, dennoch ist dieses nicht der Fall. Einerseits möchte ich die Geschichte (bzw. die Geschichtsschreibung) als ein Konstrukt auffassen, andererseits ihr aber kein transzendentales Signifikat zugestehen. Warum? Erstens, weil das Geschichtsverständnis, womit ich operieren möchDes Weiteren verwende ich den Begriff Translation als eine "Veränderung von Kodizes" (A. de Toro 2001: 33). die nicht nur Bereiche der Sprache und Literatur, sondern auch jene der Philosophie, Geschichte, Anthropologie u. a. mit einbezieht (s. ausfuhrlicher dazu Niranjana 1992 und A. de Toro 2002). 25
Sekundäre modellbildende Systeme sind Strukturen, denen eine natürliche Sprache zugrunde liegt. Darüber hinaus jedoch erhält ein solches System eine zusätzliche sekundäre Struktur ideologischer, ethischer, künstlerischer oder irgendeiner anderen Art. (Lotman 4 1993: 61) Ein sekundäres modellbildendes System vom Typ Kunst konstruiert sein eigenes System von Denotaten, die nicht etwa eine Kopie, sondern ein Modell der Welt der Denotate in allgemeinsprachlicher Bedeutung darstellt. (Ibd.: 77)
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te, seine epistemologische Basis im postmodernen und postkolonialen kulturellen Denken ansiedelt. Das heißt, ich verstehe unter Geschichte einen mehrfach kodierten kulturellen Begriff, der durch verschiedene Stadien gegangen ist (s. dazu Kap. I), um zu dem zu kommen, was man heute u. a. mit den Bezeichnungen Mentalitäts-, Alltags*, oder Minderheitengeschichte verbindet. Es handelt sich um eine Geschichte, deren Charakter und Wirkungsrahmen entgrenzt wurden. Dieser Geschichtstypus installiert sich nicht mehr in dem Bereich der Sieger und ist auch nicht mehr als ein "Ritual der Stärkung der Souveränität" (Foucault 1986: 33) zu verstehen, sondern vielmehr sollen durch ihn jene Sphären zur Sprache kommen, die zum Teil verschwiegen wurden oder keine besondere Beachtung fanden. Innerhalb der Literatur äußern sich diese Bereiche zum Teil in Form des transversalhistorischen Romans, beispielweise, wenn der Erzähler von Los perros del paraíso die Geschichtsschreibung der großen Taten - für den "offiziellen Konsum" bestimmt - kritisiert: [...] sólo hay Historia de lo grandilocuente, lo visible, de actos que terminan en catedrales y desfiles; por eso es tan banal el sentido de Historia que se construyó para consumo oficial. (Posse 41991: 66)
Bekanntermaßen wird heute unter Geschichtsschreibung nicht mehr eine monolithische Darstellung irgendwelcher Ereignisse verstanden; sie hat sich dahingehend transformiert, dass es nicht mehr möglich ist, unbestreitbare und universal geltende Aussagen zu machen, so dass ihre Geltungsbereiche durch die Infragestellung verabsolutierender Denksysteme stark eingeschränkt wurden. Obwohl ich die Geschichte als ein Zeichensystem verstehe, haften diesem Zeichenverständnis noch jene Vorstellungen von einer aus drei festen Teilen bestehenden Zeicheneinheit (Signifikant, Signifikat und Referenz) an. Dieses Kriterium trifft auf den transversalhistorischen Roman nicht mehr zu, weil dieser sich u. a. dadurch charakterisiert, dass er dem hegemonialen Logos entkommen kann: Fixierte Vorstellungen von Zeit, Ursprung und Wahrheit finden in diesen Romanen keinen Wiederhall mehr. Aus solchen Romanen eine eindeutige Interpretation herauszulesen, gelingt nicht mehr und gerade in diesem Punkt liegt der markanteste Unterschied zu der traditionellen Geschichtsschreibung: Ihr Umgang mit der Schrift bewirkt eine textuelle Transformation, eine Translation, eine differance,26 In Romanen transversalhistorischer Art verdeutlicht sich die Sinnlosigkeit der Suche nach einem alleinigen Ursprung. Von einem solchen Romantypus kann besonders die Rede sein, wenn bei der Repräsentation geschichtlicher Ereignisse das lineare Zeitverständnis durch Anachronismen gebrochen wird, wenn die Signifikanten nicht mit den Signifikaten korrespondieren, wenn Diskontinuitäten und Widersprüche an die Stelle von totalisierenden Kontinuitäten treten und eine offene Interpretation sowie einen Bedeutungswandel favorisieren. Unter diesen Prämissen werden transversalhistorische Romane zu einer diskursiv-hybriden Form zwischen mehreren Systemen, wie es der Erzähler von Vigilia del Almirante eindeutig ausdrückt. Dieser Roman ist: 26
Die Begriffe Logos, Schrift und differance verwende ich im Sinne Derridas ( 6 1996; 21999).
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[...] un relato de ficción impura, o mixta, oscilante entre la realidad de la fábula y la fábula de la historia. [...] una obra heterodoxa, ahistórica, acaso anti-histórica, antimaniquea, lejos de la parodia y del pastiche, del anatema y de la hagiografía. (Roa Bastos 1993: I I )
Die oben erwähnten Unregelmäßigkeiten in der diskursiven Geschichtsdarstellung von transversalhistorischen Romanen laufen parallel zu zeitgenössischen philosophischen Erscheinungen, welche mit Begriffen wie Hybridität, third space und différance im Kontext der Postkolonialität erklärt werden können.27 Durch die Reterritorialisierung historischer Prozesse in die diskursive Praxis eines Romans vereint der transversalhistorische Roman in sich aktuelle philosophische und literaturwissenschaftliche Diskussionen, die versuchen, die Relation zwischen Texten und Kontexten des Schreibens und des Lesens zu berücksichtigen. Mit dieser, auf einer subtilen Art veränderten, kritischen Position gegenüber der traditionellen Geschichtsschreibung verlangt der transversalhistorische Roman nicht nur nach einem neuen Gattungsbegriff, sondern trägt zu einem anderen Verständnis von Geschichte bei. Mit Hilfe seiner Verfahrensweise - mit seinem "un-wahren" Diskurs - verhilft er zu einer anderen, zu einer "wilden" Wahrheit.28 Besonders durch die Sprengung des traditionellen Rahmens historischer Darstellung der Geschichtsschreibung gelingt es solchen Romanen, sich in eine Diskussion um die Überwindung zentral hierarchisierender Diskurse einzuschreiben und einen Beitrag zu einer undogmatischen Vorstellung dessen zu leisten, was Geschichtsrepräsentation sein kann. Anhand der Dezentrierung einer alleinigen Darstellungsform der Geschichte und der Relativierung traditioneller Darstellungsformen (sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst) bricht der transversalhistorische Roman aus seinem peripheren Kunst-Dasein aus und zeigt, dass die Repräsentation historischer Ereignisse eine diskursive Vielfalt in sich einschließt. Diesen Sachverhalt verdeutlicht auch der Kritiker Nicolás Rosa: La literatura tiene el mismo régimen de certeza que la Historia, aunque lo disimula. La literatura no es marginal, aunque los otros discursos sociales la fuercen a abandonar el centro [...]. (Rosa 1997: 77)
Die vom transversalhistorischen Roman praktizierte Dezentrierung verstehe ich im Anschluss an A. de Toro als ein Merkmal postkolonialen Denkens, das die Diversität 27
Für eine deutliche Differenzierung vom Terminus Postkolonialismus, mit dem sich hauptsächlich eine historische Konnotation verbindet - etwa die Zeit nach der Kolonisation oder die Diskussion um neo-koloniale Tendenzen in der Politik - , fuhrt A. de Toro (1997: 28 ff.) den Begriff Postkolonialität als eine epistemologische und nicht ideologische Kategorie ein.
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Die Bezeichnung "wilde Wahrheit" verstehe ich im Sinne von Deleuze: Um daher den Willen zur Wahrheit unmittelbar zu entdecken, muss man sich un-wahre Diskurse vorstellen, die mit ihren eigenen Verfahrensweisen verschmelzen [...]: ihre Nicht-Wahrheit ist dann gleichfalls eine wilde Wahrheit. (Deleuze 1993a: 169. Hervorhebung R. C.)
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und die Differenz der verschiedenen diskursiven Praktiken erfasst und sie als einen Gegen-Diskurs rekodifiziert, um die Vorstellungen von einer Geschichte und einer Wahrheit zu dekonstruieren: La postcolonialidad [...] se caracteriza por una actitud y por un pensamiento deconstruccionista (en el sentido de una reflexión crítico-creativa), intertextual e intercultural, por un pensamiento re-codificador de la historia (que descentra la historia), por un pensamiento heterogéneo o híbrido, subjetivo y de radical particularidad, de radical diversidad y por consecuencia universal. (A. de Toro 1997: 29)
Dies drückt aus, was ich unter postkolonialem Denken verstehe. Was heißt aber daran anschließend postkoloniales Schreiben? Dazu eine kurze Erläuterung aus dem angelsächsischen Raum, die zum Teil auch auf literarische Praktiken in Lateinamerika zutrifft: [...] post-colonial writing [...] focuses on the fact that the transaction of the post-colonial world is not a one-way process in which oppression obliterates the oppressed or the colonizer silences the colonized in absolute terms. In practice it rather stresses the mutuality of the process. [...] [it] shows how these become an integral part of the new formations [...]. Finally, it emphasizes how hybridity [...] [allows] a means of evading the replication of the binary categories of the past and [...] [develops] new anti-monolithic models of cultural exchange and growth. (Ashcroft 1995: 183)
In einem postkolonialen Diskurs können Schriftsteller an die Stelle von Historikern (oder parallel zu ihnen) treten, um ihre eigene Geschichte zu erzählen, um an die "verdrängte" Vergangenheit zu erinnern und somit einen Gegendiskurs zur zentralen, traditionellen Historiographie zu bilden. Auf diese Weise rücken mündliche Erzählungen, Märchen, Legenden in den Mittelpunkt, in summa jene kulturellen Ausdrucksformen, die von kolonialen Diskursen als "Folklore" bezeichnet wurden, und in der Regel im "autorisierten" kolonialen Geschichtsdiskurs keine Berücksichtigung fanden (s. dazu Lüsebrink 1999: 417-422). Die Literatur fungiert in diesem Sinne als letztes Refugium der Freiheit und des Widerstandes, wie es der Erzähler von Vigilia del Almirante ausdrückt: El primer paso de una conquista [...] es la ocupación de un territorio. Su último paso, el definitivo, se da cuando la lengua de un pueblo ha sido también ocupada. N o es extraño, pues, que uno de los últimos refugios de la resistencia de los pueblos haya estado siempre en la lengua. (Roa Bastos 1993: 284)
In diesem Zusammenhang betrachte ich den transversalhistorischen Roman als postkolonial, weil er im übertragenen Sinne einer Stimme (oder Stimmung) die Aussage ermöglicht und gleichzeitig zeigt, dass der Enunziationsort - als Locus der Aussage und der Repräsentation verstanden - wichtig für ein anderes Verständnis der diskursiven Praktiken (beispielsweise der Geschichte) ist. Diese, die professionellen Historiker kritisierende Stimme, ist in der Figur des Diktators Francia von Yo el Supremo im Gespräch mit Patino, seinem Schreiber, deutlich zu hören:
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Zum transversalhistorischen
Roman
¿No cree que de mí se podría hacer una historia fabulosa? [...] No, Patino, no. Del Poder Absoluto no pueden hacerse historias. [...] ¿Quién escribiría esos libros? Gente ignorante como tú. Escribas de profesión. Embusteros fariseos. Imbéciles compiladores de escritos no menos imbéciles. [...] Si a toda costa se quiere hablar de alguien no sólo tiene uno que ponerse en su lugar: Tiene que ser ese alguien. Únicamente el semejante puede escribir sobre el semejante. (Roa Bastos 2 1987: 123-124)
Bei diesem Beispiel handelt es sich nicht um eine essentialistische Haltung, wonach nur die Angehörigen einer Gemeinschaft über sich selbst Bericht erstatten können. Vielmehr geht es um die Positionierung der eigenen Stimme in einem vielfaltigen Diskussionsforum, das lange Zeit auf der Basis der Konfrontation des, reinen frei von Einflüssen, Selbst mit dem, reinen frei von Einflüssen, Arideren argumentiert hatte. Es geht auch nicht um eine Denunziation (im Sinne einer littérature engagée), sondern sowohl um den Versuch, eine Opposition zu durchbrechen, als auch um das Bemühen einer Beziehung der gegenseitigen Annerkennung. Es geht um die Frage "From where to speak?", die F. de Toro (1995) vor dem Hintergrund der Krise eurozentristischer Perspektiven für die Analyse epistemologischer Veränderungen unserer Zeit stellt. Es geht um eine postkoloniale Haltung, die "Repräsentation als Raum der wechselnden Perspektiven" (Riese 1997: 301) ermöglicht, bei der der Beobachtete, "den sich beim Beobachten beobachtenden Beobachter beobachtet" (ibd.). Die Autoren dieser Romane vereinfachen nicht die geschichtlichen Ereignisse, sondern präsentieren sie, wie epistemologische Konstruktionen oder diskursive Erfindungen, indem sie in den Romanen die unterschiedlichen Mechanismen ihrer Zusammenstellung offenbaren. Ein Beispiel für die Einschreibung in die internationale Diskussion anhand eines literarischen Werkes bietet Abel Posse mit seinem Roman Los perros del paraíso. Der Roman problematisiert und stellt die traditionelle Vorstellung der einseitigen Entdeckung Amerikas in Frage, indem er eine gegenseitige Entdeckung vorschlägt. Ein Vorschlag, der insofern als eine postkoloniale Repräsentation bezeichnet werden kann, da er - im Gegensatz zu kanonisierten Darstellungsformen der Entdeckung Amerikas - aufhört, ein Subjekt und ein Objekt zu fixieren. Damit erwächst aus dem Roman die Möglichkeit, die différance oder "radikale Alterität" darzustellen, denn wie Riese (1997: 337) feststellt: "Erst die Wechselseitigkeit des Repräsentierens ermöglicht statt einer Inversion des Zeitalters der Repräsentation das Ausspielen radikaler Alterität". Die in Los perros del paraíso suggerierte kulturelle Einschreibung wird deutlicher, wenn die verschiedenen Persönlichkeiten berücksichtigt werden, die mit dem literarischen Kolumbus auf die Reise gehen, und deren Namen als kulturelle Indizien des Abendlandes verstanden werden. Unter anderen fahren mit Kolumbus: Torquemada, Descartes, Cervantes, Hegel, Marx und Nietzsche. Damit kann gezeigt werden, dass es sich bei diesem Roman um die Übernahme und Rekodifizierung von abendländischen Diskursen und um deren Reterritorialisierung im Bereich der Kunst handelt. Es geht also um eine Translation, um ein "Sich-Übersetzen von Globalem und Lokalem" (Riese 1997: 336), eine Bemächtigung und strategische Anwendung von kulturellen Codes (aus der Geschichte, aus der Philosophie und aus der Literatur), um damit einen parallelen, gleichwertigen Diskurs zur traditionell verstandenen Geschichtsschreibung zu entwerfen. Transver-
Kapitel III
97
salhistorische Romane bezeichne ich als postkolonial, weil sie, F. de Toro folgend, nicht nur das binäre Denken auseinander nehmen, sondern weil sie die essentialistischen Paradigmen und eurozentrischen Repräsentationen der Alterität dekonstruieren.
29
Wenn die allgemeinen Merkmale der Postmoderne und der Postkolonialität in Betracht gezogen werden, könnte dann nicht ein neues, alle Wissensbereiche durchziehendes Phänomen festgestellt werden? Könnte man diese, unsere "Epoche", auch unter einem bestimmten Epistem begreifen? Als ein Hauptmerkmal dieser Zeit stelle ich fest, dass die meisten Erneuerungen, Errungenschaften oder Entdeckungen nicht lange auf ihre jeweiligen "eigenen Erneuerungen" warten müssen. Ein extrem hohes Tempo bestimmt und charakterisiert unser Leben, unsere Handlungen und unser Denken. "Nichts ist endgültig, alles ist vergänglich" heißt es; dieser Satz scheint aber eine neue Dimension zu erlangen, wenn er von seinem erlahmenden Pessimismus befreit verstanden wird und wir bewusst die "Vergänglichkeit" erleben. Der Zustand des Nichtstabilen und des Vergänglichen "where the only certainty is that nothing is certain" (F. de Toro 1995: 147) könnte als Epistem der Fluktuation bezeichnet werden. Und genau unter diesem Zeichen der Fluktuation schreiben die Autoren von transversalhistorischen Romanen. Das Fluktuieren des Raumes und das Fluktuieren im Raum selbst sind Merkmale einer poststrukturalistischen Philosophie, die bei der Interpretation der Zeit- und Raumbehandlung in transversalhistorischen Romanen helfen können. Die Fluktuation impliziert in ihrem semantischen Feld die Idee der ständigen, unkontrollierten Beweglichkeit. Diese Idee der unaufhaltsamen Bewegung verbirgt sich auch in anderen philosophischen Termini, die den Begriff der Fluktuation begleiten oder ihm entsprechen. Zu denen zähle ich u. a. das Werden, die Kartographie, das Nomadische, das Rhizom, die Falte, die differance, die Spur. Solche Begriffe und ihre jeweiligen "Erfinder" (Foucault, Deleuze, Derrida) sind inzwischen in den verschiedenen kulturtheoretischen Diskussionen sehr bekannt, so dass ich ihre Erklärung auf eine kurze Erläuterung beschränke. 29
F. de Toro (1995: 138) bezeichnet diese Haltung als die "Aufgabe" der Postkolonialität: "[...] the task is to disarticulate not only binary thinking, but to deconstruct essentialist paradigms and Eurocentric representations of Alterity". Weiter versteht er die Postkolonialität als "a new epistemology, which prohibits the production of essentialist master narratives, whether they be from the Centre or from the margin" (ibd.). Obwohl F. de Toro sich ausdrücklich zu einer nicht-essentialistischen Betrachtung Lateinamerikas bekennt, scheint er dies zu übersehen, wenn er begründet, warum Lateinamerika laut einiger Kritiker schon immer postmoderne Merkmale auszuweisen hatte. Lateinamerika habe zwar solche Charakteristika, sei aber deswegen nicht postmodern avant la lettre gewesen. Er erklärt den Kontinent für "hybrid", ohne diese Bezeichnung näher zu definieren: I think if it is well and truly the case that these characteristics [relativization of History, the transgression of genres, parody] existed from the beginning, that it is a result of the hybrid and synthetic character of the continent, in its colonial and Post-Colonial status, always open to international culture. (Ibd.: 143-144).
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Zum transversalhistorischen
Roman
Alle Termini haben gemeinsame Merkmale und darin liegt ihre Verwendbarkeit für mein Vorhaben. Ihre Ähnlichkeiten sollen aber nicht als ein vereinheitlichendes Charakteristikum verstanden werden, sondern als eine Besonderheit, die sie alle durchquert. Diese besteht in der bereits erwähnten Beweglichkeit, auf die sie hinweisen, und in der Übereinstimmung darin, dass in unserem kulturellen Dasein keine "statischen" Phänomene vorhanden sind. Wenn das 19. Jahrhundert sich durch die Geschichte, den Fortschrittsgedanken, die "Akkumulation der Vergangenheit" (Foucault 1993: 34) ausgezeichnet hat, so ließe sich dagegen das 20. Jahrhundert durch eben jene Merkmale der Beweglichkeit charakterisieren. Foucault zufolge wäre dem 19. Jahrhundert gegenüber [...] die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. (Foucault 1993: 34)
Mit diesem Verständnis der Juxtaposition und in Anlehnung an die deleuzianische Zeitvorstellung verstehe ich die Bewegung nicht nur in Abhängigkeit mit der Kategorie der Zeit, sondern auch in Verbindung mit jener des Raumes: [Die Zeit ist] keine Gegenstandsbestimmung mehr, sondern die Beschreibung eines Raumes [...]. [...] Es gibt in der Zeit nichts Ursprüngliches und Abgeleitetes mehr, das von der Bewegung abhängt. (Deleuze 2000a: 42)
Dieses Bewegungsverständnis ist auch in der Bezeichnung différance von Derrida ( 2 1999: 31-56) impliziert. Die différance verdeutlicht das Prozesshafte der Bedeutungsproduktion, insofern alles immer ein Zeichen von einem Zeichen ist, wobei sich die différance "weder ursprünglich noch endgültig nennen" (ibd.: 38) lässt, weil sie keine Repräsentation einer Präsenz ist. Die différance ist nicht einfach ein Wort oder ein Begriff, "sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und systems überhaupt" (ibd.: 40). Damit erklärt sich, dass es keine idealen Bedeutungen mehr gibt, die von der Präsenz des Sprechenden garantiert werden, " d a ß die différance nicht ist, nicht existiert, kein gegenwärtiges Seiendes (on) ist, [...] und daß sie folglich weder Existenz noch Wesen hat" (ibd.: 34. Im Orig. kursiv.). Der Erzähler in Vigilia del Almirante von Roa Bastos erläutert dieses Spiel der différance, bei dem es nicht möglich ist, den Ursprung oder das Ursprüngliche zu erreichen: La palabra escrita, la letra, es siempre robada porque nadie puede llegar al vacío que está antes de la palabra última-última-primera, después de la cual todas fueron palabras robadas y todas las que sigan serán palabras robadas hasta la última-última-última que sea escrita en el mundo. Irremediablemente. (Roa Bastos 1993: 133)
Der transversalhistorische Roman praktiziert eine narrativ hybride Form (s. Punkt 3.6.3), die der geistigen Entwicklung im Bereich der Geisteswissenschaft entspricht (ca. ab dem 2. Weltkrieg), eine Entwicklung, die als eine neue epistemologische con-
Kapitel III
99
dition bezeichnet werden kann. Vor allem spricht er die wachsende Unmöglichkeit an, eine strikte Grenze zwischen den unterschiedlichen Wissensdisziplinen zu ziehen, so zum Beispiel zwischen Philosophie, Geschichte und Kunst: Moderne Kunst beansprucht Erkenntnis, nach-systematische Philosophie hat sich als partikuläre Strategie der Herstellung spezifischer Metaphern, als ernsthafter Zweig der Belletristik also herausgestellt [...]. [...] Insofern ist prinzipiell alles, was überhaupt noch beansprucht, Aussage zu sein, ein Hybrid zwischen Poesie und Epistemologie. (Reck
1997: 98)
Diese Textsorte verdeutlicht die Fähigkeit der Kultur, Realität zu produzieren. Sie stellt eine multiple Realität dar, die eine Auswahl von "möglichen Welten" anbietet und deren Hauptunterschied zu der "wirklichen Realität" - i. e. der textexternen Realität - in einer leicht modifizierten logischen Anordnung der Ereignisdarstellung liegt. Transversalhistorische Romane sind keine mimetischen Texte der Realität, sie beanspruchen keine genaue Wiedergabe derselben zu sein: Sie simulieren lediglich Realität. Diese Realitätssimulation basiert nicht mehr auf einem ursprünglichen Modell oder einem Original, aus dem das Signifikat hergestellt wird. Der Prozess der Signifikation findet in einer sich ständig bewegenden textinternen (d. h. textübergreifenden) Modulation, in einem autoreferentiellen Spiel statt, das keine direkten (textexternen) Referenten mehr braucht, weil die darzustellenden Ereignisse die ontologische Division zwischen Original und Kopie, Authentischem und Künstlichem und sogar zwischen Wahrheit und Fiktion nicht mehr zulassen, insofern der Roman sie alle als eine Konstruktion demaskiert hat. Vor diesem epistemologischen Hintergrund können die transversalhistorischen Romane dann als die differance der Geschichtsschreibung verstanden werden. Sie verdeutlichen zugleich, dass unsere Welt (und dementsprechend auch die Geschichte) eine künstliche, eine von Menschen erschaffene, kulturelle Welt ist. 3.6 Merkmale des transversalhistorischen Romans: ¿freigitühaftigkeit, Hybridität, Autoreferentialität und Metadiskursivität Für die vom traditionellen historischen Roman unterscheidende Typologisierung des transversalhistorischen Romans gehe ich von fünf Grundmerkmalen aus: von der bereits erläuterten Transversalität, der £>e/g««haftigkeit, der Hybridität, der Autoreferentialität und der Metadiskursivität. Einige dieser Merkmale - wie die Autoreferentialität und die Metadiskursivität - sind nicht nur für diese Textsorte zutreffend, jedoch trägt das Zusammenspiel mit den anderen Kategorien in größerem oder geringerem Umfang zur Konfiguration solch einer neuen Textform im besonderen Maß bei. Diese strukturierenden Prämissen hindern den transversalhistorischen Roman dennoch nicht daran, historische Ereignisse wiederzugeben, wie bereits im Punkt 3.4 aufgeführt wurde.
100 3.6.1
Zum transversalhistorischen
Roman
Antimimetische Autoreferentialität und historiographische Metafiktion
Ein wichtiges Unterscheidungskennzeichen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Texten, das jedoch nicht narrativ feststellbar, sondern eher als ein textexternes aber deshalb nicht minder wichtiges Charakteristikum zu bezeichnen ist, bildet die Intentionalität. Die Intentionalität eines Textes hängt mit den jeweiligen Konventionen und Funktionen des Systems zusammen, dem die Texte zugeordnet werden, also mit jenen des Systems "Wissenschaft" oder "Kultur". Demzufolge kann behauptet werden, dass die Intentionalität eines Textes institutionsabhängig und daher einer bestimmten oder bestimmenden Macht unterstellt ist. Eine dieser narrativen, mächtigen Prämissen, welche die Intentionalität eines Textes institutionsabhängig beeinflussen, stellt das herausragende und anzustrebende Ziel der Historiographie dar, "Tatsachen" der Wirklichkeit möglichst getreu wiederzugeben. Demnach findet in einem historiographisehen Text die Aktualisierung vergangener Ereignisse einer möglichen Welt statt. Insofern bedient sich die Geschichtsschreibung einer Methode, die den traditionellen fiktionalen Texten wohl bekannt ist, der Mimesis: [...] was in der Historie wie in der Kunst und den Sozialwissenschaften das ganze 19. Jahrhundert hindurch zur Debatte stand, war gerade die Form, die eine wahrhaft 'realistische Darstellung der geschichtlichen Wirklichkeit' haben sollte. (White 1994: 561 ) 3 0
Diese traditionelle Vorstellung von Mimesis bildet aber in den transversalhistorischen Romanen keinen wesentlichen Bestandteil mehr, denn das Verfahren, mit dem ein als postmodern zu bezeichnender Roman seine Welten konstruiert, bedient sich prinzipiell nicht mehr der traditionellen Mimesis. Im Gegenteil, als eine Besonderheit der fiktionalen Texte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kann eine Technik erwähnt werden, welche sich durch Nicht-Widerspiegelungsabsicht unterscheidet, um mögliche Welten zu produzieren. Dies möchte ich als Antimimesis bzw. eingeschriebene Mimesis bezeichnen. Den transversalhistorischen Roman als antimimetisch zu klassifizieren, heißt nicht, dass er eine nicht vorhandene Realität wiedergibt, sondern dass er sie kreiert. Sein antimimetischer Charakter bezieht sich auch nicht darauf, dass er der Fantastik unterzuordnen wäre, sondern dass in erster Linie seine Referentialität auf die Literatur selbst zeigt, dass er autoreferentiell ist. Der Bezug dieser Romane besteht zu den bereits vor ihrem Verfassen vorhandenen Schriften. Wenn von Intentionalität bei diesen Romanen die Rede ist, wird keinesfalls die Suche nach der vermeintlichen "Intention des Autors" gemeint sein. Ebenfalls suche ich damit keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, "was will uns der Autor sagen?", denn dies zu versuchen, hieße ja einer - vielleicht metaphysischen, über die Jahrhunderte hinweg geltenden - Objektivität des zu gewinnenden Sinns nachzujagen. Im Gegenteil, angesichts der basalen Veränderungen im epistemologischen Bereich der letzten dreißig Jahre scheint mir eine Suche nach einer unabhängigen, text30
White (1994: 568) bezeichnet weiterhin das "Wesen der 'realistischen' Darstellung" als das "Problem der modernen Geschichtswissenschaft".
Kapitel III
101
immanenten und originären Wahrheit nicht mehr angemessen zu sein. Dieser Haltung entsprechend bedarf die antimimetische Autoreferentialität keines legitimierenden Zentrums, welches zugleich einen möglichen Sinn des Geschriebenen diktiert. Die antimimetische Autoreferentialität erschließt die durch den Poststrukturalismus erkannten Möglichkeiten der Schrift als eine Supplementierung ihrer selbst (s. Derrida 6 1994 und 61996), als eine Art des Lesen-Schreibens oder Schreiben-Lesens, die immer zwischen die Texte gerät: Eine dekonstruierende Schreibweise, die ständig die Spur wechselt. Vor allem verdeutlicht die antimimetische Autoreferentialität mit Hilfe von metafiktionalen narrativen Verfahren, dass es sich bei der Schrift um eine nicht originale und nicht ursprüngliche Inszenierung handelt. Jedweder Text ist ein impliziter Verweis, eine Spur von anderen Texten (und Subjekten), und bildet dadurch zugleich die dijférance zu ihnen. Die Figur des Diktators in Roa Bastos' Yo el Supremo legt in unmissverständlicher Form dieses Verfahren dar: Yo tomo de otros, aquí y allá, aquellas sentencias que expresan mi pensamiento mejor de lo que yo mismo puedo hacerlo [...]. De este modo los pensamientos y palabras son tan míos y me pertenecen como antes de escribirlos. No es posible decir nada, por absurdo que sea, que no se encuentre ya dicho y escrito por alguien en alguna parte, dice Cicerón (De Divinal, II, 58). El yo-lo-habría-dicho-primero-si-él-no-lo-hubiese-dicho no existe. [...] Lo único nuestro es lo que permanece indecible detrás de las palabras. (21987: 584)
Mit der Erfüllung dieses narrativen Merkmals rückt der transversalhistorische Roman weiter in die Nähe der Vertextungssverfahren der Historiographie und trägt weiter zur Überschreitung der einst differenzierenden Grenzen beider Textsorten bei. Die zitierte Stelle verdeutlicht aber auch, dass der Romanautor, wie der Historiker, sich der vorhandenen Texte (Quellen) bedient. Damit ist auch gesagt, dass das geschilderte Geschehen im Roman verifizierbar, da auf Quellen referentialisierbar, ist. Dennoch ist die Referenz der Ereignisse im Roman nicht unbedingt auf die faktische Existenz des repräsentierten Objekts reduzierbar, sondern sie stellt vielmehr - wie die Referenz der Historiographie - eine methodisch-überprüfbare Rekonstruktionsstrategie dar. Die vom Autor für das Schreiben des Romans konsultierten Werke und Experten werden entweder in Fußnoten ( Yo el Supremo, Los Perros del Paraíso) oder in einem Nachwort (El general en su laberinto, Vigilia del Almirante) erwähnt, so dass sich der neugierige und wahrheitsdurstige Leser auf die Fakten verlassen kann oder gegebenenfalls dieselben prüfen oder kontrollieren kann. Die Darstellung einer historischen Figur, wie die des Diktators in Yo el Supremo, bietet ein gutes Beispiel des antimimetischen Charakters der transversalhistorischen Romane. Zugleich verdeutlicht die Darstellung der Hauptfigur in diesem Roman, welche Schwierigkeiten allein die Beschreibung ihres äußeren Erscheinungsbilds bereiten, wenn zum Beispiel die konkrete Referenz fehlt und die Repräsentation deshalb nur auf textuelle Quellen angewiesen ist (vgl. dazu Kapitel VII). Die oben zitierte Passage aus Yo el Supremo kann auch zur Illustration einer zweiten Kategorie des transversalhistorischen Romans dienen, die eng an die antimimetische Autoreferentialität gekoppelt ist: die historiographische Metafiktion.
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Roman
Gemeint ist der mittlerweile etablierte Begriff historiographical metafiction von Linda Hutcheon (1984, 1988).31 Aus diesem Grund kann ich auf ihn auch nicht verzichten, da in der einschlägigen Sekundärliteratur mit dieser Bezeichnung festgelegte Kriterien der Interpretation verbunden werden, u. a. der metasprachliche Charakter postmoderner Romane. Der Erzähler von Yo el Supremo erklärt, wie überhaupt das Schreiben des Romans funktioniert und gerade in dieser diegetischen Haltung, welche das Schreiben an sich problematisiert, liegt die Erneuerung. Es wird deutlich vorgeführt, dass die écriture des Romans aus unzähligen diskursiven Teilen verschiedenster Texte besteht, und dass nur jenes Ungesagte oder Ungeschriebene originell ist, gleichzeitig aber und aufgrund dessen ist es auch paradoxerweise inexistent: Das Original, den Ursprung gibt es nicht, weil es nicht feststellbar ist. Sowohl das (Un)Gesagte als auch das (Un)Geschriebene stehen für den Erzähler auf der gleichen Ebene.32 Ihre hierarchische Staffelung wird somit mit dem Ergebnis aufgehoben, dass keine von beiden Ebenen wichtiger als die andere ist. Die écriture des transversalhistorischen Romans stellt sich nicht mehr als die zeichenhafte Übersetzung der Wahrheit (ob als Objekt, Ereignis oder textexterne Realität aufgefasst) dar. Es handelt sich nicht um die Wiedergabe einer objektiven Welt - wie die traditionelle Mimesis es versuchte - , sondern um die ludische Rekonstruktion von Textwelten, die als Referenz des Romans fungieren, weshalb sie auch als eingeschriebene Mimesis bezeichnet werden könnte. Diese Referenz erweist sich aber als instabil, da sie eher aus einer möglicherweise unendlichen Kette von Signifikanten mit mehreren möglichen schwebenden Signifikaten besteht. An dieser metafiktionalen Stelle wird der Leser aufgefordert, sein traditionelles MimesisVerständnis aufzugeben und als impliziter Leser im Leseakt die antimimetische Autoreferentialität mitwirkend zu gestalten.33 Zugleich verweist diese narrative Strategie 31
Wie bereits erläutert, beabsichtige ich mit dieser Arbeit nicht, jenen doch nützlichen Begriff zu verwerfen, sondern möchte ihn lediglich ergänzen. Hutcheon (1984: 6) erklärt ausdrücklich, dass ihre Untersuchung kein Teil der "modern critique of représentation" ist und weiter: "it does not partake of the [...] post-structuralist discourse". Die beabsichtigte Ergänzung meinererseits erfolgt im Bereich einer poststrukturalistischen Analyse der Repräsentation, die von einer traditionellen Mimesis-Konzeption Abstand nimmt. Vor allem, wenn ein Roman wie Yo el Supremo untersucht werden soll, in dem die vier Modelle (overt und covert forms, vgl. ibd.: 1-35) von Hutcheons Differenzierung gleichzeitig zu finden sind. Wie soll dann dieser Roman, in dem noch zusätzlich ein stark ausgeprägter Bezug zur Geschichte vorhanden ist, bezeichnet werden? Transversalhistorisch kann deshalb etwas umfassender sein.
32
In seinem Text "Die zweifache Séance" kritisiert und dekonstruiert Derrida (1995: 193-322) die traditionelle Mimesiskonzeption, nach der eine exakte Korrespondenz zwischen Zeichen und Referenz und demzufolge eine adäquate Repräsentation möglich ist. Mimesis solle nach Derridas Auffassung eher wie eine sprachliche Verschiebung oder Translation verstanden werden. S. dazu auch Van der Sijde (1998), Culler (1994) und Gebauer/Wulf ( 2 1998: 406422).
33
Für einen ausführlichen Überblick des traditionellen Mimesis-Verständnisses, s. Gebauer/Wulf ( 2 1998). Bezüglich der "Aufhebung" des traditionellen Mimesis-Verständnisses s. auch A. de Toro (1998: 34 ff.).
Kapitel III
103
mit ihrer Aufforderung an den Leser auf die anderen Merkmale eines transversalhistorischen Romans, die Transversalität und Hybridisierung (s. Punkte 3.6.3 und 3.6.4 dieser Arbeit). Wenn der Leser mit seiner Lektüre zum "Mitschreiber" des Romans wird, hat dies zur Konsequenz, dass der reale Autor des Romans nicht mehr alleiniger Urheber seines Werkes ist. Somit weist das Funktionieren der antimimetischen Autoreferentialität Ähnlichkeiten mit dem Funktionieren des derridaschen Begriffs Pharmakon auf: Das Wort pharmakon wird darin [bei Piaton] in einer Kette von Bedeutungen aufgenommen. [...] Dank dem Spiel der Sprache kommt es zu geregelten Verbindungen zwischen diversen Funktionen des Wortes und, in ihm, zwischen diversen Sedimenten oder diversen Regionen der Kultur. [...] Wie Piaton auch in anderen Fällen imstande ist, die Verbindungen nicht zu sehen, sie im Schatten zu lassen oder sie darin zu unterbrechen. Und dennoch werden diese Verbindungen von sich aus tätig. (Derrida 1995: 106-107)
Für Derrida (ibd.: 107 ff.) stellt dieser Begriff eine Bedeutungsvielfalt dar, deren Referenz nicht in ein binäres System eingebettet werden kann, i. e. das Pharmakon kann nicht auf einen traditionell mimetischen Prozess reduziert werden, bei dem (eine) Referenz und (eine) Bedeutung eindeutig definierbar sind: "Kein absolutes Privileg gestattet es uns, ihr textuelles System absolut zu beherrschen" (ibd.: 107). Ein weiterer von Derrida geprägter Begriff, Hymen (vgl. ibd.: 193-322), hilft bei der Erklärung der antimimetischen Autoreferentialität und ergänzt zugleich den Begriff Pharmakon. Ein Hymen ist suspendiert zwischen den möglichen Signifikaten und dem Signifikant, die Bedeutung kann nicht eindeutig entschieden werden: "Lo único nuestro es lo que permanece indecible detrás de las palabras" - "das einzig Unsere ist das hinter den Worten gebliebene Unsagbare" - sagt der Supremo im bereits erwähnten Zitat (Roa Bastos 21987: 584. Übersetzung R. C.). Das gebliebene Unsagbare entspricht dem Begriff Hymen von Derrida. Es handelt sich keinesfalls um eine traditionelle Form der Polysemie, weil die Bedeutung des hinter den Worten gebliebenen Unsagbaren nicht auf einen bestimmten Referenten zurückgeführt werden kann; ihre mehrfache Valenz (keine zweifache wie die Ambivalenz) schwankt unentscheidbar zwischen mehreren Isotopien und kann deshalb nicht als die Präsenz der Referenz bezeichnet werden, wie die traditionelle Mimesis. Der reflexive bzw. metasprachliche Charakter im Schreiben ist weiterhin ein wesentliches Merkmal, das sowohl die narrativ-fiktionale als auch die narrativwissenschaftliche Erzählung auszeichnet. Gerade in diesem Modus, Realität oder Gewesenes als eine Konstruktion offen zu legen, unterscheiden sich einerseits sogenannte postmoderne von modernen Historikern und finden sich andererseits die Gemeinsamkeiten mit den Autoren postmoderner Romane. Diese von postmodernen Historikern praktizierte Haltung, sich als Schöpfer von Texten zu bekennen und dennoch historische Wahrheiten repräsentieren zu können, hebt James E. Young hervor: Statt danach zu streben, alle Spuren des Selbst und des Momentanen aus ihrem Schreiben zu löschen und dadurch die Geschichte völlig neutral und transzendent erscheinen zu lassen, ziehen es sogenannte postmoderne Historiker [...] vor, sich schreibend erkennen zu geben, sich zur eigenen Rolle als Schöpfer aller geschriebenen Geschichten zu
104
Zum transversalhistorischen
Roman
bekennen. Historische Wahrheiten und Interpretationen werden dabei nicht aufgegeben, aber die rhetorische Unehrlichkeit der vollmündigen Verkündung, solche Wahrheiten und Interpretationen seien quasi unabhängig v o m Historiker und von seinen Motiven, überhaupt zu schreiben, wird fallengelassen. (Young 1997: 158)
D. h., die Intention der traditionellen Historiographie wird nicht aufgehoben, sondern in einer veränderten Ausdrucksform weiter angestrebt. Die metasprachlichen Reflexionen fließen in das Schreiben von Geschichte ein und stellen demnach eine deutliche parallele Haltung zum Schreiben von Romanautoren der letzen dreißig Jahre dar. In Zusammenhang mit der metasprachlichen Reflexion im Roman gewinnt das berühmte Diktum Rankes, er wolle "bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen" ist, eine neue Dimension. Dieses Diktum paraphrasierend und erweiternd kann gesagt werden, dass der transversalhistorische Roman nicht bloß zeigt, sondern vielmehr den hegemonialen Charakter der traditionellen Geschichtsschreibung entblößt. Indem der transversalhistorische Roman offen präsentiert, wie überhaupt die Zusammensetzung eines (historischen und/oder literarischen) Textes vollbracht ist und wie diese funktionieren kann, bekundet er auch die unüberwindbare Unmöglichkeit, etwas zu (be)schreiben, "wie es eigentlich gewesen" ist. Transversalhistorische Romane zeigen mit Hilfe von metafiktional-narrativen Verfahren und antimimetischer Autoreferentialität eindeutig auf, dass sowohl die Kunst (Literatur) als auch die Wissenschaft (Geschichtsschreibung) diskursiv-kulturelle Konstruktionen sind und deshalb nicht bloß als mimetische Replik oder treue Wiedergabe der Welt bezeichnet werden können. Mittels ihrer autoreferentiellen narrativen Verfahren sind diese diskursiven Konstruktionen in der Lage, Welt(en) zu bilden, zu kreieren oder zu zerstören, denn, wie der Kritiker Nico van der Sijde erklärt, produziert die Sprache die Realität: [...] language produces and constitutes reality. In the act o f representing, language creates reality. Or, more precisely, it makes the interpretive experience o f this reality possible. (van der Sijde 1998: 201)
3.6.2
Das Ereignis im transversalhistorischen
Roman
Wird der Begriff Ereignis in der Literaturwissenschaft verwendet, entsteht eine unweigerliche Assoziation mit der von Lotman geprägten Konzeption des Ereignisses. 34 Das Ereignis als die Überschreitung einer Grenze verstanden, beschränkt sich dennoch im Fall eines transversalhistorischen Romans nicht nur auf die Überquerung von einer topographisch-semantischen Trennungslinie durch eine Figur im künstlerischen Raum. In diesem Romantypus meint die Überschreitung von Grenzen nicht nur jene innerhalb der Romanwelt, sondern auch solche, die mit dem textexternen Kontext (realer Welt) zusammenhängen. Diese Art Ereignis soll nicht als eine resultative 34
"Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes." (Lotman 4 1993: 332)
Kapitel III
105
Bedeutung des Verhältnisses Signifikant/Signifikat, sondern als Bedeutungsgeschehen aufgefasst werden, das als Produkt der Verletzung von kanonisierten Normen (der textexternen und textinternen Romanwelt) erzeugt wird. Die Überschreitung ist nicht eine statische, monolithisch-unbewegliche Kategorie, sondern eine fluktuierende Bedeutung, die sich im Werden befindet. Bei dieser literarischen Ereigniskonzeption handelt es sich um eine Wechselwirkung zwischen Außen und Innen,35 um einen Übergang: [...] die Sprache entrinnt der Seinsweise des Diskurses, d. h. der Herrschaft der Repräsentation, und das literarische Sprechen entwickelt sich aus sich selbst, indem es ein Netz bildet, worin alle Punkte voneinander abgehoben und in einem Raum, der sie zugleich umfasst und trennt, einander zugeordnet sind. (Foucault 1996: 47)
Ein auf diese Weise konzipiertes Netz, woraus sich ein Ereignis ergibt, das weder einen Anfang (Ursprung) noch ein Ende (Telos, Ziel) hat, weist einerseits Ähnlichkeiten mit dem Begriff Rhizom von Deleuze und Guattari (1977; 1992) auf, dessen Merkmale der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung für die Ereigniskonstitution entscheidend sind. Andererseits ergänzt diese Konzeption zugleich die oben skizzierten narrativen Verfahren der antimimetischen Autoreferentialität. Demzufolge kann festgestellt werden, dass die Konstitution eines Ereignisses im transversalhistorischen Roman aus dem Zusammenwirken verschiedener Kräfte folgt: Aus dem Hinausgleiten und wieder Hineingleiten von Signifikantenketten (Geschichtsschreibung) in andere Signifikantenketten (Roman) resultiert ein sich streuender Sinn, i. e. die Dissemination (Derrida) eines einst starren Sinns, der nicht mehr stabil bleiben kann. Es handelt sich um ein auseinandergefaltetes Sinn-Ereignis, das außerhalb des Satzes - des Textes - nicht zustande kommt: [...] Einerseits existiert der Sinn nicht außerhalb des Satzes, der ihn ausdrückt. Das Ausgedrückte existiert nicht außerhalb seines Ausdruckes. Daher kann vom Sinn nicht gesagt werden, dass er existiert, sondern nur, dass er insistiert oder subsistiert. Andererseits jedoch vermischt er sich keineswegs mit dem Satz, er verfugt über eine völlig verschiedene 'Objektivität'. (Deleuze 1993: 40) Der Sinn ist das Ausdrückbare oder das Ausgedrückte des Satzes und untrennbar damit das Attribut des Dingzustandes. [...] Genau in diesem Sinne ist er 'Ereignis': unter der Bedingung, das Ereignis nicht mit seiner raum-zeitlichen Verwirklichung in einem Dingzustand zu vermengen. Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst. Das Ereignis gehört wesentlich zur
35
Trotz eines scheinbaren Widerspruchs handelt es sich bei der Wechselwirkung zwischen Außen und Innen nicht um eine reduktive bzw. reduzierende dialektische Beziehung: Das Außen ist keine erstarrte Grenze, sondern eine bewegliche Materie, belebt von peristaltischen Bewegungen, von Falten und Faltungen, die ein Innen bilden: nicht etwas anderes als das Außen, sondern genau das Innen des Außen. (Deleuze 2 1995: 134-135. Im Orig. kursiv.)
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Sprache, es steht in einer wesentlichen Beziehung zur Sprache [...]. (ibd.: 41. Im Original kursiv.)
Deshalb erweist es sich fiir das Verständnis des Ereignisses in transversalhistorischen Romanen als notwendig, die traditionelle Konzeption vom Ereignis umzudenken. Das Ereignis kann nicht nur das in der Realität Geschehene sein. Der Versuch, die Geschichte wiederzugeben und zu betrachten, wie sie eigentlich gewesen ist, bedeutet, dass der Betrachter (Historiker) die kulturelle Konstruktion Geschichte als einen "natürlichen" Gegenstand begreift, und dadurch "verdinglicht". Darin liegt der größte Unterschied zu den Geschichtsbetrachtungen der transversalhistorischen Romane. Diese "denaturalisieren" die traditionelle Auffassung der Geschichte, indem sie diese in der traditionellen Form nicht begreifen bzw. darstellen, sondern sie aus dem a priori Gegebenen deterritorialisieren und in eine künstliche Form, in einen kulturellen Raum einschreiben bzw. reterritorialisieren. Mit dieser Verwindung der Geschichte als kulturelle Konstruktion wird gezeigt, dass das Ereignis nur durch die Sprache hervorgerufen werden kann, dass es "materiell" nicht existiert und aus diesem Grund auch nicht "einheitlich" beschrieben werden kann. Die Ereignisse von transversalhistorischen Romanen aktualisieren die Welt in Sprache und zeigen, dass die Geschichte eine Konstruktion ist und insofern zur Kultur und nicht zur Natur gehört. Sie verdeutlichen auch, dass die Realität nicht erfassbar, nicht begreift>ar, sonder nur repräsentierbar ist (womit auch die antimimetischen Eigenschaften dieser Romane gestärkt werden).36 Die Ereignishaftigkeit der Geschichte zeigt sich dann in transversalhistorischen Romanen präziser, wenn das Ereignis als etwas Unkörperliches, nur durch Sprache Realisierbares verstanden wird. In diesem Zusammenhang erwähne ich den Erzähler von Yo el Supremo, der seine eigene Schreibweise auf diese Art charakterisiert: [...] Puedo permitirme el lujo de mezclar los hechos sin confundirlos. Ahorro tiempo, papel, tinta, fastidio de andar consultando almanaques, calendarios, polvorientos anaquelarios. Y o no escribo la historia. La hago. Puedo rehacerla según mi voluntad, ajusfando. reforzando, enriqueciendo su sentido y verdad. (Roa Bastos 1987: 325) Y o soy el árbitro. Puedo decidir la cosa. Fraguar los hechos. Inventar los acontecimientos. Podría evitar guerras [...]. Puede también que nada haya sucedido realmente salvo en esta escritura-imagen que va tejiendo sus alucinaciones sobre el papel. Lo que es enteramente visible nunca es visto enteramente, (ibd.: 329. Hervorhebung R. C.)
Diese Ereignis-Konzeption soll nicht als eine metaphysische Vorstellung verstanden werden, vielmehr als ein nur in einer textualisierten Form stattfindendes bzw. mögliches Geschehen: Es gibt kein Ereignis jenseits der Sprache. Dies stellt in transversalhistorischen Romanen das traditionelle Verständnis von Ereignissen in Frage, das auf
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Selbst mathematische Systeme oder wissenschaftliche Theorien geben die "Wirklichkeit" nicht wieder, sondern dienen lediglich "als Instrumente zur Erreichung spezifischer Zwecke" (Rorty 1993: 6).
Kapitel III
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textexterne Geschehnisse verweist. Auf diese Weise kann das Ereignis auch als ein Begehren - wie von Deleuze (1996; s. auch Deleuze/Pamet 1980) definiert - bezeichnet werden, als ein begehrendes Ereignis. Denn dem Ereignis und dem Begehren ist das Infragestellen von etablierten diskursiven Beziehungen, z. B. Macht, eigen. Das Begehren ist "niemals eine 'natürliche' oder eine 'spontane' Bestimmung" (Deleuze 1996: 19), es bewirkt die Etablierung neuer Verhältnisse zu festgelegten "Gefügen", und kann "die Zustände der Dinge und die Äußerungen [darüber] unterscheiden" (ibd.: 20), da die Macht eine "Affektion des Begehrens" ist und niemals eine "natürliche Realität" (ibd.: 21). Das Begehren im Sinne von Deleuze definiert sich nicht durch "einen essentiellen Mangel" (Deleuze/Parnet 1980: 97): "Das Begehren ist das System der asignifikanten Zeichen", und "sofern nicht die herrschenden Strukturen in Frage gestellt sind", gibt es "kein Aufblühen des Begehrens" (ibd.: 86). "Revolutionär ist das Begehren, weil es auf immer mehr Vereinigungen und Verkettungen aus ist" (ibd.). Wenn das Ereignis als Begehren verstanden werden kann, bekräftigt diese Annahme sein Attribut, sich zwischen dem Gesagten und Ungesagten zu äußern. Ein begehrendes Ereignis entspringt aus dem von der Geschichtsschreibung Verschwiegenen und findet eine sprachliche Artikulation/Aktualisierung im Roman. Dieser stellt innerhalb eines Gefüges - historischer/historisierender Diskurse - die Aufhebung von Dualitäten, von Kausalitätsketten dar und versucht, die Kluft zwischen Vergangenem und Gegenwart zu überbrücken, indem er den zeitlich-räumlichen Abstand in seiner Repräsentation löscht. Ein Beispiel dazu bieten die achronologischen Darstellungen von jenen nach dem amerikanischen Kontinent fahrenden Schiffen in Los Perros del Paraíso, die Kolumbus in seiner ersten Reise sieht, und die mit der Geschichte diesen Kontinents in Verbindung stehen: El horizonte espacial-histórico fue quebrado por la proa de la Santa-María. [...] Por la rajadura del velo espacio-temporal empezaron a deslizarse seres, naves, escenas humanas, que el Almirante tuvo [...] que aceptar sin tratar de buscar explicaciones que excederían las modestas posibilidades de la época. Le fue posible pasar del puente de la Santa-María al de la Mariagalante (que zarparía en 1493 [...]), y al de la Vaqueños y a La Vizcaína (1502). (Posse 4 1991: 175) Así vio el bajel Maryflower cargado de puritanos terribles que iban rumbo a la Vinland [...]. (ibd.: 177)
Diese Passage zeichnet sich auch durch die Repräsentation von zeitlichen Diskontinuitäten aus, die keine feste, allein und allgemeingültige Referenzen haben. Die Geschichtsdarstellung in diesen Romanen ist von mehreren, sich verändernden, fluktuierenden Referenten abhängig, auf die sie sich gleichzeitig beziehen kann. Die Diskontinuitäten in den Ereignissen hängen von den jeweiligen Referenzen ab, die der Leser feststellen kann. Was sich heute als Ereignis zeigt, ist später eine Banalität oder war früher bedeutungslos. Auch aus der Perspektive der Diskontinuität ist die Ereignishaftigkeit für diese Romane ständig eine textualisierte, eingeschriebene und deshalb auch nie eine statische, sondern eine nomadische. Mit dieser Repräsentationsform beendet diese Textsorte die Betrachtung der Geschehnisse aus einer rückwärts ge-
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wandten Sicht, da sie sich nicht mehr der Oppositionen Diachronie vs. Synchronie (bzw. Genese vs. Struktur) für die Darstellung historischer Ereignisse bedient. Mit Foucault kann gesagt werden: Es geht nicht darum, ein Nicht-Gesagtes oder ein Nicht-Gedachtes endlich zu artikulieren oder zu denken, indem man die Welt durchläuft und an alle ihre Formen und alle ihre Ereignisse anknüpft. Die Diskurse müssen als diskontinuierliche Praktiken behandelt werden, die sich überschneiden und manchmal berühren, die einander aber auch ignorieren oder ausschließen. (Foucault 1994: 34)
Auf ähnliche Weise verdeutlichen diese Romane die Diskursivitätsbeziehungen nicht mit Kategorien der Kausalität, sondern mit jenen der Affektivität (in der Nomenklatur von Deleuze/Guattari: Perzepte/Affekte). Letztere fallen aber keinesfalls mit Wahrnehmungen und Gefühlen zusammen, sondern stellen eher die Kreuzungspunkte mit den anderen Diskurspraktiken oder Disziplinen dar (vgl. Deleuze/Guattari 2000: 3132). Wenn das Ereignis in transversalhistorischen Romanen aus dieser Perspektive analysiert wird, dann stellen sich weiterhin Gemeinsamkeiten mit dem Begriff Werden von Deleuze heraus. Wird das Ereignis als Werden verstanden, so kann diese Ansicht auch einer praktisch-menschlichen "üblichen Wahrnehmungsweise" gerecht werden. Das beschriebene Ereigniskonzept entspricht ebenfalls dem menschlichen Verhalten und Denken, das bei der Herstellung von zeitlichen Zusammenhängen sowohl das Vergangene, wie das Gegenwärtige und Zukünftige miteinbezieht, ohne eine strenge zeitliche Grenze zu ziehen. Eine £>e/gwz'sdarstellung wie in der oben zitierten Passage ermöglicht, dass drei Dimensionen in Zeit und Raum simultan repräsentiert werden. Sie fließen ineinander und erst, wenn sie dargestellt werden, sei es mündlich oder schriftlich, zwingt ihnen der Leser einen Sinn und eine Form auf. Der implizite Leser dieses Romans verknüpft automatisch die Namen der Schiffe mit verschiedenen historischen Momenten des Kontinents und gewinnt somit einen breiteren Eindruck über die kurz- und langfristigen Konsequenzen der ersten Reise von Kolumbus. Damit stellen diese Romane das Werden im Sinne von Deleuze deutlich heraus, denn: Was die Geschichte vom Ereignis erfasst, ist seine Verwirklichung in Zuständen, aber das Ereignis in seinem Werden entgeht der Geschichte. Die Geschichte ist nicht das Experimentieren [...]. (Deleuze 1993a: 244) Das Werden gehört nicht zur Geschichte; die Geschichte bezeichnet allein das Ensemble der Bedingungen [...], von denen man sich abwendet, um zu 'werden', das heißt, um etwas Neues zu schaffen, (ibd.: 245)
Diese Konzeption vom Ereignis, gemeinsam mit jener der antimimetischen Autoreferentialität, bestätigt die Annahme der Weltenproduktion und Ereignishaftigkeit der Kunst: Künstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu stellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, dass Werk und Text den Charakter eines Ereignisses haben. (Lyotard 1994: 203. Hervorhebung R.C.)
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Neben den aufgeführten Ereignisbegriff von Deleuze kann jener von Derrida geprägte Begriff der differance gesetzt werden, da dieser auf ähnliche Art und Weise wie das Ereignis fungiert.37 Für das Ziel meiner Interpretation möchte ich beide Begriffe, wenn nicht als Synonyme, so doch als komplementäre Kategorien verwenden. Der Begriff differance ist in dieser Arbeit bereits erwähnt worden, außerdem ist er ein viel zitierter und verwendeter Begriff, so dass ich mich hier nur auf die Erklärung einiger Merkmale konzentrieren. In erster Linie bewirkt und garantiert die differance die "textuelle" Bewegung und Verräumlichung der Differenzen und hat zugleich als Resultat das Ereignis,38 Durch das Sicherstellen von Bewegungen zwischen den Differenzen, zum Beispiel zwischen einem Innen und Außen, i. e. zwischen zwei oder mehreren unterschiedlichen Bereichen, erreicht die differance keine endgültige Stabilität und bildet somit einen wichtigen Bestandteil der Erschaffung eines "dritten Ortes" (s. dazu auch weiter oben Punkt 3.2.1). Dieser "dritte Ort" ist kein physikalisch betretbarer, sondern ein kulturell kodierter, nomadischer (nicht monadischer) Raum, der keinesfalls stabil und statisch ist, sondern sich vor allem dadurch charakterisieren lässt, dass er durch Reibungen/Konflikte zwischen den Differenzen und nicht durch Dämpfung und hege-
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Die oben dargestellte Ereigniskonzeption sollte nicht phänomenologisch als reiner Sinn (als Präsenz) verstanden werden. Das hier beschriebene Ereignis distanziert sich von dieser Vorstellung und rückt in die Nähe des derridaschen Begriffs differance. Im Grunde bestehen große Ähnlichkeiten zwischen dem Begriff Ereignis von Deleuze und dem Begriff differance von Derrida. Vgl. in diesem Zusammenhang die Erläuterung Derridas - in einem Gespräch mit Julia Kristeva aus dem Jahr 1968 - in Bezug auf die aus der Wechselwirkung zwischen "Innerlichkeit" und "Äußerlichkeit" entstandene "Nicht-Expressivität", die wiederum die differance ist: [...] Insofern das, was man ("auszudrückenden") "Sinn" nennt, schon durch und durch aus einem Gewebe von Differenzen besteht, insofern es bereits einen Text gibt, ein Netz von textlichen Verweisen auf andere Texte, als es eine textliche Transformation gibt, bei der jedes angeblich "einfache Glied" durch die Spur eines anderen gekennzeichnet ist, wird die vermeintliche Innerlichkeit des Sinns schon von ihrer eigenen Äußerlichkeit bearbeitet. Sie befindet sich immer schon außerhalb ihrer selbst. Sie ist vor jedem ausdrückenden Akt schon differierend [differante R.C.] (von sich selbst), f...] Nur die Nicht-Expressivität kann bedeutungsvoll sein, weil es genaugenommen nur dann Bedeutung gibt, wenn es eine Synthese, ein Syntagma, eine differance und einen Text gibt. (Derrida 1986: 77. Im Orig. kursiv.)
38
Für eine ausfuhrliche Erläuterung des Begriffs differance, s. das Kapitel "Die differance" in Derrida ( 2 1999: 31-56). In einem Gespräch aus dem Jahr 1967 mit Henri Ronse erläutert Derrida - im Zusammenhang mit dem nicht-metaphysischen Sagen-Wollen der Schrift - das Bewirken der differance: [Die differance bewirkt,] dass kein Wort, kein Begriff, keine höhere Aussage von der theologischen Gegenwart eines Mittelpunktes aus die textuelle Bewegung und Verräumlichung der Differenzen zusammenfasst und bestimmt. (Derrida 1986: 50)
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Roman
lianische Aufhebung entsteht. Die différance funktioniert hiermit als eine heuristische Verknüpfung zwischen dem Ereignis und der Hybridisierung. 3.6.3
Hybridisierung im transversalhistorischen
Roman: der F-Faktor
Als ein wichtiges Merkmal transversalhistorischer Romane bezeichne ich den Begriff Hybridisierung, weil dieser ein breites Charakterisierungspotential für die narrativen Praktiken dieser Romane bereitstellt. Wie schon erwähnt, soll dieser Begriff als eine ergänzende definitorische Größe des bereits in der Literaturkritik etablierten Konzepts historiographical metafiction von Linda Hutcheon fungieren. Die Hybridität kann auf unterschiedliche Weise (künstlich, politisch, natur- und sozialwissenschaftlich oder technisch) verstanden werden. Die Hybriditätsform, auf die in dieser Arbeit Bezug genommen wird, ist jene aus den Diskurstypen der Wissenschaft und Kunst entstandene Variante, die sich in Form des transversalhistorischen Romans als eine von mehreren künstlichen Manifestationen der Hybridität - konstituiert oder aktualisiert. In erster Linie könnte der Eindruck entstehen, dass es bei der Hybridisierung um eine Reformulierung der bachtinschen Konzepte des Dialogischen oder des Polyphonen geht. Dies ist nicht der Fall, obwohl auch die Hybridisierung eine Art Dialog (allerdings mit mehreren Teilnehmern und nicht in einer geordneten Sequenz) voraussetzt. Durch die Überschreitung von diskursiven Grenzen öffnet sich ein neuer Ort der Diskussion jenseits der involvierten Disziplinen. Es handelt sich aber nicht nur um einen Ort der inventio, sondern auch um einen Ort der Intervention, um einen "insurgent act of cultural translation", wie Bhabha (1994: 7) die postkoloniale Kunst zum Beispiel von Guillermo Gómez Peña an der nordamerikanisch-mexikanischen Grenze bezeichnet. In einer paraphrasierenden Form von Bhabhas Begriff des unhomely, kann gesagt werden, dass der transversalhistorische Roman einen third space schafft, einen unhomely Ort des Wissens, da der Zustand des unhomly sich durch die Kreuzung und Überschreitung charakterisieren lässt: unhomely "[...] is the condition of extra-territorial and cross-cultural initiations" und hat"[...] a resonance that can be heard distinctly [...] in fictions that negotiate the powers of cultural difference in a ränge of transhistorical sites" (ibd.: 9). Die Hauptunterscheidung zu Bachtins Konzeption liegt in den Zusammensetzungsmechanismen - i. e. Vertextungsverfahren - , wodurch der transversalhistorische Roman einen dritten Ort der Repräsentation und Reflexion erreicht: Einen Ort, der bereits von dem wissenschaftlichen Diskurs der Geschichte, in Form der Annales-Schule und von Whites Thesen, gefordert und angestrebt wurde, aber nicht erreicht werden konnte, da ihre Diskurse nicht gleichermaßen und gleichberechtigte Elemente sowohl der literarischen (fiktionalen) als auch der kognitiven (historischen und philosophischen) Diskurse zusammengefügt haben. Dieser Ort wird erst dank einer transversalen Fluchtlinie geschaffen, die ohne Anfang und Ende von einem beliebigen Punkt zu einen anderen gezogen wird, und aufgrund ihrer ständigen Beweglichkeit in n-1 Dimensionen ein nomadisches nicht als Telos zu verstehendes Dazwischen erlangt, das für diese Textsorte charakteristisch ist.
Kapitel III
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Bei der Hybridisierung in diesen Romanen handelt es sich also um eine semiotische Zusammenstellung verschiedener Diskursarten, die nicht wie ein "Diskurskatalog" gelesen werden soll, sondern wie eine gleichberechtigte, rhizomatische Verknüpfung, die ihre Schnittstellen nicht verwischt und bei der weder ein "ursprünglicher" Anfang (Arche) noch ein definitives, endgültiges Ende (Telos) festgestellt werden kann. Dadurch stellen diese Romane eine neue Repräsentationsform und keine Mimesis der Realität dar; sie verdeutlichen den Einbruch eines neuen Epistems, jenes des 21. Jahrhunderts. Die Hybridisierung in einem literarisch-kulturellen Kontext wie im Fall des transversalhistorischen Romans - soll nicht als ein abgeschlossener Vorgang verstanden werden: Diese Art Hybridisierung wird nie endgültig, sie sollte vielmehr als eine semiotisch-heuristische Konstruktion verstanden werden, mit deren Hilfe die verschiedenen diskursiven Bestandteile eines Phänomens (in diesem Fall eine andere literarische Textsorte) erklärt werden können. Wenn demzufolge in dieser Arbeit von Hybridisierung oder Hybridität die Rede ist, ist eher ein Hybridisierungsprozess gemeint, der sich ständig erneuert und (re-)aktualisiert. Die ReAktualisierung ist ein Phänomen, das sich vor allem im Akt der Lektüre ereignet. Ein Bestandteil des Hybridisierungsprozesses bildet das Hybridisierungsmedium: Bücher, Autoren, Diskurse, eine Haltung, etc. Das Hybridisierungsmedium stellt einen semiotisch-diskursiven Weg dar, aus dem das Hybride (zum Beispiel der transversalhistorische Roman) während des Hybridisierungsprozesses für seine Konstituierung Material geschöpft hat. Das Hybridisierungsmedium soll weder als Instrument noch als Transportmittel verstanden werden, es stellt vielmehr eine Art epistemologische Schöpfungsquelle dar, die weder Ursprung noch Telos ist. Das Hybridisierungsmedium ist prinzipiell ein Dazwischen; es ist auch prinzipiell medienhaft, weil es nicht materiell im Hybriden vorhanden, sondern spurenhaft oder in der differance identifizierbar ist: Es handelt sich um eine Konstruktions- und Konstituierungsstrategie, die in der Repräsentation zustande kommt. Jene auf oder im Hybriden hinterlassenen Spuren sind - je nach der Stärke ihrer unmittelbar erkennbaren Präsenz -größtenteils kulturell in ihm eingeschrieben und durch eine Entfaltung deutlicher zu erkennen. Angewandt auf den transversalhistorischen Roman bezieht sich diese Entfaltung auf die Ereignisfragmente, auf die Wort-Ereignisse, die verschieden geschichtet, das heißt abhängig von ihrer Zusammenstellung in einem kulturellen Bedeutungssystem, unterschiedliche Geschichte(n) ergeben können. Die Hybridität im transversalhistorischen Roman bezeichnet auf einer metadiskursiven Ebene dessen eigenen Vertextungsprozess. Diesem Charakteristikum gilt besondere Aufmerksamkeit, denn es handelt sich dabei um das Hauptunterscheidungsmerkmal zu anderen Vertextungsverfahren, beispielweise zur einfachen bzw. traditionellen, z. T. unvermeidbaren Intertextualität in anderen Romanen oder sogar in der Geschichtsschreibung. Die Hybridität im transversalhistorischen Roman, als Folge transversaler Vertextungsverfahren (i. e. transdisziplinäre Intertextualität), äußert sich als eine Art transtemporale Historisierung. Eine Historisierung von Fakten, die nicht mehr allein von den tatsächlichen Gegebenheiten, sondern vor allem von den verschiedenen (schriftlichen) Systemen, aus denen sie besteht, abhängig ist. Eine solche Hybridisierung steht im ständigen Kontakt mit den unterschiedlichen Wis-
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Roman
sensbereichen, die sie ermöglichen. Nicht nur das Berichtete, sondern auch die Art und Weise (zum Beispiel die Sprachspiele, das Ästhetisierende) der Darstellung bilden den hybriden Charakter solcher Romane. Die Autoren transversalhistorischer Romane bemächtigen sich nicht nur der Diskurse der literarischen Tradition, sondern auch der Geschichtsschreibung und der Philosophie auf eine selbstkonstruktive Weise, welche Grundrisse derselben konstituiert und eine Auflösung von Bekanntem (zum Beispiel: Identifizierung von Helden und Ereignisse der Geschichte) ermöglicht. Die Hybridität der transversalhistorischen Romane verstehe ich als ein sich in Bewegung befindendes, kulturell rekodifizierendes und sinnproduzierendes Phänomen, als ein zeichenhaftes Produkt von unterschiedlichen, aufeinander wirkenden Kräften, i. e. als ein im deleuzianischen Sinne unruhiges Phänomen: Ein Phänomen ist weder eine Erscheinung noch gar bloßer Schein, sondern ist ein Zeichen, ein Symptom, das seine Bedeutung, seinen Sinn in einer aktuellen Kraft findet, f...] Die Geschichte eines Dings besteht ganz allgemein in der Aufeinanderfolge der Kräfte, die sich seiner bemächtigen sowie im gleichzeitigen Vorhandensein der Kräfte, die um seine Überwältigung ringen. Ein und dasselbe Ding, ein und dasselbe Phänomen ändert jeweils entsprechend den Kräften, von denen es angeeignet wird, seinen Sinn. (Deleuze 1991: 7-8)
Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Hybridität im Kontext des transversalhistorischen Romans aus einem Zusammenspiel von Kräften - ohne Kraft keine Bewegung - das ich den F-Faktor nenne und als die Friktion zwischen Fiktion und Faktum verstehe. Die Friktion ist eine mechanisch erzeugte physikalische Kraft. Diese kommt nur dann zustande, wenn zwei Körper (Kräfte) gegeneinander gerieben werden. Dabei konstituiert die reflexive Bewegung eine notwendige und unabdingbare Voraussetzung, denn ohne Bewegung keine Kraft, und ohne Kraft keine Bewegung und keine Friktion. Die erzeugte Friktion stellt in übertragenem Sinne die Energie dar, die für die Realisierung der Hybridisierung notwendig ist und bildet zugleich eine conditio sine qua non des transversalhistorischen Romans. Demzufolge entsteht aus der Friktion zweier oder mehrerer diskursiver Kräfte ein fruchtbares Medium für die Hybridisierung unterschiedlicher Bereiche: Im Fall des transversalhistorischen Romans werden diese Kräfte durch Literatur, Geschichte und Philosophie repräsentiert. In diesem Medium ist dann die Hybridisierung besonders günstig, weil in ihm eine differenzierende Verkreuzung von Codes stattfindet, die aber Vermischung oder Verschmelzung nicht eintreten lassen. Die Vermischung bzw. Verschmelzung von Kodes würde bedeuten, dass das Resultat der Verkreuzung ein undifferenziertes Ganzes hervorgerufen hätte. Das Partikuläre der Friktion zweier oder mehrerer Bereiche mit einer aus ihr resultierenden Hybridisierung ist aber gerade die mögliche Identifizierung der zu einer Form verknüpften Kodes: Die unterschiedlichen Bestandteile, das Alte und das Neue, sind in einer hybriden Form erkennbar. Die auf diese Weise hervorgerufene Form ist klar und wirkt zugleich irritierend. Sie ist klar, weil sie eindeutig als etwas "Neues" deklariert werden kann. Die Irritation ergibt sich aus dem Bewusstwerden
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dieses Neuen und vor allem aus der mehrfachen Kodierung, die in demselben festgestellt wird. Dieses "Neue" wirkt irritierend, weil es im strengen Sinne nicht etwas rein Neues ist. Die Über- oder Mehrfachkodierung produziert in erster Linie (positives oder negatives) Erstaunen (oder sogar Unbehagen), das als Folge der Unentscheidbarkeit für eine sofortige Klassifizierung in vorhandenen und bewährten Hierarchien bezeichnet werden kann. Die Unmöglichkeit, diese neue Form in bereits erstellte "Taxonomien" einzutragen, wirkt also irritierend, weil sie gleichzeitig Bekanntes und Unbekanntes re-präsentiert, i. e. die Wiedergabe erfolgt simultan, und wie in einem Oximoron handelt es sich um ein Differenzen bejahendes und betonendes Phänomen. Das Hybride stellt eine Form dar, in der die Differenzen weder aufgehoben noch verschmolzen sind. Im Hybriden haben sie nicht aufgehört, Differenzen zu sein, weil sie in ihrer Eigenständigkeit erhalten bleiben. Verstanden als Ergebnis einer Multiplikation (Faktum mal Fiktion) erscheinen und wirken die Produkte eines Hybridisierungsprozesses als eine Irritation (Provokation oder gar Aggression), weil sie der Heterogenität Rechnung tragen, indem sie als Medium von Prozessen der Abweichung, der Verlagerung, der Verschiebung, des Austausches, der Übertragung, der Interferenz, der Verkreuzung und Konnexion fungieren und dennoch nicht fusionieren, hierarchisieren, totalisieren und anpassen, sondern rhizomatisch Differenz werden lassen: Die durch einen Hybridisierungsprozess entstandene neue Form soll nicht als eine radikale Andersheit verstanden werden, sondern als eine Andersheit, die zwar Differenzen aufweist aber zugleich Züge der Gleichheit erlaubt und miteinschließt. Eine derart verstandene Hybridisierung entspricht der rhizomatischen Denkform, die immer die Vielheit anstrebt, ohne dabei einem Ideal der Totalität zu folgen. Für die Vermeidung dieses Falls - die Mannigfaltigkeit als Totalität anzustreben - ist die ständige Reduktion der absoluten Zahl der Dimensionen erforderlich. Bezeichnet man die absolute Totalität mit "n", so muss die Bezeichnung des Mannigfaltigen immer "n-1" lauten (vgl. dazu Deleuze/Guattari 1992: 16 ff.). In ähnlicher Form kann der Hybridisierungsprozess verstanden werden, da mit dieser Operation Bewegung und Raum geschaffen werden: Bewegung, weil der Totalität immer eine Einheit (Dimension, Aussage, etc.) abgezogen wird, so dass in diesem Fall das Hybride oder die Andersheit nicht statisch bleiben kann. Gerade durch diese ständige Bewegung entsteht ein offener Raum, der das Werden der Andersheit begünstigt oder sogar fordert, und jene vermeintlichen oder tatsächlichen Gegenpole schließen während des Hybridisierungsprozesses einander ein, ohne sich aufzuheben. Die so verstandene Hybridisierung erklärt und begründet jene Fähigkeit des transversalhistorischen Romans nicht nur eine, sondern mehrere Geschichten simultan zu erzählen. Die Annales-Schule strebte nach einer Geschichte, welche jene nicht berücksichtigten Geschichten miterzählen sollte; Hayden White machte darauf aufmerksam, dass sich sogar die traditionelle Geschichtsschreibung der rhetorischen Mittel fiktionaler Erzählungen bedient, um ihre Geschichte(n) wiederzugeben. Und dennoch gelingt es trotz dieser Anstrengungen erst mit der Entstehung des transversalhistorischen Romans, nicht nur Haupt- und Nebengeschichten, sondern einfach Geschichtein) zu erzählen. Diese Romane erzählen nicht eine Geschichte in einer anderen,
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sondern mehrere Geschichten nebeneinander. Sie erzählen Geschichten, die sich in den verschiedenen Übergängen (Schnittstellen) berühren: Die dargestellten Ereignisse gehören möglicherweise verschiedenen Diskursen an, sowohl der Fiktion als auch dem Faktum. Und genau die aus der Friktion von beiden Kräften entstandene hybride Zusammenstellung als transversalhistorischer Roman vermag, die Inkompossibilität39 zu verdeutlichen, die nach der Möglichkeit der kulturellen Weltdarstellung in unserem Zeitalter fragt; eine Darstellung, die Ereignissimultanität, Ereignisverschiebungen oder Ereignisrückwendungen verlangt. Der transversalhistorische Roman, aus der Perspektive eines Hybridisierungsprozesses verstanden, zeigt deutlich, wie unsere kulturelle Welt konstruiert ist und dass unser Weltverständnis in einem Kultursystem performativ eingeschrieben ist: Die Produktion von möglichen Welten beschränkt sich nicht nur auf das Schreiben, sondern dehnt sich auf das Zusammenspiel von Lesen und Schreiben aus. Solch eine Textsorte stellt ein sich selbst durchdringendes Netzwerk von unterschiedlich kodifizierten Beziehungen aus verschiedenen Disziplinen dar, die nicht nur vielfaltig oder polyphon sind, sondern vielmehr transversal. Solche Romane repräsentieren eine Welt, die mehr denn je grenzüberschreitend begriffen wird und demnach weder das Attribut global noch lokal tragen soll, sondern eher deren Verschmelzung: glokal,40 Als hybrid sind transversalhistorische Romane auch zu bezeichnen, weil sie sich in einem epistemologischen Transterritorium befinden, das sich sowohl der Relationen als auch der Konventionen und Funktionen von zwei Institutionen (Wissenschaft - in Form der Geschichtsschreibung - und Kultur - am Beispiel der Textsorte Roman) bedient,41 um zu einer anderen Art der Repräsentation zu gelangen. Gleichzeitig benutzen die Autoren dieser Romane Elemente, Techniken und Methoden der diskursiven Konstruktion beider Institutionen, um ihre jeweiligen Darstellungsformen zu dekonstruieren und somit eine Re-Lektüre und ein Wider- und Wiederschreiben dieser Systeme zu ermöglichen. 3.7 Zusammenfassung Den oben dargestellten Merkmalen folgend handelt es sich bei transversalhistorischen Romanen um eine ironisierende und remythologisierende literarische Darstellung eines historisch verifizierbaren Ereignisses, unabhängig von der zeitlichen Dis39
Die Inkompossibilität ist keine Negation, sondern eine Differenz. Es handelt sich um die Relation zwischen zwei scheinbar widersprüchlichen Aussagen, die dennoch keinen Widerspruch (contradiction), sondern eine Vize-Diktion (vice-dictiori) darstellen (s. dazu Deleuze 2000: 99 ff.).
40
Garcia Canclini, in einem am 8. März 2001 gehaltenen Vortrag an der Universität Leipzig, bezeichnet als glocal "lo local enlazado a la globalización, entremezclado con ella".
41
"Die literarische Gattung ist eine 'Institution' - im gleichen Sinne, wie die Kirche, die Universität oder der Staat Institutionen sind" (Wellek/Warren 1995: 245).
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tanz, die zwischen diesem und dem Autor besteht. Die Verifizierbarkeit konstituiert eine wichtige Kategorie in der Konzeption des transversalhistorischen Romans, weil sie einen der möglichen Pole bildet, aus dem sich die Friktion produzieren lässt. Ohne die Möglichkeit zu haben, Geschehnisse zu verifizieren, ergäbe sich kein Übergang zwischen wahren-nachprüfbaren Daten und künstlich-erfundenen Ereignissen. Hinzu kommt, dass ohne das Verifizierbare keine Friktion zwischen Fiktion und Faktum entsteht, die vom F-Faktor zu erfüllende Bedingung für die Konstitution eines Hybridisierungsprozesses wäre also nicht gegeben. Das Zusammenwirken verifizierbarer Daten (die Fakta) mit der Fiktion ermöglicht demnach die Entstehung des Hybriden. Dabei bilden diese Daten einen wichtigen Bestandteil, denn würden sie fehlen, bestünde eine einfache Konfrontation von zwei oder mehreren Fiktionen, deren Resultat lediglich eine traditionelle Intertextualität wäre. Dementsprechend trägt die Verwindung - Verwendung, Bearbeitung, Zusammenfügung und Pfropfen verschiedener diskursiver Elemente - möglichst vieler der genannten Merkmale zur Herausbildung eines transversalhistorischen Romans bei. Im weitesten Sinne verstanden, stellen die für diese Arbeit ausgewählten Romane auch eine Art "Reisebericht" dar. Reisen und demzufolge Reiseberichte stellen bekannte Formen der (Welt-)Wahmehmung und deren Deutung implizit in Frage, denn Berichtende sehen sich mit einer unbekannten Landschaft konfrontiert, für deren Beschreibung meistens keine passenden Begriffe zur Verfugung stehen. Zugleich sehen sie sich gezwungen, auf bekannte Topoi zurückzugreifen, um das "Neue" darzustellen. Die aus dem Zusammenbringen von Ungleichem resultierende Spannung konstituiert jene Kraft, die eine einheitliche Sinnstiftung der Texte unterminiert und den Leser zu verschiedenen Betrachtungen geradezu zwingt. Als eine Charakteristik der traditionellen Reiseberichte könnte durchaus angeführt werden, dass sie den Standpunkt des "Zentrums" bzw. der Metropole vertreten haben; eine verständliche Position, weil das "Zentrum" die wirtschaftlich tragende Instanz darstellte, welche solche Reisen finanziell überhaupt ermöglichte. Im Gegensatz dazu entscheiden sich Augusto Roa Bastos, Abel Posse und Gabriel García Márquez für einen "Reisebericht" der dritten Art, d. h. für einen Bericht, der sich in einen dritten Ort einschreibt, der niemandem verpflichtet ist und deshalb aus mehreren Quellen schöpfen kann. Diese Romanciers entscheiden sich für eine Art der Geschichtsw/etferschreibung, indem sie die Geschichte aus anderen Perspektiven hinterfragen, ohne den Anspruch zu erheben, irgendwelche "obskuren" Momente aufdecken zu wollen. Vielmehr bieten sie eine noch nicht erfundene, eine schreibbare Geschichte an. Außerdem gehen diesen Romanen eine a priori geleistete Untersuchung und eine intensive Beschäftigung mit historischen Abhandlungen voraus, die der Leser teilweise mitverfolgen kann. Dennoch bieten sie nicht die tradierte Fassung eines bekannten Ereignisses, im Gegenteil, selbst die eindeutig dokumentierten Romanstellen erfahren eine künstlerische Umwandlung. Historische Daten werden durch diese Translation nicht (de)formiert; sie erfahren lediglich eine Ästhetisierung, welche nicht von einer bestimmten Ideologie geprägt ist, sondern von den Worten selbst ausgeht: Ein imaginiertes historisches Ereignis wird somit neu geschrieben. Dadurch bleibt in diesen Romanen das dargestellte Ereignis - zum Beispiel die "Ent-
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Zum transversalhistorischen
Roman
deckung" Amerikas - nicht statisch. Durch Juxtaposition, Verschiebung und Kombination von diversen Epochen und Diskursen trans-formieren sie eine vermeintlich alte/starre Geschichte in eine nomadische und bieten zugleich einen umfassenderen Blick auf die Geschichte an. Durch ihre charakteristische Darstellung von Geschichte zeigen die transversalhistorischen Romane, dass historische Ereignisse weder als Subjekt noch als Objekt konzipiert werden, sondern vielmehr als Ergebnis eines kulturell textualisierenden Verfahrens. Weder Roa Bastos noch Posse oder García Márquez bieten eine neue Version des Anderen im traditionellen Sinne an, im Gegenteil: Dank des Einsatzes einer lebendigen Sprache und der ludischen Darstellung von historischen Ereignissen schaffen sie tatsächlich eine "Neue Welt", jenseits von starren und kanonisierten Vorstellungen des Fremden. Das Andere konkretisiert sich als eine nomadische Kategorie, die nicht mehr eine Randfigur verkörpert, sondern, um mit Bhabha zu sprechen, unhomly wird.42 Das Sein durch das Dazwischen (oder Werden) ersetzen, genau das erreichen die transversalhistorischen Romane; sie setzen die Geschichte an eine Zwischenstelle, indem sie jene dekonstruierend wiederschreiben. Durch ihre narrativen Prozeduren bewirken solche Romane, dass historische Referentialität ihren alleinigen Bezug zur Vergangenheit verliert. Indem sie sich vor allem nicht nur auf die Wiedergabe von vergangenen Ereignissen beschränken, sondern intentional gegenwartsbezogene Begebenheiten bewusst miteinbeziehen, schaffen sie eine Brücke zum Alltäglichen. Diese Romane fungieren wie eine Art Hymen (Derrida) zwischen Kunst und Wissenschaft. Auf ähnliche Weise vollziehen sie eine Hybridisierung des wissenschaftlichen Geschichtsdiskurses: Sie verdeutlichen, dass der Text der Ort der Repräsentation von Geschichte (von Wirklichkeiten) ist. Die Textsorte transversalhistorischer Roman entlarvt die kanonisierte Geschichtsschreibung als einen dominanten/kolonialen, legitimierenden Machtdiskurs. Insbesondere durch die Schaffung eines "dritten Ortes", der in der epistemologischen Ebene der Postkolonialität verankert ist, verleihen diese Romane der Beschreibung geschichtlicher Gegebenheiten jene "demokratische" Ausdrucksform, die Diskurse nicht mehr in Herrscher- und Untertanverhältnisse trennen kann. Solch eine literarisierte Form der Geschichtsschreibung hebt ausdrücklich ihren hybriden Charakter hervor und verdeutlicht, dass in unserem heutigen kulturellen Bereich die Grenzen zwischen zwei einst unterschiedlichen Struktursystemen (Wissenschaft und Kunst) langsam verschwinden.
42
Von Interesse wäre auch zu überprüfen, ob folgende von Octavio Paz (1990: 52) gestellte Forderung auch in diesem Zusammenhang verstanden werden kann: Si no es la metafísica sino la historia la que define al hombre, habrá que desplazar la palabra ser del centro de nuestras preocupaciones y colocar en su lugar la palabra entre. (Im Orig. kursiv.)
Kapitel
117
III
D i e oben aufgeführten Merkmale dieser R o m a n e möchte ich mit folgender Abbildung graphisch illustrieren. Darin werden der Prozess und die Strategie gezeigt, die von der sogenannten Wirklichkeit zum transversalhistorischen Roman fuhren:
Wirklichkeit (Außertextuelle Welt:: Referenz)
•
Wiedergegebene Wirklichkeit / Traditionelle Geschichtskonzeption (Mimesis der Welt:: traditioneller Realismus)
(Hybridisierungsprozess) Kulturell-textualisierte Wirklichkeit (textualisierte Wirklichkeit:: Referenz)
• transversalhistorischer
Roman
(keine Mimesis der Welt:: eingeschriebene Mimesis der Welt)
119
IV. El general en su laberinto oder die Entidealisierung eines Helden Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von großen Menschen redete... (Nietzsche "Von der Erlösung", 1994: 152) [...] la imaginación literaria entiende e ilumina la política y la historia mejor que los políticos y los historiadores. (C. Fuentes 1990: 3)
4.1 Reisevorbereitung oder wie die Fiktion die Lücken der Geschichtsschreibung ausfüllt Mit der Bezeichnung "Reisevorbereitung" soll anhand einiger Beispiele einer von wahrscheinlich vielen gangbaren Schreibwegen skizziert werden, den der Romanautor über den Umweg der Geschichtsbücher möglicherweise durchquert hat, um Bolivars letzte Reise vorbereiten zu können. Das heißt jedoch nicht, dass García Márquez diese Bücher für das Schreiben seines Romans auch notwendig konsultiert hat. Ich habe in ihnen lediglich einige Übereinstimmungen gefunden, mit denen sich hochinteressante intertextuelle Bezüge zwischen Roman und Geschichte herstellen lassen. Mit den dargelegten fiktionalen und historischen Zitaten soll erklärt werden, wie die Wechselbeziehungen zwischen beiden Diskursen sich entfalten und wo sie stattfinden: in den Auslassungen (oder Lücken) der Geschichte, die als Schnittstellen zwischen Fiktion und Faktum fungieren können. Der Roman El general en su laberinto stellt nicht den Versuch dar, einen "AntiBolivar" zu erfinden, sondern möchte eher die letzten Tage eines Helden aufzeichnen, der sich gegen extrem positive oder negative Urteile wehrt. Von den Schwierigkeiten, über das Leben von Bolívar zu schreiben, bemerkt der Historiker Germán Carrera: Sucede con la figura de Bolívar igual que con la de todos los grandes soldados, santos y estadistas: yace bajo un impresionante túmulo de lucubraciones, ficciones e incluso consejas, poco menos que imposible de remover. (Carrera 1969: 39)
Aber nicht nur dies sind die Schwierigkeiten, mit denen sich auch der Romanautor bei seinem Unternehmen konfrontiert sieht. Er bekennt darüber hinaus seine "falta absoluta de experiencia y de método en la investigación histórica" (García Márquez
120
El general en su
laberinto
1989: 272), so dass sein Projekt von vielen Experten (Historikern, Linguisten, Astronomen) begleitet und auf seine "Richtigkeit" kontrolliert werden musste. 1 El general en su laberinto charakterisiert sich auch dadurch, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung fließend sind. U m zu zeigen, w i e nah beieinander beide Diskurse stehen, verwende ich ein Zitat des kolumbianischen Historikers Roberto Botero aus der Einleitung seines 1930 geschriebenen Buches El Libertador Presidente: Al declinar de una tarde del ardoroso mes de junio, del año de 1830, la espaciosa quinta de Kinsella, sombreada por la quebrada proyección del macizo rocoso de La Popa, y refrescada por una brisa que agitaba fuertemente el follaje de las palmeras y arbustos que la ocultaban, veía llegar a sus puertas un grupo de personas que silenciosamente, respetuosamente, seguían en su tardo paso a un viajero enflaquecido, encorvado -como una sombra que se perfilara dentro del completo de lino que vestía- que de vez en vez levantaba la cabeza cubierta por un sombrero de paja, de amplias alas, que permitía contemplar un rostro moreno, demacrado, pálido, de salientes pómulos coloreados con ligeras manchas rojizas, de ojos hundidos que se iluminaban con febriles miradas al escudriñar en ese atardecer el paisaje aletargado de la barriada marina. (Botero 1969: 7)2 Dieses aus einem Geschichtsbuch entnommene Zitat fasst mit erstaunlicher Präzision das Thema des Romans zusammen. D i e Übereinstimmungen beschränken sich nicht nur auf die thematische, sondern betreffen auch die inhaltliche Ebene. Im Roman ist eine ähnliche Stelle jedoch in einem etwas trockeneren Stil zu lesen, die ausfuhrlicher das Haus von Judah Kingseller beschreibt. 3 Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem fiktionalen auch um das reale Haus, in dem Bolívar zur gleichen Jahreszeit (Juni 1830) übernachtet hatte: En las estribaciones del cerro de la Popa había un suburbio de recreo que los propios cartageneros habían incendiado en 1815 [...]. Quince años después, [...] [u]na de las pocas casas reconstruidas era la del comerciante inglés Judah Kingseller [...]. [Tenía] el techo de palma bien cuidado y las paredes de colores festivos, [...] estaba casi escondida en un bosque de árboles frutales. [...] La casa era fresca por dentro a las horas de más sol, y menos húmeda [...]. (García Márquez 1989: 184; 185)
1
In diesem Zusammenhang bedankt sich beispielsweise García Márquez beim Historiker Vinicio Romero Martínez für den Hinweis darauf, dass Bolívar keinesfalls genüsslich Mangos habe essen können, da diese in Amerika noch nicht eingeführt gewesen seien (vgl. García Márquez 1989: 273).
2
An dieser Stelle sei auf die erstaunliche Reziprozität zwischen dem Stil dieses Textes und dem Stil des sehr bekannten Romans Cien años de soledad von Gabriel García Márquez hingewiesen.
3
Im Gegensatz zu García Márquez schreibt Botero Kinsella. Es ist wahrscheinlich kein Fehler, sondern lediglich die orthographische spanische Anpassung des Wortes an die englische Aussprache.
121
Kapitel IV
Zwischen diesen beiden Zitaten gibt es eindeutig semantische Übereinstimmungen: {la espaciosa quintal un suburbio de recreo; macizo rocoso de La Popal cerro de la Popa; el follaje de las palmeras y arbustos que la ocultaban! techo de palma... casi escondida en un bosque de árboles), welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es sich um ein und dasselbe reale Haus handelt. Auch bezüglich Bolivars Genealogie gibt es Parallelen zwischen Fiktion und Geschichte. Dem Romanautor zufolge trug die Kunst, in diesem Fall die Malerei, entscheidend zur Idealisierung von Bolivars Bild bei. Mit Bolivars zunehmendem Ruhm und militärischem Erfolg haben verschiedene Maler ihre anzufertigenden Porträts einem europäisierenden Idealbild angepasst: [...] a medida que su gloria aumentaba, los pintores iban idealizándolo, lavándole la sangre, mitificándolo, hasta que lo implantaron en la memoria oficial con el perfil romano de sus estatuas, (ibd.: 186. Hervorhebung R. C.)
Über hundert Jahre später geht eine Entidealisierung dieses etablierten Bildes ebenfalls von der Kunst aus, diesmal aber von der Literatur. Dem Bericht des Romanerzählers ist zu entnehmen, dass sich Bolívar im Alter von 32 Jahren in Haiti mit seinen "karibischen Charakterzügen" porträtieren ließ. Das daraus entstandene Bild entsprach seinem damaligen Alter und Aussehen. Wie der Erzähler mitteilt, hatte Bolívar [...] una línea de sangre africana, por un tatarabuelo paterno que tuvo un hijo con una esclava, y era tan evidente en sus facciones que los aristócratas de Lima lo llamaban El Zambo, (ibd.)
Hierbei handelt es sich nicht um einen forcierten oder verzweifelten Versuch des Erzählers, mit allen Mitteln das idealisierte Bild von Bolívar im kollektiven Gedächtnis zu korrigieren. 4 Wenn auch nicht mit der Deutlichkeit von García Márquez, so gibt doch auch der Historiker Liévano Aguirre Hinweise auf diese möglichen "schwarzen" Ahnen. Im Jahre 1737 bestand für Juan Bolívar, den mit beträchtlichem Reichtum ausgestatten Vater Simons, die - zumindest finanzielle - Option, jene vom spanischen König für die Aristokratie der Halbinsel eingeräumten Privilegien auch für seine eigene Familie käuflich zu erwerben (vgl. Liévano Aguirre 1974: 12). Juan Bolívar wäre durchaus in der Lage gewesen, einen Adelstitel zu kaufen, denn er konnte die zweiundzwanzigtausend "doblones de oro" ohne Mühe aufbringen (vgl. ibd.).
4
Mit folgendem Zitat möchte ich zeigen, mit welch lobendem Ton im Allgemeinen über Bolívar geschrieben wird: Fue Bolívar el pensamiento, la voluntad, la acción guerrera, el hombre del esfuerzo máximo en la lucha armada por la Independencia, el creador genial de nacionalidades que arrebatara al dominio español con las concepciones de su inteligencia y a los golpes de su espada, [...] sobreviviendo a esta obra que se liquidó en el tiempo por factores superiores a las idealidades de su genio. (Botero 1969: 12)
122
El general en su laberinto
Bedauerlicherweise kam es nie zur offiziellen Titelübertragung, da bei der Überprüfung seiner Genealogie die erforderliche "Blutreinheit" nicht erfüllt war: [...] cuando las autoridades españolas, para oficializar el título, exigieron a los Bolívar la presentación de los papeles que acreditaban su pureza de sangre y su tradición de hidalguía, surgió un inconveniente [...]: la dificultad -que resultó invencible- de establecer plenamente la pureza de sangre de una de las doncellas situada en posición clave en el árbol genealógico de la familia. Alguna de esas posibles y frecuentes mezclas raciales que los españoles consideraban incompatibles con su orgullo étnico y sus privilegios nobiliarios, se interpuso entre los Bolívar [...]. (ibd.: 12-13. Hervorhebung R. C.)
Mit Bezug auf eine nicht belegbare "Blutreinheit" äußert sich der Historiker eher vorsichtig, anscheinend weil er Bolivars Genealogie nicht beweisen kann. Im Gegensatz zu ihm wirkt der Romancier direkter. Der erste spricht von einer "doncella" in einer "genealogisch-strategischen" Position; eine Aussage, die dem impliziten Leser einen großen Spekulationsraum lässt.5 Der zweite lässt sich auf keine Euphemismen ein und verwandelt die "doncella" in eine schwarze Sklavin. Mithilfe seiner Phantasie beseitigt der Romanautor den offenen Spekulationsraum, ohne dabei die Geschichte zu verfalschen. Er füllt eine historisch wahrscheinlich nicht zu schließende Lücke mit der Freiheit der literarischen Fiktion aus.6 Für den Romancier handelt es sich nicht um eine suspekte "doncella", sondern um deren eindeutiges Gegenteil (eine schwarze Sklavin). García Márquez greift nur eine von der Geschichtsschreibung angebotene Möglichkeit auf und bietet damit eine explizite Erklärung für das Hindernis der Aufnahme im Kreis des spanischen Adels. Ein weiteres Beispiel für das Ausfüllen der Geschichts(schreibungs)lücken durch die Fiktion kann anhand von Bolivars freundschaftlichem Verhältnis zum General Mariano Montilla dargelegt werden. Augusto Mijares (1969: 21) erzählt von einer Konfrontation zwischen Montilla und Bolívar: El general Mariano Montilla, que había sido su amigo desde la infancia, llegó a enfrentársele con tal encarnizamiento que en Jamaica fue a provocarlo para un lance personal;
5
Den Begriff"impliziten Leser" verwende ich in Anlehnung an A. de Toro (1987: 20ff.).
6
Mit Lücke der Geschichte bezeichne ich jene Momente der Geschichte, die kognitiv von der Wissenschaft nicht geschlossen werden. Unter Punkt 2.3 dieser Arbeit habe ich darauf hingewiesen, dass dieser Sachverhalt mit Deleuze/Parnet (1980: 24-25) "schwarze Löcher" oder "weiße Wände" genannt werden kann. Der Kritiker Julio Ortega (1992: 166-167) verwendet in seiner Analyse von El genera! en su laberinto eine ähnliche Metaphorik, allerdings ohne den gleichen epistemologischen Hintergrund: "[...] en la página en blanco (vacía) de la historia escribe esta novela las preguntas (sin respuesta) de la historicidad" (ibd.: 166. Hervorhebung R. C.). Obwohl Ortega Begriffe (wie "política desterritorializada", ibd.: 173) verwendet, die auf Deleuze zurückzuführen sind, erwähnt er diesen Philosophen nicht.
Kapitel IV
123
sin embargo cuando se reconciliaron, el Libertador le confía un mando de primera categoría [...]. 7
Warum sie sich gestritten haben sagt der Historiker nicht. Aus seiner Argumentation entnehmen wir lediglich, dass, "[...] según Larrazábal, [ein anderer Historiker], la causa de tal actitud era la vanidad y la ambición de Montilla" (Mijares 1969: 308). Im Roman erfahren wir auch von der bestehenden Freundschaft zwischen Montilla und Bolívar, und ihr Streit wird damit begründet, dass Bolívar sich geärgert hatte, weil Montilla ihm in einem wichtigen Kampf keine Unterstützung hat zukommen lassen: No sólo los ligaba una amistad de clase y de oficio, sino que habían hecho toda una vida en común. En una época sus relaciones se enfriaron hasta el punto de que no volvieron a dirigirse la palabra, porque Montilla dejó al general sin auxilios militares en Mompox, en uno de los momentos más peligrosos de la guerra contra Morillo, y el general lo acusó de ser un disolvente moral y el autor de todas las calamidades. La reacción de Montilla fue tan apasionada que lo desafió a duelo [...]. (García Márquez 1989: 154. Hervorhebung R. C.)
Mit den aufgeführten Passagen erhalten wir einen Hinweis über die vom Romanautor zurückgelegten transversalen Wege, die den impliziten Leser in ein historischfiktionales Labyrinth fuhren. Der deutliche Bezug zur Geschichtsschreibung offenbart sich auch im Roman, aber auf einer metafiktionalen Ebene. Beispielsweise in der anhängten chronologischen Tafel von Bolivars Biographie schreibt der Historiker Vinicio Romero Martínez einen Satz, der sich im eigentlichen Roman wieder findet.8 Romero Martínez zufolge soll der historische Bolívar gegen sein Lebensende gesagt haben: '¿Qué es esto?... ¿Estaré tan malo para que se me hable de testamento y de confesarme?... \Cómo saldré yo de este laberintoV (Romero Martínez apud García Márquez 1989: 286. Hervorhebung R. C.)
Der Romancier übernimmt diese Aussage einige Seiten vor dem Ende des Romans und gibt ihr zugleich durch Verwendung umgangsprachlicher Expressionen einen individuellen Charakter. Bemerkenswert ist die inhaltliche und beinahe wörtliche Übereinstimmung von Sätzen des fiktionalen Bolívar: 'No me imaginé que esta vaina fuera tan grave como para pensar en los santos óleos', le dijo [Bolívar], [...] 7
Mijares relativiert diese Aussage später. Die Rede ist dann nicht mehr von einem direkten Duell ("lance personal"), sondern nur von der Spekulation darüber: "Hasta parece que füe expresamente a la casa del Libertador a desafiarlo [...]" (Mijares 1969: 308. Hervorhebung R. C.).
8
Die vom Historiker Romero Martinez erstellte chronologische Tafel betrachte ich als einen zum Roman gehörenden metafiktionalen Text. Vor allem an dem zitierten Satz lässt sich dessen metafiktionaler Charakter feststellen.
124
El general en su laberinto 'Carajos', suspiró. '¡Como voy a salir de este laberintoV 269. Hervorhebung R.C.).
(García Márquez 1989: 268;
Wie diese reflexive Beziehung zeigt, hat die labyrinthische Relation zwischen Geschichte und Fiktion keinen traditionellen Irrgarten als Vorbild, vielmehr könnte von einer rhizomatisch-ludischen Wechselwirkung die Rede sein, die - wie der Roman selbst - über verschiedene Ein- und Ausgänge verfugt. 9 Hierbei handelt es sich nicht um Irrwege, sondern um Fluchtlinien, die den impliziten Leser in die Geschichte einfuhren, ihn aus ihr hinaus und in die Fiktion hineinleiten oder umgekehrt. Mit solch einer wechselseitigen ludischen Relation stellt der Roman eine neue Konzeption des Geschichtsverständnisses dar, das sich nicht durch die Aufhebung von Geschichte, sondern durch verwindende Präsenz mehrerer Diskurse charakterisiert, die weder einen Ursprung verlangen oder benötigen, noch ein Telos in Sicht haben. 4.2 Bolívar und die Frauen In den dem Roman angehängten gratitudes hebt García Márquez den angestrebten Charakter seines Werkes hervor. Er bedankt sich bei vielen Freunden dafür, dass sie ihn auf verschiedene "Fehler" (wie Anachronismen) im Roman aufmerksam gemacht haben, da einerseits solche "contrasentidos, repeticiones, inconsecuencias errores y erratas [...] el rigor de esta novela" (1989: 274) in Frage gestellt, andererseits ihm vielleicht einige "gotas de humor involuntario" (ibd.) gegeben hätten. 10 Damit ist deutlich gesagt worden, welche tollkühne Intention dieser Roman hat: Er möchte eine Geschichte erzählen, die zwischen historischen Gegebenheiten und Fiktion oszilliert. Er möchte die "temeridad literaria de contar una vida con una documentación tiránica, sin renunciar a los fueros de la novela" (ibd.: 272. Hervorhebung R.C.) wagen. Diesen Balanceakt zwischen Fiktion und Dokumentation illustrieren die Kommentare des Erzählers, der auf der einen Seite Aussagen über die vermeintlichen Affären von Bolívar als "fábulas de salón" (ibd.: 121) abwertet, auf der anderen aber ein ausführliches Beispiel von Bolivars Verhalten gegenüber den Frauen gibt, womit er seine erste Aussage revidiert oder zumindest relativiert. Der Erzähler teilt zuerst mit, dass Bolívar nur schwer Kritik ertragen konnte, und dass es seine erklärte Absicht war, unbegründete Behauptungen über seine Person zu beseitigen; jedoch behauptet er unmittelbar danach genau das Gegenteil:
9
Der Kritiker Julio Ortega (1992: 166) versteht das Labyrinth dieses Romans als "lo no escrito, donde la novela calla y donde habla el lector".
10
Die Bezeichnung "rigor" ist in diesem Zusammenhang ambivalent und muss ironisch verstanden werden. Damit möchte García Márquez lediglich sagen, dass er Geschichte im Stil der Fiktion schafft, ohne dabei den historischen Inhalt zu verfalschen.
125
Kapitel IV Era tan sensible a todo cuanto se dijera de él, falso o cierto, que no se repuso nunca de ningún infundio, y hasta la hora de su muerte estuvo luchando por desmentirlos. Sin embargo, fue poco lo que se cuidó de ellos, (ibd.: 122. Hervorhebung R. C.)
Aus diesem Zitat tritt die erwähnte Ambiguität in den Aussagen des Erzählers deutlich hervor. Im Roman stechen diese Kontradiktionen noch stärker hervor, wenn es um Bolivars Beziehungen zu den Frauen geht. Sie sind bekannt, wie der Historiker Salvador de Madariaga schreibt: [Ein] Charakterzug Bolivars [...] ist seine Vorliebe für Abenteuer mit Frauen. [...] Für ihn gab es nicht die Frau, sondern nur Frauen. Alle Frauen waren für ihn das Weibliche auf Beinen. Dieses Weibliche suchte er als männliches Temperament zu besitzen [...]. (S. de Madariaga 1986: 149; 150-151)
Der Unterschied zwischen den Beschreibungen von García Márquez und Salvador de Madariaga liegt eindeutig in dem negativen, fast pejorativen Ton, mit dem der Historiker sich über das Verhältnis Bolivars zu den Frauen äußert." Beim Romancier ist diese Distanz nicht zu spüren, im Gegensatz zum Historiker lässt García Márquez die gegenseitige sanfte Liebe zwischen Bolívar und den Frauen an die Oberfläche treten. Trotz aller Ironie gelingt es dem Romanautor, diesen Eindruck zu vermitteln. So haben beispielsweise "die Frauen" von Bolívar alle einen Namen, und am meisten bewunderte der fiktionale Bolívar an ihnen ihre "ungezügelte" Intelligenz: "[...] la virtud que [Bolívar] más apreciaba en una mujer: la inteligencia sin desbravar"12 (García Márquez: 1989 187). Vielleicht um negative Schlussfolgerungen zu vermeiden sind die Romanpassagen, in denen die Liebesszenen stattfinden, sehr ausfuhrlich beschrieben. Der Erzähler und seinem Bekunden nach auch Bolívar bemühen sich ständig, Legenden aus dem Weg zu räumen, die nicht nur von der ihm feindlich gesonnenen Presse stammen. Im Roman wird mehrmals erzählt, dass Bolívar aufgrund seiner Eskapaden den Erfolg eines Kampfes gefährdet hat:
11
Kritisiert wird auch de Madariaga vom Historiker Augusto Mijares. Mijares (1969: 22) zufolge haben einige Autoren bezüglich Bolivars Kindheit versucht, ihn als ein außergewöhnliches Kind darzustellen: [...] los escritores románticos consideraron indispensable atribuirle a Bolívar una niñez indómita, para hacer del Libertador un personaje byroniano o lograr contrastes victorhuguescos. (ibd.) Bolivars Kindheit war aber normal "hasta en sus ocasionales rebeldías", dennoch: "[...] no han faltado tampoco [...] escritores tipo Madariaga que han buscado en esas supuestas turbulencias infantiles del Libertador indicios fatales" (ibd. Hervorhenung R. C.).
12
Auffallend ist hier der ironische, fast oxymoronische Gebrauch des Wortes "desbravar" in Zusammenhang mit Intelligenz (da sie sich inhaltlich ausschließen könnten). Bereits am Anfang des Romans verwendet der Erzähler das Wort "desbravar", aber im normalen Zusammenhang mit Smaragden ("esmeraldas sin desbravar", ibd.: 18); gemeint sind jene unverarbeiteten Edelsteine im Rohzustand.
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El general en su laberinto La prensa santanderista no desperdiciaba ocasión de atribuir las derrotas militares a sus desafueros nocturnos. En todo caso, la prensa santanderista no era la única [...] se decía que por lo menos tres batallas se habían perdido en las guerras de independencia sólo porque él no estaba donde debía sino en la cama de una mujer. [...] [Bolívar] no se repuso nunca de ningún infundio, y hasta la hora de su muerte estuvo luchando por desmentirlos, (ibd.: 121; 122)
Die Legenden um seine Person gehörten bereits zu Bolivars Lebzeiten zum allgemeinen Gut in der Bevölkerung, was im Roman auch thematisiert wird, wie die folgende Passage zeigt: Als der fiktionale Bolívar im Dorf Tenerife ankommt, beauftragt er den irischen Oberst Wilson, eine junge Frau - Anita Lenoir oder Lenoit - zu suchen, mit der er angeblich eine "pasión desatinada e ilícita" (ibd.: 135) gehabt haben soll. Wilson sucht die Frau, kann sie aber nicht finden. Als der fiktionale Bolívar von der erfolglosen Suche erfahrt, scheint er erleichtert zu sein, denn damit wird für ihn und all die anderen bewiesen, dass die "leyenda no tenía sustento alguno en la realidad" (ibd.). Dass die junge Frau unauffindbar bleibt, heißt für ihn, dass sie nicht existiert und demzufolge die Unterstellung, er habe mit ihr eine Affäre gehabt, falsch sein muss. Der fiktionale Bolívar versucht mit der Suche der Frau, die Unterstellungen über seine vermeintliche Affare zu beseitigen, und trotzdem erweisen sich seine Bemühungen als nutzlos. Die Legende um seine Liebe zu dieser Frau ging dann so weit - wie der Erzähler berichtet - , dass es bis Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Friedhof von Tenerife einen Grabstein für Anita Lenoit gegeben haben soll, der als Wallfahrtsort für Verliebte diente (vgl. ibd.). Bolívar resigniert darüber, dass er gegen solcherlei Diffamierungen nichts unternehmen konnte. 13 Dem Erzähler zufolge liegen diese Unterstellungen in der Familie von Bolívar, denn bereits seinem Vater, dem coronel Juan Vicente Bolívar, wurden ähnliche Vorwürfe gemacht, die vielleicht einfach auf den Sohn übertragen worden sind und ihm deshalb wahrscheinlich ewig anhaften. Wie bereits erwähnt, sind für diesen Roman die Widersprüche charakteristisch, in die sich der Erzähler verwickelt. Einerseits habe Bolívar den Erfolg mindestens einer Schlacht für eine Frau aufs Spiel gesetzt. Andererseits - und hier liegt der Widerspruch - berichtet er über die Bemühungen Bolivars, solche Behauptungen zu entkräften. Kurz darauflegt der Erzähler etwas dar, was seine Schilderung(en) in Frage stellt oder die Unterstellungen bestätigt. Letzten Endes wissen wir nicht, ob es sich tatsächlich um Gerüchte handelt, oder ob sie vom Erzähler erfunden wurden. Beispielsweise lesen wir im Roman, dass Bolívar es nicht leiden konnte, wenn jemand seinen Gefühlen ("afectos") nicht glaubte: "Nada le dolía tanto, [...] como que alguien pusiera en duda sus afectos" (ibd.: 221). Berichtet wird hier von Delfina Guardiola, die dem General Liebesunfahigkeit vorwirft: "[...] el amor le queda gran-
13
Der fiktionale Bolivar versucht erfolglos aus der Fiktion heraus, die ihm in der Realität (i. e. im kollektiven Gedächtnis) gemachten Vorwürfe aufzuheben. Hierbei zeigt sich, dass der Roman wie ein Möbiusband verläuft: Fiktion und Faktum haften aneinander und bilden eine Fluchtlinie.
127
Kapitel IV
de" (ibd.), sagt sie zu ihm. Daraufhin verbringt Bolívar drei Tage mit dieser Frau, um ihr das Gegenteil zu beweisen, worauf der Erzähler anschließend sagt: "[...] y no sólo estuvo a punto de perder una batalla, sino también el pellejo, hasta lograr que Delfina confiara en su corazón" (ibd. Hervorhebung R. C.). "Beweisen" kann dieser Satz lediglich die Hartnäckigkeit, die dem realen Bolívar nachgesagt wird.14 Aber sein Bestreben, Legenden zu bekämpfen sowie die Glaubwürdigkeit des Erzählers werden damit nicht bestätigt. Der Erzähler kommentiert weitere "Tatsachen", die zur Legendenbildung gehören. So sei zum Beispiel einer Frau der Verlust ihrer Jungfräulichkeit garantiert, wenn sie eine Nacht mit Bolívar verbringe. Sogar wenn Bolívar sie nicht einmal berühre, verlöre eine junge Frau ihre Unschuld: El no la tocó siquiera en toda la noche [...]. 'Te vas virgen', le dijo. 'Nadie es virgen después de una noche con su Excelencia', (ibd.: 188)
Nach der Zahl seiner Eroberungen fragen sich auch seine Offiziere und Freunde. Eines Tages, im Gespräch mit den Generälen O'Leary und Montilla, stellt ihm letzterer die direkte Frage: '"Confiésese general: ¿cuántas han sido?'" (ibd.: 162). Darauf antwortet der fiktionale Bolívar lapidar: '"Muchas menos de las que usted piensa'" (ibd.). Am Abend desselben Tages rekapituliert José Palacios die Konversation und sagt Bolívar, dass es nach seiner eigenen Rechnung 35 Frauen gewesen sein müssen, selbstverständlich ohne die "pájaras de una noche" (ibd.) zu zählen.15 Der General
14
Dem Historiker Liévano Aguirre (1974: 15) zufolge sah Bolívar bereits im Kindesalter die Gehorsamkeit der anderen ihm gegenüber als selbstverständlich an. Weil der kleine Simón von seiner Mutter die notwendige Zuwendung nicht bekam, und weil die Mutterrolle von einer Sklavin ("la negra Hipólita") und von Inés Manceba de Miyares übernommen wurde, [...] se creyó [Bolívar] con derecho a mandar y a ser obedecido; entendió la satisfacción de todos sus deseos como un hecho natural no sujeto a controversias. (ibd.) Der kleine Bolívar galt weiter als [...] voluntarioso y difícil de soportar, en la espera de quienes le rodean se sometan a sus deseos so pena de despertar las intemperancias de su carácter, (ibd.)
15
Seine verstorbene Ehefrau, Teresa Toro y Alaiza, findet in dieser Rubrik ebenfalls keinen Platz. Dass Bolívar seine Frau irgendwann einmal liebte, ist aus einem seiner Briefe zu entnehmen: Huérfano a la edad de 16 años y rico [...] me fui a Europa, [...] fue entonces cuando en Madrid, bien enamorado, me casé con la sobrina del viejo Marqués del Toro, Teresa Toro y Alaiza, [...] entonces mi cabeza sólo estaba llena con los vapores del más violento amor, y no con ideas políticas [...]. (apud Mijares 1969: 91. Hervorhebung R. C.)
128
El general en su laberinto
stimmt dieser Zählung zu und erklärt, dass er keine genaue Ziffer geben wolle, weil O'Leary von allem Notizen mache, denn "'[...] no hay nada más peligroso que la memoria escrita'" (ibd.). Warum wollte Bolívar keine Zahl angeben? Waren 35 Frauen zu wenig? Vermutlich wollte sich Bolívar nicht festlegen, weil damit die Spekulationen über seine Frauenverhältnisse ein Ende gefunden hätten. Vor allem wollte er nicht, dass ein schriftliches Dokument darüber existierte, denn ohne dieses könnte die Legendenbildung ungehindert weitergehen. Diese Passage stellt ein raffiniertes, metafiktionales Mittel des Romanautors dar. Weder Bolívar noch José Palacios oder der Erzähler legen sich in der Zahl fest, auch wenn alle die 35 Frauen erwähnen, heben sie diese Ziffer auf, indem sie über die (unzähligen?) "pájaras de una noche" keine genaue Angabe machen. 16 Die Entscheidung darüber, ob Bolívar viele oder wenige Frauen hatte, wird somit dem impliziten Leser überlassen, dieser soll sich seine eigene Meinung bilden. Hierbei gibt es lediglich eine Ausnahme. Den vielen Exempeln im Roman zufolge scheinen die Liebeseskapaden von Bolívar und sein Ruf als Liebhaber doch etwas Wahrheit zu beinhalten. Eines seiner Frauenverhältnisse wird auch von den Historikern ausdrücklich erwähnt, dabei handelt es sich vielleicht um Bolivars bekannteste Beziehung, nämlich zu Manuela Sáenz. Der Historiker Liévano Aguirre (1974: 275-288) widmet dieser Frau an Bolivars Seite ein Kapitel seines Buches. Er berichtet über ihre Geburt, ihre Hochzeit mit dem englischen Arzt Thorne und ihre Liebe zu Bolívar. Seine Beschreibung könnte durchaus Szenen eines Romans darstellen, beispielsweise jene in Quito, als der 39-jährige Bolívar die 23-jährige Manuela zum Tanzen auffordert: Seguros de que todos los ojos estaban fijos en ellos, bailaron aquella noche largamente, locamente, sintiendo cómo en sus silencios y en el contacto de sus cuerpos triunfaba una emocionante alegría de vivir. Ni por un momento vaciló Manuela Sáenz para decidir su futura conducta. N o tuvo entonces ni tendrá después otra ambición que la de ganarse el amor de ese hombre [...]. [...] entre los dos, desde el primer momento, existió la sensación exacta de que nada se rehusaría y, al separarse, era el placer de imaginarse amado por Manuela el sentimiento que embriagaba la apasionada naturaleza del Libertador. (Liévano 1974: 287)
Im Roman geht García Márquez ausfuhrlich auf das Verhältnis zwischen Bolívar und Manuela ein, ihr Verhältnis ist nicht erfunden, denn die im Roman vorhandenen Daten über Manuelas Herkunft und Hochzeit stimmen mit denen der Historiker überein. Es gibt keine moralisierenden Beurteilungen über diese Beziehung, im Gegenteil, Manuela wird stets positiv beschrieben: "Era astuta, indómita, de una gracia irre-
lm Roman findet Bolivars Ehefrau nur eine kurze Erwähnung, vielleicht weil Bolívar sie als ein "percance de [su] infancia" (García Márquez 1989: 255) bezeichnete und an sie nicht mehr dachte noch sie zu ersetzen versuchte (vgl. ibd.). 16
In diesem Zusammenhang schreibt der kubanische Historiker Ulpiano Vega Cobiellas (1945: 257): "Es imposible recordarlas o enumerarlas". Er beschränkt seine Aufzählung auf drei Frauen: die Französin Fanny de Villiars, Bolivars Ehefrau Teresa und Manuela Sáenz.
Kapitel IV
129
sistible, y tenía el sentido del poder y una tenacidad a toda prueba" (García Márquez 1989: 159). Den positiven Beschreibungen zufolge scheint es zum Teil so, als ob der Romancier mit diesem Roman Manuela Sáenz eine Art Denkmal setzen wollte. Eine Antwort auf die Forderung des Historikers Vega Cobiellas? 17 Vielleicht ja, jedoch erfolgt diese auf die gleiche Art und Weise, wie die Darstellung Bolivars. Sie wird nicht als "la Libertadora" (Vega Cobiellas 1945: 259), sondern als die "primera bolivarista de la nación" (García Márquez 1989: 2 3 0 ) dargestellt, die Bolívar in den "arenas movedizas" (ibd.: 158) ihrer Liebe Zuflucht gewährt.
4.3 Bolívar, der Mensch Mit seiner Bolivar-Darstellung sprengt García Márquez den Rahmen einer verherrlichenden Repräsentation von Akteuren der Geschichte. Jene Vorstellung von Bolívar, die ihn immer wieder als Held konzipierte, wird abrupt durch das noch nicht Gedachte zerstört, denn keine historische Darstellung hatte sich einen kränkelnden Bolívar als Hauptdarsteller ausmalen können. 18 Die Begleiter vom fiktionalen Bolívar und alle alten Bekannten, die er auf seiner letzten Reise trifft, erkennen, dass er ein sehr alter Mann geworden ist, dass er fast nur noch ein Schatten seiner selbst oder der Geist dessen ist, was er früher war. 19 Sogar Bolívar selbst fühlt sich nicht wohl und
17
Auch wenn Manuela Sáenz keine Venezolanerin ist, so Vega Cobiellas, soll sie auch in diesem Land gewürdigt werden: Venezuela que con sagrada generosidad ha sabido reivindicar la gloria de todos los compañeros del Libertador [ . . . ] ¿podrá olvidar por más tiempo a la heroica y abnegada Manuelita Sáenz que vivió para el Libertador y murió crucificado en su amor y por su amor? (Vega Cobiellas 1945: 2 6 1 )
18
Die traditionelle Geschichtsschreibung verwendete für ihre Sinnstiftung vier geschichtsphilosophische Axiome - Teleologie, These von der sogenannten Notwendigkeit, Gerechtigkeit und Altersmetaphorik die erst Ende des 19. Jahrhunderts mit Nietzsches Kritik gebrochen wurden (vgl. dazu Koselleck 1997: 92-94): Nietzsche vermeidet jede Altersmetaphorik für Völker oder Epochen, um den darin enthaltenen Ablaufzwängen zu entgehen. Es gehörte zur Topologie der auf die Geschichte angewandten Lebensalter, dass die Definierenden sich gerne die Jugend zueignen, um den anderen oder dem Feind die Zwangsläufigkeit des früheren Alterns und damit die vorzeitige Gewissheit des Todes zuzuschieben. (Ibd.: 9 4 ) Die vierte Kategorie - die Altersmetaphorik - ist jene, die wahrscheinlich in traditionellen historischen Darstellungen verhindert hat, dass gebrechliche, alte Akteure der Geschichte beschrieben werden, denn wenn sie auf diese Weise repräsentiert worden wären, hätten sie wahrscheinlich keine Identifikationsinstanz bilden können.
19
Über seinen schlechten gesundheitlichen Zustand schreiben zwar einige Historiker, z. B. B o tero Saldarriaga (1969: 998), aber ein agierender und über sich reflektierender Bolívar ist in ihren Texten nicht zu finden.
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muss anerkennen, dass sein Tod nahe ist. Zudem lässt der Erzähler des Romans keine Gelegenheit aus, um die Gebrechlichkeiten des alten Bolívar zu beschreiben und zu betonen. Im Roman treffen wir Bolívar als einen alten Mann mit dem Körper "desmedrado [...] que no tenía ya suficiente cuerpo para complacer a su alma" (García Márquez 1989: 11; 33). Er ist so ein greiser, gebrechlicher Mann - "parecía tan anciano como su padre" (ibd.: 112) - , dass ihm ständig geholfen werden muss, als ob er aus Glas wäre ("como si fuera de vidrio", ibd.: 44).20 Diese Darstellung würde wahrscheinlich keine große Erregung verursachen, wenn es sich nicht um den Libertador handeln würde. Es liegt vielleicht an diesem Erscheinungsbild, dass der fiktionale Bolívar von seinen Zuhörern zum Teil nicht mehr ernst genommen wird. Bei seiner Ankunft in Zambrano möchte der fiktionale Bolívar an einem für ihn vorbereiteten Fest nicht teilnehmen, trotzdem gibt er nach und lässt seine ursprüngliche Entscheidung fallen. Während des Essens gibt es zwischen ihm und einem Franzosen eine heftige Diskussion, in der Bolívar seine Meinung über die Europäer äußert, insbesondere über die Franzosen und den Absolutismus. Leider, so erfahren wir durch den Erzähler, hat niemand Notiz davon genommen, weil der General "un caso acabado" ist, und "tal vez fue por eso que nadie dejó un testimonio escrito" (ibd.: 132; 133). Es wird dennoch einige Zeilen vor den zitierten ausdrücklich erzählt, dass diese Diskussion tatsächlich stattgefunden habe (und somit wurde diese Lücke der Geschichte durch den Roman geschlossen). Wenn die Geschichtsschreibung kein testimonio über diese Unterhaltung hat aufnehmen können, heißt das nicht, dass ausgehend von Bolivars politischer Einstellung eine glaubwürdige Antwort auf implizite Fragen - wie z.B. die angebliche Intention, die Monarchie wieder einführen zu lassen - , erfunden werden kann. Es ist bekannt, dass Bolívar dezidiert eine amerikanische, nicht hegemoniale Lösung für die politischen Verhältnisse in Südamerika gesucht hat, und dass diese nicht von Europa diktiert werden sollte. In der erwähnten Diskussion sagt der fiktionale Bolívar: "Los europeos piensan que sólo lo que inventa Europa es bueno para el universo mundo, y que todo lo que sea distinto es execrable" (ibd.: 130. Hervorhebung R. C.). Er betont zugleich, "Mi frente nunca será mancillada por una corona" (ibd.) und verrät, dass von seinem Rivalen, dem General José Antonio Páez, die Initiative ftir die Wiedereinführung der Monarchie stammt: "explicó que la iniciativa de implantar un régimen monárquico en las nuevas repúblicas había sido del general José Antonio Páez" (ibd.). Bolívar selbst habe, so der Erzähler weiter, diese Möglichkeit in Betracht gezogen, aber bald wieder verworfen, weil sie unpraktikabel sei. Der Erzähler weiß auch darüber zu berichten, dass Bolívar ähnlich negativ über die Möglichkeit der Etablierung des Föderalismus für diese Länder denkt: "Me parece demasiado perfecto para nuestros países, por exigir virtudes y talentos muy superiores a los nuestros" (ibd.: 131. Hervorhebung R. C.). Die Aussage entblößt eine widersprüchliche politische Auffassung von Bolívar, und gerade in diesem fiktiven Ge20
Wenn von einer Figur aus Glas in einem spanischsprachigen Roman die Rede ist, so evoziert dies automatisch den Gedanken an Cervantes und seinen Licenciado Vidriera.
Kapitel IV
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spräch liegt nahezu unbemerkt das Infragestellen des geschichtlichen Bolívar. Bolívar möchte eine Regierung, die vom europäischen Modell der Monarchie Abstand nimmt, und um dies zu erreichen, wäre die konsequentere Schlussfolgerung die Bildung einer föderalen Republik, vor allem angesichts der Verwaltung der riesigen Fläche, die Nueva Granada, Peru und Venezuela darstellen. Aber nein, das möchte er nicht, weder Monarchie noch Republik seien adäquat für "nuestros países". Was will er? Er bevorzugt es offenbar die gleichen Fehler zu wiederholen, die in Europa begangen wurden. Bolívar "rechtfertigt" sich gegenüber dem Franzosen für seine Art Politik zu betreiben und verwendet dafür Beispiele aus der europäischen Geschichte, die er nicht wiederholen will und es trotzdem tut. Seine Aufzählung enthält die Bartholomäusnacht, Ivan den Schrecklichen und die Plünderungen und Zerstörungen in Rom während der Renaissance (vgl. García Márquez 1989: 132). "Yo mismo di la orden de ejecutar a ochocientos prisioneros españoles en un solo día" (ibd.: 131) sagt der fiktionale Bolívar, aber das dürften ihm die Europäer nicht vorwerfen, denn er beteuert, [...] si una historia está anegada de sangre, de indignidades, de injusticias, ésa es la historia de Europa. [...] No traten de enseñarnos cómo debemos ser, no traten de que seamos iguales a ustedes, no pretendan que hagamos bien en veinte años lo que ustedes han hecho mal en dos mil. [•••] ¡Por favor, carajos, déjenos hacer tranquilos nuestra Edad Media! (ibd.: 131; 132)
Darüber zu spekulieren, ob es für die Erkenntnisse der Geschichtsschreibung wichtig ist, ein derartig fiktives Gespräch zu erfinden, ist nicht meine Intention. Dieses Gespräch bedeutet wahrscheinlich für die Erkenntnisse der Geschichtsschreibung nicht viel, aber solch eine erfundene Diskussion hilft uns als impliziten Lesern dabei, eine menschlichere Darstellung von Bolívar zu erhalten, die dennoch seiner realen Position gegenüber der europäischen Politik und den Ideen nicht widerspricht. Der fiktionale Bolívar gilt in diesem Roman weiterhin als ein gebildeter, rationaler Mann. Sein Lieblingsautor, sagt der Erzähler, sei Rousseau gewesen, als er mit zwanzig Jahren durch Europa reiste (vgl. ibd.: 138-139).21 Dieser gebildete Bolívar, der sich auch Bücher über chinesische Botanik vorlesen lässt (vgl. ibd.: 152), wird im Roman so dargestellt: [...] [E]ra poco menos que un asceta del comer y el beber, gustaba y conocía de las artes de la cava y la cocina como un europeo refinado, y desde su primer viaje había aprendido de los franceses la costumbre de hablar de comida mientras comía, (ibd.: 53. Hervorhebung R. C.)
21
Hierbei handelt es sich nicht um eine Erfindung. Darüber, dass Bolivar geneigt war, Rousseau zu lesen, schreibt ausfuhrlicher Lievano Aguirre (1974: 20 ff.).
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Im Laufe der Zeit sieht der alternde, fiktionale Bolívar jene Zeit und die Lektüre von Rousseau kritischer und behauptet, er habe sich damals erheblich gelangweilt (vgl. ibd.: 139). Jetzt, da allmählich sein Ende naht, fühlt sich Bolívar eher wie Kolumbus, als dieser nach 69 Reisetagen endlich Land in Sicht hat: '"Estamos llegando'. Y así era. Pues ahí estaba el mar, y del otro lado del mar estaba el mundo" (ibd.: 140). 22 Damals, als zwanzigjähriger Mann in Paris, lachte er noch über alles, was nach Aberglauben aussehen konnte; heute hat sich seine Einstellung nicht entschieden geändert und dennoch fangt er an, sich zu fragen, ob doch etwas Wahres daran sein kann. Dem Übernatürlichen steht er nach wie vor skeptisch gegenüber, aber als sein Hemd heimlich zu einem curandero gebracht wurde, weil dieser sogar aus der Entfernung heilen konnte, beginnt sich diese skeptische Einstellung allmählich zu verändern, vor allem, weil seine Hustenattacken und Kopfschmerzen nach der "Behandlung" verschwunden sind.23 Er weigert sich immer noch, daran zu glauben, aber die Unsicherheit hat ihn bereits ergriffen, weil "[...] un indio de una vereda cercana que curaba con sólo oler una camisa sudada por el enfermo, a cualquier distancia y aunque no lo hubiera visto nunca" (ibd.: 53) es geschafft hat, ihn zu verwirren: 'Lo raro es que desde anoche no volvimos a tener fiebre', dijo José Palacios. '¿Qué tal si el curandero fuera mágico de verdad?' El no encontró un réplica inmediata. [...] 'La verdad es que no volví a sentir el dolor de cabeza', dijo [Bolívar]. [...] 'No me metas más confusión en la cabeza', dijo, (ibd.: 68).
22
Es gibt einen weiteren Hinweis auf Kolumbus. Eines schönen Abends während seines Aufenthaltes in Cartagena wiederholt Bolívar einen Satz, den er bezüglich des Wetters irgendwann gesagt hatte: "[...] se alzaba el vapor de los jazmines [...]. 'Como Andalucía en abril\ había dicho él en otra época, recordando a Colón" (ibd.: 180. Hervorhebung R. C.). Im Tagebuch von Kolumbus heißt es am 16. September 1492: "Y era el tiempo como por Abril en el Andalucía", und am 8. Oktober 1492: "Los aires muy dulces, como en Abril en Sevilla, qu'es plazer estar en ellos, tan olorosos son" (C. Colón 2 1995: 101; 108. Hervorhebung R. C.).
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Bolívars Skepsis beschränkt sich nicht nur auf das Übernatürliche, sondern schließt auch die Ärzte mit ein. Im Roman wird des Öfteren erwähnt, dass Bolívar weder Ärzte noch Medikamente akzeptiert (außer Tabletten gegen seine Verdauungsprobleme): 'Acabo de renunciar al poder por un vomitivo mal recetado, y no estoy dispuesto a renunciar también a la vida'. [...] [L]as únicas que aceptó fueron las pildoras purgantes que tomaba [...] para su estreñimiento obstinado [...]. (Ibd.: 54; 55) 'Si hubiera hecho caso de mis médicos llevaría muchos años enterrado'. (Ibd.: 142) Diese Haltung den Ärzten und der Medizin gegenüber findet sich auch von einem Historiker bestätigt: "Carecía de médicos, y por otra parte no deseaba ninguno y se negaba a tomar cualquier medicina" (Mijares 1969: 554).
Kapitel IV
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Der große Bolívar möchte damit keine Schwächen zeigen, aber fast unbemerkt wird er vom Erzähler mit Eigenschaften ausgestattet, die ihn zum normalen Menschen machen, und dazu zählt auch, etwas abergläubisch zu sein. Im Gegensatz zu Bolívar lässt sich beispielsweise der General Antonio José de Sucre von einer bekannten "pitonisa" (Zauberin) "en varias empresas de guerra" (ibd.: 149) orientieren, ohne dass diese Handlung sein Ansehen bei Bolívar mindert. Sucre wird für ihn weiterhin "el general más digno de la república" (ibd.) bleiben. Für Bolívar selbst trifft das aber nicht zu. Die Wirkung der Behandlung durch den curandero lässt etwas Unsicherheit in ihm aufkommen. Später wird auch sein treuer Begleiter José Palacios etwas unruhig, weil der General anfangt, Dinge zu sehen, die sonst niemand bemerken kann. Eines Abends während ihres Aufenthalts in Puerto Real sieht Bolívar eine Frau im Vorbeigehen, die sich zu ihm umdreht und sich überhaupt nicht über seine Nacktheit wundert. Bolívar befiehlt eine Durchsuchung im ganzen Haus, aber niemand findet sie, und niemand weiß etwas über die gesichtete Frau. Beunruhigend ist das für José Palacios, weil er ein sehr gutes Gedächtnis hat und sich an alle Erlebnisse mit Bolívar erinnern konnte, nur an dieses nicht. Viel schlimmer als sich nicht daran zu erinnern, ist für José Palacios, dass er sich nicht erklären kann, ob jene Vision "un sueflo, un delirio o una aparición" (ibd.: 107) gewesen ist. Für diese plötzlichen Erscheinungen oder sogar eine religiöse Rückbesinnung gibt es im Roman verschiedene Beispiele, die, wie gesagt, nicht erklärbar sind. Der Roman als Ganzes versucht keine Erklärung dafür abzugeben, lediglich eine breitere Ausführung über diese Charakteränderungen in Bolívar ist implizit enthalten. Im Roman ist nicht so deutlich zu lesen, dass diese Erscheinungen von seiner Erkrankung stammen, wie der Historiker Mijares dazu schreibt: Su salud, además, decaía por momentos, inexorablemente. Como se mezclan y confunden las imágenes en la mente de un calenturiento - y probablemente eso era lo que sucedía en realidad-, en sus cartas de aquellos días se atrepellan fragmentos contradictorios de proyectos irrealizables, la angustia y el dolor. (Mijares 1969: 554)
Es muss in der Tat gegen Ende seines Lebens eine Veränderung in seinem Charakter gegeben haben, wahrscheinlich aber so subtil, dass über sie nicht in extenso berichtet wird und nur seine engsten Freunde und Begleiter sie konstatiert haben. Der Historiker Augusto Mijares entdeckt sie dennoch in einem Brief von Bolívar und fragt sich: "¿Había vuelto el Libertador a las creencias religiosas de su juventud?" (1969: 557). In seinem umfangreichen Buch über Bolívar vermerkt dieser Historiker kurz: [...] por iniciativa de Montilla vino de Santa María el Obispo José Maria Esteves, [...] al día siguiente Bolívar recibió los Sacramentos [...]. En carta para Montilla [...] hablándole de su salud, [...] agrega [Bolívar] en un paréntesis: 'si Dios quiere concedernos esta gracia', (ibd.)
Insofern könnte es eine Intention des Romans sein, solche Parenthesen zu erweitern und nicht nur über Bolivars gesundheitlichen Zustand zu berichten, sondern auch ü-
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ber eine Identitätswandlung, die "versteinerte" Helden der Geschichte nicht durchlaufen können. "Más que las glorias del personaje me interesaba entonces el río Magdalena" sagt García Márquez (1989: 271), und obwohl über diese letzte Reise Bolívars nicht viel dokumentiert ist, fiel er schon beim Schreiben der ersten Seiten in die "arenas movedizas de una documentación torrencial, contradictoria y muchas veces incierta" (ibd.: 272),24 so dass aus diesem Unternehmen eher eine Kartographie von Bolívars Reise entstanden ist. Es handelt sich hierbei nicht um eine Kopie des "alten Bolívar", i. e. des Helden, der überall im kollektiven Gedächtnis anzutreffen ist, sondern um eine Karte im Sinne von Deleuze und Guattari (1977: 22), die mit der "Performanz" und nicht mit der "vermeintlichen Kompetenz" der Kopie zu tun hat. Die Geschichte wird in dieser Reise nicht aus einer sesshaften, sondern aus einer nomadischen Perspektive geschrieben. Der Erzähler zeigt, wie der fiktionale Bolívar sich verändert, wie er seiner selbst nicht mehr mächtig ist und das langsame Geschichte-Werden eintritt. Ein Beispiel dafür stellt die Begegnung Bolívars mit einem Dampfschiff dar, das den Namen El Libertador trägt. Für Bolívars Reise ein Dampfschiff zu finden, war nicht einfach, so weiß der Erzähler zu berichten, weil der General dem deutschen comodoro Elbers die Erlaubnis für die exklusive Betreibung solcher Schiffe entzogen hatte (vgl. García Márquez 1989: 91-92). Deshalb musste Bolívar mit seinen Begleitern auf champanes fahren. Eines Tages [...] [pasó] un buque de vapor [...] resollando en sentido contrario, y su estela puso en peligro los champanes [...]. En la cornisa se leía el nombre con letras grandes: El libertador. (ibd. : 134).
Bolívar wiederholt leise den Namen und sagt zu sich selbst: "¡Pensar que ése soy yo!" (ibd.). An dieser Stelle zeigt sich bildhaft (Bolívar als Schiff im Fluss der Geschichte), dass Bolívars Geschichte im Werden ist. Denn warum sollte sonst ein Schiff von Elbers nach dem Entzug seiner exklusiven Rechte durch Bolívar diesen Namen tragen? Als eine Ehrung Bolívars sicherlich nicht, viel eher als eine Erinnerung. Mit zunehmender Verschlechterung seiner Gesundheit wird das "Menschliche" in Bolívar verstärkt hervorgehoben. In den letzten Tagen seines Lebens erfahrt er wenn auch nur kurz - eine Art Sinneswandlung. Er rekapituliert seine Taten und bereut, dass er den Frieden mit Santander nicht beschlossen hat: Statt des Dissenses in den Vereinigungsbestrebungen hätte er lieber den Konsens suchen müssen: En una de sus escasas crisis de arrepentimiento [...] los sorprendió con la sentencia de que más valía un buen acuerdo que mil pleitos ganados. [ . . . ] 'Sobre todo en la política', dijo el general. 'El no habernos compuesto con Santander nos ha perdido a todos', (ibd.: 237-238. Hervorhebung R. C.) 24
Liebe und Geschichte treffen sich in diesem Roman nicht nur auf der Handlungsebene, sondern werden in Bezug auf ihre Darstellungsschwierigkeiten mit ähnlichen Metaphern verglichen: Beide sind wie "arenas movedizas".
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Der schwerkranke fiktionale Bolivar wird bald "körperlich" sterben.25 Diese letzte Reise wird aber nicht vergessen, weil sie bereits eine Transformation seines Idealbilds im kollektiven Imaginären ist. Die Leser des Romans sollen nicht mehr nur den Helden in ihm sehen, sondern den Menschen in ihm entdecken. Etwas überspitzt gesagt bedeutet der Tod Bolivars im Roman eine remythologisierende Auferstehung seiner selbst im kollektiven Gedächtnis. 4.4 Die Remythologisierung von Bolívar Der Roman bezieht sich direkt auf historische Ereignisse, die subtil erwähnt die eigentliche Geschichte des fiktionalen Bolivars hervorheben. Die historischen Ereignisse dekonstruierend zeigt der Roman, dass es sich hier auch um einen wahren Helden handelt. Dennoch wird von einer Geschichte der großen Taten nichts erzählt, sondern von einer Geschichte der Leidenschaften Bolivars. Diese Geschichte ist "un relato triste y muy intenso, sobre la ilusión del poder y la traición del cuerpo" (Fuentes 1990: 3), die ohne dadurch eine Art Verlust der Geschichte anzudeuten, den Sterbeweg Bolivars zeichnet und den Eindruck erweckt, dass es sich um zyklische Ereignisse handelt, i. e. um eine mythische Geschichte. Während eines Aufenthalts in Mompox übernachtet Bolívar in einer Klosterschule, die er noch nie besucht hatte. Er inspiziert das gesamte Zimmer "con una atención meticulosa como si cada objeto le pareciera una revelación" (ibd.: 115) und entdeckt "un reloj octogonal de números romanos parado en la una y siete minutos" (García Márquez 1989: 116). Daraufhin schreit er: '"¡Por fin, algo que sigue igual!'" (ibd.). Sowohl José Palacios als auch der Pfarrer von der Kirche La Concepción erklären ihm, dass es für ihn unmöglich sein müsse, dies festzustellen, weil er dort noch nie gewesen sei. Bolívar antwortet lediglich mit seiner "ironía habitual": '"Quizás haya sido en una reencarnación anterior'" (ibd.). Viel später, in San Pedro Alejandrino in Santa Marta, findet er wieder eine Uhr, deren Beschreibung und Uhrzeit der bereits erwähnten entspricht, worauf Bolívar sagt: '"Hemos estado aquí'" (ibd.: 256). Zuletzt, nach langem Leiden Bolivars, begegnet der Leser dieser Uhr wieder. Auf seinem Sterbebett inspiziert der fiktionale Bolívar noch einmal das Zimmer und die Uhr ist erneut da: Examinó el aposento con la clarividencia de sus vísperas, y por primera vez vio la verdad [...] [el] reloj octogonal desbocado hacia la cita ineluctable del 17 de diciembre a la una y siete minutos de su tarde final, (ibd.: 269. Hervorhebung R. C.)
25
In gewisser Weise versteht sich der fiktionale Bolívar selbst als ein Auserwählter, und er wurde auch manchmal dementsprechend behandelt: Er erfährt beispielsweise, dass eine Frau festgenommen wurde, weil sie seine in Soledad abgeschnittenen Haare wie "reliquias sagradas" (García Márquez 1989: 238) verkauft hatte; er beschwert sich über diese Behandlung und bekommt die lapidare Antwort: '"Lo tratan como lo que es', dijo [la señora Molinares]: 'un santo'" (ibd.: 239).
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Zum letzten Mal markiert die Uhr seine zuvor angekündigte Todeszeit. Dieses auf der Mikroebene wiederholte Motiv wird auf die Makroebene (in Form der Reise) übertragen. Die letzte Reise Bolivars dient als Ausgang für eine De- und Reterritorialisierung seines Lebens, womit keine Entmythologisierung, aber eine Entidealisierung angestrebt wird. Mit der Reterritorialisierung in einem transversalhistorischen Roman erfolgt eine Rekodifizierung seines Lebens, die gleichzeitig zu dessen Remythologisierung fuhren kann.26 Diese Remythologisierung entspricht in übertragenem Sinne einer Wiedergeburt der Geschichte.27 Denn wenn davon ausgegangen wird, dass der Bericht über historische Gegebenheiten im Roman hauptsächlich aus einer "körperlichen" Erfahrung oder Wahrnehmung des fiktionalen Bolívar im Zusammenhang mit seinen Erinnerungen stammt, dann verdeutlicht sich die erwähnte remythologisierende Wiedergeburt der Geschichte: Der Vereinigung von zwei Komponenten (Körper und Gedächtnis :: Materie und Geist) im Roman entspringen die historischen Ereignisse. Das Mythologische resultiert aus dieser Kombination, vor allem wenn die vereinigten Kräfte, durch den Körper und das Gedächtnis repräsentiert, durch die Signifikanten Zeus und Mnemosyne ersetzt werden. Es ist bekannt, dass in der griechischen Mythologie die Titanin Mnemosyne und Zeus die Musen zeugten und dass eine der neun Musen Klio ist: die "Schutzherrin der Geschichtsschreibung" (Gärtner 1989: 208).28 Aus dieser Perspektive gesehen, entblößt sich das Vertextungsverfahren des Romans, das ihm einen transversalen Charakter verleiht. Deshalb spreche ich von einer rekodifizierenden Remythologisierung der Geschichte: Bolivars Körper (Zeus) und seine Erinnerungen (Mnemosyne) erzeugen erneut die Geschichte (Klio); eine, die aus dem historischen Bolívar einen rekodifizierten Odysseus in der Fiktion macht.29 26
Ich spreche ausdrücklich von einer rekodifizierenden Remythologisierung, um den Begriff bricolage (Bastelei) von Lévi Strauss ("1994: 29 ff.) zu vermeiden, der zusammen mit dem "wilden Denken" zur Klärung der Mythen bzw. des mythischen Denkens verwendet wird. Das Bricolage-Denken, mehr oder weniger synonym mit dem wilden!mythischen Denken, hat zum Ziel, eine neue Struktur, i. e. eine neue Ordnung zu schaffen, um darin einen Sinn zu entdecken (vgl. ibd.: 35). "Die beste Waffe gegen den Mythos" ist, Roland Barthes (1964: 121) zufolge, "ihn selbst zu mythifizieren". Deshalb und aufgrund des rhizomatischen Charakters transversalhistorischer Romane scheint mir die Bezeichnung Rekodifizierung in diesem Fall angemessener, vor allem weil in ihr der für diese Romane wichtige Gedanke der Dekonstruktion impliziert ist.
27
Mit Derrida kann gesagt werden, dass es sich um eine neue Geschichtlichkeit handelt, "um einen Typus [...] historischen Fragens handelt, dessen Konzeption, Bildung, Austragung und Arbeit wir heute nur erst abzuschätzen vermögen" ( 6 1994: 442. Im Orig. kursiv.).
28
Das Verfahren der Remythologisierung wird dadurch verstärkt, dass Bolívar vom Erzähler immer mit verschiedenen Hyperbeln beschrieben wird. So wird er beispielsweise nie verletzt; er kann unzählige Kilometer schlafend auf dem Pferd zurücklegen und ist sogar bei stärkstem Unwetter in der Lage, die absolute Ruhe zu bewahren.
29
Vgl. dazu den Anfang der Odyssee, der auch für die Reise des fiktionalen Bolivars von Garcia Márquez zutreffen kann:
Kapitel
IV
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Zum mythologischen Charakter des Romans trägt die Tatsache bei, dass dieser ausdrücklich keine lückenlose Geschichte wiedergibt. Dabei spielt die Kategorie des Fergessens eine große Rolle. 3 0 V o m Erzähler erfahren wir, dass bereits das Vergessen in diese Geschichte des fiktionalen Bolívar Einzug gehalten hat, denn seine memoria weist einige Lücken auf, w i e diese Kommentare zeigen: "[...] cada v e z m á s inquieto c o n las goteras de su memoria [...]" (García Márquez 1989: 127); "[...] la humedad empezaba a abrir grietas en la memoria [...]" (ibd.: 239). Unter Einbezug des Vergessens erhält der historische Sinn im Roman eine nietzscheanische Wende. Für Nietzsche stellt gerade das Vergessen einen wichtigen Grund für die Gesundheit des Individuums dar: Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde [...]. [...] [E]s ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, [...] es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. (Nietzsche 1984: 10-11) [...] es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nur ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur, (ibd.: 11. Im Orig. kursiv.)31 D i e Kategorie des Vergessens im Roman bezieht sich nicht nur auf die Gedächtnislücken des fiktionalen Bolívar. Unter Vergessen verstehe ich auch eine Selektion (Hinzufugung und Herauslassung) v o n bestimmten historischen Ereignissen, damit die Bolivar-Figur durch ihre Remythologisierung im Roman menschliche Charakterz ü g e erhält. 32 D e n n im Anschluss an N i e t z s c h e (1984: 13) wird [...] erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, [...] der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen.
Háblame, Musa, de aquel varón de multiforme ingenio que [...] anduvo peregrinando larguísimo tiempo [...] y padeció en su ánimo gran número de trabajos [...], en cuanto procuraba salvar su vida y la vuelta de sus compañeros a la patria. (Homero 23 1986: 1) Ein anderes Beispiel für eine Rekodifizierung griechischer Mythen, jedoch im Bereich des Theaters aber mit einer vergleichenden Funktion zu García Márquez' Bolívar, stellt das Stück Prometeo encadenado según Alberto Kurapel von Alberto Kurapel (1989) dar. 30
Das Vergessen soll in diesem Roman wie eine Art Lektüre verstanden werden (vgl. Barthes 1976: 14 ff.).
31
Wie krankhaft das Nicht-Vergessen sein kann, beweist die Erzählung von Borges ("1992) "Funes el memorioso", die als eine "larga metáfora del insomnio" (ibd.: 119) konzipiert ist.
32
Für den Autor Carlos Fuentes (1990: 3) García Márquez "construye un Bolívar que es reconocible como un ser humano sufriente cuya mayor misión voluntaria fue desmontar a Latinoamérica de la obsesión que la fundó: la Utopía".
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Die Selektion von Elementen aus der Geschichte und dem kollektiven Gedächtnis sowie die gleichzeitige Hinterfragung der ersteren hat die Konstruktion von einem individualisierten Subjekt zur Folge, das "sich in seiner Massenhaftigkeit gleichwohl bereits kulturell prästrukturiert und in seinen Allmachtsphantasien gebrochen weiß" (Niethammer 1993: 43).33 Jenes an Kraft nachlassende Gedächtnis des fiktionalen Bolívar insinuiert, dass die Geschichtsschreibung auch das Merkmal des Lückenhaften haben kann, was sich durch die ständigen Ergänzungen und Kommentare vom Erzähler oder von José Palacios bestätigt zeigt. Zugleich bescheinigen diese Kommentare, dass selbst die Kategorien Gedächtnis und Erinnerung in der Geschichte Konstruktionen sind, denn nicht die Erinnerungen von Bolívar stammen aus der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit ergibt sich aus seinen Erinnerungen. Damit wird deutlich, dass die Remythologisierung Bolivars ein Vertextungsverfahren ist, das, mit der nietzscheanischen Philosophie im Hintergrund, sich aus Mythologie, Literatur und Geschichte als Hybridisierungsmedium konstituiert. Weiter oben habe ich bereits erwähnt, dass sich der fiktionale Bolívar in einer Romanstelle mit Kolumbus vergleicht; eine Komparation, die vom realen Bolívar weit übertroffen wird, denn dieser soll gegen Ende seines Lebens laut dem Historiker Liévano Aguirre (1974: 514) gesagt haben: "Los tres grandes majaderos de la humanidad hemos sido: Jesucristo, Don Quijote y yo...". Ein Satz, der metonymisch die Themen eines transversalhistorischen Romans - das abendländische Denken, die Literatur und die Geschichte - umfasst und dem realen/flktionalen Bolívar einen dritten Platz zwischen dem Imaginären und dem Realen einräumt. Daran anschließend kann gesagt werden, dass die Remythologisierung von Bolívar auch mit diesem Satz und mit dem lang gestreckten Tod im Roman vollendet wird. Beide zeigen, dass am Ende Bolivars Tod genauso glorreich wie sein Leben gewesen ist.
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Der Historiker Lutz Niethammer (1993) stellt Geschichte und Gedächtnis gegenüber und siedelt diese sich nicht aufhebende Opposition in der Postmoderne an. Er stellt weiterhin fest: Die Umformulierung von Geschichte in die Metapher des Gedächtnisses entsteht aus dem Fortfall ihrer geschichtsphilosophischen Fundierung und zugleich aus der Einsicht, dass dadurch der Bedarf an historischem Erfahrungshaushalt, an orientierenden Perspektiven und Alternativen nicht entfallt, sondern wächst, (ibd.: 46) Niethammer stellt dem wissenschaftlichen "Umgang mit Geschichte" die "erinnernde Forschung" gegenüber, die "im Kurzschluss zwischen aktueller Neugier oder Orientierungsnot und verschüttetem, aber noch lesbarem Überrest in Einzelzugriffen jene Elemente der Vergangenheit" rekonstruiert, die "keinen Zugang zur Traditionsbildung des kollektiven Gedächtnisses fanden, und erlöst sie zu alternativen Traditionen oder zur Herausforderung der herrschenden" (ibd.: 47). Im Anschluss daran möchte ich den transversalhistorischen Roman auch in diesem Bereich der "erinnernden Forschung" ansiedeln.
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4.5 Die (Des)Artikulation des Körpers Eine Erweiterung der direkten Wechselbeziehungen zwischen Geschichte und Fiktion, i. e. zwischen dem Gesagten und Nicht-Gesagten, erreicht der Romanautor durch eine ungewöhnliche Körperrepräsentation des historischen Helden Bolívar. Der fiktionale Bolívar erlebt im Roman die langsame "Auflösung" seines Körpers. Diesen Eindruck gewinnen wir nicht nur dadurch, dass die Hauptfigur als ein alter, kränklicher Mann dargestellt wird, sondern auch das Empfinden, das Bolívar von sich selbst hat, bekräftigt diese Impression. Sein Körper und seine Kräfte schwinden allmählich und ihm wird klar, dass er nicht mehr derselbe ist noch je wieder sein wird, denn mit zunehmender Verschlechterung seiner physischen Lage verkleinert sich sogar sein Körper, wie vom Erzähler zu erfahren ist: "[...] se había disminuido tanto, que tuvieron que darle una vuelta más a los puflos de la camisa y le cortaron una pulgada a los pantalones de pana" (García Márquez 1989: 258). Bemerkungen über seinen geistigen und gesundheitlichen Zustand werden sowohl vom Erzähler als auch von Bolívar direkt geäußert: Im Gespräch mit Montilla in Turbaco sagt Bolívar, dass er nicht wieder Präsident werden kann, weil er jetzt nicht mehr existiert ("Ya no existo"; García Márquez 1989: 148). Sein "destino de lástima está consumado" (ibd.: 153), sagt der Erzähler, und Bolivars Leben ist darauf reduziert, die Nachrichten von neuen Rückschlägen zu erwarten: "[...] la vida se redujo a esperar las noticias de nuevos reveses" (ibd.). Die Symptome seines Unbehagens werden deutlicher und nichts mehr kann ihn zufrieden stellen: Si el tiempo era húmedo quería uno más seco, si era frío lo quería templado, si era serrano lo quería marino. [...] [quería] que abrieran la ventana [...], que la volvieran a cerrar [...] (ibd.: 254),
und trotz einer plötzlichen "mejoría imaginada" (ibd.: 256) weist sein allgemeiner Gesundheitszustand nur "síntomas finales de una postración final" (ibd.: 254) auf. Anders formuliert, kann behauptet werden, dass Bolivars Körper das eigentliche Thema des Romans ist. Jedoch steht er auch metonymisch für die Devastation der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika und fungiert als ein Erinnerungsort für Liebe, Sexualität und politische Entscheidungen des Generals. Deshalb spreche ich von einer (Des)Artikulation des Körpers oder von einer (Des)Artikulation einer inkorporierten Geschichte, die aufgrund der ständigen Verschlechterung und Alterung Bolivars immer in Bewegung bleibt. Daraus ergibt sich eine Korrespondenz, die wie folgt graphisch dargestellt werden kann:
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Viele Erinnerungen an die reale Geschichte fangen erst als Analepse an, wenn Bolívar schläft. An einer Romanstelle, die einen metafiktionalen Charakter aufweist, berichtet der Erzähler über den Eindruck, den José Palacios hat, wenn Bolívar schläft: "José Palacios tenía la impresión de que en las siestas pensativas [...] revisaba en la memoria hasta los instantes más ínfimos de su vida pasada" (ibd.: 229). Nach diesem Muster der detaillierten Revision verfährt auch der Roman: Bolivars Träume sind Ausgangspunkte für die Erinnerung an historische Ereignisse, und neben den vom Erzähler eingeleiteten Analepsen finden Déjà-vu-Erlebnisse statt. In seiner letzten Reise fahrt Bolívar mit seinem séquito zu vielen von ihm bereits besuchten Orten, in denen sich bestimmte Begebenheiten seiner ersten Reise wiederholen (Regen, Sonne, Feste, Häuser). So erinnert er sich zum Beispiel am 16. Oktober 1830 in Angostura an jenen 16. Oktober 13 Jahre zuvor, als er den General Manuel Piar erschießen ließ. An jenem wie am heutigen Tag steht Bolívar auf und sagt zu José Palacios, dass sie gehen sollten, weil er die Schüsse der Hinrichtung nicht hören wolle. José Palacios reagiert etwas erschrocken - denn der General sieht heute aus wie damals - und versucht, ihn zu beruhigen. José Palacios weiß, dass beide bereits "ese instante en otro lugar y otro tiempo" erlebt haben, und dass es sich hierbei um einen "antiguo sueño repetido en la realidad" (ibd.: 232) handelt. Deshalb erklärt er ihm: "[...] no hoy a las cinco de la tarde, sino un día como hoy de hace trece años" (ibd.) wurde Manuel Piar hingerichtet. Danach wird vom Erzähler über die Gründe jener Hinrichtungsentscheidung von Bolívar berichtet, um am Ende des Kapitels zu der eigentlichen Intention dieser Erinnerung zu kommen: nämlich zu sagen, dass Bolívar jene Entscheidung nicht bereut und heute genauso wie damals agieren würde: "sin que nadie se lo preguntara dio la respuesta que José Palacios había querido conocer desde la noche trágica de Angostura. 'Volvería a hacerlo', dijo" (ibd.: 234). Bolivars Träume beschränken sich indes nicht nur auf die politische Einigung des Subkontinents, sondern es handelt sich dabei auch um seine Liebesträume. Gemeinsam ist beiden, dass sie mit seinem Tod vernichtet werden. Die Liebesträume werden verschwinden, weil es darüber keine Belege mehr geben wird; sie verkommen lediglich zu einer "persönlichen" Erinnerung. Seine politischen Träume und An-
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strengungen werden durch die politischen Nachfolger, vor allem durch den exilierten Santander, liquidiert. Bolívar weiß es und vermutet, dass nach seinem Tod Santander [...] regresaría coronado de gloria a liquidar los escombros de sus sueños, la patria inmensa y única que él había forjado en tantos años de guerras y sacrificios sucumbiría en pedazos, los partidos se descuartizarían entre sí, su nombre sería vituperado y su obra pervertida en la memoria de los siglos, (ibd.: 150)
Um seine persönlichen Erinnerungen vor dem Vergessen zu retten, stellt der fiktionale Bolívar in diesem Roman eine Art posthumes Nachwort seines Lebens und seiner Taten dar, um so mehr jetzt, da im übertragenen Sinne "la humedad empezaba a abrir grietas en la memoria" (ibd.: 238). Die konstruierte Wiedergabe seiner memoria bedarf eines Zeichenträgers, eines (des)artikulierten Zeichentórpers, der eine Ausdrucksmöglichkeit und zugleich deren Dekonstruktion darstellt. Deshalb scheint die Re-präsentation Bolivars in diesem Roman der Maxime zu folgen, all jenes Ungedachte des Körpers zu repräsentieren. Es geht dabei nicht um eine Abwertung oder Ablehnung der Kategorie Körper, sondern um eine andere vielleicht wahrscheinlichere - Repräsentation derselben. Der Körper des einstigen Helden wird nicht mehr als eine versteinerte, unbewegliche Figur dargestellt, sondern muss als ein spurenreicher Ort des Lebens oder sogar des unwiderruflich langsamen, aber steten Sterbens begriffen werden. So verstanden kann sich der Körper als ein privilegierter Ort der menschlichen Erkenntnis präsentieren, denn auf diese Weise wird die Vergänglichkeit weder vergessen noch verschleiert. Der im kollektiven Gedächtnis präsente Körper eines tapferen, mutigen, gesunden und idealisierten Helden wird mit seinem Anderen konfrontiert und lässt somit eine Destabilisierung der bekannten Geschichte entstehen. Eine unbekannte Geschichte des Helden schreibt sich dabei einem bis dato unbekannten Körper ein; sie gräbt sich in ihn hinein und, indem sie ihn auf die Oberfläche einer anderen epistemologischen Gegenwart katapultiert, erlaubt sie den Gewinn neuer Erkenntnisse über den Menschen Bolívar: Die Geschichte Bolivars kerbt sich in dessen gefalteten Körper ein und wird anhand desselben aus ihm deterritorialisiert und in ihm reterritorialisiert.34 Sein Körper kann weder eine Kopie noch ein Original sein, er stellt vielmehr eine entfaltete Kartographie der Geschichte dar. Mit diesem Verfahren - ein Spiel mit dem Außen und dem Innen erreicht die Darstellung Bolivars eine Repräsentationsebene, die Variationen über seine Person erlaubt: Variationen eines Subjekts, die in der literarischen Falte des transversalhistorischen Romans das bestgeeignete Medium dafür finden, sich zu bil34
Die Bezeichnung Falte verwende ich im Anschluss an Deleuze: Die Falten sind ungemein variabel, sie besitzen zudem verschiedene Rhythmen, und ihre Variationen bilden irreduzible Weisen der Subjektivierung. Sie wirken 'unterhalb der Codes und der Regeln' des Wissens und der Macht, auf die Gefahr hin, dass sie in ihrer Entfaltung wieder mit ihnen zusammentreffen, jedoch nicht ohne dass andere Faltungen entstünden. (Deleuze 2 1995: 146-147)
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den. Die anschaulichen Veränderungen Bolívars entspringen wie eine Fluchtlinie dem Raum, der zwischen der Erzählung seiner gegenwärtigen Situation und den Analepsen entsteht, die über seine vergangenen Taten berichten. Der kränkliche Körper Bolívars wird somit, wie bereits gesagt, eine Geschichte im Werden, er ist das Ereignis?s Sein Körper hat sich soweit (des)artikuliert, dass er, in einen Diskurs-Träger verwandelt, zugleich Subjekt und Objekt der Geschichte ist. Bekanntlich wurde in der Moderne des Öfteren über den angeblichen Tod oder das Verschwinden des Subjekts geklagt. Bei dem fiktionalen Bolívar in diesem Roman trifft diese Aussage nicht mehr zu. Hierbei handelt es sich nicht um einen Zerfall des Subjekts, sondern um die Repräsentation einer dynamischen, sich wieder herstellenden Identität, beispielhaft an dem wiederbelebenden Bad dargestellt, das Bolívar jeden Morgen nimmt: [...] [E]l estado de éxtasis en que yacía a la deriva parecía de alguien que ya no era de este mundo. [...] y surgió de entre las aguas medicinales con un ímpetu de delfín que no era de esperar en un cuerpo tan desmedrado. (García Márquez 1989 : 11)
Diese Repräsentation des fiktionalen Bolívar impliziert durch die Bejahungen und Betonung der Differenzen nicht mehr eine traditionelle Subjektcharakterisierung. Der implizite Leser wird vielmehr mit der Darstellung des Werdens im Körper konfrontiert; mit einer Geschichte, die Körper wurde, die das Gleichgewicht der Kräfte aufhebt und das Nomadische begünstigt. Mit einer im Sinne Nietzsches und mit Worten von Deleuze ewigen Wiederkehr der Differenzen, die eine Umkehrung der Darstellung, eine andere Art des Denkens erlaubt: Die ewige Wiederkehr ist, nach Nietzsche, keineswegs Denken des Identischen, vielmehr ein synthetisches, ein Denken des vollkommen Unterschiedenen, das jenseits der Wissenschaft ein neuartiges Prinzip geltend macht. [...] Die ewige Wiederkunft ist nicht das Verharren Ein-und-Desselben, ist weder ein Gleichgewichtszustand noch die Dauer des Identischen. In der ewigen Wiederkunft kehrt nicht Ein-und-Dasselbe zurück, sondern ist die Wiederkunft selbst das Eine, das allein vom diversen und von dem sich Unterscheidenden ausgesagt wird. [...] Der Entwurf der ewigen Wiederkehr, wie Nietzsche sie begreift, setzt die Kritik des Endstadiums oder des Gleichgewichtzustandes voraus. (Deleuze 1991: 53) [...] Nicht das Sein kehrt wieder, sondern die Wiederkehr selbst macht das Sein aus, insoweit dieses im Werden und im Vergehenden sich bejaht, (ibid.: 55)
35
Ausgehend von Bachtins (1995) Konzeption des grotesken Körpers kann der veraltete Körper von Bolivar auch als eine groteske Darstellung bezeichnet werden. Vor allem, weil der Erzähler den Leser wiederholend auf die Alterserscheinungen Bolivars hinweist. Bachtins Auffassung des grotesken Körpers lässt sich nur dann mit dem in dieser Arbeit aufgeführten Begriff des Ereignisses von Deleuze zusammenbringen, wenn beide Konzeptionen das Werden (und nicht eine bipolare Opposition) betonen: "Der groteske Körper ist [...] ein werdender" (Bachtin 1995: 358. Im Orig. kursiv.).
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Der veraltete, gefaltete Körper vom literarischen Bolívar trägt in sich eine verdichtete, verschachtelte Geschichte von Begehren, Sexualität und Macht, die seine (Des)Artikulation, seine Fragmentierung produziert. Bolivars Körper wird nicht mehr als einheitliche Inkorporation der Macht (wie beim König) aufgefasst, sondern als ein gespaltener Zeichenträger (Körper des Souveräns und leidender Körper) dargestellt, aus dem bestimmte Affekte (Begehren und Sexualität) entfliehen. Aus der von ihm gebildeten Spalte entsteht das begehrende Ereignis (vgl. Punkt 3.6.2 dieser Arbeit). Neben dieser Auffassung kann Bolivars leidender Körper auch als eine Metonymie der lateinamerikanischen Geschichte verstanden werden. Einst war Lateinamerika als die "Neue Welt" bekannt (so nannte sie Pedro Mártir) und jetzt erkrankt und veraltet es. Bolivars Körper trägt die Spuren, die Narben einer nicht erreichten vereinenden Freiheit des Subkontinents. Dieser fiktionale Bolívar repräsentiert ein "Gedächtnis des Willens" im Sinne von Nietzsches Genealogie der Moral (s. dazu Assmann 1999: 245 ff.), denn viel mehr als die biographische Erfahrung eines einzelnen Individuums trägt dieser Körper die kulturelle Schrift einer Welt, die sich im ständigen Kampf befindet. Es handelt sich um ein Körper-Gedächtnis und nicht um eine Körper-Erinnerung. Der Unterschied liegt prinzipiell darin, dass die KörperErinnerung - im Gegensatz zu dem Körper-Gedächtnis - nicht ständig präsent ist. Die erste muss erst zurückgeholt werden, um aktualisiert zu werden; das zweite dagegen wird verkörpert. Der alte Bolívar wird auf diese Weise die Körperschrift einer kulturell eingeschriebenen Welt. Wie stark sich die gesundheitlichen Zustände von Amerika und Bolívar ähneln, ist aus einem offenen und ehrlichen Gespräch deutlich zu entnehmen, das der fiktionale Bolívar und José María Carreño über den tatsächlichen Zustand ihres Vaterlandes fuhren: 'Bueno, pero al menos allá es la patria', dijo [Carreño]. 'No seas pendejo', dijo el general. 'Para nosotros la patria es América, y toda está igual: sin remedio'. [...] 'No delires más, Carreño', le dijo. 'Esto se lo llevó el carajo'. (García Márquez 1989: 172)
In gleicher Weise geht es weiter, als Bolívar im glorreichen Cartagena de Indias ankommt und feststellt, wie viel die Stadt von ihrem damaligen Glanz aufgrund der Unabhängigkeitskriege eingebüßt hat. Cartagena ist nicht einmal ein Schatten dessen, was es früher war; mit einem melancholisch-wütenden Ton flüstert Bolívar seinem Freund Montilla zu: '"¡Qué cara nos ha costado esta mierda de independencia!'" (ibd.: 176). Waren die ersten Schriften über die Neue Welt darum bemüht, den Eroberten als den (menschlich/biologisch) Anderen zu charakterisieren, invertiert sich dieser Diskurs in den transversalhistorischen Romanen. Diese Texte beabsichtigen nicht mehr, Lateinamerika als das einfach Andere darzustellen, sondern verweisen in erster Linie auf einen Subkontinent, der kulturell in der "Alten Welt" eingeschrieben ist und der bestrebt ist, seine in beiden Welten erlangte Andersheit zum Ausdruck zu bringen. Der veraltete Körper Bolivars signalisiert metonymisch die Geschichte einer Welt,
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die nicht mehr als die Neue bezeichnet werden kann. Die so entfaltete Geschichte schreibt sich in einer Figur ein, die wie kaum eine andere die Freiheitsbestrebungen Lateinamerikas verkörpert, mit dem einzigen Unterschied, dass die neue jene alte Geschichte nicht löscht, sondern sie in der Art eines durchsichtigen Palimpsests ergänzt: Sie ist immer noch unsere Geschichte, aber nicht mehr die gleiche. 4.6 Der andere Bolívar Bolívar und José Palacios können auf den ersten Blick einem berühmten literarischen Paar entsprechen: Don Quijote und Sancho Panza. Dieser Vergleich scheint legitim, denn dadurch zeigt sich deutlich ein Teil der Hybridisierung im Roman. Der fiktionale Bolívar ist, wie Don Quijote auch, ein anderer Held, der ebenfalls unter Visionen und Wahnvorstellungen leidet. Dennoch unterscheiden sie sich darin, dass Bolivars Abenteuer nicht erst vor ihm liegen und dass er sie auch nicht direkt suchen oder erfinden muss. Beim fiktionalen Bolívar liegen seine (Helden)Taten nicht nur in der Vergangenheit, sondern sie stammen von ihr, vor allem in Form von Erinnerungen; sie ereignen sich in einer diachronischen Reise, die gleichzeitig Bolivars letzte Reise auf dem Rio Magdalena wiedergibt.36 Diese wird eine ziellose Reise ins Jenseits dieser Welt und der Gegenwart, ins Nirgendwo ("viaje sin fin hacia ninguna parte", García Márquez 1989: 171), die jedoch unweigerlich mit dem Tod enden wird. Merkwürdig bei dieser Reise ist allerdings, dass es sich hierbei um eine handelt, die Bolívar und José Palacios bereits vor Jahren unternommen haben. Eine Reise, die metaphorisch auch als eine Suche nach dem verlorenen Ich verstanden werden könnte. Aber sie ist mehr, diese Reise findet auf mehreren Ebenen statt, um am Ende nur einer Art zu sein: Sie ist eine rhizomatische Bewegung in der Zeit, dem Möbiusband ähnlich, bei dem die bedeutungsgelösten Kategorien Anfang/Damals und Ende/Heute der erlebten Begebenheiten ständig vom Erzähler oder von José Palacios auf metafiktionale Weise in einer neuen Kartographie aktualisiert werden. Eines von vielen Beispielen stellt Bolivars Bewusstwerden über sein vorzeitiges Greisenalter dar: Der Erzähler berichtet darüber, dass Bolívar Blut erbrochen habe, als er vom Mord am Mariscal Sucre erfuhr; 37 gleich im nächsten Abschnitt kehrt der Erzähler in die Vergangenheit beider Figuren zurück und sagt: "Una noche como ésa, en Guayaquil, el general había tomado conciencia de su vejez prematura" (García Márquez 1989: 193). Durch die Kontiguität dieser Sätze kann der Autor dem impliziten Leser einen Eindruck von Parallelität der Handlungen vermitteln, womit auch die Zeitkategorie ihre definitorischen Markierungen verliert: Damals und Heute werden nicht synthetisch
36
Carlos Rincón (1992: 179) bezeichnet den Rio Magdalena als ein "símbolo unido a la experiencia vital del narrador, su experiencia de la nacionalidad c o m o comunidad imaginaria".
37
Das Erbrechen von Blut deutet darauf hin, dass Bolivar wahrscheinlich an Tuberkulose erkrankt war und daran starb.
Kapitel IV
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aufgehoben, aber können gegeneinander ausgetauscht werden. Dieses Textverfahren markiert das Werden von Bolívar. Neben der Hauptfigur begegnet der implizite Leser im Roman einer Art Schatten von Bolívar: José Palacios, sein untergebener Diener und der einzige Mensch, der den tatsächlichen Zustand Bolivars kennt und der sogar weiß, was der Libertador denkt und tut, auch wenn er das Gegenteil behauptet: '"Lo que mi seftor piensa, sólo mi seftor lo sabe'" (ibd.: 22; 184). Ein Satz, der trotz aller erfahrenen Details über Bolivars Leben eine gewisse Unerreichbarkeit desselben vermuten lassen soll. Über einen treuen Begleiter und Diener hinaus stellt José Palacios ein Alter Ego von Bolívar dar, der vor allem durch seine Sprechweise verraten wird: José Palacios wendet sich Bolívar immer in der dritten Person Plural zu. Bolívar seinerseits imitiert auf ironische Weise die Sprache von José Palacios (ein metafiktionales Mittel des Autors, um auf diese Wechselbeziehung aufmerksam zu machen): Als er die Zustimmung für seine "pensión vitalicia" erhält, sagt er, '"Somos ricos'" (ibd.: 173); danach bekommt Bolívar den ersehnten Reisepass und ruft, '"Somos libres'" (ibd.) und zwei Tage später nach einem schlechten einstündigen Schlaf ist die Freude vorbei und er klagt: '"Somos tristes'" (ibd.). Fast unscheinbar verläuft dieser Passus im narrativen Textverfahren, dennoch ist er wichtig, weil er die zweite Form der Hybridisierung im Roman darstellt: Der fiktionale Bolívar ent-faltet sich und sein ironischer Ton, José Palacios imitierend, verrät, dass José Palacios eigentlich ein heuristisches Mittel ist, um die Alterität von Bolívar zum Ausdruck zu bringen. Das Andere von Bolívar artikuliert sich nicht nur durch das Ich-Bolivar des Romans, sondern auch durch das Ich-José-Palacios, und beide gemeinsam stellen die Sprache des fiktionalen Bolívar dar. Der eigentliche Bolívar ist deshalb ein anderer, weil er sich im Dazwischen beider Figuren befindet: Die sprachliche Artikulation des Anderen ist das Ich, aber damit der Andere gehört werden kann, muss er eine andere Stimme oder Identität annehmen und muss sich dadurch re-präsentieren, damit wird seine Darstellung antimimetisch und autoreferentiell. Das Ich und das Andere markieren in der différance das gleiche Subjekt, d. h. aus der Friktion zwischen dem fiktionalen Bolívar und José Palacios entsteht der marginalisierte Bolívar: das Andere des historischen Bolívar. José Palacios ist sein Supplement; er ist ein rückwärtsgewandter lazarillo, der Wortführer in seiner memoria, der ihm bei der Reorganisation seines Erinnerungsdiskurses hilft. Gleichzeitig ist es unerheblich für den Roman festzustellen, ob dieser Diener in dieser Form existiert hat. Eindeutig ist jedoch, dass José Palacios eine nicht dialogisierende, sondern hybridisierende Konstruktionsstrategie für die Repräsentation von Bolivars Andersheit ist. Sie wird verwendet, um zu zeigen, dass Bolivars Geschichte nur gespalten wiedergegeben werden kann. Der Roman bildet diese Spalte, aus der eine weder diffamierende noch glorifizierende, sondern dekonstruierende Geschichte entsteht.
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V. Vigilia del Almirante:
Übersetzung der Schrift und kulturelle Translation
Die neue dialektische Methode der Historik präsentiert sich als Kunst, die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die sich jener Traum, den wir Gewesenes nennen, in Wahrheit bezieht. (Benjamin 2 1998 [K I, 3]: 491. Hervorhebung R. C.) [...] [E]l viejo y manoseado cuento del primer viaje de Colón no ha sido relatado aún como es debido [...]. (O'Gorman 5 1996: 83).
Die Tagebucheintragungen von Kolumbus' erster Reise nach Westindien sind einige der ersten intertextuellen Referenzen, die diesem Roman zugrunde liegen. Nicht allein Kolumbus ist der Autor dieser Texte, sondern auch sein Sohn Hernando und der Dominikanerpater Bartolomé de Las Casas werden als mögliche "Koautoren" der Schriften Kolumbus' behandelt.1 Wenn die Schriften von Kolumbus, allen voran sein Diario de abordo, nicht nur einen, sondern mehrere Autoren haben, dann kann überspitzt gesagt werden, dass seine Texte übersetzt oder geschichtet sind. Vor diesem Hintergrund setzt der Roman Vigilia del Almirante diese Übersetzung mit Hilfe metafiktionaler Kommentare als ein Wieder- und Widerschreiben der Geschichte fort und vollzieht anhand von historischen und fiktionalen Daten eine kulturelle Translation, die das eigentliche Ereignis der Entdeckung darstellt. Bezüglich zweier historischer Werke, De causis corruptarum artium von Juan Luis Vives und De indis von Francisco de Vitoria, macht der Erzähler eine Aussage, die auf einer metafiktionalen Ebene für den Roman Vigilia del Almirante selbst gerade zutreffend ist: Vertidos al romance explicarían hoy, mejor que muchos libros de historia, las causas de la decadencia y caída del imperio de Indias al que la hazaña del Almirante dio nacimiento. (Roa Bastos 1993: 173. Hervorhebung R. C.)
Mit romance ist die Romanform (das Genre) und zugleich die Alltagssprache gemeint. Die Kritik an den traditionellen Geschichtsbüchern lässt sich nicht nur zwischen den Zeilen herauslesen. Die zitierte Textstelle lässt erahnen, welches Ziel möglicherweise Roa 1
Der Kolumbus-Experte Juan Gil ( 2 1995: 19) hält die von Hernando Colón geschriebene Historia del Almirante und die von Las Casas verfasste Historia de las Indias für "puntales básicos", auf denen die Kritik an Kolumbus' Tagebuch basieren muss. Im Fall von Vigilia del Almirante, als transversalhistorischer Romanen verstanden, schreibt der reale Autor allein einen Roman, wobei er dennoch auf einer metafiktionalen Ebene gleichzeitig erkennen lässt, welche Mittel er verwendet hat und vor allem, wie viele Autoren noch mitgeschrieben haben. Es handelt sich nicht mehr um eine "geniale" Leistung, sondern um eine transversal nomadische Intertextualität (Hybridität), die im Erzähler ihren Ausdruck und ihre Repräsentation findet. In diesem Romantypus wird sogar die Referenz Teil der Fiktion.
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Bastos mit diesem Roman verfolgt. Er möchte eine und nicht die Geschichte über Kolumbus schreiben, i. e. eine hybride Erzählung zwischen Realität und Fiktion schaffen: [...] [U]n relato de ficción impura, o mixta, oscilante entre la realidad de la fábulay la fábula de la historia. [...] una obra heterodoxa, ahistórica, acaso anti-histórica, anti-maniquea, lejos de la parodia y del pastiche, del anatema y de la hagiografía." (Roa Bastos 1993: 11)
5.1
Die Neue Welt des Kolumbus
Unter diesem Punkt stelle ich die Reise des historischen und des fiktionalen Kolumbus in Opposition zueinander, um damit aufzuzeigen, wie Roa Bastos in seinem Roman die Ankunft in der Neuen Welt, ihre Entdeckung, ihre Verdeckung und Erfindung darstellt. 5.1.1
Ankunft in der Neuen Welt
Die ersten schriftlichen Zeugnisse, die über einen fiir die Europäer unbekannten Weltteil berichten, finden wir in den Schriften Kolumbus', insbesondere in seinem Tagebuch. Als charakteristisch für dieses Buch kann, neben anderen Merkmalen, eine ausgeprägte Verwunderung über das Gesehene hervorgehoben werden, die prinzipiell in hyperbolischen Beschreibungen zum Ausdruck kommt. Das teilweise als naiv zu bezeichnende Erstaunen zeugt von der Unkenntnis Kolumbus' und tatsächlichen Überraschung bei seiner Ankunft in dieser geographischen Region: Alles ist schöner, aber auch anders als das für ihn bisher Bekannte. 2 Neben dem Sich verwundern konstatieren wir eine gleichzeitige Distanzierung vom Unbekannten, die sich, diskursiv verstanden, als eine koloniale Betrachtung bezeichnen lässt, jedoch nicht, weil in ihr die Differenzen zwischen dieser Region und Europa genannt, sondern weil die festgestellten Unterschiede als Abweichungen zum Bekannten nicht akzeptiert werden. Der reale Kolumbus versucht stets, eine Referenz zum europäischen bzw. afrikanischen Bekannten herzustellen; wenn ihm das nicht gelingt, wird die "neue Natur" einfach als nicht gleichwertig angesehen und die Bewohner der Neuen Welt werden gegenüber den Europäern als nicht ebenbürtige Menschen charakterisiert. Im Gegensatz zu dieser kurz aufgeführten Repräsentation stellt der Roman Vigilia del Almirante eine gegendiskursive Variante dessen dar, was mit der Zeit als die "Entdeckung Amerikas" bekannt werden wird. Die Entdeckung Amerikas, oder besser gesagt: Kolumbus' erste Reise nach Westindien, wie sie im Roman beschrieben wird, wird in meiner Analyse als ein Ereignis im Sinne von Deleuze bezeichnet, bei dem die Andersheit nicht geographisch oder auf der Ebene der Natur festgelegt, sondern auf einer metafiktionalen Ebene explizit problematisiert wird und sich als eine kulturelle Aneignung 2
Ein Beispiel unter vielen betrifft die Landschaft, die immer als einmalig und außergewöhnlich schön beschrieben wird: "Crean Vuestras Altezas que es esta tierra la mejore más fértil y temperada y llana que aya en el mundo" (Colón 2 1995: 119).
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und Rekodifizierung von verschiedenen Diskursen äußert. Um so bemerkenswerter ist Roa Bastos' Betrachtung, insofern er in seinem Roman auf ähnliche Weise wie Kolumbus verfahrt: Von Anfang an werden beide Reisen - von Kolumbus und von Roa Bastos - von der Schrift geführt und mit ihr wird das Gesehene simultan erfunden. Im Roman generiert sich das Ereignis, im Sinne von Deleuze verstanden, durch den SchriftLektüre-Prozess, den der implizite Leser anhand der enthaltenen metafiktionalen Hinweise mitgestaltet (s. dazu Punkt 5.1.3 weiter unten). Im Folgenden gehe ich zuerst auf die Darstellung der Entdeckung im Tagebuch des historischen Kolumbus ein. Den Einschränkungen seiner "Wissens-Ordnung" (Frank 1984:196) gemäß schreibt Kolumbus ein Tagebuch über seine erste Reise nach Westindien unter dem Epistem der Ähnlichkeiten. Bei seiner Ankunft auf der Insel Guanahani (von Kolumbus "San Salvador" unbenannt) werden Land und Leute mit Fahnen und einem offiziellen Schreiber auf eine stark symbolisierte Weise für die kastilischen Könige und den Katholizismus in Anspruch genommen bzw. für sie "gewonnen", wie der Tagebuch-£>zaWer (Las Casas) zu berichten weiß: El Almirante llamó a los dos capitanes y a los demás que saltaron en tierra, y a Rodrigo d'Escobedo escrivano de toda la armada, y a Rodrigo Sánches de Segovia, y dixo que le diesen por fe y testimonio cómo él por ante todos tomava [...] possessión de la dicha isla por el Rey e por la Reina sus señores, [...] como más largo se contiene en los testimonios que allí se hicieron por escripto. [...] 'Yo', dize él, 'porque nos tuviesen mucha amistad, porque cognos?í que era gente que mejor se livraría y convertiría a nuestra sancta fe con amor que no por fuerza' [...]. Ellos deven ser buenos servidores y de buen ingenio, que veo que muy presto dizen todo lo que les dezía. Y creo que ligeramente se harían cristianos, [...] levaré de aquí al tiempo de mi partida seis a Vuestras Altezas para que deprendan fablar. [...] [...] [E]sta gente es muy simple en armas, como verán Vuestras Altezas [...] cuando mandaren puédenlos todos llevar a Castilla o tenellos en la misma islas captivos, porque con cincuenta hombres los terná todos sojuzgados, y les hará todo lo que quisiere. (Colón 2 1995: 110; 111; 113)
Aus dem Zitat ist zu entnehmen, dass sich der historische Kolumbus als Träger des katholischen Glaubens versteht.3 Deshalb hinterließ er in jedem neuen Ort ein Kreuz, wie
3
Für Kolumbus ist es wichtig hervorzuheben, dass er sich offiziell zum Katholizismus bekennt, weil es Unterstellungen oder Vermutungen gab, die ihn verdächtigten, converso oder nicht cristiano viejo zu sein. Seine betont offizielle Bekenntnis zum Katholizismus scheint berechtigt zu sein, weil er unter Beichtgeheimnis dem Fray Juan Buril während seiner Reise gesteht,judlo converso zu sein: "[don Luis de Santangel] conoce mi origen judio que me viene resbalando en la sangre de abuelo desde hace siglos" (Roa Bastos 1993:204). Für den literarischen Kolumbus gibt es keinen Ausweg als diese Bekenntnis, weil, wie er sagt, die Heilige Inquisition alles weiß (vgl. ibd. 203). Zum Verhalten von Kolumbus bezüglich seines Glaubens s. weiter unten Punkt 5.2.2.
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im Eintrag vom 16. November festgehalten wurde: "Porque en todas las partes, islas y tierras donde entrava dexava siempre puesta una cruz [...]" (Colón 2 1995: 138).4 Die "entdeckten" Einwohner werden des Weiteren wegen ihres Verhaltens vom realen Kolumbus als Feiglinge und aufgrund ihrer "unterentwickelten" Waffen als einfaltig dargestellt, so dass sie - nur wegen dieser Merkmale? - gewiss gute Arbeiter für die Könige wären. In der Eintragung vom 16. Dezember berichtet Kolumbus: [...] [S]on todos desnudos y de ningún ingenio en las armas y muy cobardes, [...] y así son buenos para les mandar y les hazer trabajar y sembrar y hazer todo lo otro que fuere menester [...]. (Colón 2 1995: 164)
Die zitierten Stellen zeigen den typischen Ton der Schriften Kolumbus'. An ihnen können die ersten Macht-Zeichen der Entdeckung festgestellt werden: Die Bewohner der Insel müssen nicht nur sprechen lernen ("para que deprendan fablar"), sondern die zu lernende Sprache muss die des "Entdeckers" sein, denn ihre eigene Sprache wird als solche nicht anerkannt. 5 Weil diese nicht verstanden wurde, erkannten die Reisenden sie nicht als eine gleichberechtigte Sprache an. Wahrscheinlich wurde von ihnen in der Tat vieles nicht verstanden, obgleich sich in mehreren Eintragungen des Logbuches andeutet, dass sie wohl auf irgendeine Weise miteinander kommunizieren konnten. Die ersten Einwohner, die Kolumbus bei seiner Ankunft mit auf sein Schiff einlud, dienten ihm bei den Besuchen der angrenzenden Insel als "Übersetzer". Interessant ist jedoch, dass die Übersetzer sich mit den Spaniern zwar kaum verständigen konnten, Kolumbus aber aus dem wenigen Verstandenen erschließt, dass jene ihn und seine Mannschaft als Himmelsentsandte angesehen hätten. Wir wissen nicht, was die Einwohner tatsächlich gedacht haben, aber solch eine Vorstellung wird ihnen immer wieder zugeschrieben, wie der Erzähler des Tagebuchs berichtet:
4
In diesem Zusammenhang wird der reale Kolumbus im Roman direkt kritisiert und der Erzähler bezeichnet ihn als einen Kreuzfahrer, als "Caballero Cruzado" einer "weltlichen Trinität": Para este Caballero Cruzado, la Gloria celestial de Dios [...] está indisolublemente ligada, fundida, confundida con el poder de la Trinidad terrestre del oro, la espada y cruz [ . . . ] que él mismo asentará en las tierras que llegue a descubrir y someter. (Roa Bastos 1993: 177. Hervorhebung R. C.)
5
Die Überheblichkeit, mit der Kolumbus anmerkt, dass die Inselbewohner sprechen lernen sollen, ist bemerkenswert; zumal nicht einmal er selbst des Spanischen vollkommen mächtig war, wie Juan Gil ( 2 1995: 31) hervorhebt: Como es sabido, el gran navegante no se expresa de manera correcta en ningún idioma. En su castellano se encuentran portuguesismos claros [...]. [...] [CJuando escribe en italiano no deja de incurrir en groseras faltas [...]. Y aun hay que contar sin duda con algún que otro catalanismo. [... ] [E]ste marino estaba acostumbrado a chapurrear en mil lenguas sin lograr expresarse bien en ninguna.
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[...] los indios qu'el Almirante traía, que eran los intérpretes, [...] creían que venían del cielo y que los reinos de los Reyes de Castilla eran en el cielo y no en este mundo. (Colón 2 1995: 163)
Die Prädisposition von Kolumbus, ein unbekanntes Land nicht sehen zu können, hängt mit den präfigurierten Vorstellungen und dem Ziel seiner Reise zusammen, nämlich das Reich des Großen Khans im Osten auf der westlichen Route zu erreichen. So verwundert es nicht, dass er bei seiner Ankunft auf der Insel Cuba diese mit Cipango verwechselt. Am Rande der Eintragung vom 30. Oktober vermerkt Las Casas, dass die Einwohner die besagte Insel "Cubanacan" nannten und dass die Mannschaft von Kolumbus dieses Wort in Verbindung mit dem "Gran Can" gebracht hat (vgl. Las Casas apud Colón 2 1995:128, Fn. 55). Die Überzeugung, in Ostasien angekommen zu sein, zwingt Kolumbus dazu, nur das zu sehen und zu hören, was er will. Vor diesem Hintergrund trägt er in sein Tagebuch am 11. Dezember ein, dass er bereits von den Einwohnern häufig das Wort "Caniba" gehört hat und deduziert daraus, dass dieses Wort eigentlich nichts anderes als die Bezeichnung für die Leute vom Großen Khan sein könne:"'[...] como otras vezes dixe [...] Caniba no es otra cosa sino la gente del Gran Can, que debe ser aquí muy vecino [•••]"' (Colón 21995: 158).6 Es wurde bereits erwähnt, dass Kolumbus unter dem seiner Zeit entsprechenden Epistem schrieb. Seine Haltung dem Neuen gegenüber kann dementsprechend auch als eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kategorien verstanden werden: Finden-Entdecken / Verdecken-Erfinden ::: Sehen-Wissen / Macht Da Kolumbus "neue" Orte findet, wird behauptet, dass er sie entdeckt. Weil aber diese Orte seinen Vorstellungen nicht entsprechen, verkennt er sie, i. e. er verdeckt sie, was wiederum eine Haltung ist, die letztlich zur Erfindung und zur Bemächtigung des Gesehenen fuhrt. 5.1.2
Entdeckung und Verdeckung der Neuen Welt
Die Referenzen über das von ihm aufzusuchende Land hat der reale Kolumbus aus verschiedenen Büchern entnommen: aus Pierre d'Ailly (Imago Mundi), Marco Polo (Die Wunder der Welt), John Mandeville {Travels) und aus einer von Paolo del Pozzo Tosca-
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Die erste Allusion auf vermeintliche "caníbales" ist in der Eintragung von 11. Oktober 1492 zu finden: Yo vide algunos que tenían señales de feridas en sus cuerpos, y les hize señas qué era aquello, y ellos me amostraron cómo allí venían gente de otras islas que estavan acerca y les querían tomar y se defendían. (Colón 2 1995: 111. Vgl. auch ibd., Note 33. Hervorhebung R. C.)
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nelli gezeichneten "Weltkarte".7 Wo die vom realen Kolumbus benutzten Originale geblieben sind, ist nicht bekannt, sie gelten - wie andere seiner Dokumente - als verschollen. Diese Tatsache bleibt vom Erzähler des Romans Vigilia del Almirante nicht unkommentiert und er zögert auch nicht, den Sohn Hernando der Verschleierung zu verdächtigen, vor allem weil er Zugang zu allen Originalen und zur Bibliothek des Vaters hatte: Han desaparecido de los archivos [la carta y el mapa de Toscanelli] y no es difícil adivinar qué fue de ellos bajo el celo encubridor de su hijo y albacea Fernando que trabajó con el mismo celo encubridor y en ocasiones despellejador de su progenitor. (Roa Bastos 1933: 71. Hervorhebung R. C.)
Diese Vermutung, die möglicherweise eine Erklärung für das Verschwinden der Dokumente liefert, wird vom Erzähler des Romans gegeben. Vom fiktionalen Kolumbus erfahren wir allerdings, dass er sowohl den Brief als auch die Landkarte kopierte und zurückgab, jedoch die Originale bei sich behielt: Me ocupé de buscar la carta y el mapa, hasta que los encontré. [...] En pocos días los retorné a su legajo, una vez copiados en mi Libro de Navegaciones. Devolvía las copias, no los originales, en las que por supuesto omití los datos que podían revelar las pistas de la exploración a los entremetidos y curiosos de la corte, (ibd.: 138)
Auch dieses Libro de Navegaciones gilt, wie die anderen Bücher von Kolumbus, bis heute als verloren oder, wie der Erzähler von Vigilia del Almirante sagt, "flotan en la retórica ambigua y ambivalente del dominico Las Casas y del hijo archivero Hernando, sus copistas y restauradores" (Roa Bastos 1993: 163). Diese Bemerkung trifft auch auf den Roman von Roa Bastos zu und deutet daraufhin, dass die Schriften Kolumbus' nicht nur einen Autor haben, sondern das Ergebnis von Veränderungen des Wiederschreibens sind: [...] Pedro Mártir de Angleria [...] me elogiará oblicuamente en sus Décadas del Orbe Nuevo. Contará en ellas mis hazañas del Descubrimiento como si las hubiese vivido él mismo. [•••]
7
Vgl. dazu besonders Kap. VI-IX in Hernando Colón ( 3 1985:62-76) und Gil/Varela ( 2 1995). Diese und andere Autoren werden im Roman auch als Quellen erwähnt, vgl. Roa Bastos (1993: 44). Obwohl Marco Polos Buch eine der wichtigsten Grundlagen fur Kolumbus' Reise bildet, äußert der Kritiker Juan Manzano Zweifeln darüber, ob Kolumbus dieses Buch tatsächlich so gut kannte. Er kommt zu der Schlussfolgerung, dass Kolumbus seine Information über Ostasien eher aus der Karte von Toscanelli bezogen haben muss: ¿Fue Colón quien aportó en Santa Fe los informes contenidos en la obra de Marco Polo? Creemos que no. [...] estas noticias [...] sobre las tierras asiáticas y el gran Emperador oriental procedían sin duda alguna [...] de la carta de Toscanelli a Martins y no del Libro de Viajes de Marco Polo. (Manzano 1976: 182-183)
Kapitel V
153
El dominico Las Casas y mi hijo Hernando rescribirán a su modo todos estos papeles borroneados de sudor y de mar. Pondrán en ellos cosas que no han sucedido o que han sucedido de otra manera [...]. [Hervorhebung R. C.] Luego acudirán cronistas, nautas sapientes de los archivos, cosmógrafos, doctores de la Santa Iglesia, novelistas de segundo orden, a deshacer con sus trujamanerías lo por mí no hecho, lo por mí no escrito; a inventarme fechos y fechas por los que nunca he pasado, (ibd.: 183).
Weitere Einflüsse und Anregungen für seine Reise erhielt der historische Kolumbus bei der Lektüre von Seneca (Medea) und Plinius dem Älteren {Historié). Drei Gründe, die Kolumbus zu seiner "Entdeckung" gefuhrt und ihn in seinen Annahmen über einen okzidentalen Weg nach Westindien bekräftigt haben sollen, zählt sein Sohn Hernando auf: [...] ,[L]as causas que movieron al Almirante al descubrimiento de las Indias, digo que fueron tres, a saber: fundamentos naturales, la autoridad de los escritores y los indicios de los navegantes. (H. Colón 3 1985: 62)
Infolgedessen ist der historische Kolumbus nur diese Referenzen zu sehen bereit. Während er alles andere ignoriert, beginnt damit eine von ihm vermutlich ungewollte Verdeckung der Neuen Welt. Die Neue Welt wird ihm vorenthalten bleiben, weil er sie nicht kennt oder nicht erkennen kann und will. Explizit wird die Verdeckung Kolumbus' erst 500 Jahre später im Roman von Roa Bastos ausgedrückt: Después de dar vuelta al mundo de su propia ausencia descubrió sin saberlo un mundo real pero lo encubrió en seguida con el mundo de su obsesión, de su ambición. [...] Su destino es saber y no saber. Descubrir y encubrir. (Roa Bastos 1993: 160; 161. Hervorhebung R. C.)
Der historische Kolumbus ist noch in jener Region gefangen, "in der die' Dinge' und die 'Wörter' noch nicht getrennt sind, wo die Weise des Sehens und die Weise des Sagens auf der Ebene der Sprache noch eins sind" (Foucault 5 1999:9). Dieser Kolumbus befindet sich, anders gesagt, in einem Signifikant-Signifikat-Käfig, der ihm daran hindert, das Neue wahrzunehmen: Für ihn entspricht das Geschriebene dem Gesehenen; das heißt, es besteht eine untrennbare Korrespondenz zwischen Schrift und Welt, zwischen Wort und Realität. Sein Ziel, seine Anstrengungen, sein Begehren richten sich ausschließlich darauf, jene imaginären Räume zu finden, über die er genügend gelesen und die er als wahre, lokalisierbare Orte aufgefasst hat.8 Bei dem fiktionalen Kolumbus ist der Glaube an die Schrift ohnehin stark ausgeprägt: 8
An dieser Stelle möchte ich auf das Buch der englischen Historikerin Frances Wood (1996) verweisen, in dem sie die tatsächliche Ankunft Marco Polos in China in Frage stellt. Neben vielen Problemen bei der Feststellung eines originalen Buches von Marco Polo - es soll zwischen 143 und 150 Handschriften geben (s. ibd.: 64) - spricht Wood von einem "Ghostwriter" (Messer Rusticianus oder Rustichello, ibd.: 58), der Marco Polo zum Aufschreiben seiner Geschichten aufgefordert habe. Was "das Ghostwriting betrifft", soll Rustichello sogar "die Figur Marco Polos erfunden haben" (ibd.: 219, Note 1).
154
Vigilia del almirante [...] del poco dormir y del mucho leer se le secó el celebro con el que celebraba esas maravillas. [ . . . ] Asentósele de tal modo en la imaginación que era verdad todo el aparato de aquellas soñadas invenciones [de Marco Polo], que para él no había otra historia más cierta en el mundo. Podría decirse que enloqueció de oír y leer historias contadas [...] él podía ir pasándolas poco a poco a la realidad. Y esto sin ser historiador ni poeta. (Roa Bastos 1993: 150. Hervorhebung R. C.) [...] [É]l lo anotaba todo con su fe ciega en la escritura [...]. (ibd.: 281. Hervorhebung R. C.)
Aufgrund seines Glaubens an die Schrift versucht der reale Kolumbus während seiner Reise, die gefundenen Orte an seine eigenen Vorstellungen und sein Wissen anzupassen. Am 29. Oktober 1492 findet er Knochen von einem Tier und nimmt an, sie seien von einer Kuh: "[...] dize que deve aver vacas en ella y otros ganados, porque vido cabeceas en güeso que le parecieron de vaca" (Colón 2 1995: 127). Die Knochen sollen vermutlich von einem Manati stammen, ein für Europäer unbekanntes Tier. Da das Neue noch nicht beschrieben ("entdeckt") worden ist, kann er es auch nicht kennen, deshalb identifizierte er ein Manati zuerst mit einer Kuh und dann - am 16. November - mit einem Schwein (obwohl sich dieses Tier im Wasser befand!): "Pescaron también con redes y hallaron un pefe, [...] que p a r e j a proprio puerco, no como tonina [...]" (ibd.: 139). Ähnlich verhält es sich mit der für das Abendland unbekannten Kartoffel, die flir ihn wie eine Art Möhre mit dem Geschmack von Kastanien ist und zur Brotherstellung geeignet scheint. Am 16. Dezember schreibt er diesbezüglich:"[...] na?en unas raízes como 9anahorias, que sirven por pan y rallan y amassan y hazen pan d'ellas [...] son muy sabrosas: proprio gusto de castañas" (ibd.: 163).9 Mit dieser Haltung zwingt Kolumbus dem Neuen eine alte Lektüre der Welt auf, und obwohl es ihm bewusst ist, dass es sich nicht um Schweine, Kühe oder Kastanien handelt, verdeckt er seine Unwissenheit, indem er dem Neuen seine Andersheit verweigert. Der reale Kolumbus würde wahrscheinlich diese Einstellung nicht zugeben, zumindest nicht in seinem Tagebuch. Die Tatsache, dass solche Verwechslungen bestanden, gibt Roa Bastos die Möglichkeit, in Vigilia del Almirante diese Lücke auszufüllen und die Verdeckung aufzudecken. Im Gegensatz zum historischen Kolumbus äußert sich im Roman ein Historiker - "partidario de la 'verdad' científica en libertad" (Roa Bastos Folglich ist Marco Polo auch eine literarische Konstruktion, die von einer weiteren literarischen Figur (der fiktionale Kolumbus von Roa Bastos) als Referenz verwendet wird. Ob Marco Polo in China ankam oder nicht, ist für die Analyse von Vigilia del Almirante nicht von direkter Relevanz, viel wichtiger scheint die Tatsache, dass Marco Polos Reise auch eine literarische Erfindung, i. e. eine Fiktion ist, womit das charakteristische Wieder- und Widerschreiben der Geschichte in diesem Roman eine weitere Dimension erreicht. 9
Auf ähnliche Weise ändert Kolumbus bei seiner Ankunft die realen Namen in die Namen der von ihm aufgesuchten Regionen um. So zum Beispiel sagt er zu Jamaika "Janahica" und assoziert es mit dem von Marco Polo erwähnten "Jana Chica" bzw. "Jaua Minor" (vgl. dazu Colon 2 1995: 485, Note 4).
Kapitel V
155
1993: 59) - in einem Gespräch mit dem Erzähler sehr deutlich über die Verdeckung der Neuen Welt: [...] [E]l Almirante, no es más que el precursor del Encubrimiento [...]. Si aseguró después haber descubierto las Indias Occidentales, tampoco descubrió nada pues no hizo sino superponer en ellas las del Oriente. [El Almirante] transportó el Cathay, el Cipango y otras posesiones del derrocado Rey de Reyes a las Antillas mayores y menores, (ibd.: 60. Hervorhebung R. C.)
Bislang habe ich lediglich eine der von Kolumbus praktizierten Verdeckungsstrategien bei seiner Ankunft im vermeintlichen Westindien dargelegt. Noch eine Verschleierung von Tatsachen betrifft das "Betrügen" seiner Mannschaft bezüglich der wirklich befahrenen Seemeilen. In seinem Tagebuch berichtet Kolumbus offen darüber,10 dass er gegenüber seiner Besatzung eine geringere Zahl der befahrenen Seemeilen zugibt, als sie tatsächlich zurückgelegt haben, in der Hoffnung, dass er damit möglichen Unruhen an Bord vorbeugen kann, denn aufgrund der langen Reise war seine Mannschaft ungeduldig geworden. 11 Die falsche Aufzählung der zurückgelegten Meilen wird auch vom fiktionalen Kolumbus im Roman praktiziert (vgl. Roa Bastos 1993:229); sein Kompass zeigt keine Himmelsrichtung, sondern nur Kolumbus' Willen: "La aguja de la brújula no señala el Norte magnético sino la voluntad del Almirante" (ibd.). Sowohl der reale als auch der fiktionale Kolumbus führen eine doppelte Aufzählung, eine wird mündlich, die andere schriftlich bekannt gegeben, und beide verdecken das wahre Wissen über das Ziel der Reise. Diese Tatsache wird vom Erzähler des Romans nicht ohne Ironie und Wortspiele (real = wirklich und königlich) kommentiert: La doble contabilidad registrada en el Diario de a bordo establece la distancia real que será sometida a la realeza. La otra, que acorta el camino recorrido, es la distancia irreal, fingida en la escritura del cuaderno, [...] falsificada en la obsesión del Almirante, (ibd.: 226)
Eine weitere Verdeckungsstrategie betrifft die These, die besagt, dass es vor Kolumbus' erster Reise einen Vorentdecker, i. e. einen "piloto desconocido" gegeben haben soll. Diese Behauptung stellt eine der "episodios más significativos del fenómeno de 'encubrimiento' del Orbe Nuevo, encubrimiento que iba a proseguir sistemáticamente a lo largo de quinientos afios" (ibd.: 66) dar. Der fiktionale Kolumbus von Roa Bastos, im Gegensatz zu seiner Mannschaft, kennt diese These und verrät seine Kenntnis darüber vorläufig nicht. Dass es eine zu entdeckende Neue Welt gibt, lässt er erst erkennen, als er sich über seine unerfahrene Besatzung äußert: "Infelices don nadies que se han lanzado contra su voluntad a descubrir un nuevo mundo que no saben si existe" (ibd.: 16). Die anderen Reiseteilnehmer wissen es nicht, aber Kolumbus fahrt explizit Richtung Westen, um ei-
10
Vgl. hierzu die Eintragungen im Kolumbus' Tagebuch von 10. bis 19. September (Colon 2 1995: 100-102) und die Aufzählung gefahrener Meilen, die Manzano (1976: 294) erklärt.
11
Manzano (1976: 295) zeigt den 6. Oktober 1492 als den ersten Tag auf, an dem ein "incidente grave del primer viaje" stattgefunden hat. Gemeint ist die erste Meuterei an Bord.
156
Vigilia del almirante
nen unbekannten Kontinent zu entdecken:"[...] me embarqué rumbo al continente ignoto y lejano" (ibd.: 40. Hervorhebungen R. C.). Der Historiker Juan Manzano ist davon überzeugt, dass der reale Kolumbus nicht alle Information nur aus den bereits erwähnten Büchern extrahiert hatte. In seinem umfangreichen Buch Colón y su secreto beschreibt Manzano (1976) ausführlich seine These über einen "piloto anónimo",12 der dem historischen Kolumbus entscheidende Hinweise über die Existenz von Land auf der anderen Seite des "mar Tenebroso" gegeben haben soll. So stammen beispielsweise Kolumbus' Kenntnisse über die Windund Wasserströmungen aus den Ausführungen dieses anonymen Piloten: Procedían, sin duda alguna, de los informes que le había dado años antes el piloto anónimo, que, desviado por esos vientos y corrientes, llegó, sin él pretenderlo, a las playas de la orilla opuesta del mar Tenebroso. Ignorando el camino por donde tendrían que regresar a la Península, los supervivientes de la derrotada carabela debieron sufrir penalidades sin cuento hasta encontrar vientos favorables para regresar, logrando aportar, al fin, a la isla Madera, donde encontraron a Colón, al cual informaron de todas las incidencias de su pasado periplo. (Manzano 1976: 379. Hervorhebung R. C.)
Laut Manzano konnte sich der reale Kolumbus anhand dieser Information so über den Weg zurück nach Spanien versichern. Hinzu kommt, dass aus dem Erzählen von Martin Vicente, Pilot des portugiesischen Königs, Kolumbus erfahrt, dass fremde Körper ans Land gespült wurden: "[...] un madero ingeniosamente labrado, y no con hierro" (H. Colón 3 1985, Kap. IX: 72). Und vom Schwager seiner Frau, Pedro Correa, hört Kolumbus, dass sogar "dos hombres muertos, cuya cara y traza era diferente de los de sus costas" (ibd.) gefunden wurden.13 Mit diesen Aussagen muss für den historischen Kolumbus die These des "piloto desconocido" - dass auf der Höhe der Azoren für die Rückreise günstige Wind- und Wasserströmungen herrschten - plausibel erschienen und an Kraft gewonnen haben. In Vigilia del Almirante wird die Theorie des anonymen Piloten explizit aufgegriffen und als eine Tatsache akzeptiert. Roa Bastos insinuiert keinesfalls, dass diese Theorie eine Legende sei, wie es Hernando Colón tut. Im Gegensatz dazu berichtet der Erzähler ausführlich über mehrere Chronisten (Gonzalo Fernández de Oviedo, Francisco López de Gomara, Bartolomé de las Casas und Pedro Mártir de Angleria), denen die Existenz eines anonymen Piloten bekannt war:
12
Roa Bastos (1993: 320) bedankt sich ausdrücklich u. a. bei diesem Historiker, der ihm mit genanntem Buch die reale Existenz "del predescubridor" bestätigt hat.
13
Für Hernando Colón ( 3 1985, Kap. IX: 71 f.) stellen diese gefundenen Sachen lediglich "fábulas y novelas que [Colón] oía contar a diversas personas" dar. Es handelt sich für Hernando Colón um Lügen, deren Ziel es ist, "disminuir el honor y la gloria del Almirante" (ibd. Kap. X: 77). Im Gegensatz dazu und nach Ansicht des Historikers Juan Manzano spielten für Kolumbus die "troncos de árboles, plantas y otros objetos extraños, e incluso cadáveres" die Rolle legitimer Hinweise für die Existenz von "tierras pobladas en la orilla opuesta del mar incógnito" (Manzano 1976: 379).
Kapitel V
157
[...] [L]os cronistas clásicos [...] verifican que el protonauta anónimo no fue un personaje ficticio y que existió realmente, acaso con más fuerza que el propio Almirante. (Roa Bastos 1993: 62. Hervorhebung R. C.)
Allerdings übernimmt der Erzähler des Romans die Information über einen anonymen Piloten nicht unkritisch. Er stellt sie auch in Frage und reiht sie gleichberechtigt neben alle anderen Chroniken ein. Paradoxerweise relativiert der Erzähler die Textdarlegungen über eine vermeintliche Vorentdeckung, nachdem er alle Chroniken gelesen hat. Seine Schlussfolgerung ist, dass die großen Entdeckungen posthum gemacht werden: "Los grandes descubrimientos nacen postumos" (Roa Bastos 1993:54). Demzufolge insinuiert er die Möglichkeit der Konstruktion der Geschichte, und mit einer anschließenden Bemerkung bekräftigt er seine Auffassung über die Hauptvertreter historischer Ereignisse: "Forman primero su leyenda: De ellas surgen, andando el tiempo, como personajes fabulosos. O desaparecen sin que quede memoria dellos" (ibd.). Zwischen Kolumbus und dem anonymen Piloten sind im Roman Ähnlichkeiten feststellbar (beide sterben arm, krank und unbekannt), so dass der fiktionale Kolumbus als dessen Doppelgänger verstanden werden kann. Weil er das Geheimnis vom okzidentalen Weg nach Westindien bewahren muss, fühlt sich Kolumbus als der wiedergeborene Piloto desconocido: Estaba yo al lado del Piloto desconocido. Murió él y yo [Colón] creí alzarme con su secreto; es decir con su vida. Pero después ocurrió que el Piloto, invisible ahora, se convirtió en mi perseguidor furtivo. [...] Me persigue a todas partes como mi doble, doblándome, sobrepasándome siempre, como si [...] ese Piloto muerto, fuera mi propio ser el que me sigue como una sombra. [...] me precede. [...] Mi pacto con el Piloto es de otro orden. [...] Darse el uno al otro la palabra. Y en ella, el código secreto de una cita [...]. (ibd.: 134; 135. Im Orig. kursiv.)
Die "Wiedergeburt" als fiktionaler Kolumbus muss weitgehend als eine kulturelle Inskription aufgefasst werden, die sich in andere Figuren einschreibt und diese bedingt oder präfiguriert. Diese Präflguration geschieht nur anhand der Schrift'. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem anonymen Piloten, dem realen und fiktionalen Kolumbus und Don Quijote/Do« Quijote}* Zugespitzt gesagt, sind sie im Roman Figuren auf einer Möbiusschleife, die sich gegenseitig generieren. Sie sind ihre eigenen Vorgänger (precursores). Für den Romanerzähler bestehen die Ähnlichkeiten zwischen dem anonymen Piloten und Kolumbus auch darin, dass ihre Existenzen einen Hauch von Irrealem haben. Dennoch möchte diese Situation keinen Grund für die Vermutung geben, dass es hierbei um die Vermittlung einer Unwahrheit geht; der "Piloto anónimo" ist lediglich [...] otro fantasma más, su existencia real ha sido desvanecida por el halo de su leyenda y ésta, a su vez, fue dando paso a una historia no menos nebulosa pero acaso no menos real que la del propio Almirante [...]. 14
Vgl. hierzu die Graphik am Ende von diesem Kapitel.
158
Vigilia del almirante Y los indicios que se han ido acumulando lejos de desautorizar han confirmado la historia como leyenda y la leyenda como historia. (Roa Bastos 1993: 55; 57. Hervorhebung R. C.)
Mit diesem metafiktionalen Passus wird die von Romanciers und Historikern benutzte Erzählstrategie als gleichberechtigt eindeutig aufgedeckt. Der Erzähler verdeutlicht, dass sowohl der anonyme Pilot als auch der reale Kolumbus im Roman zwei historisch gleichwertige Figuren repräsentieren, weil die (Re-)Konstruktion ihrer jeweiligen Geschichten den Geschichtswissenschaftler und/oder den Romanautor vor gleiche bzw. ähnliche Schwierigkeiten stellt. Für den Erzähler bilden sowohl literarische als auch historische Texte "géneros mixtos de ficción" (ibd.: 68), womit er eine postmoderne Meinung teilt, 15 die beide Textsorten angleicht: [...] Los historiadores son de hecho "restauradores" de hechos. A partir de documentos reales fabrican la ficción de teorías interpretativas semejantes a las "historias" [...]. (ibd. Hervorhebung R. C.)
Die Unterscheidung zwischen dem realen Kolumbus und dem (wahren oder erfundenen) anonymen Piloten bezüglich ihrer verifizierbaren Wahrhaftigkeit steht für den Erzähler von Vigilia del Almirante nicht zur Diskussion. In seiner metafiktionalen Funktion problematisiert dieser vielmehr die Schwierigkeiten, die eine historische (Re)Konstruktion darstellt, und indem er das bereits erwähnte Phänomen der Verdeckung deutlich ausdrückt (das 46. Kapitel des Romans heißt sogar "Descubrimiento = Encubrimiento"), nimmt er eine ent-deckende Funktion an, die nicht "die Wahrheit" über die Entdeckung des Kontinents verkündet, sondern eher seine diskursive Konstruktion offen legt. In diesem Zusammenhang nennt der Erzähler den Jesuiten Bartomeu Meliá, Beschützer der paraguayischen und brasilianischen Einwohner, einen der ersten, die von einem "Encubrimiento" statt "Descubrimiento" des Kontinents sprachen: Meliá, antropólogo, lingüista, humanista, fue uno de los primeros en calificar el descubrimiento como encubrimiento. (Roa Bastos 1993: 284) [... ] En Guanahaní (y aun mucho antes) comienza el encubrimiento del continente que iba a llamarse América y de las sociedades indígenas que un día vendrían a ser "descubiertas". No sólo el Almirante, con el fanatismo de un iluminado, traslada y pone sobre ellas como una inmensa alfombra mágica regiones enteras del Oriente asiático, (ibd.: 283. Hervorhebung R. C.)
Dieses Zitat verdeutlicht eine "postkoloniale" Position in Bezug auf das charakteristische Konstrukthafte des Anderen. Die "Anderen" per se gibt es nicht, sie ergeben sich lediglich aus einer Konstruktion, ganz im Sinne von Edward Said, wenn er von der Erfindung des Orients spricht. 16
15
Vgl. dazu Kapitel I und II dieser Arbeit.
16
Said zufolge ist das Wissen über den Orient das, was den Orient erfindet:
159
Kapitel V 5.1.3
Die Erfindung der Neuen Welt
Wie bereits erwähnt, überträgt Kolumbus sein Wissen vom Orient auf den für ihn unbekannten Kontinent und erfindet somit gezielt einen "neuen Orient". Mit dieser (absichtlichen) Verwechslung oder Verkennung des "Neuen/Anderen" fangt die bis in unsere Zeiten anhaltende Exotisierung der Neuen Welt an. Die Erfindung des "Anderen" stellt einen wiederkehrenden kulturellen Prozess dar, der durch die Opposition von Bekanntem (Eigenem) und Unbekanntem (Fremdem) eine identitätsbildende Funktion annimmt. In diesem Zusammenhang und in Bezug auf den Orient sagt Edward Said, dass jede Epoche ihre "imaginierten Anderen" geschaffen hat: [...] I say that words such as "Orient" and "Occident" correspond to no stable reality that exists as a natural fact. Moreover, all such geographical designations are an odd combination of the empirical and imaginative. [Hervorhebung R. C.] [...] Each age and society re-creates its "Others". Far from a static thing then, identity of self or of "other" is a much worked-over historical, social, intellectual, and political process that takes place as a contest involving individuals and institutions in all societies. (Said 1995: 331; 332)
Ende der 50er Jahre stellt der Historiker Edmundo O'Gorman eine ähnliche These auf. Wie Said in den späten 70er Jahren in Bezug auf den Orient, so geht O'Gorman davon aus, dass Amerika eine diskursive Erfindung (invención) des Abendlandes ist.17 Amerikas Existenz fängt weder bei der Entdeckung an, noch bleibt sie bestehen, als Kolumbus vor seiner zweiten Reise steht,18 denn wie O'Gorman sagt:
Knowledge of the Orient, [...] in a sense creates the Orient, the Oriental, and his world. [...] the Oriental is contained and represented by dominating frameworks. (Said 1995: 40. Im Orig. kursiv.) 17
Der Begriff "Erfindung" (invención) ist fundamental für das Geschichtsverständnis des Historikers O'Gorman, da er ihm erlaubt, die Geschichte als einen ontologischen Prozess von historischen Wesen zu konzipieren und nicht als einen Prozess, der a priori diese Wesen voraussetzt (vgl. O'Gorman 5 1996: 9). Die "Entdeckung" Amerikas gilt im allgemeinen als eine Voraussetzung zur Konsolidierung seiner Konzeption als Kontinent und markiert zugleich seinen Eintritt in den kulturellen Bereich des Abendlandes. Diese Tatsache wird traditionellerweise nicht hinterfragt und erlangt somit ungehindert den Status eines "historiographischen Dogmas" (ibd.: 15). Dabei handelt es sich nur um eine mögliche Interpretation eines Ereignisses, die keinesfalls die einzig mögliche ist. Kolumbus hat 1492 Amerika entdeckt, so lehrt es uns die Geschichte. Zwar war Kolumbus auf einer "Entdeckungsreise", aber nicht, um neue Länder zu erkunden. Er wollte lediglich einen anderen Weg zu einem bereits bekannten Ort (Asien) finden und auf keinen Fall einen Kontinent "entdecken", von dem bis dato niemand etwas wusste. Für O'Gorman handelt es sich bei der "Entdeckung Amerikas" in summa um eine "[....] idea acerca de lo que se sabe que aconteció" (ibd.: 16. Im Orig. kursiv.).
18
"[Colón] [e]stá a punto de emprender su segunda travesía y sin embargo aún no se ha descubierto ninguna América. [...] América todavía no existe". (O'Gorman 51996: 94)
160
Vigilia del almirante Colón [...] vive y actúa en el ámbito de un mundo en que América, imprevista e imprevisible, era en todo caso, mera posibilidad futura, pero de la cual, ni él ni nadie tenía ¡dea, ni podía tenerla. [...] Los viajes de Colón no fueron, no podían ser "viajes a América", porque la interpretación del pasado, no puede tener [...] efectos retroactivos. (O'Gorman 5 1996: 79. Im Orig. kursiv.)
An dieses Zitat anschließend lässt sich der Roman von Roa Bastos als eine rückwirkende Interpretation bezeichnen, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart mit einbezieht. Der Roman stellt deshalb auch eine diskursiv-gefaltete Geschichte dar, insofern sich der fiktionale Kolumbus für seine Reise nach denselben Autoritäten richtet, die seinem historischen Vorbild/Vorgänger gedient haben. Ergänzend dazu verfugt er über weitere Informationen: über jene, die ihm der "Piloto desconocido" auf seinem Sterbebett anvertraut hatte. Hinzu kommt noch, dass der fiktionale Kolumbus bereits Uber eine breitere literarische Tradition als sein realer Vorgänger verfugt. Diese gibt ihm eine zeitlich versetzte Einstellung und befähigt ihn, die Sachen auch anders sehen zu können, wie später Gracián empfehlen wird: Las cosas no son como las vemos y sentimos sino como queremos que sean vistas, sentidas y hechas. N o hay engaño en el engaño sino verdad que desea ocultar su nombre. [...] Sólo mirándolas del revés se ven bien las cosas de este mundo, diría después con gracia el Gracián. (Roa Bastos 1993: 16-17. Hervorhebung R. C.)
Im Roman wird nicht explizit über eine Erfindung Amerikas gesprochen. Diese ist nur eine Schlussfolgerung, die der implizite Leser anhand der erkannten, transversalen Vertextungsverfahren ziehen kann. Am deutlichsten zeigt sich, dass der fiktionale Kolumbus gerade Amerika neu definiert bzw. erfindet, wenn wir vom Erzähler im Roman erfahren, dass der reale Kolumbus an der Schwelle zweier unterschiedlicher Zeiten schwebt. Er befindet sich an der Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance: [...] este hombre de todas partes y de ninguna como puente entre dos edades. Lleva el alma quebrada por la mitad: una parte de ella permanecerá enterrada en el sombrío Medioevo; la otra, apuntará hacia el recién nacido Renacimiento [...]. (ibd.: 158-159)
Für den fiktionalen Kolumbus haben sich die Epochen ausgedehnt und er befindet sich nicht mehr nur zwischen Mittelalter und Renaissance. Seine Stellung in Raum und Zeit umfasst nicht nur Lateinamerika und Spanien, sondern die gesamte abendländische Kultur (Lateinamerika inklusive) bis in unsere Tage,19 wie die Verweise auf verschiedene Autoren, von Seneca, Alighieri über den Inca Garcilaso bis hin zu Rulfo und Borges belegen.20 Dem Erzähler ist bewusst, dass die Veränderbarkeit unserer Urteile ständig von
19
Einer der Beweise dafiir, dass der Erzähler aus der Perspektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts schreibt, ist die Erwähnung von Aids im Roman (Roa Bastos 1993: 85).
20
Die Allusionen auf zeitgenössische Autoren wie Rulfo und Borges befinden sich gefaltet im Roman. Sie sind ihm kulturell aufgepfropft. Beispielsweise werden die Figuren Juan Preciado und Pedro Páramo von Rulfo explizit im Kapitel XI erwähnt:
Kapitel V
161
der Perspektive abhängt, von der aus berichtet wird. Deshalb liegt die Position des fiktionalen Kolumbus einfach im (deleuzianischen) Dazwischen. Seine Reise hat demzufolge eine zweifache Ausrichtung, die, trügerisch wie die Realität, nicht eindeutig zwischen Fiktion und Faktum entscheiden lässt: [...] [L]o real y lo irreal cambian continuamente de lugar. Por momentos se mezclan y engañan. Nos vuelven seres ficticios que creen que no lo son [...]. Este viaje se dirige al mismo tiempo a dos destinos diferentes. (Roa Bastos 1993: 19; 214. Hervorhebung R. C.)
Diese Einstellung verdeutlicht, dass die Wiedererfindung von Amerika legitim ist: Der Kontinent wird kulturell weiter zu entdecken, zu erfinden und zu konstruieren sein. Bei seiner Wiedererfindung geht Roa Bastos nicht mehr von einer substantialistischen Darstellung der Neuen Welt, sondern von einer diskursiven Konstruktion aus, die durch das explizite Einbetten des Romans in einem dritten Ort zwischen Geschichte und Fiktion zustande kommt. Das heißt, durch das dekonstruierende Vertextungsverfahren (Deterritorialisierung und Reterritorialisierung) werden im Roman unterschiedliche Interpretationen möglich, die zugleich als Fluchtlinien für die Erfindung und (Re)Konstruktion des Kontinents aufgefasst werden können: Amerika wird somit wiederentdeckt (erfunden) worden sein, denn die "Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung" (J. Assmann 4 2002: 48. Hervorhebung R. C.). Weil der Roman die verschiedenen Thesen über die Reisen von Kolumbus nicht nur diskutiert, sondern das Schreiben der Geschichte als einen unendlichen Prozess versteht, ist die Reise (die Erfindung) des fiktionalen Kolumbus noch nicht beendet:
Cuando Juan Preciado, hijo bastardo de Pedro Páramo, pasó a las Yndias y anduvo buscando por esas tórridas regiones del Mal el alma de su padre [...] (Roa Bastos 1993: 83). Der Erzähler hat diese Figuren aus dem Roman Pedro Páramo von Rulfo deterritorialisiert, um sie in einem erfundenen "Manual del Perfecto Inquisidor, de Pedro Páramo" (ibd.) zu reterritorialisieren, das wiederum im verschollenen Libro de las Profecías vom realen Kolumbus zitiert wird. Zuletzt werden diese beiden inexistenten Bücher (Manual und Libro) im Roman Vigilia del Almirante genannt, was dem impliziten Leser den Hinweis auf Ähnlichkeit mit den Vertextungsverfahren von Borges gibt, der mit besonderer Akribie inexistente Bücher erfindet und sie wie reale Dokumente behandelt. Einen weiteren Verweis auf Borges ist in der Beschreibung von "Yucahuaguamá, el ídolo supremo de los nativos tainos" (ibd.: 209) zu finden. Yucahuaguamá ist ein heiliger Vogel, dessen Gehirn wie das Aleph in Borges' gleichnamiger Erzählung funktioniert. Dieser Vogel wird dem anonymen Piloten vorgeführt und er muss seinen Blick auf den offenen Vogelschädel richten. In dessen Innerem ist kein Gehirn zu sehen, sondern nur "un pequeño espejo ovalado" (ibd.: 211). Darin kann der Pilot die Sterne der Nacht sehen und danach die "turbamulta de muchos hombres vestidos de hierro que parecían bajar del cielo pero que en realidad desembarcaban de grandes galeones" (ibd.). Eine Szene, die unterschiedliche Zeiten gleichzeitig erfasst, findet sich auch in "El Aleph" von Borges.
162
Vigilia del almirante Treinta y tres días [...] han pasado desde que las naves soltaron amarras en el puerto de Palos. [...] Treinta y tres días. O meses, o años, o siglos. Cinco siglos, para ser exactos. Y los que continuarán mientras dure la historia [...]. (Roa Bastos 1993: 223)
5.2 Die Wiedererfindung von Kolumbus Unter diesem Punkt möchte ich verschiedene Facetten untersuchen, die zur Konstituierung des fiktionalen Kolumbus fuhren können. Zweifel an der Identität des realen Kolumbus beschränken sich nicht nur auf die Variationen seines Eigennamens oder seiner Unterschrift. Diq Autorität seiner überlieferten Texte wird unter zwei anderen Schreibern geteilt: dem Dominikanerpriester Bartolomé de las Casas und Kolumbus' Sohn Hernando, so dass am Beispiel von seinem Diario de abordo von einer geteilten bzw. kollektiven Autorität gesprochen werden kann. Das Logbuch des Kolumbus stammt nicht direkt von ihm, hierbei handelt es sich um eine Rekonstruktion, die der Dominikanerpriester anhand von Kolumbus' Notizen und der von Hernando geschriebenen Biographie über seinen Vater zusammengestellt hat. Demzufolge haben wir es mit einem "Original" zu tun, welches von mehreren Handschriften gekennzeichnet und beeinflusst ist und Anlass für eine Wiedererfindung des Kolumbus bietet.
5.2.1
Die Kon-Figuration von Kolumbus
Das Kapitel XXI von Vigilia del Almirante - mit dem metafiktional anmutenden Titel "Fragmentos de un biografía apócrifa" - lässt den impliziten Leser erahnen, dass die hier zu findenden biographischen Daten von Kolumbus den wahren Daten desselben nicht entsprechen werden. Diese Tatsache ist dennoch irrelevant, da es sich um eine erfundene Figur handelt, die nach den Kriterien wahr oder falsch nicht beurteilt werden kann. Den Anfang dieses Kapitels stellt die Variation eines der bekanntesten Sätze spanischsprachiger Literatur dar, der zugleich als eingeschriebener topos bezeichnet werden kann: "En un lugar de la Liguria de cuyo nombre no quiere acordarse, nació hará una cuarentena...." (Roa Bastos 1993: 141). Die Kontiguität zu Don Quijotes Anfang ist so offensichtlich, dass sie sogar ironisch wirkt. Deshalb stellt sich für den impliziten Leser die Frage: Wer ist eigentlich dieser Kolumbus? Seine Identität und sein Leben sind so verschwommen, dass sie nur fragmentarisch und apokryph rekonstruiert werden können, wie der Erzähler meint. Dies scheint der Grund dafür zu sein, dass die bekannten (wahren oder erfundenen) Daten seines Lebens in Roa Bastos' Roman einen Anlass zu einem Signifikantenspiel geben, in dem Kolumbus "jeder beliebige Kolumbus" gleichzeitig sein kann. Diese Daten haben nicht mehr primär eine informative Funktion, sondern sind vielmehr Zeichen eines sich selbst erweiternden Systems. Die Manipulation biographischer Daten wurde als narratives Verfahren von Roa Bastos in seinem Roman nicht erfunden, sie lässt sich bereits in der von Ko-
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lumbus' Sohn Hernando zwischen 1537 und 1539 geschriebenen Historia delAlmirante feststellen.21 Bemerkenswert ist jedoch, dass auch das Originalmanuskript dieser Geschichte verschollen ist, eine Tatsache, die verschiedene Meinungen bezüglich der Autorität des Werkes aufwirft. Die Urteile über die Historia del Almirante schwanken zwischen absoluter oder partieller Akzeptanz der Authentizität des Textes und dessen Autor einerseits, und zwischen partieller Akzeptanz einiger Kapitel des Textes und der Aberkennung der Autorität von Hernando andererseits (s. ausführlicher dazu Arranz 1984: 29-31). Vor diesem historischen Hintergrund lässt sich behaupten, dass Roa Bastos auf seine Art und Weise lediglich eine bereits etablierte - sowohl historiographische als auch literarische - Tradition fortsetzt. Der fiktionale Kolumbus ist "irgendwo in Ligurien" geboren und der Erzähler des Romans weiß zu berichten, dass sich Kolumbus an den genauen Namen seines Geburtsorts nicht mehr erinnern will.22 Wer will sich nicht mehr erinnern? Sowohl der historische Kolumbus als auch sein Sohn Hernando wollen seine Herkunft verdunkeln, und genau diese Haltung wird mit der literarischen Figur von Roa Bastos fortgefiihrt. Letztere unterscheidet sich vom historischen Kolumbus allein dadurch, dass sie keine einheitliche Figur ist, sondern eine literarisch entfaltete KonFiguration darstellt, die aus mehreren konstruierten Geschichten besteht. Der fiktionale Kolumbus ist eine mehrfach geschichtete figurale Darstellung, die in einem dritten Ort, in der Hybridität der Geschichte, Literatur und Philosophie sein Zuhause hat und dennoch (oder gerade aus diesem Grund) unhomely ist. Dem Satz im Roman, der einen ersten Hinweis zur Herkunft von Kolumbus gibt, folgt eine physische Beschreibung des Admirals, die sich an einem von ihm kurz nach seiner ersten Reise bemalten Porträt orientiert. Bemerkenswert ist in dieser Beschreibung aber, dass unmittelbar danach die Authentizität des Dargestellten in Frage gestellt wird: "Hay dudas sobre este retrato" (Roa Bastos 1993:141). Es wird bezweifelt, ob der Port-
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Kolumbus' Sohn Hernando schreibt eine durchaus subjektive Geschichte von seinem Vater aus dem einfachen Grund, dass er dessen Ruf und Rechte durch die langen Streitigkeiten, Diffamierungen und versprochenen Privilegien, die zum Teil aberkannt, beschnitten oder nicht erfüllt wurden, für seine Nachkommen in Gefahr sah. Hernando war auch unzufrieden mit den seinen Vater betreffenden Darstellungen anderer Historiker, vgl. diesbezüglich Luis Arranz ( 3 1985: 26 ff).
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Spekulationen über die wahre Herkunft von Kolumbus sind häufig, vgl. dazu J. Gil ( 2 1995: 3132, Note 49). Im ersten Kapitel seiner Historia berichtet Hernando Colón über die Absicht seines Vaters, seine genaue Herkunft nicht zu präzisieren - " [ . . . ] tanto más quiso que su patria y origen fuesen menos ciertos y conocidos" (H. Colón 3 1985:48) - , um damit seine nahezu heilige Bestimmung zu bekräftigen. Hernando zählt die Regionen auf, in denen der Geburtsort seines Vaters vermutet wird: [...] [D]icen que fue de Nervi; otros, que de Cugureo, y otros de Buyasco, [...] dicen que era de Savona, y otros que genovés; y aun los que más le suben a la cumbre, le hacen de Plasencia [...]. (ibd.) Abgesehen von "Plasencia" (Piacenza) sind alle im Zitat erwähnten Regionen Italiens tatsächlich "irgendwo" in Ligurien zu finden; folglich lügt der Erzähler von Vigilia del Almirante nicht.
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rätierte wirkl ich der historische Kolumbus ist. Der Erzähler berichtet darüber, dass einige Gelehrte behaupteten, der Abgebildete sei Martín Alonso Pinzón, welcher vom damaliger Maler Domenico Bigordi - Rodolfo Ghirlandaio genannt - für den wahren Admiral gehalten wurde. Sollte dieses Bild tatsächlich irgendwo erhalten sein - "[está] conservado o más bien se diría oculto en el Museo Naval de Génova" (Roa Bastos 1993: 142) wird es dem Erzähler zufolge vermutlich das Enigmatische um Kolumbus weiter verstärken. Ergo, der wahre Kolumbus ist unauffindbar, er kann lediglich durch die Schrift wiedererfunden werden. Dieser literarische Kolumbus stammt aus einer Zeit, in der das Denken und die Schrift fragmentarisiert sind, in der die Schrift nicht auf ein Telos gerichtet ist und in der die Signifikanten autoreferentiell sind. Mit der bewussten Veränderung der Namen verweist Roa Bastos darauf, dass seine Schrift sich von der traditionellen Kategorie RaumZeit getrennt hat, und dass es sich bei ihr um eine Re-Lektüre handelt, die sich im Schreibprozess konstituiert: Somit stellt das Tagebuch von Roa Bastos' Kolumbus einen Prozess des Wieder- und Widerschreibens der Geschichte dar. Die bewusste Veränderung der Geschichte kommt dann zustande, wenn der Autor Roa Bastos alle anderen mitbeteiligten Autoren (Kolumbus, Hernando Colón, Las Casas, José Manzano, u. a.) mitberücksichtigt und mit ihnen einen differenzierenden Bericht über die Reisen Kolumbus' gegen die bekannten Texte wider- und wieder schreibt. Dieser transversalhistorische Roman stellt nicht mehr nur die Reisen des Kolumbus nach Westindien dar, sondern vielmehr die zeitlose Reise Lateinamerikas in der Geschichte. Eine, die am besten anhand der Literatur zu bewältigen ist. Sie ist besonders gut geeignet, um eine veränderte Geschichte des Subkontinents in dem fluktuierenden Raum des Realen und des Fiktiven zu schreiben. Folgendes Zitat kann als Fundament des vorher Gesagten verstanden werden; es fungiert zugleich als eine metafiktionale Stelle für den Roman, der wie die Geschichte kein Ende hat: En este viaje no cuentan meses ni años, leguas ni desengaños, días naturales ni artificiales. Un solo día hecho de innumerables días no basta para finar un viaje de imposible fin. [...] Cinco siglos son demasiado cortos para saber si hemos llegado. [...] [...] [CJontemplo [...] este viaje al infinito que resume todos mis viajes, mi destino de noches y días en peregrinación. [...] Lo real y lo irreal cambian continuamente de lugar. Por momentos se mezclan y engañan. Nos vuelven seres ficticios que creen que no lo son. (Roa Bastos 1993: 18-19. Hervorhebung R. C.)
Kapitel V 5.2.2
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Die Namen von Kolumbus oder der schreibbare Kolumbus23
Um das Leben von Kolumbus, vor allem bezüglich jenes Bereiches seiner schriftlichen Notizen (Logbuch, Glossen, Postillen) schwebt eine Wolke von Ungewissheit und Ungenauigkeit, die nicht hundertprozentig (auch nicht kalligraphisch oder paläographisch) beseitigt werden kann. Zweifel an der Authentizität der Schrift Kolumbus' äußerte seinerzeit nicht nur Bartolomé de las Casas; sie bleiben bis in unsere Tage hartnäckig erhalten. Ungeachtet dessen soll dieser Zustand nicht den Eindruck erwecken, dass die Fälschungen gegenüber den erhaltenen "Originalschriften" Kolumbus' überwögen. Dagegen argumentiert der anerkannte Kolumbusexperte, Juan Gil (1995: 70), indem er eindeutig erklärt: "[...] las falsificaciones de los escritos del Almirante no abundan, [...] hay sí, ocultaciones, mixtificaciones y fantasmagorías, pero nunca fraudes documentales". Diese Voraussetzungen berücksichtigend läßt sich schlussfolgern, dass das Vorhaben, eine detailgetreue Geschichte über Kolumbus zu schreiben, derartige Implikationen einbeziehen muss und dass solch ein Unternehmen sich am besten in der sich bildenden Spalte zwischen Fiktion und Realität bewältigen lässt. Die Merkmale, die eine derartige Geschichte erfüllen muss, entgehen dem écriture-Verständnis von Roa Bastos nicht. Eine der vielen metafiktionalen Stellen des Romans thematisiert diesen Sachverhalt durchaus deutlich mit folgender Behauptung: ¿Cómo optar entre hechos imaginados y hechos documentados? ¿No se complementan acaso en sus oposiciones y contradicciones, en sus respectivas y opuestas naturalezas? ¿Se excluyen y anulan el rigor científico y la imaginación simbólica o alegórica? No, sino que son dos caminos diferentes, dos maneras distintas de concebir el mundo y de expresarlo. [...] [El lector es el] verdadero autor de una obra que él la reescribe leyendo, en el supuesto de que lectura y escritura, ciencia e intuición, realidad e imaginación se valen inversamente de los mismos signos. (Roa Bastos 1993: 57)
Der Erzähler fiigt noch hinzu: Las palabras y las frases que he robado de los libros, robadas a su vez de otros libros, están ahí, sobre los folios, vacías de su sentido original. [...] Un lector nato siempre lee dos libros a la vez: el escrito, que tiene en sus manos, y que es mentiroso, y el que él escribe interiormente con su propia verdad. La palabra escrita, la letra, es siempre robada porque nadie puede llegar al vacío que está antes de la palabra última-última-primera, después de la cual todas fueron palabras robadas y todas las que sigan serán palabras robadas hasta la última-última-última que sea escrita en el mundo. Irremediablemente. (Roa Bastos 1993: 132-133. Hervorhebung R. C.)
Diese Zitate erklären auf explizite Weise, wie die écriture des Romans zu verstehen ist: als eine Wechselwirkung zwischen dem schreibenden Lesen und dem lesenden Schrei23
Diese Bezeichnung wird im Sinne von Roland Barthes (1976: 8) verwendet und meint"[...] das, was heute geschrieben (neu geschrieben) werden kann: das Schreibbare". Beim schreibbaren Text geht es darum,"[...] aus dem Leser nicht mehr einen Konsumenten, sondern einen Textproduzenten zu machen" (ibd. Hervorhebung R. C.).
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ben. Das heißt, der Roman kann als eine Umsetzung des Schreibbaren von Roland Barthes verstanden werden. Am Beispiel der Art und Weise, in der Kolumbus seine Texte unterschreibt, läßt sich das Verfahren des Schreibbaren illustrieren. Ausgehend von Deleuze (1993) gibt es einen bestimmten Wissenstypus, der auf Beständigkeit und "Ruhepunkten" der Eigennamen gründet, weil diese ihm die Sicherheit einer deutlichen Identität geben, i. e. sie sind identitätsbildend: Denn der einzigartige oder der Eigenname wird durch die Beständigkeit eines Wissens gewährleistet. Dieses Wissen verkörpert sich in allgemeinen Namen, die Stillstände und Ruhepunkte bezeichnen, in Substantiven und Adjektiven, zu denen der eigene Name eine beständige Beziehung wahrt. So benötigt das persönliche Ich Gott und die Welt überhaupt. Wenn jedoch die Substantive und Adjektive sich zu verflüssigen beginnen, wenn die Namen der Stillstände und Ruhepunkte von den Verben des reinen Werdens mitgerissen werden und in die Sprache der Ereignisse hinübergleiten, verlieren das Ich, die Welt und Gott jede Identität. (Deleuze 1993: 17-18. Hervorhebung R. C.)
Genau dieses Flüssig-Werden des Eigennamens finden wir sowohl in der literarischen als auch in der "historischen" Figur des Kolumbus. An der Ungenauigkeit und den Variationen des Eigennamens einer ausgesprochen bekannten Figur können die sogenannten Übergänge oder Schnittstellen der hybriden Form eines transversalhistorischen Romans verdeutlicht werden. Diese Ungenauigkeit wird vom historischen Kolumbus selbst verursacht, da er seine Dokumente mit (kleinen) Variationen unterschrieben hat, was mitunter an der Authentizität derselben zweifeln lässt. Eine Tatsache, die wiederum die Möglichkeit eröffnet, eine größere Zahl von (autorisierten) Kolumbus-Figuren vor sich zu haben. Wenn der Eigenname oder die Unterschrift ein und derselben Person variiert, dann legen diese Variationen nahe, sie in verschiedenen Präsentationsformen zu finden oder haben zu können. Das heißt, ein und dieselbe Person kann gleichzeitig mehrere sein, womit der historische Kolumbus in die Nähe des literarischen Kolumbus rückt. Bartolomé de las Casas kommentiert folgendermaßen Kolumbus' Namen: Llamóse [sie] por nombre Cristóbal, conviene a saber Christum Ferens, que quiere decir traedor o llevador de Cristo, y así se firma él algunas veces. (apud Varela 21995: 83. Im Orig. kursiv.)
Dennoch unterschreibt der reale Kolumbus - vor allem in seinen letzten Texten - auf unterschiedliche Weise: Christo ferens. Demzufolge handelt es sich um eine (absichtliche?) Verwechslung zwischen Akkusativ und Dativ, die einen erheblichen Bedeutungsunterschied hervorruft: Vom Christum ferens (Christus tragend) ändert sich die Bedeutung zu Christo ferens (i. e. Christus bringend). Consuelo Varela ( 2 1995: 83) fragt sich, ob Kolumbus - "angesteckt" von der Situation der spanischen Juden im 15. Jahrhundert, die zwischen Emigration und christlicher Bekehrung wählen mussten - sich als eine Art Retter versteht: Contagiado por este movimiento ¿piensa Colón que la redención se encuentra cercana? y él mismo ¿se erige en el portador para Cristo de todos tos habitantes de las islas que al final del mundo irían a postrarse a Jerusalem [...]? (ibd. Hervorhebung R. C.)
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Eine deutliche Antwort auf diese Frage bietet der historische Kolumbus nicht, er begnügt sich mit seiner eigenen Darstellung als frommer Christ.24 Im Gegensatz dazu begreift sich der literarische Kolumbus nach der Vertreibung der Mauren und Juden aus Spanien als entschiedener Retter und Träger des katholischen Glaubens und erklärt damit die "Veränderung" seiner Unterschrift: Díjeles a la Reina Serenísima y al Católico Rey: ese Santo Sepulcro del Hijo de Dios es lo que España va a reconquistar como ha reconquistado su tierra de los moros y expulsado a los judíos, crucificadores de Cristo. Rescatar el Santo Sepulcro y ¡levar a Cristo a los infieles es lo que me propongo, dije. [Hervorhebung R.C.] [...] Con el anagrama de mi nombre y de mis títulos, yo firmaba Christum Ferens, el Portador de Cristo. Ahora, más humilde, sólo firmo: Christo Ferens, el que lleva para Cristo. ¿Qué es lo que llevo hacia EL? La extensión de la humanidad cristiana en las nuevas tierras. La propagación de la fe católica sobre la redondez del globo. (Roa Bastos 1993: 44)
Dass der historische Kolumbus solch ein erhabenes Selbstverständnis von sich hat, lässt sich einem von ihm in Jamaika geschriebenen Manuskript aus dem Jahre 1503 entnehmen. Dieser Text stellt den "Bericht" über seine vierte Reise (Relación del Cuarto Viaje) dar, und weil es auch eine italienische Version desselben gibt, ist sie auch als Lettera rarissima bekannt. Auf dieser vierten Reise aus dem Jahr 1502 wird Kolumbus von seinem Sohn Hernando begleitet, der zugleich als Chronist derselben fungieren wird. Dieses vierte Unternehmen ist durch Unglück und Pech gekennzeichnet: Kolumbus darf die Insel "La Española" nicht betreten; krank und fast blind erleidet er Schiffbruch vor Jamaikas Küste und ist gezwungen, hier ein Jahr zu verbringen.25 Im Bericht dieser vierten Reise Kolumbus' beklagt sich der Admiral über sein gemindertes "Ansehen", über die mangelnde Anerkennung und über die mangelhafte Erfüllung der ihm zugesagten königlichen Vergünstigungen und Unterstützung. Um an diesem Zustand Kritik üben zu dürfen, ohne dabei die Katholischen Könige zu beleidigen, verwendet Kolumbus ein rhetorisches Mittel, mit dem er sich wieder als einen Auserwählten Gottes darstellt, als jemanden, zu dem Gott im Traum spricht. Kolumbus stellt sich auf eine Ebene mit Moses26 und David und behauptet, dass Gott mit
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Vgl. dazu Kap. I von Hernando Colón ( 3 1985:48-49), in dem die Frömmigkeit seines Vaters ausdrücklich betont wird. Hernando erklärt seinen Vater als einen Auserwählten, das Wort Christi in die Neue Welt zu bringen.
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Bekannt ist dieser Text dank Diego Méndez de Segura, der das Manuskript und andere Briefe in einem Kanu von Jamaika nach La Española trug. Kolumbus sitzt noch im Jahr 1504 in Jamaika fest und wartet auf die Hilfe, die ihm Diego Méndez vom Gouverneur von La Española, Nicolás de Ovando, schicken sollte. Aus einem Brief von Kolumbus an Ovando erfahren wir:"[...] Todavía estoy apossentado en los navios que tengo aquí encallados, esperando el socorro de Dios y vuestro [...]" (Colón 2 I995: 505).
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In der Tagebucheintragung von 23. September findet sich eine eindeutige Allusion zu Moses: Pero después aleóse mucho la mar y sin viento, que los asombrava, por lo cual dize el Almirante: 'Así que muy nefessario me fue la mar alta, que no pareció
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ihm von Geburt an immer etwas Besonderes im Sinne gehabt habe: Er habe ihm Westindien und den Schlüssel zur Öffnung des verschlossenen Ozeans gegeben: [...] Una boz muy piadosa oí diciendo: 'O stulto y tardo a creer y a servir a tu Dios y Dios de todos, ¿qué hizo El más por Moysés o por David, su siervo? Desque nasestes, siempre El tubo de ti gran cargo. Cuando te vido en hedad de que El fue contento, maravillosamente hizo sonar tu nombre en la tierra. Las Yndias, que son parte del mundo tan ricas, te las dio por tuyas [...]. De los atamaientos de la mar Ocféana, qu'estavan ferrados con cadenas tan fuertes, te dió la llave; y fuestes obedecido en tantas tierras [...]. ¿Qué hizo El más al tu pueblo de Ysrael, cuando lo sacó de Egipto, ni por David, que de pastor lo hizo rey en Judea? [...] Los privilegios, cartas y promesas que da Dios todos los cumple con abantaje, y después de aver recibido el servicio acres