Der Tarifvertrag als exklusives Gut: Die rechtliche Zulässigkeit und Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln [1 ed.] 9783428518746, 9783428118748

Der Streit um die Zulässigkeit tarifvertraglicher Vorteilsregelungen zugunsten der eigenen Verbandsmitglieder durchzieht

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German Pages 415 Year 2005

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Der Tarifvertrag als exklusives Gut: Die rechtliche Zulässigkeit und Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln [1 ed.]
 9783428518746, 9783428118748

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 243

Der Tarifvertrag als exklusives Gut Die rechtliche Zulässigkeit und Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln

Von

Philipp Leydecker

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

PHILIPP LEYDECKER

Der Tarifvertrag als exklusives Gut

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 243

Der Tarifvertrag als exklusives Gut Die rechtliche Zulässigkeit und Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln

Von

Philipp Leydecker

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Hannover hat diese Arbeit im Wintersemester 2004 / 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 89 Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-11874-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der Streit um die Zulässigkeit tarifvertraglicher Vorteilsregelungen zugunsten der eigenen Verbandsmitglieder durchzieht die Arbeitsrechtsliteratur seit Anbeginn der Weimarer Republik. Auch heute noch handelt es sich bei diesen sog. Differenzierungsklauseln um eines der zentralen Probleme des Arbeitsrechts, das auch durch das Machtwort des Großen Senats des BAG im Jahr 1967 nicht geklärt werden konnte. Differenzierungsklauseln lassen sich unter den verschiedensten juristischen und gesellschaftlichen Blickwinkeln untersuchen. Die juristische Problematik betrifft dabei Rechtsbereiche, die von den Höhen des Verfassungsrechts bis hinab zu den vielfältigen Aspekten des einfachen Rechts reichen. Hinzu kommt die in der bisherigen Diskussion kaum beachtete völkerund europarechtliche Dimension. Konträr zu dem Raum, den die Differenzierungsklauseln in juristischen Abhandlungen einnehmen, führen diese Klauseln in ihrer praktischen Anwendung eher ein Randdasein. Im Mittelpunkt gewerkschaftlichen Strebens standen sie nie, als mögliche Option waren und sind sie aber stets gegenwärtig. Vereinbarungen der IG Metall im Jahr 2004 brachten die Differenzierungsklauseln zurück in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Welche Bedeutung die Differenzierungsklauseln in der gewerkschaftlichen Praxis insbesondere vor dem Hintergrund eines anhaltenden Mitgliederschwundes in Zukunft erlangen werden, bleibt abzuwarten. Die Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Hannover im Wintersemester 2004/2005 als Dissertation angenommen. An ihrem Zustandekommen waren viele Personen beteiligt, die mich auf unterschiedliche Weise unterstützt haben. Dank gebührt meiner Doktormutter Frau Prof. Dr. Ulrike Wendeling-Schröder. Sie hat das Thema der Arbeit angeregt sowie die Entstehung der Arbeit begleitet. Herrn Prof. Dr. Volker Epping danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens sowie die Unterstützung, die ich während der Tätigkeit an seinem Lehrstuhl erfahren habe. Ein besonderer Dank gilt meinem Lehrstuhlkollegen Sebastian Lenz, der mir während der Entstehung der Arbeit ein unermüdlicher Diskussionspartner gewesen ist. Mit seinem kritischen Blick des „fachfremden“ Öffentlich-Rechtlers hat er Anteil an vielen Überlegungen, die in das vorliegende Werk eingeflossen sind. Schließlich danke ich meinen Eltern, die durch ihre stete Unterstützung und Ermutigung viel zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Hannover, Mai 2005

Philipp Leydecker

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Die Problematik der Differenzierungsklauseln A. Der I. II. III.

21

Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtspolitische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die organisationspolitische Bedeutung der Differenzierungsklauseln . . . . . Der Tarifvertrag als kollektives Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 25 27 28

B. Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

C. Rechtliche Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normativer und schuldrechtlicher Teil des Tarifvertrages . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durchsetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gemeinsame Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 33 36 41

Kapitel 2 Differenzierungsklauseln in der Praxis

44

A. Differenzierungsklauseln vor und während der Weimarer Zeit . . . . . . . . . . . . . . .

44

B. Die Tarifpraxis in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Praktische Versuche zur Einführung von Differenzierungsklauseln . . . . . . . II. Die Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 29.11.1967 . . . . . . . . .

46 47 48

C. Auswirkungen der Entscheidung des Großen Senats des BAG . . . . . . . . . . . . . .

50

D. Differenzierungsklauseln im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

Kapitel 3 Grundrechtliche Argumentation A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Historische Entwicklung des Koalitionswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 59 61 62 63

8

Inhaltsverzeichnis 4. Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Diskussion im Hauptausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Differenzierungsklauseln im Hauptausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Logischer Schluss von der positiven auf die negative Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Spiegelbildtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Herleitung der negativen Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bedeutung der Spiegelbildtheorie für den Schutzbereich . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik an den Voraussetzungen eines logischen Schlusses selbst bb) Folgen einer Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit . . . (1) Ausufernder Schutzbereich und schrankenlose Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Entwertung der positiven Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Gleichrangigkeit von positiver und negativer Freiheit (b) Widerspruch zur objektivrechtlichen Funktion der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Entwertung der Drittwirkungsklausel des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Inkonsequenz bei der Bestimmung der Reichweite der negativen Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kein Schutz vor der Normwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Inkonsequenz beim Schutz vor öffentlich-rechtlichen Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Schutzbereichsbestimmung der negativen Seite . . . . . (b) Schrankenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Freiwilligkeit des Koalitionszusammenschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektiv-öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Problematik der Bestimmung der „Freiwilligkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Koalitionspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Vergleich mit den Landesverfassungen von Bremen und Hessen . . . . . 9. Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . 10. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansicht des BAG GrS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inhalt des Beschlusses vom 29.11.1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verallgemeinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69 69 74 76 76 76 76 78 79 79 81 82 86 86 89 90 92 92 93 93 96 97 97 99 100 102 103 103 107 108 110 111 111 111 111 114

Inhaltsverzeichnis b) Die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit in der weiteren Rechtsprechung des BAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ansicht des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kritische Würdigung des Beschlusses des Großen Senats des BAG aa) Kritik an der Rechtsprechung des BAG GrS . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unbestimmtheit der „Sozialadäquanz“ und des „Gerechtigkeitsempfindens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Inhalt der Sozialadäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Materialer Gehalt des Gerechtigkeitsempfindens . . . . (c) Beurteilung des Gerechtigkeitsempfindens ohne Tatsachengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Willkürliche Heranziehung des Gerechtigkeitsempfindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fehlende Quantifizierung (Divergenz zwischen BVerfG und BAG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) „Sozialadäquanz“ als grundrechtsdogmatischer Sonderweg (a) Schutz der Differenzierungsklauseln durch Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Lösung einer Grundrechtskollision . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einfache Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Rechtsprechung zu den Vorruhestandsregelungen und die Verantwortung der Gewerkschaften für die Situation der Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Gemeinwohlbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Gesamtrepräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Allgemeine Abstandsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit . . . (b) Höhe der Besserstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Allgemeine Tarifausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit . . . (b) Höhe der Besserstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhältnis von Art. 2 Abs. 1 GG zu Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit Art. 2 Abs. 1 GG . .

9

115 118 118 120 123 123 124 125 130 132 135 140 144 144 153 154 155 156 156 158

159 165 167 169 170 170 175 175 176 176 179 185 186 189

10

Inhaltsverzeichnis 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

B. Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten . . . . . . . . . . I. Einfache Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unmittelbarer Druck auf die Andersorganisierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz der Andersorganisierten durch ihre Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tarifausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtskollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Höhe der Besserstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Belastung“ der Andersorganisierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit als Indiz für zulässigen Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193 195 195 195 197 197 199 199

C. Beschränkung der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertragsfreiheit als Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Objektivrechtliche Vorgaben des Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204 205 206 209

201 203

D. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 I. Gleichbehandlungspflicht der Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 II. Gleichbehandlungspflicht des Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Kapitel 4 Überschreitung der Tarifmacht A. Innere Schranken der Tarifmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Tarifmacht für schuldrechtliche Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. TVG und außenseiterbetreffende Tarifklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begrenzung der schuldrechtlichen Tarifmacht durch die normative b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsumtion des Merkmals „Gewerkschaftszugehörigkeit“ . . . . . . . . 2. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Differenzierungsklauseln als Höchstarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz der Außenseiter durch das Günstigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . III. Fehlende Möglichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeinverbindlicherklärung von Differenzierungsklauseln . . . . . . . . a) Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit § 5 TVG . . . . . . . . . aa) Auswirkungen der AVE auf die Tarifklauseln . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausschluss der Differenzierungsklauseln von der AVE . . . (2) Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereichs durch die AVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zulässigkeit der AVE differenzierender Tarifverträge . . . . . . . .

216 216 216 219 220 223 228 229 229 231 232 236 239 239 239 240 240 241

Inhaltsverzeichnis

11

b) Verstoß gegen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Negative Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Pflicht zur Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verletzung durch die Tarifvertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . (2) Verletzung durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Koalitionspluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Möglichkeit zur AVE als Schranke der Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unzulässige Beitragserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gegnerunabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Schriftform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244 244 247 247 248 248 249 251 252 255 261 263

B. Äußere Schranken der Tarifmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verstoß gegen Treu und Glauben (Unzumutbarkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Förderung der gegnerischen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unzumutbarkeitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vergleichbare Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik an der Anwendung der Zumutbarkeit auf Tarifverträge . . . . . aa) Unzumutbarkeit im direkten Vertragsverhältnis . . . . . . . . . . . . . bb) Unzumutbarkeit beim Verbandstarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kritik an der inhaltlichen Ausfüllung der Zumutbarkeit . . . . . . . . . . 2. Zwang zur Änderungskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unzulässige Vertragsstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verpflichtung zur Differenzierung als (un-)zulässige Hauptverbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstandsklausel als Vertragsstrafe i. S. des § 344 BGB (analog) . . . . . . a) Charakterisierung der Abstandsklausel als Vertragsstrafe . . . . . . . . . b) Abstand als Strafe für die Gleichstellung aller Arbeitnehmer . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verstoß gegen § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgängernormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bindung des Arbeitgebers durch § 75 Abs. 1 BetrVG . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bindung der Tarifvertragsparteien durch § 75 Abs. 1 BetrVG . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sittenwidrige Beschränkung der Chance zum Vertragsschluss . . . . . . . . 2. Differenzierungsklauseln als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung . . V. Sittenwidrigkeit der Arbeitsbedingungen der Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . .

264 265 267 267 268 269 269 270 273 275 275 277 278 279 281 281 282 285 285 286 287 288 290 290 291 294 295

12

Inhaltsverzeichnis Kapitel 5 Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

299

A. Abwehrmaßnahmen des Arbeitgebers gegen einen Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . I. Aussperrung der Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tarifvertrag enthält auch Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tarifvertrag differenziert ausschließlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Betriebs- und Wirtschaftsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Differenzierungsklauseln als Ersatz für die Aussperrung von Außenseitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301 301 301 304 305

B. Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Tarifvertrag enthält auch Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einfache Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln . . . . . . . . . . . . 2. Tarifausschlussklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tarifvertrag differenziert ausschließlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Streikrecht der Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

310 310 311 312 314 317

308

C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Kapitel 6 Internationales Recht A. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit Art. 11 EMRK . . . . . . . . . 1. Allgemeine Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkte Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erstreikbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährleistung des Streiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gesetzesbegriff des Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Arbeitskampfrechtsprechung als Gesetz i. S. des Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geschriebenes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) § 823 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Arbeitskampfrechtsprechung als Gewohnheitsrecht . . . . . . (2) Exkurs: Weitere Anforderungen der EMRK . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320 321 321 321 324 325 325 327 330 331 335 336 336 337 340 340 342 343

B. Europäische Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

Inhaltsverzeichnis

13

I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit der ESC . . . . . . . . . . . . . . . 345 II. Erstreikbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 C. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 D. ILO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit den Übereinkommen der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 II. Erstreikbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 E. IPBPR/IPWSKR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit den UN-Pakten . . . . . . . . . II. Erstreikbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährleistung des Streikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

354 354 356 356 358

F. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

Kapitel 7 Gesamtergebnis A. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verletzung von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Tarifmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Arbeitskampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364 364 364 365 368

B. Konsequenzen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 I. Formulierungsvorschlag für eine Differenzierungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . 368 II. Gesetzliches Verbot von Differenzierungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

Kapitel 8 Ausblick

370

Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. Abschn. AcP AEMR AEntG a. F. AGAR AGB AiB AltersteilzeitG AMRK Amtl. Teil Anm. AOG AöR AP ArbG AR-Blattei ArbRGeg ArbuR ArbVG ArbZG ARS Art. AT Aufl. AVE BABl. BAG BAGE BAT BB BBiG Bd.

anderer Auffassung am angegebenen Ort Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz) alte Fassung Arbeitsgruppe Arbeitsrecht Allgemeine Geschäftsbedingungen Arbeitsrecht im Betrieb Altersteilzeitgesetz Amerikanische Menschenrechtskonvention Amtlicher Teil (des Reichsarbeitsblatts) Anmerkung Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsrechts-Blattei Das Arbeitsrecht der Gegenwart Arbeit und Recht Arbeitsverfassungsgesetz Arbeitszeitgesetz Arbeitsrechtssammlung (früher Bensheimer Sammlung) Artikel Allgemeiner Teil Auflage Allgemeinverbindlicherklärung Bundesarbeitsblatt Bundesarbeitsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bundes Angestelltentarifvertrag Betriebsberater Berufsbildungsgesetz Band

Abkürzungsverzeichnis Bensh. Samml. Beschl. BetrVG BGB BGBl. BGH BGHZ Bl. BPersVG bspw. BT-Drucks. BUrlG BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG CDU CFA CGM d. DAG DB ders. DGB d.h. dies. DIN Diss. Jur. DJT DM Dok.-Nr. DÖV DRdA Drucks. DVBl. ebd. EG EGBGB EGMR Einf.

15

Bensheimer Sammlung (später ARS) Beschluss Betriebsverfassungsgesetz Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, Amtliche Sammlung Blatt Bundespersonalvertretungsgesetz beispielsweise Drucksachen des Deutschen Bundestages Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) Bundesverfassungsgericht Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Christlich Demokratische Union ILO Governing Body Committee on Freedom of Association (Kommission für die Vereinigungsfreiheit) Christliche Gewerkschaft Metall des/der Deutsche Angestelltengewerkschaft Der Betrieb derselbe Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt dieselben Deutsches Institut für Normung Juristische Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Mark Dokumentennummer Die Öffentliche Verwaltung Das Recht der Arbeit Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt ebenda Europäische Gemeinschaft; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführung

16 Einl. EKMR El. EMRK Entsch. ErfK ESC etc. EU EuGH EuGRZ e. V. EzA EzAÜG f. FAUD FAZ ff. FG Fn. FR FS gem. GewO GG ggf. GmbH GMH GrS Grundl. GRUR GS GTB GWB HA-Steno

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung Europäische Kommission für Menschenrechte Ergänzungslieferung Europäische Erklärung der Menschenrechte Entscheidung Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht Europäische Sozialcharta et cetera; und so weiter Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift eingetragener Verein Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht Entscheidungssammlung zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz folgende (Seite); folgender (Paragraph) Freie Arbeiter-Union Deutschland Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende (Seiten); folgende (Paragraphen) Festgabe Fußnote Frankfurter Rundschau Festschrift gemäß Gewerbeordnung Grundgesetz gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gewerkschaftliche Monatshefte Großer Senat Grundlagen Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gedenkschrift Gewerkschaft Textil-Bekleidung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses 1948/49, Bonn: Scheur 1950 HA-Steno/Anlage Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucks. Nr. 850, 854). Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6.5.1949. Erstattet von den Berichterstattern des Hauptausschusses für das Plenum HdbStR Handbuch des Staatsrechts HdbVerfR Handbuch des Verfassungsrechts

Abkürzungsverzeichnis HGB Hrsg. Hs. IAGMR IAO i. d. F. i. d. S. IG ILJ ILO insb. IPBPR IPR IPWSKR i. S. d. i. S. v. i. V. m. JA JöR n. F. JurA JuS JW JZ KG LAG lit. MedR MünchArbR MuSchG m. w. N. n. F. NGG Nichtamtl. Teil NJW NJW-RR NLRA Nr. n. v. NZA NZA-RR NZfA

17

Handelsgesetzbuch Herausgeber Halbsatz Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte, San José Internationale Arbeitsorganisation (auch ILO) in der Fassung in diesem Sinne Industriegewerkschaft Industrial Law Journal International Labour Organization (auch IAO) insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte im Sinne des (der) im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart (neue Folge) Juristische Analysen Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht Landesarbeitsgericht litera Medizinrecht Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz) mit weiteren Nachweisen neue Fassung; neue Folge (Gewerkschaft) Nahrung, Genuss, Gaststätten Nichtamtlicher Teil (des Reichsarbeitsblatts) Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport National Labor Relations Act (Wagner Act) Nummer nicht veröffentlicht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht

18 o.V. ÖJZ OR ÖTV R RabelsZ RABl. RAG RdA RG RGBl. RGSt RGZ Rn. S. SAE Slg. s. o. sog. Sp. SPD StGB s. u. SZ TAZ TVG TVVO UFITA UN-AMR UNO UrhG

Abkürzungsverzeichnis

ohne Vorname Österreichische Juristen-Zeitung Obligationenrecht (Gewerkschaft) Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr Rückseite Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Reichsarbeitsblatt Reichsarbeitsgericht Recht der Arbeit Reichsgericht Reichgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer(n) Seite(n) Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen Sammlung von Entscheidungen, Gesetzen etc. siehe oben so genannte Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschland Strafgesetzbuch siehe unten Süddeutsche Zeitung Tageszeitung Tarifvertragsgesetz Tarifvertragsverordnung Archiv für Urheber- und Medienrecht UN-Ausschuss für Menschenrechte, Genf/New York United Nations Organisation Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) Urt. Urteil USA United States of America v. vom/vor Verf. Verfasser vgl. vergleiche Vorb. Vorbemerkung VRG Gesetz zur Förderung von Vorruhestandsleistungen vom 13.4.1984 VVdStRL Veröffentlichung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer WRV Weimarer Reichsverfassung WSI-Mitteilungen Monatszeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans Böckler Stiftung

Abkürzungsverzeichnis WVK ZAS z. B. ZESAR ZfA ZHR zit. ZTR

19

Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5. 1969 – Wiener Vertragsrechtskonvention Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht zum Beispiel Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht zitiert Zeitschrift für Tarifrecht

Kapitel 1

Die Problematik der Differenzierungsklauseln A. Der Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung Der Tarifvertrag stellt eines der wichtigsten Merkmale der gegenwärtigen Ordnung des Arbeitslebens dar. Das Hauptaugenmerk der Gewerkschaften liegt darauf, möglichst umfassend die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmerschaft mittels Tarifverträgen zu erfassen. Dementsprechend kommt dem Tarifvertrag eine große Bedeutung bei der Mitgliederwerbung zu. Der bloße Hinweis auf den Umstand, dass der Großteil der Tarifverträge gemäß § 3 Abs. 1 TVG nur für die Arbeitnehmer gilt, die Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sind, konnte allerdings nicht verhindern, dass die Gewerkschaften seit Jahren in organisationspolitischen Schwierigkeiten stecken. In diesem Zusammenhang sind die Differenzierungsklauseln zu sehen, durch die tarifliche Vorteile an die Organisationszugehörigkeit geknüpft und damit der Koalitionsbeitritt attraktiver gestaltet werden sollen. Seit 1992 nimmt der gewerkschaftliche Organisationsgrad nach einem kurzen wiedervereinigungsbedingten Aufschwung kontinuierlich ab. Mittlerweile ist nicht einmal mehr jeder dritte Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft.1 Hierdurch gerät das bezüglich der Gestaltung der Arbeitsbedingungen bestehende System in Gefahr. Ohne Mitglieder fehlen den Gewerkschaften die finanzielle Basis sowie die Streikbasis, die beide die Voraussetzung für die gewerkschaftliche Macht bilden. Das Fehlen einer ausreichenden Unterstützung durch die Arbeitnehmerschaft hat zur Folge, dass es den Gewerkschaften nur schwerlich gelingen kann, eigene Ziele bei der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen effektiv zu verfolgen. Zudem wird es immer zweifelhafter, ob den Gewerkschaften weiterhin die Rolle zukommt, die Belange aller Beschäftigten wahrzunehmen, wie es in § 2 Nr. 3 der DGB-Satzung zum Ausdruck kommt. Von einer Repräsentation aller Arbeitnehmer durch die Gewerkschaften zu sprechen, fällt jedenfalls immer schwerer. Wo die Ursachen zu suchen sind und wie diesem Trend entgegenzusteuern ist, ist Gegenstand der gegenwärtigen Debatte von Gewerkschaften und Wissenschaft. Nimmt man das hierzu veröffentlichte Sonderheft 9/2003 der WSI-Mitteilungen zur Hand, das 1 Vgl. zur Mitgliederentwicklung des DGB Ebbinghaus, in: Schroeder/Weßels, Die Gewerkschaften, S. 179 ff.; Niedenhoff/Pege, Gewerkschaftshandbuch, S. 214 f.

22

1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

sich den „Strategien zur Neubelebung von Gewerkschaften – Ein internationaler Vergleich“ widmet, fällt auf, dass viel über zusätzliche gewerkschaftliche Dienstleistungen nach dem Vorbild der USA-Gewerkschaften, über Sozialpartnerschaft und Bündnisse mit Bürgerrechtsgruppen nachgedacht wird. Während in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts bei der Diskussion um die Mittel der Mitgliederwerbung der Tarifvertrag eine zentrale Stellung eingenommen hat, bleibt der Tarifvertrag in der aktuellen Diskussion in der Regel ausgeklammert. Nach § 3 Abs. 1 TVG beschränkt sich die Geltung der Inhaltsnormen des Tarifvertrags auf solche Arbeitsverhältnisse, die von den Mitgliedern der tarifschließenden Parteien geschlossen werden. Da sich aber nahezu 90% der Arbeitsverträge nicht unmittelbar tarifgebundener Arbeitnehmer an den Tarifverträgen orientieren2, kommt dem Tarifvertrag eine faktische Allgemeinverbindlichkeit zu, die jede Werbemaßnahme erschwert. Der Hinweis auf die normative Wirkung und damit die Unabdingbarkeit tariflicher Arbeitsbedingungen vermag keine vergleichbare Anziehungskraft zu entfalten wie die tarifliche Leistung selbst. Diesem Dilemma sollen die Differenzierungsklauseln abhelfen. Zusammen mit Solidaritätsbeiträgen, mittels derer die Gewerkschaften ein Entgelt der Nichtorganisierten für die „Nutzung“ des Tarifvertrags fordern, gehören Differenzierungsklauseln zum klassischen Repertoire sekuritätspolitischer Maßnahmen, also solcher Maßnahmen, die die Existenz eines Berufsverbandes sichern, seinen Bestand schützen oder seine Stellung verbessern. Während Solidaritätsbeiträge und Organisations- bzw. Absperrungsklauseln, die gleich dem angloamerikanischen closed shop den Arbeitsplatz an die Gewerkschaftszugehörigkeit knüpfen, keine praktische Bedeutung erlangt haben, waren und sind die Differenzierungsklauseln Gegenstand einzelner Tarifverträge. Zwar kann auch ihnen eine lange Tradition der Rechtsanwendung nicht bescheinigt werden; es besteht aber eine lange Tradition der Rechtsdiskussion. Dies zeigt sich daran, dass gerichtliche Entscheidungen spärlich sind, hingegen an kontroversen Stellungnahmen im Schrifttum kein Mangel besteht. Die Differenzierungsklauselproblematik ist unabhängig von ihrer wechselvollen Bedeutung in der innergewerkschaftlichen Strategiediskussion in den rechtlichen Auseinandersetzungen in Literatur und Rechtsprechung über Jahrzehnte präsent geblieben. Sie schimmert an vielen Stellen des kollektiven Arbeitsrechts durch und wird dort zum bestimmenden Argument. Schaut man sich oben genannte – zugegebenermaßen nicht ganz aktuelle – Zahl zur Relevanz der Tarifverträge an, wird deutlich, dass die Gleichbehandlung entsprechend dem Tarifvertrag nicht auf Zeiten der Vollbeschäftigung aller Arbeitnehmer beschränkt ist. Deshalb ist auch bei schwächerer wirtschaftlicher Konjunktur eine Differen2 Glombik, ZTR 1999, 213 (213); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 8 Rn. 21; Preis, Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 55, 62.

A. Der Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung

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zierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nicht abwegig. Vielmehr stellt die gewerkschaftliche Zurückhaltung eine Selbstbeschränkung dar, die einerseits auf der Anerkennung des Status quo der Rechtsprechung beruht und andererseits dem negativen Image von Sondervorteilen zugunsten von Gewerkschaftsmitgliedern geschuldet ist. Zwar wird seit einer Entscheidung des Großen Senats des BAG aus dem Jahre 1967 die Bevorzugung von Gewerkschaftsmitgliedern durch den Arbeitgeber in der Regel von den Gerichten für rechtswidrig erachtet. Trotzdem befand es der Vorstand der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) noch 1978 für nötig, hierauf gerichtete Tarifvertragsklauseln in einen so genannten Tabu-Katalog der lohn- und tarifpolitischen Fragen aufzunehmen. Die Mitgliedsverbände wurden verpflichtet, vor dem Abschluss entsprechender Vereinbarungen den Vorstand der BDA zu konsultieren.3 Welch heikles Thema die Differenzierungsklauseln noch heute sind, wird auch an dem Presseecho deutlich, das folgte, nachdem sich die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) Hamburg auf dieses Minenfeld gewagt hatte. Als 1995 die ÖTV Hamburg über Sondervorteile für ihre Mitglieder nachdachte, nahm die (nichtjuristische) Öffentlichkeit regen Anteil.4 Die Diskussion wurde noch angeheizt, als in der evangelischen Kirche Stimmen laut wurden, die bei kirchlichen Dienstleistungen zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheiden wollten. Die Vorschläge reichten von Gebühren für Beratungsstellen bis hin zu einem konfessionsabhängigen „Andersgläubigenzuschlag“ für die Friedhofsbenutzung.5 Aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) wurde Sympathie für den Vorstoß der ÖTV Hamburg geäußert. Auch die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) kündigte an, langfristig Nichtmitglieder von einzelnen Tarifleistungen ausschließen zu wollen.6 Die von der ÖTV Hamburg losgetretene Debatte wurde nicht zu Ende geführt. Somit 3 Der sog. Tabu-Katalog ist in der Fassung vom 16.3.1978 abgedruckt in Druck und Papier. Zentralorgan der IG Druck und Papier Heft 3/1979, 8 (insb. 10 f.); FR v. 26.1.1979. 4 Vgl. beispielsweise „Hamburger ÖTV will Tarifverträge nur für Gewerkschaftsmitglieder“, Handelsblatt v. 3.1.1995, S. 1; Marten, „Radikalkur gegen Tarifkrise“, TAZ v. 14.1.1995, S. 4; Interview mit dem Hamburger ÖTV-Vorsitzenden Fritsch, TAZ v. 3.1.1995, S. 4. Siehe zusammenfassend zur Diskussion um den ÖTV-Vorschlag Zachert, in: Bispinck, Tarifpolitik der Zukunft, S. 194 ff., sowie das Rechtsgutachten in DB 1995, 322 ff. Ablehnend: Deckstein, „Gewerkschaften müssen ,Trittbrettfahrer‘ weiter befördern, SZ v. 3.1.1995, S. 1; Mundorf, „Trittbrettfahrer“, Handelsblatt v. 4.1.1995, S. 2; „Auf dem Trittbrett“, FAZ v. 3.1.1995, S. 9; „Es gibt keine einfache Lösung des Trittbrettfahrer-Dilemmas“, FAZ v. 4.1.1995, S. 11. Kritisch: „Gewerkschaften Vorsicht“, Die Zeit v. 6.1.1995, S. 22; Daniels, „Abschied von alten Idealen“, Die Zeit v. 13.1.1995, S. 24; Hickel, „Provokation mit realem Kern“, TAZ v. 4.1.1995, S. 10. Zustimmend: Liebert, „Trittbrettfahrer, absteigen!“, TAZ v. 3.1.1995, S. 10; Wörner, „Interessante Perspektive“, FR v. 14.1.1995, S. 12. 5 „Kirchen-Kitas zu teuer?“, TAZ v. 4.1.1995, S. 17; „Kirche will Mitglieder bevorzugen“, TAZ-Bremen v. 5.1.1995, S. 21; „Das Streiflicht“, SZ v. 5.1.1995, S. 1.

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

erscheint es als möglich, dass Differenzierungsklauseln wieder Bestandteil einer offensiven Gewerkschaftspolitik werden, zumal in der Miederindustrie gute Erfahrungen mit der Gewährung zusätzlicher Leistungen für die Mitglieder gemacht wurden.7 Im IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen hat es im Jahr 2004 bereits einzelne erfolgreiche Versuche zur Umsetzung tariflicher Vorzugsregelungen zugunsten von Mitgliedern der IG Metall gegeben. Nach Mitteilung der IG Metall wurden in ca. einem Dutzend Betrieben einer Abweichung vom Flächentarifvertrag unter der Bedingung zugestimmt, dass die materiellen Einbußen der Mitglieder der IG Metall zumindest teilweise kompensiert werden. Das Spektrum der Mitgliederboni ist breit gefächert. Es reicht von Jahressonderzahlungen in Höhe eines Monatsgehalts, zusätzlichem Urlaub, erhöhten Zuschüssen zur Altersvorsorge, zusätzlichen vermögenswirksamen Leistungen bis hin zum Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen von IG Metall-Mitgliedern. Ob sich damit eine Änderung der Gewerkschaftsstrategie ankündigt, bleibt abzuwarten. Wie bei den Überlegungen der ÖTV Hamburg wurde in anderen DGB-Gewerkschaften Verständnis geäußert.8 Die Aufmerksamkeit der juristischen und nichtjuristischen Öffentlichkeit ist den Gewerkschaften jedenfalls gewiss.9 Wenn von Differenzierungsklauseln gesprochen wird, werden damit in der Regel Vorteile zugunsten von Gewerkschaftsmitgliedern gemeint. Daneben ist es durchaus denkbar, dass das Prinzip von Differenzierungsklauseln von den Arbeitgeberverbänden eingesetzt wird, um den Verbandsbeitritt attraktiver zu gestalten. Denn auch die Arbeitgeberverbände leiden unter einer zunehmenden Verbandsflucht. So könnten z. B. die Beiträge der Arbeitgeber zu einer für allgemeinverbindlich erklärten Gemeinsamen Einrichtung nach der Dauer der Verbandszugehörigkeit gestaffelt werden.10 Da in entsprechenden Fällen jedoch 6 „Rechtlich nicht durchzusetzen“, SZ v. 4.1.1995, S. 5; „Hamburger ÖTV stößt auf breiten Widerspruch“, FR v. 4.1.1995, S. 4. 7 Siehe zu diesem Tarifvertrag unten S. 27, 42. 8 Vgl. zu weiteren praktischen Beispielen in der Tarifpraxis von Verdi „Lohnende Mitgliedschaft“, Publik v. 16.2.2005; „Urlaubsgeld nur für Mitglieder. Verdi denkt in Niedersachsen an Sonderleistungen“, FR v. 11.12.2004, S. 12; „Sympathie für Boni. Debatte in Gewerkschaften“, FR v. 3.11.2004, S. 9. 9 Vgl. „Kein Vertrag ohne Mitglieder-Bonus“, Einblick 18/04, gewerkschaftlicher Info-Service v. 18.10.2004, S. 1; „Metallarbeitgeber lehnen Tarifbonus ab“, FAZ v. 2.11.2004, S. 1, 11; Rieble, „Tarifboni für Gewerkschaftsmitglieder rechtlich zulässig?“, FAZ v. 17.11.2004, S. 23; Roth, „Tarifbonus für Mitglieder“, FR v. 22.10.2004, S. 1, 9; „Arbeitgeber lehnen Tarifvorteile für Gewerkschaftsmitglieder ab“, Handelsblatt v. 2.11.2004, S. 4, 9; Bauer, „Keine Extrawurst für Gewerkschafter“, Handelsblatt v. 24.11.2004, S. 41; Viering, „Experten streiten um Gewerkschaftsbonus“, SZ v. 3.11.2004, S. 17; „Gewerkschaften/Harte Welle“, Wirtschaftswoche v. 4.11.2004, S. 25; BB, Heft 49 (6.12.2004), S. IV ff.; Bispinck, WSI-Mitteilungen 2005, 59 (65 f.); Gamillscheg, NZA 2005, 146 ff.; Giesen, NZA 2004, 1317 ff. 10 Vgl. die Überlegung von BAG, Urt. v. 3.2.1965, AP Nr. 12 zu § 5 TVG (Bl. 4).

A. Der Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung

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keine rechtlichen Besonderheiten gelten, soll im Folgenden vom „Normalfall“ ausgegangen werden.

I. Rechtspolitische Erwägungen Die Diskussion um Differenzierungsklauseln war seit jeher von weltanschaulich geprägten Positionen und daraus resultierenden Stellungnahmen bestimmt, die über höchst unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Sozialadäquanz“ oder „Gesamtrepräsentation aller Arbeitnehmer“ Eingang in die rechtliche Auseinandersetzung gefunden haben. Aufgrund der eigenen Position des jeweiligen Kommentators hinsichtlich der Frage „Welcher Stellenwert soll den Gewerkschaften in der Gesellschaft zukommen?“ war häufig die rechtliche Argumentation vorgezeichnet. Auch wurde nicht nur inhaltlich um Argumente gerungen. Die besondere politische Brisanz der Differenzierungsklauselproblematik wird daran deutlich, dass auch rein quantitative Elemente wie die Anzahl der Argumente sowie die Anzahl ihrer Vertreter ihrerseits zu Argumenten aufgewertet wurden. Auf dem 46. Deutschen Juristentag in Essen 1966 wurde eine Entschließung gegen die rechtliche Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln durch mehrere Professoren eingebracht, über die abgestimmt werden sollte.11 Zu dieser Zeit stand die Entscheidung des BAG über einen Tarifvertrag der Gewerkschaft Textil-Bekleidung noch aus. Das Bemerkenswerte an diesem Entschließungsantrag ist, dass nicht eine rechtspolitische Empfehlung an den Gesetzgeber ausgesprochen, sondern eine rechtliche Frage durch Mehrheitsentscheid geklärt werden sollte und nicht, wie üblich, durch wissenschaftliche Diskussion. Auf eine Abstimmung wurde letztendlich verzichtet.12 Der Große Senat des BAG hat sich in seiner Differenzierungsklauselentscheidung veranlasst gesehen, festzustellen, dass die Differenzierungsklauselgegner nach Personenzahl und Zahl ihrer Argumente überwiegen. Damit nahm – um im martialischen Duktus des Arbeitskampfrechts zu bleiben – die Diskussion den Charakter eines Fahnenappells an. Die Lehre aus über 50 Jahren Streit um die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln – wenn man die Diskussion im Parlamentarischen Rat als Anfangspunkt nimmt – kann nur sein zu vermeiden, den Konflikt anhand seines 11 Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D. 75: Günther Beitzke; Eduard Bötticher; Ernst von Caemmerer; Rolf Dietz; Günther Dürig; Gerhard Erdsieck; Alfred Hueck; Götz Hueck; Gerhard Kegel; Theo Mayer-Maly; Arthur Nikisch; Hans Carl Nipperdey; Fritz Rittner; Theodor Tomandl; Herbert Wiedemann; Günther Wiese; Wolfgang Zöllner. Vgl. zur Bewertung dieses Entschließungsantrags Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 194 ff. 12 Der Sitzungsleiter Reuß, ebd., S. D 73, hat hierzu ausgeführt: „Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, zu fragen, wie das geltende Recht auszulegen und anzuwenden ist, eine Überzeugung zu bilden aufgrund von Stimmabgaben . . . (Man sollte) bei einem solchen Thema das Gewicht der Argumente wirken lassen und nicht versuchen, das durch eine zahlenmäßige Abstimmung dem Zufall zu überantworten.“

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

„rechtspolitischen Charakters“ zu diskutieren. Biedenkopf dagegen möchte den umgekehrten Weg beschreiten, solange die rechtspolitischen Erwägungen transparent sind: „Der entscheidende Vorteil eines solchen Verfahrens hätte in der Möglichkeit bestanden, die rechtspolitischen Erwägungen des Gerichts nachzuvollziehen und sich mit den ordnungspolitischen Vorstellungen auseinanderzusetzen, an denen sich die Entscheidung des konkreten Falls orientiert.“13 Dieser Aufruf zu mehr Ehrlichkeit verdient zwar Zustimmung, führt er doch dazu, dass offen eingestanden wird, wo es an festen (objektiven) Maßstäben fehlt, wo also nicht mehr mit rechtlichen, sondern mit politischen Argumenten gerungen wird. Jedoch wird hierdurch nichts an dem grundlegenden Dilemma des Arbeitsrechts geändert, dass die mit der Politisierung einhergehende Subjektivierung des Rechts einen juristischen Streit wie den um die Differenzierungsklauseln über Jahrzehnte am Leben erhält. Sicherlich darf nicht verkannt werden, dass sich Politik und Recht überschneiden.14 Dort, wo der Richter nur rechtspolitisch entscheiden kann, weil die positivrechtlichen Vorgaben und Orientierungspunkte fehlen, sollte er sich jedoch einer Entscheidung enthalten. In der Gesellschaft ablaufende politische Prozesse sollten auch in der Gesellschaft belassen werden; zur Lösung sämtlicher gesellschaftlicher Konflikte ist der Richter nicht berufen. Soweit die Konflikte keine rechtlichen Probleme aufwerfen – d.h. nicht in rechtlichen Kategorien zu messen sind –, kann nicht von Rechtsverweigerung gesprochen werden. Unentschieden kann deshalb bleiben, ob den Differenzierungsklauseln rechtsund gesellschaftspolitische Bedenken entgegenstehen.15 Ebenso kann die von Olson ins Zentrum seiner Überlegungen zur Legitimation des closed shop gestellte Frage: „Rechtfertigen die Ergebnisse gewerkschaftlicher Tätigkeit die Macht, die die Gesellschaft ihnen gegeben hat?“16 unbeantwortet bleiben. Insoweit ist der Aussage Gamillschegs nichts hinzuzufügen: „Ob die Tarifausschlußklausel uns sympathisch ist oder nicht, spielt keine Rolle; Unbehagen ist nicht Rechtswidrigkeit.“17

13 Biedenkopf, Betriebsrisikolehre, S. 26, der allerdings auch die Gefahr einer Politisierung der Rechtsprechung sieht (S. 27); ähnlich die Forderung von Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 251 f., 450. 14 Vgl. Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 17 f. 15 So im Ergebnis Biedenkopf, Sondervorteile, S. 287 f., der seine Einwände gegen die Abstandsklauseln zurückstellt: „Der Vollzug dieses m. E. politischen Ergebnisses im Bereich des positiven Rechts ist jedoch ohne Gesetzesänderung nicht möglich.“ 16 Olson, Logik kollektiven Handelns, S. 88. 17 Gamillscheg, BB 1967, 45 (53); ebenso mit dezidierter Kritik an rechtspolitischen Entscheidungen im Gewande geltenden (Verfassungs-)Rechts ders., Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Anerkennungsforderungen, S. 2 ff.

A. Der Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung

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II. Die organisationspolitische Bedeutung der Differenzierungsklauseln Dort, wo die Gewerkschaften bestimmte tarifliche Leistungen ihren Mitgliedern vorbehalten haben, wurden organisationspolitische Erfolge erzielt. So konnte die Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB) durch den später vom Großen Senat des BAG für rechtswidrig erklärten Tarifvertrag ihren Organisationsgrad von 20% auf 90% steigern.18 Lehna berichtet von einem etwas weiter zurückliegenden Fall bei den Wuppertaler Stadtwerken, wo eine Übergangszahlung an die Gewerkschaftsmitglieder dazu geführt haben soll, dass über 90% der Nichtorganisierten der Gewerkschaft beigetreten sind.19 Auch in der Miederindustrie konnte u. a. durch besondere Leistungen an Gewerkschaftsmitglieder mit 70% ein überdurchschnittlicher Organisationsgrad erzielt werden, der ansonsten in der übrigen vergleichbaren Bekleidungsindustrie bei ca. 30% liegt.20 Nach einer Untersuchung der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) aus dem Jahre 1979 würden sich fast die Hälfte der Nichtorganisierten für einen Gewerkschaftsbeitritt entscheiden, um hierdurch bestimmte tarifliche Vorteile zu erlangen.21 Trotz oder gerade wegen dieses positiven Effekts auf die Mitgliederentwicklung wurden und werden von einigen Gewerkschaften neben den rechtlichen Bedenken besondere Einwände gegen Differenzierungsklauseln erhoben.22 Kritikpunkte sind im Wesentlichen: – Durch Differenzierungsklauseln verlieren die Gewerkschaften den Anspruch, für alle Arbeitnehmer zu sprechen. – Durch Differenzierungsklauseln besteht die Gefahr, dass eine Entpolitisierung der Gewerkschaftsmitgliedschaft eintritt, wenn einziger Beweggrund für einen Betritt das wirtschaftliche Interesse ist. Eine Gewerkschaft braucht jedoch überzeugte Mitglieder. Darüber hinaus befürchten die DGB-Gewerkschaften, dass durch Differenzierungsklauseln die konkurrierenden Gewerkschaften gestärkt werden, da Arbeitnehmer, die allein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten handeln, sich den Ge18

Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 116. Lehna, DB 1959, 916 (917). 20 Die Gewerkschaft Textil-Bekleidung gibt für 1975 sogar einen Organisationsgrad von 90% an (vgl. die Angaben bei Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 32). 21 Wiedenhofer, Probleme gewerkschaftlicher Interessenvertretung, S. 120. Die IG Bau-Steine-Erden hat als Folge einer besonderen Beihilfe für ihre Mitglieder mit der Verdoppelung ihres Mitgliederstandes gerechnet (RdA 1962, 17 [18]). 22 Siehe die Untersuchung von Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 3 ff., zusammengefasst und aktualisiert von Zachert, in: Bispinck, Tarifpolitik der Zukunft, S. 197 ff.; tabellarische Zusammenfassung von Hanson/Jackson/Miller, The Closed Shop, S. 212. 19

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

werkschaften mit dem geringsten Mitgliedsbeitrag anschließen. Letztere Bedenken können allerdings bei beschränkten Differenzierungsklauseln, die nur eine bestimmte Mitgliedschaft prämiieren, nicht durchgreifen. Anzumerken ist noch, dass Differenzierungsklauseln nicht zwangsläufig, wie man zunächst annehmen könnte, aus der Gegnerschaft von Arbeitgebern sowie ihrer Verbände und den Gewerkschaften entspringen. Von den Gewerkschaften werden derartige organisationspolitische Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der gegenseitigen Anerkennung und Rücksichtnahme betrachtet und damit als Teil der Sozialpartnerschaft aufgefasst.23

III. Der Tarifvertrag als kollektives Gut Der Beschluss des Großen Senats des BAG hat auf empirische Untersuchungen zur Einstellung der Arbeitnehmer zu Differenzierungsklauseln verzichtet; auch soziologische Überlegungen zu den organisationspolitischen Möglichkeiten der Gewerkschaften fehlen. In der Literatur wird ersteres kritisiert24; um letzteres auszugleichen, wird die Theorie des US-amerikanischen Nationalökonomen Mancur Olson zur Logik kollektiven Handelns herangezogen.25 Olson hat die Schwierigkeiten untersucht, die innerhalb von Gruppen entstehen, wenn sie kollektive Güter bereitstellen. Kollektivgüter (auch öffentliche Güter genannt) in ihrer reinen Form sind materielle oder immaterielle Güter, die für ein Kollektiv, eine Gruppe, nützlich sind und von deren Nutzung einzelne Mitglieder der Gruppe unabhängig von ihrer Lastentragung nicht ausgeschlossen werden können.26 Kollektivgüter in ihrer reinen Form werden folglich durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Nichtrivalität im Konsum und Nichtausschließbar23 So z. B. die IG Metall, die deshalb früher die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln abgelehnt hat (vgl. Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 17 f.). Auch die GTB hat ihren Tarifvertrag in der Miederindustrie als Ausdruck eines sozialen Miteinanders gesehen. Vgl. ausführlich Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 30 ff. 24 Ritter, JZ 1969, 111 (113); ebenso die Kritik von Hanau, JuS 1969, 213 (217); Weller, ArbuR 1970, 161 (163). 25 Vgl. beispielsweise (auch zusammenfassend) Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (11 Fn. 62); Kriebel, Zentralisation und Dezentralisation, S. 43 ff.; Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 47 f.; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 280; Steinberg, RdA 1975, 99 (104). 26 Niechoj, Kollektive Akteure, S. 77, 80; ebenso Cornes/Sandler, Externalities, Public Goods and Club Goods, S. 8 f., 240; Olson, Logik kollektiven Handelns, S. 13 f. Teilweise wird „Kollektivgut“ als Oberbegriff für solche Güter genutzt, die von mehreren Konsumenten in Anspruch genommen werden können. Für ein „öffentliches Gut“ muss dann insb. die Nichtausschließbarkeit hinzukommen (in diesem Sinne Arnold, Theorie der Kollektivgüter, S. 1, 80, 221; genau umgekehrt die Begriffsverwendung von Reiß, Mikroökonomische Theorie, S. 385 ff.). Für einen synonymen Gebrauch von „öffentlichem Gut“ und „Kollektivgut“ Schumann/Meyer/Ströbele, Grundzüge der mikroökonomischen Theorie, S. 39.

A. Der Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung

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keit der Nutzung. Klassische Beispiele für Güter, an denen zwangsläufig alle Menschen eines Landes bzw. einer Region teilhaben, sind die Landesverteidigung, die innere Sicherheit und der Umweltschutz. Soweit sich in der Wirtschaft bestimmte Mindestarbeitsbedingungen herausbilden, können auch diese zum kollektiven Gut werden. In erster Linie sind in diesem Zusammenhang die Tarifverträge zu nennen, die von den Tarifvertragsparteien als Gut bereitgestellt werden. Die Tarifverträge entfalten ihre Wirkung nicht nur für alle Gewerkschaftsmitglieder ohne Unterschied ihres Einsatzes im Rahmen der Tarifvertragsverhandlungen und insbesondere eines Arbeitskampfs. Die Außenseiter (als Teilmenge der Gruppe „Arbeitnehmer“) können sogar in unbegrenzter Anzahl Bezug auf den Tarifvertrag nehmen, ohne dass hierdurch der Nutzen für den einzelnen Arbeitnehmer geschmälert wäre. Insoweit besteht der seltene Fall einer Nichtrivalität des Konsums bei privater Bereitstellung des Guts. Zu einem kollektiven Gut werden die Tarifverträge aber erst dann, wenn von den Tarifvertragsparteien niemand von der Nutzung ausgeschlossen werden kann. Lässt sich die Nutzung auf einen bestimmten Personenkreis beschränken, spricht man von einem Klubgut.27 Die Bereitstellung von kollektiven Gütern bereitet vielfältige Probleme, die mit dem sog. free riding (Trittbrettfahrerei) zusammenhängen. Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sind zwei Aspekte von besonderer Relevanz. Zum einen sind Abschluss und Durchführung von Tarifverträgen mit Kosten verbunden, an deren Kompensation nicht alle Nutzer gleichermaßen beteiligt sind. Deshalb wurde von den Gewerkschaften die Erhebung von Solidaritätsbeiträgen erwogen. Zum anderen kann die Nichtausschließbarkeit im Konsum dazu führen, dass es an der Motivation der Arbeitnehmer fehlt, die Bereit-

27 Vgl. Cornes/Sandler, Externalities, Public Goods and Club Goods, S. 9, 347 ff. Siehe richtungsweisend Buchanan, Economica 1965, 1 ff.; zusammenfassend Arnold, Theorie der Kollektivgüter, S. 263 f. Die Annahme, dass Tarifverträge grundsätzlich als Kollektivgüter eingeordnet werden können, wird unzutreffend abgelehnt von Vogel, Neue Wege in der Tarifpolitik, S. 53 ff. Dass die Tarifbedingungen über den Kreis der Tarifgebundenen hinaus erst kraft individueller Vereinbarung gelten und untertarifliche Arbeitsbedingungen neben tariflichen stehen (können), lässt keine Rückschlüsse auf die Kollektivguteigenschaft zu. Denn es ist nicht Voraussetzung eines Kollektivguts, dass die potentiellen Nutzer unentrinnbar hiervon Gebrauch machen müssen. Die „innere Sicherheit“ ist ein Kollektivgut, auch wenn es dem einzelnen frei steht, staatliche Stellen zur Verteidigung seiner Rechte um Hilfe zu ersuchen. Entgegen Vogel, a. a. O., S. 55, sind Tarifverträge von der Nichtrivalität im Konsum gekennzeichnet. Ausreichend hierfür ist, dass Tarifverträge grundsätzlich geeignet sind, für eine beliebige Vielzahl von Betrieben und Arbeitsverhältnissen zu gelten, auch wenn sich ihre sachliche Geltung zweckmäßiger Weise auf bestimmte Branchen erstreckt. Ob einzelne (branchenfremde) Betriebe wegen erforderlicher Anpassungen an ihre betrieblichen Besonderheiten die Unterwerfung unter den Tarifvertrag für unzweckmäßig halten, ist im vorliegenden Zusammenhang unbeachtlich.

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

stellung des kollektiven Guts „Tarifvertrag“ aktiv zu fördern. Hier setzt Olson mit seinen Überlegungen an. Nach Olson lassen sich Arbeitnehmer nur dann freiwillig zu einem Gewerkschaftsbeitritt motivieren, wenn ihnen hierdurch wirtschaftliche Vorteile entstehen. Die Arbeitnehmer würden sich wie die Teilnehmer auf einem Markt verhalten, die ihren Nutzen maximieren wollten. Politische Überzeugungen spielten dabei lediglich eine untergeordnete Rolle. Trage eine Gewerkschaft zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei, komme dies in der Regel allen Arbeitnehmern zugute, unabhängig von der Organisationszugehörigkeit. Insofern könne man von einem kollektiven Gut sprechen, das von den Gewerkschaften zur Verfügung gestellt werde. Bei großen Gruppen wie den modernen Industriegewerkschaften komme der einzelnen Mitgliedschaft praktisch keine Bedeutung zu. Auch die individuelle Organisationsabstinenz führe nicht zur Schwächung der Gewerkschaften, sodass ihre wirtschaftlichen Erfolge nicht in Gefahr geraten würden. Das Individuum könne am Erfolg der Gewerkschaft partizipieren, ohne die Last der Mitgliedschaft tragen zu müssen. Dies sei anders bei kleinen Gruppen, zu deren Handlungsfähigkeit jedes einzelne Mitglied merklich beitrage. Der Anreiz zur aktiven Beteiligung rühre aus dem Interesse an dem kollektiven Gut. Zur Veranschaulichung verweist Olson auf das staatliche Steuersystem. Dass der Einzelne den Einsatz von Steuern für Bildungssysteme, Straßen, öffentliche Sicherheit etc. als sinnvoll und notwendig erachte, halte ihn nicht davon ab, sämtliche legalen und manchmal auch illegalen Wege zu nutzen, um seine Steuerlast zu mindern. Würde dieses am individuellen Nutzen orientierte Verhalten als massenhaftes Phänomen auftreten, würden die vom Einzelnen erwünschten Vorteile sowohl des Steuersystems als auch der Gewerkschaften existenziell bedroht werden.28 Natürlich soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es noch weitere Antriebskräfte für den Einzelnen gibt, um sich an der Bereitstellung kollektiver Güter zu beteiligen. Von Collard wird der Altruismus als Triebfeder menschlichen Handelns hervorgehoben; nach Sugden unterliegen die Menschen gesellschaftlichen und moralischen Zwängen, die sie daran hindern, ausschließlich ihre eigenen Zwecke zu verfolgen.29 Allerdings wird von den genannten Autoren anerkannt, dass die besonderen Schwierigkeiten bei 28 Olson, Logik kollektiven Handelns, S. 2 f., 49 ff., 74 f., 85 f.; vgl. allgemein zum hieraus resultierenden Marktversagen Weimann, Wirtschaftpolitik, S. 114 ff., sowie im Hinblick auf die deutschen Gewerkschaften Ebbinghaus, in: Schroeder/Weßels, Die Gewerkschaften, S. 175, 176. A. A. Niechoj, Kollektive Akteure, S. 81, 84, 85, der sich allerdings widerspricht, wenn er einerseits den Erfolg großer Gruppen ohne Einsatz selektiver Anreize hervorhebt und andererseits die Bedeutung kleiner Netzwerke innerhalb großer Gruppen betont, durch die das free riding verhindert wird. Außerdem hat Olson sich nicht auf wirtschaftlichen Zwang als Anreiz beschränkt, sondern auch soziale Anreize in sein Modell integriert. Olsons Überlegungen können zudem unabhängig davon gesehen werden, dass er den Begriff des Kollektivguts modifiziert, indem er die Nichtrivalität des Konsums ausklammert (vgl. hierzu den Vorwurf von Niechoj, a. a. O., S. 80 f. [insb. Fn. 25]).

B. Begriffliche Klärungen

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der Bereitstellung eines kollektiven Guts mit der Gruppengröße zusammenhängen und das wirtschaftliche Denken der Gruppenmitglieder ein stärkeres Gewicht einnimmt. Umgekehrt hat Olson festgestellt, dass auch soziale Anreize sog. selektive Anreize sein können, die den Einzelnen dazu veranlassen, sich zur Erreichung eines Gruppenziels zu engagieren.30 Somit kommt diesen Theorien eine ergänzende, aber keine ersetzende Funktion zu. An Olsons Überlegungen wird nicht nur deutlich, woher die Schwierigkeiten für Gewerkschaften bei der Mitgliedergewinnung – zumindest teilweise – kommen. Auch wird sichtbar, welche Macht der Arbeitgeberseite (faktisch) zukommt. Sie hat maßgeblichen Einfluss darauf, ob die tariflichen Arbeitsbedingungen in ihrer praktischen Anwendung zum kollektiven Gut werden, indem sie entscheidet, ob die Außenseiterarbeitnehmer am Tarifvertrag partizipieren können. Daraus erschließt sich der Zusammenhang mit den Differenzierungsklauseln. Auf diese Klauseln übertragen würde Olsons Ansatz bedeuten, dass durch die Differenzierungsklauseln bestimmte (tarifliche) Arbeitsbedingungen mit der Organisationszugehörigkeit verknüpft werden und dadurch aus einem kollektiven Gut ein exklusives Gut (Klubgut) wird. Differenzierungsklauseln würden damit an die Stelle des closed shop bzw. union shop treten. Für den rein wirtschaftlich denkenden Arbeitnehmer bestünde aufgrund dieses „selektiven Anreizes“ wieder eine Veranlassung, in die Gewerkschaft einzutreten und sich damit an der Bereitstellung des Klubguts zu beteiligen. Die Gewerkschaft könnte sich auf eine erweiterte Mitgliederbasis stützen und damit einhergehend die Kosten für die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ kompensieren.

B. Begriffliche Klärungen Eine einheitliche Terminologie hinsichtlich der verschiedenen Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder in Tarifverträgen hat sich in Literatur und Rechtsprechung nicht herausgebildet. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „Differenzierungsklauseln“ als Oberbegriff für solche Bestimmungen verwendet, die eine unterschiedliche Behandlung von Organisierten und Außenseitern bewirken (sollen). „Außenseiter“ sind diejenigen Arbeitnehmer, die entweder einer anderen als der tarifschließenden Gewerkschaft angehören oder unorganisiert sind.31

29 Collard, Altruism (siehe im Hinblick auf die Olsonschen Überlegungen insb. S. 33 ff., 50, 67, 79); Sugden, The Economic Journal 1984, 772 ff. 30 Olson, Logik kollektiven Handelns, S. 59, 61 f. 31 Dem Begriff „Außenseiter“ wird teilweise eine wertende d.h. negative Konnotation zugeschrieben (Zanetti, RdA 1973, 77 [77]; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 38 Rn. 4, 7 f., der zusätzlich auf den Umstand hinweist, dass die Außenseiter die große Mehr-

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

Bei einfachen Differenzierungsklauseln wird dem Tatbestand einzelner Tarifklauseln das persönliche Merkmal „Gewerkschaftsmitgliedschaft“ hinzugefügt und damit zum Ausdruck gebracht, was nach § 3 Abs. 1 TVG für Inhaltsnormen ohnehin gilt: Die Gewerkschaftszugehörigkeit ist Voraussetzung für die Tarifbindung. Das Merkmal „Gewerkschaftszugehörigkeit“ kann noch qualifiziert werden, wenn der Anspruchsinhalt von der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig gemacht wird. Auch die Tarifverträge zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute oder Mitglieder von Tarifvertragskommissionen sind von ihrer Wirkung her mit einfachen Differenzierungsklauseln zu vergleichen.32 Durch qualifizierte Differenzierungsklauseln treten neben die Anknüpfung an die Gewerkschaftszugehörigkeit besondere Bestimmungen, die den Arbeitgeber davon abhalten sollen, die Tarifbedingungen auf Außenseiter zu erstrecken. Die Tarifausschlussklausel verpflichtet beim Firmentarifvertrag den Arbeitgeber, den Außenseitern bestimmte tarifliche Leistungen vorzuenthalten, sowie beim Verbandstarifvertrag den Arbeitgeberverband, entsprechend auf seine Mitglieder einzuwirken. Anders wirken hingegen die Abstandsklauseln. Diese werden in der älteren Literatur auch als Differenzierungsklauseln bezeichnet33; gebräuchlich ist neben der Bezeichnung als Benachteiligungsverbot die Verwendung des präzisen jedoch sperrigen Begriffs „Spannensicherungsklauseln“, manchmal auch fälschlich zu „Spannungsklauseln“34 verkürzt. Anders als die Tarifausschlussklauseln, verbieten die Abstandsklauseln dem Arbeitgeber nicht, bestimmte Vorteile auch den Außenseitern zu versprechen. Er wird jedoch dazu verpflichtet, den Gewerkschaftsmitgliedern die den Außenseitern gewährte Leistung zusätzlich zu ihrer eigentlichen Leistung zu gewähren. Hierdurch wird der Abstand zwischen den organisierten Arbeitnehmern und den Außenseiterarbeitnehmern dauerhaft beibehalten; eine Gleichbehandlung bleibt damit ausgeschlossen. Schließlich ist noch zwischen allgemeinen und beschränkten Differenzierungsklauseln zu unterscheiden. Während erstere die tariflichen Vorteile an die Mitgliedschaft in irgendeiner Gewerkschaft knüpfen, setzen letztere die Zugehörigkeit zur tarifschließenden Gewerkschaft voraus. Durchaus denkbar wäre es, die tarifvertraglichen Vorteile nicht allein den Gewerkschaftsmitgliedern, sondern auch solchen Außenseitern, die sich aktiv an einem Streik beteiligt haben oder die passiv von einer Aussperrung betroffen wurden, zugute kommen zu lassen. Denn die Gewerkschaften sind beim Arbeitskampf in der Regel auf das heit stellen). Da sich dieser Begriff jedoch durchgesetzt hat, soll er – wertneutral – in dieser Untersuchung verwendet werden. 32 Vgl. in diesem Sinne bspw. Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 56 ff. 33 So bspw. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 118, 123. 34 So bspw. ArbG Weiden, Urt. v. 26.6.1985, NZA 1985, 667 (667); vgl. gegen diesen Begriff Gamillscheg, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 104.

C. Rechtliche Konstruktion

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Wohlwollen der Außenseiter angewiesen, das wiederum nur schwerlich zu erreichen ist, wenn die Außenseiter trotz aktiver Arbeitskampfbeteiligung von (einzelnen) tariflichen Vergünstigungen ausgeschlossen sind. Das Gegenteil zu den Differenzierungsklauseln sind die Außenseiterklauseln. Durch diese wird der Arbeitgeber verpflichtet, sämtliche Arbeitnehmer ohne Ansehen ihrer Tarifgebundenheit den tariflichen Arbeitsbedingungen zu unterwerfen. Ziel dieser Klauseln ist es, gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer vor untertariflich arbeitender Billigkonkurrenz zu schützen und damit ihre Verdrängung zu verhindern. In ihrer Wirkung stellen die Außenseiterklauseln damit abgeschwächte Absperrungs- oder Organisationsklauseln dar, durch die der Arbeitgeber verpflichtet wird, nur gewerkschaftlich organisierte und damit tarifgebundene Arbeitnehmer zu beschäftigen.

C. Rechtliche Konstruktion Um Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen zu vereinbaren, stehen mehrere rechtstechnische Möglichkeiten zur Verfügung, die sich in ihren rechtlichen und praktischen Auswirkungen stark unterscheiden.

I. Normativer und schuldrechtlicher Teil des Tarifvertrages 1. Dogmatische Einordnung Normative Tarifklauseln gelten nur zwischen tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Hinsichtlich der Inhaltsnormen bestimmt § 3 Abs. 1 TVG, dass hierzu die Mitgliedschaft in den tarifschließenden Parteien erforderlich ist bzw. der Arbeitgeber selbst den Tarifvertrag schließt. Auf das (rechtliche) Verhältnis von Arbeitgeber und Außenseiter kann hingegen nicht eingewirkt werden. Die Abstandsklausel weist diesbezüglich keine Schwierigkeit auf. Ihr Ziel ist es, dem tarifgebundenen Arbeitnehmer einen besonderen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber zu verschaffen und gestaltet folglich als Inhaltsnorm das individuelle Arbeitsverhältnis.35 Angemerkt sei noch, dass sich auch bei allgemeinen Abstandsklauseln keine Zwitterstellung von normativer und schuldrechtlicher Wirkung ergibt. Soweit Andersorganisierte in die Vorteilsregelung einbe-

35 Für eine schuldrechtliche Geltung haben sich hingegen ausgesprochen: Georgi, Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 57; Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 441; so bereits Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., Einl. Rn. 171; ebenso Hanau, JuS 1969, 213 (215 Fn. 15), der zwar von einer „Tarifausschlussklausel“ spricht, aber inhaltlich auf eine Abstandsklausel Bezug nimmt. Alle diese Ansichten verkennen, dass die Außenwirkungen der Abstandsklausel lediglich faktischer Natur sind.

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

zogen werden, ist Anspruchsgrundlage allein der Arbeitsvertrag, der ggf. auf den Tarifvertrag verweist. Dass der Tarifvertrag unmittelbar schuldrechtliche Ansprüche gegen den Arbeitgeber erzeugt, ist zwar denkbar, bedürfte aber einer ausdrücklichen Willensäußerung der Tarifvertragsparteien, da Tarifverträge in der Regel nicht als Verträge zugunsten Dritter angesehen werden.36 Zudem haben die Tarifvertragsparteien keine Veranlassung, den Andersorganisierten nach Vorbild der Außenseiterklauseln einen bestimmten Anspruch zukommen zu lassen, unabhängig von der individualvertraglichen Vereinbarung. Anders verhält es sich hingegen mit den Tarifausschlussklauseln. Diese beinhalten keinen an die Gewerkschaftsmitglieder zu erbringenden besonderen Vorteil, sondern sollen den Arbeitgeber allein davon abhalten, den Tarifvertrag einschränkungslos auf die Außenseiter zu erstrecken. Ähnlich wie bei der Außenseiterklausel ist also das Verhältnis des Arbeitgebers zu den Außenseitern betroffen. Dementsprechend kommt vorrangig eine schuldrechtliche Tarifklausel in Betracht. Auch als bloße Empfehlung ist die Tarifausschlussklausel denkbar.37 Rechtswirkungen sind hiermit allerdings nicht verbunden. Da die Einhaltung schuldrechtlicher Tarifklauseln nur schwer zu erzwingen ist, wäre zu überlegen, ob auch eine normative Wirkung begründet werden kann. Wie bereits betont, besteht keine Möglichkeit der Tarifvertragsparteien, ohne eine Allgemeinverbindlicherklärung die Arbeitsverhältnisse der Außenseiter mittels Inhaltsnormen zu gestalten. Dementsprechend wäre eine normative Regelung nur dergestalt denkbar, dass den tarifgebundenen Arbeitnehmern ein normativer Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber eingeräumt wird, nur in bestimmter Weise mit den Außenseitern zu kontrahieren.38 Damit wäre der einzelne Arbeitnehmer zur Überwachung der Einhaltung des Tarifvertrags berufen, ohne dass ihm hierdurch materielle Vorteile zufließen könnten. Zudem würde ihm ein Unterlassungsanspruch zukommen, der sich mittelbar gegen seine Arbeitskollegen richtet. Eine solche – den Betriebsfrieden erheblich störende Verfahrensweise – dürfte kaum im Interesse der Tarifvertragsparteien liegen. Damit ist allerdings noch nicht festgestellt, ob eine solche Möglichkeit nicht doch im Bereich der Inhaltsnormen liegt. Denn: Unbehagen ist nicht Rechtswidrigkeit.

36 Dies ist bei Verbandstarifverträgen überwiegende Ansicht (vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 633 f. m. w. N.). Bei Firmentarifverträgen erscheint ein entsprechender Parteiwille aber denkbar, da Belasteter der Vereinbarung der vertragsbeteiligte Arbeitgeber ist, sodass kein (unzulässiger) Vertrag zu Lasten Dritter vorliegt. 37 Blom, Tarifausschlußklausel, S. 66; Zachert/AGAR, Tarifvertrag, S. 183 f. 38 In diesem Sinne Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1184; Fechner, Rechtsgutachten, S. 72 ff.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 224 ff.; Gumpert, BB 1960, 100 (102); Georgi, Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 53 (jedenfalls sachliche Eignung als Inhaltsnorm). Siehe hiergegen BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 6 R); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 73 Fn. 1; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 53; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 166 Fn. 29.

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Gegen die Bedenken, durch einen individuellen Klageanspruch werde der Betriebsfrieden gestört, lässt sich einwenden, dass nach neuerer Rechtsprechung des BAG die Überwachung der Einhaltung des Tarifvertrags von der tarifschließenden Gewerkschaft wahrgenommen werden kann.39 Damit wäre eine Abstrahierung von der unmittelbaren betrieblichen Ebene erreicht. Auch wäre die Gewerkschaft dann nicht mehr auf den (schwerfälligen) Einwirkungsanspruch gegen den Arbeitgeberverband angewiesen, sondern könnte unmittelbar gegen den Arbeitgeber auf Unterlassung klagen. Zudem ist es nichts Ungewöhnliches, dass eine Norm in ihrem Adressatenkreis beschränkt ist, jedoch faktischen Drittbezug aufweist.40 Nimmt der Arbeitgeber eine Umgruppierung vor, ohne vorher gemäß § 99 BetrVG die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt zu haben, bleibt die Umgruppierung dennoch wirksam. Der Betriebsrat hat dann nur die Möglichkeit, den Arbeitgeber nach § 101 BetrVG zur Aufhebung der Maßnahme zu veranlassen. Nicht anders würde eine normative Tarifausschlussklausel wirken, nur dass an Stelle des Betriebsrats der einzelne tarifgebundene Arbeitnehmer bzw. seine Gewerkschaft klageberechtigt wäre. Wenn das Wesen der normativen Wirkung der Vereinbarung von Tarifausschlussklauseln nicht prinzipiell entgegensteht, ist damit noch nicht gesagt, dass diese als Inhaltsnormen vereinbart werden können. Insoweit ist auf § 1 TVG abzustellen, der den zulässigen Inhalt von Tarifverträgen umreißt. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob einer solchen Klausel die Rechte Dritter entgegenstehen; dieser Punkt wird erst Gegenstand nachfolgender Erörterungen sein. Dass Tarifausschlussklauseln einen Außenseiterbezug aufweisen, steht der Anwendung des § 1 TVG nicht entgegen. Bei schuldrechtlichen Tarifklauseln ist dies weithin anerkannt41, muss aber gleichermaßen auch für normative Tarifklauseln gelten. Inhaltsnormen sind Bestimmungen, die die Rechte und Pflichten der Parteien des Arbeitsvertrages betreffen.42 Könnte die Tarifausschlussklausel Gegenstand einer einzelvertraglichen Vereinbarung sein? Eine einzelvertragliche Vereinbarung, wonach der Arbeitgeber einen Vertragsabschluss mit Dritten zu unterlassen hat, ist durchaus denkbar. Im Wirtschaftsleben gibt es vielfältige Exklusivverträge, die dem Begünstigten das Recht geben, einen Exklusivvertretungsanspruch auch durchzusetzen; als Beispiele sind hier exklusive Vertriebsrechte für ein bestimmtes Produkt oder Alleinvertretungsrechte eines Handelsvertreters für einen bestimmten räumlichen Bereich zu nennen. Der gewerbliche Mieter hat einen Anspruch gegen den Vermieter, die Vermietung von Räumen an Konkurrenten im selben Haus oder in unmittelbarer Nachbarschaft zu unterlassen.43 39 40 41 42

BAG, Beschl. v. 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 225 (mit Beispielen). Vgl. hierzu unten S. 216 ff. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 170.

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

Auch das Versprechen Dritten tarifvertragliche Arbeitsbedingungen vorzuenthalten, liegt im Bereich der Privatautonomie. Letzterer Punkt weist den Weg zur Lösung unserer Problematik. Nicht alles, was privatautonom geregelt werden kann, kann Gegenstand einer Inhaltsnorm sein. Der die Koalitionsfreiheit ausgestaltende § 1 TVG macht zur Voraussetzung einer Inhaltsnorm, dass der Inhalt des Arbeitsverhältnisses gestaltet wird. Die Tarifausschlussklausel berührt das Arbeitsverhältnis des einzelnen tarifunterworfenen Arbeitnehmers in keiner rechtlich erheblichen Weise. Auf die individuellen (tariflichen) Arbeitsbedingungen hat es keinen Effekt, ob der nichttarifgebundene Kollege gleich behandelt oder aber benachteiligt wird. Ein über die Ungleichbehandlung hinausgehender Leistungsanspruch kann aus der Tarifausschlussklausel nicht erwachsen. Ein materieller Vorteil resultiert – anders als aus der Abstandsklausel – aus der bloßen Ungleichbehandlung nicht. Während man die materielle Vorteilhaftigkeit von Außenseiterklauseln noch annehmen könnte, da der tarifgebundene Arbeitnehmer vor Billigkonkurrenz geschützt wird, liegt die Wirkung von Tarifausschlussklauseln allein im ideellen Bereich. Insofern betreffen Tarifausschlussklauseln nicht mehr das individuelle Arbeitsverhältnis. Sie zählen deshalb nicht zu den Inhaltsnormen. Da die kollektive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften nicht die normative Wirkung der Tarifausschlussklausel erfordert, macht Art. 9 Abs. 3 GG keine zwingenden Vorgaben, an die § 1 TVG angepasst werden müsste. 2. Durchsetzbarkeit Arbeitgeberseite und Gewerkschaften dürften in der Regel ein ungleiches Interesse daran haben, mittels der uneinheitlichen Anwendung des Tarifvertrags dem Gewerkschaftsbeitritt zu mehr Attraktivität zu verhelfen. Um die Differenzierungsklauseln nicht zu einer Naturalobligation und damit zu einer bloßen Empfehlung zu „degradieren“, deren Umsetzung vom Interesse des einzelnen Arbeitgebers abhängt und denen deshalb der Charakter eines effektiven Werbemittels genommen wird, ist die Durchsetzbarkeit von enormer praktischer Bedeutung. Einfache Differenzierungsklauseln unterscheiden sich nicht von sonstigen normativen Tarifklauseln, sodass sich nicht die Frage nach ihrer Durchsetzbarkeit stellt. Ihr Anspruchsinhalt kann von dem begünstigten Arbeitnehmer geltend gemacht werden. Ähnliches gilt für die Abstandsklauseln, die tarifgebundenen Arbeitnehmern unmittelbare Vorteile verschaffen. Schwieriger gestaltet sich die Durchsetzbarkeit der Tarifausschlussklauseln. Die Tarifausschlussklauseln erlangen keine unmittelbare Geltung zwischen dem Arbeitgeber und dem nichtorganisierten Arbeitnehmer. Dies ergibt sich bereits aus § 3 TVG. 43 BGH, Urt. v. 7.12.1977, BGHZ 70, 79 (80 f.); kritisch Schilling, in: Münchener Kommentar, § 535, Rn. 154 f. (m. w. N.).

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Darüber hinaus wird aber auch der einzelne Arbeitgeber (zumindest beim Verbandstarifvertrag) nicht dazu verpflichtet, die Rechtsverhältnisse mit den Nichtorganisierten entsprechend der tariflichen Regelung zu gestalten. Schließlich wirken schuldrechtliche Abreden nur zwischen den tarifschließenden Parteien, soweit nicht ausnahmsweise Dritte einbezogen werden. Während Abstandsklauseln den tarifgebundenen Arbeitnehmern einen unmittelbaren Anspruch auf eine erhöhte Leistung gegenüber dem Arbeitgeber verschaffen und damit das arbeitgeberseitige Verhalten (automatisch) „sanktionieren“, bedürfen Tarifausschlussklauseln der Umsetzung durch den Arbeitgeber und gegebenenfalls der Durchsetzung durch den Arbeitgeberverband. Aufgrund dieser (ungewissen) Umsetzung ist es entscheidend, ob auch die Gewerkschaften einen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeberverband und möglicherweise sogar gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber auf Einhaltung des Tarifvertrags haben. Erst wenn der Arbeitgeber den Tarifvertrag tatsächlich verwirklicht bzw. zu verwirklichen gezwungen ist, wird dem Nichtorganisierten nachhaltig die Möglichkeit genommen, durch individualvertragliche Vereinbarung ein dem Tarifgebundenen vergleichbares Leistungsniveau zu erreichen. Soweit die Tarifausschlussklausel in einem Firmentarifvertrag vereinbart wurde, bestehen keine Schwierigkeiten hinsichtlich der Durchsetzung. Die Gewerkschaft kann gegenüber dem Arbeitgeber auf Einhaltung des Tarifvertrags dringen, da der Arbeitgeber sich unmittelbar vertraglich gebunden hat und sich die Gewerkschaft dementsprechend auf die Durchführungspflicht berufen kann.44 Problematischer ist die Überwachung der Einhaltung eines Verbandstarifvertrages. Nach allgemeiner Ansicht steht der Gewerkschaft der tarifvertragliche Einwirkungsanspruch zu, wenn einzelne Arbeitgeber sich tarifwidrig verhalten. Dieser Anspruch richtet sich gegen den Tarifpartner und beinhaltet die Verpflichtung, mit verbandsrechtlichen Mitteln gegen die einzelnen Mitglieder vorzugehen und auf diesem Weg die Tariftreue durchzusetzen, unabhängig davon, ob es um die normative oder um die schuldrechtliche Wirkung des Tarifvertrags geht.45 Eine solche Durchsetzung von Verbandspflichten ist nach dem Wegfall des § 152 ReichsGewO, der Ansprüche aus Koalitionsvereinbarungen klaglos gestellt hat, grundsätzlich möglich. Dieser (Um-)Weg über den Arbeitgeberverband ist jedoch langwierig und damit im Ergebnis ineffizient.46 44 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 542, 1383; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 629; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 25; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 708; Walker, in: FS für Schaub, S. 744. 45 BAG, Beschl. v. 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG (Bl. 4 R f.); Urt. v. 29.4.1992, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht (Bl. 3 f.); Annuß, RdA 2000, 287 (288); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 636; Walker, in: FS für Schaub, 1998, S. 745; a. A. Feudner, DB 1991, 1118 (1120); Buchner, DB 1992, 572 ff. Siehe allgemein zur tarifvertraglichen Einwirkungspflicht Wallisch, Die tarifvertraglichen Einwirkungspflichten, 1998.

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

Schließlich dürfte die Motivation eines Arbeitgeberverbands nicht sehr hoch sein, seine Mitglieder zu maßregeln und möglicherweise sogar ihren Austritt zu riskieren, um einer (vorrangig) der Gewerkschaft nützlichen Tarifausschlussklausel Geltung zu verschaffen. Unterstrichen wird die mangelnde Effektivität des Einwirkungsanspruchs noch dadurch, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, sich durch den Verbandsaustritt der Tarifgeltung des Tarifvertrags zu entziehen.47 Für schuldrechtliche Abreden besteht keine Nachwirkung i. S. d. § 4 Abs. 5 TVG.48 Als Folge hiervon wird in der Literatur die (tatsächliche) Verbindlichkeit der Tarifausschlussklausel grundsätzlich angezweifelt, denn es fehle beim Verbandstarif überhaupt an einer Verpflichtung des Arbeitgebers, den Tarifausschluss vorzunehmen.49 Erst der unmittelbare Anspruch gegen den einzelnen tarifgebundenen Arbeitgeber würde der Tarifausschlussklausel zur vollen Wirksamkeit verhelfen. Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass aus den §§ 1004, 823 BGB i. V. mit Art. 9 Abs. 3 GG ein Unterlassungsanspruch resultieren kann, wenn der Arbeitgeber sich koalitionsfeindlich betätigt; Art. 9 Abs. 3 GG verkörpert ein absolutes Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB bzw. stellt ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 GG dar.50 In seinem Beschluss vom 20.4.1999 hat das BAG – abweichend von seiner bisherigen Rechtsprechung51 – nunmehr ausdrücklich anerkannt, dass die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften verletzt werden kann, wenn der Arbeitgeber tarifwidrige Einzelarbeitsverträge abschließt: „Eine Einschränkung oder Behinderung der Koalitionsfreiheit liegt vielmehr auch in Abreden oder Maßnahmen, die zwar nicht die Entstehung oder den rechtlichen Bestandteil eines Tarifvertrags betreffen, aber darauf ge46 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1382; Schwarze, ZTR 1993, 229 (231); Walker, in: FS für Schaub, S. 758; siehe hierzu auch die Darstellung von Berg, in: FS für Däubler, S. 497 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 637 m. w. N. in Fn. 594, und die Fallgestaltung in LAG Frankfurt, Urt. v. 27.6.1991, DB 1991, 2390 ff. 47 Vgl. beispielsweise die Stellungnahme des Zentralverbandes des deutschen Baugewerbes zum Urlaubsgeld für Organisierte, RdA 1962, 149, der in diesem Zusammenhang eine Schwächung der Arbeitgeberverbände befürchtet. 48 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1451; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 71 f., 75; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 41. 49 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 73; in diesem Sinne auch Hessel, DB 1960, 208 (210); Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 26 f.; Floretta, DRdA 1968, 1 (11); Zachert/AGAR, Tarifvertrag, S. 184. 50 BAG, Urt. v. 17.2.1998, AP Nr. 87 zu Art. 9 GG (Bl. 7); Urt. v. 2.6.1987, AP Nr. 49 zu Art. 9 GG (Bl. 2 R); BAG, Urt. v. 26.4.1988, AP Nr. 101 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 2); BGH, Urt. v. 6.10.1964, BGHZ 42, 210 (220); in diesem Sinne bereits Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 144 ff. 51 BAG, Beschl. v. 20.8.1991, AP Nr. 2 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt; die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG, Beschl. v. 29.6.1993, NZA 1994, 34, als unzulässig zurückgewiesen.

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richtet sind, dessen Wirkung zu vereiteln oder leer laufen zu lassen.“52 Das BAG schränkt diesen Grundsatz jedoch dahingehend ein, dass nur eine Regelung mit kollektivem Charakter, „die einheitlich wirken und an die Stelle der Tarifnorm treten soll“53, die kollektive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft beeinträchtigt. Dies ist durchaus folgerichtig, da erst durch eine kollektive Maßnahme der Tarifvertrag als Ordnungsinstrument des Arbeitslebens in Frage gestellt wird. Dementsprechend besteht kein Unterlassungsanspruch der Gewerkschaft, wenn lediglich in Einzelarbeitsverträgen gegen den Tarifvertrag verstoßen wird. Fraglich ist, ob der Gewerkschaft ein Unterlassungsanspruch auch dann zusteht, wenn der Arbeitgeber gegen eine Tarifausschlussklausel verstoßen hat und die Gefahr besteht, dass er auch weiterhin hiergegen verstoßen wird. Diese Klauseln gelten, wie gesagt, nur schuldrechtlich. Das BAG hat aber in seinem Beschluss vom 20.4.1999 betont, dass als Voraussetzung für den Unterlassungsanspruch der Tarifvertrag normativ gelten muss.54 Der Grund für diese Einschränkung ist darin zu sehen, dass der Tarifvertrag den Arbeitgeber unmittelbar verpflichten muss. Nur dann kommt überhaupt ein Tarifbruch in Betracht. Die vom BAG vorgenommene Herleitung des Unterlassungsanspruchs ist jedoch nicht auf normative Tarifverträge beschränkt, sondern kann gleichermaßen auf die schuldrechtlich geltenden Tarifklauseln übertragen werden. Denn die unmittelbare Geltung des Tarifvertrags geht nicht zwingend mit dem normativen Teil einher. Beispielsweise ist der Arbeitgeber im Nachwirkungszeitraum trotz normativer Wirkung frei, den Tarifvertrag gemäß § 4 Abs. 5 TVG durch andere Abmachungen zu ersetzen. Umgekehrt ist es denkbar, dass ein Arbeitnehmer aus einer schuldrechtlichen Tarifvereinbarung unmittelbar Ansprüche erwirbt. Nach dem Bekunden des BAG dient das Klagerecht dem Schutz des Tarifvertrags vor Aushöhlung und damit der kollektiven Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft. Schuldrechtliche Abreden in Tarifverträgen, die wie die Tarifausschlussklauseln die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betreffen, werden genauso wie die normativen Bestimmungen von der kollektiven Koalitionsfreiheit 52 BAG, Beschl. v. 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG (Bl. 8); zustimmend Däubler, AiB 1999, 481 (482); Kocher, ArbuR 1999, 382 ff. Wiedemann, RdA 2000, 169 (171 f.); Wolfarth, NZA 1999, 962 (963); kritisch hierzu Buchner, NZA 1999, 897 ff.; Löwisch, BB 1999, 2080 ff.; Walker, ZfA 2000, 29 (40 f.). 53 BAG, Beschl. v. 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG (Bl. 8 R); zustimmend Berg, in: Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, § 77 Rn. 85a; ständige Rechtsprechung seit RAG, Urt. v. 19.9.1928, Bensh. Samml. 4, 53 (56 f.); Urt. v. 30.1.1929, Bensh. Samml. 5, 280 (284); in diesem Sinne auch Buchner, DB 1992, 572 (580); Gamillscheg, in: FS für Henckel, S. 220 f.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/ 1, S. 333; Walker, in: FS für Schaub, S. 746 f.; a. A. Kempen, ArbuR 1989, 261 (265); Wallisch, Die tarifvertraglichen Einwirkungspflichten, S. 107 ff.; so wohl auch Däubler, ArbuR 1995, 305 (309). 54 BAG, Beschl. v. 20.4.1999, AP Nr. 89 zu Art. 9 GG (Bl. 8 R, 10 R); vgl. hierzu Annuß, RdA 2000, 287 (295); Rieble, ZTR 1999, 483 (485).

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

des Art. 9 Abs. 3 GG geschützt.55 Dementsprechend ist es nicht ausgeschlossen, dass die Gewerkschaft schuldrechtliche Tarifverpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber durchsetzt. Eine Beeinträchtigung der Wirkung des Tarifvertrags kann aber nur dann angenommen werden, wenn der einzelne Arbeitgeber – wie beim Firmentarifvertrag – bereits aus dem Tarifvertrag gegenüber den Arbeitnehmern bzw. der Gewerkschaft verpflichtet ist, die Tarifausschlussklausel umzusetzen. Erst unter dieser Voraussetzung kann ein relevanter Tarifbruch gegeben sein. Wenn der schuldrechtliche Teil des Tarifvertrags hingegen nur zwischen den Tarifpartnern seine Wirkung entfaltet und der einzelne Arbeitgeber nur aufgrund seiner Verbandsmitgliedschaft zur Umsetzung verpflichtet ist, stellt die Nichtanwendung eine reine Verletzung innerverbandlicher Pflichten dar. Die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften wird hierdurch nicht berührt. Nach der herrschenden Verbandstheorie sind nur die tarifschließenden Verbände Vertragspartei, nicht die einzelnen Mitglieder.56 Erst § 4 Abs. 1 TVG statuiert eine Durchführungspflicht für das einzelne Mitglied hinsichtlich normativer Tarifklauseln; durch schuldrechtliche Abreden wird das einzelne Mitglied dagegen grundsätzlich nicht verpflichtet, da es einen Vertrag zu Lasten Dritter nicht gibt.57 Folglich kann die Gewerkschaft den einzelnen verbandsangehörigen Arbeitgeber nicht zur Einhaltung der Tarifausschlussklausel zwingen. Zur Durchsetzung der Tarifausschlussklausel verbleibt es bei der Einwirkungsklage gegenüber dem Arbeitgeberverband. Diese Einwirkungspflicht des Arbeitgeberverbands greift nach überwiegend vertretener Ansicht jedoch nur dann, wenn der Arbeitgeber durch kollektive Maßnahmen die Tarifgeltung faktisch einschränkt und damit „planmäßig“ die tarifliche Ordnung aushöhlt.58 Insofern gilt das oben zum Unterlassungsanspruch gegen den einzelnen Arbeitgeber Gesagte. Dementsprechend werden die Einwirkungspflicht und damit die Verbindlichkeit der Tarifausschlussklausel weiter geschwächt; gegenüber tarifwidrigen Individualvereinbarungen hat die Gewerkschaft keine Sanktionsmöglichkeiten. Aus den vorangegangenen Erläuterungen ergibt sich ein mit der Abstandsklausel vergleichbares Bild: Die Abstandsklausel entfaltet ihre Wirkung nur, wenn der Arbeitgeber eine kollektive Regelung – wie beispielsweise eine Ge55

Siehe im Einzelnen unten S. 144 ff. BAG, Urt. v. 16.2.1962, AP Nr. 12 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit (Bl. 2); Urt. v. 14.11.1973, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau (Bl. 1 R); Annuß, RdA 2000, 287 (288); Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 149 m. w. N. 57 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 8 R); Annuß, RdA 2000, 287 (288); Walker, in: FS für Schaub, S. 744; demgegenüber befürwortet Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 633 f., ders., in: FS für Henckel, S. 223 f., ausnahmsweise einen Vertrag zu Lasten Dritter, sodass auch der Arbeitgeber gegenüber der Gewerkschaft unmittelbar verpflichtet werden kann. 58 BAG, Urt. v. 29.4.1992, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht (Bl. 4 R); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 631 f.; Walker, in: FS für Schaub, S. 746 f.; in diesem Sinne bereits RAG, Urt. v. 19.9.1928, Bensh. Samml. 4, 53 (57); anders wohl Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 549. 56

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samtzusage oder eine betriebliche Einheitsregelung – trifft; nur in solchen – der Tarifausschlussklausel widersprechenden – kollektiven Fällen hat die Gewerkschaft einen Einwirkungsanspruch gegen den Arbeitgeberverband. Der individuell ausgehandelte Einzelarbeitsvertrag hat auf die Abstandsklausel keinen Effekt59; soweit gegen eine Tarifausschlussklausel im individuell ausgehandelten Arbeitsvertrag verstoßen wird, hat die Gewerkschaft keine Möglichkeit, auf den Arbeitgeberverband einzuwirken, um den Tarifvertrag durchzusetzen. Zu betonen ist aber auch der Unterschied zwischen Abstandsklausel und Tarifausschlussklausel: Im Gegensatz zu ersterer verbietet die letztere grundsätzlich sämtliche tarifvertragswidrigen Verträge, also auch Einzelarbeitsverträge ohne kollektiven Charakter; das entsprechende Verbot der Individualvereinbarung lässt sich jedoch nur – wie oben gezeigt – im Rahmen eines Firmentarifvertrags effektiv durchsetzen.

II. Gemeinsame Einrichtungen Die zuvor geschilderten rechtlichen Konstruktionen haben zur Folge, dass die Differenzierung vom einzelnen Arbeitgeber vorgenommen werden muss. Ihm obliegt es, den Außenseitern bestimmte tarifliche Vorteile vorzuenthalten (Tarifausschlussklausel) oder den tarifgebundenen Arbeitnehmern bestimmte Zuschläge zu gewähren (Abstandsklausel). Den Tarifvertragsparteien steht aber auch die Möglichkeit offen, eine Gemeinsame Einrichtung i. S. d. § 4 Abs. 2 TVG mit der Abwicklung zu betrauen. Der ehemalige Vorsitzende der IG BauSteine-Erden Leber fasste auf einer Pressekonferenz vom 29.11.1961 in Frankfurt a. M. die Vorteile der Verteilung mit Hilfe einer Gemeinsamen Einrichtung – „diese[m] etwas umständliche[n] Weg“ – zusammen. Vorteile würden sich daraus ergeben, dass die Gesamtlohnsumme aller beschäftigten Arbeitnehmer ungeachtet ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit als Beitragsbemessungsgrundlage herangezogen werden könne. Der Arbeitgeber werde dann zur Zahlung eines bestimmten Prozentsatzes an die Gemeinsame Einrichtung verpflichtet. Damit sei die wirtschaftliche Belastung des (tarifgebundenen) Arbeitgebers unabhängig von der Anzahl der organisierten Arbeitnehmer; ein Anreiz zur Kündigung bzw. Nichteinstellung von organisierten Arbeitnehmern werde also nicht gegeben. Weiterhin werde vermieden, dass der Arbeitgeber die Ungleichbehandlung durchführen müsse und damit den Betriebsfrieden gefährde. Damit zusammenhängend werde verhindert, dass sich der Arbeitgeber veranlasst sehen könnte, auf Schleich- und Umwegen die Außenseiter den tarifgebundenen Arbeitnehmern gleichzustellen. 60 59

Vgl. im Einzelnen unten S. 170 ff. Leber, RdA 1962, 18 (21); ebenso die Empfehlung von Däubler, BB 2002, 1643 (1647). Nach Hromdaka, NJW 1970, 1441 (1441 f.), hängen die Verbreitung der Ge60

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1. Kap.: Die Problematik der Differenzierungsklauseln

Die Inanspruchnahme einer Gemeinsamen Einrichtung kann auf zwei Wegen erfolgen. Zum einen kann den Arbeitnehmern ein unmittelbarer Anspruch gegen die Gemeinsame Einrichtung zugesprochen werden. So gewährt die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes Beihilfen zur Rente aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung.61 Zum anderen kann ein Anspruch der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber bestehen (bspw. auf Urlaubsgeld); der Arbeitgeber erhält seinerseits seine Ausgaben von der Gemeinsamen Einrichtung ersetzt. In diesem Sinne arbeitet beispielsweise die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft.62 Bei letzterer Variante können, sofern die Bevorzugung tarifgebundener Arbeitnehmer vereinbart ist, die von Leber befürchteten Folgen auftreten: Der Betriebsfrieden kann gestört werden, und der Arbeitgeber erhält entgegen der Intention der Tarifvertragsparteien die Gelegenheit zur Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer. Zudem entsteht die Problematik, dass gegenüber dem Arbeitgeber die Gewerkschaftszugehörigkeit offenbart werden muss, was sicherlich nicht immer im Interesse der Arbeitnehmer ist. Arbeitgeber bzw. der Verband und die Gewerkschaft können sich darauf einigen, die Leistungen einer Gemeinsamen Einrichtung auf die verbandsangehörigen Arbeitnehmer zu beschränken. Sie können aber auch die Gemeinsame Einrichtung den Außenseitern öffnen – d.h. auch den Außenseitern Ansprüche gewähren – und dann die Gewerkschaftszugehörigkeit bei der Verteilung der Mittel berücksichtigen, wie es z. B. im bereits erwähnten Tarifvertrag der Miederindustrie gegenwärtig der Fall ist. In der Miederindustrie zahlt der „Verein Berufs- und Lebenshilfe für die Arbeitnehmer der Miederindustrie e. V.“63 einen Zuschuss zur betrieblichen Altersversorgung an eine externe Pensionskasse. Dabei führt die Mitgliedschaft in der IG Metall zu einer erhöhten Einzahlung in die Pensionskasse. In beiden Fällen ist die Wirkung mit der einer einfachen Differenzierungsklausel vergleichbar, da im Tarifvertrag lediglich die beschränkte Normwirkung der §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 2 TVG berücksichtigt wird, während es den Arbeitgebern unbenommen ist, die Differenz auszugleichen. Hieran werden sie erst dann gehindert, wenn zusätzlich eine qualifizierte Differenzierungsklausel vereinbart wird. meinsamen Einrichtungen und die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln eng miteinander zusammen. 61 Vgl. Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der Gemeinsamen Einrichtungen, S. 18 f., 125 f. 62 Vgl. Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der Gemeinsamen Einrichtungen, S. 19 f., 122 f. 63 Dass es sich bei diesem Verein um eine Gemeinsame Einrichtung i. S. v. § 4 Abs. 2 TVG handelt, wird bestritten von Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der Gemeinsamen Einrichtungen, S. 138 f.; a. A. Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 133 f. Offen gelassen von Zöllner, Gutachten zum 48. DJT, Bd. I, S. G 20, der von einem Widerspruch zur Rechtsprechung des BAG GrS v. 29.11.1967 und einem Verstoß gegen die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten ausgeht (Fn. 41).

C. Rechtliche Konstruktion

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Ob die Gemeinsame Einrichtung dazu verpflichtet ist, sich für Außenseiter zu öffnen und ihnen gleich den tarifgebundenen Arbeitnehmern Leistungen zu gewähren, beurteilt sich nach den gleichen Gesichtspunkten, wie sie auch sonst für Tarifverträge heranzuziehen sind. Schließlich ergibt sich der Kreis der Anspruchsberechtigten aus dem der Gemeinsamen Einrichtung zugrunde liegenden Tarifvertrag. Die Gemeinsame Einrichtung unterstützt lediglich den Arbeitgeber oder tritt an seine Stelle – ggf. als Gesamtarbeitgeber, soweit Aufgaben mehrerer Betriebe wahrgenommen werden –, wenn Ansprüche der Arbeitnehmer unmittelbar gegen die Gemeinsame Einrichtung bestehen.64 Wird die Differenzierung zudem durch eine qualifizierte Differenzierungsklausel abgesichert, gelten auch diesbezüglich keine Besonderheiten.65 Die Einschaltung einer Gemeinsamen Einrichtung führt damit nicht zu einer qualitativen Änderung der Differenzierung. Insbesondere wird hierdurch nicht die Tarifmacht der Tarifvertragsparteien erweitert; genauso wie die Inhaltsnormen finden auch die Rechtsnormen des Tarifvertrags über Gemeinsame Einrichtungen nicht auf Außenseiter Anwendung.66 Angemerkt sei schließlich, dass die Erstreikbarkeit von Gemeinsamen Einrichtungen grundsätzlich möglich ist; differenzieren die Gemeinsamen Einrichtungen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, sind sie im gleichen Maße erkämpfbar, wie sonstige Tarifverträge mit Differenzierungsklauseln.67 Deshalb ist es entbehrlich, bei den folgenden Erörterungen gesondert auf die Gemeinsamen Einrichtungen einzugehen.

64 Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 12 f.; Hromadka, NJW 1970, 1442 (1443). Einen Überblick über die unterschiedlichen Gemeinsamen Einrichtungen bieten Assenmacher, Funktionen und Befugnisse der Gemeinsamen Einrichtungen, S. 18 ff., und Zöllner, Gutachten zum 48. DJT, Bd. I, S. G 16 ff. 65 Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 108 f.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 101; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 30; Hromadka, NJW 1970, 161 (164); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 57; Mayer-Maly, BB 1965, 829 (832); Zöllner, Gutachten zum 48. DJT, Bd. I, S. G 77. 66 Die von Bötticher entwickelte Gegenansicht, wonach § 3 Abs. 2 TVG auf betriebs- und unternehmensbezogene Gemeinsame Einrichtungen analog anzuwenden ist, konnte sich nicht durchsetzen. Vgl. Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 79 ff. (insb. S. 83 ff.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1153; in diese Richtung gehen auch die Überlegungen von Gitter, JurA 1970, 148 (161 f.). Hiergegen BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 8); Assenmacher, Funktionen und Befugnisse Gemeiner Einrichtungen, S. 194 ff.; Zöllner, Gutachten zum 48. DJT, Bd. I, S. G 78. 67 Aus ihrer Sicht folgerichtig für eine Erstreikbarkeit Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 50; a. A. Hanau, RdA 1970, 161 (164).

Kapitel 2

Differenzierungsklauseln in der Praxis A. Differenzierungsklauseln vor und während der Weimarer Zeit Um die notwendige Durchsetzungsfähigkeit zu erlangen, haben die Gewerkschaften seit ihrem Bestehen versucht, neue Mitglieder u. a. dadurch zu gewinnen, dass sie besondere materielle Vorteile an den Gewerkschaftsbeitritt geknüpft haben. Zumeist ging es darum, dass die Gewerkschaftszugehörigkeit zur Bedingung für einen bestimmten Arbeitsplatz gemacht wurde. In England und den USA war der closed shop lange Zeit die bevorzugte Maßnahme der Gewerkschaften, um ihren Mitgliederbestand zu sichern. Auch im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik standen Absperrungsklauseln im Vordergrund gewerkschaftlicher Organisationspolitik und der juristischen Auseinandersetzung.1 Dass sich Arbeitnehmer weigerten, mit Nicht- oder Andersorganisierten zusammenzuarbeiten und aus diesem Grund mit Streik drohten, war keine Seltenheit.2 Die Abstandsklauseln haben hingegen in der Weimarer Republik keine größere Aufmerksamkeit erfahren.3 Nach Darstellung von Auerbach lässt sich die Tarifausschlussklausel allein in einem Tarifvertrag eines west1 Vgl. exemplarisch den Sachverhalt von RAG, Urt. v. 22.8.1929, Bensh. Samml. Bd. 7, S. 6 ff.; Baum, NZfA 1922, Sp. 23 (24 f.); Gauß, JW 1921, 521 ff.; Krebs, Die Organisationsklausel (insb. S. 8 ff.); Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 78 ff.; Meissinger, Der Arbeitgeber 1922, 111 ff.; Nolting-Hauff, NZfA 1928, 461 (463 ff.); Potthoff, Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 14 ff.; Alfred Schneider, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 87 ff.; Sinzheimer, JW 1921, 304 ff.; ders., Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 82 f. Nach Schulz, Gutachten zum 29. DJT, Bd. I, S. 234, finden sich tarifvertragliche Absperrungsklauseln zuerst in den Jahren 1872 und 1888. 2 Vgl. die Sachverhalte in RG, Urt. v. 6.4.1922, RGZ 104, 327 ff.; RAG, Urt. v. 24.4.1929, Bensh. Samml. Bd. 6, 427 ff.; Urt. v. 13.9.1928, Bensh. Samml. Bd. 4, 120 ff.; Urt. v. 15.12.1927, Bensh. Samml. Bd. 4, 126 ff.; OLG Dresden, Urt. v. 1.2.1923, RABl. (Amtl. Teil) 1925, 286 f.; OLG Jena, Urt. v. 6.11.1922, RABl. (Amtl. Teil) 1924, 184; LAG Altona, Urt. v. 15.12.1927, Bensh. Samml. Bd. 4 Nr. 32 LAG; LAG Frankfurt, Urt. v. 13.9.1928, Bensh. Samml. Bd. 4 Nr. 30 LAG, S. 120 ff. Siehe hierzu Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3.–5. Aufl., S. 519. 3 Meissinger, Der Arbeitgeber 1922, 111 (112), beschreibt eine Art Abstandsklausel, die er Meistbegünstigungsklausel nennt, und deren Wesen darin besteht, dass übertarifliche Arbeitsbedingungen, die einem Arbeitnehmer gewährt werden, der gesamten Belegschaft gewährt werden müssen. Dadurch soll verhindert werden, dass den tarif-

A. Differenzierungsklauseln der Weimarer Zeit

45

lichen Bergreviers im Jahre 1922 nachweisen. „[Die Tarifausschlussklausel] ist auch bald von den Gewerkschaften wieder ausgemerzt worden; eine ähnliche Forderung ist auch meines Wissens nicht mehr wiederholt worden.“4 Die Vorteilsregelung betraf Kindergeld, Hausstandsgeld, bezahlten Urlaub sowie Deputatkohle; zudem sollten die Löhne der Nichtorganisierten um zehn Mark pro Schicht hinter denen der Organisierten zurückbleiben (dies stellt keine Abstandsklausel dar, da der Tarifvertrag damit den Höchstlohn für die Nichtorganisierten festlegt). Dieser außergewöhnliche Tarifabschluss hat dementsprechend größere Aufmerksamkeit erlangt5; anders als die Abstandsklausel war die Tarifgebundenen Arbeitnehmern vorbehaltene tarifliche Leistungen durch den Arbeitgeber ausgeglichen werden. 4 Auerbach, Nichtorganisierte und Tarifvertrag, S. 24. Siehe zu weiteren Beispielen unten S. 45 Fn. 5. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3.–5. Aufl., S. 510 f., und Nipperdey, in: ders., Die Grundrechte, Bd. III, S. 427, haben die Tarifausschlussklausel – wegen der technischen Schwierigkeiten – als wenig gebräuchlich bezeichnet. Ebenso Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, 4. Aufl., S. 318 Fn. 4 („praktisch selten“); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 35; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 11; ders., Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung, S. 59; Alfred Schneider, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 89, 90 („Ausnahmefälle, wie sie in der Praxis nur sehr selten vorkommen werden“); anders aber die Einschätzung von Fechner, Rechtsgutachten, S. 58: „Die Klauseln (Anm.: gemeint sind die Tarifausschlussklauseln) kommen nicht häufig vor, sind aber doch schon seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts gebräuchlich . . .“ 5 Auerbach, Nichtorganisierte und Tarifvertrag, S. 24. Vermutlich ist es dieser Tarifvertrag, der von Sinzheimer, Das zukünftige Arbeitsrecht, S. 10, in Bezug genommen wird. Siehe auch Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 10 f., der noch über zwei gescheiterte Versuche in der Bergbauindustrie berichtet: Zu den (gescheiterten) Verhandlungen im Dezember 1921 im Ruhrkohlenbergbau: Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 80; hierzu wohl auch Zimmermann, Soziale Praxis 1922, 161 (162 f.). Zu einem entsprechenden Versuch in einem mitteldeutschen Braunkohlenrevier Ruck, in: Weber/Schönhoven/Tenfelde, Gewerkschaften, Bd. II, S. 492 Fn. 11. Siehe zum ablehnenden Schiedsspruch, der von den Tarifvertragsparteien nicht angenommen wurde, die Zusammenfassung in Soziale Praxis 1922, 329 (330), 418 (420). Letztendlich einigten sich die Parteien dahingehend, dass die Tarifausschlussklausel den zentralen Verhandlungen überlassen werden sollte, über deren Ergebnis jedoch nichts bekannt ist. Der Schiedsspruch billigte den Vertrauensleuten – entgegen dem Willen der Arbeitgeber – das Recht zu, die Organisationszugehörigkeit zu überprüfen, um das Vordringen syndikalistischer Gewerkschaften zu verhindern (vgl. Soziale Praxis 1922, 329 [330]). Siehe zum Organisationszwang aus Sicht der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft FAUD Linow, Gewerkschaftsbewegung und Arbeitsrecht, S. 24, 34 ff., Spaniol, Organisationszwang – Koalitionsraub!, Der Syndikalist Nr. 5 (1922). Zimmermann, a. a. O., 145 (148), berichtet von einem entsprechenden Konflikt um die einheitliche Anwendung des Tarifvertrags in der Wasserbauverwaltung im August 1921. Nach Darstellung von Sitzler, Gewerbe- und Kaufmannsgericht 1920, 63 (66 f.), hat sich das Reichsarbeitsministerium gegen die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifausschlussklauseln – eine „neuerdings auftretende(n) Neigung“ der Gewerkschaften – gewandt. Demgegenüber wurden nach Zimmermann, Soziale Praxis 1922, 161 (163), entsprechende Tarifverträge vom Reichsarbeitsministerium anerkannt (Gamillscheg,

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2. Kap.: Differenzierungsklauseln in der Praxis

ausschlussklausel, die vereinzelt als „Organisationsklausel im weiteren Sinne“6 bezeichnet wurde, Gegenstand der juristischen Diskussion.7 Eine lange Tradition kann der Tarifausschlussklausel im Speziellen und der Differenzierungsklausel im Allgemeinen damit nicht attestiert werden.

B. Die Tarifpraxis in der Bundesrepublik Versuche, die in der Weimarer Republik geübte Praxis der Absperrungs- bzw. Organisationsklauseln in der Bundesrepublik weiterhin zu praktizieren, scheint es nicht gegeben zu haben. Auch wenn in einer Reihe von Unternehmen de facto closed shops existiert haben sollen8, wurden und werden unter Geltung des Grundgesetzes derartige Klauseln nach allgemeiner Ansicht für unvereinbar mit Art. 9 Abs. 3 GG gehalten. Gegenstand einer intensiveren Auseinandersetzung waren derartige Klauseln zu keinem Zeitpunkt.9 Nachdem die Einführung von Solidaritätsbeiträgen rechtlich und tatsächlich nicht machbar war,10 gerieten ab Ende der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts Differenzierungsklauseln in das gewerkschaftliche und juristische Blickfeld.

Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 11 Fn. 12, hält diese Feststellung für unzutreffend). 6 Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 80. 7 Diskutiert wurde die Tarifausschlussklausel beispielsweise von Asmus, Negative Vereinigungsfreiheit, S. 76 ff. (insb. S. 81 f.); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3.–5. Aufl., S. 510 ff.; Krebs, Die Organisationsklausel, S. 2, 8 („nur von geringer Bedeutung“), 17, 46 f.; Meissinger, Der Arbeitgeber 1922, 111 (112); Müller, RABl. (Nichtamtl. Teil) 1921, 984 (985 f.); Nipperdey, in: Die Grundrechte, Bd. III, S. 426 ff.; Nolting-Hauff, NZfA 1928, 461 (474 ff.); Rohlfing, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 93, 94; Zimmermann, Soziale Praxis 1922, 145 (147 f.), 161 ff. 8 Hanson/Jackson/Miller, The Closed Shop, S. 223 ff.: „The evidence from all three countries (Anm.: gemeint sind USA, Großbritannien und Westdeutschland) suggests that where the law has sought to restrict or abolish the pre-entry closed shop it has been largely ineffective.“ (S. 236) Ebenso im Hinblick auf Großbritannien KahnFreund, Arbeit und Recht, S. 211. Die Beweisbarkeit hinsichtlich Westdeutschland wird angezweifelt von Scharpf, Autonome Gewerkschaften, S. 32 Fn. 38. Die Problematik des gewerkschaftlichen Zwanges wurde von der CDU in den Bundestagswahlkampf 1976 eingeführt (vgl. die Erweiterte Dokumentation über den Mißbrauch gewerkschaftlicher und politischer Macht durch die SPD- und Gewerkschafts-Funktionäre, Bonn ca. 1976). 9 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 388. 10 Vgl. die Ausführungen des Vorsitzenden der IG Bau-Steine-Erden Lebach, RdA 1962, 18 (20); siehe zu dem Vorschlag Hueck, RdA 1961, 141 ff.; zu weiteren Nachweisen siehe unten S. 252 Fn. 104.

B. Die Tarifpraxis in der Bundesrepublik

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I. Praktische Versuche zur Einführung von Differenzierungsklauseln Ein frühes Beispiel für den – wohl erfolglosen – Versuch, eine Differenzierungsklausel in Gestalt einer Tarifausschlussklausel zu vereinbaren, findet sich im Zusammenhang mit einem regionalen Lohntarifvertrag der IG Chemie-Papier-Keramik, der im Sommer 1959 abgeschlossen wurde. Bereits in den Jahren zuvor lagen auf diversen Gewerkschaftstagen Anträge zugunsten entsprechender Klauseln vor.11 Große Beachtung haben auch organisationspolitische Maßnahmen in Tarifverträgen des Baugewerbes gefunden. Zunächst scheiterte der Entwurf eines Tarifvertrags vom 23.11.1961, aufgrund dessen die in der IG BauSteine-Erden organisierten Arbeitnehmer ein zusätzliches Urlaubsgeld in Höhe von 80 DM erhalten sollten, am Widerstand der Arbeitgeberseite.12 In einem Tarifvertrag vom 10.8.1962 wurde dann festgelegt, dass die von der Zusatzversorgungskasse zu gewährende Alters- und Invalidenbeihilfe nicht nur von der Dauer der Betriebszugehörigkeit, sondern auch von der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängen soll.13 Ein ähnlicher Tarifvertrag konnte am 21.12.1964 für die Miederindustrie abgeschlossen werden. Dieser diente der Pflege und Förderung der Gesundheit aller gewerblichen Arbeitnehmer, sah aber die Möglichkeit vor, bei der Ausschüttung der Gelder durch die Gemeinsame Einrichtung die Gewerkschaftszugehörigkeit zu berücksichtigen. Noch einen Schritt weiter ging der Tarifvertrag der Saarländischen Textil- und Lederindustrie vom 14.9.1963, der Leistungen des zu gründenden Vereins zur Förderung von Gesundheit und Erholung ausschließlich für Mitglieder der Gewerkschaft Textil-Bekleidung vorsah (die Satzung des Vereins erweiterte den Kreis der Begünstigten auf die Mitglieder von DGB-Gewerkschaften).14

11 Vgl. Merker, DB 1960, 263 (263, 264); Lehna, DB 1959, 916 (917), berichtet von einem zurückliegenden Fall bei den Wuppertaler Stadtwerken, ohne jedoch genauere Datumsangaben zu machen. 12 Vgl. zur Auseinandersetzung Der Arbeitgeber 1960, 444 f.; RdA 1962, 17 f., 73, 148 f.; Leber, RdA 1962, 18 ff. 13 Der Tarifvertrag findet sich bei Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 174 ff.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 111 ff. Vgl. zu diesem Tarifvertrag Gamillscheg, a. a. O., S. 12 f. Als Folge der Entscheidung des BAG GrS wurde die Gewerkschaftsrente 1969 aufgegeben (vgl. RdA 1981, 177 [178]). 14 Abgedruckt bei Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 202 ff. (Miederindustrie), 210 ff. (Textil- und Lederindustrie); vgl. hierzu Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 13 f.

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2. Kap.: Differenzierungsklauseln in der Praxis

II. Die Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 29.11.1967 In seinem Beschluss aus dem Jahre 1967 hat sich der Große Senat des BAG mit der Zulässigkeit von Abstandsklauseln ausführlich auseinandergesetzt.15 Seine Erwägungen dürften aber auch auf die Tarifausschlussklauseln übertragbar sein, da beide Arten von Klauseln in ihrer Zielsetzung vergleichbar sind: Der organisierte Arbeitnehmer wird gegenüber dem nichtorganisierten (faktisch) bevorzugt. Lediglich in der rechtlichen Konstruktion, der der Große Senat keine die Entscheidung tragende Bedeutung beigemessen hat, bestehen Unterschiede. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde: Von der Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB) wurde nach Auslaufen des bestehenden Tarifvertrags zum 31.12.1964 eine tarifliche Nachfolgevereinbarung mit dem Arbeitgeberverband der Bekleidungsindustrie Westfalen angestrebt, die folgenden Inhalt enthalten sollte16: § 1 Urlaubsgeld (1) Zur erholungswirksamen Gestaltung des Urlaubs wird den Beschäftigten der Firma . . . ein zusätzliches Urlaubsgeld gezahlt . . .

Der Arbeitgeber sollte 2% der Jahresbruttolohnsumme auf ein von der GTB benanntes Treuhandkonto überweisen; anders als bei den zuvor dargestellten Tarifverträgen, wurde also auf die Gründung einer eigenen Kasse verzichtet.17 § 3 Auszahlung des Urlaubsgeldes (1) Die Treuhänder sind verpflichtet, vor Beginn des Jahresurlaubs den eingezahlten Betrag als zusätzliches Urlaubsgeld an die im Betrieb beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer nach folgender Maßgabe auszuzahlen:

15 Da die Parteien das Ruhen des der Entscheidung zugrundeliegenden Verfahrens vereinbart hatten, ist es zu einer endgültigen Entscheidung nicht mehr gekommen. Aus diesem Grund wird die Rechtskraftwirkung der Entscheidung des BAG GrS angezweifelt; vgl. Däubler, BB 2002, 1643 (1644); Hensche, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 873. Das BAG hat in seinem Urt. v. 21.3.1978, AP Nr. 62 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 R), jedoch die bindende Wirkung ausdrücklich festgestellt. 16 Der hier angeführte inhaltsgleich Firmentarifvertrag ist abgedruckt in SAE 1969, 246 (246 f.), sowie bei Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 208 f. Eine ähnliche Forderung wurde wohl auch von der IG Holz erhoben (vgl. Fechner, Rechtsgutachten, S. 9 ff.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 15 f.; Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 16). 17 Ob das Treuhandkonto, soweit es als Gemeinsame Einrichtung anerkannt wird, paritätisch von Arbeitgebern und Gewerkschaft verwaltet werden muss, ist umstritten. Dafür: Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 136 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 299 f.; Mayer-Maly, BB 1965, 829 (831). Dagegen: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1134; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 364.

B. Die Tarifpraxis in der Bundesrepublik

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a) Alle Arbeitnehmer, die bei Beginn des Urlaubs mindestens einen Monat im Betrieb beschäftigt sind, erhalten 60,– DM als Grundbetrag. b) Die Hälfte des Restbetrages erhalten die Arbeitnehmer, die zu Beginn des Urlaubs mindestens ein Jahr in der Bekleidungsindustrie beschäftigt waren, zusätzlich zum Grundbetrag anteilig ausgezahlt. c) Die andere Hälfte des Restbetrages wird an die Mitglieder der Gewerkschaft Textil-Bekleidung anteilig zu den Ansprüchen aus den Buchstaben a) beziehungsweise a) und b) zusätzlich ausgezahlt. (2–4) . . .

Die Klausel in § 3 Abs. 1 Buchst. c kann als einfache Differenzierungsklausel bezeichnet werden, da sie die Gewerkschaftsmitgliedschaft als anspruchsbegründendes Merkmal enthält. Eine Absicherung tritt erst durch nachfolgende Abstandsklausel ein: § 4 Benachteiligungsverbot (1) Wenn und soweit in der Firma beschäftigte, aber nicht in der Gewerkschaft Textil-Bekleidung organisierte Arbeitnehmer des Betriebes Geld oder sonstige Leistungen erhalten, die über die in dieser Vereinbarung festgelegten Ansprüche hinausgehen, so muss jeder in der Firma beschäftigte und der Gewerkschaft Textil-Bekleidung angehörende Arbeitnehmer zusätzlich zu den sich aus dieser Vereinbarung ergebenden Leistungen die gleichen Geld- oder sonstigen Zuwendungen erhalten, wie es bei den unorganisierten Arbeitnehmern der Fall ist . . .

§ 4 des Tarifvertrags stellt eine Abstandsklausel dar18, durch die das Fortbestehen der einfachen Differenzierungsklausel gewährleistet werden soll. Durch das Benachteiligungsverbot soll sicher gestellt werden, dass die Besserstellung der tarifgebundenen Arbeitnehmer durch das zusätzliche Urlaubsgeld nach § 3 Abs. 1 Buchst. c nicht durch zusätzliche Leistungen der Arbeitgeber an die nicht tarifgebunden Außenseiter ausgeglichen werden kann. Der Abschluss des Tarifvertrags wurde vom Arbeitgeberverband Westfalen abgelehnt aufgrund der darin vorgesehen Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit und der Auszahlung durch einen Treuhänder. Daraufhin schloss die GTB mit mehreren Unternehmen des Tarifgebiets entsprechende Firmentarifverträge.19 Einzelne Firmen, die sich weigerten, wurden bestreikt, was zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung führte. Das Arbeitsgericht Düsseldorf sowie das Landesarbeitsgericht Düsseldorf20 gaben den klagenden Unternehmen statt und erklärten die 18 Das ArbG Düsseldorf spricht in seinem Urteil vom 9.6.1965 (abgedruckt bei Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 116 ff. [S. 122]) fälschlicherweise von einer „Tarifausschlußklausel“. 19 Nach Angaben von Floretta, DRdA 1968, 1 (2), belief sich die Zahl der Firmentarifverträge auf 25. Alternativ zu der obigen Formulierung des § 4 wurde in einzelnen Firmentarifverträgen folgende Klausel vereinbart: „Gewährt der Arbeitgeber zuzüglich über den Tarifvertrag hinausgehende Leistungen, so dürfen dabei die durch diesen Tarifvertrag vorgesehenen Differenzierungen weder ganz noch teilweise beseitigt werden.“

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2. Kap.: Differenzierungsklauseln in der Praxis

angestrebten Tarifverträge für nichtig und die entsprechenden Arbeitskampfmaßnahmen für rechtswidrig. Das BAG hat die in diesem Zusammenhang auftauchenden Fragen dem Großen Senat zur Entscheidung vorgelegt.21 Die schließlich vom BAG GrS getroffene Feststellung, dass Differenzierungsklauseln mit geltendem Recht nicht zu vereinbaren sind, bildet bis heute den Status quo.

C. Auswirkungen der Entscheidung des Großen Senats des BAG In seiner Rechtsprechung musste sich das BAG ein weiteres Mal mit den Differenzierungsklauseln auseinandersetzen.22 Seinem Urteil lag aber kein grundlegend neuer Sachverhalt zugrunde. Vielmehr wurde die Frage der Zulässigkeit von differenzierenden Tarifverträgen in der Textilindustrie, die bereits zur Entscheidung des BAG GrS geführt hatte, unter einem anderen Gesichtspunkt behandelt. Die GTB wollte einen Firmentarifvertrag erstreiken, der mittels einer Urlaubskasse den bei ihr organisierten Arbeitnehmern ein erhöhtes Urlaubsgeld verschaffen sollte. Die Schadensersatzklage der Arbeitgeberseite wurde vom zuständigen Arbeitsgericht 1965 auf unbestimmte Zeit vertagt, um die Entscheidung in einem Parallelverfahren abzuwarten. Nachdem der Große Senat des BAG Differenzierungsklauseln für rechtswidrig erklärt hatte, wurde das Verfahren 1973 wieder aufgenommen. Das BAG hat die Rechtsprechung des Großen Senats ausdrücklich bestätigt23, jedoch entgegen der vorangehenden Instanzen eine Schadensersatzpflicht der Gewerkschaft verneint. Da es zum Zeitpunkt des Streiks an einer höchstrichterlichen Rechtsprechung gefehlt habe und die Differenzierungsklauseln in der Literatur sehr stark umstritten gewesen seien, könne der Gewerkschaft kein Schuldvorwurf gemacht werden. Schließlich habe sie in einem nicht vorwerfbaren Rechtsirrtum gehandelt. Zwar hat die Entscheidung des BAG GrS die Meinung der juristischen und nichtjuristischen Öffentlichkeit bis heute bestimmt, dennoch bedeutet sie keinen Schlusspunkt der Debatte um die Differenzierungsklauseln als sekuritätspolitische Maßnahmen. Auf ihrem Parteitag im Mai 1970 sprach sich die SPD für 20 ArbG Düsseldorf, Urt. v. 9.6.1965; LAG Düsseldorf, Urt. v. 1.9.1965; beide abgedruckt bei Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 116 ff., 129 ff. 21 BAG, Beschl. v. 21.2.1967, AP Nr. 12 zu Art. 9 GG. 22 BAG, Urt. v. 21.3.1978, AP Nr. 62 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. In den Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46, Nr. 47 zu Art. 9 GG, wurde vom BAG hingegen verneint, dass die Vorruhestandsregelungen Differenzierungsklauseln enthielten, sodass sich das BAG nur indirekt mit dieser Problematik befassen musste (vgl. hierzu näher unten S. 159 ff.). 23 BAG, Urt. v. 21.3.1978, AP Nr. 62 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 R).

C. Auswirkungen der Entscheidung des Großen Senats

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eine Änderung des TVG aus, um entsprechende Klauseln zu ermöglichen24; der DGB-Bundeskongress fasste 1975 einen ähnlichen Beschluss.25 Auch aus der Tarifpraxis sind Vorteilsregelungen nicht verschwunden, obwohl ein entsprechender Vorschlag der ÖTV Hamburg 1995 heftige Reaktionen hervorgerufen hatte und auf Grund eines vornehmlich negativen bundesweiten Presseechos nicht umgesetzt wurde.26 Noch 1978 waren Differenzierungsklauseln Bestandteile eines sog. Tabu-Katalogs der Lohn- und Tarifpolitik des BDA.27 In der Literatur fand eine gesonderte Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BAG GrS noch bis etwa 1975 statt. Erst in jüngerer Zeit sind wieder vereinzelt Stimmen laut geworden, die sich um eine juristische Neubewertung bemühen. Anlass hierfür sind Tarifverträge, die nach wie vor bestimmte Vorteile an die Gewerkschaftsmitgliedschaft knüpfen. Der Tarifvertrag der Miederindustrie sowie der Tarifvertrag der Textilindustrie des Saarlandes enthalten auch weiterhin die Möglichkeit, besondere Leistungen ausschließlich den Gewerkschaftsmitgliedern zu gewähren (allerdings ohne besondere Sicherung durch Tarifausschluss- oder Abstandsklauseln). In der Miederindustrie wird mittels des „Verein Berufs- und Lebenshilfe für die Arbeitnehmer der Miederindustrie e. V.“ ein zusätzlicher Beitrag zur betrieblichen Altersversorgung ausgeschüttet.28 Zachert nahm das Urteil des LAG Hamm, das über die von einem Urlaubskassenverein gezahlte Erholungsbeihilfe zu entscheiden hatte, sowie den Vorschlag der ÖTV Hamburg zum Anlass, um seine Rechtsansicht erneut darzustellen.29 Die IG Metall hat im Jahr 2004 im Bezirk Nordrhein Westfahlen in rund einem Dutzend Betrieben tarifliche Vorzugsregelungen getroffen und dabei das Spektrum dessen ausgeschöpft, was an Mitgliederboni denkbar ist.30 Die fortbestehende Praxis der Differenzierungsklauseln hat ihre Spuren auch in der Judikatur hinterlassen. Zwei Untergerichte haben dem BAG GrS offen die Gefolgschaft verweigert. In einem Urteil aus dem Jahre 1974 hat sich das LAG Düsseldorf mit der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln befasst und in Abweichung zur Entscheidung des BAG GrS festgestellt, dass gemäßigte Vorteilsregelungen prinzipiell zulässig sind.31 Die Revision hiergegen blieb er24

Vgl. hierzu Nitschke, DÖV 1972, 41 (44); Reichel, DB 1975, 102 (105 f.). Abgedruckt bei Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 206 ff. (vgl. zur vorangegangenen Diskussion S. 197 ff.; Zachert/AGAR, Tarifvertrag, S. 188 f.). Auf ihrer 7. Deutschlandtagung im September 1970 hat die DAG einen ähnlichen Beschluss gefasst. Die optimistische Einschätzung von Scharpf, Autonome Gewerkschaften, S. 35 („mittelfristig nicht ohne Erfolgsaussichten“) hat sich nicht bewahrheitet. 26 Vgl. oben S. 23 f. 27 Vgl. oben S. 23 Fn. 3. 28 Siehe hierzu das Rechtsgutachten von Däubler, BB 2002, 1643 ff. 29 Zachert, DB 1995, 322 ff. 30 Vgl. oben S. 24 Fn. 9; ein Überblick findet sich bei Bispinck, WSI-Mitteilungen 2005, 59 (66). 31 LAG Düsseldorf, Urt. v. 29.1.1974, EzA Nr. 20 zu Art. 9 GG. 25

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2. Kap.: Differenzierungsklauseln in der Praxis

folglos32; jedoch musste sich das BAG in der Sache nicht mit den Differenzierungsklauseln auseinandersetzen. Dementsprechend kann diese Entscheidung nicht herangezogen werden, um einen Wandel in der Rechtsprechung des BAG zu konstatieren.33 Wenn man das Urteil zum Überforderungsschutz beim Anspruch auf Altersteilzeit aus dem Jahre 200134 heranzieht, das auf die Urteile zu den Vorruhestandstarifverträgen aus dem Jahre 198735 verwiesen hat, die ihrerseits auf den Beschluss des Großen Senats aus dem Jahre 1967 Bezug genommen haben, könnte man sogar von einer ständigen Rechtsprechung zur Differenzierungsklauselproblematik sprechen. Zu einer neueren Entscheidung des BAG ist es jedenfalls nicht mehr gekommen – den vorgenannten Entscheidungen lagen nach Ansicht des BAG keine Differenzierungsklauseln zugrunde –, obwohl das LAG Hamm 1994 – entgegen den Grundsätzen des BAG GrS – festgestellt hat, dass Differenzierungsklauseln, die zu einer geringfügigen Besserstellung der organisierten Arbeitnehmer führen, keinen rechtlichen Bedenken ausgesetzt sind.36 Die Revision wurde vom LAG Hamm nicht zugelassen. Der gegen diese Entscheidung eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BAG zwar stattgegeben.37 Zu einer Befassung in der Sache kam es jedoch nicht, da sich die Parteien außergerichtlich durch Vergleich geeinigt und die Revision38 zurückgenommen haben. Das BAG hat den Streit am 15.2.1995 für erledigt erklärt.

D. Differenzierungsklauseln im internationalen Vergleich Nicht nur die deutschen Gewerkschaften leiden unter Mitgliederschwund. Auch die Gewerkschaften anderer Länder haben mit ähnlichen organisationspolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen, wie der im bereits erwähnten Sonderheft der WSI-Mittelungen 9/2003 angestellte Vergleich veranschaulicht. An Strategien herrscht dabei kein Mangel; die Vorschläge für einen Weg aus der Krise reichen von verstärkter Lobbyarbeit bis hin zum Anbieten spezieller Dienstleis32

BAG, Urt. v. 11.6.1975, EzA Nr. 1 zu § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. So aber wohl Farthmann/Coen, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 19 Rn. 78 Fn. 145. Wie hier hingegen Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 40 f. 34 BAG, Urt. v. 18.9.2001, NZA 2002, 1161 ff. Fortgeführt durch Urt. v. 30.9. 2003, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Chemie (Bl. 4 f.). Siehe hierzu unten S. 159 ff. 35 BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 und Nr. 47 zu Art. 9 GG; bestätigt durch Urt. v. 3.6.1987, 4 AZR 573/86 (n. v.), JURIS, Dok.-Nr.: KARE312980333). 36 LAG Hamm, Entsch. v. 11.1.1994, LAG-E Nr. 4 zu § 4 TVG. Vgl. zu dieser Entscheidung Däubler, BB 2002, 1643 (1645 f.); Zachert, DB 1995, 321 ff. 37 BAG, Beschl. v. 30.8.1994, 1 AZN 273/94, n.V.; siehe hierzu die Darstellung des Verfahrensgangs von Zachert, DB 1995, 321 (324). 38 1 AZR 841/94 (n.V.). 33

D. Differenzierungsklauseln im internationalen Vergleich

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tungen wie z. B. Versicherungen. Der Umgang mit der Gewerkschaftskrise wird dabei nicht nur von den Traditionen, sondern auch von den nationalen Eigenheiten des Arbeitsrechts bestimmt. Während in den USA die gesamte Belegschaft eines bargaining unit (z. B. des Betriebs) von einer von ihr gewählten Gewerkschaft vertreten wird, sodass der Mitgliedergewinnung eine entsprechend große Bedeutung zukommt, zeigen Gewerkschaften in Italien und Spanien ein wesentlich geringeres Engagement. In diesen Ländern kommt den Gewerkschaften eher die Rolle einer Avantgarde zu, d.h. in ihr sind die Aktivisten organisiert, während die Gewerkschaftssympathisanten auf einen Beitritt verzichten.39 Im vorliegenden Zusammenhang interessiert lediglich ein Teilaspekt der Mitgliederrekrutierung, nämlich der, ob der Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung eingesetzt wird. Zur Beantwortung dieser Frage ist es entscheidend, welcher Personenkreis sich auf den Kollektivvertrag berufen kann. So gilt in Österreich gem. § 12 Abs. 1 ArbVG der Kollektivvertrag für alle Arbeitnehmer ohne Ansehung ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit, wenn allein der Arbeitgeber kollektivvertragsangehörig ist; da Tarifverträge i. d. R. auf Arbeitgeberseite von Pflichtverbänden (Wirtschaftskammern, § 4 Abs. 1 ArbVG) abgeschlossen werden, wird das Arbeitsleben umfassend von Kollektivvereinbarungen geregelt. Einer (an sich möglichen) Allgemeinverbindlicherklärung entsprechend § 5 TVG bedarf es deshalb nicht. Hieraus wird geschlossen, dass der Gesetzgeber eine Wertentscheidung zugunsten der kollektiven Gleichbehandlung getroffen hat, sodass auch bei den Kollektivverträgen der freiwilligen Berufsvertretungen eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit unstatthaft ist. Die Gewerkschaften haben jedenfalls noch keine Versuche gemacht, entsprechende Klauseln in Kollektivverträgen zu verankern.40 In der Schweiz haben die Außenseiter die Möglichkeit, sich einem Gesamtarbeitsvertrag anzuschließen (§ 356b Abs. 1 OR). Kehrseite hiervon ist, dass sie zwar nicht zum Verbandsbeitritt (vgl. § 356a Abs. 1 OR), jedoch gem. § 356b Abs. 2 OR zum Anschluss an den Gesamtarbeitsvertrag gezwungen werden können. Dieser Zwang kann dergestalt erfolgen, dass die an den Gesamtarbeitsvertrag gebundenen Arbeitgeber verpflichtet sind, nur solche Arbeitnehmer zu beschäftigen, die entweder Mitglied einer Gewerkschaft sind oder einen (angemessenen) Solidaritätsbeitrag an die Sozialpartner für die „Nutzung“ des Gesamtarbeitsvertrages entrichtet haben. Damit besteht eine Regelung, die im angloamerikanischen Raum als „agency shop“ bekannt ist (dazu sogleich). Als zu 39

Vgl. die Darstellung von Heery, WSI-Mitteilungen 2003, 522 (523 f., 526). Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (88 f.); Tomandl, RdA 1995, 76 (78); ders., Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D. 125 f. Tomandl/Marhold, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 701 f. Für die Zulässigkeit von Abstandsklauseln sowie einfachen Differenzierungsklauseln Floretta, DRdA 1968, 1 (4, 15 f.). Anders Jabornegg, in: FS für Strasser, S. 385. 40

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2. Kap.: Differenzierungsklauseln in der Praxis

entrichtender Solidaritätsbeitrag werden zwei Drittel des Mitgliedsbeitrages der vertragsschließenden Verbände angesehen; dieser Betrag orientiert sich an den Kosten von Ausarbeitung, Durchführung sowie Kontrolle der Anwendung des Gesamtarbeitsvertrages. Da den Gewerkschaften somit eine Art der „Kommerzialisierung“ ihrer organisatorischen Arbeit zur Verfügung steht, sind Differenzierungsklauseln noch nicht aktuell geworden.41 Wird ein Solidaritätsbeitrag gezahlt, dürfte es wohl als Verstoß gegen den Grundsatz venire contra factum proprium anzusehen sein, die Außenseiter trotzdem von tarifvertraglichen Leistungen auszuschließen. Auch in den USA passen Differenzierungen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nicht zur Arbeitsverfassung. Denn in den USA verhandeln die Gewerkschaften für alle Arbeitnehmer eines Betriebes (collective bargaining unit). In den Betrieben wählt die Belegschaft eine Gewerkschaft, die dann mit der Wahrnehmung der Interessen der gesamten Belegschaft betraut wird. Hierzu gehört auch der Abschluss kollektiver Vereinbarungen mit der Arbeitgeberseite. Der Versuch, Außenseiter mittels „benefits-for-members-only-agreements“ von diesen Vereinbarungen auszunehmen, wird als Verletzung des National Labor Relations Act (NLRA) angesehen.42 Da folglich die individuellen Arbeitsbedingungen unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit gestaltet werden, haben die Gewerkschaften zu anderen Maßnahmen gegriffen, um einen hohen Organisationsgrad zu gewährleisten. Wichtigste Institute sind der union shop und der agency shop, die beide auch nach dem Verbot des closed shops43 weiterhin zulässig sind. Bei dem union shop werden die Arbeitnehmer verpflichtet, innerhalb einer bestimmten Frist nach Arbeitsantritt einer Gewerkschaft beizutreten, wohingegen beim agency shop alternativ die Option zur Verfügung steht, einen bestimmten Geldbetrag für die „Nutzung“ des Tarifvertrags zu entrichten.44 41 Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 111 ff.; Zanetti, RdA 1973, 77 (82 ff.), der sich auch mit der Frage befasst, wie sich die Solidaritäts- bzw. Kontrollkostenbeiträge der Andersorganisierten sowie im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung berechnen. 42 Aaron, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 996 ff. „Members only agreements“ sind allein dann möglich, wenn eine Gewerkschaft nicht für die gesamte Belegschaft verhandelt, was aber wohl als absolute Ausnahme anzusehen ist (S. 997); Wedderburn, in: Schmidt, Discrimination, S. 428 f. Zulässig ist es hingegen, Funktionsträgern der Gewerkschaft bestimmte Vergünstigungen zu gewähren (z. B. eigene Räumlichkeiten, bezahlte Freistellung etc.); vgl. Goldman/White, in: Blanpain, International Encyclopaedia, Bd. XIV, Rn. 410 (El. 259 Stand Oktober 2002). 43 Vgl. grundlegend hierzu McCarthy, The Closed Shop in Britain; Hanson/Jackson/Miller, The Closed Shop. Siehe zum Verbot durch den Taft-Hartley Act 1947 Dau-Schmidt, Harvard Journal on Legislation 1990, 51 (91 ff.). Die im closed shop zum Ausdruck kommende – vom deutschen Verständnis abweichende – Einstellung zur Gewerkschaftsfreiheit wird bei Olson, Logik kollektiven Handelns, S. 90 Fn. 69, deutlich, der von den verschiedenartigen gesetzgeberischen Komplikationen spricht, „die in vielen Ländern infolge der naiven Annahme auftraten, daß die Gewerkschaften freiwillige Vereinigungen seien.“ (Hervorhebung nicht im Original).

D. Differenzierungsklauseln im internationalen Vergleich

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Als eines der wenigen Länder werden in Belgien Differenzierungen praktiziert. Seit Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts sind besondere Zahlungen der Arbeitgeber an Gewerkschaftsmitglieder üblich geworden. Teilweise erfolgen diese Vorteile mittels Gemeinsamer Einrichtungen, durch die beispielsweise zusätzliche Sozialleistungen gewährt werden. Gegenwärtig werden ca. eine Million Arbeitnehmer von entsprechenden Vereinbarungen erfasst.45 Auch in den Niederlanden sind closed shop und Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder möglich, aber sehr unüblich.46 In Schweden47, Dänemark48, Italien49 und in Frankreich50 sind entsprechende Vorteilsregelungen hingegen kein Thema der Gewerkschaftspolitik. Auch im Vereinigten Königreich ist es zwar möglich, zwischen gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern und Außenseitern zu differenzieren; solche Vereinbarungen spielen in der Praxis jedoch keine Rolle („highly unusual to do so in practice“).51 Arbeitskampfmaßnahmen, um „benefits-for-members-only-agreements“ durchzusetzen, verstoßen gegen section 222 Trade Unions and Labor Relations (Consolidation) Act.52 Zum Abschluss dieser Betrachtung ist noch kurz auf die Frage einzugehen, ob ausländische Tarifverträge, die Differenzierungsklauseln enthalten, vor deutschen Gerichten durchgesetzt werden können, beispielsweise wenn ein deutscher Arbeitnehmer bei einem belgischen Unternehmen nach belgischem Recht beschäftigt wird. Dies ist natürlich unproblematisch, wenn man derartige organisationspolitische Maßnahmen auch nach deutschem Recht für rechtmäßig hält. 44 Für den Begriff „union shop“ wird auch stellvertretend der Begriff „post-entry closed shop“ verwendet (siehe McCarthy, Closed shop, S. 16). Vgl. zu den union security agreements und zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg Goldman, Labor and Employment Law, Rn. 627 ff.: „If union shop and agency shop provisions are combined, over eighty percent of all collective agreements have such a provision.“; Goldman/White, in: Blanpain, International Encyclopaedia, Bd. XIV, Rn. 407–410; 649–655 (El. 259 Stand Oktober 2002); siehe grundlegend Dau-Schmidt, Harvard Journal on Legislation 1990, 51 ff. (insb. S. 53, 57 f.). 45 Blanpain, GMH 1975, 461 (466 f.); ders., in: Blanpain, International Encyclopaedia, Bd. III, Rn. 557 (El. 257 Stand August 2002); Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 137 f. 46 Jacobs, in: Blanpain, International Encyclopaedia, Bd. X, Rn. 182 (El. 276 Stand Januar 2004). 47 Vgl. Hemström, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 809 f.; Wedderburn, in: Schmidt, Discrimination, S. 437. 48 Jacobsen, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 142. 49 Wedderburn, in: Schmidt, Discrimination, S. 458. 50 Wedderburn, in: Schmidt, Discrimination, S. 445 f. Nach Despax/Rojot, Blanpain, International Encyclopaedia, Bd. VI (El. 77 Stand Mai 1987), sind union security clauses ausnahmslos rechtswidrig. 51 Hepple, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 1055. Wedderburn, in: Schmidt, Discrimination, S. 411 f. Siehe speziell zu Irland Kelly, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, S. 385. 52 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 358; Wedderburn, ILJ 1992, 245 (263). In diesem Sinne bereits section 10 Employment Act 1988.

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2. Kap.: Differenzierungsklauseln in der Praxis

Aber auch dann, wenn man die Entscheidung des BAG GrS als Status quo der Betrachtung zugrunde legt, sind diese Klauseln vom deutschen Recht anzuerkennen. Dem dürfte Art. 6 EGBGB nicht entgegenstehen, da die Gültigkeit entsprechender Vorteilsregelungen trotz der Entscheidung des BAG GrS nach wie vor umstritten ist.53 Nach der Rechtsprechung des BAG greift Art. 6 EGBGB nur dann ein, „wenn die Anwendung der ausländischen Rechtsnorm im Einzelfall zu einem Ergebnis führt, das mit der in der entsprechenden deutschen Regelung liegenden Gerechtigkeitsvorstellung in unerträglichem Widerspruch steht.“54 Zudem führen Vorteilsregelungen nicht zu mit deutschem Recht unvereinbaren Ergebnissen – die Differenzierung nach der Tarifgebundenheit ist das Leitbild des TVG –, sodass jedenfalls kein offensichtlicher Verstoß gegen Grundrechte vorliegt; die einheitliche Anwendung des Tarifvertrags auf alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Organisationszugehörigkeit gehört nicht zu den Grundgedanken des deutschen Arbeitsrechts. Anders dürften ausländische Tarifverträge zu behandeln sein, die eine closed shop-Vereinbarung enthalten.55

53 Birk, in: FS für Beitzke, S. 866 f.; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 658; anders wohl MünchArbR-Birk, § 21, Rn. 57. 54 BAG, Urt. v. 3.5.1995, AP Nr. 32 zu IPR, Arbeitsrecht (Bl. 4 R); ähnlich BAG, Urt. v. 24.8.1989, AP Nr. 30 zu IPR, Arbeitsrecht (Bl. 5 R). 55 Zur Unvereinbarkeit des closed shop mit dem ordre public Wimmer, Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse, S. 79; Junker, Internationales Arbeitsrecht, S. 317, 426, der zudem darauf hinweist, dass Art. 9 Abs. 3 GG über Art. 34 EGBGB unmittelbar anwendbar ist.

Kapitel 3

Grundrechtliche Argumentation A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten Bei der Auseinandersetzung um die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln spielt die Frage eine entscheidende Rolle, ob durch derartige Vereinbarungen in das von der negativen Koalitionsfreiheit umfasste Recht der unkoalierten Außenseiter, einer Koalition fernzubleiben, unzulässigerweise eingegriffen wird. Denn das Verhalten der Außenseiter gegenüber der Gewerkschaft wird – neutral gesprochen – beeinflusst, wenn ihnen je nach Ausgestaltung der Differenzierungsklauseln die Möglichkeit zur individualvertraglichen Vereinbarung bestimmter tariflicher Vergünstigungen genommen wird; einziger Ausweg, um die jeweiligen Vergünstigungen zu erhalten ist es dann, in die tarifschließende Gewerkschaft einzutreten und damit das „Einzelgängertum“ aufzugeben. Das Gewicht grundrechtlicher Argumentation rührt nicht nur daher, dass Art. 9 Abs. 3 GG nach allgemeiner Ansicht eine unmittelbare Drittwirkung zukommt. Vielmehr sind nach der Rechtsprechung einiger Senate des BAG und ihnen folgend eines Teils der Literatur die Tarifvertragsparteien an die Grundrechte gebunden, sodass es einer mittelbaren Drittwirkung nicht bedarf.1 Nicht vergessen werden darf bei der Diskussion, dass die grundrechtlichen Erwägungen Einfluss auf entsprechende Lösungen der Differenzierungsproblematik de lege ferenda haben. Ein Vorschlag des DGB zur Änderung des TVG, wie er auf dem 10. und 11. ordentlichen Gewerkschaftskongress 1975 aufgestellt wurde2, muss sich am Grundgesetz messen lassen; die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers werden durch entsprechende Vorgaben limitiert. Obwohl um die negative Koalitionsfreiheit seit Anbeginn der Weimarer Republik gestritten wurde, nehmen Fragen nach der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter noch immer breiten Raum bei der Suche nach einer Lösung für die Differenzierungsklauselproblematik ein. Hieran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn Bötticher bereits 1966 zutreffend festgestellt hat, dass die Diskussion „immer mehr in die Ebene des Tarifvertrags1 BAG, Urt. v. 13.5.1997, AP Nr. 36 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung (Bl. 3); BAG, Urt. v. 15.1.1955, AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 73; Gamillscheg, Grundrechte, S. 104. 2 Vgl. oben S. 51 Fn. 25.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

rechts selbst verlegt und nicht mehr nur (. . .) unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der negativen Koalitionsfreiheit abgehandelt wird“.3 An dieser Akzentverschiebung ist richtig, dass man hierdurch der Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hinsichtlich der Tarifautonomie gerecht wird. In diesem Zusammenhang ist voranzustellen, dass auf die Rechte der Andersorganisierten – und die gegen sie gerichteten beschränkten Differenzierungsklauseln – in der Diskussion nicht eingegangen wird, da ihre Betroffenheit im Bereich der positiven Koalitionsfreiheit zu sehen ist. Trotz aller inhaltlichen und dogmatischen Unterschiede wird unter dem Begriff der negativen Koalitionsfreiheit im Allgemeinen das Recht des Einzelnen verstanden, sich nicht zu Koalitionen zusammenzuschließen, bestehenden Koalitionen fernzubleiben und bei bereits erfolgtem Beitritt wieder austreten zu dürfen, was zumeist mit der Kurzformel „Fernbleiberecht“ umschrieben wird.4 Von dieser grundsätzlichen Definition abgesehen, besteht Uneinigkeit über den weiteren Inhalt und die Grenzen des Fernbleiberechts. Zu nennen ist insbesondere die Frage, ob die negative Koalitionsfreiheit auch das Recht umfasst, von sämtlichen Wirkungen der Koalitionen und ihren Abreden verschont zu bleiben, oder ob lediglich die (Freiwilligkeit der) Mitgliedschaft geschützt wird. Die Beantwortung dieser Frage hat weit reichende Auswirkungen für das Arbeitsrecht; so steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung das Problem der Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 2 TVG (Erstreckung der Tarifnormwirkung auf Außenseiter) und § 5 TVG (Allgemeinverbindlicherklärung). Aber auch für die Differenzierungsklauseln ist entscheidend, ob der Nicht- bzw. Andersorganisierte ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht hat, von den Auswirkungen fremder Normsetzung verschont zu bleiben. Denn Tarifausschluss- und Abstandsklauseln wirken sich (wenn auch nur faktisch) negativ auf die Rechtsstellung des Außenseiters, seine Arbeitsbedingungen durch vertragliche Vereinbarung mit dem Arbeitgeber selbst zu gestalten, aus.

3 Bötticher, RdA 1966, 401; unter Hinweis auf die Lehrbücher von Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 6. Aufl., Bd. II, § 10 III 3 und Nikisch, Arbeitsrecht Bd. II, § 59 II; für eine Betonung einfachrechtlicher Argumentation Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierung, S. 21: „Im Ausverkauf verfassungsrechtlichen Goldes gewinnt freilich (. . .) das Silber einfachgesetzlicher Auslegung steigenden Wert.“ Anders z. B. Gamillscheg, Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Anerkennungsforderungen, S. 50, nach dessen Einschätzung „der Schlüssel zur Antwort letztlich nur in der Verfassung zu finden ist.“ 4 Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 30; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 103; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 41; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 34; Zöllner, Differenzierungsklauseln, S. 26.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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I. Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit Einigkeit besteht im Wesentlichen noch darin, dass es ein Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit gibt.5 In der Sache sowie in der Terminologie konnten weder die Diffamierung als „juristisches Gespenst“6 noch die Bezeichnung als „scheußliche und irreführende Wortbildung“7 oder als „unschöne(s) und unlogische(s) Wortgebilde“8 etwas ändern. Umstritten ist dagegen bis heute wie eine solche Freiheit dogmatisch zu begründen ist. Nach wohl überwiegender Ansicht in der Literatur9 wird die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Die Gegenauffassung10 sieht das Fernbleiberecht des Außensei5 Anders allerdings Berghäuser, Koalitionsfreiheit als demokratisches Grundrecht, S. 201 f.; Eberhard, RdA 1949, 125 (126 f.); Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 131, nach deren Auffassung der Schutz des Einzelnen vor der Koalition in der Verfassung nicht verankert ist; beachte auch die grundsätzliche Kritik am Bestehen negativer Freiheitsrechte, die nicht ausdrücklich im Grundgesetz genannte werden: Schuhmann, Negative Freiheitsrechte; Hellermann, Freiheitsrechte. Weitere Nachweise zur verneinenden Auffassung bei Schuhmann, a. a. O., S. 160 Fn. 11. 6 Arndt, in: FS Otto Kunze, S. 265; gegen diese Kritik wendet sich Mayer-Maly, in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 24. 7 Monjau, in: FS Küchenhoff, S. 122; auch nach Bethge, JA 1979, 281 (283), ist der Begriff „nicht gerade glücklich“, sogar „irreführend“. 8 Neumann, DB 1967, 1545 (1545). 9 Blom, Tarifausschlußklausel, S. 34; Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 114 Fn. 14; Dietz, BetrVG, 4. Aufl., § 51 Rn. 6; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 149; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 65; v. Hoyningen-Huene, Die Vereinigungsfreiheit, AR-Blattei D-Blatt „Vereinigungsfreiheit I“ (1984) B) III 1a; Födisch, RdA 1955, 88 (93); Gernandt, Der Arbeitgeber 1954, 194; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 383, 384 f.; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Rn. 219; Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 28; Konzen, in: FS für Gerhard Müller, S. 256; Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 79; Mayer-Maly, ZAS 1969, S. 81 ff.; v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 140; Musa, BB 1966, 82 (83); Reinemann/Schulz-Henze, JA 1995, 811 (812); Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 221; Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 66; Wonneberger, Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung, S. 57; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 120; dagegen, dass diese Ansicht als herrschende zu bezeichnen ist, wendet sich Gamillscheg auf dem 46. DJT (Bd. II Teil D, S. 102); allgemein zur Einteilung in herrschende Meinung und Mindermeinung Neumann, DB 1967, 1545 (1545); weitere Nachweise bei Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 157 Fn. 4. 10 Arndt, in: FG für Kunze, S. 266; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 93 Fn. 127; ders., Sondervorteile, S. 274; Fechner, Rechtsgutachten, S. 32 f.; Galperin, DB 1970, 298 (302); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 59 f.; Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 22; Hamann/Lenz, Art. 9 GG, Anm. A 4; Heiseke, RdA 1960, 299 (301); Hellermann, Freiheitsrechte, S. 250 f.; Ipsen, Grundrechte, Rn. 663 f.; Leventis, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 111 (jedenfalls, soweit es um die Freiheit von fremder Normsetzungsgewalt geht); Ritter, JZ 1969, 111 (113); Nipperdey, in: Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Auflage, Bd. II/1, S. 159; Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 69; offen gelassen von Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 191 (zugunsten von Art. 2 Abs. 1 GG noch die Vorauflage, S. 69). Nicht zutreffend ist es

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

ters allein im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit bzw. des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG als geschützt an und allenfalls noch durch Art. 12 GG, soweit das Grundrecht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes betroffen wird. In der Rechtsprechung des BAG wurde die negative Koalitionsfreiheit durch die Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 29.11.1967 erstmals anerkannt und dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG unterstellt.11 Die Gerichte unterer Instanz haben allerdings bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt gesehen.12 Auch das BVerfG geht – nach anfänglichem Zögern13 – in ständiger Rechtsprechung von der verfassungsrechtlichen Verbürgung des Fernbleibens durch Art. 9 Abs. 3 GG aus.14 Jedoch hat das BVerfG im Gegensatz zum BAG GrS keine Begründung dafür geliefert, dass die grundrechtliche Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG auch das Recht des Außenseiters umfasst, einer Koalition fernzubleiben.15 dagegen, wenn Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht Bd. 2, § 12 Rn. 39 diese Meinung als die überwiegende bezeichnen. Weitere Nachweise bei Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 159 Fn. 6. Nicht durchsetzen konnte sich die vornehmlich von Däubler vertretene Ansicht, nach der die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 1 GG geschützt ist. Vgl. Däubler, in: ders./Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 38; ders., Koalitionsfreiheit, S. 89 (Rn. 174); ebenso Hensche, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 878; indifferent: Kittner/Schiek, in: Alternativkommentar, Art. 9 Abs. 3 Rn. 108, die zwar vornehmlich auf Art. 2 Abs. 1 GG abstellen, aber auch einen Schutz durch Art. 9 Abs. 1 GG für möglich halten; differenzierend: Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 49, der auf Art. 9 Abs. 1 GG nur dann abstellen möchte, wenn die Freiheit vom Zwang zur Mitgliedschaft betroffen ist, ansonsten aber Art. 2 Abs. 1 GG heranzieht. 11 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18 ff.); in Urt. v. 14.2.1967, BAGE 19, 217 (227), hat das BAG diese Frage noch ausdrücklich offen gelassen. 12 OLG Koblenz, Beschl. v. 23.12.1950, NJW 1951, 366; LAG Hamm, Urt. v. 11.6.1952, BB 1952, 549 und Urt. v. 29.10.1954, DB 1954, 1048; wieder ausdrücklich offen gelassen in ArbG Ahrensburg, Urt. v. 12.4.1996, NJW 1996, 2516 (2517). 13 Beispielsweise wurde dieser Problempunkt in der Entscheidung über die Tariffähigkeit von Innungen nach der Handwerksordnung (Beschl. v. 19.10.1966, BVerfGE 20, 312 [321 f.] zwar inhaltlich angesprochen, jedoch nicht ausdrücklich genannt (offengelassen auch in BVerfG, Beschl. v. 20.7.1971, BVerfGE, 31, 297 [302]; Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 [352]). Genannt wurde zunächst nur die negative Vereinigungsfreiheit in der sog. Erftverbandentscheidung v. 29.7.1959 in BVerfGE 10, 89 (102), der aber wie Hellermann, Freiheitsrechte, S. 27, richtig anmerkt, keine Aussage zur negativen Koalitionsfreiheit zu entnehmen ist. Vgl. auch die Kontroverse hierzu von Radke und Nipperdey, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 93, D 130. 14 Die negative Koalitionsfreiheit wurde vom BVerfG erstmals in der Mitbestimmungsentscheidung vom 1.3.1979 ausdrücklich bestätigt (Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 [367 ff.]); siehe weiterhin BVerfG, Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (21); Beschl. v. 17.2.1981, BVerfGE 57, 220 (245); Beschl. v. 14.6.1983, BVerfGE 64, 208 (213); Beschl. v. 23.04.1986, BVerfGE 73, 261 (270); Beschl. v. 24.5.1995, BVerfGE 93, 37 (83).

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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1. Wortlaut Zunächst ist vom Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG auszugehen. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG muss der objektivierte Wille des Gesetzgebers seinen Ausdruck im Wortlaut der Gesetzesbestimmung gefunden haben.16 Unzulässig ist demnach eine Auslegung, die dem eindeutigen Gesetzeswortlaut zuwiderläuft; hier liegt die Grenze zur Umdeutung.17 Nach Art. 9 Abs. 3 GG wird das Recht gewährleistet, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Diese Formulierung enthält lediglich eine aktive (d.h. positive) Seite: Das Recht zur Vereinigungsbildung wird gewährleistet. Nicht enthalten ist eine Formulierung, die beispielsweise mit dem ursprünglichen Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses „Ein Zwang zum Beitritt darf nicht ausgeübt werden.“18 vergleichbar wäre. Darüber hinaus formuliert Art. 9 Abs. 3 GG das Recht Vereinigungen zu bilden zielgerichtet. Es dient „zur“ Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen; das Ziel bezieht sich damit auf das Verb „bilden“, nicht dagegen auf die „Vereinigung“. Mit anderen Worten: Es wird nicht die Vereinigung als solche charakterisiert, sondern ein Auftrag an den Einzelnen bzw. die einzelne Koalition erteilt, sich für die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzusetzen. Nicht ersichtlich ist, wie die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gefördert werden sollen, indem der Einzelne einer Koalition fernbleibt.19 Der einzelne Arbeitnehmer kann im Wege einzelvertraglicher Abreden seine Arbeitsbedingungen beeinflussen, nicht jedoch die – d.h. alle betreffenden – Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gestalten.20 Etwas anderes mag dann gelten, wenn man das Fernbleiben auf lange Sicht als Voraussetzung für die Neubildung einer Koalition und damit im Zu15 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 102; Seiter, AöR 109 (1984), 88 (102); auch das BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 5), weist auf die fehlende Begründung hin. 16 Vgl. Urt. v. 21.5.1952, BVerfGE 1, 299 (312); Beschl. v. 19.6.1973, BVerfGE 35, 263 (278 f.); Beschl. v. 29.1.1974, BVerfGE 36, 342 (367); Urt. v. 16.2.1983, BVerfGE 62, 1 (45). 17 BVerfG, Beschl. v. 23.10.1958, BVerfGE 8, 210 (220); Beschl. v. 23.10.1985, BVerfGE 71, 108 (115); Beschl. v. 20.10.1992, BVerfGE 87, 209 (224); Larenz, Methodenlehre, S. 322, 343; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 180. 18 Vgl. v. Doemming-Füßlein-Matz, JöR n. F. Bd. 1 (1951), 123; auch hinsichtlich des heutigen Art. 5 GG wurde in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates ein ausdrücklicher Schutz der negativen Meinungsfreiheit diskutiert (vgl. die Darstellung bei: v. Doemming-Füßlein-Matz, JöR n. F. Bd. 1 (1951), 88 ff.): „Niemand ist verpflichtet, seine politische Überzeugung bekanntzugeben.“ 19 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 54; ders., Grundrechte, S. 101 f.; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 148; Nitschke, DÖV 1972, 41 (45); ähnlich, wenn auch zu Art. 11 EMRK die abweichende Meinung der Richter Sørensen, Thór Vilhjálmsson, Lagegren zu EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (564). 20 Radke, ArbuR 1971, 4 (10); Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 181.

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sammenhang mit der Ausübung der positiven Koalitionsfreiheit ansieht. Selbst wenn sich damit der Zweck der Koalitionsbildung, wie ihn Art. 9 Abs. 3 GG definiert, mit der negativen Koalitionsfreiheit in Einklang bringen lassen würde, so würde Art. 9 GG mit dem Verb „bilden“ eine aktive Rolle beschreiben, die einem passiven reinen Fernbleiben entgegensteht. Insofern erscheint die Aussage, der Wortlaut spräche nicht grundsätzlich gegen eine negative Koalitionsfreiheit21, zweifelhaft. Somit ist festzustellen, dass sich ein Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG nicht ergibt. Dies stellt eine allgemeine Ansicht dar, die auch von den Befürwortern einer in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltenen negativen Koalitionsfreiheit nicht bestritten wird.22 2. Systematik Unter systematischen Gesichtspunkten ist es eher fern liegend, den Freiheitsrechten grundsätzlich eine (ungeschriebene) negative Seite beizufügen. Bei einigen Grundrechten wird im Grundgesetz explizit eine negative Komponente genannt. So enthält Art. 12 Abs. 2 und 3 GG das Verbot von Arbeitszwang und Zwangsarbeit. Durch Art. 136 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG wird dem Einzelnen das Recht verbürgt, seine religiöse Überzeugung nicht mitteilen zu müssen. Nach allgemeiner Ansicht soll dieses Recht durch Art. 4 GG grundrechtlich garantiert sein.23 Gleiches gilt für die von Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV erfasste negative Kultusfreiheit, also die Freiheit, nicht an religiösen Ver21 Vgl. Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 28; Monjau, in: FS für Küchenhoff, S. 126; anders dagegen zu dem mit Art. 9 Abs. 3 GG nahezu inhaltsgleichen Art. 159 WRV Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 85; gegen ein zu starres Abstellen auf den Wortlaut bereits Loewenheim, ZHR 1928, 51 (108; zu Art. 159 WRV). 22 Allgemein: Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 54; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 40; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 180 f.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 156; Neumann, DB 1967, 1545 (1545 f.); Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 191; Birk, RdA 1995, 71 (72); Radke, ArbuR 1971, 4 (10); Friauf, in: FS für Reinhard, S. 392; Befürworter: BAG, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 19 f.); Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 198, 252, Bd. II, 384; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 31; Scholz, AöR 106 (1981), 79 (85); Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 120; bereits zu Art. 159 WRV Bühler, NZfA 1922, 157 (161); Groh, Koalitionsrecht, S. 39; Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 85; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3./5. Auflage, S. 502 f. 23 Böckenförde, DÖV 1966, 30 (32); v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 74; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 4 Rn. 56 f.; Preuß, in: Alternativkommentar, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 21; grundsätzlich gegen die Aufnahme der genannten Artikel der WRV in den Schutzbereich des Art. 4 GG Hellermann, Freiheitsrechte, S. 173. Die Bezeichnung „negative Bekenntnisfreiheit“ für das Recht, seine religiöse Überzeugung nicht mitteilen zu müssen, wird abgelehnt von Hamel, NJW 1966, 18 (19).

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anstaltungen teilnehmen zu müssen.24 Weiterhin findet die Unterlassensfreiheit ihren Ausdruck in Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 S. 3 GG sowie in Art. 141 WRV.25 Auf der anderen Seite schließt Art. 6 Abs. 2 GG aus, dass Eltern ihr Recht zur Erziehung nicht wahrnehmen, formuliert also mit dieser Verpflichtung, zum Wohle des Kindes tätig zu werden, gleichzeitig die Ablehnung der negativen Freiheit. Hieran wird deutlich, dass bei der Entstehung des Grundgesetzes negative Freiheiten durchaus bedacht wurden, ihren Niederschlag aber nur in bestimmten Grundrechten gefunden haben. Dies legt wiederum den Umkehrschluss nahe, dass dort, wo das Unterlassen der Grundrechtsausübung nicht explizit genannt ist, ein entsprechendes (Nicht-)Verhalten nicht – oder einschränkend formuliert zumindest nicht in gleichem Maße wie die positive Seite – geschützt werden sollte. Die in den Grundrechten zum Ausdruck gekommene Verhaltensfreiheit kann dann aber nicht untrennbar den Schutz von Handeln und Unterlassen umfassen. 3. Historische Entwicklung des Koalitionswesens Vielfach wird auf die historische Entwicklung des Koalitionswesens Bezug genommen, um hieraus Erkenntnisse hinsichtlich des Bestehens einer negativen Koalitionsfreiheit abzuleiten. Nach Ansicht des BVerfG handelt es sich bei der Koalitionsfreiheit nicht um ein klassisches Grundrecht. Auch wenn die historische Betrachtung bis zu den Gesellenbünden des frühen Mittelalters zurückreicht,26 hat sich die Koalitionsfreiheit erst im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert herausgebildet. Aus diesem Grund ist die sozial- und dogmengeschichtliche Entwicklung der Koalitionsfreiheit bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG besonders zu berücksichtigen.27 Die negative Koalitionsfreiheit ist ohne Vorläufer in der Verfassungsgeschichte. Weder in der Erklärung der Menschenrechte von 1793 noch in der Paulskirchenverfassung wurde auf den Schutz negativer Freiheiten eingegangen; 24 BVerfGE 52, 223 (239); BVerwGE 73, 247 (249); Hellermann, Freiheitsrechte, S. 24, m. w. N. in Fn. 19. 25 Vgl. die Zusammenstellung bei Hellermann, Freiheitsrechte, S. 161. 26 Vgl. die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Koalitionsfreiheit bei Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, § 7; Gamillscheg, Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung, S. 8 ff.; nach Ritscher, Koalitionen und Koalitionsrecht, S. 4, lässt sich eine solche Koalition erstmals 1329 in Breslau nachweisen (vgl. die auf S. 269 abgedruckte Ratsurkunde). 27 BVerfG, Urt. v. 18.11.1954, BVerfGE, 4, 96 (101, 106 f.); Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (347 f.); Beschl. v. 19.2.1975, BVerfGE 38, 386 (394); Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 (366 f.); Kittner/Schiek, in: Alternativkommentar, Art. 9 Abs. 3 Rn. 22, 66, 80; Neumann, RdA 1989, 243 (244); zur Bedeutung der historischen Auslegung siehe Bleckmann, JuS 2002, 942 (945); Larenz, Methodenlehre, S. 344.

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Unterlassungsrechte hatten in der damaligen Zeit, in der es um die Durchsetzung von Handlungsrechten ging, keine größere Bedeutung.28 Ein besonderes Gewicht ist deshalb bei der Betrachtung der historischen Entwicklung auf den Art. 159 WRV zu legen, da dieser mit Art. 9 Abs. 3 GG nahezu wortgleich ist.29 In diesem Sinne hat der Große Senat des BAG in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln festgestellt: „Durch Art. 159 WRV wurde . . . die ,Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen‘ verfassungsrechtlich garantiert und zwar auch damals schon ohne ausdrückliche Hervorhebung des Rechtes, den Vereinigungen fernzubleiben. Die positive Koalitionsfreiheit hat sich also in einem langen Prozess schrittweise bis zur Verfassungsgarantie durchgesetzt, ohne dass an der ursprünglich alleinmaßgebenden negativen Koalitionsfreiheit gezweifelt worden ist. Das muss auch für das Grundgesetz gelten, das insoweit auf Art. 159 der WRV aufbaut . . .“30

Diese Feststellung des BAG GrS ist in Anbetracht der geschichtlichen Fakten unzutreffend und dementsprechend auf breite Ablehnung gestoßen; sie widerspricht der allgemeinen Ansicht in der Literatur.31 Die Geschichte der Koalitionsbewegung war immer eine Geschichte des Kampfes um die Möglichkeit der Koalitionsbildung. Der Schutz vor der Koalition war niemals Teil sozialpolitischer Bestrebungen. Der Streit um die Freiheit vor der Koalition fällt erst mit der Einführung des Art. 159 WRV zusammen.32 Deshalb ist es auch nicht nachvollziehbar, wenn Huber – durchaus in Übereinstimmung mit dem obigen Zitat des BAG GrS ausführt: „Der Ausschluss des staatlichen Koalitionszwangs gehört zu den Grundrechten der Einzelnen, die nicht nur durch eine lange Rechtsüberlieferung, sondern vor allem auch durch die freiheitlichen Prinzipien, zu denen das GG sich in seinem Art. 2 Abs.1 GG bekennt, gesichert sind. Ein Abgehen von diesem Prinzip hätte, wenn es von den Verfassungsgebern gewollt gewesen wäre, im GG positiv ausgedrückt werden müssen.“33

Nachdem zunächst sämtliche Koalitionen verboten waren – es bestand ein absolutes Koalitionsverbot oder mit anderen Worten ein „negativer Koalitionszwang“34 –, trat erst durch Einführung des § 152 Abs. 1 Gewerbeordnung des 28 Däubler, in: ders./Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 32; ebenso Hellermann, Freiheitsrechte, S. 234; siehe zur Vereinigungsfreiheit Etzrodt, Negative Vereinigungsfreiheit, S. 188. 29 Siehe zum geringfügigen Unterschied im Wortlaut Födisch, RdA 1955, 88 (89). 30 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 19 R). 31 Siehe direkt gegen den BAG GrS Radke, ArbuR 1971, 4 (9): „Die Behauptung, zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung sei eine negative Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich anerkannt gewesen, ist historisch falsch.“ 32 Galperin, in: FS für Bogs, S. 93; Nikisch, Arbeitsrecht Bd. II, S. 28; Gätcke, Das Vereinigungsrecht, S. 30. 33 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 385.

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Norddeutschen Bundes vom 21.6.186935, der vom Deutschen Reich unverändert übernommen und auf das gesamte Reichsgebiet erstreckt wurde,36 eine gewisse Lockerung ein, durch die gewerblichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Möglichkeit zur Koalitionsbildung gewährt wurde. Jedoch wurde dieses Recht durch § 152 Abs. 2 ReichsGewO sogleich entwertet, indem Ansprüche der Koalitionen gegen ihre Mitglieder klaglos und damit die Koalitionen selbst schutzlos gestellt wurden. So konnten weder die Beiträge noch etwaige Vertragsstrafen auf gerichtlichem Wege durchgesetzt werden. Auch der jederzeitige Austritt der Mitglieder konnte nicht erschwert werden.37 Dafür, dass der Freiheitsbereich des § 152 ReichsGewO noch weiter eingeschränkt wurde, sorgten die Gerichte, indem sie den Koalitionen jegliche sozialpolitische Zweckverfolgung (z. B. gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit) vorenthielten.38 Der „Schutz des Außenseiters“ hat weiterhin in § 153 ReichsGewO39 seinen Niederschlag gefun34 Radke, ArbuR, 1971, 4 (8); Arndt, in: FG für Kunze, S. 265, spricht von der „Koalitions-Unfreiheit“. Nikisch, Arbeitsrecht, 1930, S. 35, datiert die ersten Koalitionsverbote durch die Reichspolizeiordnungen auf die Jahre 1530, 1548 und 1577. Vgl. zum Koalitionsverbot in Preußen §§ 181–183 der Allgemeinen Gewerbeordnung (Gesetz vom 17.1.1845, Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, S. 41 ff.). 35 BGBl. Norddeutscher Bund S. 245 ff.; zuvor wurde das Koalitionsverbot 1861 in Sachsen und 1864 in Sachsen-Weimar aufgehoben; vgl. zu Sachsen Ritscher, Koalitionen und Koalitionsrecht, S. 214 ff. 36 Vgl. zur Erstreckung des Geltungsbereichs auf Südhessen BGBl. Norddeutscher Bund 1870, 649; Königreich Bayern RGBl. 1872, 170; Königreich Württemberg und Großherzogthum Baden RGBl. 1871, 392. § 152 ReichsGewO „(1) Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehilfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben. (2) Jedem Teilnehmer steht der Rücktritt von solchen Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder Klage noch Einrede statt.“ 37 Vgl. zur Wirkung des § 152 ReichsGewO Groh, NZfA 1925, 1 (5 f.); speziell zur den Auswirkungen auf die Arbeitgeberseite Gätcke, Das Vereinigungsrecht, S. 38 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 156. Allgemein zur Koalitionsfreiheit im Kaiserreich aus damaliger Sicht Brütt, Koalitionsrecht der Arbeiter in Deutschland. 38 Vgl. RG, Urt. v. 18.11.1887, RGSt 16, 383 (384 f.); siehe hierzu Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 56. 39 § 153 ReichsGewO „Wer andere durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohungen, durch Ehrverletzungen oder durch Verrufserklärung bestimmt oder zu bestimmen versucht, an solchen Verabredungen (§ 152) teilzunehmen, oder ihnen Folge zu leisten, oder andere durch gleiche Mittel hindert oder zu hindern versucht, von solchen Verabredungen zurückzutreten, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, sofern nach dem allgemeinen Strafgesetze nicht eine härtere Strafe eintritt.“ Vgl. hierzu allgemein sowie zur rechtsirrigen Anwendung zum Schutz des Arbeitgebers vor Lohnstreiks Brütt, Koalitionsrecht der Arbeiter in Deutschland, S. 282 ff.; Schröder, Entwicklung des Kartellrechts, S. 331 ff. (m. w. N.).

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den, der jeglichen Koalitionszwang unter Strafe gestellt hat und damit das strafrechtliche Gegenstück zu dem zivilrechtlichen „Schutz“ nach § 152 Abs. 2 ReichsGewO bildete. Begründet wurden die Koalitionsverbote damit, dass die „Freiheit des Arbeitsvertrags“ gegen den organisierten Kollektivzwang zu sichern sei.40 Eine erste Anerkennung der Koalitionen seitens des Staates erfolgte durch das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5.12.191641. Nach dessen § 10 wurden bei der Besetzung der Ausschüsse, die mit der Durchführung des Gesetzes betraut wurden, Vorschlagslisten wirtschaftlicher Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer berücksichtigt. Grund für diesen Umschwung in der Politik waren Erfordernisse der Kriegswirtschaft. Die unbeschränkte Koalitionsfreiheit konnte erst im Zuge der Novemberrevolution durchgesetzt werden. Durch Gesetz vom 22.5.191842 wurde § 153 ReichsGewO aufgehoben; Ziff. 2 des Aufrufs des Rats der Volksbeauftragten vom 12.11.191843 beseitigte dann jegliche Beschränkungen der Koalitionsbildung und -betätigung. Im Wortlaut des Art. 159 WRV44 findet sich – wie auch in Art. 9 Abs. 3 GG – kein Hinweis auf die Gewährleistung einer negativen Koalitionsfreiheit. Dementsprechend war in der Weimarer Zeit umstritten, ob durch Art. 159 WRV auch der Schutz des Außenseiters vor der Koalition (negative Koalitionsfreiheit) gewährleistet wurde. Die Befürworter45 ebenso wie die Gegner46 einer verfassungsSiehe zu den Vorhaben, den § 153 ReichsGewO zu verschärfen, und zu den gewerkschaftlichen Protesten hiergegen: Brütt, a. a. O., S. 301 ff.; Rohlfing, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 95 f.; Umbreit, 25 Jahre Deutscher Gewerkschaftsbewegung, S. 46 ff., 132. 40 Huber, Wirtschaftsverfassungsrecht, Bd. II, S. 384. 41 RGBl. S. 1333 ff. 42 RGBl. S. 423; hierzu Dietz, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/1, S. 417 (424). 43 „Das Vereins- und Versammlungsrecht unterliegt keiner Beschränkung, auch nicht für Beamte und Staatsarbeiter.“ (RGBl. S. 1303). 44 Art. 159 WRV (RGBl. 1919, S. 1383) „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig.“ 45 Anschütz, Art. 159 Bem. 4; Asmus, Negative Vereinigungsfreiheit, S. 48; Bühler, NZfA 1922, Sp. 157 (161); Gauß, JW 1921, 521 (522); Groh, Koalitionsrecht, S. 39 f.; ders., NZfA 1925, Sp. 1 (3); ders., Arbeitsrecht, S. 55; Jacobi, Grundlehren, S. 96 Fn. 5; Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Aufl., S. 279; Löning, NZfA 1929, Sp. 593 (600); Mansfeld, Betriebsrätegesetz, S. 65; Nikisch, Arbeitsrecht, 1930, S. 37 f.; Meissinger, Der Arbeitgeber 1922, 111 (113); Müller, RABl. 1921, S. 984; A. Schneider, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 89; Oertmann, Arbeitsvertragsrecht, S. 272 (allerdings unter Heranziehung von Art. 165 WRV); Ohlbrecht, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 175 f.; Poetzsch-Heffter, Art. 159 Anm. 3. 46 Baum, NZfA, 1922, Sp. 23 (27); Biensfeldt, NZfA 1923, 533 (540, 544); Herz, NZfA 1930, Sp. 547 (550); Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3./5. Auflage,

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rechtlichen Verankerung hielten sich die Waage. Auch in der Rechtsprechung von Reichsgericht und Reichsarbeitsgericht wurde keine klare Stellung in dieser Streitfrage bezogen. Vielmehr wurde dieser Gesichtspunkt ausdrücklich offengelassen.47 In der Rechtsprechung des RAG ist aber ein starker Hang zur Ablehnung der negativen Koalitionsfreiheit festzustellen, wie Nipperdey48 richtigerweise anmerkt. So heißt es im Urteil des RAG vom 16. April 1930 im dritten Leitsatz: „Die negative Koalitionsfreiheit wird durch Art. 159 RV, wenn überhaupt, nur insoweit geschützt, als nicht der Gesetzgeber (. . .) im öffentlichen Interesse einen Koalitionszwang ausübt.“49 Bei der Analyse der geschichtlichen Entwicklung der Koalitionsfreiheit, wird deutlich, dass es ein ständiges Ringen um das Recht war, Koalitionen zu bilden und sich koalitionsgemäß zu betätigen (positive Koalitionsfreiheit). Gerade gegen die Behinderung der Koalitionsfreiheit durch §§ 152 Abs. 2 und 153 der ReichsGewO richtete sich der Kampf der Koalitionen. Monjau ist zwar zuzustimmen, wenn er anmerkt, dass die Aufhebung des § 153 ReichsGewO durch einfaches Gesetz vom 22.5.1918 – und damit zeitlich vor der Novemberrevolution – erfolgte und nicht mit Art. 159 WRV im Zusammenhang gestanden hat. Die Aufhebung dieser besonderen Strafvorschrift habe nichts mit dem Schutz der Freiheit vor der Vereinigung zu tun gehabt.50 Dabei verkennt Monjau jeS. 506; Kaskel/Dersch, Arbeitsrecht, 4. Aufl., S. 318; Krebs, Die Organisationsklausel, S. 36 ff.; Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen, S. 85; Loewenheim, ZHR 1928, 51 (113); Neumann, Tarifrecht, S. 20 f.; Nipperdey, in: ders., Die Grundrechte, Bd. III, S. 418 ff.; Nolting-Hauff, NZfA 1928, Sp. 461 (471); Potthoff, Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 14 ff.; ders., Arbeitsrecht 1926, Sp. 785 (790 f.); Richter, VerwArch, Bd. 32, S. 1 (18); Rohlfing, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 96; Sinzheimer, JW 1921, 304 (305); ders., Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 81 f.; für weitere Nachweise Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 185 Fn. 135; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl. Bd. II/1, S. 154 Fn. 2 und 3. In LAG Frankfurt, Urt. v. 13.9.1928, Bensh. Samml. Bd. 4 Nr. 30 LAG, S. 120 (122) wird diese Meinung als herrschend bezeichnet; ebenso Biedenkopf, JZ 1961, 346 (346). 47 RG, Urt. v. 6.4.1922, RGZ 104, 327 (329); Urt. v. 2.7.1925, RGZ 111, 199 (201); RAG, Urt. v. 24.4.1929, Bensh. Samml. Bd. 6, 427 (430); Urt. v. 16.4.1930, 9, 55; nach Ansicht des OLG Jena NZfA 1924, Sp. 501 = RABl. (Amtl. Teil) 1924, S. 184, wird die negative Koalitionsfreiheit von Art. 159 WRV erfasst; ebenso LAG Altona, Urt. v. 15.12.1927, Bensh. Samml. Bd. 4 Nr. 32 LAG, S. 126 (129); das LAG Frankfurt hat dagegen in seinem Urteil vom 13.9.1928 ausdrücklich festgestellt, dass die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 159 WRV nicht geschützt ist (Bensh. Samml. Bd. 4 Nr. 30 LAG, S. 120); nicht nachvollziehbar ist es, wie Potthoff, in: Ramm, Arbeitsrecht und Politik, S. 77, zu dem Schluss kommt, das RG sei in ständiger Rechtsprechung von der negativen Vereinigungsfreiheit ausgegangen (unter Verweis auf Oertmann, Arbeitsvertragsrecht, S. 272). 48 Nipperdey, Bensh. Samml. Bd. 6, 60; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 154 Fn. 4; ebenso Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 184. 49 RAG, Urt. v. 16.4.1930, Bensh. Samml. Bd. 9, 55 (55).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

doch, dass es eine Entwicklungslinie vom staatlichen Koalitionsverbot über die Behinderung der koalitionsgemäßen Betätigung hin zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung der positiven Koalitionsfreiheit gegeben hat und somit die Aufhebung des § 153 ReichsGewO und die Einführung des Art. 159 WRV nicht beziehungslos nebeneinander standen. Zwar ist Art. 159 WRV vor dem Hintergrund des Ringens um das Recht, Koalitionen bilden und sich koalitionsgemäß betätigen zu können, zu sehen. Dieses Argument spricht jedoch nicht grundsätzlich gegen den Schutz einer negativen Koalitionsfreiheit. 51 Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass bestimmte „Überbleibsel“ der koalitionsfeindlichen Einstellung des Staates, wie sie noch vor 1918 bestimmend für das staatliche Handeln war, unter dem „Deckmantel“ des Außenseiterschutzes ihren Niederschlag in Art. 159 WRV gefunden haben. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn sichere Erkenntnis wäre, dass sich die Koalitionen bei ihrem Bestreben um positive Koalitionsfreiheit uneingeschränkt durchgesetzt hätten.52 Gegen letztere Annahme spricht jedoch, dass der die Koalitionsfreiheit nachhaltig entwertende § 152 Abs. 2 ReichsGewO formal nicht aufgehoben wurde. Erst durch ein Urteil des Reichsgerichts vom 2.6.1925 wurde § 152 Abs. 2 ReichsGewO als mit Art. 159 WRV unvereinbar erklärt.53 Somit galt er als aufgehoben gem. Art. 178 Abs. 2 WRV. Formal wurde § 152 ReichsGewO erst durch § 69 Abs. 2 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.193454 abgeschafft. Wenn der Große Senat des BAG davon spricht, dass an der „allein maßgebenden negativen Koalitionsfreiheit“ während der Entwicklung hin zur verfas50

Monjau, in: FS für Küchenhoff, S. 127. So aber vielfach die Gegner einer in Art. 9 Abs. 3 GG verankerten negativen Koalitionsfreiheit; vgl. beispielsweise Däubler, in: ders./Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 35; Kittner/Schiek, in: Alternativkommentar, 3. Aufl., Art. 9 Abs. 3 Rn. 109; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 182 Fn. 115. 52 Nach Ansicht von Nolting-Hauff, NZfA 1928, Sp. 461 (471) stellt Art. 159 WRV demgegenüber den Abschluss des alten Kampfes um das Koalitionsrecht dar, wobei auch er nicht weiter ausführt, ob sich damit die Koalitionen einschränkungslos durchgesetzt haben; ebenso Nikisch, Arbeitsrecht Bd. II, S. 28 („. . . Kampf durch Art. 159 WRV siegreich beendet . . .“); ders., Arbeitsrecht, 1930, S. 37 f. 53 RG, Urt. v. 2.7.1925, RGZ 111, 199, (203); zustimmend Nikisch, Arbeitsrecht, 1930, S. 38; Nipperdey, in: ders., Die Grundrechte, Bd. 3, S. 404 ff.; in diesem Sinne bereits Oertmann, Deutsches Arbeitsvertragsrecht, S. 270; für eine Weitergeltung Gätcke, Das Vereinigungsrecht, S. 22 f.; siehe eingehender zu dieser Problematik Potthoff, in: Ramm, Arbeitsrecht und Politik, S. 61 ff. Ob der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit zu einer dem § 152 Abs. 2 ReichsGewO vergleichbaren Beschränkung der positiven Koalitionsfreiheit führt, wie es vielfach in der Literatur behauptet wird, muss bezweifelt werden. In diesem Sinne z. B. Däubler, in: ders./Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 37; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 156 f; ders., in: Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. III, S. 423; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 183, 187; a. A. Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 31. 54 RGBl. I, S. 45 ff. 51

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sungsrechtlichen Garantie des Art. 159 WRV nicht gezweifelt worden sei, kann dem nicht zugestimmt werden. Man kann es sicherlich als unumstritten bezeichnen, dass durch §§ 152, 153 ReichsGewO im Ergebnis die negative Koalitionsfreiheit verabsolutiert worden ist, wenn auch die genannten Regelungen nicht den Freiheitsschutz des Einzelnen, sondern allein die Beschränkung der positiven Koalitionsfreiheit bezweckt haben. Nach Aufhebung der genannten Paragraphen fehlte es jedoch an klaren Aussagen im Gesetz. Da auch unter Geltung des Art. 159 WRV der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit angezweifelt wurde – und RG sowie RAG dem Schutz eher ablehnend gegenüber standen –, ist die oben zitierte Aussage Hubers unzutreffend, der Grundgesetzgesetzgeber hätte es in Art. 9 GG zum Ausdruck bringen müssen, wenn er den Schutz des Fernbleiberechts hätte ausschließen wollen. Es fehlt nämlich an einer eindeutigen Verfassungstradition, die der Gesetzgeber hätte abschneiden müssen. Deshalb kann das Schweigen des Gesetzgebers nicht als Argument für den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit herangezogen werden. Was sich am Ende dieser Betrachtung feststellen lässt ist, dass sich aus der Entstehungsgeschichte kein eindeutiges Argument für oder gegen die verfassungsrechtliche Garantie der negativen Koalitionsfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung entnehmen lässt. Es gibt keine eindeutige Verfassungstradition, an welche der Grundgesetzgeber hätte anknüpfen können oder gegen die er hätte Stellung beziehen müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation des BAG nicht nachvollziehbar, wonach an dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit unter Geltung der Weimarer Reichsverfassung kein Zweifel bestanden habe. Näher liegend ist es, der Entwicklung vom rigorosen Koalitionsverbot hin zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 159 WRV eine Tendenz zu entnehmen, wonach die positive Koalitionsfreiheit vorrangig geschützt ist. 4. Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG Während weitestgehend Einigkeit darüber besteht, dass sich die negative Koalitionsfreiheit nicht dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG entnehmen lässt und dass die historische Entwicklung ein Kampf um die Durchsetzung der positiven Koalitionsfreiheit war, gestaltet sich die Frage nach der Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG wesentlich kontroverser. Dass in der Endfassung des Art. 9 GG ein Zusatz, der die Freiheit vor der Koalition ausdrücklich gewährleistet, verzichtet wurde, hat zu einer Klärung der Situation nicht beigetragen. a) Diskussion im Hauptausschuss Im Entwurf des Herrenchiemseer Verfassungskonvents wurde auf eine Formulierung mit dem Inhalt verzichtet, dass niemand gezwungen werden dürfe,

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

sich einer Vereinigung anzuschließen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis auf die Pflichtmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Organisationen. Denn auch zukünftig sollten Angehörige bestimmter Berufe in entsprechenden Organisationen verpflichtend zusammengefasst werden können.55 Auch bei der Arbeit des Parlamentarischen Rates war die negative Koalitionsfreiheit von Anfang an Gegenstand der Diskussionen. Nach längerer Auseinandersetzung legte der Grundsatzausschuss dem Hauptausschuss einen Vorschlag für die Formulierung des Art. 9 GG vor, der in seinem Absatz 3 zwei Varianten enthalten hat56: – Abs. 3 S. 2 und 3 Variante I: „Dieses Recht darf durch keinerlei Abreden und Maßnahmen eingeschränkt oder behindert werden und es darf kein Zwang zum Beitritt ausgeübt werden. Solche Abreden und Maßnahmen sind rechtswidrig und nichtig.“ – Abs. 3 S. 2 und 3 Variante II: „Dieses Recht darf durch keinerlei Abreden und Maßnahmen eingeschränkt oder behindert werden. Solche Abreden und Maßnahmen sind rechtswidrig und nichtig.“

In seiner 17. Sitzung vom 3.12.1948 (erste Lesung) nahm der Hauptausschuss die Variante I nach relativ kurzer Diskussion mit denkbar knapper Mehrheit (elf gegen zehn Stimmen) an.57 In der damit befürworteten Fassung des Art. 9 Abs. 3 kam das Recht auf negative Koalitionsfreiheit durch den Satzteil „es darf kein Zwang zum Beitritt ausgeübt werden“ unmissverständlich zum Ausdruck. Vom Grundsatzausschuss wurde in der 32. Sitzung vom 11.1.1949 als Ergänzung zum Zwangsverbot eine Ausnahme für öffentlich-rechtliche Berufsverbände beschlossen und dem Abs. 3 als vierter Satz angefügt: „Ausnahmen von diesem Verbot (Anm. d. Verf.: des Zwangs zum Beitritt) können für öffentlich-rechtliche Berufsverbände durch Gesetz zugelassen werden.“58

Dass in der endgültigen Fassung die vom Hauptausschuss und vom Grundsatzausschuss beschlossenen Veränderungen keinen Eingang gefunden haben, geht wiederum auf einen Beschluss des Hauptausschusses zurück. Dieser hatte in der zweiten Lesung (44. Sitzung v. 19.1.1949) mit der Mehrheit von zwölf gegen sechs Stimmen entschieden, dass die Formulierungen bezüglich des 55 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23.8 1948, München 1948, Darstellender Teil, S. 22; vgl. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. Bd. 1 (1951), 1 (117). 56 Vgl. 25. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 24.11.1948, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. V/2, Boppard am Rhein 1993, S. 693. Vgl. auch Sitzung v. 3.12. 1948, HA-Steno, S. 210. 57 HA-Steno, S. 211; vgl. Fassung Hauptausschuss erste Lesung, Drucks. 340 v. 10.12.1948 (Art. 9), abgedruckt in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. VII, Boppard am Rhein 1995, S. 94. 58 Abänderungsvorschlag Drucks. 493 v. 11.1.1949; abgedruckt in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. V/2, Boppard am Rhein 1993, 959.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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Zwanges zum Beitritt und der Ausnahme für öffentlich-rechtliche Verbände weggelassen werden sollten.59 Was waren nun die Beweggründe für den Hauptausschuss, den ursprünglichen Beschluss der ersten Lesung in seiner zweiten Lesung wieder zu revidieren? Der Antrag auf Streichung der beiden Sätze ging von dem Abgeordneten Eberhard (SPD) aus, der in der ersten Lesung nicht anwesend war.60 Seiner Ansicht nach führen solche Einzelheiten wie das Zwangsverbot und seine Ausnahmen zu einer immer weiter getriebenen Kasuistik, von der das Grundgesetz entlastet werden sollte. Auch hätten die Gewerkschaften auf die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft seit jeher großes Gewicht gelegt; es bestehe aber die Gefahr, dass die Gerichte in bisher zulässigen Maßnahmen der Gewerkschaften einen mittelbaren und damit rechtswidrigen Zwang sähen.61 Insoweit machte sich Eberhard die Eingabe des Gewerkschaftsrates der vereinten Zonen zu Eigen, in der die Besorgnis zum Ausdruck kam, dass die Fassung „Ein Zwang zum Beitritt darf nicht ausgeübt werden“ die Gerichte veranlassen könnte, Maßnahmen, die auf die Stärkung der Organisation gerichtet sind, für rechtswidrig zu erklären.62 Der Abgeordnete Kaufmann (CDU) stimmte ebenfalls gegen das ausdrückliche Zwangsverbot in Art. 9 Abs. 3 GG. Seine Begründung ist jedoch nicht so eindeutig wie das bei Doemming/Füßlein/Matz aus dem Zusammenhang gerissene Zitat den Anschein hat: „Mir galt es von vornherein als unerwünscht, dass ausgerechnet in Verbindung mit den Wirtschaftsorganisationen das Verbot des 59 HA-Steno, S. 572; Fassung Drucks. 535 v. 20.1.1949, abgedruckt in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. VII, Boppard am Rhein 1995, S. 211. 60 Vgl. HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 570. 61 HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 570. 62 Wortlaut der betreffenden Absätze der Eingabe zitiert nach Doemming/Füßlein/ Matz, JöR n. F. Bd. 1 (1951), 1 (119 Fn. 13): „In der gleichen Bestimmung des Artikels [Anm. d. Verf.: gemeint ist: Absatzes] III wird der Versuch gemacht, die sogenannte negative Koalitionsfreiheit als verfassungsrechtliches Grundrecht festzulegen. Diesem Versuch müssen die Gewerkschaften schärfstens widersprechen. Das Koalitionsrecht hat sich als positive Koalitionsfreiheit entwickelt, ist der Schutz der arbeitenden Menschen, die sich in jahrzehntelangem Kampf das Recht erstritten, Gewerkschaften zu bilden. Der Schutz der Unorganisierten, wie ihn früher namentlich der § 153 GewO enthielt, war eine gewerkschaftsfeindliche Maßnahme des damaligen Staates. Auch zur Zeit der Weimarer Verfassung stand die durchaus h. M. auf dem Standpunkt, dass Art. 159 die positive Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich gewährleiste. Das Recht, einer Koalition fernzubleiben, ergibt sich aus der allgemeinen Freiheit, ist aber kein verfassungsmäßiges Grundrecht. Die jetzige Fassung könnte dazu führen, dass nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen durchaus zulässige Maßnahmen der Gewerkschaften auf umfassende Organisierung der einzelnen Gruppen der Arbeitnehmer rechtlich beanstandet werden könnten. Selbstverständlich werden sich die Gewerkschaften in ihren Maßnahmen an die allgemeinen Gesetze halten. Ein verfassungsmäßiger Schutz der negativen Koalitionsfreiheit würde ihre Entwicklung in bedenklicher Weise stören.“

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Zwanges hier steht.“63 Zu diesem Schluss kam Kaufmann, „weil die Gewerkschaften mindestens theoretisch auch heute noch auf dem Standpunkt stehen, dass Zwang nicht ausgeübt werden soll und weil man ihnen deshalb nicht unterstellen soll, dass sie Zwang ausüben wollen.“64 Jedoch wird diese Aussage durch den nachfolgenden Satz wieder relativiert: „Aber wenn so argumentiert wird und wenn hier davon gesprochen wird, dass ein Zwang, den man mit allen möglichen Mitteln sehr weit auslegen kann, doch ganz nützlich ist, um die Leute dahin zu schieben, wo man sie haben will, so ist die These nicht mehr zu halten, dass der gewerkschaftliche Gedanke auf der Freiwilligkeit beruht.“65 Kaufmann sieht also das Selbstverständnis der Gewerkschaften, nur freiwillige Mitglieder gewinnen zu wollen, als grundlegend an, hat aber Zweifel daran, ob diese Freiwilligkeit im Hinblick auf die im Ausschuss diskutierten gewerkschaftlichen Maßnahmen wirklich gegeben ist. Er hat sich demnach nicht einschränkungslos gegen die Streichung des Zwangsverbots ausgesprochen, sondern nur unter den genannten Prämissen. Dass die Mitglieder des Hauptausschusses nicht davon ausgegangen sind, dass Art. 9 GG in seiner heutigen Form die negative Koalitionsfreiheit schützt, wird besonders deutlich an der Aussage des Abgeordneten Schmid (SPD). Seine Frage, ob das Closed-Shop-System, wie es in Amerika üblich war und das für Außenseiterarbeitnehmer ungleich größere Belastungen beinhaltet als die Differenzierungsklauseln, als „Zwang zum Beitritt“ auszulegen ist, wurde bereits in der ersten Lesung des Hauptausschusses von Laforet (CSU) bejaht.66 Aus diesem Grund hat Schmid das ausdrückliche Zwangsverbot abgelehnt; er ging also davon aus, dass der closed shop die Rechte der Außenseiter nur bei einem entsprechenden Verfassungszusatz beeinträchtigt und nur in diesem Fall per se unzulässig ist.67 Weder von ihm noch von anderen Abgeordneten wurde erwogen, dass der Zwang zum Koalitionsbeitritt die Außenseiter in ihrem Recht auf negative Koalitionsfreiheit verletzten und dieses Recht bereits Bestandteil des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG sein könnte. Dies fasst Gamillscheg sehr treffend zusammen: „Es ist jedoch niemand von den Vätern des Grundgesetzes auf die Idee gekommen zu sagen, dies sei ein Streit um Kaisers Bart, da in der positiven die negative Freiheit mit garantiert sei. Der Diskussion wäre damit ein Ende bereitet worden.“68 Denn die Diskussion um die Einführung des genannten Zusatzes er63

Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. Bd. 1 (1951), 1 (125). HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 571. 65 HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 571. 66 HA-Steno, Sitzung v. 3.12.1948, S. 210. Siehe zum „closed shop“ (auch Organisations- oder Absperrklausel genannt) oben S. 44 Fn. 1, S. 54 Fn. 43. 67 HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 571. 68 Gamillscheg, in: Mosler/Bernhard, Koalitionsfreiheit, Bd. 2 S. 1404; ders., BB 1988, 555 (557); ders., Grundrechte, S. 102; vgl. in diesem Sinne auch Hellermann, Freiheitsrechte, S. 160; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 190. 64

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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gibt nur dann einen Sinn, wenn durch den Satzteil „es darf kein Zwang zum Beitritt ausgeübt werden“ ein Sachbereich erfasst wird, der nicht bereits durch die allgemeine Koalitionsfreiheit geschützt ist. So wie der Große Senat des BAG die Koalitionsfreiheit ausgelegt hat – nämlich als Schutz des Außenseiters vor jeglichem Druck –, wäre der Satz überflüssig. Ein ausdrückliches Zwangsverbot hätte dann nur deklaratorische und nicht konstitutive Wirkung, wovon die Mitglieder des Ausschusses aber nicht ausgegangen sind. Hierfür spricht auch, dass die vorgesehene Ausnahme für öffentlich-rechtliche Zwangsverbände nur im Zusammenhang mit dem ausdrücklichen Zwangsverbot gesehen wurde69, nicht jedoch als generell erforderliche Ausnahme, um entsprechende Berufsverbände zu rechtfertigen. Nicht nachvollziehbar ist die Einschätzung von Monjau, nach der sich der Streit im Hauptausschuss nur auf die gesetzlichen Ausnahmen vom Zwangsverbot bezogen haben soll.70 Denn es wurde nicht darüber diskutiert, welche Ausnahmen zuzulassen sind, sondern welche Fälle unter das Zwangsverbot zu fassen sind. Nicht zur Debatte stand, das Zwangsverbot in Art. 9 Abs. 3 GG zu belassen und statt einer Streichung weitergehende Ausnahmen zu formulieren. Zwar kommt in der Diskussion auch zum Ausdruck, dass zu befürchten sei, dass die Gerichte ein derartiges Zwangsverbot als Anlass für eine extensive Interpretation nehmen könnten. Jedoch ging es den anwesenden Abgeordneten nicht in erster Linie um die Widrigkeiten der Rechtsanwendung71, sondern vornehmlich darum, wie das Zwangsverbot zu verstehen sei. Es fand also eine inhaltliche Auseinandersetzung statt. Auch musste den Abgeordneten bewusst gewesen sein, dass, wenn sie eine Formulierung für den Art. 9 Abs. 3 GG wählen, die im Wesentlichen mit Art. 159 WRV übereinstimmt, sie auch dieselben Auslegungsschwierigkeiten wie in der Weimarer Republik erhalten würden. Jedenfalls wurden die Ausschussmitglieder auf die Problematik der negativen Koalitionsfreiheit durch die Eingabe des Gewerkschaftsrates hingewiesen. Der von Eberhard gemachten Ausführung, wonach die negative Koalitionsfreiheit nicht in Art. 159 WRV verankert gewesen sei72 – eine Ansicht, die auch in der Wei69 Eberhard: „Ich beantrage, in Abs. 3 den zweiten Satz zu streichen, der lautet: ,Ein Zwang zum Beitritt darf nicht ausgeübt werden.‘ Wenn das gestrichen wird, wird auch der folgende Satz überflüssig. Ich beantrage also, beide Sätze zu streichen.“ (HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 569). 70 Monjau, in: FS für Küchenhoff, S. 128; ebenso wohl Födisch, RdA 1955, 88 (89); Neumann, DB 1967, 1545 (1546); OLG Koblenz, Beschl. v. 23.12.1950, NJW 1951, 366, das sogar den Schluss zieht, „Nach der Entstehungsgeschichte des GG ist jedoch zwingend anzunehmen, dass Art. 9 auch das ,Fernhaltungsrecht‘ garantiert“. 71 Diese Vermutung stellt aber der Große Senat des BAG an, wenn seiner Meinung nach durch die Streichung lediglich eine unelastische große Einengung der positiven Koalitionsfreiheit verhindert werden sollte (Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG [Bl. 19]); im Sinne des BAG ebenfalls Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 29. 72 HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 570.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

marer Republik nicht unumstritten gewesen ist –, wurde im Ausschuss nicht widersprochen. Bemerkenswert hieran ist, dass die negative Koalitionsfreiheit nur im Zusammenhang mit dem Rekurs auf Art. 159 WRV genannt und dabei auch verneint wird, an anderer Stelle dieser Begriff aber nicht mehr auftaucht. Somit liegt der Schluss nahe, dass die Ausschussmitglieder davon ausgegangen sind, dass – nach Streichung des ausdrücklichen Zwangsverbotes – die negative Koalitionsfreiheit nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird. Nicht zutreffend ist es jedenfalls, wenn Huber davon ausgeht, der Ausschluss des staatlichen Koalitionszwangs gehöre zu den Grundrechten und sei durch eine lange Rechtsüberlieferung gesichert. Hieraus lasse sich schließen, dass sich in Art. 9 Abs. 3 GG ein eindeutiger Hinweis hätte finden müssen, wollte der Ausschuss von diesem Grundrechtsverständnis abrücken.73 Wenn Huber davon spricht, dass es eine lange Tradition des Fernbleiberechts geben würde, so unterstellt er, dass die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 159 WRV geschützt wurde. An der von Huber konstatierten „langen Rechtsüberlieferung“ fehlt es jedoch, da – wie bereits im Rahmen der historischen Entwicklung gezeigt – in der Weimarer Republik der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit stark umstritten war, sodass eine einheitliche Rechtspraxis nicht vorhanden war, an die mit dem Grundgesetz hätte angeknüpft werden können; die negative Koalitionsfreiheit gehörte nicht zum gesicherten Bestand des Art. 159 WRV, ihr Schutz wurde im Hauptausschuss sogar bestritten, wie das obige Zitat von Eberhard zeigt. Deshalb ist der Schluss nicht möglich, aus dem Schweigen des Art. 9 GG hinsichtlich des Fernbleiberechts lasse sich entnehmen, dass der Parlamentarische Rat diese „Rechtsüberlieferung“ habe fortführen wollen. b) Differenzierungsklauseln im Hauptausschuss Weiterhin ist – insbesondere im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Abhandlung – zu untersuchen, ob die Mitglieder des Hauptausschusses Differenzierungsklauseln im Lichte des Art. 9 GG für zulässig befunden haben. Auch anhand dieser Streitfrage können Rückschlüsse auf den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG gezogen werden. Schmid hat in dem Satz „Ein Zwang zum Beitritt darf nicht ausgeübt werden.“ die Gefahr gesehen, dass völlig üblich gewordene, durch lange Traditionen sanktionierte Methoden für unzulässigen Zwang erklärt werden könnten.74 Nicht weiter ausgeführt wird, was unter „langer Tradition“ zu verstehen ist; als Beispiel wird einzig die Interessenvertretung im Arbeitskampf genannt. Deshalb stellt sich die Frage, ob auch Differenzierungsklauseln zur langen Tradition gehören, die Schmid nicht abbrechen möchte. In der Weimarer Republik haben diese Klauseln – anders als die Ab73 74

Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 385. HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 571.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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sperrungs- bzw. Organisationsklauseln – nur ein Schattendasein geführt.75 Auch wenn dementsprechend hinsichtlich der Differenzierungsklauseln nicht von einer üblich gewordenen Methode gesprochen werden kann, scheinen die Mitglieder des Hauptausschusses hiervon jedoch ausgegangen zu sein. Bereits in der Sitzung des Hauptausschusses vom 3.12.1948 hat Schmid auf die üblich gewordenen Maßnahmen der Gewerkschaften verwiesen, und Schönfelder hat als Beispiel die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Tarifausschlussklauseln gestellt.76 Unabhängig davon, ob die Differenzierungsklauseln in der Weimarer Republik eine üblich gewordene Methode dargestellt haben, ist diese Frage doch nur im Zusammenhang mit dem ausdrücklichen Zwangsverbot diskutiert worden. Die Antwort von Laforet auf die Frage von Schönfelder, ob die Vereinbarung von Unternehmer und Arbeiter, den Tarifvertrag nur auf Organisierte anzuwenden, dem Zwangsverbot unterfallen könnte, war kurz und bündig „Das wird nie getroffen.“77 Herauszuheben ist, dass sich die Antwort noch auf die Ursprüngliche Fassung – mit dem ausdrücklichen Zwangsverbot – des Art. 9 Abs. 3 bezogen hat. Wenn schon hierbei die Tarifausschlussklausel nicht als unzulässiger Zwang eingestuft wurde, so muss ein Schluss a majore ad minus ergeben, dass die Tarifausschlussklausel erst recht nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG ohne ausdrückliches Zwangsverbot verstößt.78 Ein ähnlicher Erst-RechtSchluss ergibt sich auch dann, wenn man die Auffassung von Schmid heranzieht, dass selbst der closed shop mit Art. 9 Abs. 3 GG in seiner endgültigen Fassung zu vereinbaren ist.

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Vgl. oben S. 44. HA-Steno, Sitzung v. 3.12.1948, S. 210. 77 Wortlaut der Diskussion, HA-Steno, Sitzung v. 3.12.1948, S. 210: Schönfelder: Wenn hier verboten werden soll, zum Beitritt aufzufordern, so denke ich an Tarifverträge, in denen Unternehmer und Arbeiter untereinander vereinbaren: der Tarifvertrag gilt nur für denjenigen, der der Organisation angehört. Das würde doch auch so ausgelegt werden können, dass diejenigen, die der Vorteile des Tarifvertrags teilhaftig werden wollen, auf diesem Wege zum Beitritt gezwungen sind. Ist das gemeint? Laforet: Das wird nie getroffen. 78 Ebenso Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 58. Nach Ansicht von Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 34 f., handelt es sich bei der vorgenannten Stelle nicht um eine Tarifausschlußklausel, sondern um eine neutrale Klause, was allerdings nicht überzeugend ist. Schönfelder spricht von einem Zwang zum Beitritt, um am Tarifvertrag partizipieren zu können; demgegenüber würde bei einer neutralen Klausel eine einzelvertragliche Verweisung auf den Tarifvertrag ausreichen. In der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 24.11.1948 hat sich v. Mangoldt dahingehend geäußert, dass es sich um einen rechtmäßigen Zwang handelt, wenn die tariflichen Arbeitsbedingungen auf die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer beschränkt bleiben. Auf Nachfrage von Eberhard hat sich v. Mangoldt dahingehend verbessert, dass hierin lediglich ein gewisser Anreiz zum Beitritt zu sehen sei (Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. V/2, Boppard am Rhein 1993, S. 690, 691). 76

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

c) Schlussfolgerung Als Ergebnis der Debatte im Hauptausschuss lässt sich feststellen, dass nach Ansicht der Abgeordneten ein gewisser „erlaubter“ Zwang nicht zu entbehren ist.79 Sogar die Vereinbarung von Tarifausschlussklauseln wurde als verfassungsgemäß erachtet. Hieraus lässt sich wiederum schlussfolgern, dass die Position des Außenseiters gegenüber den Koalitionen eine schwächere sein sollte. Die Abgeordneten im Hauptausschuss sahen die Rechte der Außenseiter sogar nur durch den Zusatz „Ein Zwang zum Beitritt darf nicht ausgeübt werden“ geschützt, weshalb sich die Abgeordneten v. Mangoldt und Heuß auch so vehement für diese Formulierung eingesetzt haben. Dieser Teil des Abs. 3 wurde jedoch nach ausführlicher Diskussion gestrichen. Problematisch ist es dann aber, wenn im Wege der Auslegung des Art. 9 GG versucht wird, der im Hauptausschuss – in Kenntnis der Folgen – abgelehnten Fassung zur Geltung zu verhelfen. Somit spricht die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG gegen die Annahme, er enthalte ein Recht auf negative Koalitionsfreiheit, und unterstreicht damit das bei der Wortlautauslegung gefundene Ergebnis. 5. Logischer Schluss von der positiven auf die negative Koalitionsfreiheit a) Spiegelbildtheorie aa) Herleitung der negativen Koalitionsfreiheit Das gewichtigste Argument, das für die Ableitung der negativen Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG vorgebracht wird und mit dem die sich aus den anderen Auslegungsmethoden ergebenden Bedenken überwunden werden sollen, ist, dass von der positiven ein logischer Schluss auf die negative Freiheit möglich ist. Biedenkopf hat hierfür den treffenden Ausdruck „Spiegelbildtheorie“ als Oberbegriff gebraucht, da sich nach dieser Theorie die negative Koalitionsfreiheit zur positiven genau spiegelbildlich verhält.80 Entsprechender Argumentationsmuster haben sich nahezu all jene bedient, die die negative Koalitionsfreiheit als durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ansehen.81 Darüber hinaus findet sich 79 HA-Steno/Anlage, S. 11; so auch die Schlussfolgerung von v. Mangoldt (AöR 75 [1949], 273 [286]); seine entgegengesetzte Meinung (vgl. HA-Steno, Sitzung v. 19.1.1949, S. 570 f.) konnte sich im Hauptausschuss nicht durchsetzen. Vgl. auch das Fazit von Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, S. 170 f. 80 Biedenkopf, Sondervorteile, S. 274; ebenso Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 163. 81 Vgl. die Zusammenstellung bei Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 164 Fn. 27; exemplarisch sind hier zu nennen: Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 25 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 120; v. Münch, in: Bonner Kom-

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diese Logik überall dort wieder, wo der Schutz negativer Freiheiten durch das Grundgesetz begründet werden soll wie z. B. bei der negativen Meinungsfreiheit. In einem seiner Aufsätze fasst Scholz die unterschiedlichen Begriffe zusammen, die zur Erläuterung gebraucht werden, die sich aber alle unter den Oberbegriff der „Spiegelbildtheorie“ subsumieren lassen. Er spricht davon, dass die „negative Komponente“ als „begrifflich und sachlich notwendiges Korrelat“82 (als „Spiegelbild“83, als „Konnex“, als in „engem Kontext stehend“84 etc.), als „logische“, „selbstverständliche“ oder „notwendige“ Kehrseite85 der positiven Koalitionsfreiheit anzusehen ist. Nach Huber handelt es sich bei der negativen Seite der Vereinigungsfreiheit um ein „immanentes verfassungsrechtliches Prinzip“.86 Bereits die Befürworter eines Schutzes der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 159 WRV haben sich darauf berufen, dass zur positiven Koalitionsfreiheit begriffsnotwendig auch die negative gehört.87 Der Große Senat des BAG bezieht ebenfalls diesen Gesichtspunkt in seine Argumentation mit ein. Seiner Ansicht nach setzt die ausdrücklich garantierte Freiheit, eine Koalition zu bilden (oder ihr beizutreten), begrifflich die Freiheit voraus, jeder Koalition fernzubleiben. Hieraus schlussfolgert der Große Senat, dass die negative Koalitionsfreiheit in gleicher Weise wie die positive von Art. 9 Abs. 3 GG garantiert wird. Somit komme der negativen Koalitionsfreiheit der volle Schutz des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG zu.88

mentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 140; Dieckhoff, DB 1959, 1141 (1142); Dieterich, in: FS für Däubler, S. 456; Monjau, in: FS Küchenhoff, S. 130; Müller, RdA 1969, 361 (362); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 42; Schubert, RdA 2001, 199 (201 ff.); Wonneberger, Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung, S. 57. Bethge, JA 1979, 281 (283), und Neumann, DB 1967, 1545 (1546), sehen diese Auslegung jedoch nicht als zwingend. 82 Scholz, AöR 107 (1982), 126 (128, 135); ders., Grundrecht der Koalitionsfreiheit, S. 24 („logisches Korrelat“); ebenso bereits Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 252; H. Schneider, DB 1969, Beilage 2 (Punkt 39); Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 66, spricht von einem „gedanklich notwendigen Korrelat“, siehe zu diesem und den folgenden Begriffen die Erläuterung von Hellermann, Freiheitsrechte, S. 49 ff. 83 Scholz, AöR 107 (1982), 126 (128); siehe auch Monjau, in: FS Küchenhoff, S. 130; Neumann, DB 1967, 1545 (1546). 84 Scholz, AöR 107 (1982), 126 (136). 85 Scholz, AöR 107 (1982), 126 (128); Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 30; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 33; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 29. 86 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 203, 252. 87 Kaskel, Arbeitsrecht, 3. Aufl., S. 279; Anschütz, Art. 159 Erl. 4; ebenso Oertmann, Arbeitsvertragsrecht, 1923, S. 272 („selbstverständliche[n] Kehrseite“); Bühler, NZfA 1922, Sp. 157 (161). 88 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bd. 19).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Von Nuancierungen und Weiterentwicklungen abgesehen, lassen sich diese Meinungen im Wesentlichen wie folgt zusammenfassen: Auszugehen ist zunächst davon, dass durch Art. 9 Abs. 3 GG die positive Koalitionsfreiheit – also insbesondere das Recht des Einzelnen, einer Koalition beizutreten – geschützt wird. Die freie Entscheidung des Koalitionswilligen könne aber nur dann umfassend geschützt werden, wenn er auch die Option habe, einer Koalition fernzubleiben, also unorganisiert zu bleiben; positive und negative Freiheit seien also untrennbar miteinander verbunden. Denn, so führt Scholz aus: „Freiheit zum positiven Tun ohne Freiheit zum negativen Tun bedeutet im Ergebnis den Zwang zum Tun. Aus diesem Grunde ist die Anerkennung auch der negativen Freiheit jedem Freiheitsrecht eigentümlich. Grundrechtliche Freiheit heißt also Einheit von positiver und negativer Rechtsgewährleistung.“89

bb) Bedeutung der Spiegelbildtheorie für den Schutzbereich Das Postulat einer spiegelbildlichen Ableitung der negativen Koalitionsfreiheit von der positiven Seite kann nicht nur für ihre Begründung, sondern muss auch für die Schutzbereichsbestimmung Bedeutung erlangen. Wenn davon gesprochen wird, dass zur Freiheit zum Handeln auch die Freiheit zum Nichthandeln hinzukommen muss, so muss dieser Grundsatz gleichermaßen für den Umfang der Freiheit gelten: Der Umfang der Freiheit zum Handeln muss konsequenterweise seine Entsprechung finden im Umfang der Freiheit zum Nichthandeln. Schließlich soll Freiheit allgemein nur dann umfassend geschützt sein, wenn der Schutz beide Richtungen umfasst – Freiheit zum Tun und Freiheit zum Nicht-Tun. In diesem Sinne kann der Schutzumfang des Unterlassens nicht geringer sein, als der des positiven Tuns. Andererseits kann die negative Seite nicht umfassender geschützt werden, als die positive Seite Handlungsmöglichkeiten eröffnet.90 Wenn dagegen der Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit nicht seine Entsprechung im Schutzbereich der positiven Freiheit findet, so bedeutet dies, dass der negativen Seite ein eigenes Gewicht und damit eine eigenständige Bedeutung zukommt. Eine solche eigenständige Bedeutung erfordert aber eine eigenständige Herleitung des negativen Freiheitsschutzes. Die negative Seite kann dann jedenfalls nicht mehr als logische Kehrseite der positiven angesehen werden. Erst durch Hinzuziehung weiterer Gesichtspunkte lässt sich der Schutzumfang der negativen Koalitionsfreiheit argumentativ darlegen; auf die Zwangsmäßigkeit der Logik kann man sich dabei nicht mehr berufen. 89 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 42; ebenso Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Rn. 219. 90 Campenhausen, Staatskirchenrecht, S. 77; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 4 Rn. 78, 121, Art. 8 Rn. 28; Lerche, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 447 (483); Merten, DÖV 1990, 761 (761); Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft, S. 59, 220, 232, 289; Schubert, RdA 2001, 199 (201).

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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Durch eine solche Inkonsequenz würden sich die Verfechter eines logischen Schlusses selbst ihrer Argumentationsgrundlage berauben. b) Kritik Trotz der Versuche, den Schluss von der positiven auf die negative Koalitionsfreiheit geradezu als logischen und damit selbstverständlichen und zwingenden scheinen zu lassen, wurde vielfach Kritik an diesem scheinbar unangreifbaren Postulat geübt.91 aa) Kritik an den Voraussetzungen eines logischen Schlusses selbst Problematisch ist bereits der Ausgangspunkt, dass eine Freiheit zum Handeln bereits logischerweise das Recht zum Nicht-Handeln enthalten soll. Vielfach wurde angezweifelt, dass ein logischer Schluss von der positiven auf die negative Seite der Koalitionsfreiheit überhaupt möglich ist. In Abgrenzung zu den Argumentationsmustern der negativen Seite als „sachlich notwendiges Korrelat“ oder als „logisch-begriffliches Korrelat“, hat Hellermann den Oberbegriff der „negativen Seite als freiheitsrechtlich notwendiges Korrelat“ gewählt.92 Hieran ist gut zu erkennen, dass es nicht um zwingende Schlüsse geht, sondern Wertungen in Form von „Notwendigkeiten“ hinzutreten. Gernandt hat es so formuliert, dass „der rechtliche Begriff der ,Koalitionsfreiheit‘ kein logischer, sondern ein normativer ist“93. Denn was unter „Koalitionsfreiheit“ zu verstehen ist, ist nicht feststehend, sondern dem Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen unterworfen. Die Abkehr des BVerfG von seiner Kernbereichsrechtsprechung macht – soweit hierin nicht bloß eine Klarstellung dessen gesehen wird, was schon immer gegolten haben soll – den Wandel deutlich.94 Wenn aber die posi91 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 59; Gernandt, Der Arbeitgeber 1954, 154 (154); Kahn-Freund, in: Mosler/Bernhard, Koalitionsfreiheit, Bd. 2, S. 1389 („bad logic“); Ipsen, Grundrechte, Rn. 663; Mayer-Maly, in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 20; Nitschke, DÖV 1972, 41 (45); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 730; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 163 ff. Gegen eine logische Verknüpfung von positiver und negativer Seite, wenn auch zu Art. 11 EMRK, die abweichende Meinung der Richter Sørensen, Thór Vilhjálmsson, Lagegren zu EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (564). 92 Hellermann, Freiheitsrechte, S. 50; auch Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II, S. 158, geht davon aus, dass positive und negative Koalitionsfreiheit zwar begriffliche Korrelate sind, von der Rechtsordnung jedoch verschieden ausgestaltet werden können. 93 Gernandt, Der Arbeitgeber 1954, 154 (154); ebenso Heiseke, RdA 1970, 299 (300). 94 Schutz für einen Kernbereich: Beschl. v. 14.4.1964, BVerfGE 17, 319 (333 f.); Beschl. v. 30.11.1965, 19, 303 (321 ff.); Beschl. v. 26.5.1970, BVerfGE 28, 295 (304); Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (305); Beschl. v. 19.2.1975, BVerfGE

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

tive Koalitionsfreiheit einer bewertenden Beurteilung unterworfen ist, so kann für die negative Seite nichts anderes gelten. Ganz in diesem Sinne argumentiert auch Mayer-Maly – als Befürworter einer aus Art. 9 Abs. 3 GG abzuleitenden negativen Koalitionsfreiheit –, nach dessen Ansicht es keine Frage der Rechtslogik – und der dadurch implizierten Zwangsläufigkeit – ist, in welchem Umfang die negative Koalitionsfreiheit geschützt wird. Allein maßgeblich müsse es sein, welcher Rang der negativen Koalitionsfreiheit entsprechend der gesellschaftlichen Wertung zukomme.95 Denn selbst wenn man die Existenz einer negativen Koalitionsfreiheit als notwendige Voraussetzung einer positiven Freiheit ansieht, so ist damit noch keinesfalls gesagt, ob und wie die negative Seite verfassungsrechtlich auszugestalten ist, d.h. in welchem Umfang sie zu schützen ist und welchen Rang sie im Verfassungsgefüge einzunehmen hat. Nur weil ein bestimmtes Verhalten grundrechtlich nicht (speziell) geschützt ist, bedeutet das nicht, dass es verboten ist bzw. dass eine Handlungspflicht besteht. Ansonsten wäre das Grundgesetz die Magna Charta erlaubter Verhaltensweisen und damit eine Zwangsordnung. Dementsprechend verfehlt Kemper den Kern der Problematik, wenn es bei ihm heißt: „Eine Handlung, deren Unterlassen nicht erlaubt ist, ist unfrei; das Unterlassen einer Handlung, die verboten ist, ist ebenfalls unfrei.“96 Ob ein Verhalten in den Grundrechtskatalog aufgenommen wird, kann von vielen Faktoren abhängen. Es kann durchaus unterschiedlich zu bewerten sein, ob jemand „ermächtigt“ wird, Vereinigungen zu bilden und damit Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse zu nehmen, oder ob er vor Handlungszwängen zu schützen ist. Beide Fälle haben unterschiedliche Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben; in der Gewichtung kommt das gesellschaftliche Leitbild zum Ausdruck, das allerdings immer auf einer Wertung beruht. Ein Beispiel für eine politische Wertung ist die Ansicht von Huber, wonach es gerade die „Dialektik der sozialen und wirtschaftlichen Freiheit“ ist, dass die Organisationen und Zusammenschlüsse, die aufgrund der Freiheit der Gesellschaftsordnung gegründet wurden, diese Ordnung durch ihre Machtstellung bedrohen. Deshalb sei es unverzichtbar, effektive Mittel bereitzustellen, um den Einzelnen vor der Ausübung dieser Machtstellung zu schützen und seine Frei38, 386 (393); Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 (368); Beschl. v. 17.2.1981, BVerfGE 57, 220 (245 f.). Abkehr von der Kernbereichslehre: BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, BVerfGE 93, 352 (359 f.). Siehe allgemein zur Kernbereichsgarantie Seiter, AöR 109 (1984), 95 ff. 95 Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (85 f.); ders., in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 20; ähnlich auch Arndt, in: FG für Kunze, S. 265; Blom, Tarifausschlußklausel, S. 32 f.; Fechner, Rechtsgutachten, S. 32; Gitter, JurA 1970, 148 (151); Klein, Koalitionsfreiheit im pluralistischen Sozialstaat, S. 36; Neumann, DB 1967, 1545 (1546); in diesem Sinne zu Art. 159 WRV Nipperdey, in: Die Grundrechte, Bd. III, S. 420; ähnlich Radke, ArbuR 1971, 4 (8), der auf ein politisches Wertesystem abstellt; vgl. auch Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 174. 96 Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Rn. 219 (Hervorhebung nicht im Original).

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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heit zu gewährleisten.97 Ohne eine Anerkennung des Fernbleiberechts wäre der Einzelne der missbräuchlichen Anwendung von Druck- und Kampfmitteln der Koalitionen schutzlos ausgeliefert. In diese Richtung kann auch Hubers Argumentation aufgefasst werden, die Selbstverwaltung durch Körperschaften des öffentlichen Rechts gewährleiste im Gegensatz zum staatlichen Zwang ein höheres Maß an Freiheit. Hieraus zieht Huber den Schluss, dass die absolute Sicherung der sog. negativen Vereinigungsfreiheit die wirtschaftliche Selbstverwaltung auch innerhalb des durch internationale Verbindungen geordneten Bereichs unmöglich machen würde.98 In letzter Konsequenz wird damit die Reichweite der negativen Koalitionsfreiheit durch eine gesellschaftliche Wertung begründet, wie sie Mayer-Maly befürwortet. Eine konsequente Anwendung der „Spiegelbildtheorie“ stellt es hingegen dar, wenn darauf abgestellt wird, dass der Einzelne nicht das Recht hat, eine öffentlich-rechtliche Vereinigung zu bilden, und ihm deshalb das spiegelbildliche Recht fehlt, einer solchen Vereinigung fernzubleiben.99 Wird die negative Vereinigungsfreiheit dadurch bestimmt, dass die Freiheit des Einzelnen in Beziehung zur gesellschaftlichen Freiheit gesetzt wird, entzieht dies der negativen Koalitionsfreiheit ihre argumentative Grundlage. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen auf der negativen Seite und die Spiegelbildtheorie schließen sich gegenseitig aus. Denn in diesem Falle lässt sich der Umfang des Fernbleiberechts nicht begriffs-logisch bestimmen; der Vertreter einer solchen Verfahrensweise würde damit nur allzu deutlich zeigen, dass er seinem eigenen – mittels Deduktion gefundenen – Ergebnis misstraut und eine Korrektur vornimmt. bb) Folgen einer Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit Nicht aus dem Blick verloren werden dürfen die Folgewirkungen, die mit der Anerkennung der negativen Koalitionsfreiheit einhergehen. Einerseits zeigt sich hier, wie konsequent die Spiegelbildtheorie von ihren Verfechtern angewendet wird. Andererseits können hieraus Anhaltspunkte für eine gesellschaftliche Wertung gewonnen werden, die sich für Art. 9 Abs. 3 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG als Verkörperung der negativen Koalitionsfreiheit anführen lassen. Die auf der weiter oben von Huber vorgebrachten Überlegungen sprechen beispielsweise nur für die grundsätzliche Existenz eines solchen Freiheitsrechts. Zwar ist zu vermeiden, von den Folgen auf den Tatbestand der Koalitionsfreiheit zu 97 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 382. v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 140, argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn er der negativen Koalitionsfreiheit heute eine größere Bedeutung zuschreibt als der positiven. 98 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 203. 99 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 199. Siehe hierzu unten S. 93 ff.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

schließen.100 Wenn aber die Befürworter eines Schutzes der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG auf die Freiheitsverwirklichung als Argument abstellen, bedarf es einer näheren Betrachtung, ob die entsprechende Anerkennung tatsächlich ein „Mehr an Freiheit“ zur Folge hat. (1) Ausufernder Schutzbereich und schrankenlose Gewährleistung Erste Bedenken ergeben sich bereits daraus, dass eine negative Koalitionsfreiheit keine einschränkende – aus dem Grundgesetz ableitbare – Kontur aufweisen kann. Wird die positive Koalitionsfreiheit nur gewährleistet, um der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu dienen (und kann insoweit funktional aufgefasst werden101), fehlt diese Zwecksetzung der negativen Seite. Im Rahmen der Wortlautinterpretation des Art. 9 Abs. 3 GG wurde festgestellt, dass es schwerlich vorstellbar ist, wie es den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen könnte, einer Koalition fernzubleiben.102 Wenn der Einzelne unorganisiert bleibt, mag dies zwar eine gewisse Wirkung auf das soziale und wirtschaftliche Umfeld haben. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG spricht aber vom „fördern“, was eben nicht nur Beeinflussung, sondern (aktive) Gestaltung meint. Deshalb kann der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht als Begrenzung des Fernbleiberechts herangezogen werden; in ihrer Zweckoffenheit ist die negative Koalitionsfreiheit mit der Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG vergleichbar. Logische Folge wäre es, den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit weit – ja fast uferlos – zu sehen.103 Einziger Anknüpfungspunkt des Schutzbereichs an die (positive) Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG kann es sein, dass der Einzelne sich gegen die Betätigung einer Koalition wehrt. Dementsprechend müsste sich ein Abwehrrecht gegen sämtliche Regungen und Lebensäußerungen einer Koalition als Verwirklichung des Koalitionszwecks ergeben, soweit hierdurch das Arbeitsverhältnis der Nichtorganisierten gestaltet wird,104 wobei für 100 In diesem Sinne hat auch das BVerfG, Beschl. v. 13.10.1972, BVerfGE 32, 54 (72), davor gewarnt, den Schutzbereich im Hinblick auf Schwierigkeiten bei der Schrankenziehung auszulegen. Soweit ersichtlich hat das BVerfG diese Feststellung in späteren Entscheidungen nicht wiederholt. 101 Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1639; Richardi, ZfA 1970, 85 (87). 102 Vgl. Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 54; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 38; Radke, ArbuR 1971, 4 (10). Siehe oben S. 61 ff. 103 Siehe zu den unterschiedlichen Schutzbereichseinschränkungen unten S. 84 ff., 92 ff. 104 So z. B. Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 66; Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 74 f., 84; Kroll, Außenseiter in der Arbeitskampfordnung, S. 16; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 37; Ritter, JZ 1969, 111 (113); Schüren, RdA 1988, 138 (139); Zöllner, RdA 1962, 453 (458); im Ergebnis ebenso Höpp, DB 1978, 2318; v. Hoyningen-Huene, Die Vereinigungsfreiheit, AR-Blattei D-

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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die Motive, aus denen der Einzelne ein Unterlassen begehrt, keine Voraussetzungen oder Einschränkungen bestehen. Koalitionen müssen der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen, die Verhinderung ihrer Betätigung und Entfaltung kann dagegen beliebigen Zwecken folgen. Scholz beschreibt die Koalitionsfreiheit „als individuales Freiheitsrecht mit sozialer Zwecksetzung“105. Eine sozial gestaltende Komponente besteht beim Fernbleiberecht nicht mehr; ob das Fernbleiberecht noch als Kommunikationsgrundrecht, als das die positive Koalitionsfreiheit von Scholz interpretiert wird,106 angesehen werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Dienen doch nach Scholz Kommunikationsgrundrechte der „kommunikativen Verfolgung politischer, sozialer und privater Zwecke“107. Durch das Unterlassen beliebiger Handlungen wird die negative Koalitionsfreiheit der allgemeinen Handlungsfreiheit vergleichbar.108 Dementsprechend nimmt die negative Seite den Charakter eines eigenständigen Grundrechts an. Vom Wesen der positiven Seite des Art. 9 Abs. 3 GG würde sich die negative Koalitionsfreiheit damit weit entfernen. Als problematisch erweist sich der weite Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit insbesondere deshalb, weil es an geschriebenen Schranken fehlt. Die Beschränkungen durch Art. 9 Abs. 2 GG – soweit man überhaupt auf Abs. 2 im Rahmen der Koalitionsfreiheit zurückgreifen kann109 – sind auf die negative Seite nicht anwendbar, da sie eine aktive Koalitionsbetätigung voraussetzen, also auf die positive Betätigung zugeschnitten sind; schließlich spricht Abs. 2 explizit von den Zwecken der Vereinigung und ihrer Tätigkeit.110 Scholz hat auf die Schranke der allgemeinen Gesetze abgestellt wie sie Art. 5 Abs. 2 GG formuliert. Als Begründung führt Scholz an, dass es sich bei der Koalitions-

Blatt „Vereinigungsfreiheit I“ (1984) B) III 2; Scholz, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. VI, § 151, Rn. 84 ff.; Wiedemann, RdA 1969, 321 (326); im Hinblick auf eine negative Arbeitskampffreiheit Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 104 f. 105 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 284. 106 Scholz, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. VI, § 151 Rn. 121; ebenso Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, S. 35. 107 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 340. 108 So auch die Kritik von Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 201. 109 Nach Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 37 (m. w. N. auch zur Gegenansicht), lassen sich die Schranken des Abs. 2 aus systematischen Gründen nicht auf die Gewährleistung nach Abs. 3 übertragen; ebenfalls ablehnend Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 127; ders., in: FS für Friauf, S. 387; Kroll, Außenseiter in der Arbeitsrechtsordnung, S. 19 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 114 f.; das BVerfG spricht im Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (228), von der vorbehaltlosen Gewährleistung der Koalitionsfreiheit; ebenso Kissel, Arbeitskampfrecht, § 4 Rn. 35. A. A. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 389. Kritisch dazu, dass Art. 9 Abs. 2 GG als Schranke und nicht als Schutzbereichsbegrenzung angesehen wird Epping, Grundrechte, Rn. 762. 110 Vgl. im Ergebnis ebenso, wenn auch zur negativen Vereinigungsfreiheit Bethge, JA 1979, 281 (284); Friauf, in: FS für Reinhardt, S. 396.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

freiheit um ein Kommunikationsgrundrecht handelt und deshalb die allen Kommunikationsgrundrechten eigene Schranke der allgemeinen Gesetze heranzuziehen ist.111 Eine solche Schrankenkonstruktion dürfte kaum mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG als schrankenlos gewährleistetes Grundrecht in Einklang zu bringen sein. Die Schrankenlosigkeit der negativen Koalitionsfreiheit wurde gerade als ein Vorteil der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG gegenüber dem unter Gesetzesvorbehalt stehenden Art. 2 Abs. 1 GG hervorgehoben. Zudem fehlt der negativen Seite gerade der kommunikative Charakter, sodass es an dem notwendigen Wesenszusammenhang von Art. 9 Abs. 3 GG und Art. 5 Abs. 1 GG fehlt, um eine Schrankenleihe zu begründen. Scholzens Ansicht konnte sich dementsprechend weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung durchsetzen.112 Um die sich unvermeidlich ergebenden Grundrechtskollisionen zwischen negativer und positiver Seite der Koalitionsfreiheit zu vermeiden, wird überwiegend der Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit – wohl nicht zuletzt mit Blick auf das Ergebnis – eingeschränkt.113 So soll die negative Koalitionsfreiheit nicht die Freiheit von der Normsetzung der Tarifvertragsparteien umfassen, sondern nur vor einem Zwang oder Druck schützen, der die Entschließungsfreiheit fühlbar beeinträchtigt.114 Relevant wird diese Problematik bei111 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 335 ff; ebenso Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, S. 34 ff. 112 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 37; Kroll, Außenseiter in der Arbeitsrechtsordnung, S. 18 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 115 f. 113 Dies wird besonders deutlich in den Ausführungen von Wonneberger, Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung, S. 59 ff., der sich zwar über Wortlaut und Entstehung des Art. 9 Abs. 3 GG hinwegsetzt und die negative Koalitionsfreiheit als geschützt ansieht, dann aber konkrete Anhaltspunkte in Wortlaut und Entstehung für den Schutz vor fremder Normsetzung vermisst: „Letztlich würde eine Ausdehnung der negativen Koalitionsfreiheit i. S. obiger extensiver Auslegung die Individualgrundrechte des Art. 9 Abs. 3 GG insgesamt entwerten . . . Infolgedessen muß der materielle Gehalt der negativen Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG auf ein klassisches Verständnis als Fernbleiberecht begrenzt werden.“ 114 BVerfG, Beschl. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302); Beschl. v. 14.6.1983, BVerfGE 64, 208 (213); Beschl. v. 3.7.2000, AP Nr. 36 zu § 4 TVG Nachwirkung (Bl. 1 R f.); Beschl. v. 18.7.2000, AP Nr. 4 zu § 1 AEntG (Bl. 1 R); BAG, Urt. v. 28.3.1990, AP Nr. 25 zu § 5 TVG (5 R); im Ergebnis ebenso Dieterich, in: FS für Däubler, S. 456; MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 244, Rn. 4; Pieroth, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 297, 299; Säcker, Grundprobleme, S. 36; Schubert, RdA 2001, 199 (207), die aber im Ergebnis zu einem Schutz durch Art. 12 GG kommt. Demgegenüber hat der BGH in seinem Beschl. v. 18.1.2000, AP Nr. 1 zu § 20 GWB, in der Verpflichtung von nicht tarifgebundenen Unternehmen zur Beachtung von Tarifverträgen eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Unternehmer gesehen (siehe hierzu kritisch Seifert, ZfA 2001, 1 [17]). Ob das BAG in seinem Beschl. v. 26.4.1990, AP Nr. 57 zu Art. 9 GG, von einem weiteren Verständnis der negativen Koalitionsfreiheit ausgeht (Schutz der Außenseiter vor Betriebsnormen i. S. v. § 3 Abs. 2 TVG) wie es Dieterich, a. a. O., S. 456 Fn. 38, annimmt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Schließlich ist es möglich, dass das BAG eine Verletzung

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spielsweise bei der Allgemeinverbindlicherklärung gem. § 5 TVG, bei der Erstreckung der Solidar- und Ordnungsnormen des Tarifvertrags auf die Arbeitnehmer-Außenseiter gem. § 3 Abs. 2 TVG oder bei der Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 3 ArbZG. Hellermann erachtet diese Beschränkung des Schutzbereichs für konsequent, da sie zwischen den Handlungsrechten (z. B. Recht auf Gründung einer Koalition) und den Abwehrrechten unterscheidet und den Schutzbereich der Handlungsrechte um die negative Seite des Unterlassens ergänzt. „Sie (Anm.: die zurückhaltende Position insb. des BVerfG) begründet so den grundrechtlichen Schutz der Freiheit, die tatbestandlich umschriebene Handlung vorzunehmen und zu unterlassen, nicht aber der Freiheit von jeglicher Störung im grundrechtlich angesprochenen Bereich.“115 Problematisch hieran ist, dass Hellermann bereits von einem verkürzten Begriff der Handlungsseite ausgeht. Die positive Koalitionsfreiheit umfasst das Recht, sich koalitionsgemäß zu betätigen, d.h. an der Bildung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mitzuwirken. Dieser Koalitionszweck wird gewöhnlich durch den Abschluss von Tarifverträgen erreicht. Der einzelne Arbeitnehmer trägt zur Förderung des Koalitionszwecks bei, wenn er sich fremder Normsetzung unterwirft, was wiederum durch den Koalitionsbeitritt erfolgt (vgl. § 3 TVG). Diesem Umstand wird vom BAG dadurch Rechnung getragen, dass es in der Unterwerfung unter den von einer konkurrierenden Koalition abgeschlossenen Tarifvertrag eine Verletzung der positiven – und nicht der negativen – Koalitionsfreiheit sieht. Schließlich handele es sich bei der Normierung der Arbeitsbedingungen um den wesentlichen Zweck der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG.116 Hieran wird deutlich, dass die Handlung „Beitritt zu einer Koalition“ untrennbar mit der damit zusammenhängenden Rechtsfolge „Normunterworfenheit“ verknüpft ist. Dementsprechend muss sich das Unterlassen dieser Handlung (Koalitionsbeitritt) auch darauf beziehen, sich nicht fremder Normsetzungsbefugnisse zu unterwerfen, sondern frei von fremder Normsetzungsgewalt seine Arbeitsbedingungen auszuhandeln.117 Wird die negative Koalitionsfreiheit auf der negativen Koalitionsfreiheit deshalb in Betracht zieht, weil der Nichtorganisierte in die Koalition gedrängt wird, um auf den Inhalt des ihn betreffenden Tarifvertrags einzuwirken. Hingegen fragt BAG, Urt. v. 18.8.1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972 (Bl. 5 R), explizit danach, ob die Rechtsstellung der Außenseiter durch die faktische Erstreckung der Tarifwirkung beeinträchtigt wird, was auf ein weites Verständnis der negativen Koalitionsfreiheit hindeutet. 115 Hellermann, Freiheitsrechte, S. 73. 116 BAG, Urt. v. 15.2.1957, BAGE 4, 22 (25); zustimmend Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 90 f. 117 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 99 ff.; Buchner, RdA 1990, 1 (2); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 194; Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 74 f., 84; Kroll, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 16; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 37; Lieb, RdA 1967, 441 (442 Fn. 7); Ritter, JZ 1969, 111 (113); Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 141; Scholz, HdbStR, Bd. VI, § 151, Rn. 84 ff.; Schüren, RdA 1988, 138 (139); Schleusener, ZTR 1998, 100 (101, 102 f.); Zöllner, RdA 1962, 453 (458); ders./Loritz, Ar-

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ein Fernbleiberecht beschränkt, so handelt es sich sicherlich nicht um ein nudum ius118, schützt es doch den Koalitionsunwilligen davor, zwangsinkorporiert zu werden; jedoch folgt hieraus ein Bedeutungsverlust, wenn der Einzelne weiterhin dem Wirken der Koalitionen ausgesetzt ist. Hier zeigt sich eine weitere Inkonsequenz, die dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und damit dem Postulat des Freiheitsschutzes entgegenläuft. Somit bleibt die Problematik bestehen, dass die negative Koalitionsfreiheit – mit ihrem weiten Schutzbereich – der allgemeinen Handlungsfreiheit gleicht, allerdings ohne unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung zu stehen. Betrachtet man diese „Erweiterung“ des Schutzbereichs gegenüber der positiven Koalitionsfreiheit, kann sich der Schluss auf die negative Koalitionsfreiheit nicht mehr als logisch/spiegelbildlich darstellen. (2) Entwertung der positiven Freiheit (a) Gleichrangigkeit von positiver und negativer Freiheit Insbesondere aus der schrankenlosen Gewährleistung der negativen Koalitionsfreiheit muss die Entwertung der positiven resultieren. Wie bereits oben ausgeführt, ist die negative Koalitionsfreiheit nicht darauf beschränkt, der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu dienen, sondern besitzt eine denkbar weite Anwendbarkeit. Eine bestimmte Zweckgerichtetheit wohnt allein der positiven Seite inne. Die negative Koalitionsfreiheit kann dagegen vollkommen zweckfrei119 ausgeübt werden, da durch ein bloßes Fernbleiben kein Einfluss auf wirtschaftliche Abläufe genommen werden kann, mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Freiheitsausübung um der Freiheit willen. Diese Freiheitsausübung ist zwingend mit der positiven Koalitionsfreiheit wertungsmäßig auf eine Stufe zu stellen, wie es auch von den Befürwortern eines Schutzes der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG anerkannt wird.120 Denn beitsrecht, § 36 II 3, S. 397; im Ergebnis ebenso Kissel, in: FS für Hanau, S. 549, 552 f. Der Verweis von Säcker/Oetker, a. a. O., Fn. 120, auf BVerfG, Beschl. v. 14.6.1983, BVerfGE 64, 208 (215), geht jedoch fehl, da das BVerfG die Erstreckung der Tarifwirkung auf Nichtmitglieder nach Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip betrachtet hat. 118 So aber Säcker/Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 141 Fn. 120. 119 Säcker, Grundprobleme, S. 24 f., benennt die „zweck-lose Freiheit“ als Charakteristikum des Art. 2 Abs. 1 GG im Gegensatz zu den sachbestimmten Einzelgrundrechten der Art. 2 Abs. 2 ff. GG. 120 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 383; Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 53 f.; Monjau, in: FS Küchenhoff, S. 130; Richardi, ZfA 1970, 85 (90); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 278; Schubert, RdA 2001, 199 (201); Schüren, RdA 1988, 138 (145); Steinberg, RdA 1975, 99 (102); Zöllner, Differenzierungsklauseln, S. 25.

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das Grundgesetz kennt kein grundsätzliches Rangverhältnis zwischen einzelnen Grundrechten (ausgenommen ggf. die Menschenwürde, der eine exponierte Stellung innerhalb der Grundrechte zukommt).121 Für eine abstrakt vorzunehmende Abstufung fehlt es an einer rationalen Begründung. Mehr noch, es besteht die Gefahr, aufgrund eigener Wertvorstellungen zu einer interpretatorischen Beliebigkeit zu gelangen.122 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, nach der das Menschenbild des Grundgesetzes nicht das „eines isolierten souveränen Individuums“ ist: „Das Grundgesetz hat (. . .) die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden; der Einzelne muß sich daher diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren vorsieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“123 An diesem Zitat wird deutlich, dass die Intention des BVerfG darin besteht, den Handlungsspielraum des Gesetzgebers zu erhalten bzw. zu erweitern, indem von einer grundsätzlichen Beschränkbarkeit der individuellen Grundrechtsausübung ausgegangen wird. Demgegenüber kann dieser Rechtsprechung nicht entnommen werden – wie es beispielsweise Gamillscheg versucht –, dass der kollektiven Grundrechtsausübung ein Vorrang vor der individuellen zukommt.124 Kollisionen sind nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz aufzulösen. Wenn das Grundgesetz keine allgemeingültigen Abstufungen zwischen den Grundrechten kennt, hat Nach Ansicht von Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 27, ist das Fernbleiberecht des Einzelnen vorrangig; ebenso Dietlein, ArbuR 1970, 200 (203); Födisch, RdA 1955, 88 (93); Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 31; Pfarr, ArbuR 1977, 33 (41). Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 150, möchte der positiven Seite einen „geringen und undeutlichen“ Vorrang einräumen. Für einen klaren Vorrang der positiven Koalitionsfreiheit vor der negativen Fechner, Rechtsgutachten, S. 34, 71; Floretta, DRdA 1968, 1 (7); Gamillscheg, ArbuR 1996, 41 (43); Gitter, JurA 1970, 148 (151); Nitschke, DÖV 1972, 41 (46); Wonneberger, Funktionen der Allgemeinverbindlicherklärung, S. 57, 59. Zu weiteren Nachweisen siehe Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 34 Fn. 16; Neumann, DB 1967, 1545 (1547). 121 Vgl. zur Frage, ob die Menschenwürde zu den Grundrechten zählt Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 3 ff. (m. w. N.). 122 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138 ff. (insb. S. 142); Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534); Dietlein, Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 86 f., Goerlich, Wertordnung und Grundgesetzt, S. 133 ff.; Merten, VerwA 73 (1982), 103 (116 f.); v. Münch, JuS 1997, 248 (251); Rüfner, in: FG BVerfG II, S. 453 (461 ff.); Säcker, Grundprobleme, S. 133; Schlink, EuGRZ 1984, 457 (462); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 111; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 562 f.; zustimmend ebenfalls Hellermann, Freiheitsrechte, S. 98 f., 103 (m. w. N. in Fn. 53 und 56). 123 BVerfG, Urt. v. 20.6.1954, BVerfGE 4, 7 (15 f.); Urt. v. 18.7.1972, BVerfGE 33, 303 (334); Urt. v. 1.3.1979, 50, 290 (353 f.). 124 Vgl. Gamillscheg, ArbuR 1996, 41 (43); kritisch zur Rechtsprechung des BVerfG Merten, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. VI, § 144, Rn. 71 f.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

dies zur Folge, dass der positiven Koalitionsfreiheit eine gleichgewichtige negative Seite gegenüberzustellen ist. Konsequent ist es dann nur, wenn auch den negativen Freiheiten eine Bedeutung im Rahmen der objektiven Wertordnung der Grundrechte zukommt. Dementsprechend entfalten diese eine mittelbare Drittwirkung und erlangen Bedeutung für das Verhältnis der Bürger untereinander. Die Ausstrahlungswirkung der negativen Freiheiten ist insoweit unstreitig.125 Darüber hinaus kommt der negativen Koalitionsfreiheit – soweit sie aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitet wird – unmittelbare Drittwirkung zu.126 Mit der Anerkennung zweier entgegengesetzter Freiheiten, die im selben Lebensbereich ihre Wirkung entfalten, gehen grundrechtssystematische Folgewirkungen einher. Durch die Anerkennung einer negativen Komponente wird es möglich, die Koalitionsfreiheit in viel stärkerem Maße einzuschränken, als es die gesetzlich vorgesehene Schrankensystematik ermöglichen würde. An sich beinhaltet Art. 9 Abs. 3 GG – vom Streit um die Anwendbarkeit des Abs. 2 und des Art. 5 Abs. 2 GG abgesehen – ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht. Diese Vorbehaltlosigkeit kann nicht nur für die positive Seite der Koalitionsfreiheit gelten; sie muss auch, da es keine abstrakten Wertunterschiede zwischen einzelnen Grundrechten gibt, für die negative Seite gleichermaßen gelten. Entsprechendes muss dann logischerweise für die Drittwirkungsklausel des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG gelten; eine Beschränkung auf die positive Koalitionsfreiheit würde der Gleichrangigkeit positiver und negativer Grundrechte nicht gerecht werden. Eingriffe in die beiden Seiten der Koalitionsfreiheit sind somit nur zum Schutze von Grundrechten Dritter oder von Gütern mit Verfassungsrang möglich. Wenn aber die negative Koalitionsfreiheit umfassend geschützt ist – von den einzelnen Einschränkungen ist an dieser Stelle abzusehen –, so ist kollidierendes Verfassungsrecht relativ „billig“ zu haben. Schließlich wird durch den aktiven Gebrauch von Freiheit – soweit ein Sozialbezug besteht – die Sphäre Außenstehender bzw. Unbeteiligter berührt. Kommt diesen bei einer gewissen Intensität – die nicht sonderlich hoch sein muss, insbesondere wenn der Große Senat des BAG bei der negativen Koalitionsfreiheit auf eine Quantifizierung des Drucks zum Koalitionsbeitritt verzichtet127 – ein Abwehrrecht zu, so erhält die negative Freiheit den Charakter einer allgemeinen Nichtstörungsschranke.128 125 Dürig, in: FS für Nawiasky, S. 157 (184 Fn. 61); Eberle, DÖV 1977, 306 (311); Götzfried, NJW 1963, 1961 (1963); Hellermann, Freiheitsrechte, S. 91. 126 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 19); Neumann, DB 1967, 1545 (1547); Scholz, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. VI, § 151 Rn. 84; Schwerdtfeger, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 182; Steinberg, RdA 1975, 99 (102); Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 120. Mayer-Maly, in: Däubler/MayerMaly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 22 f., möchte die Drittwirkungsklausel nur eingeschränkt auf die negative Seite anwenden, so dass sich – nach seinem eigenen Bekunden – kaum noch ein Unterschied zu Art. 2 Abs. 1 GG ergibt. Zustimmend Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 59. 127 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 25 R).

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(b) Widerspruch zur objektivrechtlichen Funktion der Grundrechte Besonders deutlich tritt der grundrechtsimmanente Widerspruch zwischen positiver und negativer Seite dann auf, wenn die negative Seite als Recht verstanden wird – oder sogar werden muss –, davon verschont zu bleiben, dass Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Koalitionen gestaltet werden. In der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen kommen wesentliche Lebensäußerungen der Koalitionen zum Ausdruck. Nach allgemeiner Ansicht enthalten die Grundrechte nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern stellen zugleich „objektiv-rechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben“.129 Welche objektiv-rechtliche Gewährleistung einem so verstandenen Grundrecht auf Koalitionsfreiheit noch zu entnehmen sein soll, bleibt rätselhaft; wie der Gesetzgeber in Verwirklichung einer objektiven Wertordnung beiden Komponenten gerecht werden soll, ist zweifelhaft. Gerade bei der Koalitionsfreiheit wirken sich die entgegengesetzten Gewährleistungen aus. Um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen tatsächlich auszuhandeln und nicht bloß einseitig zu diktieren, bedarf es starker Koalitionen. Durch die Wahrnehmung des Fernbleiberechts werden aber gleichzeitig die Koalitionen geschwächt und die Möglichkeit der Ausübung der positiven Koalitionsfreiheit eingeschränkt. Denn gerade die Verwirklichung des Koalitionszwecks ist mit der Schlagkraft der Koalitionen eng verbunden. Insoweit stellt das Unterlassen des Koalitionsbeitritts nicht bloß eine individuelle Freiheitsausübung dar, vielmehr weist das Fernbleiben einen sozialen Bezug auf: Die Ausübung der eigenen Rechte schränkt zugleich die Position der Koalitionen ein. 128 Vgl. Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 54 ff.; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 111 f.; 122 f. („Gefahr, Freiheitsverkürzungen zu legitimieren“); ähnlich Klein, Koalitionsfreiheit im pluralistischen Sozialstaat, S. 33; Pfarr, ArbuR 1977, 33 (40); Wonneberger, Allgemeinverbindlicherklärung, S. 62. Natürlich darf nicht verkannt werden, dass auch eine durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit zu Einschränkungen der positiven Koalitionsfreiheit führen kann. Mangels unmittelbarer Drittwirkung des Art. 2 Abs. 1 GG haben die Koalitionen jedoch einen größeren Freiheitsbereich; zudem steht Art. 2 Abs. 1 GG unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung, sodass der Staat im Hinblick auf Grundrechtseingriffe wesentlich mehr Handlungsmöglichkeiten als bei Art. 9 Abs. 3 GG hat. Dadurch, dass Art. 9 Abs. 3 GG die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen explizit den Koalitionen überantwortet, lässt sich dem Grundgesetz zudem eine gewisse Wertung zugunsten von positiver Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie gegenüber der unbenannten negativen Koalitionsfreiheit entnehmen. 129 BVerfG, Urt. v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198 (204 f.); Beschl. v. 8.8.1978, BVerfGE 49, 89 (141 f.); Beschl. v. 14.1.1981, BVerfGE 56, 54 (73); Beschl. v. 23.4.1986, BVerfGE 73, 261 (269); siehe hierzu Jarass, AöR 1985, 363 ff.; ders., in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 Rn. 3.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Hinsichtlich dieser engen Verknüpfung von positiver und negativer Seite, dürfte Art. 9 Abs. 3 GG sicherlich eine Sonderstellung unter den Grundrechten einnehmen.130 Wer sich z. B. vom Kruzifix im Klassenzimmer in seiner negativen Religionsfreiheit aus Art. 4 GG gestört fühlt, schwächt nicht die Position der Kirchen, wenn er darauf besteht, dass das Kruzifix abgehängt wird. Das sich innerhalb eines Grundrechts ergebende Spannungsverhältnis zwischen zwei entgegengesetzten Rechtsgewährungen, denen der Gesetzgeber zu objektiver Geltung verhelfen soll, wird jedenfalls kaum zu lösen sein.131 Dementsprechend nimmt die Anerkennung einer gleichwertigen negativen Koalitionsfreiheit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit seine objektiv-rechtliche Wirkung. Einer derartigen Problematik kann man durch eine restriktive Interpretation der negativen Koalitionsfreiheit zu vermeiden suchen. Wie noch zu zeigen sein wird132, laufen solche Lösungsversuche entweder dem liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtsverständnis zuwider oder kollidieren mit der Spiegelbildlogik. Somit lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, dass die Anerkennung zweier gleichwertiger Grundrechte der negativen und positiven Koalitionsfreiheit der objektiven Dimension der Grundrechte nicht gerecht werden kann. (c) Entwertung der Drittwirkungsklausel des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG Zu nahezu absurden Ergebnissen muss es führen, wenn auch die Drittwirkungsklausel des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG konsequent auf die negative Seite angewendet wird. Entstehungsgeschichtlich dient diese Klausel im Wesentlichen dem Schutz des gewerkschaftlich aktiven Arbeitnehmers vor Repressalien der Arbeitgeberseite; als Beispiele sind hier das Führen schwarzer Listen mit gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern und die hierauf folgenden Sanktionen zu nennen.133 Die Befürworter einer negativen Koalitionsfreiheit gehen davon aus, dass dieses Grundrecht – genauso wie die positive Seite – unmittelbare Drittwirkung entfaltet.134 Schuhmann weist darauf hin, dass als Folge hiervon dem Einzelnen verboten wird, gegenüber dem Arbeitgeber das Versprechen abzugeben, auf sein Recht auf negative Koalitionsfreiheit zu verzichten.135 Ein solcher Fall wäre nämlich parallel zu dem – unwirksamen – Verzicht des Ar130

Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 43. So im Ergebnis ebenfalls Arndt, in: FG für Kunze, S. 266; Leventis, Tarifliche Differenzierung, S. 36, 42 ff.; Ritter, JZ 1969, 111 (113): „Verschwinden der Koalition als Verfassungswert“. 132 Siehe unten S. 92 ff. 133 Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 124; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 204; Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 92 f. 134 Siehe oben die Nachweise auf S. 88 Fn. 126. 135 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 204. 131

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beitnehmers auf sein Recht auf Koalitionsbetätigung zu behandeln. Nichtig nach Abs. 3 S. 2 wäre beispielsweise eine vertragliche Abrede, nach der der Arbeitnehmer auf sein Recht verzichtet, einer Koalition beizutreten. Andererseits muss dann auch das Versprechen nichtig sein, seine Grundrechte wahrzunehmen und sich gewerkschaftlich zu betätigen, da in dieser positiven Koalitionsbetätigung ein Verzicht auf das Recht, unkoaliert zu bleiben (negative Koalitionsfreiheit) zu sehen ist. In diesem Sinne wäre der Fall eines Landrats zu beurteilen, der den Kreisbediensteten, die nachweislich einer Gewerkschaft angehören, eine Zulage in Höhe von 100 DM für die Jahre 1998 bis 2000 versprochen hat. Die Begründung hierfür war, dass nach Ansicht des Landrats die Gewerkschaft durch ihre Tarifverträge den Landkreis finanziell erheblich entlastet hat.136 Auch wären Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehindert, die alte Streitfrage, ob gewerkschaftliche Vertrauensleute in Tarifverträgen begünstigt werden dürfen137 – etwa durch eine bezahlte Freistellung zur gewerkschaftlichen Schulung oder zur Teilnahme an Tarifverhandlungen –, weder tarifvertraglich noch einzelvertraglich zu regeln. Denn durch die Vereinbarung bestimmter Sonderleistungen, die im Hinblick auf die positive Koalitionsbetätigung gewährt werden, würde gleichzeitig auch eine Abrede im Sinne des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG getroffen, die das Recht auf negative Koalitionsfreiheit einschränken würde. Zwar wird für den Arbeitnehmer keine Pflicht bestehen, die Urlaubstage in Anspruch zu nehmen; insoweit verliert er also kein zur negativen Koalitionsfreiheit gehörendes Recht. Schwerer wiegt jedoch, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer für seine gewerkschaftliche Betätigung eine Belohnung in Aussicht stellt. Dagegen wäre ein derartiger Vorteil als Gegenleistung für gewerkschaftliche Enthaltsamkeit offensichtlich rechtswidrig, was wohl auch niemand bestreiten wird. Bei dem Streit um die Zulässigkeit von Tarifverträgen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute wurde zumindest überlegt – und im konkreten Fall verneint –, ob die gewährte Vergünstigung den Außenseiter in seinem Recht auf negative Koalitionsfreiheit beeinträchtigt.138 Muss dann nicht aber auch das Gleiche gelten, wenn dem gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer ein Vorteil für das Nichtausüben seiner negativen Koalitionsfreiheit geboten wird, nur dass hier ein direkter Zusammenhang zwischen Koalitionsbetätigung und Abrede i. S. d. Art. 9

136 FAZ v. 6.3.1998, S. 6: „Kleine Anerkennung für die Mitgliedschaft“; vgl. hierzu Kissel, in: FS für Hanau, S. 548. 137 Vgl. hierzu Bauer/Haußmann, NZA 1998, 854 ff.; Blomeyer, DB 1977, 101 ff.; Bulla, BB 1975, 889 ff.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1193 ff.; Dieter, Vertrauensleute, S. 190 ff.; Kempen/Zachert, TVG, § 1 Rn. 268 ff.; Kraft, ZfA 1976, 243 ff.; Pfarr, ArbuR 1978, 290 ff.; Struck, Vertrauensleute; Weiss, Vertrauensleute; Wlotzke, RdA 1976, 80 ff. 138 Siehe zu dieser Problematik ArbG Kassel, Urt. v. 5.8.1976, ArbuR 1977, 157 (160); Herschel, ArbuR 1977, 137 (142); Struck, Vertrauensleute, S. 279; Zachert, BB 1976, 514 (516 Fn. 38).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Abs. 3 S. 2 GG besteht? Eine grundgesetzliche Regelung, die eigentlich dem Schutz des Arbeitnehmers zu dienen bestimmt ist, würde in ihr Gegenteil verkehrt. Denn der einzige Ausweg aus diesem Dilemma wäre es, sich sämtlicher rechtsverbindlicher Abreden die Koalitionsausübung betreffend gegenüber Dritten zu enthalten, d.h. sich diesbezüglich also indifferent zu verhalten. cc) Inkonsequenz bei der Bestimmung der Reichweite der negativen Koalitionsfreiheit Die Vertreter der Spiegelbildtheorie nehmen für sich den umfassenden Schutz der Außenseiter in Anspruch. Ob dieser postulierte Freiheitsschutz tatsächlich mit den Gesetzen der Logik erreicht werden kann, ist fraglich. Denn möglicherweise treten (inkonsequenter Weise) Wertungsgesichtspunkte bei der Schutzbereichsbestimmung hinzu, sodass mit Blick auf das Ergebnis der eigene dogmatische Grundpfeiler „Spiegelbildtheorie“ unterhöhlt wird. (1) Kein Schutz vor der Normwirkung Die Befürworter eines spiegelbildlichen Schlusses auf die negative Seite versuchen teilweise den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit dadurch einzuschränken, dass der Schutz vor fremder Normwirkung nicht umfasst sein soll. Demnach soll die negative Koalitionsfreiheit auf den Schutz vor einem unmittelbaren oder mittelbaren Mitgliedszwang beschränkt werden.139 Ziel dieser Restriktionen dürfte es sein, die Einschränkungsmöglichkeiten der positiven Koalitionsfreiheit zu minimieren, indem die negative Koalitionsfreiheit als Schranke kollidierenden Verfassungsrechts sehr zurückhaltend interpretiert wird. Wie bereits gezeigt, ist eine solche Schutzbereichsbegrenzung jedoch nicht möglich.140 Gegenstand der positiven Seite ist es, sich einer Koalition anzuschließen und sich damit den von ihr gesetzten Normen zu unterwerfen. Spiegelbild hiervon ist es, nach eigener Willkür einer Koalition fernzubleiben und sich den von ihr gesetzten Normen dadurch zu entziehen. Eine auf die Verhinderung von Beitrittszwang beschränkte negative Koalitionsfreiheit kann damit nicht mehr das Postulat für sich in Anspruch nehmen, sie sei die Kehrseite der positiven Freiheit.

139 140

Siehe die Nachweise auf S. 84 Fn. 114. Siehe oben S. 84 ff.

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(2) Inkonsequenz beim Schutz vor öffentlich-rechtlichen Vereinigungen Kontrovers diskutiert wird in der Literatur – die Rechtsprechung hat sich diesbezüglich seit längerem festgelegt –, ob die negative Koalitionsfreiheit bzw. die entsprechend auszulegende negative Vereinigungsfreiheit auch davor schützt, in öffentlich-rechtliche Zwangsverbände inkorporiert zu werden. Bei der Beantwortung dieser Frage wird deutlich, zu welchen problematischen Ergebnissen die begriffslogische Herleitung eines (negativen) Freiheitsrechts führen muss. Mit dem Ziel, die Freiheit des Einzelnen zu sichern, muss dieser dogmatische Ansatz in Konflikt geraten. (a) Schutzbereichsbestimmung der negativen Seite Konsequent aus Sicht der Spiegelbildtheorie ist es, wenn das BVerfG141 sowie die Verwaltungsgerichtsbarkeit142 und der überwiegende Teil der Literatur143 den Schutz vor der Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Vereinigungen nicht Art. 9 GG entnehmen. Denn da der Einzelne nicht das Recht hat, eine öffentlich-rechtliche Vereinigung zu gründen, kann ihm auch nicht das (spiegelbildliche) Recht zustehen, einer derartigen Vereinigung fernzubleiben.144 141 Erstmals in der Erftverband-Entscheidung hat das BVerfG festgestellt, dass für die Frage der Zwangsmitgliedschaft Art. 9 GG nicht einschlägig ist, da dieser lediglich die Freiheit garantiert, privatrechtliche Vereinigungen zu gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben (Beschl. v. 29.7.1959, BVerfGE 10, 89 [102]). In weiteren Entscheidungen hat das BVerfG diese Aussage bestätigt: Beschl. v. 25.2.1960, BVerfGE 10, 354 (361 ff.); Urt. v. 10.5.1960, BVerfGE 11, 105 (126); Beschl. v. 19.12.1962, BVerfGE 15, 235 (239); Beschl. v. 13.10.1971, BVerfGE 32, 54 (64 f.); Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (297 f.); Beschl. v. 15.6.1988, BVerfGE 78, 320 (329); BVerfG, Beschl. v. 7.12.2001, NVwZ 2002, 335 (336). Der Bundesverfassungsrichter Steiner hat sich allerdings in MedR 2003, 1 (5), dahingehend geäußert, dass ein Schutz durch Art. 9 Abs. 1 GG vorzugswürdig ist. 142 BVerwG, Urt. v. 25.2.1966, BVerwGE 23, 304 (307); Urt. v. 27.6.1967, BVerwGE 27, 228 (230); BVerwG, Beschl. v. 3.11.1989, NJW 1990, 589; Urt. v. 29.1.1991, DÖV 1991, 645. 143 Jahn, JuS 2000, 129 (130); ders., JuS 2002, 434 (435); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 5, 7; Merten, HdbStR, Bd. VI, § 144 Rn. 59; Löwer, in: v. Münch/ Kunig, Art. 9 Rn. 19 f.; Schleusener, ZTR 1998, 100 (102); H. Schneider, DB 1969, Beilage 2 (Punkt 40); weitere Nachweise bei Hellermann, Freiheitsrechte, S. 60 Fn. 21. 144 Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 199. Friauf, in: FS für Reinhardt, 1972, S. 395, und Hellermann, Freiheitsrechte, S. 67 ff. stellen die Logik dieses Schlusses in Frage. „Wird die privatrechtliche Form als Merkmal der positiven Seite auf die geschützte Handlung – und damit das erzwungene Schutzgut des positiven Freiheitsrechts – bezogen, so wird in der Umkehrung auf die negative Seite daraus eine Anforderung an das abzuwehrende, durch den staatlichen Eingriff erzwungene Tun; wieso die Qualifizierung dieses erzwungen Tuns maßgeblich sei für das – durch die negative Seite geschützte – Unterlassen, ist nicht dargetan.“ Auch wenn diesen Ausführungen zuzustimmen ist – durch das bloße Unterlassen nimmt der Einzelne

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Andernfalls würde die negative Vereinigungsfreiheit über die positive hinausgehen und damit eine eigenständige – eben nicht abgeleitete – Funktion erhalten. Huber sieht in der Zwangsinkorporation sogar Vorteile für den Einzelnen. Seiner Ansicht nach stellt die Möglichkeit, Einfluss auf Entscheidungen in einem Bereich zu nehmen, den der Staat auch rein durch Zwang regeln könnte, einen Gewinn an Freiheit dar. Im Gegensatz zur unmittelbaren Staatsverwaltung, könne der Einzelne als Mitglied einer Körperschaft des öffentlichen Rechts auf ihre Willensbildung einwirken und letztendlich ihre Entscheidungen mitbestimmen.145 Diese Gesichtspunkte mögen die mit einer Zwangsmitgliedschaft einhergehenden Freiheitsbeschränkung als verhältnismäßig erscheinen lassen. Entscheidende Bedeutung für die Argumentation im vorliegenden Zusammenhang kann ihnen aber nicht zukommen. Wenn die überwiegende Ansicht in Literatur und Rechtsprechung die negative Vereinigungsfreiheit als die Kehrseite der positiven ansieht, so dient der Ausschluss des Schutzes vor einer Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Vereinigungen nicht der Freiheitsverwirklichung durch eine verhältnismäßige Einschränkung der Freiheit, sondern stellt eine logische Konsequenz dar. Auf den Schutz der Freiheit des Einzelnen kann allein als Begründung für die Anwendung der Spiegelbildtheorie abgestellt werden (Freiheit zum positiven Tun ist demnach nur gegeben bei Freiheit zum Unterlassen). Würde die Zwangsmitgliedschaft in der Argumentation als „milderes Mittel“ gerechtfertigt, würde der Widerspruch zur Herleitung der negativen Vereinigungsfreiheit offen zu Tage treten. An dieser Einengung des Schutzbereichs der negativen Vereinigungsfreiheit wird kritisiert, dass es für den Einzelnen unerheblich ist, ob er zum Beitritt zu einer Vereinigung des privaten oder des öffentlichen Rechts gedrängt wird. Schließlich befinde er sich in beiden Fällen in einer vergleichbaren Situation, die seine Freiheitsbetätigung ausschließe. Ähnlich argumentiert Scholz, setzt sich dabei aber in Widerspruch zu seiner eigenen Herleitung der negativen Koalitionsfreiheit. Obwohl seiner Ansicht nach die negative Seite der Koalitionsfreiheit das notwendige Korrelat146 der positiven ist, soll die negative Vereinigungsfreiheit auch vor der Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Vereinigungen bewahren. „Denn wenn das Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG vor keine öffentlich-rechtlichen Handlungsformen für sich in Anspruch –, sprechen sie letztendlich nicht gegen die Logik des Umkehrschlusses. Denn wenn auf der positiven Seite kein geschütztes Verhalten steht, kann keine „Spiegelung“ vorgenommen werden, unabhängig davon, wie das Ergebnis zu bewerten ist. An den Ausführungen Hellermanns wird hingegen deutlich, dass ein rein formales Argumentieren zu fragwürdigen Ergebnissen führen kann. 145 Vgl. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I, S. 202; in diesem Sinne auch Kluth, DVBl. 1986, 716 (720); Erichsen, Jura 1987, 390 (391); Jahn, JuS 2002, 434 (437). 146 Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 42; vgl. auch oben S. 77 Fn. 82 ff.

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Zwangsmitgliedschaften schützt, so kann es nicht darauf ankommen, ob deren Anordnung in öffentlich- oder privatrechtlicher Form erfolgt.“147 Diese Bedenken sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Vom Standpunkt eines umfassenden Freiheitsschutzes aus gesehen, wäre es sicherlich geboten, über einen Schutz des Einzelnen vor der Pflichtmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Vereinigungen nachzudenken. Denn gerade aus einem liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtsverständnis heraus, das die Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat begreift, muss es einen eklatanten Widerspruch bedeuten, dass dieser grundrechtliche Schutz genau dann versagt, wenn der Staat den Einzelnen in eine öffentlich-rechtliche Vereinigung zwangsweise eingliedert.148 Die Gewährleistung des status negativus durch die Grundrechte sollte gerade eine Lehre aus den vielfältigen (staatlichen) Zwängen des Nationalsozialismus sein, die dem Einzelnen seine Freiheitsausübung unmöglich gemacht haben. Wenn der Schutz der negativen Freiheiten nicht mehr einschlägig sein soll, wenn das Mitwirken an öffentlich-rechtlichen Handlungen in Streit steht, so muss dies dem eigenen Grundrechtsverständnis zuwiderlaufen. Dementsprechend stimmen andere Kritiker der überwiegenden Ansicht im Ergebnis und in der Begründung mit Scholz überein. Es entspreche gerade der klassischen Grundrechtsfunktion als Abwehrrechte gegen staatlichen Zwang zu dienen.149 Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sie das argumentative Dilemma, in dem sich Scholz befindet, vermeiden, indem sie die negative Vereinigungsfreiheit nicht mit logisch-begrifflichen Erwägungen bestimmen, sondern die Spiegelbildmetapher verwerfen und dementsprechend die negative Vereinigungsfreiheit als eigenständiges Individual- und Kollektivrecht begreifen. Ohne die mit der Spiegelbildmetapher einhergehende Einschränkung des Schutzbereichs der negativen Vereinigungsfreiheit besteht die Möglichkeit, den Umfang 147

Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 272. Siehe hierzu Hellermann, Freiheitsrechte, S. 68, der diese Problematik auch bei anderen Grundrechten aufzeigt: Art. 8 GG als Schutz gegen die hoheitlich organisierten Versammlungen; Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG als Schutz vor einem als staatliche Veranstaltung abgehaltenen Schulgebet. Auf die Spitze getrieben wird die „Spiegelbildlichkeit“, wenn das BVerfG, Beschl. v. 7.12.2001, NVwZ 2002, 335 (336), den Schutz vor öffentlich-rechtlichen Zwangskörperschaften mit der Begründung ablehnt, mangels Freiwilligkeit läge keine Vereinigung i. S. d. Art. 9 GG vor, sodass die negative Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG nicht einschlägig sei (ebenso Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Rn. 80 ff., 133). In letzter Konsequenz bedeutet diese Rechtsprechung, dass die negative Vereinigungsfreiheit nicht vor Zwang schützt, wenn das Ziel der Beitritt zu einer Zwangsvereinigung ist. Hellermann, a. a. O., S. 68, bezeichnet diesen „(Schutz) vor dem „Zwang zu freier, freiwilliger Betätigung“ als „sinnlose Gewährleistung, die die negative Seite in sich zusammenfallen läßt.“ 149 Bethge, JA 1979, 281 (284 f.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 414; v. Mutius, VerwArch 64 (1973), 81 (82 f.); ders., Jura 1984, 193 (196 f.); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 729 f.; auch Friauf, in: FS für Reinhardt, S. 394 f., kritisiert die verfehlte Logik anhand der öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände, lehnt aber insgesamt ein spezielles Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit ab. 148

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

des Fernbleiberechts allein unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsgewährleistung aus dem Sinngehalt des Art. 9 GG zu entwickeln und damit dogmatische Widersprüche zu vermeiden. Andererseits wird hieran deutlich, dass durch die vermeintlich logischen Argumente die so bewiesene negative (Vereinigungs-)Freiheit in ihrer Freiheitsgewährleistung wesentlich beschnitten wird. Hellermann fasst diese Problematik dahingehend zusammen, dass „der Umkehrschluss der herrschenden Meinung . . . die von ihr selbst getragene, vorausliegende Anerkennung der negativen Seite praktisch hinfällig (macht), indem er ihr in der zentralen staatsgerichtlichen Abwehrfunktion jegliche Bedeutung nimmt“150. Die Wirkung der negativen Koalitionsfreiheit als Absicherung bzw. Erweiterung der Freiheit des Einzelnen ist jedenfalls unter Zugrundelegung der „Spiegelbildlogik“ nicht zu erreichen. (b) Schrankenproblematik Der Streit, ob eine negative Vereinigungsfreiheit den Einzelnen vor der Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Verbänden schützen muss, soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Am Rande sei nur auf die Problematik hingewiesen, die mit der Anerkennung einer öffentlich-rechtlichen Zwangsverbänden entgegenstehenden negativen Vereinigungsfreiheit einhergeht. Im Allgemeinen wird die Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Verbänden nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Um diese Zwangsmitgliedschaft trotz schrankenloser Gewährleistung der negativen Vereinigungsfreiheit durch Art. 9 Abs. 1 GG rechtfertigen zu können, wurden neben der Schrankenleihe aus Art. 2 Abs. 1 GG auch weit reichende immanente Grundrechtsschranken erwogen wie z. B. das „Erfordernis sachgemäßer öffentlicher Verwaltung“, die im Ergebnis wiederum auf einen Gemeinschaftsvorbehalt hinauslaufen.151 Allen diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie einer an sich schon problematischen Konstruktion negativer Vereinigungs- bzw. Koalitionsfreiheit eine fragwürdige Schrankenkonstruktion an die Seite stellen müssen, um zu den gewünschten Ergebnissen – Rechtfertigung des überkommenen Verbandswesens – gelangen zu können. Von der versprochenen Freiheit bleibt dann nur noch die Fassade ohne materiale Substanz. Friauf zieht aus dieser ergebnisorientierten Lösung dogmatischer Probleme die Konsequenz und schlussfolgert: „Wenn aber die Grund150

Hellermann, Freiheitsrechte, S. 63. Für die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG: Heiseke, RdA 1960, 299 (302); v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 90 ff.; Luchterhand, Grundpflichten als Verfassungsproblem, S. 495 Fn. 219; für die „Sachgemäßheit öffentlicher Verwaltung“ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 414; dementsprechend spricht Bethge, JA 1979, 281 (284), auch von den immanenten Grundrechtsschranken als „schillernde, gefährliche und beliebig manipulierbare Mehrzweckwaffe“; vgl. allgemein zu den einzelnen Vorschlägen der Schrankensystematik Hellermann, Freiheitsrechte, S. 85. 151

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rechtsschranken in jedem Fall an den Maßstäben des „Auffanggrundrechts“ aus Art. 2 Abs. 1 GG orientiert werden müssen, dann ist nicht recht einzusehen, welchen Gewinn die Annahme einer besonders geschützten negativen Vereinigungsfreiheit eigentlich bringt.“152 (c) Schlussfolgerung Als Ergebnis dieser Ausführungen lässt sich festhalten, dass die Spiegelbildtheorie zu widersprüchlichen Ergebnissen führen muss. Entweder läuft die logische Ableitung der negativen Seite dem eigenen zugrunde gelegten liberalrechtsstaatlichen Grundrechtsverständnis entgegen, und der Schutzbereich der negativen Vereinigungsfreiheit wird gegenüber staatlichem Zwang grundlegend eingeschränkt, oder es wird das Gebiet des begriffs-logischen Umkehrschlusses verlassen (aber nicht aufgegeben) und eine (eigenständige) Wertung vorgenommen, wie es beispielsweise Scholz versucht. Da die Spiegelbildlogik und die Schutzbereichsbestimmung durch Wertung nicht miteinander vereinbar sind, muss es hier zu einem immanenten Widerspruch kommen. Aber auch die Ausdehnung der negativen Vereinigungsfreiheit auf öffentlichrechtliche Zwangsverbände führt nicht zu einer effektiven Erweiterung des Freiheitsbereichs. Schließlich wird die Vorbehaltlosigkeit dieses Grundrechts durch die Konstruktion eines einfachen Gesetzesvorbehalts oder die Heranziehung weit reichender immanenter Schranken vielfach umgangen. Insgesamt wird die Problematik der Spiegelbildtheorie deutlich und Mayer-Malys These untermauert: „Das zu bildliche Argument erweckt den Anschein rechtslogischer Zwangsläufigkeit, obwohl es sich in Wahrheit um gesellschaftliche Wertung handelt.“153 c) Ergebnis Wie aus den vorstehenden Ausführungen ersichtlich geworden ist, ist der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG keine Frage der Logik bzw. des begrifflichen Korrelats, sondern der gesellschaftlichen Wertung. Grundrechtsdogmatisch ist es – im Hinblick auf die Schrankensystematik und die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte – höchst problematisch, wenn ein Grundrecht, das auf Außenwirkung und soziale Interaktion ausgerichtet ist, neben seiner Ausübung gleichzeitig seine Nichtausübung gewährleistet. Um den mit der Anerkennung der negativen Seite einhergehenden Folgewirkungen auszuweichen, wird auf der anderen Seite der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit soweit eingeschränkt, dass der Bedeutungsgehalt der Unterlassensfreiheit 152 153

Friauf, in: FS für Reinhardt, S. 396. Mayer-Maly, in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 20.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

marginalisiert wird; umfasst werden soll nach überwiegender Ansicht nur noch ein Fernbleiberecht gegenüber privatrechtlichen Vereinigungen. Einen wirklichen Gewinn an Freiheit, wie er gerne von den Befürwortern eines logischen Schlusses für sich in Anspruch genommen wird, kann diese Auslegung der negativen Koalitionsfreiheit jedenfalls nicht bedeuten. Wenn der Freiheitsschutz an entscheidender Stelle limitiert und der Nichtorganisierten auf den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG verwiesen wird, stellt sich die Frage, wieso ein so enormer Begründungsaufwand getrieben wird, um die negative Koalitionsfreiheit über Wortlaut, historische Entwicklung und Entstehung hinaus dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG zu unterstellen. Dass die Spiegelbildtheorie nur vordergründig ein schlüssiges, auf Logik beruhendes Gedankengebäude darstellt, wird besonders offensichtlich bei der Frage, ob Art. 9 GG vor der Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Vereinigungen schützt. Auch wenn sich der Einzelne beim bloßen Fernbleiben öffentlich-rechtliche Handlungsformen nicht anmaßt, ist es logisch, die negative Seite nicht auf diesen Bereich zu erstrecken. Denn der positiven Seite kann kein Recht auf Bildung einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung entnommen werden. Dann aber ist eine Ansicht wie sie Scholz vertritt widersprüchlich, da sie plötzlich Wertungsgesichtspunkte hineinbringt, wo allein nach dem „begrifflich notwendigen Korrelat“ gefragt wird. Auf das Beiwerk der formal-logischen Deduktion sollte dann konsequenter Weise verzichtet werden, da im Ergebnis den durch Wertungsgesichtspunkte gewonnenen Erkenntnissen mittels einer scheinbar logischen Zwangsläufigkeit die Weihen der Unangreifbarkeit verliehen werden. Insbesondere an der Diskussion um die Reichweite der negativen Koalitionsfreiheit wird deutlich, dass die negative Koalitionsfreiheit nicht das Spiegelbild der positiven sein kann; der vermeintlich logische Schluss von der positiven auf die negative Seite hat nicht zur Klärung beigetragen. Durch die Metapher des Spiegels wurde nur der Betrachter geblendet. Auf der anderen Seite hat die Verankerung der negativen Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG zu grundrechtsdogmatischen Folgeproblemen geführt. Zum einen ist es fraglich, welche objektiv-rechtliche Funktion einem so verstandenen Art. 9 Abs. 3 GG entnommen werden kann. Jede Hinderung des Ausübens der Koalitionsfreiheit ist zugleich eine Förderung der Unterlassensfreiheit. Andererseits entsteht – wenn die negative Koalitionsfreiheit nicht gerade ergebnisorientiert beschnitten wird – eine allgemeine Nichtstörungsschranke, die mit der Schrankensystematik schwerlich zu vereinbaren ist. Schließlich ist Art. 9 Abs. 3 GG seinem Wortlaut nach ein unbeschränkt gewährleistetes Grundrecht. Aus diesen aufgeführten Gründen lässt sich nur ein Schluss ziehen: Auf Termini wie „begrifflich-logische Kehrseite“, „notwendiges Korrelat“ etc. oder andere Spiegelbildmetapher sollte verzichtet werden. Sie erhellen nicht, sondern verschleiern nur, dass der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit auf Wertun-

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gen beruht, die auf (klare) verfassungsrechtliche Vorgaben zurückzuführen sein müssen. Die grundrechtlichen Wertungen und die verfassungsrechtlichen Vorgaben sprechen allerdings gegen eine Verankerung der negativen Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG. 6. Freiwilligkeit des Koalitionszusammenschlusses Nach allgemeiner Ansicht können sich nur solche Vereinigungen auf die Vereinigungsfreiheit bzw. die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 GG berufen, die frei gebildet wurden.154 Die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft rechtfertigt es, dass den Koalitionen die Befugnis zur Normsetzung übertragen wurde, ohne sie gleichzeitig staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Hierin besteht der entscheidende Unterschied zu den (öffentlich-rechtlichen) Zwangsverbänden. Der Große Senat des BAG sieht als Voraussetzungen für die freie Bildung von Koalitionen an, dass der einzelne Koalitionswillige das Recht hat, unter mehreren vorhandenen Koalitionen zu wählen und einer davon beizutreten, aus einer solchen Koalition (satzungsgerecht) wieder auszutreten, in eine andere vorhandene überzutreten, eine neue Koalition zu bilden oder in anderen vorhandenen Koalitionen zu verbleiben. Ob darüber hinaus dem einzelnen aufgrund der „Freiwilligkeit der Koalitionsbildung“ noch das Recht zu gewährleisten sein muss, sich einer Koalitionsmitgliedschaft gänzlich zu enthalten, wird unterschiedlich beurteilt. Aus dem Grundsatz der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses wird vielfach abgeleitet, dass das Merkmal der Freiwilligkeit dazu zwinge, die negative Koalitionsfreiheit Art. 9 Abs. 3 GG zu entnehmen.155 Sollten die Koalitionen Zwang auf ihre Mitglieder ausüben, durch den die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in Frage gestellt würde, so wäre davon auch ihre Rechtsetzungsbefugnis betroffen, denn die Tarifautonomie wird gerade durch den privatautonomen Beitritt der Betroffenen zu ihren Koalitionen gerechtfertigt. Die Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen gehörten zum Kern der Existenzberechtigung der Koalitionen. Folglich seien die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft und die Tarifautonomie engstens miteinander verbunden. Maßnahmen, die auf den Zwang zur Mitgliedschaft gerichtet seien und damit den Kernbestand der 154 BVerfG, Urt. v. 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (108); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 406; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 25; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 3, 23; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 113. 155 Buchner, in: Löw, 25 Jahre GG, S. 16; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II, S. 386; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 25, 33; Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (84 f.); v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 140; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 29; Richardi, ZfA 1970, 85 (90 f.). Entsprechend dieser Argumentation leitet Eberle, DÖV 1977, 306 (308), die negative Meinungsfreiheit daraus her, dass Art. 5 Abs. 1 GG an die freie Meinungsäußerung anknüpft. Gegen diesen Ansatz Friauf, in: FS für Reinhardt, S. 393; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 228 f.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 158 f.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Tarifautonomie beträfen, könnten somit nicht rechtmäßig vereinbart bzw. durchgeführt werden.156 Auch der Große Senat des BAG hat sich diese Argumentation zu Eigen gemacht und die negative Koalitionsfreiheit damit begründet, dass als konstitutives Merkmal der Koalitionseigenschaft die „Freiwilligkeit“ zu nennen ist. Hieraus könne abgeleitet werden, dass es zu der „Freiwilligkeit des Zusammenschlusses“ eine ebenfalls aus Art. 9 Abs. 3 GG herzuleitende korrespondierende negative Koalitionsfreiheit geben müsse.157 a) Subjektiv-öffentliches Recht Ein solcher Zusammenhang zwischen Freiwilligkeit und Fernbleiberecht ist nicht so logisch wie er auf den ersten Blick zu sein scheint. Auch wenn der Schutzbereich der (kollektiven) Koalitionsfreiheit nur auf freiwillige Zusammenschlüsse beschränkt ist, heißt das noch nicht, dass dem Einzelnen ein subjektives Fernbleiberecht zustehen muss; ein Schluss vom Wesen einer Koalition auf subjektive Rechte Dritter erscheint jedenfalls nicht als logischer Schluss.158 In diesem Sinne hat auch Galperin richtigerweise darauf hingewiesen, dass das Fehlen der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses lediglich den Verlust des Koalitionscharakters zur Folge hat. Nicht ersichtlich ist nämlich, wieso der Außenseiter hierdurch ein verfassungsmäßiges Nichtvereinigungsrecht erlangen können sollte.159 Dementsprechend wirft Weller dem BAG GrS zu Recht vor, es mache den „Fehler, die Voraussetzung für ein Grundrecht selbst zu einem solchen zu erheben“160. Durch das Merkmal der Freiwilligkeit wird also lediglich der Schutz der Koalitionsfreiheit begrenzt, der dort endet, wo sich die Koalition eines nicht mehr gesetzlich legitimierten Drucks bedient.161 Die Ausübung von Koalitionszwang fällt somit nicht mehr unter die Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG. Aus dieser Begrenzung der Koalitionsfreiheit kann sich allenfalls ein Rechtsreflex für den Einzelnen ergeben.162 Ein darüber hinausgehendes ver156 Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 25; unter Berufung auf die Ausführungen von Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 94. 157 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18). 158 Vgl. in diesem Sinne Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht. 7. Auflage, Bd. II, S. 158 f. 159 Galperin in: FS für Bogs, S. 95; ebenso Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 159. 160 Weller, ArbuR 1970, 161 (165); ebenso Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 167. 161 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 168; ähnlich bereits Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 82. 162 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 171; Heiseke, RdA 1960, 299 (300); in diesem Sinne auch Dietlein, ArbuR 1970, 200 (203); Hanau, JuS 1969, 213 (220); Kempen/Zachert, TVG, Grundlagen Rn. 132.

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fassungsmäßig geschütztes subjektives Recht auf negative Koalitionsfreiheit kann hieraus aber nicht abgeleitet werden. Ein Brückenschlag von der sachlichen Begrenzung des Schutzbereichs zu dem subjektiven Recht der Mitglieder und Außenseiter auf negative Koalitionsfreiheit gelingt auch nicht dadurch, dass man aus der Freiwilligkeit besondere Schutzpflichten des Staates ableitet, die Drittwirkung entfalten und auf die sich die Betroffenen gegenüber einer druckausübenden Koalition berufen können. Wohnt den Koalitionen die Tendenz inne, die Außenseiter mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu inkorporieren, könnte Art. 9 Abs. 3 GG den Staat verpflichten, die Voraussetzungen freiwilliger Koalitionsbildung zu erhalten. Nach überwiegender Ansicht ist nicht streng zwischen der objektiv-rechtlichen Schutzfunktion der Grundrechte und einem subjektiv-rechtlichen Anspruch des einzelnen Bürgers zu unterscheiden. Wie auch das BVerfG festgestellt hat, ist die subjektiv-rechtliche Geltendmachung des objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts generell zulässig. Insoweit besteht Kongruenz.163 Vorliegend geht es lediglich um die Begrenzung des Schutzbereichs der kollektiven Koalitionsfreiheit auf freiwillige Zusammenschlüsse, nicht jedoch um die objektiv-rechtliche Gewährleistung der Freiwilligkeit durch den Staat. Aus der Begrenzung des Schutzbereichs eines Grundrechts ergibt sich nicht die Verpflichtung des Staates, die Einhaltung dieser Grenzen zu überwachen und den Einzelnen allein deshalb zu schützen, weil jemand anderes sich für sein Handeln nicht auf spezielle Freiheitsrechte berufen kann. Die gegenteilige Auffassung würde voraussetzen, dass der Bürger für sein Handeln der grundgesetzlichen, d.h. staatlichen Ermächtigung bedarf. Wer eine offensichtlich unwahre Tatsache und damit eine Lüge verbreitet, kann sich nicht auf die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG berufen; die Aussage, die allein der Schmähung des anderen dient, muss im Rahmen der Güterabwägung regelmäßig zurücktreten.164 Dem Staat erwächst erst dann eine Schutzpflicht, wenn durch die Verbreitung der Lüge die Grundrechte anderer beeinträchtigt werden, beispielsweise durch eine Ehrverletzung das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG. Diese Schutzpflicht und mit ihr einhergehend das subjektive Recht des Einzelnen resultieren also aus dem betroffenen Grundrecht, setzen also das Vorhandensein eines anderen Grundrechts voraus; sie begründet aber nicht die Existenz eines Grundrechts. Aus der bloßen Begrenzung des sachlichen Schutzbereichs kann sich hingegen keine Schutzpflicht ergeben. In diesem Sinne setzt 163 BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987, BVerfGE 76, 1 (49 f.); Beschl. v. 29.10.1987, BVerfGE 77, 170 (214 f.); Beschl. v. 20.2.1998, BVerfGE 97, 298 (313 f.); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414; zustimmend Erichsen, Jura 1987, 85 (89); Hellermann, Freiheitsrechte, S. 93; vgl. allgemein Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (17); Klein, NJW 1989, 1633 (1636 f.); Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 985. 164 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1998, EuGRZ 1999, 102 (105); Beschl. v. 29.7.1998, NJW 1999, 204 (206); Beschl. v. 11.1.1994, BVerfGE 90, 1 (15); Beschl. v. 13.4. 1994, BVerfGE 90, 241 (254); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 5.

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das subjektive Recht auf „Freiwilligkeit der Koalitionsbildung“ die negative Koalitionsfreiheit voraus – erst durch eine Beeinträchtigung kann ein spezieller Schutzanspruch entstehen. b) Problematik der Bestimmung der „Freiwilligkeit“ Nicht nur der Schluss von der „Freiwilligkeit der Koalitionsbildung“ auf ein subjektives Recht der negativen Koalitionsfreiheit ist nicht möglich. Auch der Inhalt der „Freiwilligkeit“ ist nicht feststehend, um ein bestimmtes Recht begründen zu können. Diesbezüglich ist es bereits problematisch, dass mit dem Begriff der „Freiwilligkeit“ schlagwortartig hantiert wird. Es ist ungewiss, was unter „Freiwilligkeit der Koalitionsbildung“ zu verstehen ist und ab welchem Punkt eine entsprechende Organisierung als „unfrei“ anzusehen ist. Zunächst kann die „Freiwilligkeit“ ein Fernbleiberecht, aber auch genauso gut das Recht auf freie Koalitionswahl voraussetzen (Freiwilligkeit als Schutz des Andersorganisierten). Freiwilligkeit und Koalitionspluralismus würden dann zusammen fallen. Eine solche Deutungsmöglichkeit ist nicht so fern liegend wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Unter Geltung des Art. 159 WRV wurde vielfach die Koalitionsfreiheit als reiner Schutz desjenigen, der einer anderen Koalition angehört, interpretiert; der Unorganisierte sollte nicht geschützt werden.165 Darüber hinausgehend stellt sich die Frage, ab welcher Intensität des Einwirkens auf einen Koalitionsunwilligen der gesicherte Bereich der „Freiwilligkeit“ verlassen wird. Was unter „Freiwilligkeit“ des Koalitionsbeitritts zu verstehen ist, kann nur unter Berücksichtigung der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Rechte sowie der übrigen grundrechtlichen Gewährleistungen bestimmt werden; denn bei dem Merkmal der Freiwilligkeit handelt es sich nicht um einen eigenständigen Begriff, der aus sich heraus zu definieren wäre. Entscheidend ist, welches Maß an Freiwilligkeit durch das Grundgesetz rechtlich geschützt wird. Deshalb ist zur Bestimmung der Freiwilligkeit maßgeblich, ob in Grundrechte anderer eingegriffen wird. Eine Koalition, die sich mit ihren Mitteln der positiven Koalitions(wahl)freiheit entgegenstellt, kann nicht mehr als „freiwilliger Zusammenschluss“ charakterisiert werden. Ursache und Wirkung würden jedoch vertauscht, wollte man vom Merkmal der Freiwilligkeit aus auf eine negative Koalitionsfreiheit als Ausfluss von Art. 9 Abs. 3 GG schließen. 165 Richter, VerwArch Bd. 32 (1927), 1 (18); Zimmermann, Soziale Praxis 1922, 145 (146 f.); zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Hellermann, Freiheitsrechte, S. 175, 176 ff., hinsichtlich der seiner Ansicht nach von Art. 9 Abs. 3 GG allein geschützten positiven Koalitionsfreiheit: Koalitionsfreiheit als Auswahlfreiheit. Der Einwand von Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 33, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass das Recht zur Wahl zwischen mehreren Koalitionen keinen allzu großen Schutz bietet, seitdem sich das Prinzip der Einheitsgewerkschaft weitgehend durchgesetzt hat. Dann stellt nämlich der Zwang in irgendeine Gewerkschaft einzutreten, einen Zwang dar, in diese spezielle Gewerkschaft einzutreten.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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Da die Reichweite des Freiwilligkeitsvorbehalts ungewiss ist, ist umgekehrt vorzugehen. Nur wenn die negative Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlichen Schutz genießt – ob durch Art. 9 Abs. 3 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG sei an dieser Stelle dahingestellt – umfasst die „Freiwilligkeit“ auch solche Sachverhalte, bei denen das reine Fernbleiben betroffen ist. Erst wenn der Inhalt der Koalitionsfreiheit – im positiven wie im negativen Sinne – bestimmt ist, kann auf die „Freiwilligkeit des Zusammenschlusses“ als Voraussetzung für die Koalitionseigenschaft – und damit die Reichweite der kollektiven Koalitionsfreiheit – geschlossen werden.166 Ganz in diesem Sinne verzichten Zöllner/Loritz auf eine eigenständige Definition der „Freiwilligkeit“ und verweisen zur Erläuterung auf ihre Ausführungen zur negativen Koalitionsfreiheit.167 Eine umgekehrte Argumentation – die Freiwilligkeit umfasst auch das Fernbleiben; das Fernbleiben wird geschützt, weil es ansonsten an der Freiwilligkeit fehlen würde – wäre eine Tautologie und würde damit nur einen scheinbaren Erkenntnisgewinn darstellen. c) Ergebnis Aus den vorangegangen Überlegungen ergibt sich deutlich, dass mit dem Hinweis auf das allgemeine Prinzip der „Freiwilligkeit der Koalitionsbildung“ kein Erkenntnisgewinn hinsichtlich der Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit erzielt werden kann. Es ist dogmatisch verfehlt, allein aus der Begrenzung des Schutzbereichs ein subjektiv-öffentliches Recht auf Einhaltung der Schutzbereichsgrenzen abzuleiten. Ebenso ist es nicht überzeugend, wie aus einer – unterstellten – objektiv-rechtlichen Gewährleistung der „Freiwilligkeit“ ein zwingender Schluss auf den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG gewonnen werden kann. Darüber hinaus kann der Begriff der Freiwilligkeit erst dann erfasst werden, wenn feststeht, durch welche Maßnahmen die (Koalitions-)Freiheit des Einzelnen eingeschränkt wird. Die Existenz von Freiheitsrechten wiederum mit ersterem beweisen zu wollen, führt zu einer Tautologie. Somit kann festgestellt werden, dass sich aus der allgemein anerkannten Voraussetzung der „Freiwilligkeit der Koalitionsbildung“ kein Argument für den verfassungsrechtlichen Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG entnehmen lässt. 7. Koalitionspluralismus Auch aus der Gewährleistung des Koalitionspluralismus leiten der Große Senat des BAG und ein Teil der Literatur die Notwendigkeit der negativen Koali166 Vgl. Friauf, in: FS für Reinhard, S. 393; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 168. 167 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 113.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

tionsfreiheit ab. Dieses Argument ist eng verwandt mit der Herleitung des Fernbleiberechts aus dem Grundsatz der Freiwilligkeit der Koalitionsbildung. Der Koalitionspluralismus wird nach allgemeiner Ansicht durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt.168 Der Begriff des Koalitionspluralismus kann mit Verbandsvielfalt umschrieben werden. Diese wird u. a. dadurch gewährleistet, dass die Koalitionen einer staatlichen Zulassung nicht bedürfen bzw. – soweit die Rechtsfähigkeit angestrebt wird – die Eintragung ins Vereinsregister nach allgemeinem Vereinsrecht erfolgt. Insbesondere darf es keinen Hinderungsgrund darstellen, wenn für einen bestimmten Zuständigkeitsbereich bereits eine Gewerkschaft besteht.169 Darüber hinaus gebietet es der Koalitionspluralismus, dass es eine Koalition nicht auf die Vernichtung einer konkurrierenden Koalition anlegt. Hieraus ergeben sich bestimmte Verhaltensanforderungen an die Koalitionen; so hat das BAG beispielsweise ein grob unwahres oder hetzerisches Vorgehen gegen eine andere Koalition als mit dem Koalitionspluralismus für unvereinbar erklärt.170 Nach Ansicht des Großen Senats erfordert der Koalitionspluralismus die freiwillige Entscheidung des Einzelnen, ob und wie er sich mit anderen zusammenschließen möchte. Als Kern des Koalitionspluralismus nennt der Große Senat das Recht, „unter mehreren vorhandenen Koalitionen zu wählen und einer davon beizutreten, aus einer solchen Koalition (satzungsgerecht) wieder auszutreten, in eine andere vorhandene überzutreten, eine neue Koalition zu bilden oder in einer solchen Koalition zu verbleiben.“171 In welchem inhaltlichen Zusammenhang diese Ausführungen mit einem reinen Fernbleiberecht stehen sollen, ist nicht ganz einsichtig. Schließlich werden die beschriebenen Verhaltensweisen bereits von der positiven Koalitionsfreiheit umfasst. Die positive Koalitionsfreiheit beinhaltet nach allgemeiner Meinung ja gerade das Recht, zwischen mehreren Koalitionen wählen zu können bzw. unabhängig von der individuellen Motivationslage eine neue Koalition zu bilden. Demgegenüber betrifft die negative Koalitionsfreiheit den Schutz des Fernbleiberechts als solches, nicht dagegen die Absicherung der Wahlfreiheit.172 Die negative Koalitionsfreiheit ist keine Voraussetzung für einen Koalitionspluralismus. Um diesem zur Durchset168 BAG, Urt. v. 14.2.1967, BAGE 19, 217 (226); BAG GrS, 27.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18); BAG, Urt. v. 11.11.1968, AP Nr. 14 zu Art. 9 GG (Bl. 3); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 210; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1778 ff.; Scholz, AöR 107 (1982), 126 (138); Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 253; Löwisch, RdA 1975, 53 (56); Witzig, Der Grundsatz der Tarifeinheit, S. 47. 169 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 210. 170 BAG, Urt. v. 14.2.1967, AP Nr. 14 zu 9 GG (Bl. 3 R); zustimmend Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 253. 171 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18); zustimmend Hanau, JuS 1969, 213 (216); auf ein pluralistisches Koalitionswesen abstellend Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 25; zur Unterscheidung der Begriffe „Koalitionspluralismus“ und „pluralistisches Koalitionswesen“ siehe Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 379 f.

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zung zu verhelfen, reicht die Gewährleistung der Wahlfreiheit bzw. das Recht, eine neue Koalition zu gründen, aus. Bereits hierdurch werden die Rahmenbedingungen geschaffen, die ein freies Koalitionswesen mit konkurrierenden Koalitionen ermöglichen können. Wie kann nun aber ein Rückschluss vom Koalitionspluralismus auf den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit gezogen werden? Im Zusammenhang mit dem Koalitionspluralismus wird der Vorschlag diskutiert, zwischen demjenigen zu unterscheiden, der zwar grundsätzlich koalitionswillig ist, dem aber keine Koalition zusagt und demjenigen, der aus Koalitionsunwilligkeit keiner Koalition angehört.173 Denn dem Postulat des Koalitionspluralismus wird das Recht entnommen, aus einer Koalition auszutreten, um in eine andere Koalition einzutreten. Problematisch ist dabei natürlich, dass sich in vielen Bereichen das Prinzip der Einheitsgewerkschaft durchgesetzt hat und folglich zunächst keine andere (alternative) Gewerkschaft zur Auswahl steht. Dies ist vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu beanstanden. Aus dem Grundsatz des Koalitionspluralismus und der damit zusammenhängenden Koalitionswahlfreiheit kann keine Garantie abgeleitet werden, dass auch tatsächlich mehrere Koalitionen bestehen.174 Folge hiervon ist, dass der koalitionswillige Arbeitnehmer zwar die durch die positive Koalitionsfreiheit geschützte Möglichkeit hat, eine Koalition zu gründen bzw. sich an ihrer Gründung zu beteiligen. Sollte ihm aber aus politisch-ideellen Gründen keine Koalition zusagen, so muss er unkoaliert bleiben und hierdurch – langfristig – zu einer Koalitionsneubildung beitragen. In diesem Punkt scheint die Nahtstelle zwischen dem Koalitionspluralismus – also der Gewerkschaftsvielfalt – und dem Fernbleiberecht zu liegen. Anders ist es nicht zu begründen, welcher Zusammenhang zwischen dem (subjektiven Recht auf) Unkoaliertbleiben und dem (zunächst rein objektiven Prinzip des) Koalitionspluralismus bestehen soll. Letzterem kann jedenfalls nur ein subjektives Recht einer Koalition auf Nichtbehinderung korrespondieren. Im Sinne der vorhergehenden Ausführungen möchte Säcker unterscheiden, ob sich der Arbeitnehmer aus politisch-ideellen Erwägungen – wie etwa der grundsätzlichen Ablehnung bestehender Berufsverbände – keiner Koalition anschließt oder ob er sich bloß enthält, etwa aus Gleichgültigkeit, finanziellen Erwägungen oder aus mangelnder Solidarität. In letzterem Falle soll das Fernbleiben lediglich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sein, während im ersteren Fall der – grundsätzlich koalitionswillige – Einzelne seinen Beitrag zum Koalitionspluralismus leisten möchte. Begründet wird diese Ansicht von Säcker damit, dass die 172 Mayer-Maly, in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 19; ders., ZAS 1969, 81 (84); ebenso Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 48 f. 173 Vgl. BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18 R f.); Leventis, Tarifliche Differenzierung, S. 47. 174 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 46; Löwisch, RdA 1975, 53 (56); Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. II S. 374.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Koalitionsfreiheit nur zur Verwirklichung bestimmter sozial- und wirtschaftsverfassungsrechtlicher Zwecke geschützt ist, somit also die Motive des Arbeitnehmers, warum er einer Koalition fernbleibt, entscheidend sind.175 Gegen diese Differenzierung hat der Große Senat des BAG in seinem Beschluss gewichtige praktische Einwände erhoben. Es führe zur Rechtsunsicherheit, wenn der rechtliche Schutz des Fernbleibens von einer inneren Motivation abhängig gemacht werde, die nach außen nicht unbedingt erkennbar sei. Ein Ausforschen der Privat- bzw. Intimsphäre wäre die Folge der vorgenommenen Unterscheidung; die Selbstentlarvung als „Schmarotzer“ und „Trittbrettfahrer“ – wie der Große Senat ausführt – wäre jedenfalls für den einzelnen Arbeitnehmer unzumutbar.176 Außerdem ist nicht einleuchtend, warum beim Fernbleiben die Motive des Einzelnen entscheidend sein sollen, während er sich beim Beitritt zu einer Koalition grundsätzlich auf Art. 9 Abs. 3 GG berufen kann, unabhängig davon, welche individuellen Zwecke er hiermit verfolgt. Hieran wird deutlich, dass der von Säcker vorgeschlagene Weg keine dogmatische Klarheit ermöglicht, sondern sich eine ausufernde Kasuistik abzeichnet, die in der Praxis zu einer bedenklichen Rechtsunsicherheit führen muss. Aus dieser Ablehnung einer Differenzierung nach der Motivationslage hat der Große Senat des BAG den Schluss gezogen, dass zum Schutze des Koalitionspluralismus die negative Koalitionsfreiheit umfassend zu gewährleisten ist.177 Diesem Schluss kann jedoch aus den am Anfang dieses Abschnitts genannten Gründen nicht gefolgt werden: Zur Ermöglichung bzw. Gewährleistung des Bestehens mehrer Verbände ist allein die positive Koalitionsfreiheit erforderlich. Für die Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit erweist sich hingegen der Grundsatz des Koalitionspluralismus als unergiebig.

175 Säcker, Grundprobleme, S. 36; ähnlich Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1639; bereits Sinzheimer, JW 1921, 304 (305), hat die Motivation zum Fernbleiben in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt; zu beachten ist aber, dass Säcker diese Ansicht mittlerweile aufgegeben hat und sich nunmehr nur noch auf Art. 2 I GG stützt (Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, S. 249). 176 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18 R f.); im Ergebnis ebenso Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 161 Fn. 31; Leventis, Tarifliche Differenzierung, S. 47; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 161; Richardi, ZfA 1970,85 (90; „kaum nachprüfbare Motivation“). Bei anderen (negativen) Freiheiten ist die Rechtsprechung allerdings nicht so rücksichtsvoll gewesen. Um die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 GG zu prüfen, wurde eine Gewissensprüfung zugelassen (vgl. BVerfG, Urt. v. 24.4.1985, BVerfGE 69, 1 [42 ff.]). Wer aus Gründen der Gewissensfreiheit im Studium Tierversuche verweigert, muss Alternativen darlegen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.3.2000, NVwZ 2000, 909 [909 f.]). 177 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 19).

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8. Vergleich mit den Landesverfassungen von Bremen und Hessen In den Landesverfassungen von Bremen (Art. 48 Verf. Bremen) und Hessen (Art. 36 Verf. Hessen) hat die negative Koalitionsfreiheit in nahezu identischen Formulierungen ihren unmittelbaren Ausdruck gefunden: „Niemand darf gehindert oder gezwungen werden, Mitglied einer solchen Vereinigung (Anm.: Arbeitnehmer- oder Unternehmervereinigung) zu werden.“ Dieser Satz ähnelt demjenigen, der vom Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates dem Hauptausschuss vorgelegt, dort aber durch Beschluss abgelehnt wurde.178 Welche Schlussfolgerungen aus der expliziten Gewährleistung zu ziehen sind, wird nicht ganz einheitlich beantwortet. Zunächst könnte man daran denken, dass ein ausdrücklicher landesverfassungsrechtlicher Schutz der negativen Koalitionsfreiheit nur dann erforderlich ist, wenn es bei der „gewöhnlichen“ Koalitionsfreiheit, wie sie ihren Ausdruck im Grundgesetz gefunden hat, eines solchen Schutzes ermangelt oder ein solcher – wegen Streichung des entsprechenden Zusatzes – zumindest zweifelhaft ist.179 Auf der anderen Seite könnte es sich auch – bei entsprechender Interpretation des Art. 9 Abs. 3 GG – um eine bloß deklaratorische Wiederholung dessen handeln, was ohnehin bereits verfassungsrechtlich als logische Kehrseite garantiert ist.180 Man steht also vor demselben Problem der Interpretation der Entstehungsgeschichte, das bereits bei Art. 9 GG zu verschiedenen Meinungen geführt hat. Jedenfalls als Reaktion auf Art. 9 GG können die Landesverfassungen nicht in Anspruch genommen werden; die Landesverfassung von Bremen ist am 21. Oktober 1947 und die von Hessen am 1. Dezember 1946 in Kraft getreten, das Grundgesetz hingegen erst am 23. Mai 1949. Der die negative Koalitionsfreiheit betreffende Satz wurde erst in des Sitzung des Hauptausschuss vom 19. Januar 1949 herausgenommen, also lange nachdem in den beiden Ländern eine solche Regelung für erforderlich gehalten worden war. In den Sitzungen des Hauptausschusses waren die Länderverfassungen nicht Gegenstand der Diskussion, sodass für eine bewusste Abgrenzung im Sinne einer Einschränkung der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG keine Anhaltspunkte vorliegen. Überhaupt ist zweifelhaft, ob durch den Vergleich mit 178

Siehe hierzu oben auf S. 70. Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 65, weist auf die damit zusammenhängende Problematik hin, dass gem. Art. 142 GG zwar ein weitergehender landesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz möglich ist, jedoch nur soweit ein anderes Bundesgrundrecht nicht eingeengt wird (Behinderung der grundgesetzlichen positiven Koalitionsfreiheit durch die landesverfassungsrechtliche negative Koalitionsfreiheit); hiergegen wendet sich Blom, Tarifausschlußklausel, S. 41. Deutlich wird die Problematik bei Heußner, RdA 1960, 295 (297), nach dessen Ansicht die allgemeine Tarifausschlussklausel allein in Bremen und Hessen wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit rechtswidrig ist. Zur Weitergeltung der Landesgrundrechte siehe auch Födisch, RdA 1955, 88 (89). 180 Monjau, in: FS Küchenhoff, S. 130. 179

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

einer Landesverfassung ein Erkenntnisgewinn bei der Auslegung des Grundgesetzes zu erzielen ist. Allenfalls kann mit Mayer-Maly die landesverfassungsrechtliche Verankerung der negativen Koalitionsfreiheit als Indiz für eine bestimmte gesellschaftliche Wertung herangezogen werden.181 Soweit diese allerdings weder ihren Niederschlag im Wortlaut noch im Gesetzgebungsverfahren gefunden hat, kann die Wertung allenfalls im Rahmen der teleologischen Auslegung Berücksichtigung finden. 9. Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG Wenn die negative Koalitionsfreiheit nicht spezialgesetzlich von Art. 9 Abs. 3 GG erfasst wird, bedeutet dies nicht, dass ein Grundrechtsschutz ausgeschlossen und dementsprechend ein Koalitionszwang ohne weiteres möglich wäre. Art. 2 Abs. 1 GG schützt umfassend die menschliche Freiheitssphäre.182 Auch wenn gemeinhin von der allgemeinen Handlungsfreiheit gesprochen wird, umfasst Art. 2 Abs. 1 GG mit seiner negativen Seite nicht bloß die Abwehr von Zwang zum Handeln. Hierbei handelt es sich nur um einen Ausschnitt der umfassenden Grundrechtsgewährleistung. Darüber hinaus beinhaltet Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht zur Abwehr sämtlicher Störungen von außen.183 Dies ergibt sich nicht erst aus einem Umkehrschluss, ausgehend von der positiven Seite der allgemeinen Handlungsfreiheit. Als allgemeines Freiheitsrecht bzw. Auffanggrundrecht schützt Art. 2 Abs. 1 GG aus sich heraus auch die Unterlassensfreiheit. In diesem Sinne sollte Art. 2 Abs. 1 GG den Wortlaut „die Freiheit zu tun und zu lassen“ erhalten, was aber nur aus sprachästhetischen Gründen abgelehnt wurde.184 Die negative Koalitionsfreiheit bei Art. 2 Abs. 1 GG anzusiedeln ist durchaus schlüssig. Schließlich hat sich gezeigt, dass das bloße Fernbleiben von einer Vereinigung, da es weder die Arbeits- noch die Wirtschaftsbedingungen fördert, zweckungebunden ausgeübt werden kann. Letztlich geht es nur um die freie Willensbetätigung des Einzelnen, um den Schutz des „sich so oder so verhalten“. Dementsprechend bedeutet nicht nur der Zwang zum Beitritt zu einer Koalition – der also den aktiven Teil der Handlungsfreiheit betrifft –, sondern auch die Erstreckung der Normwirkung der Tarifvertragsparteien eine Verkürzung der Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 GG. Dass Art. 2 Abs. 1 GG umfassend die negative Koalitionsfreiheit schützt, ist (nahezu) unbestritten.185 Die 181 Mayer-Maly, in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 20; in diesem Sinne auch Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 32. 182 Vgl. nur Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2, Rn. 11 ff. m. w. N. 183 Siehe zu den Einzelnen Aspekten der durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten negativen Freiheit Hellermann, Freiheitsrechte, S. 79 f. 184 Vgl. Doemming/Füßlein/Matz, JöR n. F. Bd. 1 (1951), 1 (56, 61); Säcker, Grundprobleme, S. 22.

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Diskussion betrifft lediglich den Punkt, ob Art. 9 Abs. 3 GG ebenfalls die negative Koalitionsfreiheit verbürgt und dadurch Art. 2 Abs. 1 GG als lex specialis verdrängt. Wenn die negative Koalitionsfreiheit nur durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird, hat dies zur Folge, dass für den Staat weitergehende Einschränkungsmöglichkeiten bestehen, als bei einer spezialgesetzlichen Anerkennung. Schließlich handelt es sich bei Art. 9 Abs. 3 GG um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, wohingegen Art. 2 Abs. 1 GG unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung steht. Auf der anderen Seite ist nicht zu befürchten, dass die negative Koalitionsfreiheit hierdurch grundlegend entwertet und damit bedeutungslos würde. Denn die – nach Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos gewährte – negative Koalitionsfreiheit wird in der Regel so restriktiv ausgelegt, dass weder die für den Einzelnen besonders einschneidende Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Verbänden noch die Freiheit von der Normwirkung erfasst werden. Diesbezüglich wird von der Rechtsprechung ohnehin auf Art. 2 Abs. 1 GG zurückgegriffen. Aus diesem Grund ist Hellermanns Schlussfolgerung nicht von der Hand zu weisen: „Was andererseits die Folgen bei Verzicht auf eine negative Seite der Handlungsrechte angeht, so scheinen diese (. . .) gering, denn die speziellen negativen Freiheitsrechte haben in der praktischen Umsetzung durch Rechtsprechung und Literatur nur wenig Bedeutung erlangt.“186 Dass Art. 2 Abs. 1 GG im Wege der mittelbaren Drittwirkung den anderen Grundrechten in der praktischen Anwendung nachstehen muss, ist zudem nicht gesagt. Formal ist Art. 2 Abs. 1 GG ohnehin kein Grundrecht minderen Ranges.187 Schließlich gibt es Autoren, die zwar die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG ableiten, aber trotzdem zur Rechtmäßigkeit von Differenzierungsklauseln gelangen188, wohingegen andere zur Unzulässigkeit derartiger Klauseln gelangen (teilweise allerdings nicht auf Grund eines Verstoßes gegen 185 Vgl. nur Scholz, HdbStR, Bd. IV, § 151 Rn. 84; anderer Ansicht Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 422, die jedoch von einer abweichenden Freiheitskonzeption ausgeht: „Art. 2 Abs. 1 GG schützt nach unserer Anschauung keine bestimmten (notwendig materialen) Rechte des Unterlassens, also nicht etwa eine negative Vereinigungs- oder Koalitionsfreiheit, gegenüber hoheitlichen Betätigungszwängen, weil die Substanz dieser Norm formal und nicht material zu begreifen ist. Dennoch schützt Art. 2 Abs. 1 GG im Ergebnis jedes Unterlassen, das dem Freiheitsbegriff nach Kriterien der praktischen Vernünftigkeit genügt. Art. 2 Abs. 1 GG bietet lediglich Schutz dagegen, dass das Gesetz die praktische Vernunft verkennt.“ 186 Hellermann, Freiheitsrechte, S. 165. 187 Da Art. 2 Abs. 1 GG lediglich als Schutzpflicht auf die Privatrechtsverhältnisse einwirkt, ist stets eine einfachgesetzliche Anknüpfung erforderlich. Damit ergibt sich im Ergebnis ein schwächerer Schutz. Denn bei einer Verletzungen der negativen Koalitionsfreiheit muss der Tatbestand der §§ 138, 242 BGB erfüllt sein. Zudem ist Art. 2 Abs. 1 GG kein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 GG, sodass auch § 1004 BGB (analog) keine Anwendung findet. Im Hinblick auf die von den Schutzpflichten geforderte Untermaßverbot dürfte eine Intensivierung der einfachgesetzlichen Umsetzung gegenwärtig wohl nicht gefordert sein. Siehe im Einzelnen unten S. 185 ff.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

die negative Koalitionsfreiheit, sondern auf Grund fehlender Tarifmacht), obwohl sie auf Art. 2 Abs. 1 GG abstellen.189 10. Ergebnis Für eine Verankerung der negativen Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG lassen sich keine zwingenden Argumente finden. Weder der Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 GG noch die historische Entwicklung oder gar die Entstehungsgeschichte lassen sich als Beleg für die negative Koalitionsfreiheit anführen. Der Schutz der negativen Seite ist auch nicht die logische Kehrseite der positiven Koalitionsfreiheit. Insoweit fehlt es an durchgreifenden Gründen, um über den Wortlaut hinausgehen zu können. Andererseits sprechen gewichtige dogmatische und praktische Folgeprobleme gegen einen Schutz der Unterlassensfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG, denen allenfalls durch eine (willkürliche) Einschränkung des Schutzbereiches oder durch Konstruktion nicht vorgesehener Schranken begegnet werden kann. Welcher Gewinn an Freiheit dann aber mit dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit verbunden ist, bleibt offen. Allein dadurch, dass die negative Koalitionsfreiheit nicht von Art. 9 Abs. 3 GG erfasst wird, entsteht noch keine Pflicht zur Grundrechtsausübung. Hellermann hat hierzu sehr treffend ausgeführt, dass „die rechtliche Freiheit, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder auch zu unterlassen, nicht dadurch aufgehoben (ist), auch wenn ein spezielles Freiheitsrecht nur die Vornahme dieser Handlung schützt.“190 In diesem Sinne wird die negative Koalitionsfreiheit, d.h. das Unterlassen jeglicher koalitionsmäßiger Betätigung, von Art. 2 Abs. 1 GG erfasst und geschützt, ohne dass gleichzeitig die Koalitionsfreiheit zu einer Grundpflicht würde. Denn vom liberal-rechtsstaatlichen Grundrechtsverständnis aus ist es nicht Voraussetzung für eine Freiheit, dass sie ausdrücklich gewährt wird. Der Gebrauch einer Freiheit muss als rechtlich erlaubt gelten, solange er nicht 188 Vgl. LAG Hamm, Entsch. v. 11.1.1994, LAG-E Nr. 4 zu § 4 TVG; Dietlein, ArbuR 1970, 200 (204); Hanau, JuS 1969, 213 (216); Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 93, 96; Nitschke, DÖV 1972, 41 (44); Steinberg, RdA 1975, 99 (100 ff., 106); Musa, BB 1966, 82 ff.; im Ergebnis ebenso Weller, ArbuR 1970, 161 (166); Gitter, JurA 1970, 148 (151 f.), der die Differenzierungsklauseln aber aus anderem Grund für unzulässig hält. 189 Vgl. Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 167, 169; ders./Säcker, ebd., Bd. II/2, S. 1639. Nach Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 34, Kissel, Arbeitskampfrecht, § 5 Rn. 6, und Musa, BB 1966, 82 (83 Fn. 6), führen Art. 2 GG und Art. 9 GG zum selben Ergebnis. Ebenso Schnorr, in: FS für Erich Molitor, 1962, S. 250 f., 252, der allerdings die Tarifausschlussklausel für zulässig hält. 190 Hellermann, Freiheitsrechte, S. 228; ebenso bereits Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 81 f.: „Es ist nur festgestellt, daß der Schutz der einzelnen vor der Koalition in der Verfassung nicht verankert ist. Im Übrigen bleibt der Schutz der einzelnen, wie er sich aus allgemeinen Bestimmungen des Rechts ergibt, unberührt. Art. 159 (WRV) heiligt nicht den Organisationszwang. Er betrifft ihn nur nicht.“

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ausdrücklich untersagt wird.191 Eingriffe in die negative Koalitionsfreiheit sowie Ausgestaltungen derselben müssen sich folglich an Art. 2 Abs. 1 GG messen lassen.

II. Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit Wie sich aus den vorherigen Überlegungen ergeben hat, wird die negative Koalitionsfreiheit nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG, sondern durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet. Deshalb ist die Frage, ob Differenzierungsklauseln die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter verletzen, allein anhand von Art. 2 Abs. 1 GG zu beantworten. Jedoch ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Rechtsprechung und Literatur überwiegend auf Art. 9 Abs. 3 GG abstellen und allein hieran die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln messen. Nicht nur der dogmatische Ausgangpunkt ist deshalb einer kritischen Würdigung zu unterziehen, auch die Anwendung des Art. 9 Abs. 3 GG im konkreten Fall ist im Folgenden auf ihre dogmatische Richtigkeit zu überprüfen. Zwar mag durch die dogmatische Einordnung der negativen Koalitionsfreiheit eine wichtige Weiche für die Frage nach der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln gestellt sein. Wie bereits angesprochen192, besteht aber kein Automatismus, wonach ein bestimmtes Ergebnis hierdurch präjudiziert wäre. Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich der Gang der Untersuchung. Auszugehen ist von den Voraussetzungen, die der Große Senat des BAG in seiner Differenzierungsklauselentscheidung aufgestellt hat. Anhand der weiteren Rechtsprechung des BAG muss sich dann zeigen, ob das BAG die von ihm aufgestellten Prämissen konsequent angewendet hat und dementsprechend die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln heute in gleicher Weise – wie 1967 – beurteilen würde. Weiterhin ist die Rechtsprechung des BAG mit der des BVerfG zu vergleichen. Danach soll der Beschluss des BAG GrS unter Berücksichtigung der Ansichten in der Literatur untersucht werden. Zum Abschluss sind die Differenzierungsklauseln an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. 1. Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG a) Ansicht des BAG GrS aa) Inhalt des Beschlusses vom 29.11.1967 Ausgangspunkt der Betrachtung des Großen Senats ist die Feststellung, dass Differenzierungsklauseln als tarifvertragliche Selbsterhaltungsmaßnahmen von 191 192

Hellermann, Freiheitsrechte, S. 228. Siehe oben S. 108 f.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

der Koalitionsfreiheit geschützt werden.193 Soweit durch entsprechende koalitionsmäßige Betätigung in die Rechte der Außenseiter auf negative Koalitionsfreiheit eingegriffen werde, müsse zwischen der Kollektiv- und der Individualgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG abgewogen und beide Grundrechte in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt werden.194 Zentraler Gesichtspunkt, um festzustellen, ob ein bestimmtes Verhalten das Recht der Außenseiter auf negative bzw. positive Koalitionsfreiheit verletzt, ist die Sozialadäquanz. Dieser Terminus hat bereits vor der Entscheidung des Großen Senats Eingang in die Rechtsprechung des BAG gefunden. So wurden im Urteil vom 14.2.1967 als Anspruchsgrundlage für die Zulässigkeit von gewerkschaftlicher Werbe- und Propagandatätigkeit im Betrieb die „Grundsätze der Sozialadäquanz“ angesprochen, jedoch als zu unbestimmt und das Gebot der Rechtssicherheit verletzend bezeichnet.195 Auch im Arbeitskampf wurde auf die Sozialadäquanz der Kampfmittel abgestellt, um zu ermitteln, ob das durch § 823 Abs. 1 BGB geschützte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb verletzt wird.196 Den Gedanken der Sozialadäquanz leitet der Große Senat des BAG aus der Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 GG her: „[Die Gewerkschaften] dürfen die ihnen vom TVG zur Verfügung gestellten Macht- und Regelungsbefugnisse nicht in einer Weise einsetzen, die die allgemeinen ungeschriebenen Regeln verletzt, deren Beachtung für das Zusammenleben von Menschen in einem Staatsund Gemeinwesen unerlässlich ist und deren Verletzung um der allgemeinen Ordnung willen und auch deshalb zu missbilligen ist, weil alle Rechte und Freiheiten stets in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen.“197 Hieraus zieht der Große Senat den Schluss, dass einen sozialinadäquaten Druck niemand hinzunehmen braucht. Zu betonen ist allerdings, dass der Große Senat mit dem Kriterium der Sozialadäquanz nicht jedwede Art von Druck gegenüber dem Außenseiter für unzulässig erklärt hat. Es hat lediglich ein qualitatives Element in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Insoweit steht das Urteil des

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BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 16, 24 f.). BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 23, 23 R). 195 BAG, Urt. v. 14.2.1967, BAGE 19, 217 (221); unter Berufung auf NeumannDuesberg, BB 1966, 902 ff. und 947 ff., ArbuR 1966, 289 ff., der allerdings die Sozialadäquanz nur als Rechtfertigungsgrund und nicht als Anspruchsgrundlage heranzieht. 196 BAG GrS, Beschl. v. 28.1.1955, BAGE 1, 291 (300) = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 R); Urt. v. 30.10.1958, BAGE 6, 321 (379). 197 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22 R). Möglicherweise hat sich der Große Senat bei seiner Argumentation von Monjau, in: FS für Küchenhoff, S. 131, beeinflussen lassen, der den „inadäquaten Zwang“ zum Dreh- und Angelpunkt der negativen Koalitionsfreiheit gemacht hat. Nach Säcker, Grundprobleme, S. 127 Fn. 315, ist die Beeinflussung „offenbar“. 194

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Großen Senats in der Tradition der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das ein absolutes Druckverbot nicht anerkannt hat.198 Die Konsequenz aus dieser Rechtsprechung ist, dass nicht auf die Verhältnismäßigkeit einer mit dem Tarifvertrag einhergehenden Belästigung abgestellt wird und damit im Ergebnis auf eine Quantifizierung des auf die Außenseiter ausgeübten Drucks verzichtet wird. Dementsprechend brauchte der Große Senat des BAG sich nicht festzulegen, ob in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall durch die Abstandsklausel ein massiver Druck199 oder lediglich ein leiser, milder Druck200 ausgeübt wurde bzw. ob es an einer Drucksituation fehlte201. Für die Bestimmung der Sozialadäquanz des Druckes und damit der Zulässigkeit der Differenzierungsklauseln wird allein das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter in den Blick gerückt. Dieses sei dann verletzt, wenn durch eine „undurchsichtige Verpackung einer Differenzierung des Urlaubsgeldes oder ähnlicher tariflicher Leistungen“202 „der Sache nach eine Art Leistung, eine Art Beitrag, eine Art Gebühr, eine Art Abgabe, eine Art Herausgabe von ungerechtfertigter Bereicherung oder ähnliches für die Inanspruchnahme gewerkschaftlicher Arbeit“203 verlangt werde. Mit dem Merkmal der Sozialadäquanz scheint der Große Senat umfassend die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit zu behandeln, man möchte fast sagen „zu erschlagen“. Hieran scheint nicht nur gemessen zu werden, ob ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit rechtswidrig ist, sondern bereits, ob überhaupt eine Beeinträchtigung vorliegt.204 Schließlich verzichtet der Große Senat nicht nur auf eine Quantifizierung des Druckes, sondern enthält sich auch genauerer Ausführungen, ob überhaupt ein rechtlich relevanter Druck vorliegt, der in den Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit eingreift und damit rechtfertigungsbedürftig ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn in der „Art Beitrag etc.“ der Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit gesehen wird, was allerdings im Ergebnis zweifelhaft ist, da die Pflicht zur Beitragszahlung nicht zwangsläufig als Druck zum Organisationsbeitritt empfunden wird. Der Beschl. 198 Vgl. hierzu die Einschätzung von Mayer-Maly, in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 7. 199 Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 166. 200 Gamillscheg, Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Anerkennungsforderungen, S. 29; ders., Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 62. 201 Weller, ArbuR 1970, 161 (166). 202 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22 R f.; ebenso Bl. 21 R). 203 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 20 R). Vgl. zur Differenzierung als Beitrag der Außenseiter unten S. 252 ff. 204 So in der Interpretation des Beschlusses wohl auch Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 162 f.; Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 92.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

des BAG GrS bleibt diesbezüglich sehr unbestimmt. Der Große Senat des BAG vollzieht zur Prüfung der Sozialadäquanz besagter Tarifvertragsklauseln folgende Argumentationsschritte: Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass es sich bei den Differenzierungsklauseln um eine Art Ausgleichszahlung handelt, mit der die Außenseiter belastet werden. Der Vorteil dieser Ausgleichszahlung soll der tarifschließenden Gewerkschaft bzw. ihren Mitgliedern zufließen. Dies wird vom Großen Senat unterstellt; auf eine weitergehende Begründung wird verzichtet. Der Außenseiter werde durch diese „Ausgleichspflicht“ in Anspruch genommen, ohne dass ein Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme der gewerkschaftlichen Leistung – gemeint ist die Erstreckung des Tarifvertrags auf die Nichtorganisierten – und seinen „Beiträgen“ oder „Ausgleichsbelastungen“ deutlich werde. Dementsprechend handele es sich um eine „undurchsichtige Differenzierung“205; gerade in dieser Verschleierung liege die Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens. bb) Verallgemeinerung Aufgrund letzterer Ausführungen stellt sich die Frage, ob die Aussage des BAG GrS auf die entschiedene Fallgestaltung – und insbesondere die dem Beschluss zugrunde liegende Formulierung der Differenzierungsklauseln – beschränkt ist oder ob die Aussage verallgemeinernd auf alle Differenzierungsklauseln ausgedehnt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob es für das Gerechtigkeitsempfinden erforderlich – aber auch ausreichend – ist, dass eine entsprechende tarifliche Regelung die Differenzierung klar strukturiert und nachvollziehbar formuliert.206 Wäre denn eine Tarifvertragsklausel, die die Gründe für die Differenzierung darlegt und damit für den „belasteten“ Außenseiter verständlich macht, nicht mehr wegen Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 3 GG nichtig? Hierbei wird das Problem offenkundig, dass es der Große Senat an einer genauen – und vor allem handhabbaren – Abgrenzung zwischen sozialadäquatem und sozialinadäquatem Druck fehlen lässt.207 Die Bejahung dieser Frage könnte jedenfalls dann nahe liegen, wenn man – wie der Große Senat – nicht auf die Höhe der Differenzierung, sondern allein auf das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter abstellt. „Ausgleichsforderungen müssten ihrem Wesen nach den davon betroffenen Außenseitern verständlich machen, daß sie nach Unkostengesichtspunkten für die mit ihnen abgegoltenen 205

BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R). Vgl. Däubler, BB 2002, 1643 (1645 f.); Hensche, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 876, die – soweit ersichtlich – als einzige in der Literatur auf diese Problematik eingehen. Däubler kommt dabei zu dem Schluss, dass transparente Ausgleichsleistungen zulässig sind. 207 So auch die Kritik von Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 58; Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (86). 206

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Gegenleistungen berechnet werden. Sie müssten sich daher nach den für das Arbeitsleben geltenden Redlichkeitsmaßstäben auch als Beiträge oder Ausgleichszahlungen bezeichnen.“208 Schließlich zieht es der Große Senat in Erwägung, dass die Außenseiter eine offen gelegte Belastung bzw. Benachteiligung sogar einsehen und damit mit ihrem Gerechtigkeitsempfinden vereinbaren könnten. Andererseits lehnt der Große Senat jegliche Differenzierung bei der Arbeitsvergütung, bei Zuschlägen, Gratifikationen etc. ab. Seiner Ansicht nach handelt es sich hierbei um ein nicht billigenswertes Verfahren. Allein die direkte Zahlung von Außenseitern an die tarifschließende Gewerkschaft in Form von Solidaritätsbeiträgen scheint dem Gerechtigkeitsempfinden, wie es der Große Senat definiert, zu genügen. Deshalb ist wohl eher davon auszugehen, dass der Beschluss des Großen Senats auf die qualifizierten Differenzierungsklauseln beliebiger Gestalt zu erstrecken ist. b) Die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit in der weiteren Rechtsprechung des BAG Neuere Entscheidungen des BAG zur Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit der negativen Koalitionsfreiheit fehlen, obwohl Untergerichte zu abweichenden Ansichten gelangt sind. Nach Auffassung des LAG Düsseldorf ist eine Druckausübung auf die nichtorganisierten Arbeitnehmer nur dann unzulässig, wenn sie „empfindlich ist und eine freie Entscheidung tangieren kann.“209 In seiner Revisionsbegründung hat sich das BAG mit der Differenzierungsklauselproblematik nicht befasst.210 Auch eine Entscheidung des LAG Hamm hat zu keiner erneuten Auseinandersetzung des BAG mit der Rechtsprechung des BAG GrS geführt. Das LAG Hamm hat festgestellt, dass geringfügige Besserstellungen nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten verstoßen.211 Während der Große Senat des BAG 1967 eine jährliche Besserstellung zwischen 40 und 60 DM für sozialinadäquat gehalten hat, ging das LAG Hamm 1994 davon aus, dass eine jährliche Erholungsbeihilfe in Höhe von maximal 1200 DM noch keinen sozialinadäquaten Druck darstellt. Diese Divergenz ist nicht auf die Lohnentwicklung innerhalb von 27 Jahren zurückzuführen, sondern offenbart grundsätzliche dogmatische Unterschiede zwischen beiden Entscheidungen. Denn das LAG Hamm hat den Begriff der Sozialadäquanz zwar aufgegriffen, scheint ihn aber synonym für die Erheblichkeit des Drucks ge208

BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R). LAG Düsseldorf, Urt. v. 29.1.1974, EzA Nr. 20 zu Art. 9 GG. 210 Vgl. BAG, Urt. v. 11.6.1975, 5 AZR 206/77 (n. v.). So aber wohl die Beurteilung von Farthmann/Coen, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 19 Rn. 78 Fn. 145. Wie hier hingegen Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 40 f. 211 LAG Hamm, Entsch. v. 11.1.1994, LAG-E Nr. 4 zu § 4 TVG. Vgl. zu dieser Entscheidung Däubler, BB 2002, 1643 (1645 f.); Zachert, DB 1995, 321 ff. 209

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braucht zu haben, also ohne ihm eine argumentative Bedeutung zukommen zu lassen: Auf das „Gerechtigkeitsempfinden der Nichtorganisierten“ und vergleichbare subjektive Elemente wurde in den Ausführungen verzichtet. Da die Revision gegen dieses Urteil zurückgenommen wurde, kam es zu keiner Entscheidung des BAG über die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit. In weiteren Entscheidungen, die Arbeitskampfmaßnahmen des Arbeitgebers gegen nichtorganisierte Arbeitnehmer zum Gegenstand hatten, fand die negative Koalitionsfreiheit nur geringe Beachtung; eine Verletzung wurde zumeist mit knapper Begründung abgelehnt.212 Der Nichtorganisierte werde zwar mit Arbeitskampfmaßnahmen (Aussperrung, Betriebsstillegung etc.) belastet, dies werde aber dadurch wieder aufgewogen, dass er mittelbar von einem erfolgreichen Tarifabschluss profitiere. In seinen Urteilen hinsichtlich der tariflichen Vorruhestandsregelungen213, hat das BAG die Rechtsprechung zu den Differenzierungsklauseln und insbesondere die Sozialadäquanz als Maßstab für die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit wieder aufgegriffen. Bei der Auslegung der streitigen Vorruhestandstarifverträge könnte sich nach Ansicht des BAG aus einer der möglichen Varianten eine Bevorzugung der organisierten Arbeitnehmer ergeben, was einer Differenzierungsklausel gleichkommen würde. Dementsprechend hat das BAG in Anlehnung an die Rechtsprechung des Großen Senats festgestellt: „Einem legitimen und sozial adäquaten Druck dürfen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgesetzt werden.“214 Dies ist insoweit bemerkenswert, als dass das BAG den Begriff der Sozialadäquanz allgemein – d.h. auch im Arbeitskampfrecht215 – im Zeitpunkt 212 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 f.); Urt. v. 22.3.1994, AP Nr. 130 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 R); vgl. hierzu kritisch Schulte Westenberg, NJW 1996, 1256 (1256 f.); nach Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 348, und Kissel, in: FS für Hanau, S. 559, stellt die Einbeziehung der Nichtorganisierten in den Arbeitskampf das Ergebnis einer Abwägung zwischen negativer Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten und positiver Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften dar (siehe hierzu unten S. 301 ff.). 213 Siehe zum Sachverhalt und zur Kritik an dieser Rechtsprechung unten S. 159 ff. 214 BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 5, 5 R); AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Bl. 6); bestätigt durch Urt. v. 3.6.1987, 4 AZR 573/86, (n. v.), JURIS, Dok.-Nr.: KARE312980333); indirekt bestätigt durch BAG, Urt. v. 18.9.2001, NZA 2002, 1161 (1163). Auktor, Wellenstreik, S. 137, zieht AP Nr. 47 heran, um Eingriffe in die negative Koalitionsfreiheit an der Sozialadäquanz zu messen. 215 Vgl. die Schlussfolgerungen von Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1129 f.; ders., BB 1988, 555 (556); Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 451; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 280 f.; in Rn. 264 Fn. 36 heißt es: „Hierbei (Anm.: bei den ungeschriebenen Grundsätzen des kollektiven Arbeitsrechts) handelt es sich um jene Gesichtspunkte, die man früher unter dem Begriff der „sozialen Adäquanz“ zusammengefasst hat.“ Bei Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, ist von der 1. zur 2. Auflage der Begriff der Sozialadäquanz aus dem Stichwortverzeichnis verschwunden; dementsprechend erscheint die Ansicht von Küchenhoff, in: ders./Reuß, ArbuR 1972, 353 (357), als zu optimistisch: „Die Sozialadäquanz ist in unserem Rechtsleben ein nicht mehr zu beseitigender Rechtsbegriff geworden.“

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der Entscheidung 1987 nicht mehr verwendet und nach Einschätzung von Seiter sogar stufenweise abgebaut hat. Bereits in der Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 21.4.1971216 fand die Sozialadäquanz allein bei der Darstellung der Entwicklung der Rechtsprechung Erwähnung; der „freigewordene Raum“ wurde von der Verhältnismäßigkeit eingenommen. Auch im Deliktsrecht findet sich zur Bestimmung der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in den Gewerbebetrieb des Arbeitgebers durch einen Streik nicht mehr das Stichwort der „Sozialadäquanz des Arbeitskampfes“. Vielmehr wird für die Rechtmäßigkeit des Eingriffs die Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfes vorausgesetzt, die sich aber wiederum anhand allgemeiner Kriterien des kollektiven Arbeitsrechts (z. B. gewerkschaftlich geführt, auf den Abschluss eines Tarifvertrags gerichtet) bestimmt.217 Insoweit hat sich das BAG inhaltlich wieder zum Kern dessen zurückbewegt, was Nipperdey mit dem Rekurs auf die Sozialadäquanz ausdrücken wollte, wenn er ausführt, dass es sich hierbei lediglich um eine Breviloquenz, also um eine Sammelbezeichnung für rechtlich zulässige Verhaltensweisen handelt. Ein allgemeines Rechtsprinzip könne der Formel von der Sozialadäquanz dagegen nicht entnommen werden, eine Ableitung von Entscheidungsmaximen zur Lösung neu aufgetauchter Interessenkonflikte sei deshalb nicht möglich.218 Weiterhin ist an den Entscheidungen des BAG zum Vorruhestand hervorzuheben, dass hinsichtlich der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter auf Feststellungen bezüglich des subjektiven Tatbestandes auf Gewerkschaftsseite verzichtet wurde. Das BAG hat problematisiert, dass eine bestimmte Auslegung der Vorruhestandstarifverträge zu einer Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter führen würde.219 Die Ausführungen des BAG beziehen sich aber nur auf die objektive Seite eines Drucks zum Gewerkschaftsbeitritt. Der Große Senat des BAG hat sich in seiner Differenzierungsklauselentscheidung noch Mühe gegeben, die mit den Differenzierungsklauseln verfolgten Zwecke zu entwirren220 und die hinter den Differenzierungsklauseln stehenden Ziele zu betonen: „Sämt216

BAG GrS, Beschl. v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5); vgl. hierzu Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 264 Fn. 36, 281; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 455. In ArbG Berlin, Urt. v. 10.10.1974, AP Nr. 49 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4), wird die Sozialadäquanz nur noch als Synonym für „zulässig“ verwendet. Bereits Bulla, RdA 1962, 6 (6), hat die Sozialadäquanz schwerpunktmäßig bei der deliktsrechtlichen Beurteilung von Arbeitskämpfen angesiedelt gesehen. 218 Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1002 Fn. 34c; Nipperdey, NJW 1967, 1985 (1992, insb. Fn. 62); ebenso Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 155; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 162; a. A. Bulla, RdA 1962, 6 (14 f.); Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (297 f.). G. Müller, ArbuR 1972, 1 (6), will die Sozialadäquanz als „Auslegungsregel“ verstanden wissen. 219 Vgl. zum Sachverhalt unten S. 159 ff. 220 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 24 R). 217

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

liche Differenzierungsklauseln haben den völlig unverhohlenen, nirgendwo verborgenen oder geheim gehaltenen und ganz ausdrücklich ausgesprochenen Zweck, mit Hilfe des Arbeitsgebers die Außenseiter zum gewerkschaftlichen Beitritt und damit zur Stärkung der gewerkschaftlichen Macht zu veranlassen.“221 Nunmehr begnügt sich das BAG mit der Feststellung: „Offensichtlich haben die Tarifvertragsparteien diese Frage (Anm.: die Auswirkungen auf die Außenseiter) nicht bedacht oder sie zumindest in den Tarifverhandlungen nicht zur Sprache gebracht.“222 Anhand dieser beiden kontrastierenden Entscheidungsbegründungen wird deutlich, dass in der Rechtsprechung des BAG die subjektive Seite bei der Frage nach der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit in den Hintergrund gedrängt wurde. In späteren Entscheidungen wurde dann nur noch auf die Erheblichkeit des Druckes als Maßstab für eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit abgestellt.223 Insoweit besteht (nunmehr) eine Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG. c) Ansicht des BVerfG aa) Dogmatik Die Rechtsprechung des BVerfG unterscheidet sich grundlegend von der des Großen Senats des BAG. Das BVerfG hat sich nicht auf die vom BAG GrS vorgenommene rein qualitative Betrachtung beschränkt, um festzustellen, ob eine bestimmte Drucksituation einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit bedeutet. In den einzelnen Entscheidungen des BVerfG wird immer ein quantitatives Element gefordert. Schließlich sei die negative Koalitionsfreiheit nicht als Freiheit von Nachteilen zu verstehen. In diesem Sinne hat das BVerfG in ständiger Rechtsprechung eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit erst dann in Betracht gezogen, wenn der „faktische Anreiz“ bzw. der „gewisse Druck“ die Entschließungsfreiheit des Betroffenen fühlbar beeinträchtigt hat.224 Dementsprechend kommt das BVerfG zu einer Unterscheidung zwischen dem 221

BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 11 R). BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 4 R); auch Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (6), weist auf den Kontrast zwischen beiden Urteilen hin. 223 BAG, Urt. v. 7.11.1995, AP Nr. 1 zu § 3 TVG Betriebsnormen (Bl. 3 R); Entsch. v. 15.2.1989, 4 AZR 499/88 (n. v.), JURIS, Dok.Nr.: KARE344800203; bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 10.9.1991, AP Nr. 27 zu § 5 TVG (Bl. 1 R f.). 224 BVerfG, Entsch. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302); Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (352); Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (22); Beschl. v. 14.6. 1983, BVerfGE 64, 208 (213 f.); Beschl. v. 10.9.1991, ZTR 1992, 21 (22); Beschl. v. 6.11.1991, NVwZ-RR 1992, 491 (492 f.); Beschl. v. 18.7.2000, NJW 2000, 3704 (3705); vgl. in diesem Sinne auch BVerfG, Beschl. v. 19.10.1966, BVerfGE 20, 312 (322) (näheres weiter unten S. 120 ff.); siehe auch die Zusammenfassung der Rechtsprechung zur negativen Koalitionsfreiheit bei Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 76 ff.; wie Kroll, Außenseiter in der Arbeitsrechtsordnung, S. 26, und Seifert, ZfA 222

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Zwang bzw. Druck zum Beitritt und der Schaffung bloßer Anreize zum Beitritt. Letztere sind hinsichtlich der negativen Koalitionsfreiheit nicht relevant. Die Scheidelinie zwischen verbotenem und erlaubtem – auf den Koalitionsbeitritt abzielendem – Handeln ist die fühlbare Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des belasteten Arbeitnehmers.225 Ein subjektives (qualitatives) Element – sei es in Gestalt des Gerechtigkeitsempfindens auf Seiten des Nichtorganisierten, sei es in Gestalt der Absicht, Druck zum Koalitionsbeitritt auszuüben auf Seiten der Druck ausübenden Koalition –, wie es vom BAG GrS herausgestellt wurde, scheint in der Rechtsprechung des BVerfG keinen Widerhall zu finden.226 Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, wie Seiter227 zu dem Schluss kommt, BVerfG und BAG GrS würden in gleicher Weise den Grad des Druckes auf den Außenseiter – und damit ein rein quantitatives Element – zum Dreh- und Angelpunkt der negativen Koalitionsfreiheit erheben. Weiterhin beschränkt das BVerfG den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit allein auf den Zwang zum Beitritt zu einer Koalition. So wird die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG allein unter dem Aspekt betrachtet, ob für den Einzelnen ein Zwang besteht, der tarifschließenden Koalition beizutreten, um auf diesem Wege auf die Tarifsetzung Einfluss zu nehmen. Die Freiheit von fremder Normsetzung sieht das BVerfG dagegen nicht als durch die negative Koalitionsfreiheit geschützt an.228 In einem seiner Beschlüsse hebt das BVerfG explizit hervor: „Allein dadurch, dass jemand den Vereinbarungen fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, ist ein solcher spezifisch koalitionsrechtlicher Aspekt nicht betroffen.“229 Im Ergebnis hat das BVerfG in keiner seiner Entscheidungen eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit festgestellt. Zumeist hat es sich mit dieser Frage nicht lange aufgehalten und eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs ohne eingehendere Begründung abgelehnt. Hieran wird deutlich, welche Hürden das BVerfG aufgebaut hat: Geschützt wird allein der fühlbare Zwang zum Koalitionsbeitritt; hinsichtlich dieses Zwangs hat das BVerfG die Erheblichkeitsschwelle hoch angesetzt. 2001, 1 (17), zu dem Schluss kommen, das BVerfG wende die Kriterien der Sozialadäquanzlehre an, ist nicht ersichtlich. 225 BVerfG, Entsch. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302). 226 Zumindest wenn man staatliche Rechtsakte, über die das BVerfG zu entscheiden hatte, als Maßnahmen i. S. v. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG einordnet – so z. B. v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung), Rn. 167; Kemper, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 9 Rn. 278 –, wären Ausführungen zur Finalität erforderlich gewesen. 227 Seiter, AöR 109 (1984), 88 (102); ebenso Kroll, Außenseiter in der Arbeitsrechtsordnung, S. 26. 228 Siehe zur Fragwürdigkeit dieser Einschränkung bereits oben S. 84 f., 92. 229 BVerfG, Beschl. v. 14.6.1983, BVerfGE 64, 208 (213); ebenso im Ergebnis BVerfG, Beschl. v. 18.7.2000, NJW 2000, 3704 (3705).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

bb) Differenzierungsklauseln Gegen den Beschluss des Großen Senats des BAG vom 29.11.1967 wurde von der GTB Verfassungsbeschwerde erhoben. Bedauerlicherweise wurde diese vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen mit der Begründung, in dem angegriffenen Beschluss liege noch keine gegenwärtige Beschwer: „Er (Anm.: der Beschluss des Große Senats des BAG) entscheidet aber nicht über das Klagebegehren und hat auch sonst gegenüber den Prozeßparteien keine unmittelbaren Auswirkungen.“230 Aus diesem Grund fehlt es bis heute an einer endgültigen verfassungsgerichtlichen Klärung dieser grundrechtlich aufgeladenen Problematik. Der Rechtsprechung des BVerfG sind allerdings allgemeine Aussagen zu entnehmen, was der Einzelne an Druck zum Koalitionsbeitritt hinzunehmen hat. Durch die Differenzierungsklauseln wird die Rechtsstellung der Nichtorganisierten nicht unmittelbar berührt. Einfache Differenzierungsklauseln bringen nur zum Ausdruck, was nach § 3 Abs. 1 TVG ohnehin bereits gilt, und betreffen – abgesehen von der Allgemeinverbindlicherklärung – nicht die Rechtsstellung des Außenseiters. Eine Veranlassung zum Gewerkschaftsbeitritt besteht bei diesen Klauseln nicht. Demgegenüber haben Abstands- und Tarifausschlussklauseln zumindest eine faktische Wirkung auf die Position des Außenseiters. Zwar wird der Außenseiter rechtlich nicht daran gehindert, beliebige Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber anzustreben, da ein (Tarif-)Vertrag zu Lasten Dritter unzulässig ist. Die tatsächliche Möglichkeiten für derartige Vereinbarungen werden aber dadurch geschmälert – wenn nicht sogar ausgeschlossen –, dass sich der Arbeitgeber entweder tarifvertragswidrig (bei der Tarifausschlussklausel) verhält oder ggf. durch wirtschaftliche Belastungen (bei der Abstandsklausel) von einem entsprechenden Vertragsschluss abgehalten wird. Allein daraus, dass die (faktische) Stellung des Nichtorganisierten von den Tarifverträgen beeinflusst wird, lässt sich nach den vom BVerfG aufgestellten Grundsätzen noch keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten begründen, da die negative Koalitionsfreiheit keinen Schutz vor der Normwirkung des Tarifvertrags bieten soll. Wenn die Unterwerfung unter einen gesamten Tarifvertrag – wie bei der Allgemeinverbindlicherklärung231 – nicht in die Rechte des Außenseiters auf negative Koalitionsfreiheit eingreift, so kann – a majore ad minus – nichts anderes für die bloß faktische Beeinträchtigung des individuellen Arbeitsverhältnisses gelten. Dass bei der Allgemeinverbindlicherklärung staatliche Stellen mitwirken, war in der Bewertung des 230 BVerfG, Beschl. v. 4.5.1971, AP Nr. 19 zu Art. 9 GG. Bemerkenswert ist, dass das BVerfG 3 Jahre benötigt hat, um kurz und knapp die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde festzustellen. 231 BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (352); Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (21 ff.).

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BVerfG jedenfalls nicht ausschlaggebend, sodass hierdurch die Verallgemeinerungsfähigkeit der Rechtsprechung nicht ausgeschlossen wird. Deshalb ist allein maßgebend, ob durch die Differenzierungsklauseln ein Zwang zum Gewerkschaftsbeitritt ausgeübt wird. Ein solcher soll nach der oben dargestellten Rechtsprechung des BVerfG aber nur dann gegeben sein, wenn die Entschließungsfreiheit des Betroffenen fühlbar beeinträchtigt wird. Die bloße Andersbehandlung von Organisierten und Nichtorganisierten sei hingegen nicht ausreichend.232 Das bedeutet, dass das BVerfG eine Quantifizierung des Drucks zum Koalitionsbeitritt vornimmt; die hinter dem Abschluss von Differenzierungsklauseln stehende Motivationslage sowie die Qualifikation als sozial(in)adäquat bleiben bei der Betrachtung außen vor. In seinem Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit der Tariffähigkeit der Innungen und Innungsverbände nach §§ 54 Abs. 3 Nr. 1, 82 HandwO hat das BVerfG recht hohe Anforderungen an eine Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit aufgestellt. Nicht ausreichend soll es demnach sein, wenn die Teilnahme an den öffentlichen Aufgaben der Innung nur unter Inkaufnahme der Tarifunterworfenheit möglich ist: „Die Tariffähigkeit der Innungen hat für den einzelnen Handwerker die Bedeutung, daß seine Zugehörigkeit zu einem tariffähigen Zusammenschluß aufs engste verbunden ist mit der Teilnahme an den allgemeinen öffentlichen Aufgaben der Innung, insbesondere auch an der Förderung der gemeinsamen beruflichen Interessen. Der einzelne Handwerker, der sich der Tarifmacht der Innung entziehen, etwa einem besonderen Arbeitgeberverband beitreten oder überhaupt nicht sozialpolitisch organisiert sein will, muß zugleich auf die allgemeinen, durch die Handwerksordnung gewährten Vorteile der Zugehörigkeit zur Innung verzichten. Diese in der Handwerksordnung angelegte Koppelung der Zugehörigkeit zu einem tariffähigen Verband mit den Vorteilen einer öffentlich-rechtlichen Berufsorganisation kann für den einzelnen Handwerker einen gewissen Druck bedeuten, die Tarifmacht der Innung anzunehmen und von dem Beitritt zu einer besonderen Arbeitgeberorganisation abzusehen.“233

Entgegen der Ansicht des BAG GrS234 und der späteren Rechtsprechung des BVerfG235 behandelt der zitierte Beschluss des BVerfG nicht die negative

232

BVerfG, Beschl. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302). BVerfG, Beschl. v. 19.10.1966, BVerfGE 20, 312 (321 f.) (Hervorhebung nicht im Original); siehe zu dieser Entscheidung Reuß, ArbuR 1967, 1 ff. sowie das der Entscheidung zugrundeliegende Urt. des LAG Frankfurt v. 14.9.1965, ArbuR 1967, 26 ff. Die Drucksituation, die auf dem einzelnen Arbeitgeber lastet, ist mit derjenigen des Andersorganisierten bei der Tarifpluralität vergleichbar. Nach der Rechtsprechung des BAG findet in diesen Fällen der Grundsatz der Tarifeinheit Anwendung, sodass der Andersorganisierte in die Gewerkschaft eintreten muss, die den spezielleren Tarifvertrag geschlossen hat, um tariflichen Schutz zu erlangen (vgl. hierzu unten S. 199 ff.). 234 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 20); ebenso Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 828; Scholz, Grundrecht der Koalitionsfreiheit, S. 26; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., Einl. 233

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Koalitionsfreiheit; sie wird weder erwähnt noch geprüft.236 Ansonsten hätte das BVerfG auch darauf eingehen müssen, ob Art. 9 Abs. 3 auch vor dem Zwang zur Mitgliedschaft in den ansonsten freiwillig gebildeten Handwerksinnungen schützt. Schließlich handelt es sich bei den Handwerksinnungen gem. § 53 HandwO um Körperschaften des öffentlichen Rechts (anders die Landesinnungsverbände, § 80 HandwO), und das BVerfG hat bereits im zehnten Band seiner Entscheidungssammlung237 – also vor Erlass des oben angeführten Beschlusses im zwanzigsten Band – darauf hingewiesen, dass Art. 9 GG lediglich das Fernbleiben von privatrechtlichen Vereinigungen gewährleistet. Folglich hätte es einer Erklärung bedurft, warum diese Rechtsprechung auf die Handwerksinnungen nicht anzuwenden sein soll. Vielmehr dürfte der Beschluss dahingehend aufzufassen sein, dass durch die Tariffähigkeit der Innungen die Gründung einer konkurrierenden Arbeitgebervereinigung als Ausdruck der positiven Koalitionsfreiheit behindert (oder gar verhindert) wird. Insoweit bietet sich ein Vergleich mit dem Beschluss zur Zulässigkeit von Arbeitnehmerkammern an: In diesem hat das BVerfG gefragt, ob die öffentlich-rechtlichen Arbeitnehmerkammern zu den Gewerkschaften in Konkurrenz treten und deshalb deren Recht auf positive (kollektive) Koalitionsfreiheit beeinträchtigen.238 Trotzdem kann der Entscheidung des BVerfG eine allgemeine Stellungnahme dahingehend entnommen werden, was dem Einzelnen an Druck zuzumuten ist.239 Denn was die positive Koalitionsfreiheit nicht beeinträchtigt, kann – bei konsequenter Anwendung des Spiegelbildgedankens – auch die negative Koalitionsfreiheit nicht verletzen. Wenn das BVerfG seine Ausführungen in seinem Beschluss dahingehend einschränkt, dass auf Arbeitgeberseite aufgrund mangelnder Alternativen „die Freiheit des Einzelnen, einen Arbeitgeberverband zu bilden oder ihm beizutreten, enge Grenzen gesetzt“ sind, so kann dies doch nicht einer Verallgemeinerung entgegenstehen. Auch auf Arbeitnehmerseite sind die Anforderungen an eine tariffähige Koalition so hochgeschraubt,240 dass sich das Prinzip der Einheitsgewerkschaft weitgehend durchgesetzt hat.

Rn. 72 (in der 6. Aufl., Einl. Rn. 294 Fn. 334, fehlt der Verweis auf diese Entscheidung). 235 BVerfG, Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (22). 236 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 84, 93 Fn. 132. Nach Ansicht von Neuman RdA 1989, 243 (245), geht das BVerfG hierauf ein. 237 BVerfG, Beschl. v. 29.7.1959, BVerfGE 10, 89 (102); Beschl. v. 25.2.1960, BVerfGE 10, 354 (361 ff.); Rechtsprechung fortgeführt in Urt. v. 10.5.1960, BVerfGE 11, 105 (126); Beschl. v. 19.12.1962, BVerfGE 15, 235 (239). 238 BVerfG, Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (303 f.). Auch im Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (352), hat das BVerfG danach gefragt, ob die Allgemeinverbindlicherklärung die Bereitschaft zum Koalitionsbeitritt verringert und dadurch die positive Koalitionsfreiheit einschränkt. In diesem Zusammenhang wurde auf BVerfGE 20, 312 (321 f.) verwiesen. 239 So auch BVerfG, Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (22).

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Für die qualifizierten Differenzierungsklauseln bedeutet die Rechtsprechung des BVerfG, dass sie nicht pauschal als Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten eingestuft werden können. Vielmehr muss eine Einzelfallbetrachtung ergeben, ob durch die Vorenthaltung bestimmter Vorteile die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen mehr als nur unerheblich eingeschränkt wird. In diese Betrachtung muss dann die rechtliche Wirkung der Differenzierungsklauseln einfließen; insbesondere ist entscheidend, ob und wie der Einzelne seiner (punktuellen) Benachteiligung durch anderweitige Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber ausweichen kann. Das „Gerechtigkeitsempfinden der Nichtorganisierten“ ist in der Abwägung jedoch keine Größe. Wenn aber das BVerfG das Vorenthalten eines Leistungssystems, wie es die Handwerksinnung bietet, als hinnehmbar einstuft – Reuß spricht von in diesem Zusammenhang von einem „höchst massiven Druck zum Beitritt“241 –, dann muss dies für die Vorenthaltung einer Leistung des Arbeitgebers im Werte unterhalb eines Gewerkschaftsjahresbeitrages erst recht gelten. d) Kritische Würdigung des Beschlusses des Großen Senats des BAG aa) Kritik an der Rechtsprechung des BAG GrS Die Entscheidung des BAG GrS aus dem Jahre 1967 liegt mittlerweile mehr als 35 Jahre zurück. Seitdem hat sich die Rechtsprechung von BAG und BVerfG weiterentwickelt. Trotzdem wird nach wie vor auf den Beschluss des BAG GrS vom 29.11.1967 verwiesen, wenn die Unzulässigkeit von Differenzierungsklauseln „bewiesen“ werden soll. Kein Grundrechtskommentar kommt ohne Zitierung der Entscheidung des Großen Senats aus, wenn er (zumeist ohne weitere inhaltliche Auseinandersetzung) die Unzulässigkeit von Differenzierungsklauseln feststellt.242 Auch in seinen Urteilen zur Auslegung von Vorruhestandstarifverträgen hat das BAG auf die Rechtsprechung aus dem Jahre 1967 zurückgegriffen.243 Zudem wurden und werden aus dieser Entscheidung allgemeine Schlüsse gezogen, die auch für andere Fragen des kollektiven Arbeitsrechts herangezogen werden, so z. B. jüngst für die Zulässigkeit des Berliner Vergabegesetzes (Tariftreuegesetz)244 oder für die Zulässigkeit von Ausgleichs240 Besonders deutlich haben sich diese Anforderungen bei der Beurteilung der Tariffähigkeit der christlichen Gewerkschaften gezeigt; vgl. BAG, Beschl. v. 14.12.1988; Beschl. v. 16.1.1990, AP Nr. 38, 39 zu § 2 TVG; ArbG Stuttgart, Beschl. v. 12.9. 2003, BB 2004, 827 ff. (mit ablehnender Anm. von Rieble, BB 2004, 885 ff.). 241 Reuß, ArbuR 1967, 1 (4). 242 Bauer, in: Dreier, GG, Art. 9 Rn. 89; Gneiting, in: Umbach/Clemens, Art. 9 Rn. 135; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 40; Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 87; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 231; für die Zulässigkeit Hamann/Lenz, Art. 9 Anm. A 4. 243 BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 (Bl. 5), Nr. 47 (Bl. 6) zu Art. 9 GG.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

zahlung an ausgesperrte Außenseiter durch den Arbeitgeber.245 Das BAG folgert aus dem Verbot von Differenzierungsklauseln die Erlaubnis zur Aussperrung von arbeitswilligen Außenseitern, da diese vom Tarifabschluss profitieren würden.246 Insoweit entfaltet der Beschluss auch heute noch maßgebliche Wirkung – von Hellermann wird der Beschluss als Leitentscheidung zur negativen Koalitionsfreiheit eingeordnet247, und Buchner bezeichnet ihn als „ganz wesentlichen Richtpunkt“ in der verfassungsrechtlichen Entwicklung248 –, weshalb eine intensivere Auseinandersetzung mit der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln bei diesem Beschluss beginnen muss. Dabei ist speziell das Kriterium der Sozialadäquanz, das der Große Senat des BAG in seiner Differenzierungsklauselentscheidung verwandt hat, um die Grenze zu markieren, nach der ein zulässiges Verhalten der Gewerkschaften in eine rechtswidrige Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten umschlägt, ins Blickfeld zu nehmen. Dies mag zunächst verwundern, hat es doch in der aktuellen Rechtsprechung und in der Literatur seine – ursprünglich – gewichtige Rolle eingebüßt. Wie jedoch bei der Darstellung der Ansicht des BAG GrS deutlich geworden ist, ist das Kriterium der Sozialadäquanz zentraler Gesichtspunkt bei der Beurteilung von tarifvertraglichen Differenzierungen. Jeder Verweis auf diesen Beschluss enthält damit einen Verweis auf die Sozialadäquanz. Außerdem hat das BAG mit seinen Entscheidungen aus dem Jahre 1987 hinsichtlich der Vorruhestandsregelungen gezeigt, dass die „Sozialadäquanz“ noch nicht „zu Grabe getragen“ wurde. (1) Unbestimmtheit der „Sozialadäquanz“ und des „Gerechtigkeitsempfindens“ Am nachdrücklichsten wird in der Literatur Kritik am Merkmal der „Sozialadäquanz“ geübt, unabhängig von der jeweiligen Haltung zum Differenzierungsklauselproblem.249 Schließlich handelt es sich in Anbetracht seiner Unbestimmtheit um einen variabel einsetzbaren Begriff, der einer objektiven Ausge244 Vgl. Volkmann, in: Britz/Volkmann, Tarifautonomie in Deutschland und Europa, S. 23. Siehe allgemein zur Problematik von Tariftreueerklärungen Lakies, in: Däubler, TVG, § 5 Anhang 1 Rn. 10 ff.; Seifert, ZfA 2001, 1 ff., sowie oben S. 84 Fn. 114. 245 Vgl. beispielsweise Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 297; Pfarr, ArbuR 1977, 33 (36 f.); Bertelsmann, Aussperrung, S. 348 ff. (insb. 356). 246 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 f.); auch Bertelsmann, Aussperrung, S. 348 ff. (insb. 356), misst die Zulässigkeit der Aussperrung arbeitswilliger Unorganisierter daran, ob die Gewerkschaft Differenzierungsklauseln vereinbaren darf, um ihre Attraktivität zu sichern; vgl. allgemein zur selektiven Aussperrung Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (184); Seiter, JZ 1979, 657 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 453. 247 Hellermann, Freiheitsrechte, S. 112. 248 Buchner, in: Löw, 25 Jahre GG, S. 18.

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staltung entbehrt. Dementsprechend möchte Wiedemann – sehr anschaulich – die Sozialadäquanz gleich dem „Scheusal der faktischen Gesellschaft in die Wolfsschlucht . . . werfen“250. Seinen arbeitsrechtlichen Ursprung – außerhalb des Strafrechts – hat der Grundsatz der Sozialadäquanz im Arbeitskampfrecht. Um ihn inhaltlich auszufüllen wurde auf völlig vage Umschreibungen zurückgegriffen: „Ausgangspunkt für die Abgrenzung des sozialadäquaten Arbeitskampfes kann weder die in der Gemeinschaft lebende Rechts- und Sozialethik sein noch die bloße Verkehrsüblichkeit, sondern der diese beiden Maßstäbe einschließende und erweiternde Begriff der sozialen Adäquanz selbst. Er stellt gewissermaßen Maßstab und Generalklausel zugleich dar . . .“251 Gerade diese generalklauselartige Weite wird als die Stärke des Begriffes der Sozialadäquanz angesehen, indem hierin ein „unentbehrliches Mittel“ erkannt wird, um „eine sachgemäße und den Erfordernissen des täglichen Lebens entsprechende Abgrenzung von rechtmäßigen und rechtswidrigen Eingriffen zu finden“252. (a) Inhalt der Sozialadäquanz Der Begriff der Sozialadäquanz im Arbeitsrecht wurde von Nipperdey entwickelt, um zu bewerten, ob ein Streik der Arbeitnehmer rechtswidrig in das als absolutes Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB geschützte „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“ eingreift. Das BAG hat in seiner Rechtsprechung in Anlehnung an die Ausführungen von Nipperdey die Sozialadäquanz als Maßstab übernommen;253 auch die Arbeitsrechtslehre hat überwiegend auf 249 Gitter, JurA 1971, 148 (151 f.); Hellermann, Freiheitsrechte, S. 105; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 162; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 43 f.; Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (86 f.); Radke, ArbuR 1972, 193 (200 f.); Reuß, ArbuR 1972, 193 (200 f.); Säcker, Grundprobleme, S. 127, Fn. 315; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 154 ff.; Scholz, AöR 107 (1982), 126 (133) („unscharfe und wenig präzise Struktur“); ders., nach AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Bl. 10); Ritter, JZ 1969, 111 (113); Stahlhacke, ArbRGeg 11 (1973), S. 21 (22); Zachert, DB 1995, 322 (323); Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 94, nennt die Sozialadäquanz einen „merkwürdigen Begriff“; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 162 („Leerformel“); a. A. Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (182); Monjau, in: FS für Küchenhoff, S. 130; Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (297); Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, S. 185 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 231; Hans Schneider, DB 1969, Beilage 2 (Punkt 48); Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 66; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 120; einschränkend Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (16). Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 137, halten den Streik um Tarifausschlussklauseln ausdrücklich für sozialadäquat. 250 Wiedemann, SAE 1969, 265 (267). 251 Galperin, in: FS für Nipperdey, 1965, Bd. II, S. 209; ebenso Neumann-Duesberg, BB 1966, 947 (947). 252 Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (297); vgl. auch die Bewertung von Scholz, Anm. zu AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG (Bl. 10). 253 BAG GrS, Beschl. v. 28.1.1955, BAGE 1, 291 (300) = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 R); vgl. auch die Einschätzung von Nipperdey, NJW 1967, 1985

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

das Nipperdeysche System zurückgegriffen.254 Durch Nipperdey selbst wurde der Begriff der Sozialadäquanz mehrfach modifiziert, wobei die Modifikationen im Wesentlichen die dogmatische Einordnung betroffen haben. In seinem Gutachten zum Zeitungsstreik 1953 hat er die Sozialadäquanz im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB als tatbestandsausschließendes Merkmal angesehen: „Scheiden die sozial-adäquaten Handlungen aus dem Tatbestand der Verletzung der Lebensgüter und der absoluten subjektiven Rechte (im Sinne des § 823 Abs. 1) aus, so ist der Satz richtig, dass der, der nach § 823 Abs. 1 tatbestandsmäßig handelt, rechtswidrig handelt. Der Streik der Gewerkschaften um die Arbeitsbedingungen gegen die Arbeitgeber ist somit eine sozialadäquate Handlung (. . .). Er ist tatbestandsmäßig keine „Verletzung“ des Rechts am Gewerbebetrieb nach § 823 Abs. 1 BGB.“255

In der 6. Auflage seines Lehrbuches aus dem Jahre 1957 hat Nipperdey sich ausdrücklich von dieser Ansicht abgewandt und die Sozialadäquanz zum allgemeinen Rechtsfertigungsgrund erhoben.256 Später modifizierte Nipperdey die Sozialadäquanz erneut und bezeichnete sie als positives Unrechtselement, das erst – nach einer Güterabwägung – die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens begründet. Die Sache an sich, d.h. der Inhalt der Sozialadäquanz, wurde durch diese Änderungen nach eigenem Bekunden Nipperdeys jedoch nicht betroffen.257 Aus dem Beschluss des Großen Senats wird allerdings nicht ganz deutlich, welches Verständnis der Sozialadäquanz – Rechtfertigungsgrund oder positives Unrechtsmerkmal – der Entscheidung zugrunde lag.258 Allein dann, (1992 Fn. 62, 1993), nach der die Rechtsprechung mit der von ihm entwickelten Theorie übereinstimmt. 254 Vgl. nur die Übersicht bei Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 449 Fn. 34. 255 Nipperdey, Zeitungsstreik, S. 40, 44; in diesem Sinne – allerdings im Ergebnis unter Ablehnung des Schutzes des Gewerbebetriebs durch § 823 Abs. 1 BGB – bereits Nipperdey, in: Gutachten zum 26. DJT, Bd. I, S. 395 ff. (402 f.); siehe hiergegen Hueck, in: FS für Herschel, S. 36 f. 256 Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 6. Aufl., Bd. II, S. 631 ff. (640 Fn. 36); ders., in: FS für Sitzler, 1956, S. 95 Fn. 50; in der Tendenz bereits ders., RdA 1954, 436 (437) („erwägenswert“); ebenso Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 122; Bulla, RdA 1962, 6 (6); Hueck, in: FS für Herschel, S. 36 f.; ders., RdA 1956, 201 (205); Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (297); Nikisch, Arbeitsrecht Bd. II, S. 132. 257 Nipperdey, NJW 1967, 1985 (1993); ebenso ders., in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 1003; vgl. allgemein hierzu Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 448 ff., der im Ergebnis auch Nipperdeys Einschätzung teilt (vgl. S. 453 f.) Dieses Verständnis stimmt im Ergebnis mit der heutigen Auffassung überein, wonach die Rechtswidrigkeit von Eingriffen in die Rahmenrechte des § 823 Abs. 1 nicht indiziert wird sondern positiv durch Abwägung der widerstreitenden Interessen festgestellt werden muss (vgl. hierzu nur Sibben, NZA 1989, 453 f.; a. A. Lieb, Arbeitsrecht, Rn. 610 ff.). 258 Mayer-Maly, ZAS 1969,81 (86), ist sich bei der Auslegung des Beschlusses nicht sicher, tendiert aber zum alten Verständnis der Sozialadäquanz als Rechtfertigungsgrund. Ebenso Herschel, ArbuR 1970, 193 (199), nach dessen Ansicht es aller-

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wenn man die Sozialadäquanz als Rechtfertigungsgrund begreift und gleichzeitig in dem Tarifvertrag der GTB keinen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit sieht, ist Herschels Kritik an dem Beschluss des Großen Senats berechtigt: „Im Interesse der menschlichen Freiheit muss mit größtem Nachdruck betont werden: mag ein Verhalten noch so sozialinadäquat sein, deshalb allein ist es rechtlich noch nicht unzulässig.“259 Ein Verhalten, das nicht die Rechte anderer beeinträchtigt, ist nicht rechtfertigungsbedürftig. Wie oben gezeigt, wird die Sozialadäquanz zumeist dahingehend verstanden, dass sie als Sammelbegriff für rechtlich erlaubtes Verhalten dient. „Handlungen, die allen von der Rechtsordnung aufgestellten Verhaltensnormen entsprechen, sind folglich nicht widerrechtlich, ohne dass sich überhaupt die Frage nach einem besonderen Rechtfertigungsgrund stellt.“260 In diesem Sinne hat das BAG auf diesen Terminus zurückgegriffen, wenn es die Rechtmäßigkeit von Arbeitskämpfen beurteilt hat. Inhaltlich wurde aber auf die dem jeweiligen Sachgebiet zugrunde liegende Rechtsauffassung („Spielregeln“261) rekurriert. So wurde ein Arbeitskampf u. a. dann für sozialadäquat erachtet, wenn er von tariffähigen Parteien zur Erreichung eines Tarifvertrags geführt wurde.262 Hierbei wurde es allerdings vermieden, der Sozialadäquanz eigene (selbständige) Wertungsgesichtspunkte zu entnehmen. Insoweit kommt dem Begriff der Sozialadäquanz allenfalls systematisierende Bedeutung zu; geht es um die inhaltliche Aussagekraft, so ist es nicht ganz abwegig, diesen Begriff als „Fremdwortgeklingel“263 zu bezeichnen. Dies trifft sicherlich auch auf die Verwendung des Begriffs „Sozialadäquanz“ von Teilen der Literatur und des BVerfG zu: Teilweise wird ein solcher Druck als sozialinadäquat angesehen, der den Außenseiter in seiner freien Willensentscheidung spürbar beeinträchtigt und zum Koalitionsbeitritt veranlasst.264 In diesen Fällen ist „Sozialadäquanz“ nicht qualitativ aufzufassen, dings dem Beschluss hinsichtlich der Bestimmung der Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit an der notwendigen Klarheit mangelt (vgl. auch die Nachweise auf S. 113 Fn. 204). Auch Reuß, ArbuR 1970, 33 (34), und Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 150, scheinen davon auszugehen, dass der BAG GrS die Sozialadäquanz als Rechtfertigungsgrund gebraucht. 259 Herschel, ArbuR 1970, 193 (198). 260 Nipperdey, NJW 1967, 1985 (1992); im Ergebnis ebenso Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 122; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 455; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 132: „Hat man die Grenzen der Kampffreiheit erkannt, so braucht man den Begriff der sozialen Adäquanz nicht mehr, um den erlaubten Kampf vom unerlaubten abzugrenzen.“ 261 Nipperdey, in: FS für Sitzler, S. 94; auf diesen Begriff verweisen auch Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1004 Fn. 34 h; Nipperdey, NJW 1967, 1985 (1992, 1993). 262 BAG, Urt. v. 7.6.1988, AP Nr. 106 zu Art. 9 Arbeitskampf (Bl. 3 R m. w. N.). 263 Gamillscheg, BB 1988, 555 (556); Reuß, ArbuR 1972, 193 (201): „Praktisch werden die Worte „sozialadäquat“ und „rechtmäßig“ als Synonyme gebraucht. Der Satz: dieser Arbeitskampf ist rechtmäßig, weil er sozialadäquat ist, besagt also nichts.“

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

sondern wohl synonym für den (quantitativen) Terminus „Erheblichkeit des Drucks“. Eine eigenständige Bedeutung kommt der Sozialadäquanz in diesen Fällen jedenfalls nicht zu. Wird dieses Verständnis von Sozialadäquanz der Betrachtung zugrunde gelegt, wird die Unzulänglichkeit in der Argumentation des BAG in einigen Entscheidungen – und hier insbesondere des Großen Senats im Beschluss vom 29.11.1967 – deutlich. Die Sozialadäquanz wird nicht als Sammelbezeichnung verstanden, deren Aussagegehalt erst noch durch Heranziehung außerhalb ihrer selbst liegender rechtlicher Anforderungen gewonnen werden muss. Vielmehr wird mit dem eingeständigen Kriterium des Gerechtigkeitsempfindens das vollführt, was Nipperdey als das deduktive Ableiten von „Entscheidungsmaximen zur Lösung neu auftauchender Interessenkonflikte“265 abgelehnt hat. Auffälligerweise wird vom BAG auf das (durch eine Ungleichbehandlung verletzte) Gerechtigkeitsempfinden einzelner Personengruppen nur bei den Differenzierungsklauseln und ähnlichen Klauseln (wie z. B. die Vorruhestandsregelungen) abgestellt, ansonsten hierauf aber bei der Beurteilung, ob rechtmäßiges oder rechtswidriges Verhalten vorliegt, verzichtet. Wenn es um den Ausschluss einzelner Personengruppen aus dem persönlichen Anwendungsbereich des Tarifvertrags geht, wird – nach innerhalb des BAG umstrittener Ansicht – allein problematisiert, in welchem Verhältnis das Recht der Tarifunterworfenen auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG und die Koalitionsfreiheit zueinander stehen.266 Dabei geht das BAG sogar soweit, den Grundsatz der Gleichbehandlung hinter der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten Koalitionsfreiheit zurücktreten zu lassen und den Koalitionen eine Differenzierung bis zur Grenze der Willkür zuzubilligen. Unzulässig sei eine Tarifregelung erst dann, „wenn die Differenzierung im persönlichen Geltungsbereich unter keinem Gesichtspunkt, auch koalitionspolitischer Art, plausibel erklärbar ist.“267 Nun ist diese Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf die den Differenzierungsklauseln zugrunde liegenden Sachverhalte anzuwenden; schließlich werden nicht die Außenseiter in ihrer negativen Koalitionsfreiheit betroffen, sondern die 264

Vgl. beispielsweise Säcker, Grundprobleme, S. 126 Fn. 315. Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1002 Fn. 34c (Hervorhebung im Original). 266 Für einen Vorrang des Art. 9 Abs. 3 GG: BAG, 4. Senat, Urt. v. 30.8.2000, AP Nr. 25 zu § 4 TVG Geltungsbereich; Urt. v. 24.4.1985, AP Nr. 4 zu § 3 BAT; Urt. v. 18.9.1985, AP Nr. 20 zu § 23a BAT (Bl. 3 f.); a. A. BAG, 3. Senat, Urt. v. 7.3.1995, AP Nr. 26 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung (Bl. 26 R); 5. Senat, Urt. v. 18.6.1997, AP Nr. 2 zu § 3d BAT (Bl. 2 R); siehe hierzu auch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 434; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 676. 267 BAG, 4. Senat, Urt. v. 29.8.2001, RdA 2002, 306 (307), mit Anm. v. Sachs. Kritisch zu dieser Rechtsprechung Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 220 („Diese Schutzverweigerung verstößt [. . .] gegen das Untermaßverbot.“). Siehe zur Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 1 GG unten S. 215. 265

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gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer untereinander ungleich behandelt. Eine Vergleichbarkeit besteht jedoch dann, wenn man bedenkt, dass der Große Senat das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter aufgrund einer durch den Tarifvertrag erzwungenen Ungleichbehandlung verletzt gesehen hat; insoweit wird der negativen Koalitionsfreiheit in gewissem Umfange ein Gebot zur Gleichbehandlung entnommen. Demgegenüber geht die aktuelle Rechtsprechung davon aus, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung von der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften weitestgehend verdrängt wird. Der Wunsch der Außenseiter nach Gleichbehandlung kann – als Konsequenz dieser Rechtsprechung – jedenfalls nicht absoluten Vorrang vor den Koalitionsinteressen beanspruchen, wie es sich noch in der Differenzierungsklauselentscheidung darstellt. Denn ein Grund, warum der Außenseiter in seinem Bestreben nach gleichen Arbeitsbedingungen stärker zu schützen ist als der tarifgebundene Arbeitnehmer, der nur in Ausnahmefällen vom Willkürverbot erfasst werden wird, ist nicht ersichtlich. Dass Differenzierungsklauseln unter keinem koalitionspolitischen Gesichtspunkt plausibel erklärbar sind, hat der Große Senat des BAG nicht angenommen. Müsste hierdurch nicht auch das Gerechtigkeitsempfinden beeinflusst werden? Auch ein Rückgriff auf die Rechtsprechung des BVerfG vermag für die Anwendung der Sozialadäquanz keine inhaltliche Klarheit zu verschaffen. Zwar verweist das BAG hinsichtlich der Beurteilung eines Eingriffs in die negative Koalitionsfreiheit anhand der Sozialadäquanz auf die Rechtsprechung des BVerfG.268 Bei dem zitierten Beschluss269 ist jedoch nicht nur fraglich, ob sich das BVerfG überhaupt mit der negativen Koalitionsfreiheit auseinandersetzt270, auch geht es mit keinem Wort auf die Sozialadäquanz ein, sondern spricht lediglich von einem „gewissen Druck“ zum Verbandsbeitritt, der hinzunehmen sei. Insoweit hat der Große Senat des BAG anerkannt, dass das BVerfG andere Worte gebraucht; er hat dem BVerfG aber unterstellt, dass es „ersichtlich“ einen „gewissen sozialinadäquaten Druck“271 gemeint hat. Dies ist im Ergebnis nicht viel mehr als eine Behauptung, mit der dem Leser die Weihen höchstrichterlicher Rechtsprechung suggeriert werden sollen. Schließlich hat die Darstellung oben272 ergeben, dass die „Erheblichkeit“ (BVerfG) ein rein quantitatives Merkmal ist, wohingegen die „Sozialadäquanz“ (BAG GrS) Wertungsgesichtspunkte beinhaltet und damit ein qualitatives Merkmal ist.

268 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 23 R f.); BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Bl. 6). 269 BVerfG, Beschl. v. 19.10.1966, BVerfGE, 20, 312 (320, 321). 270 Siehe hierzu die Ausführungen bei S. 122 Fn. 236. 271 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 23). 272 Vgl. oben S. 118 ff.

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(b) Materialer Gehalt des Gerechtigkeitsempfindens Die fehlende Struktur der „Sozialadäquanz“ wird dadurch ausgeglichen, dass an die Stelle einer nachvollziehbaren juristischen Argumentation die Gerechtigkeitsvorstellung – als „Vorstellung davon, was in der Gesellschaft angemessen sei“273 – des entscheidenden Richters tritt. Das „Gerechtigkeitsempfinden“ der Außenseiter soll darüber entscheiden, ob eine Maßnahme der Gewerkschaft noch sozialadäquat oder bereits -inadäquat ist. Welcher materiale Gehalt diesem Merkmal zukommt und welche Bedeutung das Gerechtigkeitsempfinden im Rahmen der Sozialadäquanz einnimmt, bleibt jedoch im Nebel. Es ist nicht nur fraglich, ob Privatleute verpflichtet sind, ihre Rechtsbeziehungen untereinander „gerecht“ zu gestalten; zudem wird aus den Ausführungen des BAG GrS nicht deutlich, was unter „Gerechtigkeitsempfinden“ überhaupt zu verstehen ist. Es lässt sich nicht juristisch abstrahieren, welches Verhalten als ungerecht empfunden wird. Ist Rechtmäßigkeit eine Voraussetzung für Gerechtigkeit, wie es Gamillscheg274 nahe legt und gleichzeitig dem BAG GrS einen tautologischen Schluss unterstellt, indem er stillschweigend anstelle des Begriffes „Gerechtigkeitsempfinden“ den Begriff „Rechtsempfinden“ setzt? Oder kann umgekehrt das Gerechtigkeitsempfinden der Maßstab für die Rechtmäßigkeit sein, wie es der Große Senat des BAG seiner Argumentation zugrunde legt? Der Große Senat spricht von „Gerechtigkeitsempfinden“ und nicht von „Gerechtigkeit“. Zwischen diesen beiden Begriffen gilt es streng zu unterscheiden. Während Gerechtigkeit wohl definiert und etwas Objektives ist275 – nach Ansicht des BVerfG hat sich der Verfassungsgeber bemüht, „im Grundgesetz die Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen“276 –, ist das „Empfinden“ rein subjektiv. In seiner Bindung an ein Subjekt als Träger ist es jedoch – anders als die (objektive) Gerechtigkeit – der empirischen Untersuchung zugänglich, auch wenn entsprechende Studien zumeist unterbleiben.277 Diese Abgrenzung scheint der Große Senat vorzunehmen, wenn er nämlich zwischen der Belastung der Außenseiter auf der einen Seite und der Transparenz der tarifvertraglichen Re273 Hellermann, Freiheitsrechte, S. 105; ähnlich Gitter, JurA 1970, 148 (151 f.); Säcker, Grundprobleme, S. 127 Fn. 315; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 162; bereits Bulla, RdA 1962, 6 (15), hegte diese Befürchtung im Zusammenhang mit der Sozialadäquanz. 274 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 360; ders., NZA 2005, 146 (147). 275 Nach Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 541, ist die Gerechtigkeit „objektiv als Ideal die vollkommene Ordnung im Rahmen des Rechts . . . Die subjektive Gerechtigkeit ist das dem einzelnen zuteil werdende Recht, also die Verwirklichung der objektiven Gerechtigkeit.“ Was dem Einzelnen zusteht, ist also keine Frage seines Empfindens. Siehe zur rechtsphilosophischen Diskussion über die Gerechtigkeit den Überblick bei Larenz, Methodenlehre, S. 173 ff. 276 BVerfG, Urt. v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 225 (233). Siehe hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 494 f.; allgemein zum Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des BVerfG: Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip (insb. S. 91 ff., 101).

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gelung auf der anderen Seite differenziert. Nicht die objektive Benachteiligung (Gerechtigkeit), sondern das Unverständnis (Gerechtigkeitsempfinden) wird für den Großen Senat zum Gradmesser der Zulässigkeit der Regelung. „Ausgleichsforderungen müssten ihrem Wesen nach den davon betroffenen Außenseitern verständlich machen, dass sie nach Unkostengesichtspunkten für die mit ihnen abgegoltenen Gegenleistungen berechnet werden. Sie müssten sich daher nach den für das Arbeitsleben geltenden Redlichkeitsmaßstäben auch als Beiträge oder Ausgleichbelastungen bezeichnen. Solche „Beiträge“ oder „Ausgleichsbelastungen“ dürfen daher in keinem Fall mittels einer undurchsichtigen Differenzierung bei der Gewährung von Urlaubsgeld oder bei der Bemessung sonstiger tariflicher Leistungen erhoben werden. Eine solche Differenzierung verletzt das Gerechtigkeitsempfinden nachhaltig.“278

Auch in späteren Entscheidungen hat das BAG auf das Gerechtigkeitsempfinden – teilweise mit dem objektivierenden Attribut „allgemein“ versehen – abgestellt, ohne hieraus Schlussfolgerungen zu ziehen, die die jeweilige Entscheidung getragen hätten,279 weshalb hierin eine Art „schmückendes Beiwerk“ gesehen werden muss. Insoweit nimmt die Differenzierungsklauselentscheidung eine Sonderstellung ein. Ähnliche Formulierungen – „Gerechtigkeitsgefühl“, „allgemeines Gerechtigkeitsempfinden“, „allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gemeinschaft“ – finden sich auch in der Rechtsprechung des BVerfG.280 Stellt das Gerechtigkeitsempfinden eine eigenständige Größe dar, die in der Abwägung zu berücksichtigen ist, oder handelt es sich gar um eine Tautologie? Robbers, der die Verwendung der genannten Formulierungen in der Rechtsprechung des BVerfG untersucht hat, ist zu dem Schluss gekommen, dass die „Empfindungen“ entbehrlich und verfassungsrechtlich funktionslos sind. Sie dienten weder als Erkenntnisquelle, um das Ideal der Gerechtigkeit zu begründen, noch als Erkenntnismittel, um auf die objektive Gerechtigkeit zu schließen (zumal auch die objektive Gerechtigkeit in ihrer Unbestimmtheit als Auslegungskriterium fragwürdig ist). Im Interesse rationaler Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsbegründung solle deshalb auf entsprechende Wendungen verzichtet werden.281 Ist dieser Befund im Ergebnis auf die Rechtsprechung des BAG 277 Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 91 f., 98 f. Riezler, Rechtsgefühl, S. 25. Ritter, JZ 1969, 111 (113), fordert als Reaktion auf den Beschluss des Großen Senats das Thema „Empirische Rechtsfindung“ aufzugreifen. 278 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R, ähnlich Bl. 25) (Hervorhebung nicht im Original); hierzu merkt Radke, ArbuR 1970, 1 (13), an: „Dabei darf nicht verkannt werden, dass der Begriff ,Gerechtigkeitsempfinden‘ nicht auf die Ratio abstellt, sondern auf die Emotion.“ Ähnlich Biedenkopf, Betriebsrisikolehre, S. 26. 279 Vgl. BAG, Urt. v. 23.10.1991, AP Nr. 45 zu § 611 Bühnenengagementsvertrag (Bl. 5); Urt. v. 30.3.1973, AP Nr. 4 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Geldentwertung (Bl. 5 R); Urt. v. 28.3.1973, AP Nr. 5 zu Art. 177 EWG-Vertrag (Bl. 4); Urt. v. 16.2.1973, AP Nr. 7 zu § 9 MuSchG 1968 (Bl. 1 R). 280 Vgl. die Nachweise bei Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 91 Fn. 423.

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übertragbar? Die Argumentation des BAG GrS ist nur dann schlüssig, wenn man die Sozialadäquanz nicht – wie es Nipperdey macht – als Sammelbezeichnung für rechtmäßiges Verhalten auffasst, sondern ihr beispielsweise mittels des Gerechtigkeitsempfindens eigenständige Wertungen entnimmt. Eine Tautologie liegt in diesem Falle nicht vor; das Gerechtigkeitsempfinden bedingt die Gesetzmäßigkeit, nicht umgekehrt. Insoweit ist die von Gamillscheg282 vorgenommene und in dem Ausdruck „Rechtsgefühl“ zum Ausdruck kommende Gleichsetzung von Recht und Gerechtigkeitsempfinden unzulässig. Dann ist aber immer noch nichts darüber ausgesagt, wann das Gerechtigkeitsempfinden in einer rechtlich relevanten Weise verletzt ist. Wie das BVerfG hat auch das BAG diesen Begriff nicht weiter mit Inhalten angereichert, um ihn handhabbar zu machen. Es wurden, wie bereits erwähnt, weder empirische Untersuchungen herangezogen noch irgendwelche (konkreten oder abstrahierenden) Überlegungen angestellt. Um einerseits die Rechtsdiskussion nicht mit moralischen Kategorien zu überfrachten und andererseits nicht völlig in die individuelle Beliebigkeit abzugleiten, wird man dem Gerechtigkeitsempfinden keine eigenständige Bedeutung neben der Anwendung des geschriebenen Rechts zubilligen können. Soweit das einfache Recht die Grundrechte zulässig ausgestaltet bzw. einschränkt und zudem grundgesetzkonform angewendet wird, verwirklicht sich in ihm die im Grundgesetz angelegte Idee der Gerechtigkeit.283 Aber auch bei der Lösung von Grundrechtskollisionen sollte – der Empfehlung Robbers folgend – auf das Gerechtigkeitsempfinden verzichtet werden, um eine rationale und nachvollziehbare Auseinandersetzung zu ermöglichen. Dementsprechend ist der „Empfindung“ des Einzelnen die rechtliche Relevanz abzusprechen. (c) Beurteilung des Gerechtigkeitsempfindens ohne Tatsachengrundlage Dass der Große Senat des BAG bevorzugt sein eigenes Gerechtigkeitsempfinden als Maßstab heranzieht, wird besonders deutlich, wenn es heißt, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter „überwiegend dahin (geht), Urlaub, Urlaubsentgelt und auch zusätzliches Urlaubsgeld seien nach der Art der geleisteten Tätigkeit, nach dem Grad der Erholungsbedürftigkeit, nach dem Alter, Familienstand, nach der Kinderzahl und sonstigen sozialen Merkmalen, aber 281 Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 101; ebenso im Ergebnis Müller/ Christensen, Juristische Methodik Bd. I, Rn. 148 ff. Siehe im Hinblick auf die Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH dies., Juristische Methodik Bd. II, S. 50, 439 ff. Nach Larenz, Methodenlehre, S. 349, ist die Gerechtigkeit der Fallentscheidung „gewiß ein wünschenswertes Ziel der richterlichen Tätigkeit, aber kein Auslegungskriterium neben den anderen.“ 282 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 360. 283 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 494 f.

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nicht nach der Organisationszugehörigkeit zu bemessen“284. Der Große Senat stellt hier bloß Mutmaßungen darüber an, was der „überwiegende“ Teil der Arbeitnehmerschaft empfindet. An irgendwelchen empirischen Anhaltspunkten ermangelt es aber,285 genauso wie an einer zahlenmäßigen Feststellung des Verhältnisses zwischen gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern und Außenseitern in den vom streitigen Tarifvertrag betroffenen Betrieben, die das Wort „überwiegend“ – über seine Suggestivkraft hinaus – verifizierbar machen könnte. So abwegig erscheint es gar nicht, wenn Radke feststellt: „Niemand weiß, ob er (Anm.: der Außenseiter) wirklich geschützt sein will, ob tatsächlich seine individuale Entscheidungsfreiheit durch eine tarifliche Außenseiter- oder Organisationsklausel eingeengt wird.“286 Ein Beispiel dafür, dass Arbeitnehmer gewisse gewerkschaftliche Zwänge sogar befürworten, findet sich bei den Abstimmungen, die im Zusammenhang mit der Einführung von union shops in den USA in den 1940ern durchgeführt wurden. Durch den Taft-Hartley Act wurde der closed shop, der den Abschluss eines Arbeitsvertrages mit der Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeitnehmer verknüpft, verboten. Allein der union shop, der den Arbeitnehmer verpflichtet, innerhalb einer bestimmten Frist nach Arbeitsantritt einer Gewerkschaft beizutreten, wurde geduldet. Die Arbeitnehmer mussten jedoch dem union shop zustimmen. Eine überwältigende Mehrheit der Arbeitnehmer hat sich in den Abstimmungen für den union shop entschieden, weshalb 1951 das Erfordernis der Wahl aufgehoben wurde.287 Diesem Beispiel, das an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit spielt, lässt sich eine verallgemeinerungsfähige Erkenntnis entnehmen: Olson hat hieran deutlich gemacht, dass die Arbeitnehmer bereit sind, für eine Sache, die sie als sinnvoll erachten, Opfer zu bringen, soweit diese Opfer von allen erbracht werden, die am Erfolg partizipieren. Dass Mutmaßungen über das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter als unumstößliche Tatsachen präsentiert werden, ist umso bedauerlicher, als dass das „Gerechtigkeitsempfinden“ – anders als die „Gerechtigkeit“ – an einzelne Träger gebunden und deshalb empirischen Untersuchungen grundsätzlich zugänglich ist.288 Der Große Senat räumt sogar offen ein, dass selbst die Höhe der Differenzierung nicht feststeht;289 Bemühungen, dieses Informationsdefizit 284 BAG, Urt. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R) (Hervorhebung nicht im Original). 285 Ritter, JZ 1969, 111 (113); ebenso die Kritik von Hanau, JuS 1969, 213 (217). Nach Biedenkopf, Betriebsrisikolehre, S. 26, ist die Berufung auf ein allgemeines Gerechtigkeitsgefühl eine „Scheinbegründung“ und für den „irrationalen Charakter des Urteils“ kennzeichnend. 286 Radke, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 133 f. 287 Vgl. hierzu Olson, Logik, S. 84 f.; Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 129; Hanson/Jackson/Miller, The Closed Shop, S. 135, die allerdings kritisch anmerken: „(M)ost of the employees appear to have been confused as to the exact nature of the election.“

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zu beseitigen, sind in dem Beschluss nicht erkennbar. Hieran wird deutlich, dass durch die Anreicherung der Sozialadäquanz mit dem Gerechtigkeitsempfinden der an der Auseinandersetzung Beteiligten ein generalklauselartiger Tatbestand geschaffen wird, der sicherlich – wie es einer Generalklausel eigen ist – eine flexibles Reagieren auf neuartige gesellschaftliche Probleme ermöglicht. Die so verselbständigte „Sozialadäquanz“ birgt jedoch die Gefahr in sich, dass „Rechtswerte ,hineingelegt‘ werden können, die ihr vielleicht gar nicht zukommen“290. Wenn auf das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter als betroffener Personengruppe abgestellt wird, ohne dies näher zu verifizieren, so treten subjektive Vorstellungen davon, was in der Gesellschaft als gerecht anzusehen ist, in den Vordergrund und füllen unter dem Schein der Objektivität das Merkmal der Sozialadäquanz aus. Ein Gewinn an Gerechtigkeit, der den Verlust an Rechtssicherheit ausgleichen könnte, ist dabei nicht zu erlangen. Umgekehrt wird wiederum verständlich, warum sich der Große Senat auf den nebulösen Begriff der Sozialadäquanz zurückgezogen hat. Schließlich ermöglicht dieser Terminus der Rechtsprechung, auf die Analyse der konkreten Verhältnisse zu verzichten. Die qualitative Betrachtungsweise hat den Großen Senat von einer Quantifizierung entbunden; ob ein Druck zum Gewerkschaftsbeitritt spürbar war – dessen Nachweis auch vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung gefordert wird – konnte unbeantwortet bleiben. Unter Zugrundelegung der tatsächlichen Benachteilung der Außenseiter, wäre es nicht einfach gewesen, im Beschluss vom 29.11.1967 einen gegen die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter verstoßenden Koalitionszwang zu begründen.291 Schließlich ging es um eine im Tarifvertrag nicht näher bezifferte Besserstellung beim Urlaubsgeld, das selbst 60 DM jährlich betrug, eine Besserstellung, die nach den Angaben von Gamillscheg292 zwischen 40 und 60 DM betragen hätte und damit unter dem Jahresbeitrag der GTB gelegen hätte. Selbst vom Großen Senat des BAG wurde in Erwägung gezogen, dass es sich bei der Besserstellung nur um eine „verhältnismäßig geringe Belästigung“ handeln könnte.293 288 Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 91 f.; siehe auch oben S. 131 Fn. 277. 289 BAG, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 24 R). 290 Bulla, RdA 1962, 6 (15); ähnlich Säcker, Grundprobleme, S. 127 Fn. 315; Reuß, ArbuR 1972, 193 (200 ff.), bezeichnet die Sozialadäquanz als „juristische Begriffsmanipulation“ und als „Zauberformel“. 291 So auch der Vorwurf von Gamillscheg, BB 1988, 555 (556); Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 155. 292 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 357; ebenso Zachert/AGAR, Tarifvertrag, S. 184; vgl. auch den Sachverhalt von ArbG Düsseldorf, Urt. v. 9.6.1965 (abgedruckt bei Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 116): Nach Angaben der Gewerkschaft Textil-Bekleidung würde der Tarifvertrag zu einer Differenzierung in Höhe von ca. 5 DM monatlich führen bei einem Gewerkschaftsbeitrag zwischen 8 DM und 12 DM monatlich.

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(d) Willkürliche Heranziehung des Gerechtigkeitsempfindens Wenn der Große Senat des BAG die Differenzierungsklauseln allein am Maßstab des Gerechtigkeitsempfindens misst, erscheint dies zu kurz gegriffen und zu einseitig. Außer Acht gelassen wird nämlich bei dieser Argumentation die Frage, warum das Gerechtigkeitsempfinden nur dann verletzt werden soll, wenn die Außenseiter aufgrund einer Differenzierungsklausel benachteiligt werden, nicht jedoch, wenn der Arbeitgeber bis zur Grenze des § 138 BGB den Außenseiter untertariflich entlohnt.294 Einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern haben die Außenseiter nach nahezu einhelliger Ansicht jedoch nicht; unabhängig davon, ob die Tarifparteien Art. 3 GG unmittelbar oder mittelbar zu beachten haben, sind die Tarifparteien nicht verpflichtet, allen Arbeitnehmern tarifliche Leistungen zu verschaffen.295 Dementsprechend kann sich auch hier der Außenseiter veranlasst sehen, in die tarifschließende Gewerkschaft einzutreten, um an den tariflichen Vorteilen partizipieren zu können. Ein Unterschied besteht zwischen diesen beiden Fallgestaltungen. Bei den Differenzierungsklauseln als kollektiver Regelung wird den Gewerkschaften die Absicht unterstellt, die Außenseiter in die Gewerkschaft zwingen zu wollen, wohingegen beim Arbeitgeber nicht von einer derartigen Zielsetzung ausgegangen wird. Hier beginnen aber bereits die (generalisierende) Mutmaßungen, die an die Stelle des einzelfallbezogenen Wissens um die Motivationen der Akteure treten. Dass ein Unternehmer die Gewerkschaft aus dem Unternehmen drängen möchte, ist zwar in Anbetracht der Konfrontationsstellung zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft nahe liegend, jedoch keinesfalls immer zutreffend. Von den Gewerkschaften werden Differenzierungsklauseln teilweise als ein Ausdruck der Sozialpartnerschaft angesehen, da sie die Existenz eines verlässlichen Verhandlungspartners sicherstellen.296 Wenn man über den nationalen Tellerrand hinaus293

BAG, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 24 R). Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 360; insoweit ähnlich Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1184. In der Ungleichbehandlung ist auch kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des § 75 Abs. 1 BetrVG zu sehen (vgl. Fitting/Engels/ Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, § 75 Rn. 51). Siehe kritisch zu dieser Argumentation Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 28; Nikisch, RdA 1967, 87 ff. Vgl. zu § 138 BGB die Nachweise zur Rechtsprechung in Fn. 468 ff. S. 184. 295 BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 5 f.); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 263 f.; Herschel, ArbuR 1970, 193 (198); Kissel, in: FS für Hanau, S. 550; Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 72 f.; Konzen, in: FS für Müller, S. 259 f.; Reuß, AcP Bd. 166 (1966), 518 (521); Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 254 (anders noch Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 3 Rn. 125; bei einer Arbeitskampfbeteiligung der Außenseiter Wiedemann, RdA 1969, 321 [333 f.]). Siehe zur gegenteiligen Auffassung während der Weimarer Republik unter Geltung der TVVO Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 (195). 296 Siehe oben S. 28. 294

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schaut, so stellt man fest, dass etliche englische Unternehmen den closed shop bevorzugt haben und noch immer bevorzugen.297 Nicht eine Klage von betroffenen Arbeitgebern, sondern von benachteiligten Außenseiterarbeitnehmern hat zu einer Entscheidung des EGMR über die Vereinbarkeit des „closed shop“ mit Art. 11 EMRK geführt298. Zu berücksichtigen ist nämlich, das die kartellierende Wirkung von Tarifverträgen den „Kostenfaktor Arbeit“ dem Wettbewerb entzieht; ein Unternehmen, dass nach Tarif entlohnt, wird davor geschützt, von Billiganbietern vom Markt verdrängt zu werden.299 Kahn-Freund hat zur englischen closed-shop-Regelung und den damit einhergehenden Interessen von Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgeführt: „Aber gerade diese Dinge (Anm.: Verknüpfung des Arbeitsplatzes mit der Gewerkschaftszugehörigkeit) sind auch eine Gefahr für die Gewerkschaft. Der Organisationszwang macht ihr das Leben zu leicht. Er schwächt die innere Integration. Manche der Gewerkschafter wissen das und sind von dem „closed shop“ nicht begeistert. Aber andererseits kann gar kein Zweifel darüber bestehen, dass gar mancher Arbeitgeber, groß, mittelgroß, klein, sehr wohl weiß, dass der „closed shop“ Reibungen im Betrieb verhindert und den Arbeitsfrieden fördert. Für diese Haltung, beileibe nicht aller, aber nicht weniger Unternehmer im öffentlichen und privaten Sektor der Wirtschaft hatte die Donovan Commission300 klare Beweise, und diese sind im Bericht von 1968 erwähnt. (. . .) Ist das am Rhein so ganz anders als an der Themse?“301 297 Vgl. beispielsweise Kahn-Freund, in: Mosler/Bernhard, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1390; nach Aaron, in: Mosler/Bernhard, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1392, besteht der closed shop in einigen Industriezweigen in den USA illegal, weil er den Bedürfnissen von Arbeitgebern und Gewerkschaften entspreche. 298 Vgl. den Sachverhalt von EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 ff. 299 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 499 f., 1055; siehe beispielsweise die Kämpfe der International Transport Workers Federation (ITWF) gegen die Billigflaggen; Dimskal Shipping Co. SA v. ITWF, [1992] Industrial Cases Reports 37 ff. Vgl. hierzu Gamillscheg, in: FS für Gnade, S. 762 f. Ein weiter zurückliegender Fall wird von Adamic, Dynamite, S. 200 ff., geschildert. Im Amerika 1910 haben die Unternehmer San Franciscos eine Abmachung mit den Gewerkschaften getroffen mit dem Ziel der Einführung von closed shops in Los Angeles. Aufgrund entsprechender Organisationsklauseln und damit zusammenhängender hoher Löhne konnten die Arbeitgeber in San Francisco auf dem Markt nicht bestehen. Der daraufhin angezettelte Arbeitkampf wurde gewalttätig geführt und gipfelte in dem Bombenanschlag auf das Gebäude der gewerkschaftsfeindlichen Los Angeles Times, der gleichzeitig das vorläufige Scheitern des Versuchs, Los Angeles gewerkschaftlich zu organisieren, markierte. 300 Königliche Kommission über Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen; siehe hierzu Hanson/Jackson/Miller, The Closed Shop, S. 28 ff.; Kahn-Freund, RdA 1969, 336 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 25. 301 Kahn-Freund, Arbeit und Recht, S. XXII, S. 210 f.; vgl. Hanson/Jackson/Miller, The closed shop, S. 28 ff., 79 f.; ähnlich Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 171; ähnlich während der Weimarer Republik Alfred Schneider, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 89 f.; siehe auch den von Kahn-Freund, a. a. O., S. 211, geschilderten Fall Morgan v. Fry: „Der Londoner Hafenbehörde war dies (Anm.: die Mitgliedschaft der Mehrzahl der Schleusenwärter in einer Gewerkschaft) willkommen, denn es ist, obwohl sie nicht auf dem allgemein

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Wie Art. 9 Abs. 3 GG deutlich macht („zu behandeln sucht“), ist das subjektive Element auf Seiten des Behandelnden entscheidend, um eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit zu begründen. Fraglich ist aber, inwieweit dieses subjektive Element sich auf das Gerechtigkeitsempfinden des Behandelten auswirkt; für das Empfinden des Behandelten dürfte vorrangig ausschlaggebend sein, dass gleiche Arbeit ungleich entlohnt wird, was allein objektiv zu beurteilen ist. In diesem Sinne hat Wiedemann klare Worte gefunden, wonach Differenzierungsklauseln das Gerechtigkeitsempfinden gröblich verletzten, weil sie mit dem Leistungsprinzip in unüberbrückbarem Widerspruch stehen: „Das Entgelt der Arbeitnehmer orientiert sich entweder an der Leistung oder an der sozialen Umwelt (Fürsorgeleistungen), an sonst nichts.“302 Dann sind aber die Fälle, bei denen der Außenseiter bis zur Grenze des § 138 BGB schlechter behandelt wird als der Organisierte mit denen vergleichbar, bei denen der Außenseiter aufgrund einer „undurchsichtigen“ tariflichen Regelung benachteiligt wird. Auch der Große Senat des BAG beurteilt das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter unabhängig von der hinter den Differenzierungsklauseln stehenden Motivation der Gewerkschaften allein danach, dass die Differenzierung für die Benachteiligten nicht nachvollziehbar ist. „Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob einem Arbeitnehmer gesagt wird, er müsse an einen anderen soundsoviel als Ausgleich dafür erbringen, weil der andere für ihn etwas getan habe. Das wird er, wenn es ihm klargemacht wird, vielleicht einsehen. Ihm aber zu sagen, er bekomme soundsoviel Urlaubsgeld weniger, weil er nicht organisiert sei (. . .), muss bei dem Außenseiter zwangsläufig das Gerechtigkeitsempfinden verletzen.“303

Ebenfalls außer Acht gelassen wird vom BAG GrS, dass auch das Gerechtigkeitsempfinden der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer in einer für Art. 9 Abs. 3 GG relevanten Weise betroffen ist, wenn der Arbeitgeber alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Koalitionszugehörigkeit nach Tarifvertrag beso genannten closed shop bestehen wollte, für sie bequem, mit einer einzigen Gewerkschaft für alle Schleusenwärter verhandeln zu können.“ Die Situation in England ist allerdings nicht unmittelbar auf die am Rhein bzw. nunmehr an der Spree übertragbar. Da es in England keine Entsprechung zum BetrVG gibt, übernehmen die Gewerkschaften mit ihren shop stewards die Rolle der Betriebsräte, sodass sich hieraus eine wesentlich engere Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Arbeitgeber auf Betriebsebene als in Deutschland ergibt (vgl. Burgess, in: Bispinck/Lecher, Tarifpolitik in Europa, S. 154 f., 162). Ramm, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1394, sieht in dem BetrVG „unser Äquivalent für den closed shop.“ In Deutschland dürfte ein vergleichbares Interesse der Arbeitgeber an einer Gewerkschaft, die den Großteil der Arbeitnehmer repräsentiert, bei einem Firmentarifvertrag bestehen. 302 Wiedemann, SAE 1969, 265 (267); Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 444; anders aber wohl Wiedemann, RdA 1969, 321 (335); siehe gegen Wiedemann Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 167 ff. Lieb, ZfA 1970, 197 (208), stellt die Frage nach der (verfassungsrechtlichen) Relevanz des Leistungsprinzips. 303 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R).

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zahlt. Schließlich kommen die mit dem Tarifabschluss erzielten Erfolge (bei entsprechendem Verweis auf den Tarifvertrag oder bei sonstiger Gewährung durch den Arbeitgeber) allen Arbeitnehmern zugute, während nur ein Teil von ihnen die mit diesem Erfolg verbundenen Lasten trägt. Dementsprechend kann auf die Ansicht der Gewerkschaften hinsichtlich der Allgemeinverbindlicherklärung verwiesen werden, wonach die Gewerkschaften es als „Tatbestand der Ungleichbehandlung (betrachten) . . ., dass der Nichtorganisierte genau wie sein organisierter Arbeitskollege alle Ergebnisse gewerkschaftlicher Arbeit gewährt bekommt“304. Allein im Hinblick auf ein Verbot der selektiven Aussperrung von organisierten Arbeitnehmern305 wird vom BAG eine gewisse Gleichbehandlung hinsichtlich der Lastentragung erreicht. Nur am Rande sei noch erwähnt, dass die selektive Wahrnehmung des BAG GrS auch daran deutlich wird, dass die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer nicht einmal in Betracht gezogen wird, obwohl diese durch Differenzierungsklauseln am Austritt gehindert werden; den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern wird analog zu den Nichtorganisierten das Fernbleiben erschwert. Es kann jedoch keinen Unterschied machen, ob ein Arbeitnehmer zum Beitritt zu einer Gewerkschaft gezwungen oder am Austritt aus der Gewerkschaft gehindert wird. Durch den Beitritt hat der Arbeitnehmer nicht dauerhaft auf sein Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit verzichtet; durch Differenzierungsklauseln kann deshalb auch sein Gerechtigkeitsempfinden in rechtlich erheblicher Weise verletzt werden. Beim Arbeitgeber, der alle Arbeitnehmer – ohne Ansehen der Gewerkschaftszugehörigkeit – gleichbehandelt, kann sogar die Motivation nahe liegen, neben der Vereinfachung des Verwaltungsaufwandes keinen Anreiz zum Beitritt in die Gewerkschaft schaffen zu wollen und möglicherweise sogar die Bereitschaft zum Austritt gezielt zu fördern. In diesem Sinne hat sich das BAG explizit geäußert: „U. a. aus koalitionspolitischen Gründen vermeiden die Arbeitgeber jede Schlechterstellung derjenigen Arbeitnehmer, die sich keiner Gewerkschaft angeschlossen haben.“306 Die Gleichstellung durch den Arbeitgeber geht teilweise sogar so weit, dass durch Extrazahlungen an ausgesperrte Arbeitnehmer eine Alternative zum Streikgeld der Gewerkschaften geschaffen und damit der arbeitskampfbedingte wirtschaftliche Druck ausgeglichen wird.307 Hierdurch soll vermieden werden, dass das Arbeitskampfrisiko als Grund für einen Gewerk304 G. Leber, „Unser Weg“, Referat vor dem 6. ordentlichen Gewerkschaftstag der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden Berlin 1963, Berlin, S. 43; zitiert nach Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 281. Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 122 ff., merkt an, dass es hinsichtlich der Gerechtigkeitsempfindungen der Organisierten, auf das häufig von gewerkschaftlicher Seite abgestellt wird, genauso wie bei den Außenseitern an datenbasierten Analysen fehlt. 305 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 306 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3).

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schaftseintritt empfunden wird. In diesem Falle würde sich in der Gleichbehandlung eine gewerkschaftsfeindliche Gesinnung manifestieren, die zu der oben beschriebenen Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens der Organisierten führen muss. Auch wenn sich die Gleichbehandlung mit dem Interesse des Arbeitgebers an einer einheitlichen Ordnung der Arbeitsverhältnisse begründen lässt,308 zeigt sich hieran doch nur die Vielfalt der Motive und die Gefahr der (willkürlichen) Betonung bzw. Außerachtlassung einzelner Aspekte. Wird den Gewerkschaften die Möglichkeit abgeschnitten, Differenzierungsklauseln zu vereinbaren, werden ihre Mitglieder im Ergebnis schlechter gestellt als die Außenseiter. Dass das Gerechtigkeitsempfinden der organisierten Arbeitnehmer in der Betrachtung des BAG GrS keine Beachtung findet, mag daher rühren, dass die entsprechende auf die Stärkung der Gewerkschaft gerichtete Koalitionsbetätigung als eine solche minderen Ranges angesehen wird, wie es beispielsweise Konzen vertritt.309 Ansonsten wäre es unumgänglich gewesen, zwischen den einzelnen „Gerechtigkeitsempfindungen“ abzuwägen. Letzteres wäre jedenfalls umso naheliegender, als auch Nipperdey unter dem Dach der Sozialadäquanz eine Güterabwägung vornehmen möchte.310 Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass bei einer Gleichbehandlung durch den Arbeitgeber das Gerechtigkeitsempfinden der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer und bei einer Ungleichbehandlung das der Außenseiter verletzt wird; beim einen mal geht es um die positive Koalitionsfreiheit, beim anderen mal um die negative. Welches Gewicht soll den entgegengesetzten „Empfindungen“ bei einer Kollision beigemessen werden? Hieran zeigt sich die Sackgasse, in die sich der Große Senat mit seiner Rechtsprechung begeben hat, die nur deshalb im Beschluss nicht augenfällig geworden ist, weil neben dem Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter keine weiteren Empfindungen in die Argumentation Eingang gefunden haben. Die Ausformung der Sozialadäquanz mittels des Gerechtigkeits307 Vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 348. Ein entsprechender Fall findet sich in BB 1963, 859 (Streik in der baden-württembergischen Metallindustrie). 308 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierung, S. 23, möchte eine koalitionsfeindliche Motivationslage der Arbeitgeberseite bei der Gleichbehandlung grundsätzlich in Abrede stellen. A. A. Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 114; Säcker, Grundprobleme, S. 128 Fn. 317; ders., RdA 1967, 370 (372); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 33 f. 309 Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 286, 288 f, 290; ebenso Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 269. Konzen geht davon aus, dass eine Koalitionsbetätigung, die auf die Erweiterung des Mitgliederbestandes gerichtet ist, durch Art. 9 Abs. 3 GG weniger geschützt wird, als sekuritätspolitische Maßnahmen, die auf die Erhaltung des status quo abzielen. Diese Differenzierung erscheint allerdings praktisch kaum umsetzbar, da eine genaue Trennlinie nicht auszumachen ist, ab der die koalitionspolitische Maßnahme umschlägt, was Scholz/Konzen, a. a. O. auch einräumen. Das Werben neuer Mitglieder dient immer auch zugleich dazu, die Mitgliederfluktuation auszugleichen. In Konzen, in: FS für Müller, S. 257 f., findet sich die Unterscheidung zwischen der Sicherung des Status quo und der Erweiterung des Mitgliederbestandes nicht mehr. 310 Nipperdey, NJW 1967, 1985 (1992).

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empfindens kann folglich nicht zu tragfähigen Ergebnissen führen. Die Sozialadäquanz verliert damit allerdings ihre letzte inhaltliche Besonderheit und bleibt substanzlos zurück, der Abschied von ihr ist längst überfällig. (2) Fehlende Quantifizierung (Divergenz zwischen BVerfG und BAG) Vergleicht man die Rechtsprechung des BAG mit der des BVerfG zur Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit, so fällt auf, dass das BAG auf die Sozialadäquanz des streitigen Verhaltens abgestellt hat und damit jeglichen sozialinadäquaten Druck ächtet, wohingegen das BVerfG eine gewisse Erheblichkeit des Drucks gefordert hat. Es stellt sich also die Frage, wie dieser Unterschied aufzulösen ist. Zur Beurteilung von Differenzierungsklauseln ist es entscheidend, ob sie sich im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG als „Abreden“ darstellen, die die negative Koalitionsfreiheit „einschränken“ oder „zu behindern suchen“. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ist allein für die Variante „behindern“ Finalität erforderlich aber auch ausreichend, wohingegen für die Variante „einschränken“ ein Erfolg eintreten muss. Für Einschränkungen wäre demnach der Wille zur Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit nicht maßgeblich. Art. 159 WRV als Vorgängernorm lautete hingegen noch „Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen“; die subjektive Seite war also immer erforderlich. Gamillscheg vermutet, dass die Änderung auf einem Redaktionsversehen beruht. Dementsprechend geht er davon aus, dass auch die Einschränkung der Koalitionsfreiheit von einem einschränkenden Willen getragen sein muss.311 Letztendlich kann diese Frage dahingestellt bleiben. Denn Differenzierungsklauseln behindern die Koalitionsfreiheit mittelbar, schränken sie jedoch nicht ein. Für die Variante „einschränken“ ist eine Beteiligung des Grundrechtsträgers an der Abrede erforderlich. Nur hierdurch kann sein Recht verkürzt werden; einen Vertrag zu Lasten Dritter gibt es nicht.312 Durch Differenzierungsklauseln kann folglich

311 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 193. Im Ergebnis ebenso Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 34 f. Für ein rein objektives Verständnis Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 86; MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 245 Rn. 86; Musa, BB 1966, 82 (83); Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 129; Scholz, in: Maunz/ Dürig, Art. 9 Rn. 333; v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 159. Verfolgt man die Diskussion im Ausschuss für Grundsatzfragen vom 24.11.1948 im Hinblick auf die unterschiedlichen Wortlautfassungen, abgedruckt in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. V/2, Boppard am Rhein 1993, S. 687, 693, scheint der Abweichung zu Art. 159 WRV hinsichtlich der Finalität der Einschränkung keine Beachtung geschenkt worden zu sein. Problematisiert wurde allein, ob Maßnahmen nur „rechtswidrig“ oder auch „nichtig“ sein können.

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auch nicht das Recht der Nichtorganisierten auf negative Koalitionsfreiheit eingeschränkt, sondern nur seine Ausübung behindert werden. Eine weit verbreitete Ansicht in der Literatur versteht Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht rein subjektiv, sondern verlangt grundsätzlich – d.h. ohne zwischen Einschränkungen und Behinderungen zu differenzieren – als objektives Element einen erheblichen Druck, auch wenn teilweise die Erheblichkeitsschwelle nicht sehr hoch angesetzt wird.313 Demgegenüber lässt ein anderer Teil der Literatur jeden vom Willen der Beschränkung der negativen Koalitionsfreiheit getragenen Druck ausreichen, um eine Behinderung und damit einen Eingriff zu begründen.314 Gegen eine Quantifizierung des Drucks spricht, dass nach dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG in der Variante „behindern“ auf die Willensrichtung abzustellen ist („zu behindern suchen“), nicht darauf, ob ein Erfolg in Form eines spürbaren Druckes auch tatsächlich eingetreten ist bzw. eintreten konnte. Demgegenüber geht das BVerfG davon aus, dass der Druck eine gewisse Erheblichkeit erreicht haben muss. Dies scheint zu einem Widerspruch zu der rein subjektiven Lesart des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG zu führen. Das Verzichten auf ein quantitatives Element bedeutet eine starke Einschränkung der Koalitionsfreiheit der Koalitionen, die dem von Art. 9 Abs. 3 GG intendierten Schutz der Entfaltungsfreiheit des Koalitionswesens zuwider läuft. Schließlich agieren die Koalitionen nicht in einem luftleeren Raum, sondern innerhalb der Betriebe. Bei der Erfüllung ihrer von der Verfassung übertragenen Aufgaben – Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – bleiben soziale Interdependenzen mit den Außenseitern nicht aus. Jeder Vorteil, der tariflich vereinbart wird, kann sich aufgrund der begrenzten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers auf die Position der Außenseiter auswirken und dementsprechend als 312 MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 238 Rn. 86; so wohl auch Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 129; Zöllner, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 26 f. Demgegenüber lehnt Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 34 f., eine Unterscheidung zwischen Einschränkungen und Behinderungen ab. 313 Badura, ArbRGeg Bd. 15 (1978), 17 (32); Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 155; Däubler, in: ders./Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, S. 43; Dietlein, ArbuR 1970, 200 (204); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 62; Gitter, JurA 1970, 148 (151 f.); Hanau, JuS 1969, 213 (216); Herschel, ArbuR 1970, 193 (198); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 65; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 162 ff.; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 9 Rn. 284; Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 93 ff.; Säcker, Grundprobleme, S. 126 f.; Schüren, RdA 1988, 138 (146); Stahlhacke, ArbRGeg 11 (1973), S. 21 (22); Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 303 f. 314 Bötticher, BB 1965, 1079; ders., RdA 1966, 401 (406); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 38; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 277, 279; MayerMaly, ZAS 1969, 81 (86 f.); Wiedemann, SAE 1969, 265 (267); Zöllner, Differenzierungsklauseln, S. 26 f. Lehna, DB 1959, 916 (917), verzichtet auf ein subjektives Element, da er Differenzierungsklauseln unrichtigerweise als Einschränkungen ansieht. Sehr diffus Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 67, 75.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

benachteiligend empfunden werden.315 Auch wenn Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG in der Variante der „Behinderung“ ein finales Element erfordert, so führt doch ein alleiniges Abstellen auf die subjektive Seite, um zulässiges von unzulässigem Verhalten zu scheiden, zur Rechtsunsicherheit. Häufig sind die Motivationen, die hinter einem bestimmten Verhalten stehen, vielfältig; welches Motiv das bewusstseinsdominante ist, ist schwer zu begründen. Ob bestimmte Werbemaßnahmen allein von dem Willen zur Information oder aber bereits von der Absicht, (moralischen) Druck auf die Nichtorganisierten auszuüben, getragen sind, dürfte in der Praxis kaum zu unterscheiden sein. Für eine erfolgreiche Gewerkschaftspolitik ist meist das Wohlwollen der Außenseiter erforderlich, das sich beispielsweise in der Teilnahme an einem Streik äußern kann. Noch wichtiger ist es aber für die Gewerkschaften, auf eine Verbreiterung ihrer Mitgliederbasis hinzuwirken. Zwischen reinen Werbemaßnahmen und dem Koalitionszwang gibt es vielfältige Abstufungen. Die Gewerkschaft wird vornehmlich mit mehr – z. B. Streikunterstützung – oder weniger – z. B. Rechtsschutz – exklusiven Leistungen locken. Hierzu muss auch der Hinweis auf die gesetzlich vorgesehene (§ 3 Abs. 1 TVG) Exklusivität des Tarifvertrags gehören. Das Schwarz-Weiß-Denken des BAG GrS ist mit dieser Realität nicht vereinbar. Gamillscheg hat sich mit deutlichen Worten gegen diese Ansicht gewandt, die auf jegliche Quantifizierung des Druckes auf den Außenseiter verzichtet: „Daraus (Anm.: Schutz der kollektiven Koalitionsfreiheit als Einschränkung der negativen Koalitionsfreiheit) ergibt sich schon, dass der Außenseiter sich nicht als Mimose fühlen kann, die vor jedem Luftzug zu schützen ist, womit er ja auch im Zeitalter des Wettbewerbs einzig dastünde.“316 Eine ähnliche Befürchtung hat auch Dietlein geäußert, der in dem Schutz des Nichtorganisierten vor jedem auf einen Gewerkschaftsbeitritt gerichteten Druck eine Gefahr gesehen hat, dass „die freie Selbstbestimmung des Menschen in einer seinem Wesen unangemessenen Weise zur bloßen Reaktion auf die Umweltverhältnisse“ reduziert wird.317 Eine Judikatur muss den Abstufungen zwischen Anreiz und Zwang Rechnung tragen; schließlich besteht ein Unterschied darin, ob der Einzelne durch Zwang zu einem ungewollten Verhalten veranlasst wird, wohingegen der Anreiz zu einem gewollten Verhalten führen kann, um den damit verknüpften Vorteil zu erlangen.318 Diese Unterscheidung kann aber nur dann gelingen, wenn ein 315

Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 153. Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 61; Radke, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 128 (132), stellt die Frage: „Welche Gründe sprechen dafür, den Außenseiter vor dem leisesten sozialen Windhauch zu bewahren?“ 317 Dietlein, ArbuR 1970, 200 (204). 318 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 153; Reuß, AcP Bd. 166 (1966), 518 (521); ders., ArbuR 1970, 33 (35); ders., ArbuR 1972, 193 (200); Wiedemann, in: 316

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quantitatives Element in die Betrachtung eingeführt wird. Eine (rein) qualitative Betrachtung führt, da ihr feste Abgrenzungskriterien fehlen – zu willkürlichen Ergebnissen. Insoweit ist dem BVerfG zuzustimmen, wenn es im vorgenannten Sinne auf die Quantität des Druckes abstellt und den Anreiz als eine Situation definiert, in der die Entschließungsfreiheit des Einzelnen nicht fühlbar beeinträchtigt wird.319 Welcher Zusammenhang besteht zwischen subjektiver und objektiver Ebene? Zwar kann wohl nicht von einer objektiv gegebenen Drucksituation auf den Willen zur Behinderung der negativen Koalitionsfreiheit geschlossen werden.320 Um eine koalitionsfeindliche Absicht der Akteure zu konstatieren, bedarf es einer auf den Einzelfall bezogenen Feststellung; eine bloße Typisierung von Verhaltensmustern kann den Anforderungen des Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht genügen. Andererseits muss – wenn es an einem Zwang zum Koalitionsbeitritt objektiv fehlt – wenigstens die Vorstellung über die Schaffung einer rechtlich relevanten Drucksituation vorliegen. Von der Sache her ist ein Vergleich der subjektiven Seite mit dem strafrechtlich relevanten untauglichen Versuch geboten, bei dem nicht allein die böse Gesinnung pönalisiert werden soll. Ein bestimmtes Maß an Druck muss deshalb zumindest (nach der Vorstellung des Handelnden) möglich sein. Die Koalitionsfreiheit bedarf keines Schutzes vor völlig „ungefährlichen“ Maßnahmen, die von der irrigen Vorstellung getragen werden, einen (moralischen) Druck auszuüben. Insofern hat Gamillscheg – aus seiner Sicht konsequent, da er in den Differenzierungsklauseln keinen objektiven Druck zum Gewerkschaftsbeitritt sieht – zutreffend darauf hingewiesen, dass auch das Totbeten als abergläubischer Versuch nicht strafbar ist.321 Wenn aber – wie vom Großen Senat des BAG postuliert – vorrangig auf die Willensrichtung der tarifschließenden Koalition abgestellt wird, so verbietet sich doch jene Interpretation der Tatsachen, die allein den Willen zum Koalitionszwang sieht, dabei aber andere – nahe liegende – Deutungsmöglichkeiten außer Acht lässt. So kann eine Gewerkschaft mit dem Abschluss von Differenzierungsklauseln einen Koalitionszwang verfolgen. Genauso ist es aber auch möglich, dass sie einerseits die Begünstigung ihrer Mitglieder – als Ausgleich für die materiellen Aufwendung, die im Zusammenhang mit der gewerkschaftlichen Betätigung erbracht wurden – im Auge hat sowie den hiermit verbundenen Werbeeffekt.322 Bereits Sinzheimer hat zu den Absperrungsklauseln, die sich gegen die Beschäftigung von Außenseitern in den betroffenen Betrieben gerichtet ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 304. Herschel, ArbuR 1970, 193 (198), spricht hier von „massiver Nötigung“ und „psychologischer Einflussnahme“. 319 BVerfG, Beschl. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302). 320 Gegen eine Beweislastumkehr bspw. Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Rn. 285. 321 Gamillscheg, BB 1967, 45 (50); gegen diesen Vergleich Zöllner, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 27.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

haben und dadurch wesentlich einschneidender als die Differenzierungsklauseln gewirkt haben, ausgeführt: „Nicht jede Absperrungsklausel hat ohne weiteres den Zweck des Zwanges gegen die Nichtorganisierten, den Organisationen beizutreten. Der Zweck der Absperrungsklausel, der sich auf die Einhaltung des Tarifvertrags bezieht, kann allein maßgebend und vorherrschend sein.“323 Welche Absicht in einem Motivationsbündel die hervortretende und das Handeln letztendlich prägende ist, kann nicht einfach nach Gutdünken des Betrachters erfolgen. Eine Tarifnorm ist beispielsweise so auszulegen und anzuwenden, dass sie zu verfassungsgemäßen Ergebnissen führt. „Tarifvertragsparteien wollen im Zweifel verfassungsmäßige Regeln treffen.“324 Dementsprechend kann den Gewerkschaften nicht die subjektive Zielrichtung unterstellt werden, die Ausübung der negativen Koalitionsfreiheit behindern zu wollen, solange andere mögliche und nahe liegende Absichten – Begünstigung der eigenen Mitglieder und Schaffen eines Anreizes zum Koalitionsbeitritt – mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. Insoweit besteht eine Vergleichbarkeit mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 5 Abs. 1 GG, nach der die Kundgabe einer Meinung nur dann strafrechtlich erfasst werden kann, wenn andere – nicht strafrechtlich relevante – Deutungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden können.325 Der Große Senat des BAG macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn er lediglich feststellt, die verfolgten Zwecke seien nicht zu unterscheiden.326 (3) „Sozialadäquanz“ als grundrechtsdogmatischer Sonderweg (a) Schutz der Differenzierungsklauseln durch Art. 9 Abs. 3 GG Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln muss es sein, ob diese vom Schutzbereich der Koalitionsfrei322 In diesem Sinne auch Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 406 („Tarifabreden beabsichtigen niemals ausschließlich, Außenseiter zu diskriminieren . . .“). Ähnlich Säcker, Grundprobleme, S. 128 Fn. 317. Auch der Große Senat hat in seinem Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 11), die vielfältigen Motive in Erwägung gezogen: „Die Differenzierungsklauseln sollen einmal den Vorteil ausgleichen, den die Außenseiter dadurch haben, daß sie die Erfolge gewerkschaftlicher Arbeit in weitem Umfang mitgenießen, ohne zur gewerkschaftlichen Arbeit finanziell beizutragen. Zugleich sollen die Differenzierungen die Organisierten finanziell dafür entschädigen, daß sie ihrerseits die Lasten aus ihrer Organisationszugehörigkeit getragen haben.“ 323 Sinzheimer, JW 1921, 304 (306). 324 BAG, Beschl. v. Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 (Bl. 5) und Nr. 47 (Bl. 5 R) zu Art. 9 GG; ebenso Söllner, NZA 1996, 897 (902). 325 BVerfG, Beschl. v. 25.8.1994, NStZ 1994, 580; ebenso BVerfG, Beschl. v. 7.12. 1976, BVerfGE 43, 130 (136 f.); Beschl. v. 19.4.1990, BVerfGE 82, 43 (52 f.); Beschl. v. 9.10.1991, BVerfGE 85, 1 (13 f.). 326 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 24 R).

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heit umfasst werden. In diesem Falle würde der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten die positive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften gegenüberstehen. Dieser Punkt wird teilweise bestritten, da Differenzierungsklauseln unter anderem der Stärkung der gewerkschaftlichen Organisation dienen, organisationspolitische Maßnahmen jedoch nicht mehr mit dem Schutzzweck des Art. 9 Abs. 3 GG zu vereinbaren seien.327 Auch wenn der Große Senat des BAG diesbezüglich in seinem Beschluss nicht ausdrücklich Stellung genommen hat, ändert dies nichts an der dogmatischen Relevanz. Schließlich kann auch in vorbehaltlose Grundrechte – wie z. B. die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten – zum Schutze anderer Grundrechte oder Güter mit Verfassungsrang eingegriffen werden. Eine dem Art. 9 Abs. 3 GG unterfallende Koalitionsbetätigung kann ein solches – in der grundrechtlichen Abwägung zu berücksichtigendes – Grundrecht darstellen. Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur den Einzelnen, sondern nach überwiegender Ansicht in Literatur und Rechtsprechung als Doppelgrundrecht auch die Koalition selbst.328 Neben dem Bestand der Koalitionen wird auch die typische koalitionsmäßige Betätigung erfasst. Der Abschluss von Tarifverträgen stellt dabei die klassische Form zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG dar. Problematisch erscheint vorliegend eher, dass die Gewerkschaften durch Differenzierungsklauseln positiv auf ihren Mitgliederbestand einwirken wollen, indem sie – je nach Standpunkt – den Gewerkschaftsbeitritt attraktiver gestalten oder Druck auf die 327 Für den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG: Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 83 ff.; Hanau, JuS 1969, 213 (220); Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 55; Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 68 f.; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 60 f., 75; Reuß, ArbuR 1970, 33 (34); Säcker, Grundprobleme, S. 67; Schnorr, JR 1966, 327 (332); ders., in: FS für Erich Molitor, 1962, S. 250 f.; Steinberg, RdA 1975, 99 (103 f.); Weller, ArbuR 1970, 161 (166). Gegen den Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG: Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT Bd. I, S. 113, 130 f.; ders., Grenzen der Tarifautonomie, S. 97; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 267; Nikisch, RdA 1967, 87 (87 f.; allerdings nur im Hinblick auf die Tarifausschlussklausel); so wohl auch Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 20. Für einen abgeschwächten Schutz Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 290. Siehe oben S. 139 Fn. 309. 328 BVerfG, Urt. v. 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 (101 f., 106); Urt. v. 6.5.1964, BVerfGE 18, 18 (26); Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 88; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 68; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 135; Sachs, Verfassungsrecht, B 9 Rn. 38; in diesem Sinne bereits zu Art. 159 WRV: RG, Urt. v. 2.7.1925, RGZ 111, 199; Sinzheimer, Grundzüge, S. 72 f., 85; zu Art. 11 EMRK siehe EGMR, Urt. v. 2.7.2002, ÖJZ 2003, 729 (730 Rn. 41); a. A. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 25 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 731; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1155; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 25; ders., Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, München 1971, S. 135 ff., 145 ff.; kritisch Bleckmann/Helm, DVBl. 1992, 9 (13); Epping, Grundrechte, Rn. 755.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Außenseiter ausüben wollen. Zwar gehört die gewerkschaftliche Mitgliederwerbung nach allgemeiner Ansicht zum Schutzbereich der Koalitionsfreiheit. 329 Das BAG hat anerkannt, dass ein ausreichender Mitgliederbestand auf freiwilliger Grundlage Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit der Gewerkschaft ist.330 Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass sekuritätspolitische Maßnahmen in Tarifverträgen – oder wie es der Große Senat des BAG ausgedrückt hat: tarifvertragliche Selbsterhaltungsmaßnahmen331 – von Art. 9 Abs. 3 GG umfasst werden. Auf den Punkt bringen lässt sich die Kritik am Schutz derartiger Maßnahmen durch die Formulierung von Bötticher hinsichtlich der durch § 1 TVG gestalteten Tarifmacht: „Aus diesem Zweck (Anm.: Herstellung der Lohngerechtigkeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern) ergibt sich aber zugleich die Schranke dagegen, dass die Tarifmacht einseitig von einem Tarifpartner zur Lösung von Problemen des eigenen Hauses beansprucht bzw. für seine Zwecke in Dienst genommen wird.“332 Nach Ansicht des BVerfG unterscheidet Art. 9 Abs. 3 GG nicht danach, ob es die Koalitionen unternehmen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unmittelbar oder nur mittelbar zu wahren und zu fördern.333 Dementsprechend muss es ausreichend sein, dass die tarifvertraglichen Abmachungen – wenn auch nur mittelbar – dem in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Koalitionszweck dienen, um der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Koalitionsbestandsgarantie zu unterfallen.334 Nachdem das BVerfG seine Kernbereichsrechtsprechung klargestellt/präzisiert bzw. geändert hat, unterfällt der Koalitionsfreiheit nicht allein die unerlässliche Koalitionsbetätigung,335 sondern die auf Verwirklichung des 329 BVerfG, Beschl. v. 30.11.1965, NJW 1966, 492 (492 f.); Beschl. v. 26.5.1970, BVerfGE 28, 295 (304 f.); Beschl. v. 14.11.1995, BVerfGE 93, 352; BAG, Beschl. v. 11.11.1968, AP Nr. 14 zu Art. 9 GG (Bl. 3) mit zust. Anm. von Rüthers; Arndt, in: FG für Kunze, S. 267; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 64; Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (294); Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 146 f. 330 BAG, Urt. v. 14.2.1967, BAGE 19, 217 (222); Urt. v. 2.6.1987, AP Nr. 49 zu Art. 9 GG (2 R). 331 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 16). 332 Bötticher, RdA 1966, 401 (402). 333 BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970, BVerfGE 28, 295 (305); BVerfG, Beschl. v. 30.11.1965, AP Nr. 7 zu Art. 9 GG (Bl. 4). 334 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 82 f.; Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (293); Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Abs. 3 Rn. 249; a. A. Säcker, Grundprobleme, S. 66, der allerdings im Ergebnis ebenfalls zum Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG kommt, in dem er die koalitionsfördernden Maßnahmen als Annex zur Koalitionsfreiheit begreift. Bereits das OLG Dresden, Urt. v. 1.2.1923, RABl. (Amtl. Teil) 1925, 286 (287), hat den Zusammenhang zwischen einer beschränkten Organisationsklausel, dem Mitgliederzuwachs und dem Einfluss der Gewerkschaft im täglichen Lohnkampf gesehen und deshalb als legitim eingestuft. 335 BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, BVerfGE 93, 352 (359 f.). Das BVerfG ist nicht von seinen bisherigen Überlegungen abgerückt (vgl. Gellermann, Grundrechte, S. 151;

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Zweckes des Art. 9 Abs. 3 GG gerichtete Koalitionsbetätigung in all ihren Facetten. Die Unerlässlichkeit der Koalitionsbetätigung kennzeichnet allein den Kernbereich, der einer verkürzenden Ausgestaltung durch den Gesetzgeber nicht zugänglich ist. Aus diesem Gesichtspunkt ergibt sich ein wesentlicher Schwachpunkt der Literaturmeinung, die organisationspolitische Maßnahmen aus dem Schutzbereich der Koalitionsbetätigung ausschließen möchte, da sie insbesondere nicht zum Koalitionsbestand unerlässlich seien. In diesem Zusammenhang wird auf Österreich verwiesen, dessen Arbeitnehmerschaft trotz prinzipieller Außenseiterwirkung der Tarifverträge einen höheren Organisationsgrad aufweist, als die Arbeitnehmerschaft in Deutschland.336 Diese Meinung ist in ihrer Argumentation allzu sehr auf den Kernbereich und den Schutz des koalitionsmäßig Unerlässlichen fixiert. Schließlich umfasst die Koalitionsfreiheit auch die Wahl der Koalitionsmittel; 337 es muss der Koalition überlassen bleiben, welches erlaubte Mittel sie zur Erreichung eines erlaubten Zweckes einsetzen will. Demgegenüber kann es nicht maßgebend sein, ob die Differenzierungsklauseln für den Bestand der Gewerkschaften unerlässlich sind und die Gewerkschaften ohne entsprechende Klauseln ernstlich gefährdet werden. Ein per-se-Ausschluss bestimmter Mittel wäre mit der Koalitionsbetätigungsfreiheit nicht vereinbar. Durch die Differenzierungsklauseln und dem mit ihnen unbestreitbar verbundenen Werbeeffekt wird die Mitgliederbasis der Gewerkschaften verbreitert. Hierdurch wird die Position der Gewerkschaftsseite gegenüber der Arbeitgeberseite effektiv gestärkt. Auch wenn grundlegende Untersuchungen zur Wirkung der Differenzierungsklauseln fehlen, gibt hierzu der bereits oben angesprochene Tarifvertrag der GTB Aufschluss. So konnte beispielsweise der Organisationsgrad der GTB – nach Abschluss des 1967 vom BAG GrS für MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 244 Rn. 54); in diesem Sinne bereits Rüthers, Das Recht der Gewerkschaften auf Information und Mitgliederwerbung im Betrieb, S. 44 ff. Demgegenüber wird in der Literatur vielfach angenommen, das BVerfG habe sein Verständnis vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG geändert: vgl. in diesem Sinne beispielsweise Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 118; Volkmann, in: Britz/Volkmann, Tarifautonomie, S. 26 („als ,Klarstellung‘ verbrämte Distanzierung“). Der EGMR stellt in seinem Urt. v. 2.7.2002, ÖJZ 2003, 729 (730 Rn. 44 f.), im Hinblick auf Art. 11 EMRK weiterhin auf das Unerlässlichkeitskriterium ab, um festzustellen, ob ein Staat die Koalitionsfreiheit ausreichend schützt; vgl. hierzu Zachert, ArbuR 2003, 370 (373). Insoweit leitet der EGMR – ähnlich wie das BVerfG – aus dem Kernbereich eine Schutz- und damit eine Handlungspflicht ab. 336 Floretta, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 125 f.; Mayer-Maly, BB 1965, 829 (834); Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 20. Vgl. zum Organisationsgrad im internationalen Vergleich Ebbinghaus, in: Schroeder/Weßels, Die Gewerkschaften, S. 196. Gegen eine Übertragbarkeit auf Deutschland Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 32. Siehe zu den Schwierigkeiten, die Unerlässlichkeit von Werbemaßnahmen für den Koalitionsbestand empirisch nachzuweisen Säcker, Grundprobleme, S. 138 ff. 337 BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (224 f.); Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 (368); Urt. v. 6.5.1964, BVerfGE 18, 18 (32); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 8 Rn. 12.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

rechtswidrig erklärten Tarifvertrags – von 20% auf 90% angehoben werden.338 Die durch die Mitgliederzahl implizierte soziale Mächtigkeit ist sogar nach ständiger Rechtsprechung des BAG eine Voraussetzung, um als tariffähige Koalition Tarifverträge abschließen zu können.339 Es wäre ein kurioses Ergebnis, soziale Mächtigkeit zu fordern und gleichzeitig hierauf abzielende Maßnahmen herabzusetzen und dem grundrechtlichen Schutz der Koalitionsbetätigung zu entziehen, indem die Verknüpfung von Maßnahme und Koalitionszweck als „halsbrecherische Konstruktion“340 bezeichnet wird. Wie das Beispiel gezeigt hat, besteht ein Zusammenhang zwischen der Mitgliederwerbung (im weitesten Sinne), der Mächtigkeit der Koalition und damit der Chance zur effektiven Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen i. S. v. Art. 9 Abs. 3 GG. In den USA besteht beispielsweise nach Darstellung von Goldman ein positiver Zusammenhang zwischen dem Organisierungsgrad in Folge einer union shop Klausel und dem Standard der Arbeitsbedingungen (Gehalt, Krankenversicherung).341 Einer „halsbrecherischen“ Überdehnung der Argumentation bedarf es gar nicht, um diese Kausalität herzustellen. Weiterhin bleibt bei einer – allein auf koalitionspolitische Fernziele gerichteten – Betrachtung unberücksichtigt, dass Differenzierungsklauseln in der Regel einen unmittelbaren positiven Effekt auf die individuellen Arbeitsbedingungen der von ihnen erfassten Arbeitnehmer haben. Schließlich werden die tarifgebundenen Arbeitnehmer durch den Tarifvertrag begünstigt, unabhängig vom Effekt auf die Außenseiter. Dass solche Maßnahmen „ausschließlich im sekuritätspolitischen Eigeninteresse der Koalitionen liegen“342, kann jedenfalls nicht behauptet werden; die zusätzliche Verfolgung von verbandspolitischen Fernzielen kann an der individualrechtlichen Wirkung zugunsten des einzelnen Gewerkschaftsmitglieds hingegen nichts ändern.343 Einzig die Tarifausschlussklausel hat keine 338 Vgl. die Angaben bei Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 116; einen ähnlichen Fall bei den Wuppertaler Stadtwerken beschreibt Lehna, DB 1959, 916 (917), wo eine Übergangszahlung dazu geführt hat, dass über 90% der Nichtorganisierten den Gewerkschaften beigetreten sind. 339 BAG, Beschl. v. 9.7.1968, AP Nr. 25 (Bl. 2 ff.), Beschl. v. 14.3.1978, AP Nr. 30 (Bl. 3 R f.), Beschl. v. 16.11.1987, AP Nr. 32 (Bl. 2 ff.), Beschl. v. 10.9.1985, AP Nr. 34 (Bl. 3 R), Beschl. v. 25.11.1986, AP Nr. 36 (Bl. 4 f.), Beschl. v. 16.1.1990, AP Nr. 38 (Bl. 2 R), Beschl. v. 16.1.1990, AP Nr. 39 (Bl. 2 R) zu § 2 TVG.; diese Rechtsprechung wurde durch BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981, BVerfGE 58, 233, bestätigt; kritisch hierzu Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 380 m. w. N. in Fn. 3. 340 Säcker, Grundprobleme, S. 63, unter Verweis auf Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 41. 341 Goldman, Labor and Employment Law, Rn. 631. 342 Säcker, Grundprobleme, S. 65. 343 In diesem Sinne auch Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 83; Musa, BB 1966, 82 (86); Nikisch, RdA 1967, 87 (87 f.); vgl. die ähnliche Problematik bei Tarifverträgen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute: Struck, Vertrauensleute, S. 76 f., 105; Zachert, BB 1976, 514 ff.; Wlotzke, RdA 1976, 80 ff.

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individuelle Begünstigung zur Folge; neben der Förderung der Koalition besteht der Bezug zum Einzelarbeitsverhältnis allein darin, dass aus der Sicht des organisierten Arbeitnehmers, der mit Gewerkschaftsbeiträgen belastet wird, ein Stück Lohngerechtigkeit durch die Ungleichbehandlung verwirklicht wird. Den Zusammenhang zwischen der „Schlagkraft“ der Koalition und den Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder verkennt Biedenkopf. Er geht von dem allgemeinen Grundsatz aus, dass Maßnahmen der Koalition, die dem Schutz der Arbeitnehmer dienen, durch Art. 9 Abs. 3 GG besonders geschützt sind und dadurch gegenüber sonstigem vereinsmäßigem Verhalten privilegiert sind.344 Weiterhin sieht er den Außenseiter nicht als Gefahr für die Stellung der Koalition an. Denn durch die Existenz nichtorganisierter Arbeitnehmer werde die Gewerkschaft nicht an der Erfüllung ihres Schutzzwecks – Schutz des Arbeitnehmers – gehindert. Dementsprechend versteht Biedenkopf die Differenzierungsklauseln nicht als Betätigung der Koalition im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG. Der Schutz gegen Korrosion sei nur mit Mitteln möglich, die auch anderen Verbänden im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG zustünden. Insbesondere seien vertragliche Absprachen am Kartellrecht – und dort vornehmlich an § 26 Abs. 1 GWB a. F. (entspricht § 21 Abs. 1 GWB n. F.) – zu messen.345 Gerade letzterer Vergleich mutet seltsam an, da Kartelle eher unerwünscht sind, wohingegen die kartellierende Wirkung von Tarifverträgen für den Arbeitsmarkt hervorgehoben und als der Intention des Art. 9 Abs. 3 GG entsprechend angesehen wird.346 Auch das BAG geht davon aus, dass Tarifverträge generell von § 1 GWB ausgenommen sind.347 Schließlich fehlt es an der Vergleichbarkeit von Koalitionen und anderen Verbänden. Während Verbände ihre Leistungen ihren Mitgliedern vorbehalten und damit werben können, stellen Koalitionen mit dem Abschluss von Tarifverträgen ein Gut bereit, das in der Regel ein kollektives im von Olson beschriebenen Sinn ist.348 Durch die Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen werden die Arbeitsbedingungen aller Arbeitnehmer gestaltet. Der Werbeeffekt, der von den gewerkschaftlichen Leistungen ausgeht, ist damit stark eingeschränkt. Weiterhin lässt Biedenkopf bei seiner Argumentation die oben beschriebene Wechselwirkung zwischen den Außenseitern, der Koalition und den Arbeitsbe344

Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 97 f. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 130 f.; ders., Grenzen der Tarifautonomie, S. 97 f.; ebenso Mayer-Maly, BB 1965, 829 (833 f.); für einen abgeschwächten Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 290. 346 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 157; Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 311 ff.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 84; ders., Kollektives Arbeitsrecht I, S. 499; Preis, Arbeitskampfrecht, § 8 Rn. 35; Richardi, Gutachten zum 61. DJT, Bd. I, S. B 41. 347 BAG, Urt. v. 27.6.1989, AP Nr. 113 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5 ff.); siehe auch unten S. 294 f. 348 Siehe oben S. 28. 345

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

dingungen der Koalitionsmitglieder außer Acht. Eine starke Koalition ist die Voraussetzung für die Durchsetzung eigener Interessen mittels eines Tarifabschlusses. Durch den Außenseiter wird die Stellung dadurch beeinflusst, dass sein Fernbleiben die Koalition schwächt. Diesem Zusammenhang trägt das BVerfG dadurch Rechnung, dass es die Gewerkschaftswerbung zum Kernbereich der Koalitionsbetätigung zählt.349 Die Werbung trägt zwar nicht unmittelbar zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bei, jedoch wirkt sie sich mittelbar – über die Stärkung der Gewerkschaft – auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen aus. Auf der anderen Seite betreibt der Außenseiter eine Antiwerbung dadurch, dass er Interessierte vom Eintritt in eine Gewerkschaft abhalten kann, genauso wie er Gewerkschaftsmitglieder zum Austritt anregen kann. Ein entsprechender Effekt tritt beispielsweise dann ein, wenn der Außenseiter den gleichen Arbeitsbedingungen unterworfen ist, wie die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer – z. B. in Folge einer Allgemeinverbindlicherklärung –, nur ohne die mit der Gewerkschaftszugehörigkeit verbunden Lasten zu tragen. Dementsprechend hat der Große Senat des BAG die Gefahr für den Bestand der Gewerkschaften gesehen und Differenzierungsklauseln unter dem Gesichtspunkt gewerkschaftlicher Selbsterhaltung betrachtet und als Teil der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsbetätigung angesehen.350 Diese Gefahr, die von einer Gleichbehandlung für den Bestand der Gewerkschaft ausgeht, erkennt Biedenkopf bei der Allgemeinverbindlicherklärung bzw. Bezugnahme von Betriebsvereinbarungen auf Tarifverträge, durch die jeder „Anreiz für die Arbeitnehmer beseitigt (wird), der Koalition beizutreten“351. Jedoch macht er diese Erkenntnis hinsichtlich der Gefahren, die von faktischer Gleichbehandlung durch den Arbeitgeber für die Gewerkschaften ausgehen, nicht fruchtbar. Vielmehr verkürzt er die Problematik auf die Frage: „Kann sich die Gewerkschaft zum Schutz vor organisationsunwilligen Arbeitnehmern ebenfalls auf das Verfassungsprivileg des Art. 9 Abs. 3 GG berufen, oder gelten für sie insoweit die gleichen Rechtsgrundsätze, wie für andere Organisationen mit Außenseiterproblemen, d.h. vor allem wie für Kartelle.“352 Fraglich ist, wo die Grenzen koalitionsgemäßen Verhaltens zu sehen sind. Schließlich kann nicht alles, was die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen wahrt und fördert, vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit umfasst sein. Auf die „Unerlässlichkeit“ der tarifvertraglichen Selbsterhaltungsmaßnahme für den 349 BVerfG, Beschl. v. 30.11.1965, NJW 1966, 491 (493); Beschl. v. 21.11.1980, AP Nr. 30a zu Art. 9 GG; Beschl. v. 17.2.1981, NJW 1981, 1829 (1830); ebenso BAG, Urt. v. 14.2.1978, AP Nr. 26 zu Art. 9 GG. 350 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 16, 23 f.); in diesem Sinne versteht auch Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 285, den Beschluss des GrS. 351 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 282. 352 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 97.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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Bestand der Koalition kann es jedenfalls nicht ankommen. Zum einen fehlt es an sozialempirischen Untersuchungen, um die Bedeutung von Differenzierungsklauseln für den Bestand der Koalitionen abseits bloßer Mutmaßungen verifizieren zu können. Die Untersuchung von Seitenzahl/Zachert/Pütz353 kann diese Lücke nicht ausfüllen, da die befragten Gewerkschaften nur in Ausnahmefällen praktische Erfahrungen mit Vorteilsregelungen gesammelt haben; das Verdikt der Differenzierungsklauseln durch den Großen Senat des BAG steht einer entsprechenden „Erprobung“ nachhaltig entgegen.354 Zum anderen kommt es nach aktueller Rechtsprechung des BVerfG auf die „Unerlässlichkeit“ einer Koalitionsbetätigung nicht an, um dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG zu unterfallen. Art. 9 Abs. 3 GG umfasst alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen. Für die Grenzen der Koalitionsfreiheit gibt das Wesen der Koalitionen selber Aufschluss. Art. 9 GG verkörpert das „Prinzip freier sozialer Gruppenbildung“355. In diesem Sinne ist bestimmendes Merkmal einer Vereinigung die „Freiwilligkeit“ ihres Zusammenschlusses. Nur freiwillige Zusammenschlüsse werden von Art. 9 GG erfasst. Eine koalitionsmäßige Betätigung, die bestrebt ist den Einfluss der Koalition zu vergrößern und damit mittelbar der Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen dient, kann nur dann grundrechtskonform sein, wenn das von ihr angestrebte Ziel seinerseits grundrechtskonform ist. Andererseits würde es zu widersprüchlichen Ergebnissen führen, würde eine Handlung aufgrund ihrer Zweckgerichtetheit unter den Schutz des Grundgesetzes gestellt, die Erreichung des Zweckes hingegen nicht. Ein Partei, die nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG demokratischen Grundsätzen entsprechen muss, kann nicht mit undemokratischen Mitteln versuchen, ihre Mitglieder an sich zu binden. In diesem Sinne muss eine Koalition bereits bei der Wahl ihrer Mittel die Freiwilligkeit achten.356 Dementsprechend kann der Koalitionszwang nicht von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt werden, oder um mit den Worten Sinzheimers zum nahezu wortgleichen Art. 159 WRV zu sprechen: „Art. 159 heiligt nicht den Organisationszwang. Er betrifft ihn nur nicht.“357 Jedenfalls der unmittelbare Organisationszwang muss dann, da er die Freiwilligkeit ausschließt, aus dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG herausfallen. Hierzu ist beispielsweise der – in der Weimarer Zeit gar nicht mal so seltene – Streik gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer zu zählen mit dem Ziel, ei353

Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder, Köln 1976. Auf diesen Umstand hat bereits Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 63, hingewiesen. 355 BVerfG, Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (303); Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 (353); Beschl. v. 15.6.1989, BVerfGE 80, 244 (252). 356 Ähnlich Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 95 f. 357 Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts, S. 82; ebenso Loewenheim, ZHR 1928, 51 (115 ff.). 354

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

nen un- oder andersorganisierten Kollegen zum Gewerkschaftsbeitritt zu bewegen oder seine Entlassung durch den Arbeitgeber zu erwirken.358 Problematischer ist hingegen die Bewertung des mittelbaren Organisationszwanges359. Bei diesem wird an die Organisationsmitgliedschaft ein Vorteil bzw. an das Fernbleiben ein Nachteil geknüpft, der den Betroffenen zum Eintritt in die Gewerkschaft bewegen soll. Hierzu werden teilweise auch Differenzierungsklauseln gerechnet, durch die der Arbeitgeber veranlasst wird, gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer und Außenseiter verschieden zu behandeln. Im Gegensatz zum unmittelbaren Organisationszwang schließt der mittelbare nicht ohne weiteres die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in der Koalition aus. Exemplarisch lässt sich hierfür der dem Differenzierungsklauselbeschluss des Großen Senats zugrunde liegende Fall anführen. Den Ausführungen des BAG GrS ist nicht zu entnehmen, dass eine Gefährdung der Gewerkschaftseigenschaft zu befürchten wäre, wenn Arbeitnehmer aufgrund der Benachteiligung in die GTB eintreten sollten. Ein die Freiwilligkeit ausschließenden Organisierungszwang wurde auch in der Literatur nicht angenommen. Die Unzulässigkeit bzw. Unzumutbarkeit entsprechender Maßnahmen ergibt sich erst aus einer Gesamtabwägung der kollidierenden Grundrechte. In diesem Sinne kann nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass Differenzierungsklauseln per se aus dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG herausfallen. Ein solches Vorgehen würde einer der Vielfältigkeit der Konfliktlagen und Motivationen gerecht werdenden Beurteilung allzu pauschalisierend entgegenstehen. Schließlich hebt auch der Große Senat des BAG hervor, dass ein legitimer und sozialadäquater Druck die negative Koalitionsfreiheit nicht verletzt; andererseits halten die Ausführungen zur Verletzung des Gerechtigkeitsempfinden offen, ob es nicht Differenzierungsklauseln gibt, die das Gerechtigkeitsempfinden der Nichtorganisierten nicht verletzen.360 Um der dogmatischen Klarheit Willen sollte die Trennung zwischen Tatbestand der Grundrechte und Eingriffsrechtfertigung aufrechterhalten werden. Das bedeutet, dass tarifvertragliche Maßnahmen, die der Selbsterhaltung der Gewerkschaft dienen, vom Schutzbereich der positiven Koalitionsfreiheit umfasst werden, unabhängig davon, ob sie im Einzelfall eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten zur Folge haben.

358 Vgl. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3.–5. Aufl., S. 519, sowie die Nachweise in Fn. 2 (S. 44). 359 Vgl. zu diesem Begriff Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 131 f.; ders., Grenzen der Tarifautonomie, S. 95 f.; gegen den Begriff „mittelbarer Zwang“ im Zusammenhang mit den Differenzierungsklauseln Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 84. 360 BAG, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R, 24 R f.); vgl. zur Reichweite des Beschlusses oben S. 114 f.

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(b) Lösung einer Grundrechtskollision Das alleinige Abstellen auf das Gerechtigkeitsempfinden der Nichtorganisierten führt zu dogmatischen Unstimmigkeiten. In den Ausführungen des Großen Senats fehlt es an jeglicher Berücksichtigung von Gegenpositionen zu den grundrechtlich geschützten Positionen der Nichtorganisierten. Es wird allein auf deren negative Koalitionsfreiheit abgestellt. Ob die tarifschließende Gewerkschaft ihrerseits geschützte Interessen verfolgt, findet keinen Eingang in die Abwägung. Insoweit wird der negativen Koalitionsfreiheit im Ergebnis ein Vorrang vor anderen Grundrechten eingeräumt; es wird geradezu ein Rangverhältnis der Grundrechte untereinander statuiert. Sicherlich besteht die Möglichkeit, im Rahmen der Ermittlung der Sozialadäquanz des fraglichen Verhaltens eine Abwägung zwischen den konfligierenden Grundrechten vorzunehmen, wie es teilweise in der Literatur angeregt wird.361 Auch Nipperdey hat seine ursprüngliche Auffassung von der Sozialadäquanz als Rechtfertigungsgrund 1967 dahingehend modifiziert, dass sie nunmehr als „positive(s) unrechtskonstituierende(s) Rechtswidrigkeitselement“ aufzufassen sei, wobei „eine rechtspolitische Entscheidung, das Resultat einer Güterabwägung“ zu treffen sei.362 Der Große Senat des BAG verzichtet dagegen auf eine entsprechende Abwägung unterschiedlicher Positionen, indem er einseitig auf das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter abstellt. Seine Feststellung, dass „alle Rechte und Freiheiten stets in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen“363, erscheint daher als Lippenbekenntnis ohne praktische Auswirkung innerhalb der Entscheidungsgründe. Insoweit ist der Beschluss des Großen Senats mit früheren (arbeitskampfrechtlichen) Entscheidungen vergleichbar, in denen ein Streik für sozialinadäquat und damit für rechtswidrig erklärt wurde, ohne das Recht am Unternehmen (als absolutes Recht im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB) mit dem Streikrecht abzuwägen.364 Zudem vermag das „Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter“ zur Klärung der Frage, wie ein Ausgleich zwischen den einzelnen betroffenen Interessen herbeizuführen ist, nichts beizutragen. Schließlich kann es nicht vom – subjektiven – Gerechtigkeitsempfinden einer der an der Auseinandersetzung (nicht) beteiligten Parteien abhängen, wessen Interessen in der konkreten Abwägungssituation überwiegen.

361 Bulla, RdA 1962, 6 (12); Neumann-Duesberg, ArbuR 1966, 289 (299); Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 231. 362 Nipperdey, NJW 1967, 1985 (1992, 1993); ebenso Nipperdey/Säcker, in: Hueck/ Nipperdey, 7. Aufl., Arbeitsrecht, Bd. II/2, S. 1002 f.; vgl. allgemein hierzu Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 453. 363 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 23 R); kritisch hierzu Kriebel, Zentralisation und Dezentralisation, S. 78. 364 Vgl. BAG, Urt. v. 20.12.1963, AP Nr. 32 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 10); siehe zur Kritik hieran Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 450.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Das von einer Seite als ungerecht empfundene Verhalten mag im Einzelfall schutzwürdiger sein als das als gerecht empfundene. Wie die obigen Ausführungen deutlich gemacht haben, werden Differenzierungsklauseln – unabhängig von ihrer sekuritätspolitischen Wirkung – von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Bei einer Kollision von Grundrechten muss nach allgemeiner Grundrechtsdogmatik ein Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz gefunden werden. Für Konflikte zwischen der negativen und der positiven Koalitionsfreiheit bestehen keine Ausnahmen.365 Die praktische Konkordanz setzt aber einen schonenden Ausgleich zwischen den einzelnen grundrechtlich geschützten Positionen voraus. Dabei müssen die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung und das Gewicht der entgegenstehenden Rechtsgüter im jeweiligen Sachverhalt gegeneinander abgewogen werden.366 Ziel dieses Ausgleichs muss es sein, die optimale Verwirklichung beider Rechte – im vorliegenden Zusammenhang: der positiven Koalitionsfreiheit der Koalition und der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten – zu ermöglichen. (4) Ergebnis Der Begriff der Sozialadäquanz, auf den der Große Senat des BAG die Unzulässigkeit von Differenzierungsklauseln zurückführt, ist abzulehnen. Er verschleiert mehr als dass er erklärt und führt im Ergebnis dort, wo er mehr als ein bloßer Sammelbegriff für rechtmäßiges Verhalten ist und quasi ein Eigenleben entwickelt, zu einer undurchsichtigen Orientierung an einem nicht näher verifizierten „Gerechtigkeitsempfinden“ mit der Gefahr, das eigene Empfinden des Richters zum Maß der Dinge zu machen. Interessanterweise hat selbst das BAG 1967 festgestellt, dass es der Sozialadäquanz an der erforderlichen Bestimmtheit fehlt: „Das Gebot der Rechtssicherheit wäre verletzt, wenn der Begriff der Sozialadäquanz als die einzige Anspruchsgrundlage (Anm.: für die Werbetätigkeit der Gewerkschaft im Betrieb) herangezogen würde.“367 Aus diesem Grund sollte an die Stelle der „Sozialadäquanz“ die Frage nach der „Er365 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 150; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 38; Scholz, Anm. zu BAG AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG (Bl. 10 R); ähnlich bereits Säcker, Grundprobleme, S. 19 Fn. 12, 132 ff. Anders die Ansicht von Leventis, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 44, nach der eine Abwägung wegen Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht möglich ist. 366 BVerfG, Beschl. v. 26.5.1970, BVerfGE 28, 243 (260 f.); Beschl. v. 14.11.1995, BVerfGE 93, 352 (359 f.); Beschl. v. 24.2.1998, BVerfGE 100, 214 (222); BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 6), Nr. 47 zu Art. 9 GG (Bl. 6 R f.) mit zust. Anm. v. Scholz (Bl. 10 R); Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 564 f.; Hromadka/ Maschmann, Arbeitsrecht Bd. 2, § 12 Rn. 44; Säcker, Grundprobleme, S. 133; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 III Rn. 249. Vgl. zur praktischen Konkordanz Epping, Grundrechte, Rn. 81 ff. 367 BAG, Urt. v. 14.2.1967, BAGE 19, 217 (221) = AP Nr. 10 zu Art. 9 GG; nach Klein, Koalitionsfreiheit, S. 66 Fn. 80 und Reuß, ArbuR 1972, 193 (201 Fn. 67), wird

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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heblichkeit des Drucks zum Koalitionsbeitritt“ treten, wie es auch der Rechtsprechung des BVerfG entspricht; erst ein rechtlich relevanter Druck kann eine Interessenabwägung im Rahmen der Rechtfertigung erfordern.368 „[Allein] die Tatsache, dass Organisierte anders behandelt werden als Nichtorganisierte, bedeutet noch keine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit.“369 Bedauerlicherweise hat das BAG in seinen Urteilen zu den Vorruhestandstarifverträgen sich noch nicht endgültig von der Sozialadäquanz gelöst, auch wenn der Begriff sich wohl im vorgenannten Sinne gewandelt hat. Indirekt lebt der Begriff allerdings weiter, da fortlaufend auf den Beschluss des BAG GrS aus dem Jahre 1967 verwiesen wird. Die Loslösung vom Merkmal der Sozialadäquanz bedeutet noch nicht, ein bestimmtes Ergebnis vorwegzunehmen. Ob sich in der Sache etwas ändert, muss der einzelne Fall zeigen. Die hierdurch gewonnene dogmatische Klarheit ermöglicht es, zu einer – gemäß der allgemeinen Grundrechtsdogmatik vorzunehmenden – Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Positionen zu gelangen, soweit eine Kollision von Grundrechten vorliegt. Erst danach lässt sich die Frage beantworten, ob der Druck zum Gewerkschaftsbeitritt rechtswidrig oder gerechtfertigt und damit rechtmäßig ist. bb) Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten Nachdem die Rechtsprechung des BAG GrS einer kritischen Prüfung unterzogen wurde und sich die Begründung des Beschlusses als nicht tragfähig erwiesen hat, stellt sich nun die Frage, ob Differenzierungsklauseln tatsächlich die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten verletzen. Dabei werden im Folgenden Tarifausschlussklauseln und Abstandsklauseln getrennt behandelt, auch wenn teilweise vertreten wird, dass ihre Wirkung nahezu identisch sei.370 Dies ist zwar insoweit richtig, als bei beiden Varianten von Differenzierungsklauseln der Außenseiter gegenüber dem gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer benachteiligt wird, indem ein Teil des Tarifvertrags zum Exklusivgut wird. Ihre rechtlichen Ausgestaltungen und ihre tatsächlichen Wirkungen sind jedoch grundlegend unterschiedlich, was allein dadurch zum Ausdruck kommt, dass hieran deutlich, dass dem BAG mittlerweile Zweifel an der Sozialadäquanz gekommen sind. 368 Gamillscheg, BB 1988, 555 (556); Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 163 Fn. 39. Im Hinblick auf Differenzierungsklauseln ausdrücklich Kriebel, Zentralisation und Dezentralisation, S. 78; A. Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 363; Steinberg, RdA 1975, 99 (102). 369 BVerfG, Beschl. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302). 370 Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 17; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 74.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Tarifausschlussklauseln dem schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags zugerechnet werden, wohingegen Abstandsklauseln auch normativ vereinbart werden können. (1) Einfache Differenzierungsklauseln Ob der Große Senat des BAG in seinem Beschluss etwas über die Zulässigkeit der einfachen Differenzierungsklauseln ausgesagt hat, wird nicht einheitlich beurteilt. Dafür, dass sich der Beschluss auf sämtliche Differenzierungsklauseln bezieht, könnte anzuführen sein, dass der Große Senat ganz allgemein von „an die Mitgliedschaft anknüpfenden Normen“ spricht.371 Nach Darstellung von Säcker hat der Präsident des BAG 1968 in einem Seminar in Köln den Beschluss dahingehend interpretiert, dass lediglich die qualifizierten Differenzierungsklauseln verworfen worden seien.372 Der wohl überwiegende Teil der Literatur versteht den Beschluss in diesem Sinne.373 (a) Allgemeines Bei den einfachen Differenzierungsklauseln ist zwischen zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden: Zum einen können diese Klauseln vereinbart werden mit dem Inhalt, dass eine bestimmte Vergünstigung nur für gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer gilt. Dann bringen sie nur das zum Ausdruck, was nach § 3 TVG ohnehin geltendes Recht ist. Insoweit bestehen in der Literatur im Hinblick auf die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter keine Bedenken gegen die einfachen Differenzierungsklauseln.374 Ihre Bedeutung haben diese Klauseln bei der Verteilung von Leistungen mittels Gemeinsamer Einrichtungen, bei denen der Arbeitgeber nicht ohne weiteres die Differenzierung ausgleichen kann375, sowie im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE). Denn eine 371 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 25). Siehe zur materiellen Reichweite des Beschlusses oben S. 114 f. 372 Säcker, Grundprobleme, S. 129 f. Fn. 323. 373 Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (6); Hromadka, NJW 1970, 161 (162); Säcker, Grundprobleme, S. 130; Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 14; Stahlhacke, ArbRGeg 11 (1973), S. 21 (23 Fn. 9); a. A. Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (89); offen gelassen von Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 172 Fn. 77. 374 Gumpert, BB 1960, 100 (102); Hessel, DB 1960, 208; Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 76; Säcker, Grundprobleme, S. 130, 150; Söllner, Grundriß des Arbeitsrechts, 12. Aufl. 1998, S. 70; Stahlhacke, ArbRGeg 11 (1973), S. 21 (23). Ob Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 819 f., zu einem anderen Ergebnis kommen würden, da sie auf jeglichen Beitrittsdruck verzichten und allein auf die Diskriminierung abstellen, ist nicht eindeutig zu beantworten.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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„alles gleichmachende“ AVE schließt den Werbeeffekt des Tarifvertrags aus und hat für die Gewerkschaft dementsprechend nachteilige organisationspolitische Folgen. Dies zeigt sich besonders daran, dass Differenzierungsklauseln von Gewerkschaften in solchen Branchen gefordert wurden, in denen die AVE weit verbreitet war.376 Wenn demgegenüber die Differenzierung die AVE „überlebt“, fehlt es an einer automatischen Erstreckung der normativen Wirkung. Der Anreiz des Tarifvertrags bleibt dann bestehen. Allerdings bleibt eine individualvertragliche Angleichung der einzelnen Leistungen stets möglich. Allein unter der Annahme, dass die tarifliche Leistung die Grenze des arbeitgeberseitigen Leistungsvermögens darstellt, kann der einfachen Differenzierungsklausel die Wirkung einer Tarifausschlussklausel zukommen. Dann wird im Ergebnis eine allgemeine Leistung durch Tarifvertrag faktisch zu einer exklusiven Leistung für koalierte Arbeitnehmer.377 Zum anderen kann der Tarifvertrag die Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit als Bezugspunkt für die Höhe einer bestimmten Leistung auswählen. Dann handelt es sich um ein leistungsunabhängiges Merkmal, vergleichbar der Dauer der Betriebszugehörigkeit. Diese Gestaltungsmöglichkeit ist nicht nur für die AVE relevant, sondern auch für die einzelvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag. Schließlich ist es nicht eindeutig zu beurteilen, in welchem Sinne der Tarifvertrag auf das Einzelarbeitsverhältnis Anwendung findet.378 Während bei einer einfachen Differenzierungsklausel, die bloß die Wirkung des § 3 Abs. 1 TVG unterstreicht, aber nicht konstitutiv individualrechtliche Ansprüche gewährt, von dem übereinstimmenden Willen der Arbeitsvertragsparteien ausgegangen werden kann, den Tarifvertrag auf Außenseiter anzuwenden und das Tatbestandsmerkmal „Gewerkschaftszugehörigkeit“ abzudingen, ist dies bei einem qualifizierten Tatbestandsmerkmal nicht ohne weiteres möglich. Mit welchem Inhalt soll ein Tarifvertrag, der bestimmte Ansprüche nach der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit staffelt,379 für den Außenseiter gelten? Eine Vertragsauslegung, wonach der Arbeitgeber mit der Verweisung auf den Tarifvertrag die Gleichstellung von tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern bezweckt380, führt in diesen Fällen nicht weiter. Hier wird wohl eine ausdrückliche oder konkludente Parteiabrede erforderlich sein, um eine Anwen375

Hanau, NJW 1970, 161 (162); vgl. hierzu oben S. 41 ff. Vgl. Franzen, RdA 2001, 1 (10); Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 115 ff. 377 Siehe hierzu die Rechtsprechung zu den Vorruhestandsregelungen, S. 159 ff. 378 Vgl. Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 15 Fn. 19. 379 Siehe beispielsweise den „Tarifvertrag über besondere Alters- und Invalidenbeihilfen im Baugewerbe vom 10. August 1962–30. Oktober 1964 in der Fassung vom 9. September 1965; abgedruckt bei Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 111 ff. In diesem Tarifvertrag bestimmt sich die Höhe der Sonderbeihilfe nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit und zusätzlich nach der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit. 376

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

dung zu begründen. Da eine solche Gleichstellungsabrede aber stets möglich ist, kommt diesem Typ der einfachen Differenzierungsklausel nicht die (faktische) Wirkung einer qualifizierten Differenzierungsklausel zu, sodass unter diesem Gesichtspunkt gegen ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit keine Bedenken bestehen.381 (b) Allgemeinverbindlicherklärung Die Möglichkeit zur AVE wird nicht von der negativen Koalitionsfreiheit geschützt; der Nichtorganisierte hat keinen grundrechtlich geschützten Anspruch darauf, dass er mittels der AVE mit dem Gewerkschaftsangehörigen gleich zu stellen sei, ohne einer Gewerkschaft beitreten zu müssen. Eine derartige Forderung wurde auch – soweit ersichtlich – noch nicht erhoben, ging doch die Diskussion in die entgegengesetzte Richtung. Denn umstritten war – und ist zum Teil auch heute noch –, ob die negative Koalitionsfreiheit auch davor schützt, dass das Arbeitsverhältnis der Nichtorganisierten durch einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gestaltet wird.382 Dementsprechend braucht an dieser Stelle nicht geklärt werden, ob die Differenzierungsklausel die AVE des Tarifvertrags zu verhindern vermag. Bei der Betrachtung der Tarifmacht der Koalitionen wird auf die AVE zurückzukommen sein. Entscheidender für die Position der Außenseiter ist in diesem Zusammenhang, ob die einfache Differenzierungsklausel die AVE überdauert. Selbst wenn man dies im Ergebnis bejaht, ergeben sich im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit keine Besonderheiten. Denn bezüglich der betroffenen tariflichen Leistung wird der Nichtorganisierte von der normativen Wirkung des Tarifvertrags ausgeschlossen, sodass die AVE ihm gegenüber im Ergebnis hinsichtlich dieses speziellen Punktes keine Wirkung entfaltet. Es besteht dann zwar eine Divergenz im Leistungsanspruch zwischen gewerkschaftsangehörigen und nichtgewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern. Der Arbeitgeber kann jedoch – ohne nachteilige wirtschaftliche Folgen fürchten zu müssen – beide Gruppen gleich 380

BAG, Urt. v. 26.9.2001, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifverträge; Urt. v. 20.3.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 5); Urt. v. 23.1.1997, AP Nr. 23 zu § 1 BetrAVG Ablösung; allgemein zur arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf den Tarifvertrag Schliemann, ZTR 2004, 502 ff.; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193 ff.; siehe kritisch zu dieser Rechtsprechung Annuß, ArbuR 2002, 361 ff.; Lambrich, BB 2002, 1267 ff., jeweils m. w. N. Stahlhacke, ArbRGeg 11 (1974), S. 21 (23), betont die Auslegung des einzelnen Arbeitsvertrags, um zu ermitteln, mit welchem Inhalt der Tarifvertrag für die Außenseiter trotz einfacher Differenzierungsklausel gilt. 381 Säcker, Grundprobleme, S. 130, 150; im Ergebnis wohl auch Wiedemann, RdA 1969, 321 (335), der darauf hinweist, dass der Tarifvertrag auch an nichtleistungsbezogene Eigenschaften wie Dauer der Betriebszugehörigkeit oder unterhaltspflichtige Kinder anknüpfen darf (anders aber ders., SAE 1969, 265 [267]). 382 BVerfG, Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (22); siehe hierzu oben S. 84, 92.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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behandeln. Die AVE führt damit nicht zu einer qualitativen Änderung der einfachen Differenzierungsklauseln. Aus diesem Grund ist es hinsichtlich einer etwaigen Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit unerheblich, wie sich die einfachen Differenzierungsklauseln bei einer AVE verhalten. Ebenso kann an dieser Stelle unentschieden bleiben, ob die Gewerkschaften verpflichtet sind, Tarifverträge zu schaffen, die für allgemeinverbindlich erklärt werden können.383 (c) Die Rechtsprechung zu den Vorruhestandsregelungen und die Verantwortung der Gewerkschaften für die Situation der Außenseiter Dass trotz des zuvor festgestellten eindeutigen Ergebnisses die Auseinandersetzung mit den einfachen Differenzierungsklauseln nicht zu Ende sein kann, hängt mit der Rechtsprechung des BAG zu den Vorruhestandsregelungen in Tarifverträgen zusammen. Das BAG hat sich in mehreren Urteilen mit der Zulässigkeit bestimmter Vorruhestandstarifverträge befasst.384 Diese Rechtsprechung ist für die Frage nach der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln bedeutsam, da sie zum einen auf dem Beschluss des Großen Senats des BAG vom 29.11.1967 aufbaut und zum anderen der Problematik der Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit neue Facetten hinzufügt, die bei konsequenter Anwendung Folgen für das gesamte Tarifrecht haben können. Diesen Urteilen lagen vergleichbare Sachverhalte zugrunde. Durch das Vorruhestandsgesetz (VRG)385 sollte es Arbeitnehmern ermöglicht werden, nach 383

Siehe hierzu unten S. 236 ff. BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46, Nr. 47 zu Art. 9 GG; bestätigt durch Urt. v. 3.6.1987, 4 AZR 573/86, (n. v.), JURIS, Dok.-Nr.: KARE312980333. 385 Gesetz zur Förderung von Vorruhestandsleistungen vom 13. April 1984 (BGBl. I, S. 601 ff.); vgl. allgemein hierzu Henrich, ArbRGeg Bd. 24 (1987), 19 ff.; Grüner/ Dalichau, Vorruhestandsgesetz/Altersteilzeitgesetz; Siegers, NZA 1984, 7 ff. § 1 Vorruhestandsgesetz (1) Die Bundesanstalt für Arbeit (Bundesanstalt) gewährt Arbeitgebern Zuschüsse zu den Aufwendungen für Vorruhestandsleistungen an Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet und ihre Erwerbstätigkeit beendet haben. (2) . . . § 2 Vorruhestandsgesetz (1) Der Anspruch auf den Zuschuß setzt voraus, daß 1. der Arbeitgeber auf Grund eines Tarifvertrags, einer Regelung der Kirchen und der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften oder einer Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer a) dem ausgeschiedenen Arbeitnehmer Vorruhestandsgeld in Höhe von mindestens 65 vom Hundert des Bruttoarbeitsentgelts im Sinne des § 3 Abs. 2 gezahlt hat und 384

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Vollendung des 58. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, um dadurch Arbeitslosen oder Jugendlichen nach ihrer Ausbildung den Berufseinstieg zu erleichtern. Das vom Arbeitgeber zu zahlende Vorruhestandsgeld wurde von der damaligen Bundesanstalt für Arbeit gemäß § 3 VRG mit 35% bezuschusst, soweit die entsprechenden Voraussetzungen des VRG vorlagen. Insbesondere war eine individuelle Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer erforderlich. Gemäß § 2 Abs. 1 VRG konnte jedoch durch Tarifvertrag ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Abschluss einer entsprechenden Vorruhestandsvereinbarung statuiert werden, wobei durch § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG eine Höchstbelastungsgrenze von 5% festgelegt wurde: Durch Tarifvertrag konnte bis zu 5% der Arbeitnehmer des jeweiligen Betriebes ein (einklagbarer) Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber gewährt werden. Über diese Zahl hinaus musste der Arbeitgeber in seiner Entscheidung frei bleiben. Bis Ende März 1986 waren beim Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung 389 Vorruhestandstarifverträge registriert.386 Von der IG Chemie-Papier-Keramik bzw. der GTB wurden entsprechende Tarifverträge abgeschlossen, wobei erstere den Anspruchsrahmen des VRG voll ausschöpfte387, während die GTB sich auf 2% der Arbeitnehmer beschränkte388. Insbesondere b) Vorruhestandsgeld bis zum Ablauf des Kalendermonats zu zahlen hat, in dem der ausgeschiedene Arbeitnehmer das 65. Lebensjahr vollendet, längstens bis zum Ablauf des Kalendermonats vor dem Monat, von dem ab der ausgeschiedene Arbeitnehmer Altersruhegeld vor Vollendung des 65. Lebensjahres, Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Bezüge öffentlich-rechtlicher Art beanspruchen kann, 2.–3. . . . 4. die freie Entscheidung des Arbeitgebers bei einer über 5 vom Hundert der Arbeitnehmer des Betriebes hinausgehenden Inanspruchnahme sichergestellt ist oder eine Ausgleichskasse der Arbeitgeber oder eine gemeinsame Einrichtung besteht, wobei beide Voraussetzungen in Tarifverträgen verbunden werden können; . . . 5. . . . (2–4) . . . 386 Lukas/Thon, NZA 1986, 772 (Fn. 2); Neumann, in: FS für Karl Molitor, 1988, S. 249, spricht 1988 von 250 Vorruhestandstarifverträgen. 387 Tarifvertrag über Vorruhestand und Alters-Teilzeit vom 1.3.1985 § 3 Ausschluss des Anspruchs Der Anspruch auf Abschluss einer Vorruhestandstarifvereinbarung oder eines Teilzeitarbeitsvertrages ist ausgeschlossen, a) wenn und solange 5% der ArbN des Betriebes von einer Alters-Teilzeitarbeitsregelung oder einer Vorruhestandsregelung Gebrauch machen oder diese Grenze durch den Abschluß des Teilzeitarbeitsvertrages oder der Vorruhestandsvereinbarung überschritten werden würde . . . § 4 Vorrang mehrerer Beschäftigter Soweit die 5%-Grenze nach § 3 dadurch erreicht oder überschritten werden würde, daß mehrere ArbN Anträge stellen, haben Vorrang die ArbN, die einem früheren Geburtsjahrgang angehören, bei gleichem Geburtsjahrgang die ArbN mit längerer Betriebszugehörigkeit, bei gleichem Geburtsjahrgang und gleicher Betriebszugehörigkeit die älteren. Andere Auswahlkriterien finden keine Anwendung. 388 Vorruhestandstarifvertrag für die Textilindustrie des Landesteils Nordrhein des Landes NRW sowie das Gebiet der Stadt Schwelm vom 13.6.1984:

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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an § 2 des Tarifvertrags der GTB wird deutlich, dass nach Ausschöpfen des Anspruchsrahmens weiterhin Vorruhestandsvereinbarungen zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitnehmern auf freiwilliger Basis möglich waren. Zum Streitfall wurde die Frage, wie die Grenze der Vorruhestandsberechtigten von 2% bzw. 5% der Arbeitnehmer des Betriebs zu berechnen ist. Nach den Ausführungen der Kläger und nach teilweise in der Literatur vorgebrachter Ansicht sollte zunächst auf die Gesamtarbeitnehmerzahl abgestellt werden, um die Gesamtzahl der Vorruhestandsberechtigten zu erhalten; für die Ausschöpfung des Anspruchsrahmens von 2% bzw. 5% sollten hingegen allein die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer zu berücksichtigen sein, da lediglich sie – gemäß § 3 Abs. 1 TVG – aus dem Vorruhestandstarifvertrag berechtigt werden können; nur ihnen gegenüber kann eine tarifvertragliche Verpflichtung des Arbeitgebers begründet werden.389 Hiergegen wird vorgebracht, dass die jeweiligen Tarifverträge in ihrem Wortlaut nicht zwischen organisierten Arbeitnehmern und Außenseitern unterscheiden. Eine Ansicht, die in den Tarifvertrag die Gewerkschaftszugehörigkeit als anspruchsbegründendes Merkmal für den Vorruhestand hineinlese und dementsprechend den Rahmen von 2% bzw. 5% der Arbeitnehmer des Betriebs nur mit tarifgebundenen Arbeitnehmern ausschöpfe, habe zur Folge, dass Arbeitnehmer, die der tarifschließenden Gewerkschaft angehörten, wesentlich bessere Chancen auf den Vorruhestand hätten als die übrigen Arbeitnehmer. Denn es müsse davon ausgegangen werden, dass die Prozentzahlen in den Tarifverträgen die wirtschaftliche Belastungsgrenze der Ar-

§ 2 Anspruchsvoraussetzungen 1. . . . 2. Der ArbN hat Anspruch auf eine Vorruhestandsregelung, soweit durch die Inanspruchnahme die Grenze von 2% der ArbN des Betriebes gem. § 2 Abs. 1 Ziff. 4 VRG nicht überschritten wird . . . Über diesen Anspruchsrahmen hinausgehende Vorruhestandsregelungen bedürfen einer Vereinbarung. § 3 Beendigung des Arbeitsverhältnisses 1. Der ArbN hat dem ArbGeb. die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung möglichst frühzeitig, spätestens 3 Monate vor dem beabsichtigten Ausscheidungszeitpunkt, anzukündigen. ArbGeb. und ArbN sollen sich über den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses einigen. 2. Kommt keine Einigung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zustande, so kann der ArbN unter Einhaltung der für ihn maßgeblichen Kündigungsfrist durch einseitige Erklärung gegenüber dem ArbGeb. in den Vorruhestand eintreten, wenn dadurch der Anspruchsrahmen nach § 2 Ziff. 2 nicht überschritten wird. 389 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1189; Koberski/Ansey, NZA 1986, 409 (411); Lukas/Thon, NZA 1986, 772 (775 f.). Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (4 f.), möchte darüber hinausgehend alle die Arbeitnehmer berücksichtigen, denen der Arbeitgeber aufgrund von Tarifverträgen oder individualvertraglichen Bezugnahmen auf diese zur Vorruhestandsgewährung verpflichtet ist. Schließlich sei er allen diesen Arbeitnehmern gegenüber nicht mehr „frei“ i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG. Einschränkend Henrich, ArbRGeg Bd. 24 (1987), 19 (31 ff.), der diese Vorgehensweise nur unter der Prämisse befürwortet, dass die Höchstzahl der Anspruchsberechtigten unter 5% bleibt.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

beitgeber angebe, über die hinaus eine das Unternehmen finanziell belastende Vorruhestandsvereinbarung nur ausnahmsweise abgeschlossen werden könne. Würden die Vorruhestandsvereinbarungen mit den Tarifaußenseitern nicht auf den tariflichen Anspruchsrahmen angerechnet, würde der Arbeitgeber nur noch in seltenen Fällen Vereinbarungen mit den Außenseitern schließen. Die von der Gegenansicht vorgenommene (gewerkschaftsfreundliche) Auslegung führe deshalb dazu, dass die Vorruhestandstarifverträge mit den Rechten der Außenseiter zwangsläufig kollidierten. Dementsprechend stelle die entsprechende Tarifklausel in ihrer faktischen Wirkung eine Differenzierungsklausel dar. Insbesondere wird in der (wirtschaftlichen) Benachteiligung der Außenseiter ein Druck zum Gewerkschaftsbeitritt gesehen, der die negative Koalitionsfreiheit verletzt.390 Die untergerichtlichen Instanzen fanden zu keiner einheitlichen Linie. Das ArbG Weiden urteilte, dass bei der Höchstzahl der Vorruhestandsberechtigten von 2% nur tarifgebundene Arbeitnehmer zu berücksichtigen seien.391 Das ArbG Mönchengladbach392 wie auch das LAG Düsseldorf393 kamen zu der entgegengesetzten Entscheidung, indem sie zur Auffüllung des 2%igen Berechtigungsrahmens auf alle Arbeitnehmer des Betriebs rekurrierten, mit denen Vorruhestandsvereinbarungen getroffen wurden. Bedeutsam an den beiden Urteilen des BAG ist nicht unbedingt das gefundene Ergebnis – dieses lässt sich mit guten Gründen verteidigen394 –, sondern die dogmatische Begründung. Dementsprechend fällt auch die Einschätzung von Scholz aus, wonach die beiden Entscheidungen richtungsweisend für die verfassungsrechtliche Interpretation von positiver und negativer Koalitionsfreiheit sind.395 Aus den Erwägungen des BAG lassen sich Folgerungen für die Beurteilung von (einfachen) Differenzierungsklauseln ziehen. Zentrales Anlie390 Andresen/Kuhn, in: Andresen/Barton/Kuhn/Schenke, Vorruhestand, 4. Teil Rn. 31, 34; Gamillscheg, BB 1988, 555 (556); Neumann, in: FS für Karl Molitor, 1988, S. 252 ff.; Rolfs/Clemens, SAE 2002, 295 (297) (im Hinblick auf die gleichgelagerte Problematik des § 3 AZG); Schmidt, NZA 1986, 625 (627); Scholz, Anm. zu BAG AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG, Bl. 10 f.; Schüren, RdA 1988, 138 (146); Söllner, DB 1986, 2435 (2437); Weber, SAE 1988, 212 (214); ähnlich, wenn auch in anderem Zusammenhang, Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 57 f. 391 ArbG Weiden, Urt. v. 26.6.1985, NZA 1985, 667 f.; vgl. zu weiteren unveröffentlichten Urteilen Schmidt, NZA 1986, 625 (626 Fn. 2), und Lukas/Thon, NZA 1986, 772 (773 Fn. 6). 392 ArbG Mönchengladbach, Urt. v. 19.6.1985, NZA 1985, 665 f. 393 LAG Düsseldorf, Urt. v. 31.7.1985, BB 1986, 393 ff. 394 Vgl. beispielsweise die Argumentation von Gamillscheg, BB 1988, 555 ff., der auf die gerechte Verteilung von Steuermitteln hinweist, mit denen der Vorruhestand gefördert wird („Bei der Verwendung des Geldes muss Gleichbehandlung herrschen.“), sowie auf den Zweck des VRG, frei gewordene Stellen neu zu besetzen. Diesem Zweck müsse es aber widersprechen, wenn ein gewerkschaftsangehöriger Arbeitnehmer bevorzugt werde, auch wenn sein Arbeitsplatz nach seinem Ausscheiden wegfalle; ebenso Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 121. A. A. Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 284.

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gen des BAG ist die Wahrung der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter. Das Bemerkenswerte an den Urteilen ist dementsprechend, wie das BAG zu einer Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit und damit zu einer den qualifizierten Differenzierungsklauseln vergleichbaren Wirkung gelangt. Schließlich war es den Außenseitern nicht verwehrt, mit dem Arbeitgeber den Vorgaben des VRG entsprechende Vorruhestandsvereinbarungen zu treffen.396 Im Gegensatz zu den Tarifausschlussklauseln war der Arbeitgeber hieran durch den Vorruhestandstarifvertrag nicht gehindert; auch drohten keine wirtschaftlichen Folgewirkungen wie bei den Abstandsklauseln. Soweit der Arbeitgeber über den im Tarifvertrag vorgesehen Belastungsrahmen hinaus freiwillig Vorruhestandsvereinbarungen schließen wollte, wurden diese in gleicher Weise von der Bundesanstalt für Arbeit mit 35% bezuschusst. Anders als die Tarifverträge der GTB, die 1967 zu der Entscheidung des BAG GrS geführt haben, erwähnen die Vorruhestandstarifverträge die Außenseiter überhaupt nicht. Aus diesem Grund verlässt das BAG das rein formalrechtliche Terrain, wenn es die wirtschaftliche Potenz des Arbeitgebers in seine Erwägungen einbezieht. Dieser Zwischenschritt ist notwendig, um zu erklären, wie das BAG von einer gewöhnlichen Tarifklausel zu einer (faktischen) Tarifausschlussklausel gelangt; nach Ansicht von Dorndorf stellt dieses Vorgehen eine „Entdeckung“ dar, die ohne Vorbild in Rechtsprechung und Literatur ist.397 Denn erst unter der Prämisse, dass die zahlenmäßige Obergrenze für Ansprüche auf Vorruhestand im Tarifvertrag die Grenze der arbeitgeberseitigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit markiert, können sich durch den Tarifvertrag nachteilige Auswirkungen auf die Position der Außenseiter ergeben. Folge hiervon ist nach Darstellung des BAG, dass der Außenseiter zwar die rechtlichen, nicht aber die tatsächlichen Möglichkeiten hat, Vorruhestandsvereinbarungen zu treffen. „Damit ist den anders und nicht organisierten Arbeitnehmern, wenn sich genügend organisierte Arbeitnehmer zur Ausfüllung des tariflichen Anspruchsrahmens für den Vorruhestand bewerben, der Eintritt in den Vorruhestand praktisch verwehrt oder doch zumindest erheblich erschwert. Dies stellt einen sozial inadäquaten Druck auf die Arbeitnehmer dar, der vertragsschließenden Gewerkschaft beizutreten.“398 Das BAG hat diese Rechtsprechung 2001 indirekt bestätigt.399 In einer Entscheidung zu den Altersteilzeitverträgen stellte sich eine mit den Vorruhestandstarifverträgen vergleichbare Problematik. Schließlich ist der Überforderungs395 Scholz, Anm. zu AP Nr. 46, Nr. 47 zu Art. 9 GG, Bl. 11; auch Gamillscheg, BB 1988, 555 (555), geht davon aus, dass einige der Grundlagen des Urteils über den unmittelbaren Anlass hinaus Bedeutung haben. 396 Vgl. in diesem Sinne das Parteivorbringen in BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 2 R); ebenso das BAG, a. a. O. (Bl. 3). 397 Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (7 f.). 398 BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 6 R); nahezu wortgleich in Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Bl. 6 f.).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

schutz des Arbeitgebers in § 3 Abs. 1 Nr. 3 AltersteilzeitG mit dem in § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG vergleichbar. Das BAG hat sich jedoch in dieser Entscheidung mit einer Tarifvertragsauslegung begnügt; zur Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit hat das Gericht nur in dem Sinne Stellung genommen, dass die Tarifvertragsparteien – da ein entgegenstehender Wille im Tarifvertrag nicht ausdrücklich zum Vorschein gekommen sei – eine mit den Urteilen vom 21.1.1987 konforme Regelung hätten treffen wollen.400 Auf eine erneute Auseinandersetzung mit seiner Rechtsprechung konnte das BAG aus diesem Grund verzichten. Die Rechtsprechung des BAG hat zur Folge, dass jeder Tarifklausel die Gefahr innewohnt, zu einer Differenzierungsklausel zu werden. Jeder kostenintensive Tarifabschluss vermag die Chancen der Außenseiter auf Gleichstellung mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern zu verschlechtern und fördert dementsprechend eine Ungleichbehandlung aufgrund der Gewerkschaftszugehörigkeit. Im Ergebnis wird hierdurch die gesamte Tarifautonomie in Frage gestellt, indem der Grundsatz, dass die Tarifparteien nur die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, aufgehoben wird (auf die Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien wird unten noch zurückzukommen sein401). Unter Zugrundelegung der Prämissen des BAG wären die einfachen Differenzierungsklauseln jedenfalls nicht mehr mit dem Hinweis darauf zu rechtfertigen, dass sie nur zum Ausdruck brächten, was ohnehin schon nach § 3 Abs. 1 TVG Gesetz sei. Da das BAG auf die Absicht der tarifschließenden Gewerkschaft, Druck zum Koalitionsbeitritt auszuüben, und damit auf eine subjektive Seite verzichtet hat – „Offensichtlich haben die Tarifvertragsparteien diese Frage nicht bedacht oder sie zumindest in den Tarifverhandlungen nicht zur Sprache gebracht.“402 –, scheint die Möglichkeit zu bestehen, dass eine Tarifklausel auch nachträglich die negative Koalitionsfreiheit verletzen kann, obwohl dies von den Tarifvertragsparteien nicht intendiert war. Entwickelt sich die Wirtschaft nach Abschluss des Tarifvertrags negativ, kann sich auch die Belastungsgrenze für den Arbeitgeber verschieben, sodass die Aussichten der Außenseiter, durch Individualvertrag tarifvertragsentsprechende Arbeitsbedingungen auszuhandeln, fühlbar geschmälert werden. Den Ausführungen des BAG ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass das Bewusstsein der Tarifparteien, die Belastungsgrenze für die einzelnen Arbeitgeber festzulegen, konstitutiv für die Bewertung als Differenzierungsklausel 399 BAG, Urt. v. 18.9.2001, NZA 2002, 1161 ff. (zustimmend Rolfs/Clemens, SAE 2002, 295 [297]); ebenso BAG, Urt. v. 30.9.2003, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Chemie (Bl. 4 f.). 400 BAG, Urt. v. 18.9.2001, NZA 2002, 1161 (1163); unter Berufung auf die in BAG, Urt. v. 21.7.1993, AP Nr. 144 zu § 1 TVG Auslegung, aufgestellten Auslegungsgrundsätze. Siehe zum Überforderungsschutz im AltersteilzeitG Diller, NZA 1996, 847 (850). 401 Siehe unten S. 165 ff. 402 BAG, Beschl. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 4 R).

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ist. Dementsprechend ist es auch nicht zwingend, diese Rechtsprechung auf solche Fälle zu beschränken, in denen der Staat eine wirtschaftliche Belastungsgrenze vorgibt, zumal die Tarifvertragsparteien in einem der entschiedenen Fälle den gesetzlichen Grenzwert von 5% unterschritten haben. Andererseits gehört es geradezu zur Arbeitskampfroutine, dass sich die Arbeitgeberseite an den Rand ihrer Belastbarkeit gedrängt fühlt, sodass sich im Ergebnis die Qualifizierung der einzelnen tariflichen Regelung als tatsächliche (objektive) Belastungsgrenze nur schwer nachweisen lassen wird. (aa) Gemeinwohlbindung Die Rechtsprechung des BAG zu den Vorruhestandstarifverträgen erscheint als eine konkrete Ausformung der Gemeinwohlbindung der Tarifparteien. Bei diesem Begriff, der nicht nur auf den Arbeitskampf, sondern auch auf den Inhalt von Tarifverträgen bezogen wird, geht es zwar im Ergebnis um die Wahrung der wirtschaftlichen Stabilität (für die als Orientierung das Stabilitätsgesetz403 angeführt wird). Jedoch erfordert die Gemeinwohlbindung ein Zurückstecken von Gruppeninteressen zugunsten der Gesellschaft und damit auch zugunsten der Außenseiter. Eine Bindung der Tarifparteien an das Gemeinwohl wird von einem Teil der Literatur abgelehnt, da hierdurch staatlichen Stellen eine Kontrolle des Inhalts von Tarifverträgen anhand völlig unbestimmter Kriterien ermöglicht werde.404 Entsprechend betrachtet ein anderer Teil der Literatur das Gemeinwohl nur als einen abstrakten Begriff, der für den konkreten Einzel403 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 8.6. 1967, BGBl. I, S. 582 ff. 404 Berg/Wendeling-Schröder/Wolter, RdA 1980, 299 (309); Bruhn, Tarifeinheit im Betrieb, S. 112 f.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 562 f.; Dieterich, RdA 2002, 1 (10 f.); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 127; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 14 Rn. 60; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 110 f.; Löwisch, RdA 1969, 129 (130); Löwisch/Rieble, TVG, Grundl. Rn. 48; Reuß, ZfA 1970, 319 (336 f., 324: schwammig schillernder Begriff); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 192 Fn. 90; ders., RdA 1969, 147 (150 „gutgemeinte Leerformel“); Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 176 ff., 559 ff.; Söllner/ Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 467. Eine umfassende Kritik am Bezug auf das Gemeinwohl in der Diskussion um die Differenzierungsklauseln findet sich bei Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 322 ff. A. A. BVerfG, Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (307); BAG GrS, Beschl. v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 6 R); Adomeit, NJW 1984, 595 f.; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 67; Butzer, RdA 1994, 375 (382); Galperin, DB 1970, 298 (301); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 29; Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 59; Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1032; Rüfner, RdA 1985, 193 ff.; Säcker, Grundprobleme, S. 52 ff.; Sodan, JZ 1998, 421 (425); Thüsing, in: FS 50 Jahre BAG, S. 899 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 433. Sehr einschränkend Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 274 f. Weitere Nachweise bei Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 317 ff. Fn. 286, 290.

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fall – von Extrembeispielen abgesehen – keine rechtliche Wirkung entfaltet.405 „Klar ist jedenfalls: es handelt sich nicht um eine erzwingbare verfassungsrechtliche Pflicht, sondern um eine Verfassungserwartung, (. . .)“406 Eine Gefahr der Tarifzensur besteht aber dann, wenn die Koalitionen mit der Beachtung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Arbeitgeber beauftragt werden. Der Schutz der negativen Koalitionsfreiheit nach Maßgabe der Rechtsprechung des BAG zu den Vorruhestandstarifverträgen ist jedenfalls ein Einfallstor für diese Entwicklung.407 So möchte Scholz in Anlehnung an das BAG die wirtschaftlichen und sozialen Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers in die Bewertung von Tarifklauseln einbeziehen.408 Diese Tendenz der Rechtsprechung des BAG, Tarifverträge an der gesamtwirtschaftlichen Situation zu messen und damit die Tarifparteien einer gewissen Allgemeinwohlbindung zu unterwerfen, ist keine Neuerung der Urteile zu den Vorruhestandsregelungen. Eine richterliche Inhaltskontrolle klang bereits im Differenzierungsklauselbeschluss des Großen Senats an. Darin wurde ausgeführt, dass der Arbeitgeber durch tarifliche Verpflichtungen nicht unzumutbar belastet werden dürfe. Kriterium hierfür sollte u. a. der unternehmerische Erfolg und damit ein wirtschaftlicher Gesichtspunkt sein.409 Zwar besteht im Arbeitskampfrecht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser bezieht sich aber nur auf die Arbeitskampfmaßnahmen, nicht hingegen auf den Inhalt des angestrebten Tarifvertrages.410 Schließlich ist es Kerngehalt 405 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 65 („fehlende rechtliche Nachprüfbarkeit oder politische Sanktion“); Herschel, RdA 1986, 1 (2, „keine rechtlichen Konsequenzen“); Isensee, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. III, § 57 Nr. 127 („ethische Verpflichtung“); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 33 („es gibt . . . keinen vorgegebenen, allgemein anerkannten und damit justitiablen Begriff“); Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 433 (Missachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in grober Weise); Rüfner, RdA 1985, 193 (199; Folgerungen aus der Gemeinwohlbindung „mehr politischer als juristischer Natur“). Für eine konkrete Fallgruppenbildung Thüsing, in: FS 50 Jahre BAG, S. 908 ff. Demgegenüber möchte Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 59 ff., gerade aus der Gemeinwohlbindung rechtliche Kompetenzen der Tarifvertragsparteien ableiten. Auch das BAG bezeichnet im Urt. v. 29.1.1986, AP Nr. 115 zu § 22 BAT 1975 (Bl. 10), die Rücksichtnahme auf Tarifaußenseiter als Aspekt der Gemeinwohlbindung – entgegen seiner früheren Rechtsprechung – als „im Grunde zweifelhaft“. 406 Isensee, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. V, § 115 Rn. 176; siehe auch Grundlegend zum Gemeinwohl ders., in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. III, § 57. 407 Vgl. Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (8); Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 121. 408 Scholz, Anm. zu BAG, AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG (Bl. 11). 409 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22); kritisch hierzu Wiedemann, RdA 1969, 321 (328). Darauf, dass die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gesamtsituation bereits in der Differenzierungsklauselentscheidung angeklungen ist, weist auch Scholz, Anm. zu BAG AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG (Bl. 11), hin. 410 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 13 R ff.); Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 195; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 14 Rn. 60; Lieb, Arbeitsrecht, Rn. 601; MünchArbR-Lö-

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der Tarifautonomie, dass die Tarifparteien selbst über den zu regelnden Gegenstand befinden; gegenüber der Kampfforderung hat der Staat Neutralität zu wahren. Hiermit wäre es unvereinbar, wenn dem Arbeitsrichter die Kompetenz eingeräumt wäre, über die Zulässigkeit des Tarifinhalts überhaupt und zudem aufgrund völlig vager und nur schwer greifbarer Kriterien zu entscheiden. Dementsprechend ist es ständige Rechtsprechung des BAG, dass Tarifnormen nur auf ihre Rechtmäßigkeit, nicht hingegen auf ihre Zweckmäßigkeit und Billigkeit nachgeprüft werden können.411 Auch das BVerfG hat sich gegen eine gerichtliche Kontrolle der Tarifziele ausgesprochen.412 Allein dem Gesetzgeber – und nicht dem Richter – kann es anheim gestellt sein, unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG das, was als Gemeinwohl anzusehen ist, einfachgesetzlich mit der notwendigen Bestimmtheit und Allgemeinverbindlichkeit zu konkretisieren. Gemeinwohl und allgemeine Wirtschaftslage können aber keine Kriterien sein, an denen Tarifklauseln zu messen sind. Auf diesem Wege kann eine Verpflichtung der Gewerkschaften, die Vertragschancen der Außenseiter zu wahren, nicht begründet werden. (bb) Gesamtrepräsentation Eine Pflicht der Gewerkschaften, die Wirkung von Tarifabschlüssen auf die Außenseiter zu bedenken, könnte sich möglicherweise aus dem Gesichtspunkt der Gesamtrepräsentation ergeben. Hierunter wird im Allgemeinen verstanden, dass die Gewerkschaften die gesamte Arbeitnehmerschaft repräsentieren und sich dementsprechend verhalten müssen. Man könnte die Gesamtrepräsentation auch als eine abgeschwächte Form der Gemeinwohlbindung ansehen. Soweit nämlich zusätzlich die Interessen der Außenseiter bei einem Tarifabschluss beachtet werden müssen, wird auch die arbeitgeberseitige Leistungsfähigkeit durch die Hintertür als Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Tarifverträgen eingeführt; die Urteile des BAG zu den Vorruhestandstarifverträgen geben entsprechende Sachverhalte exemplarisch vor. Da der Nichtorganisierte dem Arbeitgeber alleine – d.h. ohne soziale Macht – gegenübersteht, werden sein Verhandlungsspielraum und damit seine möglichen Arbeitsbedingungen maßgeblich von der wirtschaftlichen Situation mitbestimmt. Hier ist jedoch bereits zweifelwisch/Rieble, Bd. III, § 246 Rn. 120; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 178, 538. 411 BAG, Urt. v. 7.11.1995, AP Nr. 1 zu § 3 TVG Betriebsnormen (Bl. 3 R); Urt. v. 19.12.1958, BAGE 7, 153 ff. = AP Nr. 4 zu § 611 BGB Urlaubskarten; Urt. v. 20.8.1986, DB 1987, 693 (694); vgl. allgemein zur Tarifzensur Herschel, RdA 1985, 65 f.; Zachert, in: FS Arbeitsgerichtsverband, S. 581, 598; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 693 ff. m. w. N. 412 BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (231); andererseits hat das BVerfG in seinem Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (307), erklärt, die Gewerkschaften hätten das Gemeinwohl zu berücksichtigen.

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haft, ob ein solcher Verfassungsauftrag, bei Tarifabschlüssen die Situation der Außenseiter mit zu bedenken, überhaupt besteht.413 Denn die Frage ist, ob es sich bei der Gesamtrepräsentation um einen rechtlich relevanten Zustand handelt oder lediglich um einen gesellschaftlichen Befund, der keinerlei besondere rechtliche Verpflichtung nach sich zieht oder überhaupt nach sich ziehen kann.414 Auch wenn die Gewerkschaften die Repräsentation aller Arbeitnehmer anstreben,415 so heißt das nicht, dass sich hieraus konkrete Rechte oder Pflichten herleiten lassen. Schließlich sind die Koalitionen nur von ihren Mitgliedern legitimiert und können auch – von Ausnahmen abgesehen – nur für diese unmittelbar geltendes Recht setzen, wie § 3 Abs. 1 TVG deutlich macht. Dementsprechend hat das BVerfG betont, dass die Tarifautonomie nicht von vornherein alle Angehörigen des jeweiligen Berufskreises erfasst.416 Andererseits ist es höchst vage, welche Schlüsse sich aus der „Gesamtrepräsentation“ ergeben. Gamillscheg zieht hieraus die Konsequenz, dass die Gewerkschaften legitimiert sind, zur Ordnung des Arbeitslebens auf die Rechtsverhältnisse der Außenseiter einzuwirken und sie beispielsweise an den Lasten der Organisation zu beteiligen. Wolle die Gewerkschaft für alle wirken, sollten auch alle zu ihren Kosten beitragen. Sei hingegen die Vereinbarung von Solidaritätsbeiträgen nicht möglich, hätten die Gewerkschaften das Recht, die Außenseiter von tariflichen Vergünstigungen auszuschließen. In jedem Falle gelte: „Soviel Legitimation wie möglich, soviel Außenwirkung wie nötig.“417 Nach entgegen413 Ablehnend: Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (11); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 364; MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 244 Rn. 9; Picker, NZA 2002, 761 (768); Säcker, Grundprobleme, S. 131; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 154; Wiedemann, RdA 1969, 321 (328); Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., Einl. Rn. 173; offen gelassen bei Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 164 ff. Bejahend: Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 36 ff.; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 49 ff. (insb. S. 53). 414 Vgl. Floretta, DRdA 1968, 1 (6); Richardi, RdA 1969, 147 (149); Wiedemann, RdA 1969, 321 (327 f.); Radke, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 54: „Diese Funktion (Anm.: die Gesamtrepräsentation) liegt im gesellschaftlichsoziologischen Raum. Sie ist niemals eine Rechtsfigur.“ Zustimmend Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1631; Säcker, Grundprobleme, S. 131. Nach Ansicht von Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 53 hat das Rechtsetzungsmonopol der Tarifpartner nicht bloß faktischen, sondern auch rechtlichen Charakter. So soll gerade in § 612 Abs. 2 BGB die Repräsentationsaufgabe des Tarifvertrags deutlich werden (S. 57). Das BVerfG hat in seinem Beschl. v. 24.4.1996, BVerfGE 94, 268 (284), festgestellt, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Tarifvertragsparteien allein ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol verleiht. 415 Beispielsweise hat sich das BVerfG in seinem Beschl. v. 18.12.1974, BVerfGE 38, 281 (305), mit dem Vertretungsanspruch der Gewerkschaften befasst. 416 BVerfG, Beschl. v. 15.7.1980, BVerfGE 55, 7 (23); BVerfG, Beschl. v. 24.5. 1977, BVerfGE 44, 322 (344); vgl. hierzu Seiter, AöR 109 (1984), 88 (124 f.). 417 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 97 (allgemein zur Repräsentation S. 36 ff.); ders., Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Anerkennungsforderungen, S. 6; siehe gegen Gamillscheg:

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gesetzter Ansicht soll sich gerade aus dem Gesichtspunkt der Gesamtrepräsentation ergeben, dass die Gewerkschaften in ihren Tarifverträgen die Situation der gesamten Arbeitnehmerschaft im Auge zu behalten haben. Dementsprechend müssten die Gewerkschaften bei der Vereinbarung von Arbeitsbedingungen die Auswirkungen auf die Außenseiter berücksichtigen und einheitliche Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer anstreben. „Nur mit einer umfassenden Repräsentationsfunktion im Sinne der Verpflichtung zu gleichheitlicher Regelung für alle Arbeitnehmer lässt sich das heute fast allgemein bejahte Rechtsetzungsmonopol der Tarifpartner vereinbaren.“418 Insoweit ist die Argumentation eng verwandt mit der teilweise aufgestellten Verpflichtung der Koalitionen Tarifverträge so zu gestalten, dass sie für allgemeinverbindlich erklärt werden können.419 Jedenfalls zeigt sich an diesem kurzen Überblick über den Meinungsstand, dass nicht nur das Bestehen einer Verpflichtung der Gewerkschaften zur Gesamtrepräsentation zweifelhaft ist. Auch wird deutlich, dass keine festen Maßstäbe vorhanden sind, um aus diesem Merkmal rechtliche Schlussfolgerungen zu ziehen, die dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen. Die „Gesamtrepräsentation“ erscheint damit als ein Begriff, in den der Betrachter das hineinlegen kann, was er zu finden wünscht. Zöllners Charakterisierung des Art. 9 Abs. 3 GG als „Wundertüte“, mit der sich rechtspolitische Wunschergebnisse hervorzaubern lassen420, drängt sich auf. (d) Ergebnis Die Vereinbarung von einfachen Differenzierungsklauseln stellt keinen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten dar. Unerheblich ist, ob das Merkmal „Gewerkschaftszugehörigkeit“ durch das Merkmal „Dauer“ qualifiziert wird. In beiden Fällen stellt die Benachteiligung des Nichtorganisierten eine Konsequenz des § 3 Abs. 1 TVG dar, nicht hingegen der tariflichen Regelung. Der Nichtorganisierte muss versuchen die Gleichstellung auf individualvertraglicher Ebene zu erreichen. Soweit diesem Ansinnen die wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen, ist dieses ein Aspekt, der im Tarifrecht nicht zu beachten ist. Ebenso wenig wie die Verhältnismäßigkeit der Tarifinhalte haben die Gewerkschaften die Leistungsfähigkeit des einzelnen Arbeitgebers zu berücksichtigen. Selbst wenn man eine Gemeinwohlbindung anerkennen wollte, ließen sich hieraus – von Extrembeispielen abgesehen wie der Existenzvernichtung – keine konkreten Forderungen ableiten. Die Berücksichtigung wirtschaftlicher Umstände mag tarifpolitisch vernünftig sein, eine Größe Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133; hiergegen wiederum Gamillscheg, BB 1967, 45 (52). 418 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungen, S. 49 ff., 53. 419 Siehe hierzu unten S. 236 ff. 420 Zöllner, RdA 1969, 250 (254); ähnlich Bauer/Rolf, DB 2003, 1519 (1519).

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bei der rechtlichen Bewertung von Tarifklauseln sind diese Umstände jedoch nicht. Die Frage, ob für die Nichtorganisierten „genug vom Kuchen“ übrig bleibt, um entsprechende Verträge mit dem Arbeitgeber zu schließen, kann die Reichweite der Koalitionsfreiheit weder im positiven noch im negativen Sinne beeinflussen. (2) Allgemeine Abstandsklauseln (a) Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit Während einfache Differenzierungsklauseln im Ergebnis lediglich die Wirkung des § 3 Abs. 1 TVG unterstreichen, können Abstandsklauseln konkrete Ansprüche der tarifgebundenen Arbeitnehmer begründen. Entscheidend ist, ob durch die Vereinbarung allgemeiner Abstandsklauseln ein rechtlich erheblicher Druck auf die Nichtorganisierten ausgeübt wird, sich der tarifschließenden Koalition anzuschließen. Diese Quantifizierung ist eine Folge aus dem obigen Ergebnis der Verwerfung der Sozialadäquanz als qualitatives, aber völlig unberechenbares Merkmal. Dadurch, dass nicht jeder Druck als Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten aus Art. 9 Abs. 3 GG gewertet wird und gewertet werden muss, bleibt die Möglichkeit, auf die Komplexität des Tarifgefüges flexibel zu reagieren. Wenn nicht jeder Druck unzulässig ist, so kann mit einer in der Literatur verbreiteten Ansicht421 danach unterschieden werden, ob in der Benachteiligung des Außenseiters durch den Tarifvertrag ein bloßer Anreiz zum Beitritt oder aber ein den freien Willen beugender Zwang zu sehen ist. Vor Anreizen kann der Außenseiter jedenfalls nicht geschützt werden. Ansonsten würde der Außenseiter in einer Wirtschaftsordnung, die die Werbung zu einer ihrer Antriebskräfte erhoben hat, eine Sonderstellung einnehmen. Kennzeichnendes Merkmal der Abstandsklauseln ist es, dass es dem Arbeitgeber nicht untersagt wird, Vorteile, die er den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern gewährt, auch den Nichtorganisierten zu gewähren. Rechtlich gesehen wird die Vertragsfreiheit von keiner Seite eingeschränkt. Die Gewerkschaften können den Arbeitgeber auch nicht zum Unterlassen bestimmter Vereinbarungen anhalten. Möglicherweise kann sich aber ein wirtschaftlicher Hinderungsgrund, mit den Nichtorganisierten beliebige Vereinbarungen zu treffen, daraus ergeben, dass jede (kollektive) Vereinbarung zugunsten der Nichtorganisierten automatisch zu Folgekosten führt, die den Arbeitgeber an seine wirt421 Radke, ArbuR 1970, 1 (11); Reuß, ArbuR 1970, 33 (35); ders., AcP Bd. 166 (1966), 518 (521); Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 153; Wiedemann, ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 304. Bereits im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates hat v. Mangoldt die Vorenthaltung tariflicher Vorteile als Anreiz – in Abgrenzung zum Zwang – charakterisiert (Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. V/2, Boppard am Rhein 1993, S. 690, 691).

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schaftliche Belastungsgrenze bringen können. Denn wenn der Abstand – die Spanne – zwischen Organisierten und Unorganisierten erhalten bleiben soll, muss der Arbeitgeber die Leistungen gegenüber den Organisierten aufstocken. Die damit zusammenhängende wirtschaftliche Belastung muss die Position der Nichtorganisierten schwächen und ihre Chancen auf den Erhalt bestimmter Leistungen verschlechtern. Jedoch haben die oben angestellten Überlegungen422 gezeigt, dass die Benachteiligung der Außenseiter durch die Limitierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf Arbeitgeberseite keine Größe ist, die die Tarifparteien zu beachten haben. Schwerer wiegt hingegen der Vorwurf, dass dem Arbeitgeber eine Gleichbehandlung von Organisierten und Nichtorganisierten nicht möglich ist, solange die tarifvertraglich vereinbarte Spanne gewahrt bleiben muss. Aus der hieraus folgenden Ungleichbehandlung könnte sich ein Zwang zum Koalitionsbeitritt ergeben, wie von Kritikern der Differenzierungsklauseln unterstellt wird. Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so, dass der Nichtorganisierte gegenüber dem Koalitionsmitglied zwangsläufig benachteiligt wird. Nach Wiedemann ist es ausgeschlossen, dass nichtorganisierte Arbeitnehmer durch Individualvertrag tarifliche – oder sogar hierüber hinausgehende – Leistungen vereinbaren können. Insoweit sieht er in den Differenzierungsklauseln ein „negatives Günstigkeitsprinzip“.423 Bei genauer Analyse der Folgen der Abstandsklauseln ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Rein aus Praktikabilitätsgründen kann es nicht die Aufgabe der Abstandsklausel sein, den Abstand zwischen jedem einzelnen Arbeitsverhältnis der Nichtorganisierten und der Organisierten zu wahren.424 In einem größeren Betrieb fehlt Gewerkschaften und Arbeitnehmern der Überblick, wie die einzelnen Arbeitsverträge gestaltet sind. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die normative Abstandsklausel dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügen muss. Das bedeutet, dass die Normadressaten wissen müssen, mit welchen Belastungen sie zu rechnen haben und welche Ansprüche ihnen zustehen.425 Wenn aber die Leistung an die Außenseiter als Bezugsgröße nur unter großen Schwierigkeiten zu ermitteln ist, ergeben sich Zweifel an der Bestimmtheit der Norm. Ähnliche Bedenken bestehen auch im Hinblick auf das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG.426 Grundlage für die Berechnung des Abstands kann deshalb nur eine Zuwendung durch den Arbeitgeber sein, die in kollektiver Form – wie durch Einheits422

Siehe oben S. 159 ff. Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 305. 424 Nach BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung (Bl. 3 R), soll die Praktikabilität bei der Auslegung Berücksichtigung finden. Ebenso Hromadka/ Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 13, Rn. 120; kritisch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 134. 425 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 406. 426 Vgl. hierzu unten S. 261 ff. 423

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arbeitsbedingungen, Gesamtzusage, betriebliche Übung – erfolgt. Die rein individualvertraglich ausgehandelte Position muss hingegen außer Betracht bleiben; sie erfüllt nicht den die differenzierende Wirkung der Abstandsklausel auslösenden Tatbestand.427 Auch wenn in der Praxis die einheitlich gestalteten Arbeitsbedingungen die Regel sind und individuell ausgehandelte Vertragsklauseln nur ein Randdasein führen, ist diese Abgrenzung nicht ohne Bedeutung und nichts Ungewöhnliches für das Arbeitsrecht. Nach der Rechtsprechung des BAG zu § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG greift die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Anordnung von Mehrarbeit oder Überstunden nur dann ein, wenn die Regelung des Arbeitgebers einen kollektiven Bezug aufweist. Für die Frage, ob der Arbeitgeber bestimmte Strukturformen für das Entgelt aufstellt (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG), könne die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer, mit den „individuelle“ Vereinbarungen geschlossen werden, ein Indiz für einen kollektiven Tatbestand sein.428 Insbesondere im Hinblick auf die arbeitgeberseitige Gleichbehandlungspflicht wurden Kriterien entwickelt, um beide Vertragstypen unterscheiden zu können. Wie die Abstandsklausel wird auch die Gleichbehandlungspflicht nur dann aktiviert, wenn der Arbeitgeber bestimmte Leistungen nach einem allgemeinen System gewährt. Charakteristisch für den kollektiven Bezug ist also ein Behandeln durch den Arbeitgeber und kein Aushandeln. Die Voraussetzungen für ein Behandeln sind dass erfüllt, wenn von einer Maßnahme des Arbeitgebers mehrere Arbeitnehmer betroffen sind und der Arbeitgeber zu erkennen gibt, dass er nach einer bestimmten Regel vorgeht.429 Außerhalb des Arbeitsrechts richtet sich die Angemessenheitskontrolle gem. §§ 307 ff. BGB danach, ob eine Seite vorformulierte Vertragsbedingungen verwendet, oder ob die Vertragsklauseln tatsächlich zur Disposition der Vertragsparteien stehen.430 Die Ähnlichkeit von Einheitsarbeitsverträgen und allgemeinen Geschäftsbedingungen legt die Übertragbarkeit der Abgrenzungskriterien nahe. Aushandeln erfordert im Wesentlichen, dass die reale Möglichkeit besteht, auf den Vertragsinhalt Einfluss zu nehmen.431 Eine Maßnahme weist hingegen dann einen kollektiven Charakter auf, „wenn der Arbeitgeber die Leistungen 427 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf; S. 140; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 74; ders., Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 106 f.; ders., Die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Anerkennungsforderungen, S. 36 f.; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 24; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 16; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 22 ff., 106; Weller, ArbuR 1970, 161 (164); Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 17. 428 BAG, Beschl. v. 18.10.1994; GrS, Beschl. v. 3.12.1991, AP Nr. 70 (Bl. 2), Nr. 51 (Bl. 11 ff.) zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung; Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/ Linsenmaier, BetrVG, § 87 Rn. 14 ff. 429 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 218. 430 Vgl. hierzu m. w. N. Palandt-Heinrichs, § 305 Rn. 18 ff. 431 Preis, Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 120; ähnlich Säcker, Gruppenautonomie, S. 84 f.

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nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip gewährt, wenn er bestimmte Voraussetzungen oder einen bestimmten Zweck festlegt.“432 Gewährt der Arbeitgeber gemäß diesen Voraussetzungen eine besondere Leistung, erwachsen allen vergleichbaren Arbeitnehmern aus der Gleichbehandlungspflicht entsprechende Ansprüche. Folglich kann die Vergünstigung nicht auf einen einzelnen Arbeitnehmer beschränkt werden. Hieran wird deutlich, weshalb ein besonderes Interesse der Gewerkschaften besteht, dass diese Fälle von der Abstandsklausel erfasst werden. Zudem lässt sich hierbei die Bezugsgröße der Abstandsklauseln mit der nötigen Rechtssicherheit für alle Beteiligten feststellen. Wenn aber die Außenseiter die Möglichkeit haben, beliebige individualvertragliche Vereinbarungen abzuschließen, dann ist es nicht zutreffend, wenn Biedenkopf 433 in den Abstandsklauseln eine Beschränkung der Vertragsfreiheit der Außenseiter sieht. Diese Rechtslage ist auch für die negative Koalitionsfreiheit relevant. Zwar wird die allgemeine Vertragsfreiheit von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Jedoch besteht ein Zusammenhang zur negativen Koalitionsfreiheit. Schließlich ergibt sich aus einer Benachteiligung aufgrund eines Tarifvertrags nur dann ein Zwang zum Beitritt zu der tarifschließenden Koalition, wenn der Nichtorganisierte keine Möglichkeit hat, die Differenz durch eine individualoder kollektivvertragliche Abrede auszugleichen. Anders formuliert: Die Vereitelung von Vertragschancen434 als Mittel des Koalitionszwangs kann den Einzelnen zum Koalitionsbeitritt veranlassen. Insoweit kann man auch davon sprechen, dass die Vertragsfreiheit als Reflex von Art. 9 Abs. 3 GG erfasst wird. Nach dem bisher Gesagten steht es dem Nichtorganisierten jedoch frei mit dem Arbeitgeber eine beliebige individualvertragliche Vereinbarung zu treffen; auf diesem Wege kann auch eine Gleichstellung mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern erreicht werden. Dementsprechend befindet er sich in einer mit den einfachen Differenzierungsklauseln vergleichbaren Situation. Natürlich wird die Situation der nichtorganisierten Arbeitnehmer dadurch erschwert, dass sie auf eine individuelle Position gegenüber dem Arbeitgeber zurückgeworfen werden. Hierin ist aber nur die logische Folge der Ausübung der negativen Koalitionsfreiheit zu sehen. Der Verzicht auf eine kollektive Vereinbarung bedingt die individualvertragliche Vereinbarung. Dass sich hieraus Nachteile ergeben können – sei es, dass eine geschwächte Verhandlungsposition des einzelnen Arbeitnehmers besteht, sei es, dass er aufgrund dieser Position nicht die gleichen Arbeitsbedingungen aushandeln kann, wie sie für gewerkschaftsangehörige Arbeit432 BAG, Urt. v. 27.7.1988, Urt. v. 19.8.1992, AP Nr. 83 (Bl. 83 f.), 102 (Bl. 3) zu § 242 BGB Gleichbehandlung; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 218. 433 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 98; in diesem Sinne auch Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 305. 434 Siehe hierzu noch unten S. 207 ff.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

nehmer bestehen –, kann nicht mit einem Verweis auf den grundrechtlichen Schutz des Unkoaliertbleibens begegnet werden. Die bloße Hoffnung des einzelnen Arbeitnehmers auf eine Gesamtzusage oder vergleichbare kollektive Vereinbarungen ist von Art. 9 Abs. 3 GG genauso wenig geschützt wie die bloße Gewinnerwartung von Art. 14 GG. Über Leistungen in kollektiver Form entscheidet allein der Arbeitgeber. Zudem schützt die grundrechtliche Verbürgung eines bestimmten Verhaltens nicht davor, dass mit diesem Verhalten Nachteile einhergehen können. Ansonsten müsste sich aus der negativen Koalitionsfreiheit ein Recht auf tarifliche Arbeitsbedingungen ergeben, was jedoch allgemein abgelehnt wird.435 Auch die Ausübung der positiven Koalitionsfreiheit führt zu Nachteilen, wie beispielsweise der Verpflichtung zur Zahlung eines Gewerkschaftsbeitrages.436 Müssten die tarifschließenden Koalitionen die Situation der Nichtorganisierten in ihre Überlegung einbeziehen, so käme dies einer Bindung an das Gemeinwohl gleich. Zu einem anderen Schluss kann man nur dann gelangen, wenn die negative Koalitionsfreiheit nicht bloß die rechtliche, sondern auch – als Chance zum Vertragsschluss – die tatsächliche Möglichkeit umfasst, einen bestimmten Vertrag abzuschließen. Wenn der Arbeitgeber durch seine limitierte wirtschaftliche Leistungskraft von einem Vertragsschluss abgehalten wird, verbleibt dem Nichtorganisierten nur der Gewerkschaftsbeitritt, um die gleichen Arbeitsbedingungen wie die Gewerkschaftsmitglieder zu erhalten. Ähnliche Überlegungen hat das BAG in seinen Entscheidungen zu den Vorruhestandstarifverträgen angestellt. Eine so weit reichend verstandene negative Koalitionsfreiheit hätte zur Folge, dass die Tarifparteien die Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers und damit die Macht des Faktischen zu berücksichtigen hätten. Eine solche Bindung würde letztendlich zu einer Inhaltskontrolle der Tarifverträge und damit unweigerlich zu einer Tarifzensur führen, was – wie im Rahmen der einfachen Differenzierungsklauseln gezeigt – mit der Tarifvertragsfreiheit nicht zu vereinbaren wäre. Soweit man – wie hier vertreten – entgegen BVerfG und BAG davon ausgeht, dass die negative Koalitionsfreiheit das Recht umfasst, von der Normsetzung der Koalitionen frei zu bleiben, ändert auch dies nichts an dem gefundenen Ergebnis. Die Freiheit von fremder Normsetzungsbefugnis beinhaltet das Recht, unabhängig von den Koalitionen die eigenen Arbeitsbedingungen individuell gestalten zu können. Durch die Abstandsklauseln wird gerade dieses Recht nicht eingeschränkt. Lediglich kollektivbezogene Leistungen des Arbeitgebers werden mit einer wirtschaftlichen Sanktion belegt. Arbeitsrechtliche Einheitsregelungen, Gesamtzusagen oder betriebliche Übungen stehen grundsätzlich außerhalb der Reichweite der Einzelabrede; ihr Wesen besteht gerade darin, 435 436

Siehe die Nachweise auf S. 135 Fn. 295. Leventis, Tarifliche Differenzierung, S. 51.

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dass sie den individuellen Verhandlungen entzogen sind. Auf das „behandelt werden“ durch den Arbeitgeber mittels kollektivbezogener Handlungen besteht kein Rechtsanspruch, der durch den Tarifvertrag genommen wird. Die Beeinträchtigung der Freiheit derartiger Abreden wird dementsprechend von der negativen Koalitionsfreiheit nicht geschützt.437 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass es sich bei den Abstandsklauseln lediglich um einen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt und nicht um die Ausübung von (rechtlich erheblichem) Druck im Sinne von Zwang handelt. Somit fehlt es bereits an einem Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit. (b) Höhe der Besserstellung In der Literatur wurden ausgefeilte Berechnungen angestellt, bis zu welcher Höhe eine Differenzierung zwischen organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern zulässig sein soll. Die genannten Beträge reichen von der Höhe des Gewerkschaftsbeitrages über das Doppelte des Gewerkschaftsbeitrages bis hin zur Grenze des § 138 BGB.438 Im Hinblick auf die Abstandsklauseln bedarf es dieser „Pfennigrechnung“439 nicht. Wenn man das zuvor Gesagte berücksichtigt, ist es logisch, auf sämtliche Grenzen zu verzichten. Schließlich steht es den Nichtorganisierten frei, individuelle Vereinbarungen zu treffen, die sie mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern gleichstellen. Diese Vorgehensweise wahrt die Freiheit der Tarifvertragsparteien und dient darüber hinaus der Rechtssicherheit, indem auf unbestimmte und willkürliche Abgrenzungskriterien verzichtet wird. (c) Ergebnis Allgemeine Abstandsklauseln verletzen nicht die nichtorganisierten Arbeitnehmer in ihrer negativen Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG. Durch diese Klauseln wird lediglich ein Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt geschaffen, der unabhängig von der Höhe der Differenzierung nicht in einen für die negative Koalitionsfreiheit relevanten Druck umschlägt. Entgegen der Rechtsprechung des BAG zu den Vorruhestandstarifverträgen, hat der Nichtorganisierte Erschwerungen, die mit dem Abschluss eines Tarifvertrags mittelbar zusammenhängen, hinzunehmen. Die Limitierung der wirtschaftlichen Potenz des Arbeitgebers kann keine Größe in der Betrachtung sein, da andernfalls die Tarifautonomie in ihrem Kernbereich beeinträchtigt wäre.

437 438 439

Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 149. Vgl. im Einzelnen unten S. 179 ff. Vgl. zu diesem Begriff unten S. 181.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

(3) Allgemeine Tarifausschlussklauseln Die allgemeine Tarifausschlussklausel unterscheidet sich von der Abstandsklausel durch ihre rechtliche Konstruktion und ihre rechtliche Wirkung grundlegend. Während letztere normativ vereinbart werden kann und damit unmittelbare Geltung zwischen den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erlangt, steht der Tarifausschlussklausel nur der Weg der schuldrechtlichen Abrede offen. Dieser Umstand ist wichtig für die Bewertung der rechtlichen und der faktischen Auswirkungen. Ohne weitere Auswirkungen bleibt hingegen die Frage, ob die Tarifparteien auch bei schuldrechtlichen Tarifabreden unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Schließlich entfaltet die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit unmittelbare Drittwirkung. (a) Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit Die in einem Verbandstarifvertrag enthaltene Tarifausschlussklausel kann von den Gewerkschaften nicht effektiv durchgesetzt werden. Für die Frage, ob hierdurch die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten verletzt wird, ist dieser Aspekt jedoch nicht maßgebend. Entscheidend ist, dass der Arbeitgeberverband auf die Einhaltung hinwirken kann; zudem ist im Rahmen dieser Untersuchung davon auszugehen, dass sich der einzelne Arbeitgeber verbandskonform verhält und die Tarifausschlussklausel auch ohne Druck von außen beachtet. Allein bei einer bloßen Empfehlung würde es an einer verbandsintern durchsetzbaren Rechtsverpflichtung fehlen. Einfacher gestaltet sich die Situation hingegen beim Firmentarifvertrag. Wenn die Gewerkschaft in einem solchen Fall gegen den einzelnen Arbeitgeber aufgrund seines tarifwidrigen Verhaltens rechtlich vorgehen kann, erlangt auch die bloß schuldrechtlich vereinbarte Tarifausschlussklausel eine der normativen Abstandsklausel vergleichbare verbindliche Wirkung. Man kann insoweit von einer faktischen Bindung als Reflex auf die Sanktionsmöglichkeiten der tarifschließenden Gewerkschaft sprechen. Diese Reflexwirkung kann ausreichen, um einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten zu begründen. Schließlich ist nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG nicht die rechtliche Wirkung (die Verträge des Arbeitgebers mit den Nichtorganisierten bleiben rechtlich unbeeinflusst), sondern die Zielrichtung einer Maßnahme entscheidend.440 Die soeben beschriebenen faktischen Auswirkungen der Tarifausschlussklausel auf das Arbeitsverhältnis der Nichtorganisierten haben konkret zur Folge, dass die Chancen der Nichtorganisierten geschmälert werden, tarifvertragliche oder gar übertarifliche Arbeitsbedingungen mit dem Arbeitgeber zu vereinbaren. Schließlich setzt sich der Arbeitgeber jedes Mal dem Risiko von Sank440

BAG, Beschl. v. 20.4.1999, NZA 1999, 887 (892).

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tionen aus (beim Firmentarifvertrag durch die Gewerkschaft, beim Verbandstarifvertrag durch den Verband), wenn er entgegen der Tarifausschlussklausel einen Arbeitsvertrag abschließt. Um den Tatbestand der Tarifausschlussklausel zu erfüllen, ist eine arbeitgeberseitige Maßnahme mit kollektivem Tatbestand nicht zu fordern. Anders als bei der Abstandsklausel entstehen bei der Tarifausschlussklausel keine Umsetzungsschwierigkeiten, wenn die Gewährung einer bestimmten Leistung an die Außenseiter umfassend untersagt wird. Da die Tarifausschlussklausel keine individuellen Ansprüche der Arbeitnehmer betrifft, sondern rein schuldrechtlich zwischen den Tarifvertragsparteien gilt, entstehen keine Unsicherheiten für die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer, in welcher Höhe ihnen ein Leistungsanspruch zusteht. Somit mangelt es einer entsprechenden Interpretation der Tarifausschlussklausel nicht an der notwendigen Praktikabilität und Bestimmtheit. Als Folge hiervon fehlt den Tarifausschlussklauseln ein gewichtiges Element, das die Abstandsklauseln unabhängig von der Höhe der Differenzierung mit der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter vereinbar macht: die Möglichkeit, mittels der Individualabrede beliebige Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn ein entgegengesetzter Wille der Tarifvertragsparteien seinen Niederschlag im Tarifvertrag gefunden hat.441 Ein solcher kann aber nicht ohne Anhaltspunkte unterstellt werden, da auch eine besonders strenge Handhabung der Tarifausschlussklausel bezweckt sein kann, solange diese nicht per se zur Rechtswidrigkeit führt.442 Diese faktischen Auswirkungen können jedenfalls nicht mit einem Hinweis auf die rechtliche Möglichkeit eines Vertragsschlusses negiert oder bagatellisiert werden. Hierin würde sich ansonsten eine allzu formale Sicht der Dinge offenbaren. Auch ein Vergleich mit den im Geschäftsleben üblichen Behinderungen – wie ihn beispielsweise Gamillscheg443 unternimmt –, geht in der Sache fehl. Es ist richtig, dass im wirtschaftlichen Verkehr laufend Vereinbarungen getroffen werden, die die Chancen Dritter auf einen Vertragsschluss mindern bzw. ausschließen: Eine konkrete Leistung kann nur einmal versprochen werden, vielleicht sogar mit der Motivation einer der Vertragsparteien, einen Vertrag mit Dritten zu verhindern. Ein Verkäufer kann eine konkrete Ware nur einmal verkaufen; ein Handwerker kann zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Leistung 441 Siehe zu einem entsprechenden Formulierungsvorschlag unten S. 368. Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 106, und Gamillscheg, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 106 f., fordern hingegen immer einen kollektiven Bezug bzw. eine Leistungsgewährung aufgrund der Außenseiterstellung. 442 Nach BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (Bl. 5 R); Urt. v. 23.9.1992, AP Nr. 159 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau (Bl. 3), wollen die Tarifvertragsparteien im Zweifel rechtmäßige Vereinbarungen treffen. 443 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 70 f.; ders., BB 1967, 45 (50). Zu beachten ist allerdings, dass sich Gamillscheg auf Art. 2 Abs. 1 GG und nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG bezieht.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

nur einmal erbringen. In all diesen Fällen ist ein Vertragsabschluss mit Dritten weiterhin rechtlich möglich, auch wenn eine Schadensersatzpflicht droht. Der Unterschied zur vorliegenden Fallgestaltung besteht allerdings darin, dass im Wirtschaftsverkehr lediglich die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Vertragsfreiheit betroffen ist (unabhängig von der Motivation der Vertragsparteien), während es bei der Zulässigkeit von Tarifausschlussklauseln um den Zwang zum Koalitionsbeitritt geht, für den gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG („zu behindern suchen“) die Finalität des Willens der Tarifparteien bedeutsam ist. Dementsprechend lässt sich ein allgemeiner aus der Verfassung abgeleiteter Satz nicht formulieren, wonach Verträge unzulässig sind, die allein mit dem Ziel geschlossen werden, anderen die Chance zum Vertragsschluss zu nehmen.444 Vertragsfreiheit und negative Koalitionsfreiheit sind zwei Rechte, die einander beeinflussen können, die aber inhaltlich nicht gleich zu setzen sind. Wie auch bei den Abstandsklauseln stellt sich deshalb bei den Tarifausschlussklauseln die Frage nach der hinter diesen stehenden Motivation. Ob eine Behinderung der (negativen) Koalitionsfreiheit vorliegt, bestimmt sich nicht allein anhand objektiver Umstände; vielmehr muss die Behinderung auch final sein. An einem entsprechenden finalen Willen fehlt es aber dann, wenn die Gewerkschaft lediglich finanzielle Hinderungsgründe zum Beitritt ausräumen möchte.445 In diesem Fall wird im Ergebnis die verringerte Beitragslast zu einem Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt. Wenn andererseits die Absicht der Gewerkschaft zu Tage tritt, einen Zwang auf den Nichtorganisierten zum Gewerkschaftsbeitritt ausüben, führt dies sicherlich – bei entsprechender Erheblichkeit des Druckes446 (insofern ist die Höhe der Differenzierung entscheidend) – zu einem Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit. Allein der Umstand, dass ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit vorliegt, besagt allerdings noch nichts über die Zulässigkeit der strittigen Maßnahme. So hat Biedenkopf, der die Chance der Außenseiter zum Vertragsabschluss gewahrt wissen will, darauf hingewiesen, dass es einer Abwägung bedarf, in die die positive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft einzustellen ist.447 Im Rahmen dieser Abwägung sind positive und negative Koalitionsfreiheit gleichrangig, unabhängig davon, ob die Gewerkschaft organisationspolitische Fernziele verfolgt. Weder der Rechtsprechung des BAG noch der des BVerfG ist zu entnehmen, dass organisationspolitische Maßnahmen wie z. B. Werbung eine Koalitionsbetätigung minderen Ranges sind.448

444 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 30 f.; a. A. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133. 445 Säcker, Grundprobleme, S. 128 Fn. 317. 446 Vgl. oben S. 154 f. 447 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 134; ebenso Neumann, RdA 1989, 243 (246); Scholz, Anm. zu BAG AP Nr. 46, 47 zu Art. 9 GG, Bl. 10 R.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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Im Rahmen der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass die Differenzierungsklauseln grundsätzlich geeignet sind, den Bestand der Arbeitnehmerkoalition zu sichern bzw. ihre Basis sogar zu verbreitern.449 Auf der Seite der Nichtorganisierten ist – wie auch bei den Abstandsklauseln – danach zu differenzieren, ob sich der durch die Benachteiligung ausgeübte Druck für sie als Zwang oder als bloßer Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt darstellt. Dabei scheidet allein die Höhe der Besserstellung den gerechtfertigten Eingriff von der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit. Für die Bestimmung der Höhe der Besserstellung gilt, dass die freie Selbstbestimmung des Einzelnen jedenfalls nicht mit der Reaktion auf die ökonomischen Verhältnisse gleichgesetzt werden darf.450 Vor einem die „freie Willensentscheidung verfälschende(n) Anreiz zum Beitritt“451 will Art. 9 Abs. 3 GG jedenfalls nicht schützen. Als gesellschaftliches Wesen ist der Mensch vielfältigen Einflüssen – insbesondere Werbemaßnahmen – ausgesetzt; was ein unverfälschter Wille ist, ist mehr eine philosophische Frage, als die Umschreibung eines handhabbaren und rechtlich zu schützende Gutes. Entscheidend muss sein, ob für den Einzelnen eine Abwägung von wirtschaftlichen Vorteilen, Nachteilen und der eigenen Überzeugung möglich bleibt. (b) Höhe der Besserstellung Ausgangsbasis für die Bestimmung der Zulässigkeit der Höhe der Besserstellung ist, dass die Leistungen der Gewerkschaft wie z. B. Streikunterstützung, Rechtsberatung etc. keine Anziehung entfalten und deshalb außer Betracht bleiben müssen, sodass die Gewerkschaftsbeiträge quasi als verloren anzusehen sind. Aus diesem Umstand hat sich ja der Streit um die Notwendigkeit von organisationspolitischen Maßnahmen in Tarifverträgen erst entwickelt.452 Das BVerfG hat jedenfalls festgestellt, dass einzelne gewerkschaftliche Privilegierungen wie z. B. die Möglichkeit, sich nach § 11 Abs. 1 S. 2 ArbGG vor dem Arbeitsgericht von einem Gewerkschaftsvertreter vertreten zu lassen, lediglich 448 Vgl. beispielsweise BVerfG, Beschl. v. 14.11.1995, BVerfGE 93, 352 ff., sowie oben S. 150 Fn. 349. Anders aber Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 286, 288 f. Siehe auch oben S. 139 Fn. 309. 449 Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 280; Steinberg, RdA 1975, 99 (103 f.); siehe hierzu oben S. 144 ff. 450 Dietlein, ArbuR 1970, 200 (204); zustimmend Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 156. 451 Säcker, BB 1966, 1031 (1032) (Hervorhebung nicht im Original). 452 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 359; ders. Koalitionsfreiheit und soziale Selbstverwaltung, S. 57; ähnlich auch Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 49; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 73; Scharpf, Autonome Gewerkschaften, S. 30 ff.; Ebbinghaus, in: Schroeder/Weßels, Die Gewerkschaften, S. 176 f.; für die Beachtung sämtlicher Gewerkschaftsleistungen dagegen Nipperdey, in: Biedenkopf, Sondervorteile, S. 295 f., und Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 45; siehe gegen Hueck wiederum Gamillscheg, BB 1967, 45 (48).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

einen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt bieten, der jedoch die Entschließungsfreiheit nicht fühlbar beeinträchtigt.453 Auch die Streikunterstützung dürfte nicht mehr als einen bloßen Anreiz bieten, zumal für einen entsprechenden Werbeeffekt die Wahrscheinlichkeit eines Streiks, die in Deutschland derzeit nicht sonderlich hoch ist, entscheidend ist. Im Jahresdurchschnitt 1991 bis 2000 sind pro 1000 Beschäftigte lediglich elf Arbeitstage ausgefallen.454 Hinzu kommt, dass durch staatliche Sozialleistungen die existenzbedrohende Wirkung eines Streiks bzw. einer Aussperrung wesentlich abgemildert wird. Der überwiegende Teil der Befürworter von Differenzierungsklauseln hält Differenzierungen bis zur Höhe des Gewerkschaftsbeitrages jedenfalls für unproblematisch.455 Dem ist sicherlich zuzustimmen, wenn man nicht – beispielsweise anhand der Sozialadäquanz – jede Art obligatorischer Differenzierung ablehnt. Schließlich besteht noch nicht einmal ein finanzieller Anreiz für die Nichtorganisierten, in die Gewerkschaft einzutreten, wenn im Ergebnis – von den gewerkschaftlichen Leistungen abgesehen – der finanzielle Zugewinn sogleich von den neuen Verpflichtungen aufgesogen wird. Insoweit liegt eine rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit nicht vor. Noch einen Schritt weiter gehen Däubler456 und Kempen/Zachert457, nach denen eine Besserstellung um das Doppelte des Gewerkschaftsbeitrages 453 BVerfG, Beschl. v. 20.7.1971, BVerfGE 31, 297 (302); zustimmend Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 76; Steinberg, RdA 1975, 99 (103). 454 Im Weltvergleich nimmt Deutschland einen der letzten Plätze ein; vgl. Zachert, in: FS 50 Jahre BAG, S. 585, sowie die Übersichten bei Boll, in: Schroeder/Weßels, Die Gewerkschaften, S. 482 ff. 455 Farthmann/Coen, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 19 Rn. 78 („die Summe der Gewerkschaftsbeiträge nicht wesentlich überschreitende Differenzierung“); Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 127; Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 156; Dieterich, in: Erfurter Kommentar, GG, Art. 9 Rn. 33; Galperin, DB 1970, 298 (303); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 63; Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 37, 38; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 113; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 163; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 13 Rn. 176; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 51, 111; Reuß, AcP Bd. 166 (1966), 518 (522); Stahlhacke, ArbRGeg 11 (1973), S. 21 (22); A. Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 363; in diesem Sinne auch Säcker, ArbuR 1965, 353 (353 f. Fn. 1), der allerdings in BB 1966, 1031 (1032), seine Meinung ausdrücklich aufgibt und nunmehr Differenzierungsklauseln wegen fehlender Tarifmacht für unzulässig hält. Bis zu dieser Höhe lehnt auch Gitter, JurA 1971, 148 (151), eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit ab, kommt aber aus anderen Gründen zur Unzulässigkeit. 456 Däubler, Tarifvertragsrecht Nr. 1183; ders., in: Däubler/Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit, S. 45; ders., BB 2002, 1643 (1647); ob das LAG Düsseldorf, Urt. v. 29.1.1974, EZA Nr. 20 zu Art. 9 GG, sich ebenfalls diese Berechnung zu Eigen gemacht hat, wird widersprüchlich beurteilt: für eine Interpretation im Sinne Däublers Farthmann/Coen, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, § 19 Rn. 78 Fn. 145; anders aber die Sachverhaltsdarstellung von Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 40, wonach die Grenze bei der Höhe des Gewerkschaftsbeitrages liegt. 457 Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 129.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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zulässig sein soll. Soweit nämlich die Gewerkschaftsbeiträge als verloren angesehen würden, werde der organisierte Arbeitnehmer um diesen Betrag gegenüber dem Außenseiter – der ebenfalls von den Tarifverträgen profitiere – benachteiligt. Werde der Organisierte um den doppelten Betrag der Beiträge besser gestellt, so werde die Differenz zum Außenseiter aufrechterhalten, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Damit wird unterstellt, dass das, was als Anreiz zum Koalitionsaustritt keine Wirkung entfaltet, nicht zum Koalitionsbeitritt zwingt. Diese Ansicht führt aber dann zu Schwierigkeiten, wenn durch den Tarifvertrag Vorteile gewährt werden, die nicht oder nur teilweise in Geld zu messen sind. Wie wird beispielsweise eine Regelung behandelt, nach der – wie es etwa zugunsten der gewerkschaftlichen Vertrauensleute458 oder spezieller gewerkschaftlicher Funktionswahrnehmung459 diskutiert wird – die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer einen Tag zusätzlicher bezahlter Freistellung erhalten, um an Tarifverhandlungen teilzunehmen oder sich von ihrer Gewerkschaft in Rechtsdingen schulen zu lassen?460 Auch die Bedeutung von Vorruhestand bzw. Altersteilzeit für den einzelnen Arbeitnehmer wird sich nur schwerlich in dieses Schema pressen lassen. Schließlich gibt es noch einzelne Autoren, die auf genaue Angaben verzichten und Differenzierungsklauseln bis zur Grenze des § 138 BGB für zulässig erachten, ohne aber deutlich zu machen, in welchem Verhältnis negative Koalitionsfreiheit und einfachgesetzliche Sittenwidrigkeit stehen.461 Kann man nach dem oben Gesagten den Gewerkschaftsbeitrag als untere Grenze ansehen, ab der eine Differenzierung überhaupt erst rechtfertigungsbedürftig wird, stellt sich weiterhin die Frage nach der Obergrenze zulässiger Differenzierung. Den Verfechtern von Differenzierungsklauseln wurde vielfach vorgeworfen, dass sie zu einer Pfennigrechnung462 gelangen würden. In der Tat ist es problematisch zu versuchen, die Grenzen zulässiger Differenzierung in die-

458 Vgl. die Fallgestaltung von LAG Düsseldorf, Urt. v. 25.8.1995, ArbuR 1996, 238 ff.; Kraft, ZfA 1976, 243 (246); Bauer/Haussmann, NZA 1998, 854 (855); Herschel, ArbuR 1977, 137 (141); Kempen/Zachert, TVG, § 1 Rn. 269; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 849 ff.; Struck, Vertrauensleute, S. 45; Wlotzke, RdA 1976, 80 (85); Zachert, BB 1976, 514 (514). 459 BAG, Urt. v. 20.4.1999, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk; BAG, Urt. v. 5.4.1978, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Banken: Teilnahme als Gewerkschaftsvertreter an Tarifverhandlung. 460 Vgl. beispielsweise den Beschluss des 7. Gewerkschaftstages der Gewerkschaft Textil-Bekleidung zur Freistellung von Gewerkschaftsmitgliedern (zitiert nach MayerMaly, BB 1965, 829 [830]). 461 Kittner/Schiek, in: Alternativkommentar, 3. Aufl., Art. 9 Abs. 3 Rn. 110; in diesem Sinne bereits Kittner, in: Alternativkommentar, 2. Aufl., Art. 9 Abs. 3 Rn. 41. Hensche, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 879, sieht jedenfalls bei Sittenwidrigkeit und Wucher die negative Koalitionsfreiheit als verletzt an, legt sich aber nicht fest, ob geringere Differenzierungen bereits unzulässig sind. Ohne Obergrenze: Heiseke, RdA 1960, 299 (303); Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 137 f.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

sem Sinne ausloten zu wollen. Ab wann schlägt der „Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt“ in einen „Druck zum Gewerkschaftsbeitritt“ um? Von Reuß wird apodiktisch festgestellt, dass die Obergrenze dann erreicht ist, sobald ein wirtschaftlich unausweichlicher Zwang entsteht.463 Dies ist sicherlich richtig, da bei einem unausweichlichen Zwang die positive Koalitionsfreiheit die negative verdrängt, sodass nicht mehr von praktischer Konkordanz gesprochen werden kann. Jedoch müssen Kriterien gefunden werden, um diesen Punkt zu bestimmen und damit die Obergrenze in der Praxis handhabbar zu machen. Eine absolute Obergrenze für das, was der Einzelne an Differenzierung – und damit an Beitrittsdruck – hinzunehmen hat, ist beim Unterschreiten des grundgesetzlich gewährleisteten Existenzminimums zu sehen. Durch das Existenzminimum wird eine Grenze markiert, bei deren Unterschreiten ein menschenwürdiges Dasein in Frage gestellt wird. Nach den Wertungen des Grundgesetzes ist ein solcher Zustand nicht hinzunehmen, weshalb der Staat zum Handeln verpflichtet wird; dem Einzelnen kann sogar ein originäres Leistungsrecht erwachsen.464 Führt die Differenzierungsklausel zu einem Unterschreiten des Existenzminimums, kann von einem wirtschaftlich unausweichlichen Zwang gesprochen werden, da der Einzelne so großen wirtschaftlichen Nöten ausgesetzt ist, dass er der staatlichen Unterstützung bedarf. Zu einem „Dulden“ – d.h. Hinnehmen der durch den Tarifvertrag verursachten Schlechterstellung – kann er nicht mehr verpflichtet sein. An die absolute Obergrenze dürfte es heranreichen, wenn der Arbeitsplatz auf dem Spiel steht. In einem Betrieb in NRW hat die IG Metall mit dem Arbeitgeber vereinbart, dass ihre Mitglieder während der Laufzeit des Tarifvertrags nicht betriebsbedingt gekündigt werden können.465 Damit wächst allerdings das Risiko der Außenseiter, gekündigt zu werden. Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes droht in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit innerhalb absehbarer

462 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierung, S. 27; hinsichtlich der Unterstützungszahlung des Arbeitgebers an ausgesperrte Außenseiter befürwortet Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 297, ausdrücklich eine „Groschenrechnung“. 463 Reuß, AcP Bd. 166 (1966), 518 (522); ders., ArbuR 1970, 33 (35); ähnlich Herschel, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 28 („der Tarifvertrag verstößt erst dann, dann aber auch immer, gegen die gewährleistete Koalitionsfreiheit, wenn er die Wahl des Individuums zwischen mehreren Möglichkeiten praktisch blockiert.“). Nach Fechner, Rechtsgutachten, S. 34 f., ist die negative Koalitionsfreiheit dann beeinträchtigt, wenn dem unter Druck Gesetzten jede Bewegungsmöglichkeit genommen, seine Existenz vernichtet oder seine Entschließungsfreiheit durch verwerfliche Mittel beeinträchtigt wird. 464 BVerfG, Beschl. v. 29.5.1990, 82, 60 (85; siehe zur Sozialhilfe als Anhaltspunkt S. 93 ff.); Beschl. v. 18.6.1975, BVerfGE 40, 121 (133 f.); siehe zur Gewährleistung des Existenzminimums Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Rn. 36, 40; Stern, in: ders. Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1226. 465 Siehe Einblick Nr. 18/04, S. 1; Die Zeit v. 4.11.2004, S. 25. Ob diese Klauseln mit dem Kündigungsrecht zu vereinbaren sind, muss an dieser Stelle offen bleiben. Gamillscheg, NZA 2005, 146 (150), hält diese Bestimmungen für nichtig.

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Zeit der Bezug des Arbeitslosengeldes II, das sich zumindest in der Nähe des Existenzminimums bewegt. Das Existenzminimum markiert natürlich nur ein Extrem. Weiterhin bleibt zu klären, wie der Raum zwischen der Obergrenze und der Untergrenze auszufüllen ist, d.h. anhand welcher Maßstäbe der Konflikt der widerstreitenden Rechte zu lösen ist. Rechtsprechung und Teile der Literatur gehen im Hinblick auf die Verletzung anderer negativer Grundrechte davon aus, dass eine Verletzung erst dann vorliegt, wenn eine zumutbare Möglichkeit des Ausweichens nicht mehr gegeben ist, der Einzelne den störenden Aktivitäten also unentrinnbar ausgesetzt ist. Unter Umständen kann es dem Einzelnen auch zuzumuten sein, lediglich passiv zu bleiben und – wie beim Schulgebet – die Grundrechtsausübung Dritter zu erdulden.466 Für die vorliegende Problematik bedeutet das, dass das Zumutbare unterhalb des Unausweichlichen liegen muss. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob sich die Zumutbarkeit neben dem bloßen Hinnehmen der Folgen des Nichtbeitritts auch darauf erstreckt, dass der Arbeitnehmer den materiellen Nachteil an anderer Stelle durch individuell mit dem Arbeitgeber vereinbarte Vorteile ausgleichen kann. So könnte beispielsweise ein „vermindertes“ Weihnachtsgeld durch ein erhöhtes Urlaubsgeld kompensiert werden. Hier dürfte allerdings die Schwelle der Zumutbarkeit überschritten sein, da es im Einzelfall eher zufällig erscheint, ob der Arbeitnehmer für sich eine Vergünstigung aushandeln kann, die im Betrieb sonst nicht gewährt wird. Wäre die Gültigkeit der Abstandsklausel im Hinblick auf die Ausweichmöglichkeit zu beurteilen, würde der Tarifvertrag zudem mit einer für alle Beteiligten nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheit belastet. Konkretere Anhaltspunkte, was dem Einzelnen noch zuzumuten ist, bietet die Rechtsprechung zu § 138 BGB, die mit dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ eine gesellschaftliche Grundüberzeugung zum Ausdruck bringen soll und in die grundrechtliche Wertungen eingeflossen sind. Das BAG hat festgestellt, dass § 138 BGB elementare Gerechtigkeitsanforderungen zum Ausdruck kommen, die der gesamten Rechtsordnung zu Grunde liegen. Die Gerechtigkeitsanforderungen seien Ausfluss der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit sowie des Sozialstaatsprinzips.467 Damit können ohne Verstoß gegen die Normhierarchie aus der Anwendungspraxis des einfachrechtlich geltenden § 138 BGB Wertungen für die Lösung grundrechtlicher Konflikte entnommen werden. Nach der Rechtsprechung verstößt ein Arbeitsvertrag, der ein bestimmtes Lohnniveau unterschreitet und damit ein auffälliges Missverhältnis von Leis466 BVerfG, Beschl. v. 16.10.1979, BVerfGE 52, 223 (248 f.); BVerwG, Urt. v. 30.11.1973, BVerwGE 44, 196 (200); Hufen, DÖV 1983, 353 (358); vgl. auch die Nachweise bei Hellermann, Freiheitsrechte, S. 109 Fn. 80. 467 BAG, Urt. v. 24.3.2004, NZA 2004, 971 (973).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

tung und Gegenleistung zeigt, gegen die guten Sitten. Zwar hat das BAG hierfür nicht auf den einschlägigen Tarifvertrag abgestellt, sondern auf das allgemeine Lohnniveau im jeweils einschlägigen Wirtschaftsgebiet,468 ohne dieses Gebiet näher zu präzisieren. Da jedoch die Tarifverträge für das Wirtschaftsleben in der Regel bestimmend sind, muss ihnen eine gewichtige Indizwirkung zukommen. Zudem hat die Maßstabsbildung anhand des Tarifvertrags den Vorteil, dass die Sittenwidrigkeit berufsgruppenspezifisch festgestellt werden kann. Die wesentliche Unterschreitung des Durchschnittslohns in einem bestimmten Wirtschaftsgebiet ist ein Anhaltspunkt für einen Zustand, der ein staatliches Eingreifen erfordert (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 ESC). Um ermitteln zu können, ob ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung vorliegt, ist jedoch ein Vergleich, welche Leistung in ähnlich gelagerten Fällen zur Erlangung der Gegenleistung erbracht werden muss, erforderlich. In einer neueren Entscheidung hat das BAG nicht mehr ausschließlich auf das „Lohnniveau im Wirtschaftsgebiet“ abgestellt, sondern erstmals anerkannt, dass die Tariflöhne des jeweiligen Wirtschaftszweigs dann maßgeblich sind, wenn in dem Wirtschaftsgebiet üblicherweise der Tariflohn gezahlt wird.469 Ob sich hier ein Umschwung in der Rechtsprechung anbahnt, bleibt abzuwarten. Das LAG Berlin hat jedenfalls direkt auf den einschlägigen Tarifvertrag abgestellt und Sittenwidrigkeit im entschiedenen Fall bei weniger als 42% der tariflichen Vergütung angenommen.470 Als fester Grenzwert scheint sich „zwei Drittel des Tariflohns“ in Literatur und Rechtsprechung durchzusetzen.471 Wenn Art. 4 Abs. 1 ESC von 468 BAG, Urt. v. 11.1.1973, AP Nr. 30 zu § 138 BGB (Bl. 2 R f.); bestätigt durch BAG, Urt. v. 23.5.2001, ArbuR 2001, 509 (510). Ebenso LAG Düsseldorf, Urt. v. 23.8.1977, BB 1978, 256. Kritisch zu diesem Vergleichsmaßstab Peter, ArbuR 1999, 289 (290 f.). In seinem Urt. v. 22.4.1997, AP Nr. 52 zu § 138 BGB (Bl. 1 R f.), hat es der BGH unbeanstandet gelassen, dass zur Ermittlung des Wuchertatbestandes des § 291 StGB (§ 302a StGB a. F.) der tarifvertragliche mit dem tatsächlichen Lohn verglichen wurde. Wie Kittner/Schiek, in: Alternativkommentar, 3. Aufl., Art. 9 Abs. 3 Rn. 110 Fn. 279, dem Urt. des BAG v. 11.1.1973 eine Grenze von 50% unter Tariflohn entnehmen, ist nicht nachvollziehbar. 469 BAG, Urt. v. 24.3.2004, NZA 2004, 971 (972). 470 LAG Berlin, Urt. v. 20.2.1998, NZA-RR 1998, 392 (292); ähnlich Konzen, Anm. zu AP Nr. 30 zu § 138 BGB, Bl. 4 R f. („gewichtiges Indiz für ein deutliches Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung“). Siehe zu weiteren Beispielen aus der Rechtsprechung Lakies, NZA-RR 2002, 337 (340), sowie allgemein zur Bestimmung des Bezugs- und Grenzwerts (S. 341 f.). Ein Beispiel für Sittenwidrigkeit ohne Bezug auf eine übliche Vergütung bietet LAG Bremen, Urt. v. 27.9.1974, AP Nr. 33 zu § 138 BGB. Vgl. hierzu Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1588 ff., sowie im Hinblick auf sonstige Mindestarbeitsbedingungen Rn. 1598 f. 471 LAG Berlin, Urt. v. 20.2.1998, NZA-RR 1998, 392 (292); Lakies, in: Däubler, TVG, § 5 Anhang I Rn. 45; Linnenkohl, ArbuR 2004, 41 (41 f.); Peter, ArbuR 2001, 510 (511); dies., ArbuR 1999, 289 (293); Reinecke, NZA 2000 Beil. zu Heft 3, 23 (32); von BGH, Urt. v. 22.4.1997, AP Nr. 52 zu § 138 BGB unbeanstandet gelassen; ausdrücklich offen gelassen von BAG, Urt. v. 23.5.2001, ArbuR 2001, 509 (510) („Oberhalb [der 2/3-Grenze] kann jedenfalls . . . ein sehr deutliches Unterschreiten der üblichen Entgelthöhe nicht angenommen werden.“). Bei der Berufausbildung gilt ein

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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dem „gerechten Arbeitsentgelt“ spricht, wird besonders deutlich, dass eine untertarifliche Beschäftigung ungerecht und damit unzumutbar sein kann. Der Sachverständigenausschuss geht – ähnlich dem zuvor genannten Grenzwert – davon aus, dass als Maßstab für den gerechten Lohn 68% des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts des jeweiligen Landes zu sehen ist.472 Nach dem zuvor Gesagten bleibt festzuhalten, dass ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten dann gegeben ist, wenn die Tarifausschlussklausel eine Differenzierung des Leistungsniveaus von mehr als einem Drittel festlegt. Denn dann ist es den Nichtorganisierten nicht zumutbar, gemäß ihrer Überzeugung auf einen Gewerkschaftsbeitritt zu verzichten und die Differenzierung weiter hinzunehmen.473 Bestehen allerdings gesetzlich festgelegte Mindestarbeitsbedingungen wie z. B. hinsichtlich des Urlaubsanspruchs, kann prima facie davon ausgegangen werden, dass die Nichtorganisierten nicht unzumutbar belastet werden, wenn sie zu entsprechenden Konditionen arbeiten müssen. Etwas anders kann nur dann gelten, wenn sich herausstellt, dass der Staat völlig unzureichende Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer getroffen und damit seine Schutzpflichten evident verfehlt hat. Für einen solchen gegen das Untermaßverbot verstoßenden und damit verfassungswidrigen Zustand der gegenwärtigen Gesetzeslage, bestehen jedoch gegenwärtig keine Anhaltspunkte. 2. Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG Der voranstehende Abschnitt hat gezeigt, dass man auch dann, wenn man der überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur folgt und in Art. 9 Abs. 3 GG einen Schutz der negativen Koalitionsfreiheit sieht, zu einer umfassenden verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln gelangt. Wie wirkt es sich nun auf das Ergebnis aus, wenn man anstelle des Art. 9 Abs. 3 GG den Art. 2 Abs. 1 GG heranzieht? Zunächst könnte man bei Sichtung der Literatur meinen, dass Art. 2 Abs. 1 GG im Vergleich zu Art. 9 Abs. 3 GG einen schwachen bis gar keinen Schutz bieten kann474 und dementsprechend die Beantwortung der Frage ohne großen dogmatischen Aufwand gelinstrengerer Maßstab. In seinem Urt. v. 30.9.1998, AP Nr. 8 zu § 10 BBiG, hat das BAG eine Ausbildungsvergütung als unangemessen i. S. v. § 10 BBiG angesehen, die die Empfehlung der zuständigen Kammer um mehr als 20% unterschritten hat (vgl. hierzu Lakies, a. a. O., § 5 Anhang I Rn. 13 ff.). Nach Preis, in: Erfurter Kommentar, BGB, § 612 Rn. 3, ist jedenfalls bei 50% des Tariflohns die Grenze der Sittenwidrigkeit erreicht. 472 Committee of Independent Experts, Conclusions, Bd. V, Straßburg 1977, S. 25 f. Vgl. Peter, ArbuR 1999, 289 (294). 473 Siehe zu der Frage, ob sich hieraus ein Verstoß gegen § 138 BGB ergeben kann unten S. 295 ff. 474 Vgl. beispielsweise die Ansichten von Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 50; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 159;

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

gen muss. Häufig wird die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte „allgemeine Handlungsfreiheit“ als Grundrecht zweiter Klasse angesehen. In diesem Sinne geht beispielsweise Leventis von einem generellen Vorrang der positiven Koalitionsfreiheit aus: „Fällt also eine Maßnahme oder Handlung unter die Grundrechtsausübung der positiven Koalitionsfreiheit, dann kann sie nicht gegen die negative Koalitionsfreiheit verstoßen.“475 Letztendlich findet hierin – zumindest partiell – der Streit seinen Ursprung, wie die negative Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich zu schützen ist: Je nach Standpunkt besteht die Befürchtung einer Aushöhlung der negativen Koalitionsfreiheit oder die Hoffnung auf eine Stärkung der positiven Koalitionsfreiheit. a) Verhältnis von Art. 2 Abs. 1 GG zu Art. 9 Abs. 3 GG aa) Bereits oben476 wurde festgestellt, dass es keine abstrakte Rangfolge hinsichtlich der Wertigkeit der einzelnen Grundrechte gibt. Folge hiervon ist, dass – soweit anerkannt – die negative Seite des Art. 9 GG der positiven weder nachsteht noch vorangeht. Entsprechendes muss auch zugunsten von Art. 2 Abs. 1 GG gelten: Dafür, dass die negative Koalitionsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG der positiven Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG bei einer abstrakten Betrachtung nachsteht, ergeben sich aus dem Grundgesetz keine Anhaltspunkte. Zwar steht die allgemeine Handlungsfreiheit – und mit ihr die negative Koalitionsfreiheit – unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung, wohingegen die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG im Ergebnis477 unbeschränkt gewährleistet wird. Jedoch lässt sich hieraus nicht ableiten, dass bei einer Grundrechtskollision das beschränkbare Grundrecht dem unbeschränkbaren nachgeht.478 Die Schranken bringen lediglich zum Ausdruck, dass im Parlamentarischen Rat in der Ausübung einzelner Grundrechte eine besondere Konfliktträchtigkeit gesehen wurde. Manche Grundrechte sind störanfälliger als andere: Versammlungen unter freiem Himmel stehen gem. Art. 8 Abs. 2 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt, wohingegen Versammlungen in geschlossenen Räumen unbeschränkt gewährleistet werden. Die Wissenschaftsfreiheit ist nach Art. 5 Abs. 3 GG ebenfalls ein vorbehaltloses Grundrecht; in das Recht auf Leben kann gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG aufgrund eines Gesetzes eingegrifRieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 612; Schwerdtfeger, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 182. 475 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 50. 476 Vgl. oben S. 86 f. 477 Siehe zu den Versuchen, einen Gesetzesvorbehalt zu konstruieren S. 83 f. 478 Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 76 f.; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 200 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 316; Rüfner, in: FG BVerfG II, S. 453 (462 f.); Säcker, Grundprobleme, S. 133; Stern, in: ders., Staatsrecht, Bd. III/2, S. 613 f.; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 111; Scheuner, DÖV 1971, 505 (509).

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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fen werden. Die Vorrangigkeit der Wissenschaftsfreiheit wird deshalb wohl niemand behaupten. Hieran wird deutlich, dass die Grundrechtsschranken keine indizielle Bedeutung für die Wertigkeit eines Grundrechts haben. Dementsprechend ändert sich nichts an der allgemeinen Aussage, dass sich ein abstraktes Rangverhältnis zwischen einzelnen Grundrechten nicht begründen lässt. Das bedeutet nicht, dass auch die jeweiligen vom Grundrecht geschützten Handlungen gleichrangig sind. Bei einer konkreten Betrachtung kann nach der Bedeutung unterschieden werden, die die einzelne Handlung für die Grundrechtsverwirklichung hat. bb) Nachdem festgestellt wurde, dass Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 9 Abs. 3 GG gleichrangig sind, bleibt zu klären, mit welcher Intensität die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit auf das Privatrecht einwirkt. An sich gelten die Grundrechte in Privatrechtsverhältnissen nur mittelbar insbesondere über die Generalklauseln des einfachen Rechts. Dementsprechend verbürgt Art. 2 Abs. 1 GG, der immer einer einfachgesetzlichen Umsetzung bedarf, einen im Vergleich zu Art. 9 Abs. 3 GG geringeren Schutz, da dessen Satz 2 eine unmittelbare Drittwirkung ermöglicht. Diese Unterscheidung wirkt sich dann nicht aus, wenn von einer unmittelbaren Bindung der Tarifparteien an die Grundrechte ausgegangen wird.479 In diesem Falle müssten die Koalitionen die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten gleichermaßen beachten, unabhängig von einer Verankerung in Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 9 Abs. 3 GG. Da allerdings allein die Tarifausschlussklauseln zu Kollisionen mit der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten führen, die normativ wirkenden einfachen Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln den Schutzbereich unberührt lassen, ist das Augenmerk im Folgenden auf die schuldrechtlichen Tarifvertragsklauseln zu richten. Soweit die Tarifvertragsparteien schuldrechtliche Vereinbarungen treffen, die nur zwischen den Vertragsparteien wirken, findet eine Bindung an die Grundrechte nur mittelbar statt.480 Denn gerade die Normsetzungsbefugnis wird als Argument angeführt, um über Art. 1 Abs. 3 GG eine staatsgleiche Grundrechtsbindung zu begründen. Die mittelbare Grundrechtsbindung ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass beide entgegenstehenden 479 BAG, Urt. v. 13.5.1997, AP Nr. 36 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung (Bl. 3); Urt. v. 7.3.1995, AP Nr. 26 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung (Bl. 3 f.); Urt. v. 15.1.1955, AP Nr. 4 zu Art. 3 GG; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 73; Gamillscheg, Grundrechte, S. 104. Für eine mittelbare Drittwirkung BAG, Urt. v. 27.5.2004, NZA 2004, 1399 (1401); Urt. v. 25.2.1998, AP Nr. 11 zu § 1 TVG Luftfahrt (Bl. 2 R); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 1 Rn. 31; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 218 f. (anders in der Tendenz noch die Vorauflage Rn. 155 f.); Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1273; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 357; Zöllner/ Loritz, Arbeitsrecht, S. 102 f. Siehe allgemein zur Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien Friedrich, in: Umbach/Clemens, Anhang zu Art. 9 Rn. 11 ff. 480 MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 278 Rn. 6; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 225; a. A. Gamillscheg, Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 105; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 115.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Grundrechte im Rahmen der mittelbaren Geltung gleichrangig sind und bei einer Grundrechtskollision gegeneinander abgewogen werden müssen. Allerdings kann eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG durch Private nur dann geltend gemacht werden, wenn der Tatbestand entsprechender zivilrechtlicher Normen, die der Gesetzgeber in Ausführung seiner Schutzpflicht geschaffen hat, erfüllt ist. Deshalb hat Art. 2 Abs. 1 GG in der vom einfachen Gesetzgeber ausgestalteten Rechtsordnung eine schwächere Stellung als Art. 9 Abs. 3 GG. Beeinträchtigungen des Art. 2 Abs. 1 GG sind nur dann rechtswidrig, wenn sie sittenwidrig sind (§ 138 BGB) oder gegen Treu und Glauben verstoßen (§ 242 BGB). Art. 9 Abs. 3 GG ist hingegen – anders als Art. 2 Abs. 1 GG – ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB.481 Zwar sieht das ArbG Ahrensburg in der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten negativen Koalitionsfreiheit ein Verbotsgesetz aufgrund der herausragenden Bedeutung der negativen Koalitionsfreiheit.482 Hieran ist richtig, dass nach Art. 2 EGBGB „Gesetz“ i. S. d. § 134 BGB jede Rechtsnorm sein kann483 und damit auch eine Grundgesetznorm. Allerdings bestehen hiergegen Bedenken, weil die Grundrechte an sich nicht zwischen Privatpersonen gelten; Art. 9 Abs. 3 GG nimmt diesbezüglich eine Sonderstellung ein, indem er die unmittelbare Wirkung im Privatrecht ausdrücklich anordnet. Demzufolge kann Art. 2 Abs. 1 GG gerade nicht die Aussage entnommen werden, dass Rechtsgeschäfte, die gegen die negative Koalitionsfreiheit verstoßen, verboten sind. § 134 BGB setzt ein Verbotsgesetz voraus, kann aber keines begründen.484 Das Verständnis des ArbG Ahrensburg setzt sich demgegenüber über den tatbestandsbegrenzenden Wortlaut des § 134 BGB hinweg und lässt im Ergebnis jedes (gegen Grundrechte verstoßende) missbilligte Verhalten genügen. Aus diesem Grund kann die negative Koalitionsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG nicht als Verbotsgesetz herangezogen werden. Es stellt sich nun folgende Frage: Führt die mittelbare Drittwirkung zu einem anderen Ergebnis bei der Abwägung der kollidierenden Grundrechte als die unmittelbare? Anders formuliert: Ist die Position der Außenseiter eine schwächere, wenn ihre negative Koalitionsfreiheit nur von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet wird? Das BVerfG hat festgestellt, dass Art und Ausmaß der grundrechtlich begründeten Schutzpflichten und damit die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte durch die Intensität der jeweiligen Grundrechtsbeeinträchtigung beeinflusst 481 v. Münch, in: Bonner Kommentar, Art. 9 (Zweitbearbeitung) Rn. 169; PalandtHeinrichs, § 134 Rn. 4; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 Rn. 333. 482 ArbG Ahrensburg, Urt. v. 12.4.1996, NJW 1996, 2516 (2517). 483 Palandt-Heinrichs, § 134 Rn. 2. 484 Im Ergebnis ebenso Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 357; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1543; Dürig, in FS für Nawiasky, S. 162; Schaub, in: ders., Arbeitsrechts-Handbuch, § 35 Rn. 13; anders aber die Rechtsprechung des BAG zu Art. 3 GG, die auf § 134 BGB abstellt: BAG, Urt. v. 9.3.1994, AP Nr. 31 zu § 23a BAT (Bl. 4); zustimmend Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 263.

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wird.485 Der einzelne Arbeitnehmer ist dem Arbeitgeber strukturell unterlegen. Dieses Machtgefälle kann noch verstärkt werden, wenn die Tarifvertragsparteien (vermittelt durch den Arbeitgeber) auf die Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer einwirken. Für derartige Fälle hat Hesse darauf hingewiesen, dass die Grundrechte bei der Auslegung von Generalklauseln in einer mit der staatsgerichteten Abwehrfunktion vergleichbaren Weise berücksichtigt werden müssen: „Dagegen müssen die Grundrechte die Auslegung privatrechtlicher Vorschriften um so nachhaltiger beeinflussen, je mehr es um den Schutz personaler Freiheit gegen Ausübung wirtschaftlicher oder sozialer Macht geht.“486 Auch das BVerfG stellt in vergleichbarer Weise für die Intensität der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf die ungleiche Verhandlungsstärke der beteiligten Parteien ab.487 Aus diesem Grund besteht im Arbeitsrecht eine besondere Schutzpflicht des Staates. Die sich hieraus ergebende Art der Drittwirkung der Grundrechte führt damit zu vergleichbaren Resultaten, wie sie sich aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Kollision von Grundrechten ergeben.488 b) Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit Art. 2 Abs. 1 GG Soweit die negative Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG den Differenzierungsklauseln nicht entgegen steht, kann auch für die negative Koalitionsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG nichts anderes gelten. Denn letzterer bietet diesbezüglich 485 BVerfG, Beschl. v. 11.5.1976, BVerfGE 42, 143 (148 f.); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 Rn. 60. 486 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 357 (Hervorhebungen im Original); ebenso Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 Rn. 60; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1595; Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3 I Rn. 195; ähnlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 668 ff.; ders., Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 105, der allerdings aufgrund der sozialen Macht der Koalitionen zu einer (im Ergebnis abgeschwächten) unmittelbaren Drittwirkung kommt. 487 BVerfG, Beschl. v. 7.2.1990, BVerfGE, 81, 242 (254 f.); Beschl. v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214 (234); siehe hierzu Honsell, NJW 1994, 565 f.; vgl. zur Bedeutung der „Bürgschaftsrechtsprechung“ für das Arbeitsrecht di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 113; Dieterich, NZA 1996, 673 (675 f.); Germelmann, NZA 1997, 236 (236 ff.). Ob indes bei der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln ein solches Machtgefälle besteht, ist nicht so offensichtlich, wie es zunächst scheint. Der Große Senat des BAG hat schließlich in seinem Urt. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22), hervorgehoben, dass der unternehmerische Erfolg mit der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer zusammenhängt. Dann liegt aber kein kollusives Zusammenwirken von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden mit Lastwirkung für die Außenseiter vor; vielmehr vertritt der Arbeitgeber mit seiner wirtschaftlichen Macht die Interessen der Außenseiter (vgl. zu § 138 BGB unten S. 291 ff.). 488 Boemke, in: FS 50 Jahre BAG, S. 626, 630; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 13 Rn. 162; Waltermann, in: FS 50 Jahre BAG, S. 924 f., 926; ders., RdA 1990, 138 (141). Verkannt wird allerdings zumeist, dass der allgemeine Gleichheitssatz keine Schutzpflichten statuiert. Deshalb kann Art. 3 Abs. 1 GG keine mittelbare Drittwirkung entfalten (siehe im Einzelnen unten S. 211).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

zwar keinen schwächeren Schutz, aber eben auch keinen stärkeren bzw. anderen als Art. 9 Abs. 3 GG. Dies hat zur Folge, dass einfache Differenzierungsklauseln genauso wie Abstandsklauseln unabhängig von ihrer Höhe zulässig sind. Schließlich fehlt es hier bereits an einer Beeinträchtigung des Schutzbereichs der negativen Koalitionsfreiheit. Eine staatliche Schutzpflicht gelangt damit gar nicht erst zur Entstehung. Deshalb ist es ohne Folge, ob die Tarifvertragsparteien bei normativen Tarifklauseln unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Bei den lediglich schuldrechtlich wirkenden Tarifausschlussklauseln besteht hingegen, soweit die Differenzierung den Gewerkschaftsbeitrag überschreitet, eine Kollisionslage, die einen Ausgleich erforderlich macht. Hierfür gelten die obigen Ausführungen entsprechend. Bei den Tarifausschlussklauseln kollidieren die negative und die positiver Koalitionsfreiheit. Da es Art. 2 Abs. 1 GG an der unmittelbaren Drittwirkung fehlt, ist eine einfachgesetzliche „Transformation“ der Grundrechte erforderlich. Der Gesetzgeber ist gehalten, Regelungen zu schaffen, um in Konfliktsituationen wie der vorliegenden einen Ausgleich der kollidierenden Grundrechte zu ermöglichen. Erst in dem einfachgesetzlichen Rahmen kann Art. 2 Abs. 1 GG zur Durchsetzung verholfen werden.489 Der aus den Grundrechten resultierenden Schutzpflicht ist der Gesetzgeber durch Schaffung des § 138 BGB nachgekommen, innerhalb dessen ein schonender Ausgleich der kollidierenden Grundrechte herbeizuführen ist, bei dem wiederum die oben erläuterte Intensität der Grundrechtsbindung zu berücksichtigen ist. Da § 138 BGB als Generalklausel für eine direkte Anwendung zu unbestimmt ist, sind die Gerichte verpflichtet, die den Staat treffenden Schutzpflichten für den Einzelfall zu aktualisieren. In der Regel hat der Staat einen großen Spielraum, wie er seine Schutzverpflichtungen erfüllt. Eine Verletzung von Rechten des Einzelnen kann erst dann eintreten, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben.“490 In all diesen Fällen verfehlt der Staat die ihn treffenden Schutzpflichten evident. Ansonsten reicht es aus, wenn der Staat die kollidierenden Positionen in einem Verfahren gegeneinander abwägt, auch wenn er sich im Ergebnis für das Nichthandeln entscheidet.491 Den Staat trifft keine Pflicht zum Tätigwerden, solange die Differenzierung noch nicht die Höhe des Gewerkschaftsbeitrages erreicht hat. Die staatlichen 489 Vgl. zu der Frage, ob den das Privatrecht erlassenden Gesetzgeber lediglich Leistungspflichten treffen, oder ob eine Bindung an die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte besteht Epping, Grundrechte, Rn. 319 ff. 490 BVerfG, Urt. v. 10.1.1995, BVerfGE 92, 26 (46). 491 BVerfG, Beschl. v. 3.5.1977, BVerfGE 53, 30 (59 f.); Beschl. v. 29.10.1987, BVerfGE 77, 170 (214 f.); Beschl. v. 25.8.2000, NJW 2001, 594 (595). Vgl. hierzu Epping, Grundrechte, Rn. 114 ff.

A. Negative Koalitionsfreiheit der Nichtkoalierten

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Schutzpflichten werden erst dann aktualisiert, wenn ein Verhalten vorliegt bzw. bevorsteht, das als Eingriff anzusehen wäre, würde es vom Staat ausgehen. Die absolute Obergrenze einer Außenseiterbenachteiligung muss dann vorliegen, wenn der Staat zum Handeln gezwungen ist, wenn Nichthandeln also keine Option mehr ist. Um zu bestimmen, wann dies der Fall ist, müssen Kriterien aus dem Grundgesetz entwickelt werden. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ergibt sich eine Pflicht zum Tätigwerden – ggf. sogar ein originäres Leistungsrecht – wenn das grundgesetzlich gewährleistete Existenzminimum gefährdet ist.492 Eine Form des Tätigwerden ist darin zu sehen, dass der Staat solchen (Tarif-)Verträgen die rechtliche Anerkennung versagt, indem er ihre Nichtigkeit gem. § 138 BGB anordnet. Zwischen Ober- und Untergrenze der Differenzierung besteht für den Staat ein Gestaltungsspielraum, um zu präzisieren, was dem Einzelnen noch zugemutet werden kann, d.h. welchen Druck zum Koalitionsbeitritt er hinzunehmen hat, ohne dass er in seiner negativen Koalitionsfreiheit verletzt wird. Die Rechtsprechung hat mit ihren Ausführungen zur Sittenwidrigkeit von Arbeitsverträgen deutlich gemacht, welche Arbeitsbedingungen bzw. welche Abstände zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern für den Einzelnen noch akzeptabel sind, sodass sich die Bewertung der Differenzierungsklauseln hieran orientieren kann.493 Auch wenn sich in der Rechtsprechung bisher keine einheitliche Linie eingestellt hat, kann als Richtwert „zwei Drittel des Tariflohns“ angenommen werden.494 Ein Individualarbeitsvertrag kann diese Grenze nicht unterschreiten. Dann ist es aber nur konsequent, wenn die Tarifvertragsparteien im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit einen Arbeitsvertrag mit entsprechendem Inhalt – weniger als zwei Drittel der tariflichen Leistungen der Tarifgebundenen – nicht veranlassen dürfen. Das Hinnehmen einer Schlechterbehandlung ist den Außenseitern dann nicht mehr zumutbar, wenn ihre Arbeitsbedingungen gegenüber denen der tarifgebundenen Arbeitnehmer um eine Differenz abweichen, die in der Regel gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Überwiegt die negative Koalitionsfreiheit, ist dies bei der Auslegung von § 138 BGB zu berücksichtigen. Entsprechende Tarifausschlussklauseln sind sittenwidrig. Dieser Betrag mag auf den ersten Blick zufällig erscheinen, bewegt sich aber noch innerhalb des Spielraums des Staates. Da es an konkreteren Vorgaben aus dem Grundgesetz fehlt – insbesondere sind positive und negative Koalitionsfreiheit gleichrangig –, ist es dem Staat freigestellt, auch einen anderen Wert vor492 Vgl. oben S. 182 Fn. 464. Zum Verhältnis von Arbeitseinkommen und Existenzminimum siehe Lakies, NZA-RR 2002, 337 (342). 493 Siehe zu der Frage, ob die durch Differenzierungsklauseln veranlassten Arbeitsverträge aus sich heraus, d.h. unabhängig von der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit, sittenwidrig sein können, unten S. 295 ff. 494 Vgl. die Nachweise oben S. 184 Fn. 471.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

zugeben,495 solange der Wert das Ergebnis einer Abwägung der kollidierenden Grundrechte ist. Insofern ist der Staat in seiner Entscheidung nicht völlig frei, sondern unterliegt weiterhin grundrechtlichen Bindungen. Wo der Gesetzgeber gesetzliche Mindestregelungen geschaffen hat wie z. B. beim Urlaubsanspruch, ist für die Sittenwidrigkeit als Grenze zulässiger Differenzierung kein Platz. Soweit diese Grenze nicht unterschritten wird, kann von einer Unzumutbarkeit des Fernbleibens von der Gewerkschaft nicht gesprochen werden, unabhängig von der Höhe der Differenzierung. 3. Ergebnis Die einfache Differenzierungsklausel ist – auch wenn sie zusammen mit dem Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird – keinesfalls ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit, unabhängig davon, ob Art. 2 Abs. 1 GG (mittelbar) oder Art. 9 Abs. 3 GG (unmittelbar) zur Anwendung gelangt. Hieran ändert sich auch nichts, wenn durch die tariflichen Verpflichtungen die Leistungsgrenze des Arbeitgebers überschritten wird und dadurch die Chancen der Außenseiter auf Gleichstellung verschlechtert werden. Auch Abstandsklauseln sind grundsätzlich unabhängig von der Höhe der Differenzierung zulässig, da sie keinen Einfluss auf individualvertragliche Abmachungen haben. Dabei wirkt es sich nicht aus, ob die Abstandsklauseln an Art. 9 Abs. 3 GG oder an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen sind. Ob die Tarifausschlussklauseln die negative Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG verletzen, ist eine Frage der Einzelfallabwägung, da eine Kollision von positiver und negativer Koalitionsfreiheit vorliegt. Die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit bestimmt sich danach, ob dem Nichtorganisierten das Fernbleiben zumutbar ist. Maßgeblicher Gesichtspunkt dabei ist die Höhe der Besserstellung. Die absolute Obergrenze ist dort erreicht, wo die Außenseiter in Folge der Differenzierung unter das Existenzminimum gedrückt werden. Ansonsten gilt der von der Rechtsprechung entwickelte Wert, ab dem ein Arbeitsvertrag sittenwidrig wird. Insoweit stellt § 138 BGB einen Anhaltspunkt für die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit dar. Anders muss die Beurteilung dann ausfallen, wenn aus dem Tarifvertrag der Wille der Tarifvertragsparteien hervorgeht, die Tarifausschlussklausel entsprechend der Abstandsklausel anzuwenden und individualvertragliche Vereinbarungen ohne kollektiven Charakter von ihrem Anwendungsbereich auszunehmen. Dann hat die Tarifausschlussklausel die alleinige Wirkung, dass dem Nichtorganisierten eine (formularvertragliche) Bezugnahme auf den Tarifvertrag verwehrt wird. Für die Praxis ist allerdings anzumerken, dass eine Tarifausschlussklausel nur in einem Firmentarifvertrag effektiv durchgesetzt werden kann. 495

Vgl. zu weiteren Grenzwerten aus der Rechtsprechung S. 184 Fn. 470.

B. Verletzung der Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten

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Wird die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt, sind die Tarifparteien in der Gestaltung der schuldrechtlichen Abreden im Ergebnis nicht wesentlich freier. Zwar fehlt es Art. 2 Abs. 1 GG an der unmittelbaren Drittwirkung. Jedoch kann das Ungleichgewicht zwischen den tarifschließenden Koalitionen und den Außenseitern zu einer vergleichbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des § 138 BGB führen. Im Ergebnis verletzt es die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter, wenn die Differenzierung zwei Drittel des Tariflohns der tarifgebundenen Arbeitnehmer unterschreitet. Somit erfüllt § 138 BGB seine Schutzfunktion zugunsten der Außenseiter.

B. Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten Die Differenzierungsklauseln betreffen nicht allein die Nichtorganisierten. Auch die in einer anderen als der tarifschließenden Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer können von ihnen berührt werden, wenn die Differenzierungsklauseln nicht allgemein zugunsten aller organisierten Arbeitnehmer gelten. Im Verhältnis zu den Andersorganisierten dienen die beschränkten Differenzierungsklauseln dem gewerkschaftlichen Wettbewerb. Erst hierdurch entsteht ein entsprechender Werbeeffekt, der andersorganisierte Arbeitnehmer zum Bei-, genauer: Übertritt motivieren kann. Ob die Gleichbehandlung aller organisierten Arbeitnehmer zu dem „erfreulichen Ergebnis der Beilegung der gewerkschaftlichen Konkurrenz“496 führt, sei als politische Bewertung an dieser Stelle dahingestellt. Es ist Sache der Gewerkschaften, ob und inwieweit sie den Tarifvertrag als Werbemittel einsetzen wollen. Im Verhältnis zu den Andersorganisierten sind die Differenzierungsklauseln nicht an der negativen, sondern an der positiven Koalitionsfreiheit zu messen. Die positive Koalitionsfreiheit schützt nicht allein die Entscheidung, sich überhaupt koalitionsgemäß zu betätigen. Vielmehr wird nach allgemeiner Ansicht die konkrete Form der Betätigung geschützt, also auch die Freiheit der Wahl unter mehreren Koalitionen sowie der Verbleib in der ausgewählten Koalition.497 Dementsprechend schützt die positive Koalitionsfreiheit vor dem Zwang, in eine andere als die freiwillig gewählte Koalition eintreten zu müssen. Ob und inwieweit Differenzierungsklauseln dieses Recht einschränken, hängt von der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Klauseln ab.

496 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 64; ähnlich Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 44 f. („Deshalb sollte man von den einzelnen Gewerkschaften eher eine nachbarliche Rücksichtnahme und Unterstützung erwarten, als daß sie versuchen, . . . sich wechselseitig Mitglieder abzuwerben.“). 497 Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 89; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 63; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 25.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Unproblematisch sind die Tarifvertragsvereinbarungen mit allgemeinen Differenzierungsklauseln. Diese beinhalten eine Bevorzugung aller gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer. Aus diesem Grund werden die allgemeinen Differenzierungsklauseln als mit der positiven Koalitionsfreiheit in Einklang gesehen.498 Problematischer und umstrittener sind die beschränkten Differenzierungsklauseln, die einen Vorteil an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Koalition knüpfen. Beispielsweise enthielt der Tarifvertrag der Gewerkschaft Textil-Bekleidung aus dem Jahre 1965 eine beschränkte Abstandsklausel, da das erhöhte Urlaubsgeld allein den in ihr organisierten Gewerkschaftsmitgliedern gewährt werden sollte.499 Die beschränkten Differenzierungsklauseln werden überwiegend als Verstoß gegen die positive Koalitionsfreiheit für unzulässig gehalten,500 wobei auch viele prinzipielle Befürworter der Differenzierungsklauseln – zum Teil ohne quantitative Einschränkungen – eine Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten sehen.501 Der Große Senat des BAG behandelt die Fragen, ob eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten und ob eine Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten vorliegt, parallel. Beides bestimme sich anhand der Sozialadäquanz.502 Wie bereits oben im Rahmen der „Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit“ gezeigt, ist die Sozialadäquanz als Gradmesser für das erlaubte Verhalten abzulehnen. Vielmehr ist eine Quantifizierung vorzunehmen und anhand der Erheblichkeit des Druckes, der auf die Nichtorganisierten ausgeübt wird, zu ermitteln, ob ein rechtlich relevanter Druck vorliegt. Soweit ein Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit gegeben ist, stellt sich die Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Nichts anderes kann für die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten gelten: 498 Koch, Koalitionsschutz und Fernbleiberecht, S. 72; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 37 f., 38 f.; vgl. auch die Systematisierung bei Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 32, 52 ff. (insb. S. 64 f.). 499 Vgl. oben S. 48 ff. 500 Heußner, RdA 1960, 295 (296); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 37 f.; Monjau, in: FS für Küchenhoff, S. 125; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 37 f.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 163; Fechner, Rechtsgutachten Holz, S. 59; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 206; Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 292 f. Für die Zulässigkeit: Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 127 Fn. 32; Reuß, AcP 166, 518 (522); Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 137 f.; mit Einschränkungen wohl auch Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 65 ff.; ders., BB 1967, 45 (49 f.). 501 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 145; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1187 (allerdings erst, wenn die Besserstellung die Differenz zwischen den möglicherweise unterschiedlichen Gewerkschaftsbeiträgen übersteigt); Galperin, in: FS für Bogs, S. 91; Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 46; Hanau, JuS 1969, 213 (216); Heiseke, RdA 1960, 299 (299); Leventis, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 63. 502 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 24).

B. Verletzung der Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten

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Erst dann, wenn ein über den bloßen Anreiz hinausgehender erheblicher Druck zum Koalitionswechsel besteht, kann von einem Eingriff gesprochen werden, der einer Rechtfertigung bedarf, dann aber auch einer Rechtfertigung grundsätzlich zugänglich ist.

I. Einfache Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln 1. Unmittelbarer Druck auf die Andersorganisierten Wann von einem rechtlich relevanten Druck gesprochen werden kann, die Koalition zu verlassen und in eine andere Koalition einzutreten, bestimmt sich nach den im Rahmen der negativen Koalitionsfreiheit vorgebrachten Gesichtspunkten. Einfache Differenzierungsklauseln hindern die Andersorganisierten nicht, auf individualvertraglicher Ebene oder auf Tarifebene – soweit der Grundsatz der Tarifeinheit nicht entgegensteht – eine Gleichstellung zu erreichen. Auch die Abstandsklauseln haben keinen Effekt auf die Chance, individualvertragliche Vereinbarungen abzuschließen. Ihr Zweck besteht allein darin, den Arbeitgeber daran zu hindern, durch Gesamtzusage, betriebliche Übung oder einheitliche Arbeitsbedingungen eine Gleichstellung aller Arbeitnehmer zu erreichen. Die Chance auf den Abschluss einer Vereinbarung mit kollektivem Charakter wird jedoch von der positiven Koalitionsfreiheit genauso wenig geschützt wie von der negativen. 2. Schutz der Andersorganisierten durch ihre Koalition An diesem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn davon ausgegangen wird, dass es Teil der positiven Koalitionsfreiheit ist, sich einer von dem eigenen Verband gestalteten Arbeitsordnung zu unterwerfen503. Die (Außenseiter-) Gewerkschaft ist durch die beschränkten Abstandsklauseln nicht gehindert, beliebige Tarifverträge mit dem Arbeitgeber bzw. dem Arbeitgeberverband zu schließen. Soweit eine Gleichstellung aller organisierten Arbeitnehmer nicht erreicht werden kann, bleibt die positive Koalitionsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers hierdurch unangetastet, da er keinen Anspruch auf den Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags hat; die Geltungswirkung des Tarifvertrags seiner Gewerkschaft wird durch die Differenzierungsklauseln nicht eingeschränkt. Allein der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb, der nach Ansicht des BAG auch bei einer Tarifpluralität Anwendung findet504, verhindert, dass eine freie Gestaltung der Arbeitsverhältnisse mittels konkurrierender Tarifverträge möglich ist. 503 Boldt, RdA 1971, 257 (261); Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 137; Buchner, DB 1970, 2074 (2076, 2078); Heß, ZfA 1976, 45 (65 f.); Lieb, DB 1999, 2058 (2062).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Auch eine Beeinträchtigung der kollektiven positiven Koalitionsfreiheit der konkurrierenden Gewerkschaften, die sich möglicherweise auf die rechtliche Stellung ihrer Mitglieder auswirkt und damit zu einer Beeinträchtigung der individuellen positiven Koalitionsfreiheit führen könnte, ist in der Vereinbarung beschränkter Differenzierungsklauseln nicht zu sehen. Zunächst ist keineswegs zwangsläufig, dass sich eine beschränkte Differenzierungsklausel auch gegen den Abschluss konkurrierender Tarifverträge richtet. Gamillscheg hat klargestellt, dass durch das Benachteiligungsverbot des § 4 des Tarifvertrags der GTB entsprechende Tarifverträge mit konkurrierenden Gewerkschaften nicht ausgeschlossen werden sollten. Dies ergibt sich eindeutig aus einer Protokollnotiz vom September 1965: „Die Tarifparteien sind sich darüber einig, dass die Firma . . . durch den § 4 der Urlaubsgeldvereinbarung vom . . . nicht daran gehindert wird oder daran gehindert werden sollte, gleiche oder ähnliche Vereinbarungen auch mit anderen Gewerkschaften abzuschließen.“505 Ein darüber hinausgehendes Verbot, Tarifverträge mit anderen Gewerkschaften abzuschließen, enthalten die beschränkten Differenzierungsklauseln nicht. Ein solches Verbot würde Art. 9 Abs. 3 GG in seinem Kernbereich betreffen, sodass ihm die staatliche Anerkennung zu versagen wäre.506 Wegen des Grundsatzes der Tarifeinheit im Betrieb, der nach der Rechtsprechung auch bei Tarifpluralität gilt, stellt sich in der praktischen Anwendung das Problem zweier konkurrierender und sich widersprechender Tarifverträge allerdings nicht. Eine Gleichstellung aller organisierten Arbeitnehmer durch Tarifvertrag wäre demnach prinzipiell möglich. Selbst wenn man davon ausgeht, dass eine ausdrückliche „Öffnungsklausel“ nicht vereinbart wurde, ist zu berücksichtigen, dass Gewerkschaften nicht dazu verpflichtet sind, ihre Tarifverträge so zu gestalten, dass entweder Mitglieder einer konkurrierenden Koalition direkt auf sie Bezug nehmen können oder dass die Gleichstellungsvereinbarung einer konkurrierenden Koalition in einem Anschlusstarifvertrag507 – ein solcher hätte auch angesichts der Tarifeinheit im Betrieb Bestand508 – nicht vereitelt wird. Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht, dass 504

Siehe hierzu unten S. 199 f. Zitiert nach Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 68 Fn. 106. 506 Vgl. Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 68. 507 Vgl. hierzu den Sachverhalt von BAG, Urt. v. 11.11.1968, AP Nr. 14 zu Art. 9 GG; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 503 f. Zu unterscheiden ist der Anschluss an einen Tarifvertrag, bei dem ein fremder Tarifvertrag zum Bestandteil des eigenen gemacht wird, von einem Beitritt. Für einen Beitritt als Tarifpartei ist eine Vereinbarung der Parteien des „Haupttarifvertrages“ erforderlich; vgl. BAG, Urt. Beschl. v. 14.3.1978, AP Nr. 30 zu § 2 TVG; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 236; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 421 Fn. 3, 453 Fn. 12. 508 In diesen Fällen liegt nicht die typische Konstellation einer Tarifpluralität vor, da materiell nur ein Tarifvertrag im Betrieb Anwendung findet. Vgl. Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 4 Rn. 285; Buchner, in: FS 50 Jahre BAG, S. 643 (mit Aus505

B. Verletzung der Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten

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die mit einem Tarifvertrag beabsichtigte Wirkung auch tatsächlich eintritt. Umgekehrt schützt Art. 9 Abs. 3 GG die Koalition aber davor, dass eine andere Koalition die erzielten Erfolge für ihre Zwecke ausnutzt.509 Folglich ist der Tarifvertrag Teil des Wettbewerbs zwischen den konkurrierenden Koalitionen und als solcher differenzierenden Tarifklauseln grundsätzlich zugänglich.

II. Tarifausschlussklauseln 1. Grundrechtskollision Die beschränkte Tarifausschlussklausel hindert den Arbeitgeber, der seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeberverband erfüllen möchte, (faktisch) daran, mit Andersorganisierten die gleichen Arbeitsbedingungen wie mit tarifgebundenen Arbeitnehmern zu vereinbaren. Ein individualvertragliches „Ausweichen“ ist in der Regel – wie bei der allgemeinen Tarifausschlussklausel – nicht möglich. Bei entsprechender Höhe der Differenzierung kann hier der Anreiz zum Gewerkschaftswechsel in einen Zwang umschlagen. Im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit wird dieser Punkt jedenfalls noch nicht erreicht, wenn die finanziellen Vorteile unterhalb des Gewerkschaftsbeitrages liegen. Bei den Andersorganisierten stellt sich die Situation hingegen anders dar: Gamillscheg hat darauf hingewiesen, dass nicht unbeachtet bleiben darf, dass die Andersorganisierten Gewerkschaftsbeiträge zahlen, sodass sich ihre Benachteiligung als echte Benachteiligung auswirkt und nicht bloß als Verminderung des Vorteils „Beschäftigung zu tariflichen Bedingungen“.510 Dementsprechend lastet auf dem Andersorganisierten wesentlich früher ein spürbarer Druck zum Übertritt, als beim Nichtorganisierten zum Beitritt. Aber auch dann, wenn der Abschluss einer beschränkten Tarifausschlussklausel als Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit gewertet wird, bedeutet das nicht automatisch ihre Unzulässigkeit. Denn eine Rechtfertigung ist denkbar. Eine Kollision von positiver Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten und positiver Koalitionsfreiheit der tarifschließenden Koalition scheint dann vermieden zu werden, wenn Art. 9 Abs. 3 GG diese Konfliktlage nicht erfasst. Nach teilweise vorgebrachter Ansicht findet Art. 9 Abs. 3 GG im Verhältnis der konkurrierenden Gewerkschaften zueinander keine Anwendung. Schließlich sei es Sinn und Zweck der Koalitionsfreiheit, die Koalitionen vor dem Staat und dem sozialen Gegenspieler zu schützen, nicht hingegen zur Abwehr konkurrierender führungen zur Erstreikbarkeit). Auch ein ergänzender Tarifvertrag ist denkbar; dieser erfordert jedoch die Einigung der Tarifvertragsparteien (vgl. BAG, Urt. v. AP Nr. 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz [Bl. 4]). 509 BAG, Urt. v. 11.11.1968, AP Nr. 14 zu Art. 9 GG (Bl. 3 R). 510 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 65 f.; ebenso Gitter, JurA 1971, 148 (152); Hanau, JuS 1969, 213 (216).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Koalitionen zu dienen.511 Inwieweit sich der einzelne Arbeitnehmer trotzdem auf die positive Koalitionsfreiheit berufen und sich die Gewerkschaft schützend vor die eigenen Mitlieder stellen kann, wird aus den Ausführungen von Söllner nicht deutlich, bedarf aber keiner weiteren Klärung. Denn bereits der Ausgangspunkt ist zweifelhaft. Schließlich schützt Art. 9 Abs. 3 GG mit dem Koalitionspluralismus den Wettbewerb der Koalitionen untereinander. Auch beschränken sich Maßnahmen, die die eine Koalition gegen ihre Konkurrentin ergreift, nicht nur auf das „Innenverhältnis“ der Koalitionen zueinander. Durch die mit dem Mitgliederschwund einhergehende Schwächung wird den betroffenen Koalitionen die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erschwert, oder, wenn ihr für Tarifabschlüsse die soziale Mächtigkeit fehlt512, unmöglich gemacht. Zumindest als Reflex muss Art. 9 Abs. 3 GG auch davor schützen, dass eine konkurrierende Koalition die koalitionsmäßige Betätigung behindert. Entscheidend ist letztendlich, dass, soweit im Wettbewerb der Koalitionen beschränkte Differenzierungsklauseln eingesetzt werden, die Benachteilung immer vermittelt durch den Arbeitgeber erfolgt. Dieser hat jedoch unbestritten die positive Koalitionsfreiheit zu respektieren.513 Hieran kann sich nichts ändern, auch wenn eine Gewerkschaft an der angewendeten „koalitionsfeindlichen“ Abrede beteiligt ist. Demnach besteht eine Grundrechtskollision, die nach den allgemeinen Grundsätzen aufzulösen ist. Auch Eingriffe in die positive Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG sind einer Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht zugänglich.514 Insoweit gilt nichts anderes als für Eingriffe in die negative Koalitionsfreiheit. Das BVerfG erkennt eine solche Möglichkeit ausdrücklich an: „Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist zwar vorbehaltlos gewährleistet. Damit ist aber nicht jede Einschränkung von vornherein ausgeschlossen. Sie kann durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte gerechtfertigt sein . . .“515

511 Söllner, Grundriß des Arbeitsrechts, 12. Aufl. 2002, S. 68; ders., JZ 1966, 404 (405); Fenn, JuS 1965, 175 (182); a. A. BAG, Urt. v. 11.11.1968, AP Nr. 14 zu Art. 9 GG (Bl. 3 ff.); BGH, Urt. v. 6.10.1964, AP Nr. 6 zu § 54 BGB (Bl. 4 R f., 6 R); Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 44; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 34; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 76; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 145; Seiter, SAE 1969, 229 (230 f.). 512 Siehe hierzu die Nachweise auf S. 148 Fn. 339. 513 In diesem Sinne auch Fenn, JuS 1965, 175 (182 Fn. 65). 514 Für eine Abwägung: Bauer, in: Dreier, Art. 9 Rn. 94; Butzer, RdA 1994, 375 (381); Dietlein, ArbuR 1970, 200 (203); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 128, 130; ders., in: FS für Friauf, S. 387 f.; Scholz, HdbStR, Bd. VI, § 151 Rn. 120. Offen gelassen von Löwer, in: v. Münch/Kunig, Art. 9 Rn. 90. 515 BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (228); in diesem Sinne auch BVerfG, Beschl. v. 24.4.1996, Beschl. v. 24.4.1996, BVerfGE 94, 268 (284).

B. Verletzung der Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten

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2. Höhe der Besserstellung a) „Belastung“ der Andersorganisierten Bei der Abwägung der kollidierenden Grundrechte sind die Gewichtigkeit der verfolgten Interessen sowie die Schwere der „Benachteiligung“ ins Verhältnis zu setzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Andersorganisierten die Last ihrer Organisation tragen müssen. Um die Belastung der Andersorganisierten zu ermitteln, muss der vom BAG in ständiger Rechtsprechung angewandte Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb Beachtung finden. Denn hierdurch werden die Andersorganisierten dem für sie einschlägigen Tarifvertrag entzogen. Ihre Gewerkschaftsbeiträge sind insoweit als verloren anzusehen, als ihnen der Tarifvertrag als wirtschaftlich vorteilhaftes Äquivalent fehlt. Der Grundsatz der Tarifeinheit hat zum Ziel, in einem Betrieb lediglich einen Tarifvertrag (für eine bestimmte Sachmaterie) zur Anwendung zu bringen. Dies gilt nicht nur dann, wenn für ein Arbeitsverhältnis mehrere Tarifverträge gelten (Tarifkonkurrenz)516, sondern auch dann, wenn allein der Arbeitgeber an konkurrierende Tarifverträge gebunden ist (Tarifpluralität).517 Folge hiervon ist, dass allein der speziellere Tarifvertrag im Betrieb oder derjenige, dem die meisten Arbeitsverhältnisse unterfallen, gilt. Jedoch gilt dann für die Arbeitsverhältnisse, die von dem verdrängten Tarifvertrag erfasst wurden, nicht automatisch der speziellere Tarifvertrag. Schließlich sind die betroffenen Arbeitnehmer nicht Mitglied in der tarifschließenden Gewerkschaft. Löwisch/Rieble haben diesen Zustand sehr deutlich formuliert: „Die Mitglieder der Gewerkschaft, deren Tarifvertrag von dem „obsiegenden“ verdrängt wird, werden auf den Status von Nichtorganisierten zurückgeworfen.“518 Das BAG spricht diesbezüglich von einem „tariffreien Raum“519. Zwar bestehen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Rechtsprechung mit Art. 9 Abs. 3 GG: Die Möglichkeit der „unterlegenen“ Gewerkschaft zum Tarifabschluss wird eingeschränkt, und die „unterlegenen“ Arbeitnehmer werden dem Tarifvertrag ihres Verbandes entzogen, wodurch ein Druck 516 Dies ist allgemeine Ansicht: Bauer/Meinel, NZA 2000, 181 (182); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1679); Konzen, RdA 1978, 146 (150); Kraft, RdA 1992, 161 (165); B. Müller, NZA 1989, 449 (451); Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 367, 480 f.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 648. 517 BAG, 4. Senat, Urt. v. 5.9.1990, Urt. v. 20.3.1991, AP Nr. 19 (Bl. 2 R), AP Nr. 20 (Bl. 3 ff.), beide zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Urt. v. 28.5.1997, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Nachwirkung (Bl. 6 ff.); einschränkend BAG, 10. Senat, Urt. v. 22.9.1993, AP Nr. 21 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 3 R ff.); ablehnend LAG Hessen, Urt. v. 14.7.2003, NZA-RR 2004, 649 (651 f.); siehe allgemein zur Rechtsprechung des BAG Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 443 ff. 518 MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 276, Rn. 17; ebenso Bauer/Meinel, NZA 2000, 181 (183); Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. 2, § 13 Rn. 275; Kraft, RdA 1992, 161 (165). A. A. Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (18 Fn. 89), die davon ausgehen, dass der verdrängte Tarifvertrag gem. § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt. 519 BAG, Urt. v. 20.3.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 4).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

zum Beitritt zur konkurrierenden Gewerkschaft entsteht. Zudem werden die tariflichen Möglichkeiten kleinerer Gewerkschaften eingeschränkt und dadurch der Koalitionspluralismus bedroht.520 Jedoch haben die Koalitionen diese Praxis bei der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln zu berücksichtigen. Da die Andersorganisierten durch den Grundsatz der Tarifeinheit dem Schutz ihrer Koalition teilweise entzogen werden, besteht bereits ein nicht zu vernachlässigender Druck zum Beitritt zur konkurrierenden Gewerkschaft, ohne dass es einer Differenzierungsklausel bedürfte. Diese Situation wird verschärft, wenn die „obsiegende“ Gewerkschaft mittels einer beschränkten Tarifausschlussklausel die Andersorganisierten von bestimmten tariflichen Leistungen abschneidet, indem eine diesbezügliche einzelvertragliche Abmachung ausgeschlossen wird. Die materielle Benachteiligung hat allerdings nicht zur Folge, dass eine Differenzierung zwischen tarifgebundenen und andersorganisierten Arbeitnehmern „ab dem ersten Euro“ unzulässig wäre. Schließlich können auch die Nichtorganisierten über die Höhe des Gewerkschaftsbeitrages hinaus benachteiligt werden, ohne dass zwangsläufig eine Verletzung ihrer negativen Koalitionsfreiheit vorliegt. Nichts anderes kann dann für die Andersorganisierten gelten, nur dass bei ihnen die Schwelle, ab der die zulässige Mitgliederwerbung in einen unzulässigen Zwang umschlägt, niedriger anzusetzen ist. Als untere Schwelle muss – wie auch im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit – eine Besserstellung um einen Betrag angesehen werden, der nicht einmal die Differenz zwischen den unterschiedlichen Gewerkschaftsbeiträgen überschreitet. Denn der Druck zum Gewerkschaftsübertritt ergibt sich aus der Summe der nutzlos aufgewendeten Gewerkschaftsbeiträge und des Differenzierungsbetrags. Ist diese Summe kleiner oder gleich dem Beitrag der tarifschließenden Gewerkschaft, bleibt als Anreiz allein die normative Wirkung des Tarifvertrages, die nach Ansicht des BAG aber nicht für eine Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit ausreicht. Wie auch bei den allgemeinen Tarifausschlussklauseln markiert der wirtschaftlich unausweichliche Zwang521, der beim Existenzminimum anzusiedeln ist, die absolute Obergrenze. Zwischen diesen beiden Extremen ist ein Ausgleich zu suchen, der die kollidierenden Grundrechte in Einklang bringt. Analog zur Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit ist danach zu fragen, was dem Einzel520 Bruhn, Tarifeinheit im Betrieb, S. 183 ff. (allerdings bezogen auf die negative Koalitionsfreiheit); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1502 ff.; Hanau, Anm. zu AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 5 R ff.); Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1681); Konzen, RdA 1978, 146 (154); Kraft, RdA 1992, 161 (168); B. Müller, NZA 1989, 449 (452); MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 276, Rn. 17; Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 135 f.; Witzig, Der Grundsatz der Tarifeinheit, S. 46 ff.; Zöllner/ Loritz, Arbeitsrecht, S. 422 f.; a. A. Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (9 ff.); zumindest eine Verletzung der kollektiven Koalitionsfreiheit sehen Reuter, JuS 1992, 105 (108) und Wiedemann/Arnold, ZTR 1994, 443 (446); vgl. zu weiteren Nachweisen Bauer/Meinel, NZA 2000, 181 (182 Fn. 7). 521 Reuß, AcP Bd. 166 (1966), 518 (522); ders., ArbuR 1970, 33 (35) (allerdings im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit).

B. Verletzung der Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten

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nen noch zumutbar ist; hierfür ist die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Individualarbeitsverträgen ein Indiz. Betrachtet man zudem die Gewerkschaftsbeiträge der Andersorganisierten infolge der Verdrängung ihres Tarifvertrags als „nutzlose“ Aufwendungen, ist die Schwelle, ab der der Arbeitsvertrag sittenwidrig wird (ca. 2/3 des Tariflohns), um diesen Betrag zu senken. Wie bei den Mitgliedern der tarifschließenden Gewerkschaft sind auch bei den Andersorganisierten die sonstigen gewerkschaftlichen Leistungen als Äquivalent zum Gewerkschaftsbeitrag nicht zu berücksichtigen.522 b) Rechtsprechung des BAG zur Tarifeinheit als Indiz für zulässigen Druck Das BAG selbst hat sich in seiner Rechtsprechung zur Tarifeinheit im Betrieb nur sehr oberflächlich mit der Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit auseinandergesetzt. Wie bereits oben angesprochen, führt der Grundsatz der Tarifeinheit, den das BAG auch bei bestehender Tarifpluralität anwendet, dazu, dass ein Teil der Arbeitnehmer der Geltung „seines“ Tarifvertrags entzogen wird. Hierdurch werden sie auf die Stellung von Nichtorganisierten zurückgeworfen: Auf ihre Arbeitsverhältnisse findet kein Tarifvertrag Anwendung. Insoweit hat die Tarifeinheit zunächst die Wirkung einer universellen Tarifausschlussklausel. Trotzdem nimmt die Auseinandersetzung mit der Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 GG in der Rechtsprechung des BAG nur geringen Raum ein. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der verdrängte Tarifvertrag im Wege der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG weiterhin die ihm unterfallenden Arbeitsverhältnisse gestaltet und diese dadurch nicht „inhaltsleer“ werden523 – auch wenn diese Ansicht kaum mit dem Grundsatz der Tarifeinheit zu vereinbaren sein dürfte, wie ihn das BAG versteht – kann dies nichts an dem prinzipiellen Druck ändern, der auf den Andersorganisierten lastet. Erstens verliert der Tarifvertrag durch die Nachwirkung seine zwingende Wirkung und zweitens gilt die Nachwirkung nicht für diejenigen Arbeitnehmer, die nachträglich – d.h. nach Anwendung des Grundsatzes der Tarifeinheit und Verdrängung des allgemeineren Tarifvertrags – in den Betrieb eintreten. Denn § 4 Abs. 5 TVG setzt nach Ansicht des BAG voraus, dass der Tarifvertrag zuvor mit den Wirkungen des § 4 Abs. 1 und 3 TVG gegolten hat.524

522

Vgl. oben S. 179. In diesem Sinne beispielsweise Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1 (18 Fn. 89). Nach BAG, Urt. v. 28.5.1997, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Nachwirkung (Bl. 6 R ff.), findet umgekehrt der Grundsatz der Tarifeinheit keine Anwendung, wenn einer der Tarifverträge nur noch nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirkt. Hiergegen Buchner, in: FS 50 Jahre BAG, S. 639. 524 BAG, Urt. v. 28.1.1987, AP 16 zu § 4 TVG Nachwirkung (Bl. 2 R); Zöllner/ Loritz, Arbeitsrecht, S. 410; a. A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1463 f.; Gamill523

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Eine Verletzung der kollektiven positiven Koalitionsfreiheit der Koalition, deren Tarifvertrag verdrängt wird, liegt nach Ansicht des BAG nicht vor, da Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit nur in ihrem Kernbereich schütze. Durch die Nichtanwendung des Tarifvertrags werde die betroffene Koalition nicht in ihrer Existenz gefährdet; schließlich bleibe es ihr unbenommen, einen spezielleren Tarifvertrag abzuschließen, der wiederum den konkurrierenden Tarifvertrag verdränge.525 An einer expliziten Auseinandersetzung mit der individuellen Koalitionsfreiheit fehlt es in der Rechtsprechung des BAG. Lediglich im Hinblick auf den Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG, durch den die Kompetenz des Betriebsrats zurückgedrängt wird, hat das BAG festgestellt, dass es dem einzelnen Arbeitnehmer unbenommen bleibt, der „obsiegenden“ Gewerkschaft beizutreten und auf diesem Wege tariflichen Schutz zu erlangen.526 Hanau/Kania527 und Hromadka/Maschmann528 verstehen die entsprechenden Ausführung dahingehend, dass damit auch der individuellen positiven Koalitionsfreiheit genüge getan werde. Dass hiermit ein Zwang zum Koalitionswechsel statuiert wird, wurde in der Literatur vielfach kritisiert.529 Auch nachdem das BVerfG im Jahre 1995 klargestellt hat, dass durch Art. 9 Abs. 3 GG nicht allein der Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung geschützt wird, ist das BAG von der Tarifeinheit bei Tarifpluralität nicht abgerückt. Auf nähere Erklärungen, wie die Tarifeinheit mit der positiven Koalitionsfreiheit der Koalitionen und der einzelnen Organisierten zu vereinbaren ist, hat das BAG verzichtet und lediglich auf seine ständige Rechtsprechung verwiesen.530 Dementsprechend bleibt die bisherige Lösung der Tarifpluralität weiterhin aktuell. Wenn man die Rechtsprechung des BAG auf die beschränkten Tarifausschlussklauseln überträgt, erscheint es widersprüchlich, wieso einerseits der Ausschluss von einzelnen tariflichen Vergünstigungen (Tarifausschlussklausel) die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten verletzen, der Ausschluss von der Geltung eines ganzen Tarifvertrags und die Entziehung des Schutzes des § 87 BetrVG hingegen zulässig sein soll. In beiden Fällen hat die „unterscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 880 (m. w. N. in Fn. 583); Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rn. 293; A. Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 130. 525 BAG, Urt. v. 20.3.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 4 R); kritisch hierzu Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 134, der die Frage aufwirft, ob die Befugnis zur tariflichen Rechtssetzung zugunsten ihrer Mitglieder nicht Teil des Kernbereichs ist. Gegen das Spezialitätsprinzip zur Lösung von Tarifkonkurrenz und -pluralität wendet sich Kempen, NZA 2003, 415 (415 ff.). 526 BAG, Urt. v. 5.9.1990, AP Nr. 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 3); Urt. v. 20.3.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 4). 527 Hanau/Kania, Anm. zu AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 9 f.). 528 Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. 2, § 13 Rn. 271. 529 Kraft, RdA 1992, 161 (168); Waas, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, S. 135 f.; vgl. weiterhin die in Fn. 520 (S. 200) genannten. 530 BAG, Urt. v. 25.7.2001, AP Nr. 242 zu § 1 Tarifverträge: Bau (Bl. 4 R); Beschl. v. 25.9.1996, AP Nr. 10 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit (Bl. 8).

B. Verletzung der Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten

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legene“ Gewerkschaft die Möglichkeit, mittels eines spezielleren Tarifvertrags den konkurrierenden Tarifvertrag zu verdrängen. Ein Unterschied besteht natürlich darin, dass im Falle der Verdrängung des Tarifvertrags aufgrund des Grundsatzes der Tarifeinheit der einzelne Andersorganisierte ohne zusätzliche Hindernisse, wie sie z. B. in der Tarifausschlussklausel zu sehen sind, seine Arbeitsbedingungen aushandeln kann. Es kann sogar der verdrängte Tarifvertrag individualvertraglich für anwendbar erklärt werden, da nach Ansicht des BAG derartige Fälle nachträglicher Tarifpluralität nicht nach dem Grundsatz der Tarifeinheit gelöst werden.531 Das Ausweichen auf die Ebene des Individualvertragsrechts wird vom BAG allerdings nicht als Alternative zum Beitritt zur gegnerischen Koalition angesehen; es wird als Rechtfertigung der Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 GG überhaupt nicht erwähnt. Als Ausgleich für den Schutz durch § 87 BetrVG muss die Individualvereinbarung gänzlichen versagen. Aus den genannten Gründen besteht eine Vergleichbarkeit der Wirkung der Tarifausschlussklausel mit der Wirkung der Rechtsprechung des BAG zur Tarifpluralität. Da sich das BAG nicht explizit mit einer Verletzung der individuellen Koalitionsfreiheit auseinandergesetzt hat, ist es schwierig, die Rechtsprechung zur Tarifpluralität auf die Tarifausschlussklauseln zu übertragen. Die Schlussfolgerung, dass bei konsequenter Anwendung der Punkt, ab dem auf den Andersorganisierten ein rechtswidriger Zwang ausgeübt wird, recht hoch anzusetzen ist, ist jedenfalls nicht zwingend. Auch wenn der Andersorganisierte dem Schutz seines Tarifvertrags entzogen wird, ist zu berücksichtigen, dass auch die Außenseiter tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen unterworfen sind. Den einzigen Nachteil – von der möglichen Verdrängung des § 87 BetrVG abgesehen –, den der Andersorganisierte immer erleidet ist der, dass seine Arbeitsbedingungen nicht mehr gem. § 4 Abs. 3 TVG unabdingbar sind. Was die Unabdingbarkeit wert ist, ist jedoch nicht quantifizierbar.

III. Ergebnis Die beschränkte einfache Differenzierungsklausel und die beschränkte Abstandsklausel sind mit der positiven Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten vereinbar. Da es hier bereits an einer Grundrechtskollision fehlt, entfällt eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, sodass die genannten beschränkten Differenzierungsklauseln in ihrer Höhe nicht limitiert sind. Auch die beschränkte Tarifausschlussklausel verletzt grundsätzlich nicht die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten, solange kein unausweichlicher Zwang ausgeübt wird. Soweit die Differenzierung die Differenz der Gewerkschaftsbeiträge überschreitet, bedarf es einer Abwägung, deren Maßstab 531 BAG, Urt. v. 20.3.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 5); hierzu Hohenstatt, DB 1992, 1678 (1682 f.).

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

wie bei der Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit die Sittenwidrigkeit von Arbeitsverträgen ist. Dabei ist jedoch der Gewerkschaftsbeitrag der Andersorganisierten als nunmehr verlorene Aufwendung in Abzug zu bringen, sodass im Ergebnis die Schlechterstellung der Andersorganisierten geringer sein muss, als die der Nichtorganisierten.

C. Beschränkung der Vertragsfreiheit Neben der Frage der Verletzung von negativer und positiver Koalitionsfreiheit der Nicht- und Andersorganisierten nimmt die Frage nach der Verletzung der Vertragsfreiheit der Außenseiter breiten Raum in der Diskussion um die Zulässigkeit der Differenzierungsklauseln ein. Denn Folge der Differenzierungsklauseln ist es, dass bestimmte Vertragsabreden zwischen Arbeitgebern und Außenseiterarbeitnehmern zumindest erschwert, wenn nicht sogar ausgeschlossen werden.532 Demgegenüber wird die Vertragsfreiheit der Arbeitgeber vornehmlich im Rahmen der Zumutbarkeit als äußere Grenze der Tarifmacht diskutiert. Diese Unterscheidung zwischen der Arbeitnehmerseite und der Arbeitgeberseite ist sinnvoll, da beide Personengruppen in unterschiedlicher Weise von den Differenzierungsklauseln betroffen werden: Die Arbeitgeber sind entweder – beim Firmentarifvertrag – Tarifvertragspartei oder – beim Verbandstarifvertrag – zumindest nicht als Unbeteiligte anzusehen. Beim Firmentarifvertrag macht der Arbeitgeber von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch, indem er für die Zukunft in eine Begrenzung seiner Vertragsfreiheit einwilligt; beim Verbandstarifvertrag wird die Begrenzung der Vertragsfreiheit durch den privatautonomen Verbandsbeitritt legitimiert. Wird in der Literatur zu den Differenzierungsklauseln die Vertragsfreiheit erörtert, wird in der Regel auf Art. 2 Abs. 1 GG abgestellt, ohne auf die Probleme der Subsidiarität dieser Vorschrift näher einzugehen.533 Dabei besteht durchaus Anlass zu überlegen, ob nicht die negative Koalitionsfreiheit bzw. die

532 Einen Verstoß gegen die Vertragsfreiheit nehmen an: Bötticher, RdA 1966, 401 (406); Franzen, RdA 2001, 1 (10); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 41 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 169 Fn. 34 a; Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133 f. Von der Vereinbarkeit mit der Vertragsfreiheit gehen aus: Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 70 ff.; Hölters, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 164 ff.; Leventis, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 65; Reuß, AcP 166 (1966), 518 (522); Weyand, Tarifvertragliche Mitbestimmung, S. 106; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierung, S. 29 ff. Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 157 Fn. 41, tendiert zur Anwendung der negativen Koalitionsfreiheit unter dem Gesichtspunkt der „Freiheit von fremder Normsetzung“. 533 Vgl. zur Subsidiarität di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 103; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 14 ff.

C. Beschränkung der Vertragsfreiheit

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Berufsfreiheit als speziellere grundrechtliche Gewährleistungen die allgemeine Vertragsfreiheit verdrängen. Gegen eine Spezialität der negativen Koalitionsfreiheit spricht allerdings, dass die Vertragsfreiheit für diese nur insoweit relevant ist, als durch individualvertragliche Vereinbarungen dem Beitrittsdruck ausgewichen werden kann. Die Vertragsfreiheit wird also nur als Reflex erfasst. Soweit man die Regelung der eigenen beruflichen Verhältnisse als Bestandteil der Berufsfreiheit auffasst, kommt ein Vorrang des Art. 12 GG in Betracht.534 Im Rahmen der Drittwirkung in Privatrechtsverhältnissen führen die einzelnen dogmatischen Verankerungen – abgesehen von dem unmittelbar geltenden Art. 9 Abs. 3 GG – nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen, da ein Rangverhältnis der Grundrechte nicht besteht. Die Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG steht nicht gegenüber der Vertragsfreiheit nach Art. 12 GG in der Schutzintensität zurück. Soweit auf Art. 2 Abs. 1 GG abgestellt wird, ist der Gehalt der Berufsfreiheit zu berücksichtigen.

I. Vertragsfreiheit als Abwehrrecht Für die Vertragsfreiheit als Freiheit zum Abschluss rechtsverbindlicher Verträge ist die einfachgesetzliche Ausgestaltung konstitutiv. Auch wenn der Mensch im Rahmen seiner natürlichen Freiheit beliebige Vereinbarungen treffen kann, so muss doch der Gesetzgeber ein rechtliches Instrumentarium bereitstellen, um die Möglichkeit rechtsverbindlicher Verträge zu schaffen. Erst durch die Schaffung einklagbarer Verpflichtungen entsteht Vertragsfreiheit.535 Da weder Art. 2 Abs. 1 GG noch Art. 12 GG genaue Vorgaben machen, kommt dem Gesetzgeber ein großer Spielraum zu, wie er die Vertragsfreiheit ausgestaltet und die Grenzen zu anderen Grundrechten zieht. Erst durch die einfachgesetzliche Ausgestaltung lässt sich der konkrete Schutzbereich der Vertragsfreiheit bestimmen; erst hieraus ergibt sich, was die Tarifvertragsparteien vereinbaren können bzw. dürfen und was sich die Außenseiter an Behinderungen ihrer vertraglichen Möglichkeiten gefallen lassen müssen. Allerdings genießt nicht die bestehende Ausgestaltung Verfassungsrang536; nur der unter den bestimmten 534

Vgl. Breuer, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. VI, § 147, Rn. 63; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 17. 535 Gellermann, Grundrechte, S. 452, und Höfling, Vertragsfreiheit, S. 20, sprechen von einer normativen Konstituierung, da ihrer Ansicht nach die Vertragsfreiheit erst auf der Basis des einfachen Rechts zur Entstehung gelangt. Ähnlich BVerfG, Beschl. v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214 (231 f.); Epping, Grundrechte, Rn. 521 f.; Raiser, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II, S. B 18 f.; Schmidt-Salzer, NJW 1970, 8 (15). Nach gegenteiliger Ansicht ist es grundsätzlich möglich, dass der Privatrechtsgesetzgeber in die Vertragsfreiheit eingreift und Art. 2 Abs. 1 GG als klassisches Abwehrrecht zum Tragen kommt (di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 106, m. w. N. in Fn. 2). Vgl. allgemein zur Schaffung der Vertragsfreiheit durch den einfachen Gesetzgeber di Fabio, a. a. O., Rn. 105 ff. 536 BVerfG, Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 (355); Epping, Grundrechte, Rn. 397 f.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

rechtlichen Bedingungen geschlossene Vertrag ist in den abwehrrechtlichen Schutzbereich einbezogen.537 Durch die Differenzierungsklauseln werden jedoch nicht bestehende Verträge, d.h. gefestigte Positionen der Außenseiter in ihrer Substanz betroffen. Fehlt es an einer abwehrrechtlichen Bindung des Gesetzgebers, bedeutet dies nicht, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Vertragsfreiheit völlig frei ist. Jedenfalls ist die Ausstrahlungswirkung des Art. 2 Abs. 1 GG bzw. der anderen die Vertragsfreiheit beeinflussenden Grundrechte zu berücksichtigen. Insoweit wirkt die Vertragsfreiheit als Institutsgarantie. Ob der Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Leistungspflichten rechtmäßig handelt, wenn er die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln ermöglicht, ist folglich keine Frage der Eingriffsrechtfertigung.538

II. Objektivrechtliche Vorgaben des Art. 2 Abs. 1 GG Der Gesetzgeber, der einfachgesetzlich das rechtliche Können der Tarifvertragsparteien ausgestaltet, muss den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Institutsgarantie der Vertragsfreiheit genügen. Der objektive Gehalt der Vertragsfreiheit besteht in der „Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben“539. Inhalt der Vertragsfreiheit können zunächst die Abschlussfreiheit und die Freiheit in der Wahl des Arbeitgebers sein. Diese Freiheit wird durch die Differenzierungsklauseln im Gegensatz zur Vereinbarung eines closed shop nicht eingeschränkt. An der Eingehung eines Arbeitsverhältnisses werden die Außenseiter nicht gehindert. Weiterhin bedeutet Vertragsfreiheit auch die Freiheit zur Vereinbarung beliebiger Arbeitsbedingungen.540 Inwieweit wirken sich nun Differenzierungsklauseln nachteilig auf diese Freiheit aus? Bereits im Rahmen der Verletzung von negativer und positiver Koalitionsfreiheit wurde festgestellt, dass einfache Differenzierungsklauseln keinen (rechtlich relevanten) Effekt auf die Möglich537 Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG greift bei bestehenden Verträgen der abwehrrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit: Beschl. v. 27.1.1998, BVerfGE 97, 169 (175 f.); Urt. v. 28.4.1997, BVerfGE 95, 267 (304). 538 In diesem Sinne aber Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133 f.; Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 74, 193; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 32 f. Besteht für den Gesetzgeber allein eine Bindung an die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte, kann für die Tarifvertragsparteien keine abwehrrechtliche Bindung angenommen werden, selbst wenn man unterstellt, dass für sie die Grundrechte unmittelbar gelten. Schließlich können die Tarifvertragsparteien nicht stärker gebunden sein als der Gesetzgeber. Folge hiervon ist, dass für das rechtliche Dürfen der Tarifvertragsparteien allein die vom Gesetzgeber geschaffene Privatrechtsordnung maßgeblich ist, die ggf. verfassungskonform am Maßstab der Institutsgarantie auszulegen ist. 539 BVerfG, Beschl. v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242 (254 f.); Beschl. v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214 (231); Erichsen, in: Isensee/Kirchhoff, HdbStR, Bd. VI, § 152 Rn. 57 f.; Gellermann, Grundrechte, S. 148. 540 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 65.

C. Beschränkung der Vertragsfreiheit

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keiten der Außenseiter haben, ihre Arbeitsbedingungen zu gestalten. Allenfalls die individualvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag wird erschwert, soweit bestimmte tarifliche Leistungen von qualifizierten Merkmalen wie beispielsweise der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig gemacht werden. Da sich aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht der Anspruch auf einen bestimmten Vertragsinhalt bzw. auf die Einfachheit des Vertragsschlusses ableiten lässt, sind einfache Differenzierungsklauseln vor dem Hintergrund des Art. 2 Abs. 1 GG als neutral anzusehen. Entsprechendes gilt auch für die Abstandsklauseln. Die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten der Außenseiter, beliebige Vertragsvereinbarungen zu treffen, werden durch sie nicht beeinträchtigt. Allein kollektivbezogene Maßnahmen durch den Arbeitgeber wie beispielsweise die Gesamtzusage werden durch die Abstandsklauseln erschwert; die Gewährung gleicher Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Tarifgebundenheit wird sogar ausgeschlossen. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass der einzelne Arbeitnehmer keinen Anspruch auf entsprechende kollektivbezogene Maßnahmen hat, sondern diese von der freien Entscheidung des Arbeitgebers abhängen; auf den Inhalt kann der einzelne Arbeitnehmer der Natur der Sache nach keinen Einfluss nehmen, da der Maßnahme hierdurch ihr Charakter als „kollektiv“ genommen würde. Dementsprechend sind die hieraus resultierenden Verträge nicht das Ergebnis von Verhandlungen, sondern eines einseitigen Behandelns durch den Arbeitgeber.541 Durch die Abstandsklauseln wird lediglich eine Hoffnung auf eine kollektivbezogene Maßnahme genommen, nicht aber eine vom Arbeitnehmer beeinflussbare und durch Art. 2 Abs. 1 GG rechtlich geschützte konkrete Möglichkeit zum Vertragsschluss. Insoweit besteht eine Vergleichbarkeit mit Art. 14 GG, der die bloße Gewinnerwartung nicht dem Eigentumsschutz unterstellt. Auch durch die allein schuldrechtlich wirkenden Tarifausschlussklauseln wird der Außenseiter rechtlich nicht schlechter gestellt. Wie § 3 Abs. 1 TVG zum Ausdruck bringt, fehlt den Koalitionen die Tarifmacht, um durch Inhaltsnormen gestaltend auf die Rechtsverhältnisse der Außenseiter einzuwirken. Der Grundsatz, dass die Rechtsordnung einen Vertrag zu Lasten Dritter nicht kennt, bleibt also unangetastet. Ob der Arbeitgeber die Tarifausschlussklausel durchführt, ist eine Frage der „Verbandsräson“. Der tarifschließenden Gewerkschaft bleibt beim Verbandstarifvertrag allein der Weg, über den Einwirkungsanspruch Druck auf den Arbeitgeberverband auszuüben, damit dieser seine Mitglieder zu dem gewünschten Verhalten anhält. Allein beim Firmentarifvertrag besteht die Möglichkeit der Gewerkschaft, auf den Arbeitgeber einzuwirken. Der Außenseiter ist folglich niemals Adressat des Anspruches, er kann von der tarifschließenden Gewerkschaft nicht in die Pflicht genommen werden. Streng genommen stellt die Tarifausschlussklausel deshalb nichts anderes als die Vereinbarung zwischen 541

Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 148 f.

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

den beiden Tarifvertragsparteien darüber dar, wie sie den Tarifvertrag handhaben möchten, d.h. wem aus diesem mittelbar durch einzelvertragliche Inbezugnahme Ansprüche zugebilligt werden sollen. Bereits hieraus die Vereinbarkeit der Tarifausschlussklauseln mit Art. 2 Abs. 1 GG abzuleiten542, wäre hingegen zu formalistisch; das alleinige Abstellen darauf, dass der Außenseiter tarifrechtlich nicht berührt wird, wäre in der Tat reine Begriffsjurisprudenz543, die der „Dynamik des kollektiven Arbeitsrechts“544 nicht gerecht würde. Im Gegensatz zu den Abstandsklauseln wird dem Außenseiter die Möglichkeit genommen, mit dem sich tarifvertragstreu verhaltenden Arbeitgeber beliebige Verträge zu schließen. Es geht also um das „Interesse, Arbeitsverträge mit beliebigem Inhalt stets dann zu schließen, wenn deren wirtschaftliche Voraussetzungen gegeben sind“545. Insoweit kann von einem Vertrag mit Lastwirkung für Dritte546 gesprochen werden. Versteht man die Vertragsfreiheit in diesem Sinne, kann Gamillschegs Argument, dass der Einzelne keinen Anspruch auf einen bestimmten Vertragsschluss mit einem bestimmten Inhalt hat547, nicht verfangen. Dann ist nicht das rechtliche, sondern das faktische Können Maßstab der rechtlichen Bewertung. Ob durch diese Minderung der Chancen zum Vertragsschluss die durch Art. 2 Abs. 1 GG geforderte Vertragsfreiheit berührt wird, ist zweifelhaft. Schließlich ist das Wirtschaftsleben voll von Verträgen, die die realen Möglichkeiten Dritter auf einen Vertragsschluss ausschließen. Denn eine Leistung kann zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einmal (beispielsweise wenn es sich um eine höchstpersönliche Leistung handelt) bzw. nur in beschränktem Umfang (so in der Regel bei Kaufverträgen) erbracht werden. Von Gegnern der Differenzierungsklauseln wird vorgebracht, dass die Vertragsfreiheit ein Abwehrrecht dagegen beinhaltet, dass andere Verträge schließen, die allein die Einschränkung der Abschluss- und Gestaltungsfreiheit Dritter zum Ziel haben.548 Diese Argumentation ist – jedenfalls im rein grundrechtlichen Bereich – nicht stichhaltig. Im Gegensatz zu 542 In diesem Sinne beispielsweise Musa, BB 1966, 82 (85 f.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 361. 543 So der Vorwurf von Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 168 Fn. 34, gegen Fechner, Rechtsgutachten, S. 75. 544 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 12). 545 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133; Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 60; ebenso Martens, AcP 177 (1977), 113 (130); Wiedemann, SAE 1969, 265 (268). 546 Vgl. zum diesem Begriff Martens, AcP 177 (1977), 113 (164 ff.); Gottwald, in: Münchener Kommentar, § 328 Rn. 171 ff., 177. 547 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 361, unter Berufung auf Dietz, DB 1965, 591 (595); zustimmend Reuß, AcP 177 (1977), 518 (522); siehe gegen diese Ansicht wiederum Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 31. 548 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, S. 133; Martens, AcP 177 (1977), 113 (130).

C. Beschränkung der Vertragsfreiheit

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Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG erfasst Art. 2 Abs. 1 GG nicht die bloße vertragsfreiheitsfeindliche Absicht; ein finales Element lässt sich dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 GG gerade nicht entnehmen. Dementsprechend spielen die Motive, aufgrund derer ein Vertrag im Wirtschaftsleben abgeschlossen wird, keine Rolle.549 Im Rahmen der bei einer Grundrechtskollision vorzunehmenden Abwägung ist auf die Motive abzustellen; der bloße Wille zur Freiheitsbeeinträchtigung vermag aber keine Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit zu begründen oder aber – bei seiner Abwesenheit – auszuschließen. Erst nach Maßgabe des einfachen Gesetzes erlangen die mit einem Vertragsschluss verfolgten Ziele ihre Bedeutung. Insbesondere bei der Anwendung des § 138 BGB hat das finale Element seinen Platz. Besteht keine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG, ist der Gesetzgeber frei in seiner Entscheidung, den Einzelnen vor Verkürzungen seiner Chancen zum Abschluss bestimmter Verträge zu bewahren. Selbst wenn man Art. 2 Abs. 1 GG eine Pflicht entnimmt, die prinzipielle Chance auf einen Vertragsschluss zu schützen, und dementsprechend in der Vereinbarung von Tarifausschlussklauseln eine rechtserhebliche Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts der Außenseiter und damit ihrer Vertragsfreiheit sieht, ist die Beantwortung der Frage nach der Rechtmäßigkeit nicht präjudiziert. Soweit Differenzierungsklauseln dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG unterfallen und daher eine Grundrechtskollision vorliegt, ist eine Abwägung vorzunehmen, um beide Freiheiten zu einem Ausgleich zu bringen.550 Da auch die Tarifautonomie ausgestaltungsbedürftig ist,551 sind die Wertungen des einfachen Gesetzgebers zu berücksichtigen, der insbesondere durch Schaffung des TVG und des BGB den Tarifvertragsparteien bestimmte Kompetenzen eingeräumt und dadurch die betroffenen Grundrechte gegeneinander abgegrenzt hat. Auch durch das Kartellrecht wird die Chance auf einen Vertragsschluss spezialgesetzlich geschützt. Folglich bestimmen sich das rechtliche Können und Dürfen der Tarifvertragsparteien im Ergebnis nach der einfachgesetzlichen Ausgestaltung. Die Institutsgarantie der Vertragsfreiheit macht im Hinblick auf die Tarifmacht zur Vereinbarung von Differenzierungsklauseln keine konkreten Vorgaben.

III. Ergebnis Da die Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG erst vom einfachen Gesetzgeber auszugestalten ist, kann die Frage nach der Verletzung der Vertragsfreiheit 549

Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 31. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 134; Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 74, 193; Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 280; a. A. Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 42 ff.; im Ergebnis ebenso Hanau, JuS 1969, 213 (219). 551 Siehe hierzu unten S. 216 ff. 550

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

nicht beantwortet werden, ohne dass geklärt ist, wie weit die aus dem TVG resultierende Tarifmacht der Tarifvertragsparteien reicht. Die verfassungskonforme einfachgesetzliche Ausgestaltung umschreibt die Grenzen des rechtlichen Könnens und Dürfens. Wenn die Tarifvertragsparteien aufgrund des TVG die Macht haben, Positionen Dritter zu beeinflussen oder zu gestalten, ohne dass den Dritten konkrete Gegenrechte – beispielsweise nach § 138 BGB oder aus dem GWB – zustehen, hat der Gesetzgeber durch Erlass des TVG die Vertragsfreiheit in diesem Sinne näher konkretisiert und Vertragsfreiheit und Koalitionsfreiheit entsprechend voneinander abgegrenzt. Von einer rechtswidrigen Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit kann dann nicht mehr gesprochen werden.

D. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG Die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber durchzusetzen, ist ein zentrales Anliegen des Arbeitsrechts. Insbesondere aus der Verpflichtung des Arbeitgebers, seine Gestaltungsmacht nach den Grundsätzen der Billigkeit (§ 315 Abs. 1 BGB) auszuüben, wird abgeleitet, dass der Arbeitgeber willkürliche Differenzierungen zu unterlassen hat. Auch bei der Diskussion um die Differenzierungsklauseln taucht dieser Gesichtspunkt an unterschiedlicher Stelle auf. Auf Fragen der Gleichbehandlung wurde oben bereits im Rahmen des „Gerechtigkeitsempfindens“ der Außenseiter als Kriterium für die Sozialadäquanz eingegangen.552 Inwieweit Arbeitgeber und Tarifvertragsparteien einfachgesetzlich durch § 75 Abs. 1 BetrVG zu einer Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer verpflichtet werden, wird noch zu untersuchen sein553, ebenso, ob der Staat seinerseits durch die AVE eines differenzierenden Tarifvertrags gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.554 Im Folgenden soll der Blick weg von den rein subjektiven „Empfindungen“ der betroffenen Arbeitnehmer hin zum grundrechtsrelevanten Verhalten der Gewerkschaften gerichtet werden. Giesen sieht die Außenseiter gegenüber den Arbeitgebern und ihren Verbänden in einer unterlegenen Position. Aufgrund dieses Machtgefälles nimmt er eine besondere Bindung der Tarifvertragsparteien an die Schutzpflichten an. Dementsprechend würde für die Tarifvertragsparteien dieselbe Bindung an den Gleichheitssatz wie für den Gesetzgeber gelten, selbst wenn die Außenseiter von den Tarifverträgen nur mittelbar erfasst würden. Für eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Ungleichbehandlung von Organisierten und Außenseitern aufgrund von Differenzierungsklauseln fehle es aber an einem sachlichen Grund, der zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung geeignet wäre.555

552 553 554

Siehe oben S. 124 ff. Siehe unten S. 285 ff. Siehe unten S. 248.

D. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG

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I. Gleichbehandlungspflicht der Tarifvertragsparteien Ob der Außenseiter den Verbänden tatsächlich derart unterlegen ist, dass dem Staat besondere Schutzverpflichtungen erwachsen, kann zunächst dahingestellt bleiben.556 Bereits der dogmatische Ausgangspunkt, dass die Gewerkschaften im Hinblick auf die Außenseiter einer (unmittelbaren oder mittelbaren) Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz unterliegen, ist zweifelhaft. Eine unmittelbare Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG ist denselben Bedenken ausgesetzt, wie sie allgemein gegen eine unmittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte bestehen. Im Gegensatz zu den Freiheitsrechten ist zudem fraglich, ob sich aus Art. 3 Abs. 1 GG überhaupt drittwirkende Schutzpflichten ergeben. Anders als Abs. 2557 und 3 wirkt Art. 3 Abs. 1 staatsgerichtet. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, der von der Gleichheit vor dem Gesetz spricht und damit die Rechtsanwendungsgleichheit durch den Staat meint. Anders als die fest umrissenen Freiheitsräume der Abwehrrechte kann das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz durch Dritte nicht bedroht werden. Ob Art. 3 Abs. 1 GG die objektive Wertentscheidung entnommen werden kann, dass auch Privatleute zur Gleichbehandlung verpflichtet werden sollen, ist deshalb äußerst zweifelhaft. „Das Gebot der Gleichbehandlung bzw. der Gleichheitsgrundsatz stellt daher für sich genommen keinen „abstrakten Wert“ dar, sondern erfährt seine Wertigkeit erst mit Blick auf die Ausübung staatlicher Macht. Wegen dieses spezifischen Bezuges ist das allgemeine Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht geeignet, zum allgemeinen Prinzip für das Handeln der Bürger untereinander erhoben und damit zum abstrakten Schutzgut erklärt zu werden.“558 555 Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 258 ff., 267 f.; ders., NZA 2004, 1317 (1319); ebenso MünchArbR-Birk, Bd. I, § 21 Rn. 57; Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 119; Mayer-Maly, BB 1965, 829 (832) (hinsichtlich gemeinsamer Einrichtungen); Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 444; nach der gegenteiligen Auffassung ist die Ungleichbehandlung nach der Tarifbindung nicht willkürlich: Blom, Tarifausschlußklausel, S. 38 ff., 42 ff.; Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 159 ff.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 47 ff.; Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 7 ff.; Hensche, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 880; Herschel, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 9, 26, 33; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 169 ff., 172 f.; Kempen/Zachert, TVG, Grundl. Rn. 129; Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 9 Rn. 290; Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 91; Richardi, Kollektivgewalt, S. 354; Säcker, Grundprobleme, S. 131. Ebenso wohl auch BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (Bl. 5, 5 R). 556 Siehe hierzu die Ausführungen im Rahmen der Vertragsfreiheit auf S. 292 f. 557 Siehe zum Schutzpflichtengehalt BVerfG, Beschl. v. 16.11.1993, BVerfGE 89, 276 ff. 558 Dietlein, Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 84; zustimmend Erichsen, Jura 1997, 85 (87); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 185 f. (Herstellung faktischer Gleichheit als Ausdruck des Sozialstaatsprinzips); ähnlich Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 300; a. A. BAG, Urt. v. 27.5.2004,

212

3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

Unter materiellrechtlichen Gesichtspunkten stellt sich die Frage, auf welchem Wege Art. 3 Abs. 1 GG Eingang in die Betrachtung findet, d.h. welche Pflichten zur Gleichbehandlung die Tarifvertragsparteien überhaupt treffen können. Wenn Giesen als Konsequenz der Differenzierungsklauseln eine Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber sieht, kann ihm ohne weiteres zugestimmt werden. Erhält Arbeitnehmer A in Folge einer tarifvertraglich angeordneten Differenzierung 50 EUR Urlaubsgeld weniger als Arbeitnehmer B, werden beide nicht gleich behandelt. Für diesen Befund bedarf es keiner langwierigen Analysen. Im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG reicht diese Feststellung alleine aber noch nicht aus. Denn um Art. 3 Abs. 1 GG zu „aktivieren“, ist eine rechtlich relevante Ungleichbehandlung erforderlich. Diese kann sich nur aus dem Verhältnis der Arbeitnehmer zu ihrem Arbeitgeber ergeben. Direkte bzw. rechtliche Beziehungen zwischen der Gewerkschaft und den Außenseitern bestehen hingegen nicht. Es bedarf immer eines vermittelnden Dazwischentretens des Arbeitgebers. Die Gewerkschaften können die Ungleichbehandlung oder die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern anstreben. Unmittelbare praktische Auswirkungen hat dieses – überspitzt formuliert – „Wunschdenken“ nur im Rahmen der normativen Tarifmacht, die allerdings im Bereich der Inhaltsnormen nicht bis zu den Außenseitern reicht. „Eine Gleichbehandlungspflicht der Parteien des Kollektivvertrags ist rechtlich nur begründbar, wenn die Rechtsordnung ihnen überhaupt das Instrumentarium zur Einbeziehung von ,Außenseitern‘ zur Verfügung stellt.“559 Deshalb ist es vor Art. 3 Abs. 1 GG relevant, wenn der Tarifvertrag zwischen einzelnen Gruppen tarifgebundener Arbeitnehmer differenziert, sich die Tarifvertragsparteien also im Rahmen ihrer (normativen) Tarifmacht bewegen.560 Etwas anderes muss aber dann gelten, wenn Regelungen für Dritte geNZA 2004, 1399 (1401 f.); Dieterich, in: Erfurter Kommentar, GG, Einl. Rn. 41, Art. 3 Rn. 11; Paelke-Gärtner, in: Umbach/Clemens, Art. 3 Rn. 162, 165. 559 Konzen, in: FS für Müller, S. 254 (Hervorhebung im Original). Ähnlich Zöllner/ Loritz, Arbeitsrecht, S. 216, die betonen, dass das Gebot der Verwirklichung austeilender Gerechtigkeit überall dort anzunehmen ist, wo die Rechtsordnung einem Machtträger Befugnisse zur Verteilung von Vor- und Nachteilen innerhalb einer Personengruppe einräumt. 560 Nach neuerer Rechtsprechung des BAG wird Art. 3 GG von Art. 9 Abs. 3 GG überlagert, sodass hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags nur eine Willkürprüfung stattfindet; vgl. Urt. v. 30.8.2000, NZA 2001, 613 ff.; Urt. v. 29.8.2001, RdA 2002, 306 (307). Dementsprechend muss Etzels (ArbuR 1969, 257 [262 f.]) Einwand gegen die Effektivgarantieklauseln – der genauso gegen die Abstandsklauseln zu erheben wäre –, sie würden zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer unterschiedlicher Betriebe führen, zurückgewiesen werden (wie Etzel auch Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 452 f.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 418 f.). Wenn es den Tarifvertragsparteien nicht verwehrt ist, firmenbezogene Verbandstarifverträge oder zusätzlich Firmentarifverträge abzuschließen, kann es nicht gegen Art. 3 GG verstoßen, wenn in einem Verbandstarifvertrag Regelungen getroffen werden, die sich im Ergebnis für die Betriebe unterschiedlich auswirken.

D. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG

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troffen werden sollen, die außerhalb des Machtbereichs der Tarifvertragsparteien stehen. Auch der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich nichts anderes entnehmen. Wenn das BVerfG feststellt, dass es dem Gesetzgeber untersagt ist, tarifvertraglich vereinbarte und individualvertraglich vereinbarte Entgeltzuschläge der Arbeitnehmer bei der Besteuerung unterschiedlich zu behandeln561, kann dies nicht auf die Tarifvertragsparteien übertragen werden. Nur soweit die Tarifvertragsparteien eine normative Vereinbarung treffen können, besteht eine Vergleichbarkeit mit dem Gesetzgeber. Denn entscheidend ist, dass der Gesetzgeber die rechtliche Kompetenz zur gleichmäßigen Behandlung der Normunterworfenen hat; hierauf fußt die rechtliche Verpflichtung zur Gleichbehandlung. Dementsprechend können dem zuvor genannten Beschluss des BVerfG keine Anforderungen für die Behandlung der Außenseiter durch die Tarifvertragsparteien mittels Inhaltsnormen entnommen werden.562

II. Gleichbehandlungspflicht des Arbeitgebers Auch wenn die Tarifvertragsparteien im Hinblick auf die Außenseiter keiner Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG unterliegen, bedeutet das nicht automatisch, dass keine Pflichten zur Gleichbehandlung bestehen. Es könnte eine mittelbare Pflicht der Tarifvertragsparteien bestehen, die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber zu ermöglichen. Eine solche mittelbare Pflicht könnte sich dann ergeben, wenn der Arbeitgeber seinerseits zur Gleichbehandlung gesetzlich verpflichtet wäre. Denn dann würden ihn die Tarifvertragsparteien durch die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln zu einem gesetzwidrigen Verhalten veranlassen. Eine Verpflichtung, die gegen geltendes Recht verstößt, kann nicht Gegenstand eines Tarifvertrags sein. Wie bereits mehrfach festgestellt wurde, ist der Arbeitgeber trotz der Geltung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht verpflichtet, allen Arbeitnehmern unabhängig von ihrer Tarifbindung tarifliche Arbeitsbedingungen zu gewähren. Die dogmatischen Begründungen hierfür variieren. Nach Schaub fehlt es bereits an einer Vergleichbarkeit zwischen den tarifgebundenen Arbeitnehmern und den Außenseitern.563 Die Subsumtion von „Tarifgebundenen“ und „Außenseitern“ unter den Oberbegriff „Arbeitnehmer“ abzulehnen, ist 561

BVerfG, Beschl. v. 15.1.1969, BVerfGE 25, 101 (106 ff.). So aber Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 267, der es ausreichen lässt, dass die Außenseiter von den Tarifvertragsparteien mittelbar erfasst werden. Diese Ansicht führt dazu, dass über die grundgesetzlichen Verpflichtungen nicht das rechtliche Können, sondern das Wollen entscheidet. Auch Konzen, in: FS für Müller, S. 259, weist darauf hin, dass der Beschluss des BVerfG nur etwas über das Verhältnis der Organisierten und Außenseiter zum Staat aussagt. Söllner, NZA 1996, 897 (903), betont, dass nach Ansicht des BVerfG die Tarifvertragsparteien zu weitergehenden Differenzierungen berechtigt sind als der Gesetzgeber. Zu der Frage, ob die Allgemeinverbindlicherklärung hieran etwas ändert, siehe unten S. 247 f. 562

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3. Kap.: Grundrechtliche Argumentation

allerdings zu pauschal. Schließlich wird eine Differenzierung nur im Hinblick auf die Anwendung des Tarifvertrags zugelassen, bei der sonstigen Behandlung der Arbeitnehmer aber abgelehnt. Teilweise wird angenommen, dass Art. 3 GG bzw. der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz564 durch die Koalitionsfreiheit verdrängt wird.565. In der Gleichbehandlungspflicht des Arbeitgebers wäre demnach ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG zu sehen ist.566 Es würde die Gewerkschaften in ihrer Existenz bedrohen, wenn jeder Tarifvertrag quasi allgemeinverbindliche Wirkung entfalten würde, die Lasten der Organisation aber auf die Gewerkschaftsmitglieder beschränkt wären. Andererseits haben sich die Außenseiter durch Ausübung ihrer negativen Koalitionsfreiheit von der Gestaltung der Arbeitsbedingungen durch die Koalitionen distanziert. Damit haben sie in ihre (punktuelle) Ungleichbehandlung eingewilligt. In die gleiche Richtung weist der Ansatz, in §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 S. 1 TVG einen Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung entsprechend der Koalitionszugehörigkeit zu sehen. Nach dem Leitbild des TVG ist die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags die Ausnahme. Die Differenzierung nach der Normgeltung, die der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit folgt, kann deshalb nicht als unsachlich angesehen werden.567 Nach diesen Prämissen lässt sich auch die oben aufgeworfene Frage568 beantworten, ob auch diejenigen Außenseiter durch die Tarifvertragsparteien in die tarifliche Vorteilsregelung einbezogen werden dürfen, die sich an einem Arbeitskampf beteiligt haben. Dem Arbeitgeber ist es untersagt, bei arbeitsvertraglichen Vergünstigungen nach Maßgabe der Arbeitskampfbeteiligung zu differenzieren. Denn andernfalls würde der Arbeitgeber zwischen solchen Arbeitnehmern unterscheiden, für die der Tarifvertrag mangels Tarifbindung nicht gilt. § 3 Abs. 1 TVG kann deshalb nicht als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden. Darf also der Arbeitgeber auf freiwilliger Basis grundsätzlich zwischen tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Arbeitnehmern differenzieren, stellt sich 563 Schaub, BB 1996, 1058 (1058 Fn. 1), allerdings im Hinblick auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz; ebenso Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 479 f. 564 Siehe zu den unterschiedlichen Begründungsansätzen für den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz Konzen, in: FS für Müller, S. 250 f. (jedenfalls gewohnheitsrechtliche Geltung). 565 Kempen/Zachert, TVG, Grundl. Rn. 129; so wohl auch Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 263. 566 Konzen, in: FS für Müller, S. 258. 567 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 160, 161; Säcker, Grundprobleme, S. 131; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 299; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 225; für eine Pflicht zur Gleichbehandlung auch im Bereich des Tarifvertrags Wiedemann/ Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 3 Rn. 125. 568 Siehe oben S. 32.

D. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG

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die Frage, ob sich etwas ändert, wenn der Arbeitgeber durch Tarifvertrag zur tatsächlichen Ungleichbehandlung verpflichtet wird. Aus Sicht des Arbeitnehmers werden durch die Verpflichtung seine Chancen auf einen für ihn günstigeren Vertragsabschluss – die Gleichbehandlung – gemindert. Dies stellt allerdings kein Problem von Art. 3 Abs. 1 GG dar, sondern betrifft die Vertragsfreiheit bzw. die negative Koalitionsfreiheit. Denn die Chancen der Außenseiter, beliebige Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, soweit die wirtschaftlichen Gegebenheiten hierfür günstig sind, sind nicht deshalb gemindert, weil der Arbeitgeber nach der Organisationszugehörigkeit differenziert, sondern weil er durch den Tarifvertrag zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet wird.569 An der Ungleichbehandlung als Ergebnis der Verpflichtung ändert die Verpflichtung hingegen nichts. Es gilt also, zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden: Die Ungleichbehandlung und der Weg zur Ungleichbehandlung. Allein das Ergebnis und nicht der Weg ist an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Dementsprechend ändert die Verpflichtung nichts an der Zulässigkeit der Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber. Dem Staat kann nach dem zuvor Festgestellten keine besondere drittwirkende Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 1 GG erwachsen, selbst wenn man eine solche grundsätzlich anerkennen würde und zudem unterstellt, dass ein Machtgefälle zwischen dem einzelnen Außenseiter und den tarifschließenden Verbänden besteht. In Bezug auf die Pflicht zur Gleichbehandlung – aber auch nur hier – kann somit Gamillschegs Feststellung „Was man tun darf, kann man versprechen.“570 zugestimmt werden.

569 So im Ergebnis auch BAG, Urt. v. 21.1.1987, AP Nr. 46 zu Art. 9 GG (insb. Bl. 5, 5 R). Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 53, leitet eine Verpflichtung zur Schaffung gleichheitlicher Regelungen aus der Repräsentationsfunktion her. Dass aus der Gesamtrepräsentation keine konkreten Pflichten abgeleitet werden können, wurde bereits oben gezeigt (siehe S. 167 ff.). 570 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 48; in der Tendenz zustimmend Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 110 Fn. 227 („gewisse Logik“); siehe hiergegen Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 75 f.; Nipperdey, RdA 1967, 87 (88); ders., in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 168. Die hiergegen vorgebrachten Einwände, man könne z. B. Junggeselle bleiben, dies aber nicht versprechen, beziehen sich nicht auf Gleichheitsrechte.

Kapitel 4

Überschreitung der Tarifmacht Differenzierungsklauseln lassen sich nur dann rechtmäßig in einem Tarifvertrag vereinbaren, wenn den Tarifparteien hierfür die Tarifmacht zukommt. Die Tarifmacht besteht nur dann, wenn einerseits die Tarifvertragsparteien überhaupt Abreden treffen dürfen, die sich mit den Außenseitern befassen, und andererseits keine entgegenstehenden Rechte Dritter sowie allgemeine Rechtsprinzipien der tariflichen Regelungsbefugnis Grenzen setzen. Es geht also um die Grenzen der Tarifmacht in personeller – Auswirkungen auf die Außenseiter – und in sachlicher – inhaltliche Zulässigkeit der einzelnen Regelung – Hinsicht.

A. Innere Schranken der Tarifmacht I. Tarifmacht für schuldrechtliche Vereinbarungen Die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien wird durch ihre Tarifmacht beschränkt. Aus Art. 9 Abs. 3 GG und der grundrechtlich geschützten Tarifautonomie lässt sich nicht unmittelbar die Möglichkeit ableiten, normativ wirkende Tarifverträge zu schließen, soweit sie dem Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zuzurechnen sind. Hierfür bedarf es vielmehr der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, für die ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum besteht. Nur durch ein entsprechendes gesetzliches Instrumentarium werden die Koalitionen in die Lage versetzt, ihre Rechte und Pflichten und die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder im Hinblick auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verbindlich festzulegen. Seinem Regelungsauftrag ist der Gesetzgeber durch Schaffung des TVG nachgekommen, das dementsprechend für den Umfang des rechtlichen Könnens maßgeblich ist.1 Wohlgemerkt hat die1 Blomeyer, DB 1977, 101 (103); Butzer, RdA 1994, 375 (380); Dieterich, in: Erfurter Kommentar, GG, Art. 9 Rn. 60, 80; ders., RdA 2002, 1 (11 f., 17); Gellermann, Grundrechte, S. 165 f.; Höfling, in: FS für Friauf, S. 386; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 95 f.; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 13 Rn. 143; Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereiches der Koalitionsfreiheit, S. 73 f., 96 f.; Konzen, RdA 1978, 146 (154); Lieb, DB 1999, 2058 (2065); Richardi, Kollektivgewalt, S. 208; Säcker, Grundprobleme, S. 73 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 375; im Ergebnis wohl auch Schwarze, JuS 1994, 653 (658; wenn auch am

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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ses Verständnis vom TVG nichts damit zu tun, wie die (Reichweite der) Rechtsetzungsmacht der Tarifparteien begründet wird. Ob hierfür der privatautonome Verbandsbeitritt der Mitglieder maßgeblich ist (Autonomietheorie)2, eine staatliche Delegation erforderlich ist (Delegationstheorie)3, oder ob – wie auch bei dem Gesetzgebungsrecht des Staates – allein die Verfassung die Rechtsgrundlage bildet (Integrationstheorie)4, ändert nichts daran, dass die Tarifautonomie der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber fähig ist und bedarf und der Gesetzgeber im Rahmen des Unerlässlichen zu einer Ausgestaltung verpflichtet ist; auch nach den Vertretern der Integrationstheorie ist – obwohl nach dieser Ansicht die Normsetzungsbefugnis unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG herrührt – eine einfachgesetzliche Ausgestaltung erforderlich, sodass sich – ob dies inkonsequent ist, sei dahingestellt – das rechtliche Können anhand des TVG bestimmt. Dies wird in der Regel sogar von denjenigen anerkannt, die vertreten, dass es sich bei der Tarifautonomie um eine außer- und vorstaatliche Rechtsetzungsmacht handelt, die ursprünglich nicht vom Staat geschaffen, sondern von ihm vorgefunden wurde. Durch Schaffung des TVG habe der Gesetzgeber die Autonomie der Sozialpartner anerkannt und ihr zur Durchsetzung verholfen.5 Biedenkopf führt zu dieser Problematik aus: „Im Rahmen seines verfassungsBeispiel des Arbeitskampfs); in diesem Sinne bereits im Jahre 1916 Sinzheimer, Ein Arbeitstarifgesetz (insb. S. 35, 39 f., 50, 51, 135). Vom BVerfG wurde bereits 1954 (Urt. v. 18.11.1954, BVerfGE 4, 96 [106]) die Verpflichtung des Gesetzgebers festgestellt, ein Tarifvertragssystem bereit zu stellen. 2 Für Verbandsmitglieder Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 158 ff., 172, der die Notwendigkeit von flankierendem Gesetzesrecht betont (S. 166 ff., 175). Im Hinblick auf die Tarifgeltung für Außenseiter geht Giesen, a. a. O., S. 189 ff., 223 f., von der Delegationstheorie aus. Vgl. zur Autonomietheorie die Kritik von Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 570 ff. 3 BAG, Urt. v. 15.1.1955, BAGE 1, 258 (262) = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG; 59, 217 (221); Bötticher, RdA 1966, 401 (402); Gellermann, Grundrechte, S. 162; MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 246 Rn. 50 ff., § 252 Nr. 23; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 216; Säcker, Grundprobleme, S. 28 f., 73 ff. Das BVerfG verhält sich zur Frage der Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien indifferent; vgl. hierzu und allgemein Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 143 ff. m. w. N. 4 Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 104; ders., Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 111 f.; Galperin, in: FS für Molitor, 1962, S. 157; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 558 (m. w. N. in Fn. 135); Hertwig, RdA 1985, 282 (287); Waltermann, RdA 1990, 138 (140 f.). Siehe zur Kritik an der Integrationstheorie Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 75 ff., der darauf hinweist (S. 75), dass auch hier eine Delegation (durch das Grundgesetz) vorliegt (ebenso Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 147 ff.). 5 Herschel, in: FS für Bogs, S. 130 ff. (Tarifvertrag als „naturrechtlich begründete Lebensbetätigung und Lebensform der sozialen Autonomie“); ders., Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 11, 16; zustimmend Thon, ebd., S. D 46, Bogs, RdA 1956, 1 (4 f.). Ähnlich Fechner, Rechtsgutachten, S. 36 f. („Wirkung aus der Natur des Tarifvertrages“); Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 12 ff., 32 (Anerkennung der Verfassungswirklichkeit, die zur Rechts- und Verfassungsrechtsschöpfung fähig ist); Söllner, ArbuR 1966, 257 (260 f.). Vgl. hierzu Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereiches der Koalitionsfreiheit, S. 73 f.; Hölters, Harmonie nor-

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

rechtlich gebundenen Ermessens zieht der Gesetzgeber die Grenzen der Zuständigkeit der Tarifparteien und bestimmt die Voraussetzungen, unter denen sie beansprucht werden kann.“6 Logische Schlussfolgerung aus dieser dogmatischen Verortung des TVG ist es, dass trotz des Schutzes der Differenzierungsklauseln durch Art. 9 Abs. 3 GG und ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit die einfachgesetzliche Rechtswidrigkeit aufgrund fehlender Tarifmacht denkbar ist. Da die Differenzierungsklauseln für den Koalitionsbestand nicht unerlässlich sind, können sie nicht zum Kernbereich der Koalitionsfreiheit gerechnet werden. Dann ist aber auch der einfache Gesetzgeber in der Entscheidung frei – von Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit abgesehen (vgl. die Abwägungsformel des BVerfG7) – den Koalitionen die Tarifmacht zur Vereinbarung von Differenzierungsklauseln zu verleihen. In diesem Sinne gilt die Tarifmacht nur nach Maßgabe des einfachen Gesetzes; ein Rückgriff auf den möglicherweise weiter gefassten Begriff der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG ist deshalb nur zur (verfassungskonformen) Auslegung des TVG zulässig.8 Dieses Verhältnis von TVG und Art. 9 Abs. 3 GG wird von Reuß verkannt, wenn er fragt, ob der Gesetzgeber Differenzierungsklauseln verboten hat.9 Da die Möglichkeit, Tarifverträge mit rechtsverbindlicher Wirkung abzuschließen, nicht allein auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie gestützt werden kann, sondern der einfachgesetzlichen Ausgestaltung im Hinblick auf die Normsetzungsbefugnis bedarf, muss die Frage lauten: Hat der Gesetzgeber den Tarifparteien durch Schaffung des TVG die Macht verliehen, Differenzierungsklauseln zu vereinbaren? Erst in einem nächsten Schritt ist zu diskutieren, ob die Differenzierungsklauseln mit anderen gesetzlichen Bestimmungen kollidieren.

mativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 92, 94, Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 148 (m. w. N. in Fn. 89). 6 Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 105; im Ergebnis ebenso Galperin, in: FS für Erich Molitor, 1962, S. 159 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 558; Hertwig, RdA 1985, 282 (287); Säcker/Oetker, Grundlagen, S. 103 f.; Söllner, ArbuR 1966, 257 (260 f.); Waltermann, RdA 1990, 138 (141 Fn. 23). 7 BVerfG, Beschl. v. 30.11.1965, BVerfGE 19, 303 (322); Beschl. v. 26.5.1970, BVerfGE 28, 295 (306); Beschl. v. 17.2.1981, BVerfGE 57, 220 (246); siehe hierzu Gellermann, Grundrechte, 150 f., 154 ff. (insb. zum Verhältnis von Abwägungsformel und Unerlässlichkeitspostulat); Schwarze, JuS 1994, 653 (655). 8 Anders wohl Wiedemann, RdA 1986, 231 (231 f.), der allein auf die „Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen“ des Art. 9 Abs. 3 GG abstellt, auch wenn nicht deutlich wird, ob dies nur deshalb erfolgt, weil seiner Ansicht nach „das TVG zur Sachzuständigkeit der Tarifvertragsparteien nur formale Angaben enthält“ und dementsprechend unvollständig ist. Ebenfalls den Vorrang des Art. 9 Abs. 3 GG betonend Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 76 f., 81 f.; Georgi, Zulässigkeit von Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 29; Gitter, JurA 1971, 148 (158 f.). 9 Reuß, ArbuR 1970, 33 (33).

A. Innere Schranken der Tarifmacht

219

Auch wenn sich die obigen Ausführungen auf die normativen Tarifklauseln bezogen haben, kann vom Grundsatz her für den schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags nichts anderes gelten. Wie bereits oben ausgeführt, erfordert die Möglichkeit zur Vereinbarung rechtsverbindlicher vertraglicher Abreden ein gesetzliches Instrumentarium, das die Rechtsverbindlichkeit nicht nur gewährleistet, sondern konstituiert.10 Der Gesetzgeber hat durch das TVG und die übrige Privatrechtsordnung eine Ausgestaltung vorgenommen. Inwieweit die Tarifvertragsparteien schuldrechtliche Tarifklauseln vereinbaren können, richtet sich demnach vorrangig nach dem einfachen Recht. Auf Art. 9 Abs. 3 GG ist nur bei der Auslegung sowie bei der Rechtsfortbildung, um Gesetzeslücken zu schließen, zurückzugreifen. 1. TVG und außenseiterbetreffende Tarifklauseln Als Instrumente zur Gestaltung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen stellt § 1 Abs. 1 TVG den Koalitionen den Tarifvertrag mit normativ und schuldrechtlich wirkenden Abreden zur Verfügung. Normative Vereinbarungen können nach § 1 Abs. 1 TVG nur dann getroffen werden, wenn sie „den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen“. Wie bereits oben gezeigt wurde11, können einfache Differenzierungsklauseln sowie Abstandsklauseln als Rechtsnormen (Inhaltsnormen) ausgestaltet werden; dementsprechend weisen sie vor dem Hintergrund des § 1 Abs. 1 TVG keine Besonderheiten auf. Insbesondere ist dem § 1 Abs. 1 TVG nicht zu entnehmen, dass Tarifnormen keinerlei (faktische) Außenseiterwirkung haben dürfen.12 Auch darf nicht vergessen werden, dass durch die Abstandsklauseln den Mitgliedern der tarifschließenden Gewerkschaft materielle Vorteile verschafft werden; dass darüber hinaus noch koalitionspolitische Fernziele verfolgt werden, kann am Charakter der Abstandsklauseln als individualbegünstigende Klauseln nichts ändern.13 Problematischer sind hingegen die Tarifausschlussklauseln, da ihnen eine normative Geltungskraft nicht zukommt bzw. überhaupt zukommen kann. Bei ihnen kommt allein eine schuldrechtlicher Vereinbarung in Betracht. Im Gegensatz zu den Abstandsklauseln und den einfachen Differenzierungsklauseln haben sie keine unmittelbare materielle Begünstigung der Koalitionsmitglieder zum Ziel; es stehen koalitionspolitische Motive im Vordergrund. Der Wortlaut des § 1 Abs. 1 10

Vgl. Gellermann, Grundrechte, S. 135 ff. Siehe oben S. 205 ff. Siehe oben S. 33 ff. 12 Dies wird, soweit erkennbar, in der Literatur auch nicht diskutiert. Demgegenüber geht Leventis, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 94 ff., davon aus, dass die Diskussion um die Tarifmacht nicht bloß auf den schuldrechtlichen Teil beschränkt ist, sondern für den normativen genauso gilt. 13 So im Ergebnis Musa, BB 1966, 82 (86); Nikisch, RdA 1967, 87 (87 f.). 11

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

TVG kennt keine Beschränkungen der schuldrechtlichen Vereinbarungsmacht; hier heißt es ganz allgemein: „Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien . . .“ Welche Verknüpfung zwischen der normativen und der schuldrechtlichen Seite des Tarifvertrags besteht, kann dem Wortlaut des TVG nicht entnommen werden. Wegen dieser Unbestimmtheit haben sich unterschiedliche Ansichten zur Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit der Tarifmacht herausgebildet. a) Begrenzung der schuldrechtlichen Tarifmacht durch die normative Zunächst ließe sich annehmen, dass die Möglichkeit der Tarifparteien, schuldrechtliche Tarifvereinbarungen zu treffen, durch die normative Seite des Tarifvertrags eingeschränkt wird. Das würde bedeuten, dass eine Materie, die einer normativen Ausgestaltung nicht zugänglich ist, auch nicht auf dem schuldrechtlichen Wege tariflich geregelt werden kann.14 Mayer-Maly geht dogmatisch von einem „materialen Verständnis des Normativen“ aus: „Für die Grenzen der Tarifmacht sind nur Funktion und Wirkung einer Klausel maßgeblich. (. . .) Was in der Sache der Regelung der Beziehungen zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband (. . .) gilt, ist schuldrechtlich wirksame Tarifvertragsbestimmung. Was dagegen der Ordnung von Arbeitsverhältnissen gilt, muß sich als auf normative Wirkung angelegte Tarifvertragsbestimmung an den Grenzen der Tarifmacht messen lassen.“15 Im Ergebnis wird also die über den normativ regelbaren Bereich hinausgehende schuldrechtliche Vereinbarung der Arbeitsbedingungen als unzulässiges Umgehungsgeschäft der durch das TVG aufgestellten Schranken angesehen, auch wenn Mayer-Maly mit seinem objektiven Verständnis auf einen subjektiven Umgehungswillen verzichtet. Die Frage, ob schuldrechtlich vereinbarte Differenzierungsklauseln die Tarifmacht überschreiten, spitzt sich darauf zu, ob es den Tarifparteien gestattet ist, in ihren Tarifverträ-

14 Beuthien, ZfA 1983, 141 (151, 159 ff.); Bötticher, Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 142 Fn. 29, 152 (jedenfalls bezogen auf die Durchführungspflicht); Bulla, BB 1975, 889 (893); Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 514 ff., 574; ders., NZA 2004, 1317 (1319 f.); Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 168 Fn. 34, 337 f., 401 f., 508 (anders noch die 6. Aufl., Bd. II, S. 123, 125); Koller, ZfA 1978, 45 (65 f.); Mayer-Maly, BB 1965, 829 (833); ders., BB 1966, 1067 (1069); MünchArbR-Löwisch/Rieble, § 258, Rn. 1 (den Tarifparteien steht nach dieser Ansicht allerdings noch die allgemeine Vertragsfreiheit zu); Nikisch, RdA 1967, 87 (89); ders., Arbeitsrecht, Bd. II, S. 309; Richardi, Kollektivgewalt, S. 201, 208 f.; Säcker, BB 1966, 1031 (1031); ders., Grundprobleme, S. 127 f.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 394 (a. A. noch Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Auflage, 1983, S. 315 f.); so im Ergebnis wohl auch Lieb, DB 1999, 2058 (2066 f.); ausdrücklich offen gelassen von Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 55. 15 Mayer-Maly, BB 1966, 1067 (1069); eine Gesetzesumgehung befürchtet auch Beuthien, ZfA 1983 141 (151); vgl. zu anderen dogmatischen Begründungen Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 46 ff.

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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gen auf die Außenseiter Bezug zu nehmen und deren Situation (faktisch) zu gestalten. Denn genau an diesem Punkt scheitert die normative Regelungsmacht; für die Vereinbarung einer Tarifausschlussklausel in Gestalt einer Inhalts- oder Abschlussnorm fehlt den Tarifparteien die mitgliedschaftliche Legitimation der Außenseiter, an die § 3 Abs. 1 TVG die normative Wirkung knüpft. Deshalb hat dieser Streit für die Vereinbarung einfacher Differenzierungsklauseln sowie von Abstandsklauseln keine Bedeutung. Betont man hingegen den Vorrang des Art. 9 Abs. 3 GG vor dem TVG, kann all das Gegenstand eines Tarifvertrags sein kann, was dem Bereich der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen angehört. Denn nur so kann das TVG den Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG gerecht werden. Daraus ergibt sich wiederum, dass die Limitierung der normativen Gestaltungsbefugnisse keine Beschränkung der schuldrechtliche Tarifmacht rechtfertigen kann.16 Insoweit ist es unproblematisch, neben den Abstandsklauseln auch die Tarifausschlussklauseln als schuldrechtliche Regelungen zuzulassen, da sie die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (zumindest mittelbar) fördern und somit von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt werden. Dass auch die Vereinbarung von Tarifklauseln im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags nicht von der Bindung an die Gesetze suspendiert, bedarf keiner weiteren Begründung. Dieser Punkt ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht ausschlaggebend. Wie oben dargelegt, verstoßen Differenzierungsklauseln weder per se gegen die negative Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG oder Art. 2 Abs. 1 GG der Nichtorganisierten noch gegen die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten. Insoweit kann die schuldrechtliche Vereinbarung nicht als Umgehungsgeschäft einer rechtswidrigen normativen Regelung angesehen werden.17 Folglich geht es auch nicht um die Bestimmung der äußeren Grenzen der Tarifmacht, die durch Verfassungs- und Gesetzesrecht gezogen 16 So im Ergebnis: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 175 ff., 1098; Schaub, in: Erfurter Kommentar, TVG, § 1 Rn. 61 (der allerdings auf Art. 2 Abs. 1 GG als Grundlage der Vertragsfreiheit abstellt); Floretta, DRdA 1968, 1 (17; allerdings ohne Bezug zu Art. 9 Abs. 3 GG); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 94 f.; ders., BB 1967, 45 (49, 52); ders., Kollektives Arbeitsrecht I, S. 332 f.; Hanau, JuS 1969, 213 (218 f.); Herschel, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 19; Kempen/Zachert, TVG, § 1 Rn. 362 f., § 3 Rn. 119; Leventis, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 101; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 421, 425; Musa, BB 1966, 82 (85); Reuß, ArbuR 1970, 33 (33 f.); Schaub, in: ders., Arbeitsrechts-Handbuch, § 201 Rn. 3; Schmidt-Eriksen, Tarifvertragliche Betriebsnormen, S. 153 f.; Weller, ArbuR 1970, 161 (163 f.); Weyand, Tarifvertragliche Mitbestimmung, S. 101 ff.; Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 746; ders., RdA 1969, 321 (334); Zachert, DB 1995, 322 (323); Zöllner, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 41; eingeschränkt auf Außenseiter begünstigende Regelungen Nikisch, RdA 1967, 87 (87 f.); Richardi, Kollektivgewalt, S. 202 f. 17 Vgl. beispielsweise die Argumentation bei Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 55; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 394, die zur Unzulässigkeit entsprechender normativer und schuldrechtlicher Klauseln kommen.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

werden, sondern um die immanenten Regelungsschranken, die sich aus der Sache selbst ergeben.18 Gamillscheg spricht zutreffend vom „Können“ im Gegensatz zum „Dürfen“ im Sinne der inhaltlichen Zulässigkeit der Tarifnorm oder sonstigen tariflichen Regelung.19 Zu trennen von der Problematik der Tarifmacht ist die Frage nach der Erkämpfbarkeit schuldrechtlicher Tarifvereinbarungen. Auch hierbei kann unterschieden werden, ob nur das mittels eines Arbeitskampfes durchgesetzt werden kann, was auch einer normativen Vereinbarung zugänglich ist oder ob das Arbeitskampfrecht sich auch auf schuldrechtliche Abreden erstreckt, soweit sie zum Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG zu zählen sind. Bötticher argumentiert demgegenüber genau entgegengesetzt: „Mir scheint umgekehrt der zulässige Gegenstand des Tarifvertrags oft nur dann richtig ermittelt werden zu können, wenn man die Frage stellt, ob für diesen Gegenstand auch gekämpft werden könne.“20 Damit behandelt er den Tarifvertrag quasi als Annex des Arbeitskampfes, was die Verhältnisse auf den Kopf stellt. Schließlich dienen Streik und Aussperrung der Erzwingung bzw. Verhinderung eines Tarifvertrages, stellen aber keinen Selbstzweck dar; der Arbeitskampf ist ein Hilfsinstrument der Tarifautonomie.21 Wenn vom Arbeitskampf auf den Tarifvertrag geschlossen werden müsste, müssten Kriterien gefunden werden, anhand derer die Zulässigkeit eines Arbeitskampfes unabhängig von den verfolgten Zielen beurteilt werden könnte. Hieran fehlt es jedoch. Vielmehr ist es allgemeine Ansicht und gängige Praxis, dass sich die Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes danach bestimmt, ob er ein tariflich regelbares Ziel verfolgt.22 Weiterhin hätte die von Bötticher vorgebrachte Ansicht in Anbetracht des gegenwärtigen Standes der Normierung zur Folge, dass die durch das TVG gesetzlich geregelte Tarifmacht durch bloßes Richterrecht begrenzt würde, da es für den Arbeitskampf an einer gesetzlichen Ausgestaltung fehlt. Eine solche Lösung contra legem ist mit dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes nicht zu vereinbaren. Dementsprechend bleibt festzuhalten, dass der Arbeitskampf von der Tarifmacht beeinflusst wird, aber nicht umgekehrt die Tarifmacht vom Arbeitskampf. Auf die Problematik des Arbeitskampfes wird noch gesondert zurückzukommen sein.

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Vgl. zu dieser Unterscheidung Lieb, Arbeitsrecht, Rn. 560 f. Gamillscheg, BB 1967, 45 (52); ebenso Herschel, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 18; ähnlich die Systematisierung von Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 20. 20 Bötticher, BB 1965, 1077 (1082); ähnlich ders., RdA 1966, 401 (403). 21 Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 128. 22 Vgl. nur Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1071 m. w. N. in Fn. 34. 19

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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b) Kritik Eine Abschottung des Tarifvertrags gegenüber den Außenseitern entspricht nicht der Realität des Arbeitslebens. Wenn Art. 9 Abs. 3 GG von der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ spricht, kommt klar zum Ausdruck, dass das Wirken der Koalitionen nicht auf die Mitglieder beschränkt ist und auch nicht beschränkt sein soll. Nicht nur durch die allgemein übliche individualvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag wird das Arbeitsleben geprägt, der Tarifvertrag kann auch als „übliche Vergütung“ im Sinne des § 612 Abs. 2 BGB angesehen werden23. Von zahlreichen Gesetzen, die für alle Arbeitnehmer zwingend gelten, können aufgrund eines Tarifvertrags Ausnahmen gemacht werden. Diese Fälle weisen natürlich die Besonderheit auf, dass erst durch einen legitimierenden staatlichen Rechtsanwendungsbefehl eine Außenseitererstreckung statuiert wird, vergleichbar der „Generalklausel“ des § 3 Abs. 2 TVG. Die Praxis kennt verschiedene schuldrechtliche Tarifklauseln, die ihre (faktische) Wirkung auf Außenseiter erstrecken und die von der überwiegenden Meinung akzeptiert werden. Unter Berücksichtigung dieser Argumentation hat der Große Senat des BAG sich in seiner Differenzierungsklauselentscheidung dagegen ausgesprochen, schuldrechtlich vereinbarte Differenzierungsklauseln unmittelbar an der durch § 1 TVG umschriebenen (normativen) Tarifmacht scheitern zu lassen.24 Insbesondere die schuldrechtlichen Außenseiterregelungen, durch die den Außenseitern nach einem Arbeitskampf die Wiedereinstellung25 garantiert wurden oder den Arbeitgebern entsprechende Maß23 LAG Düsseldorf, Urt. v. 23.8.1977, DB 1978, 165 (166); Palandt-Weidenkaff, § 612 Rn. 8. Zweifelhaft erscheint es allerdings, wenn man wie Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 87, 102 f., aus der Funktion der Koalitionen, eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens zu schaffen, eine Kompetenz – ja geradezu ein Gebot – zur Außenseiterwirkung des Tarifvertrags herleitet. Denn damit wird die Tarifmacht reinen Zweckmäßigkeitserwägungen der Koalitionen unterworfen und von der mitgliedschaftlichen Legitimation gelöst. Kritisch zum unklaren Gebrauch des Begriffs „Ordnungsfunktion“ Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 38 f. 24 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 9 ff.); Floretta, DRdA 1968, 1 (17), hat darauf hingewiesen, dass eine rechtsgeschichtliche Betrachtung der Begrenzung der schuldrechtlichen Tarifmacht entgegensteht. 25 In der Weimarer Republik konnte das Streikrecht nur dadurch ausgeübt werden, dass die Arbeitnehmer vor der Arbeitsniederlegung gekündigt haben (vgl. Kaskel/ Dersch, Arbeitsrecht, 4. Aufl., S. 434 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 449). Nach der Rechtsprechung des BAG GrS, Beschl. v. 28.1.1955, BAGE 1, 291 ff. = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, werden durch einen rechtmäßigen Streik, an dem sich auch die Nichtorganisierten beteiligen dürfen, lediglich die arbeitsvertraglichen Pflichten suspendiert. Ein Kündigungsgrund ist in der Streikteilnahme nicht zu sehen. In seinem Beschl. v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, hat der Große Senat des BAG festgestellt, dass eine lösende Aussperrung zwar grundsätzlich möglich, aber nur in bestimmten Ausnahmefällen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig ist (vgl. hierzu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1040 ff.). Nach Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 206, hat in der Tarifpraxis die lösende Aussperrung keine Bedeutung erlangt.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

regelungsverbote auferlegt wurden, wurden bereits vom Reichsgericht und vom Reichsarbeitsgericht für zulässig erachtet.26 Der Große Senat des BAG betont, dass es geradezu ein Gebot der Gerechtigkeit ist, dass die Gewerkschaften, nachdem sie im Arbeitskampf an die Solidarität der Außenseiter appelliert und von ihnen Unterstützung erhalten haben, nach beendetem Arbeitskampf die Außenseiter mittels tariflicher Regelungen schützen können.27 Weiterhin weist der Große Senat darauf hin, dass es auch Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifparteien wie beispielsweise Urlaubs-, Pensions- und Unterstützungskassen gestattet sein muss, sich mittels ihrer Satzungen den Außenseitern zu öffnen, die ansonsten nach der Bestimmung des § 4 Abs. 2 TVG von ihrer Wirkung nicht erfasst werden: „Das Recht der Gemeinsamen Einrichtungen soll nach dem Willen des Gesetzgebers, der keine ausgebaute Regelung geschaffen hat, ersichtlich der Gestaltungsfreiheit der Tarifpartner, dem Einfallsreichtum der Planer, der wirtschaftlichen und steuerlichen Ökonomie und den immer wieder auftauchenden modernen Ordnungsund Regelungsbedürfnissen des Arbeitslebens Raum geben. Hier zu sagen, Satzungen solcher Gemeinsamer Einrichtungen dürften sich, anders als im bürgerlichen Recht, nicht den Außenseitern öffnen, wäre eine nicht zu verantwortende Reglementierung der tariflichen Autonomie.“28

An diesen Beispielen wird offensichtlich, dass die Koalitionen vielfach auf die Mitwirkung von Außenseitern angewiesen sind und deshalb eine absolute Schranke für die Tarifwirkung, wie sie beispielsweise von Mayer-Maly29 und Nipperdey statuiert wird, nicht kennt. Eine solche Beschränkung der tarifvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten muss zu unbilligen Ergebnissen führen und die Funktionsfähigkeit von Arbeitskampf und Gemeinsamen Einrichtungen gefährden. Diese Argumentation ist dem Einwand ausgesetzt, dass die erwähnten Tarifabreden zugunsten der Außenseiter wirken. Verträge zugunsten Dritter werden von der Rechtsordnung anerkannt (vgl. §§ 328 ff. BGB). Vor ihnen braucht der Dritte nicht geschützt zu werden. Demgegenüber bewirken die Differenzierungsklauseln einen Nachteil für den Außenseiter, da er – ggf. abgesehen von einem Sockelbeitrag, an den die Differenzierung anknüpft – von tariflichen Arbeitsbedingungen fern gehalten wird. Auf diese Unterscheidung läuft die vom Großen Senat des BAG in der Differenzierungsklauselentscheidung als „ver26 RG, Urt. v. 30.6.1925, RGZ 166 (177 f.); RAG, Urt. v. 27.4.1929, Bensh. Samml. 6, 151 (156). 27 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 9 R). 28 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 10 R). 29 Der Ausnahmecharakter der Wiedereinstellungsklauseln wird betont von MayerMaly, ZAS 1969, 81 (88). Wiedemann, RdA 1969, 221 (333), hält die Tarifvertragsparteien sogar für verpflichtet, die am Streik beteiligten Außenseiter durch Wiedereinstellungsklauseln und Maßregelungsverbote zu schützen. Siehe hiergegen Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 101 ff.

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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mittelnde“ bezeichnete Ansicht eines Teils des Schrifttums30 hinaus, wenn allein auf die Vorteilhaftigkeit der Tarifklausel abgestellt wird. Im Hinblick auf die ebenfalls für zulässig erachtete Außenseiterklausel müssen diese Bedenken jedoch ins Leere gehen. Denn die Außenseiterklausel, nach der der Arbeitgeber verpflichtet ist, auch die Tarifaußenseiter nur zu tariflichen Bedingungen zu beschäftigen, kann als eine den Außenseiter benachteiligende Regelung angesehen werden: Als Folge wird die Konkurrenz zwischen tarifgebundenen und freien Arbeitnehmern ausgeschaltet. Dies ist vorteilhaft für den organisierten Arbeitnehmer, der in Zeiten von Konjunktureinbrüchen und wirtschaftlicher Rezession davor geschützt wird, unterboten zu werden, und deshalb seine Chancen verbessert, seinen Arbeitsplatz zu behalten. Als Kehrseite hiervon kann der Außenseiter nicht die entsprechenden Vorteile des Tarifungebundenseins für den Arbeitgeber geltend machen, sodass er für den Arbeitgeber an Attraktivität einbüßt.31 Entscheidend ist, dass nicht angenommen werden kann, die Tarifvertragsparteien hätten die Tarifmacht nur für einzelne Bereiche verliehen bekommen – beispielsweise für außenseiterbegünstigende Klauseln – und für andere nicht. Eine solche Argumentation muss es an der dogmatischen Grundlage und notwendigen Stringenz fehlen lassen; wie das Beispiel der Außenseiterklauseln zeigt, ist es nicht immer eindeutig, ob eine Klausel lediglich Vorteile für den Außenseiter bringt, sodass im Ergebnis eine schwer vorhersehbare Kasuistik droht. Das TVG, das die Rechtsetzungsmacht der Tarifparteien umgrenzt, bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass außenseiterbegünstigende schuldrechtliche Vereinbarungen getroffen werden dürfen, außenseiterbelastende hingegen nicht. Überhaupt enthält sich § 1 Abs. 1 TVG einer Konkretisierung schuldrechtlicher Regelungsbefugnisse. Zudem geht es im vorliegenden Zusammenhang um die inneren Schranken der Tarifmacht und nicht um die Vereinbarkeit der Klauseln mit den (Grund-)Rechten der Außenseiter; in letzterem Falle vermag eine Begünstigung natürlich die Einschränkung der Freiheit auszuschließen. Wenn von der normativen Seite auf die schuldrechtliche Seite des Tarifvertrags geschlossen werden soll, fehlt allerdings eine plausible Begründung, warum von diesem Postulat bei Außenseiterbegünstigungen Ausnahmen zu machen sind. 30 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 132 ff. (insb. S. 136 f.); Gitter, JurA 1970, 148 (163); Hanau, JuS 1969, 213 (218 f.); Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 308; ders., RdA 1967, 87 (87); Richardi, Kollektivgewalt, S. 202. A. A. MayerMaly, BB 1966, 1067 (1069); ders., in: GS für Peters, S. 947 f. Fn. 41; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 330; Mayer-Maly hat in ZAS 1969, 80 (88), seinen rigorosen Standpunkt etwas eingeschränkt und unter bestimmten Bedingungen ausnahmsweise eine Außenseiterbegünstigung zugelassen. 31 Demgegenüber sieht Leventis, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 64, 102 f., die Außenseiterklauseln für alle Arbeitnehmer als günstig an, da sie die Konkurrenz der Arbeitnehmer untereinander beseitigen: „[D]er freie Wettbewerb der Arbeitnehmer untereinander [stellt] kein Element der sozialen Marktwirtschaft [dar].“ (S. 101) Ebenso Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 236.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Aber auch der Umstand, dass die Koalitionen allein für ihre Mitglieder Recht setzen können, lässt Rückschlüsse auf die schuldrechtliche Vereinbarungsmacht nicht zu. Der Grundsatz der mitgliedschaftlichen Legitimation betrifft nur die Wirkung der Rechtsnormen, allerdings auch nicht – wie § 3 Abs. 2 TVG zeigt – absolut. Da schuldrechtliche Tarifklauseln nur zwischen den Tarifvertragsparteien ihre unmittelbar verbindliche Wirkung entfalten, bedürfen sie nicht der mitgliedschaftlichen Legitimation; hierin besteht ein grundlegender Unterschied zu den Rechtsnormen. Dies spricht für das Alles-oder-Nichts-Prinzip, wie es beispielsweise von Mayer-Maly und von Nipperdey postuliert wird, jedoch mit dem entgegengesetzten Ergebnis, dass die schuldrechtliche Tarifmacht über die normative hinausreicht, unabhängig von begünstigenden oder belastenden Wirkungen. Ihre Begrenzung findet die schuldrechtliche Tarifmacht einerseits u. a. in den Begriffen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG als innere Schranke und andererseits in der Rechtsordnung, die die äußere Schranke bildet. Dabei lassen sich sachbereichsangemessene und nachvollziehbare Ergebnisse erzielen, indem der Tarifmacht entgegenstehende Rechte benannt und gegebenenfalls – soweit das Ergebnis nicht durch das Gesetz vorgeben ist – mit den geschützten Rechten der Koalitionen abgewogen werden können und müssen. An diesem Ergebnis ließe sich kritisieren, dass dann, wenn die schuldrechtliche Tarifmacht über die normative hinausgeht, es vom Formulierungsgeschick der Tarifparteien abhängt, ob sie eine zulässige oder eine unzulässige Regelung treffen. Schließlich „(wiege) in beiden Fällen das gemeinsame Element der Regelung viel schwerer (. . .) als die rechtstechnische Ausgestaltung des Weges, den die Regelnden wählen“32. Zudem könnte es zu Rechtsunsicherheiten führen, wenn sich nicht eindeutig ergibt, ob die streitige Klausel normativer oder schuldrechtlicher Natur ist. Letzterem Gesichtspunkt ist entgegenzuhalten, dass bei Tarifverträgen immer die Schwierigkeit besteht zu bestimmen, welchen Regelungen die unmittelbare Wirkung des § 4 Abs. 1 TVG zukommt und welche Regelungen allein die Rechte und Pflichten der Tarifparteien betreffen. Weiterhin besteht zwischen normativen und schuldrechtlichen Abreden ein qualitativer Unterschied, sodass es nicht angebracht ist, von Zufälligkeiten zu sprechen, je nachdem, welche Konstruktion von den Tarifvertragsparteien gewählt wird. Wie oben gezeigt33, fehlt es den schuldrechtlichen Tarifklauseln an der notwendigen Durchsetzbarkeit: Der einzelne Arbeitnehmer erhält – anders als bei den normativen Abstandsklauseln – keinen individuell einklagbaren Anspruch gegen den Arbeitgeber34; die Gewerkschaft ist auf die Einwirkung des Arbeitgeberver32 Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (88); ebenso ders., BB 1966, 1067 (1069); ders., BB 1965, 829 (833). 33 Siehe S. 36 ff. 34 In der Diskussion auf dem 46. DJT hat Nipperdey – wenn auch in anderem Zusammenhang – die herausragende Bedeutung der normativen Wirkung des Tarifver-

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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bands auf seine Mitglieder angewiesen. Allein bei einem Firmentarifvertrag kann von einer vergleichbaren Wirkung der rechtlichen Konstruktionen gesprochen werden. Aber auch hier kann der einzelne Arbeitnehmer nicht aus eigenem Recht auf die Einhaltung durch den Arbeitgeber dringen. Dass sich normative und schuldrechtliche Tarifvertragsklauseln auch bei der von Mayer-Maly35 angemahnten „materialen Sicht“ qualitativ unterscheiden und folglich nicht gleichgesetzt werden können, wird vollends deutlich, wenn man ihre Behandlung im TVG betrachtet. Mangels Anwendbarkeit des § 3 Abs. 3 TVG kann sich der Arbeitgeber der Bindung an die schuldrechtlichen Tarifklauseln jederzeit durch Verbandsaustritt entziehen; auch die Nachwirkung des § 4 Abs. 5 TVG ist auf Rechtsnormen beschränkt.36 Einer Allgemeinverbindlicherklärung sind schuldrechtliche Tarifklauseln nicht zugänglich; der Wortlaut des § 5 Abs. 4 TVG ist eindeutig. Dementsprechend kann dem Sinn und Zweck des § 1 TVG eine Beschränkung der Tarifmacht hinsichtlich schuldrechtlicher Vereinbarungen nicht entnommen werden; ein Verbot dahingehend, dass sich die Tarifparteien in ihrem Tarifvertrag nicht mit den Außenseitern befassen dürfen, ergibt sich aus dieser Norm nicht. Schuldrechtlicher und normativer Teil stehen – soweit nicht die schuldrechtlichen Pflichten den normativen Teil zwangsläufig begleiten wie beispielsweise die Friedenspflicht oder die Durchführungspflicht – beziehungslos nebeneinander. Es kann nicht von einer inneren Einheit des Tarifvertrags gesprochen werden.37 Dementsprechend kann § 1 Abs. 1 TVG nicht dahingehend aufgefasst werden, dass der Gesetzgeber umfassend und abschließend die schuldrechtliche Tarifmacht bestimmen und damit die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG ausgestalten wollte; allein im Hinblick auf die Rechtsnormen bestehen detaillierte Regelungen. Zur historischen Entwicklung des TVG merkt Hanau an: „Weder das TVG noch sein Vorläufer, die Tarifvertragsverordnung von 1918, wollten das Tarifrecht abschließend regeln. Beides waren gleichsam Vorschaltgesetze, die den Tarifparteien die – ohne gesetzliche Ermächtigung unmögliche – normative Regelung einiger besonders wichtiger Arbeitsbedingungen gestatteten. Die schuldrechtliche Tarifvertragsfreiheit sollte dadurch nicht verkürzt werden.“38

trags gegenüber der lediglich schuldrechtlichen Vereinbarung von Arbeitsbedingungen hervorgehoben (Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II [Sitzungsberichte], S. D 97). 35 Mayer-Maly, BB 1966, 1067 (1069). 36 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1451; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 71 f., 75; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 41. 37 Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 106 ff., 111 f.; vgl. bereits zur TVVO in der Weimarer Republik Kaskel-Dersch, Arbeitsrecht, 4. Aufl., S. 45, 46; Kaskel, NZfA 1922, 397 (398 f.); a. A. Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 336 f. 38 Hanau, JuS 1969, 213 (218).

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Da es an verfassungsrechtlichen Vorgaben, die die Schließung einer etwaigen Regelungslücke im Sinne der Einheit des Tarifvertrags erfordern würden, fehlt, bestehen gegen diese Auslegung des § 1 Abs. 1 TVG keine Bedenken. Wenn man sogar so weit geht wie beispielsweise Gamillscheg und eine Bedrohung der Tarifautonomie annimmt, sollte sich die Tarifmacht nicht auf die Nichtorganisierten erstrecken39, kann das TVG nur in diesem Sinne ausgelegt werden, um nicht verfassungswidrig zu sein. Denn dann ist die Tarifautonomie in ihrem Kernbereich betroffen, der einer gewährleistungsverkürzenden Ausgestaltung durch den Gesetzgeber nicht zugänglich ist. Wenn eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens nur um den Preis der Außenseiterwirkung möglich ist, der einfache Gesetzgeber aber ein entsprechendes gesetzliches Instrumentarium nicht bereit gestellt hat, würde der Gesetzgeber den an ihn gerichteten Regelungsauftrag aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzen. Folge hiervon wäre die verfassungskonforme Auslegung des TVG im Sinne der Zulässigkeit der Überwirkung auf die Außenseiter. Da aber – wie sich oben gezeigt hat – dem TVG eine derartig limitierende und vor allem abschließende Wirkung der Tarifverträge auf die Koalitionsmitglieder nicht entnommen werden kann, kann es an dieser Stelle auf sich beruhen, ob denn der Kernbereich der Koalitionsfreiheit berührt wird. c) Konsumtion des Merkmals „Gewerkschaftszugehörigkeit“ Differenzierungsklauseln werden dadurch gekennzeichnet, dass die „Gewerkschaftszugehörigkeit“ in einer doppelten Funktion auftaucht: Zum einen umgrenzt sie die Normgeltung, zum anderen ist sie anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal. Aus dem Regelungszusammenhang des TVG ergibt sich nicht, dass die Eigenschaft „Gewerkschaftszugehörigkeit“ dadurch konsumiert wird, dass sie konstitutives Merkmal der Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1 TVG ist.40 Es ist Teil der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG, dass die Koalitionen den persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags bestimmen können; insoweit besteht Vertragsfreiheit.41 Dass die „Gewerkschaftszugehörigkeit“ ein von der Tarifbindung zu unterscheidendes Element des persönlichen Geltungsbereichs sein kann, wird besonders deutlich, wenn eine Qualifizierung vorgenommen wird und an die „Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit“ bestimmte tarifliche Ansprüche geknüpft werden. Die Beschränkung der Tarifbindung auf die Mitglieder der Tarifparteien dient demgegenüber der verfassungskonformen, 39

Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 95 f. Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 88 f.; Leventis, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 27; Säcker, Grundprobleme, S. 130 f.; a. A. Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (89). 41 BAG, Urt. v. 29.8.2001, RdA 2002, 306 (307); Urt. v. 30.8.2000, AP Nr. 22 zu § 3 TVG (Bl. 4). A. A. Flume, in: FS 100 Jahre DJT, Bd. I, S. 143, der den Tarifvertrag nicht der Privatautonomie zurechnet. 40

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d.h. an der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter orientierten Festlegung bzw. Begrenzung der tariflichen Rechtsetzungsbefugnis. Hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs der Tarifverträge kann dem TVG keine Aussage entnommen werden, die den sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden Umfang der Koalitionsfreiheit limitieren würde. Wenn es aber an einer abschließenden einfachgesetzlichen Ausgestaltung fehlt, bleibt der Rückgriff auf Art. 9 Abs. 3 GG weiterhin möglich, um den Inhalt des § 1 Abs. 1 TVG näher zu bestimmen und damit den Umfang der Tarifmacht zu konkretisieren: Den Koalitionen kommt schuldrechtliche Tarifmacht zu, soweit ihre Vereinbarungen dem Kreis der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG angehören.42 Das Merkmal „Gewerkschaftszugehörigkeit“ als Begrenzung des persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags fällt nicht aus diesem verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen heraus. 2. Ergebnis Differenzierungsklauseln unterfallen dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG. Durch die mit ihnen einhergehende Stärkung des Mitgliederbestandes und damit der sozialen Mächtigkeit der Koalition dienen sie – zumindest mittelbar – der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Weder § 1 Abs. 1 TVG noch Art. 9 Abs. 3 GG kann ein Verbot entnommen werden, (schuldrechtliche) Regelungen im Hinblick auf die Außenseiter zu treffen. Insoweit bestehen keine inneren Regelungsschranken; um die oben zitierten Worte Gamillschegs aufzugreifen: Das rechtliche Können umfasst auch die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln. Natürlich bedeutet die Tarifmacht zur Vereinbarung schuldrechtlicher Tarifklauseln keinen Freibrief, um in Rechte des Arbeitgebers oder Dritter einzugreifen. Dies ist allerdings eine Frage der äußeren Schranken – oder nach Gamillscheg: des rechtlichen Dürfens –, die noch zu behandeln sein wird.

II. Günstigkeitsprinzip Den Koalitionen fehlt möglicherweise aufgrund des Günstigkeitsprinzips die Tarifmacht zur Vereinbarung von Tarifausschlussklauseln. Wenn davon ausgegangen wird, dass die Tarifmacht der Koalitionen durch das TVG verliehen bzw. konkretisiert wird, ist zu überlegen, ob § 4 Abs. 3 TVG nicht der allgemeine Gedanke entnommen werden kann, dass die Tarifmacht allein die Vereinbarung von Mindestarbeitsbedingungen umfasst. Schließlich wird dem Wortlaut nach nicht ein Verbot formuliert, sondern den einzelnen Arbeitnehmern ein 42 Nikisch, RdA 1967, 87 (89 f.), der allerdings Tarifausschlussklauseln vom Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG ausnimmt.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Recht auf individuelle Vereinbarung eingeräumt und dadurch die Wirkung der Rechtsnormen des Tarifvertrags näher bestimmt und im Ergebnis begrenzt. Unter dieser Prämisse ließe sich verallgemeinern: „Die Tarifmacht ist auf die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen beschränkt (§ 4 Abs. 3 TVG).“43 Umgekehrt formuliert: Es besteht ein Verbot der Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen.44 Da in diesen Fällen eine tarifliche Vereinbarung im Hinblick auf Höchstarbeitsbedingungen nicht erst aufgrund von Verletzungen der Rechte Dritter rechtswidrig ist, sondern allein deshalb nicht getroffen werden kann, weil die Regelungsbefugnis des TVG nicht so weit reicht, kann das Günstigkeitsprinzip systematisch als innere Schranke der Tarifmacht angesehen werden. An dieser systematischen Einordnung ändert sich auch dann nichts, wenn das Günstigkeitsprinzip verfassungsrechtlich verankert wird, und zwar in der von Art. 2 Abs. 1 umfassten Privatautonomie oder in der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.45 Zwar kann das Günstigkeitsprinzip zur Rechtswidrigkeit entsprechender Tarifklauseln führen, da eine Kollision mit den (Grund-)Rechten Dritter bestehen würde, was dann als äußere Schranke der Tarifmacht anzusehen wäre. Dem vorgelagert ist allerdings die Frage, wie der Gesetzgeber die Tarifautonomie ausgestaltet hat und ob er den Tarifvertragsparteien die Tarifmacht für solche – die Festsetzung von Höchstarbeitsbedingungen betreffenden – Tarifklauseln zugesteht.

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Richardi, Kollektivgewalt, S. 210, 365 ff. BAG, Urt. v. 3.4.1957, BAGE 4, 144 (148); BAG GrS, Beschl. v. 16.9.1986, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972 (Bl. 8 f.); ebenso BVerwG, Urt. v. 8.3.1974, BVerwGE 45, 77 (79). A. A. Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 79; In seinem Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 135 f. ist Biedenkopf auf seine Auffassung nicht eingegangen, sondern ohne nähere Begründung vom Verbot der Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen ausgegangen. Nach Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 21 ff., ergibt sich das Verbot von Höchstarbeitsbedingungen erst durch eine am Leistungsprinzip orientierte Auslegung des § 4 Abs. 3 TVG. 45 Auf Art. 12 Abs. 1 GG stellen ab Heinze, NZA 1991, 329 (330); Käppler, NZA 1991, 745 (750 f.); offen gelassen von Lieb, Arbeitsrecht, Rn. 491. Für einen Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG: Deinert, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 585; ebenso Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 232 Fn. 38, 573, der allerdings auch einen Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG in Erwägung zieht. Bieback, ZfA 1979, 453 (478), stellt auf Art. 9 Abs. 3 GG ab; ebenso BAG, Urt. v. 15.12.1960, BAGE 10, 247 (255 f.); siehe hiergegen Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 844. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 197, sieht zumindest einen mittelbaren Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG, nimmt aber ansonsten allenfalls eine Verankerung in der Privatautonomie an. Gegen einen verfassungsrechtlichen Schutz: Richardi, Kollektivgewalt, S. 367; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 364; Zeuner, DB 1965, 630 (632). 44

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1. Differenzierungsklauseln als Höchstarbeitsbedingungen Die einfache Differenzierungsklausel wirft im Hinblick auf das Günstigkeitsprinzip keinerlei Probleme auf. Die Außenseiter werden durch sie nicht gehindert, gleichwertige oder gar bessere Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse es zulassen. Aber auch der Abstandsklausel steht das Günstigkeitsprinzip nicht entgegen. Denn durch die Abstandsklausel werden die Außenseiter nicht gehindert, beliebige vertragliche Absprachen mit dem Arbeitgeber zu treffen; anders als durch Tarifausschlussklauseln wird der Arbeitgeber bei der Vertragsgestaltung nicht limitiert. Allenfalls liegt eine Erschwerung der Verhandlungsposition der Außenseiter vor, die aber außer Betracht zu bleiben hat. Schließlich ist das Günstigkeitsprinzip nicht dadurch betroffen, dass ein Tarifvertrag besonders hohe Ansprüche gewährt und dadurch die Individualvereinbarung erschwert. Einzig die Vereinbarung besserer Arbeitsbedingungen als sie den tarifgebundenen Arbeitnehmern zustehen, ist für Abreden mit kollektivem Charakter verhindert. Allerdings erfasst das Günstigkeitsprinzip derartige Fälle nicht. Schließlich schützt das Günstigkeitsprinzip die individuelle Freiheit, die eigenen Arbeitsbedingungen entsprechend der eigenen Leistung und der wirtschaftlichen Bedingungen zu gestalten. Nicht umfasst wird die Frage der Gleichbehandlung (durch den Arbeitgeber). Ob der Einzelne im Gegensatz zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern die gleichen oder gar bessere Arbeitsbedingungen aushandeln kann, beurteilt sich nach der allgemeinen Vertragsfreiheit; das Günstigkeitsprinzip wird hierdurch nicht betroffen. Anders sieht die Situation bei der Tarifausschlussklausel aus. Sie erfasst auch die individuell ausgehandelten vertraglichen Abreden ohne kollektiven Charakter. Im Ergebnis werden den Außenseitern – zwar nicht rechtlich aber faktisch – bestimmte Leistungen vorenthalten. Dementsprechend kann Leventis’ pauschal vorgebrachtes Argument nicht greifen, wonach der Tatbestand der Differenzierungsklauseln allein bei betriebseinheitlich gewährten Arbeitsbedingungen erfüllt sein soll und dementsprechend das Günstigkeitsprinzip nicht tangiert wird46. Hinsichtlich einzelner tariflicher Vergünstigungen wird das maximal erreichbare Niveau der Außenseiter festgeschrieben. Dementsprechend sieht ein Teil der Literatur in der Tarifausschlussklausel einen Verstoß gegen das Verbot der Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen.47 Aber stellt die Tarifaus46 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 106; ebenso Gamillscheg, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 106 f. 47 Blom, Tarifausschlußklausel, S. 53 f.; Giesen, NZA 2004, 1317 (1319, 1320 [Giesens Ansicht gilt wohl auch für Abstandsklauseln]); Nipperdey, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II, S. D 95 f; ders., in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 168 Fn. 34; Richardi, Kollektivgewalt, S. 210; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 42 f.; Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 135 f. (anders aber noch in Grenzen der Tarifautonomie, S. 78 ff.); siehe hiergegen Gamillscheg, BB, 1967, 45 (51).

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

schlussklausel für die Außenseiter tatsächlich eine solche (verbotene) Höchstarbeitsbedingung dar? Die Tarifausschlussklauseln sind dann nicht als Höchstarbeitsbedingungen zu charakterisieren, wenn man berücksichtigt, dass den Außenseitern ein Ausweichen dergestalt möglich ist, dass sie durch die Verbesserung anderer, von den Tarifausschlussklauseln nicht betroffener Arbeitsbedingungen, ein mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern vergleichbares Tarifniveau erreichen können.48 Eine solche „Verpflichtung“ der Außenseiter dürfte allerdings unzumutbar sein und hat, um zufällige Ergebnisse zu vermeiden, außer Betracht zu bleiben. Außerdem besagt das Günstigkeitsprinzip, dass es dem Tarifunterworfenen möglich sein muss, hinsichtlich jeder einzelnen ihn betreffenden Tarifklausel günstigere Arbeitsbedingungen auszuhandeln.49 In diesem Sinne wird bei der Ermittlung, ob bestimmte Arbeitsbedingungen günstiger sind als die tariflichen kein Vergleich in der Summe (Gesamtvergleich) angestellt, sondern ein Sachgruppenvergleich, der die zusammengehörigen Regelungen in den Blick nimmt.50 2. Schutz der Außenseiter durch das Günstigkeitsprinzip Um als innere Schranke der Tarifmacht der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln entgegenzustehen, muss das Günstigkeitsprinzip im Hinblick auf die Außenseiter gelten. Allein für sie können sich die Differenzierungsklauseln als Höchstarbeitsbedingungen auswirken; die tarifgebundenen Arbeitnehmer werden in ihrer Vertragsgestaltungsfreiheit nicht limitiert. Auszugehen ist bei diesen Überlegungen vom Inhalt des Günstigkeitsprinzips. Begründet wird das Günstigkeitsprinzip teilweise mit dem Leistungsprinzip. „Das Günstigkeitsprinzip hängt mit dem Leistungsprinzip zusammen, das zwar im heutigen Tarifrecht nicht mehr ausdrücklich erwähnt wird, aber einen verfassungsrechtlich gesicherten Bestandteil unserer Arbeitsrechtsordnung bildet, weil sich im Arbeitsleben der einzelne Arbeitnehmer nur voll entfalten kann, wenn seine persönliche Leistung auch in den Arbeitsbedingungen, vornehmlich in der Höhe der Entlohnung, Anerkennung findet.“51 Inwieweit hierdurch allerdings Klarheit über den Inhalt 48 In diesem Sinne die Überlegung von Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 136; Gamillscheg, BB 1967, 45 (51). 49 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 43. 50 Vgl. hierzu eingehend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 852 ff. 51 Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 420 f. (im Original teilweise hervorgehoben); zustimmend Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 572; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 104 ff.; a. A. Richardi, Kollektivgewalt, S. 369 f. In den §§ 29 S. 1, 32 Abs. 1 AOG vom 20.1.1934 wurde das Leistungsprinzip noch ausdrücklich normiert (vgl. hierzu Richardi, Kollektivgewalt, S. 362 f. m. w. N.). Auch Art. 33 der Hessischen Verfassung formuliert: „Das Arbeitsentgelt muss der Leistung entsprechen . . .“ (ähnlich Art. 24 Abs. 2 S. 1 der Verfassung von Nordrhein-Westfalen).

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des Günstigkeitsprinzips erzielt werden kann, ist zweifelhaft. Denn auch bei Lohnbestandteilen, die nicht der eigenen Leistung entsprechen, sondern sich an den sozialen Umständen – wie beispielsweise Unterhaltsverpflichtungen – orientieren, findet das Günstigkeitsprinzip Anwendung. Wenn darüber hinaus noch betont wird, dass den übertariflichen Arbeitsbedingungen keine besondere Arbeitsleistung korrespondieren muss – „Jegliche übertarifliche Arbeitsbedingungen fallen unter das Günstigkeitsprinzip.“52 – stellt sich die Frage, welcher über den Schutz der Privatautonomie hinausgehende Erklärungs- und Begründungsgehalt dem Leistungsprinzip zukommt. Deswegen dürfte es sinnvoller sein, auf die Privatautonomie abzustellen53 und von diesem Standpunkt aus danach zu fragen, ob eine in Streit stehende tarifliche Regelung die Freiheit der Betroffenen, beliebige vertragliche Verpflichtungen einzugehen, übermäßig einschränkt. Eine unverhältnismäßige Einschränkung der Vertragsfreiheit kann darin zu sehen sein, dass durch Höchstarbeitsbedingungen die individuelle Vertragsabrede auf einem Gebiet verhindert wird, auf dem der Tarifvertrag seinen Schutzzweck nicht erfüllen kann. In diesem Sinne stellt das Günstigkeitsprinzip sicher, dass auf individualvertraglicher Ebene am Leistungsprinzip orientierte Abmachungen getroffen werden können. Diese Verortung des Günstigkeitsprinzips unterstreicht zugleich – indem sie auf vage übergesetzliche Prinzipien verzichtet – die Bedeutung der einfachgesetzlichen Ausgestaltung, ohne die die Privatautonomie nicht bestehen kann. Schließt das TVG Klauseln aus, die Höchstarbeitsbedingungen für Außenseiter statuieren, und beschränkt es dadurch die Tarifmacht? Wie der Wortlaut des § 4 TVG eindeutig zum Ausdruck bringt, gilt das Günstigkeitsprinzip nur im Hinblick auf die Rechtsnormen des Tarifvertrages. Schließlich gelten auch nur die Rechtsnormen unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Demgegenüber gelten die schuldrechtlichen Regelungen des Tarifvertrags nur zwischen den Tarifvertragsparteien, sodass sie sich rechtlich auf das einzelne Arbeitsverhältnis nicht auswirken. Jedoch können faktische Bindungen im Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auftreten. Beim Firmentarifvertrag besteht eine unmittelbare Verpflichtung des Arbeitgebers gegenüber der Gewerkschaft zur Umsetzung des schuldrechtlich Vereinbarten, beim Verbandstarifvertrag muss zumindest vom (noch) Normalfall ausgegangen werden, dass sich der einzelne Arbeitgeber an seine Verbandspflichten hält, ohne dass es der (uneffektiven) Einwirkung der Gewerkschaft auf den Verband bedarf. Dieser faktischen Bindungswirkung wird dadurch Rechnung getragen, dass die überwiegende Ansicht in der Literatur das Güns52

Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 105. Heinze, NZA 1991, 329 (332); Richardi, Kollektivgewalt, S. 368 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 432; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 837, spricht von Wiederherstellung der Vertragsfreiheit, warnt aber zugleich vor einem absoluten Vorrang der günstigeren Abmachung (S. 843). 53

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

tigkeitsprinzip auch auf die schuldrechtlichen Tarifabsprachen erstreckt. Erst hierdurch kann einer Umgehung des § 4 Abs. 3 TVG effektiv entgegengewirkt werden.54 Aber auch wenn man das Günstigkeitsprinzip auf die schuldrechtlichen Tarifvereinbarungen erstreckt, kann dies nur zur Unwirksamkeit von Differenzierungsklauseln führen, wenn das in § 4 Abs. 3 TVG formulierte Günstigkeitsprinzip nicht nur die tarifgebundenen Arbeitnehmer i. S. d. § 3 Abs. 1 TVG erfasst, sondern auch die Außenseiter einschließt. Seinem eindeutigen Wortlaut nach gilt § 4 TVG nur für die tarifgebundenen Arbeitnehmer, da er mit „Wirkung der Rechtsnormen“ überschrieben ist und in Abs. 1 klarstellt, dass der normative Teil des Tarifvertrags i. S. d. § 1 Abs. 1 TVG gemeint ist. Bei den von den Differenzierungsklauseln betroffenen Inhaltsnormen sind das nur die der tarifschließenden Gewerkschaft angehörenden Arbeitnehmer. Hinsichtlich der Geltung des Günstigkeitsprinzips bei schuldrechtlichen Tarifvereinbarungen gibt der Wortlaut keine Anhaltspunkte. Hier führen erst die oben genannten teleologischen Erwägungen zu einem schlüssigen Ergebnis. Maßgeblich ist dabei das Argument, dass mittels der schuldrechtlichen Vereinbarungen die Grenzen der normativen Tarifmacht umgangen werden könnten, was gerade beim Firmentarifvertrag effektiv möglich ist. Dies würde darauf hindeuten, dass hinsichtlich der Außenseiter das tarifvertragsgesetzlich verankerte Günstigkeitsprinzip keine Aussage trifft: Da die Rechtsverhältnisse der Außenseiter nicht von tarifvertraglichen Inhaltsnormen erfasst werden können, kann es auch nicht zu einer schuldrechtlichen Umgehung des § 4 Abs. 3 TVG kommen. Hiergegen ließe sich einwenden, dass dann, wenn das Günstigkeitsprinzip für die tarifgebundenen Arbeitnehmer gilt, erst Recht die Außenseiter geschützt werden müssen. Schließlich hätten die Außenseiter den Tarifvertrag nicht durch ihren Verbandsbeitritt mitgliedschaftlich legitimiert.55 Soweit man das Günstigkeitsprinzip als in Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankert ansieht, dient die vorgenannte Auslegung des § 4 Abs. 3 TVG dem Schutz dieser Grundrechte und trägt damit der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis Rechnung. Die Privatautonomie der Außenseiter dabei geringer zu gewichten als die Privatautonomie der tarifgebundenen Arbeitnehmer, die unstreitig der Tarifautonomie Grenzen setzen kann, würde eine sachlich nicht begründete Ungleichbehandlung darstellen.

54 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 103 f.; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 422; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 574; Richardi, Kollektivgewalt, S. 373; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 186; Wlotzke, Günstigkeitsprinzip, S. 24; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 42; a. A. Erich Molitor, BB 1957, 85 (86). 55 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 104; Richardi, Kollektivgewalt, S. 368; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 42; a. A. Floretta, DRdA 1968, 1 (17).

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Auch wenn die Außenseiter grundsätzlich dem Schutz des § 4 Abs. 3 TVG unterstellt sind, sagt dies noch nichts darüber aus, ob zu ihren Gunsten das Günstigkeitsprinzip in jedem einzelnen Fall mit absoluter Wirkung gilt. Um die Außenseiter vor dem Abschluss von Differenzierungsklauseln zu schützen, muss § 4 Abs. 3 TVG durch Analogiebildung erweitert werden. Erforderlich hierfür sind eine Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage. Da das TVG den Tarifvertragsparteien die Tarifmacht verleiht, durch schuldrechtliche Tarifvertragsklauseln auf die Außenseiter zuzugreifen, § 4 Abs. 3 TVG sich hingegen auf die tarifgebundenen Arbeitnehmer beschränkt, lässt sich eine Regelungslücke annehmen. Eine klare Entscheidung gegen den Außenseiterschutz wird man § 4 Abs. 3 TVG jedenfalls nicht entnehmen können. Jedoch fehlt es im Hinblick auf die Differenzierungsklauseln an einer vergleichbaren Interessenlage. Das absolute Verbot von Höchstarbeitsbedingungen ist grundsätzlich berechtigt, da es sich aus Sinn und Zweck der Koalitionsfreiheit herleiten lässt. Die Koalitionsfreiheit dient dazu, die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers auszugleichen und dadurch ein Verhandlungsgleichgewicht herzustellen. In diesem Sinne erfüllt Art. 9 Abs. 3 GG eine Schutzfunktion zugunsten des einzelnen Arbeitnehmers. Soweit der einzelne Arbeitnehmer aber in der Lage ist, übertarifliche Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, bedarf er dieser Schutzfunktion nicht; eine Beschränkung seiner Privatautonomie wäre unverhältnismäßig.56 Die tarifschließende Gewerkschaft kann sich demzufolge nicht auf Art. 9 Abs. 3 GG als ein die Beeinträchtigung legitimierendes Gegenrecht berufen; die hierdurch gewährleistete Tarifautonomie erfordert grundsätzlich nicht die Beschränkung der individuellen Vertragsfreiheit in diesem Sinne. Anders verhält es sich allerdings mit der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln und insbesondere von Tarifausschlussklauseln. Sie dienen – im Gegensatz zur Vereinbarung sonstiger Arbeitsbedingungen – der Stärkung der gewerkschaftlichen Position und sind aus diesem Grund durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Soweit sich also eine Tarifausschlussklausel für den Außenseiter als Höchstarbeitsbedingung auswirken sollte, wäre dies mit dem Schutzzweck des Art. 9 Abs. 3 GG noch vereinbar. Hieran wird der grundlegende Unterschied zwischen den Differenzierungsklauseln und sonstigen Höchstarbeitsbedingungen deutlich. Während bei letzteren der Gewerkschaft in der Regel keine Gegenrechte zustehen und deshalb Höchstarbeitsbedingungen grundsätzlich unzulässig sind, kann bei ersteren eine ungleiche Ausgestaltung der Schutzposition von tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern aufgrund des Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt werden.

56 Vgl. Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 418, 420; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 843 f., weist darauf hin dass unter Umständen die Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen dem Sinn und Zweck des Tarifvertrags entsprechen kann. Ähnlich Dieterich, in: Erfurter Kommentar, GG, Art. 9 Rn. 62.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Dass damit im Ergebnis der Schutz der Außenseiter gegenüber dem Schutz der tarifgebundenen Arbeitnehmer durch das TVG schwächer ausgeprägt ist, ist hinzunehmen. Hierbei handelt es sich um die logische Folge der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit und der Vertragsfreiheit. Durch § 4 Abs. 3 TVG hat der Gesetzgeber das Günstigkeitsprinzip mit absoluter Wirkung zugunsten der Tarifunterworfenen statuiert. Der Schutz der Außenseiter, hinsichtlich derer das TVG keine ausdrücklichen Festsetzungen trifft, ergibt sich erst aufgrund einer an den Verfassungsvorgaben orientierten Güterabwägung. Neben der verfassungsrechtlichen Verankerung des Günstigkeitsprinzips in Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 12 Abs. 1 GG sind dabei die entgegenstehenden (Grund-)Rechte der Koalitionen zu berücksichtigen, die ebenfalls Einfluss auf die Auslegung des einfachen Rechts haben: Da die Tarifausschlussklausel ihrerseits durch Art. 9 Abs. 3 GG abgesichert ist, ist die entstehende Grundrechtskollision nach den allgemeinen Regeln aufzulösen. Ein Vorrang der Rechte der Außenseiter kann es dabei – genauso wie bei der Vertragsfreiheit und der negativen Koalitionsfreiheit – nicht geben. Setzt die Gewerkschaft den Tarifvertrag als Mittel der Mitgliederwerbung ein, ist ein Übergriff in die Sphäre der Außenseiter unvermeidlich. Demgegenüber hat sich gezeigt, dass die Koalitionen ihren grundgesetzlichen Schutzzweck verfehlen, wenn sie Höchstarbeitsbedingungen zu Lasten ihrer Mitglieder vereinbaren. Dass der Staat durch diesen relativen Schutz seine Schutzpflichten evident verletzt und deshalb eine entsprechende Rechtsnorm verfassungswidrig ist, ist nicht ersichtsichtlich. Denn dieser Schutz kann – aufgrund der Gleichrangigkeit der kollidierenden Grundrechte – kein absoluter sein. Vielmehr bewegt sich der Gesetzgeber noch innerhalb des ihm von der Verfassung eingeräumten Ausgestaltungsspielraums.57 Somit können die Außenseiter im Ergebnis den Koalitionen nicht das Günstigkeitsprinzip entgegensetzen.

III. Fehlende Möglichkeit zur Allgemeinverbindlicherklärung Nach § 5 TVG besteht die Möglichkeit, Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Die Wirkung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) besteht darin, dass die Geltung des Tarifvertrags von der mitgliedschaftlichen Legitimation gelöst und für alle Arbeitnehmer eines Tarifgebiets bindendes 57 Zu keinem anderen Ergebnis kann es führen, wenn man die Lösung über § 75f HGB sucht. Nach Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1704 f., lässt sich hieraus im Wege der Rechtsfortbildung ein allgemeiner Schutz der Arbeitnehmer vor der Vereinbarung von Höchstarbeitsbedingungen entnehmen. Da es aber an einer eindeutigen Aussage des Gesetzgebers fehlt, kann die bestehende Grundrechtskollision nicht einseitig zugunsten der Arbeitnehmer aufgelöst werden. Ein dem § 4 Abs. 3 TVG vergleichbares „unwiderlegliches Indiz des Gesetzes für das verfassungsmäßige Funktionieren der individuellen Privatautonomie“ (Heinze, NZA 1991, 329 [332]) und damit ein absoluter Schutz für die Außenseiter lässt sich § 75f HGB nicht entnehmen.

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Recht wird, von dem nur zu ihren Gunsten abgewichen werden darf. Soweit der Tarifvertrag Aussagen über seinen persönlichen Anwendungsbereich trifft, werden diese jedoch nicht „überspielt“, sondern gelten unverändert fort. Die über einen längeren Zeitraum andauernde Gleichbehandlung der Arbeitnehmer durch die AVE von Tarifverträgen wirkt sich negativ auf die Bereitschaft zum Koalitionsbeitritt aus.58 Schließlich werden allen Arbeitnehmern eines Tarifgebietes die tarifvertraglichen Vergünstigungen zuteil, ohne dass eine Verknüpfung mit den mitgliedschaftlichen Lasten besteht. Um den Werbeeffekt des Tarifvertrags zu erhalten, haben die Gewerkschaften ein koalitionspolitisches Interesse, dass die Differenzierungsklauseln die AVE überdauern; insbesondere die einfache Differenzierungsklausel, die die Gewerkschaftszugehörigkeit als anspruchsbegründende Voraussetzung in ihren Tatbestand aufnimmt, hat hier ihre Bedeutung. Dass nur rechtsgültige Tarifverträge zur AVE geeignet sind, ist eine Selbstverständlichkeit, denn durch die AVE wird lediglich die Tarifgebundenheit erweitert; auf den Inhalt des Tarifvertrags bestehen keine Auswirkungen.59 Im vorliegenden Zusammenhang ist dieser Punkt jedoch außer Betracht zu lassen, da die Argumentation mit § 5 TVG auf etwas anderes abzielt. Nach einer von Bötticher aufgestellten These können nur solche Normen in einem Tarifvertrag vereinbart werden, die sich auch für eine AVE eignen.60 Da Differenzierungsklauseln nicht auf die Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen angelegt seien, sondern organisationspolitische Ziele verfolgten, widersprächen sie dem Wesen der AVE. Folge von Böttichers Überlegungen ist, dass die Vereinbarung von einfachen Differenzierungsklauseln sowie von Abstandsklauseln, die ja – wie oben gezeigt – auch normativ möglich ist, die Grenzen der Tarifmacht überschreitet und demnach unzulässig ist. Diese Ansicht hat in der Literatur im Wesentlichen Ablehnung erfahren.61 Der Große Senat des BAG hat auf die Ar58 Vgl. die Einschätzungen von Franzen, RdA 2001, 1 (10); Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 116; ders., Grenzen der Tarifautonomie, S. 281. 59 Allein aus diesem Grund lehnt beispielsweise Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 5 Rn. 152, die AVE von Tarifverträgen mit Differenzierungsklauseln ab, da er diese Klauseln für unzulässig hält. 60 Bötticher, BB 1965, 1077 (1078) = ders., Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 111 ff.; ders., Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 80 ff. Zustimmend der Diskussionsbeitrag von Eichler, ebd., S. D 111. 61 Ablehnend: Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 120 ff.; Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 163; Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (10 f.); Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 44, 92 f.; Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 237; Herschel, ArbuR 1966, 193 (194 ff.); ders., Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 21; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 173 f.; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 88 ff.; Musa, BB 1966, 82 (86); Nikisch, RdA 1967, 87 (89); Richardi, Kollektivgewalt, S. 176, 354; Wiedemann, RdA 1969, 321 (324); ders., RdA 1969, 321 (324); ders., in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., Einl. Rn. 447.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

gumentation von Bötticher hingewiesen, auf eine weitergehende Auseinandersetzung aber verzichtet.62 Beim Streit um die Vorruhestandstarifverträge63 spielte die Möglichkeit zur AVE keine Rolle in der Argumentation.64 Dieser Umstand dürfte zum einen daher rühren, dass die Unzulässigkeit der Differenzierungsklauseln vorausgesetzt und eine (erneute) dogmatische Begründung für entbehrlich gehalten wurde. Zum anderen enthielten die strittigen Tarifverträge nicht ausdrücklich die Gewerkschaftszugehörigkeit als Berechnungsgröße beim Überforderungsschutz. Dementsprechend konnte für die Höchstgrenze der Vorruhestandsberechtigten auf diejenigen abgestellt werden, die einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Abschluss einer entsprechenden Vereinbarung hatten.65 Ein solcher Anspruch kommt nach einer AVE aber allen Arbeitnehmern zu, sodass es in diesem Falle an einer Differenzierung fehlt. Der AVE sind nach dem eindeutigen Wortlaut des § 5 Abs. 4 TVG nur normative Tarifklauseln zugänglich. Schuldrechtliche Abreden sind folglich von der AVE ausgenommen. Deshalb kann und muss die – lediglich schuldrechtlich wirkende – Tarifausschlussklausel bei den folgenden Überlegungen außer Betracht bleiben: Wenn die Tarifausschlussklausel von vornherein von der AVE ausgeschlossen ist, kann Böttichers Argumentation nicht verfangen.66 Es gilt im Folgenden zwischen zwei Problemfeldern zu unterscheiden. Zunächst ist zu klären, wie sich die Differenzierungsklauseln im Falle der AVE verhalten bzw. ob sie tatsächlich nicht in einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag enthalten sein können. Weiterhin ist Böttichers Ausgangsthese, wonach die Tarifvertragsparteien die Tarifverträge so zu gestalten haben, dass sie zur AVE geeignet sind, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Zustimmend: Blom, Tarifausschlußklausel, S. 54 ff.; Lehna, DB 1959, 916 (917); Mayer-Maly, BB 1965, 829 (831) (einschränkend in BB 1966, 1067 [1070], und in ZAS 1969, 81 [89]); Säcker, BB 1966, 1031 (1031) (anders aber in Grundprobleme, S. 131). Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 36 f., enthält sich einer abschließenden Stellungnahme, spricht aber von „beachtenswerten Gründen“. Offen gelassen von BAG, Urt. v. 20.4.1999, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk (Bl. 3 R). Kritisch zu diesem Ansatz Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 45 ff. (insb. S. 49). 62 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 14 R f.). 63 Vgl. oben S. 159 ff. 64 Vgl. beispielsweise speziell zur AVE von Vorruhestandstarifverträgen v. Hoyningen-Huene, BB 1986, 1909 ff.; Schlachter, BB 1987, 758 ff.; Wiedemann, RdA 1987, 262 ff. 65 Vgl. Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (2). 66 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 48. Nur am Rande sei noch erwähnt, dass dann, wenn ein Tarifvertrag mit einer schuldrechtlichen Tarifausschlussklausel für allgemeinverbindlicherklärt wird, die schuldrechtliche Klausel ihre Wirkung verliert (vgl. Zöllner, a. a. O., S. 46; zustimmend Floretta, DRdA 1968, 1 [16]). Dementsprechend verstößt der aufgrund der AVE zur Gleichbehandlung verpflichtete Arbeitgeber nicht gegen tarifvertragliche Pflichten zur Differenzierung.

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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1. Allgemeinverbindlicherklärung von Differenzierungsklauseln a) Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit § 5 TVG aa) Auswirkungen der AVE auf die Tarifklauseln Böttichers Argumentation basiert auf der Annahme, dass die Differenzierungsklauseln nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden können und deshalb entsprechend gestaltete Tarifverträge insgesamt nicht der AVE zugänglich sind. In diesem Sinne hat Nipperdey festgestellt, dass die AVE auf die Schaffung gleicher Arbeitsbedingungen angelegt ist und deshalb eine Differenzierung zwischen Organisierten und Außenseitern mit § 5 TVG nicht zu vereinbaren ist.67 Bezüglich dieser Grundlage besteht allerdings Uneinigkeit in der Literatur. So vertritt Gamillscheg die Auffassung, dass sich die Eigenschaft „Gewerkschaftszugehörigkeit“ als anspruchsbegründendes Merkmal sehr wohl für eine Allgemeinverbindlichkeit eignen würde.68 Auch wenn man dem nicht zustimmt, bleiben noch weitere mögliche Wirkungen der AVE zu bedenken. Das Tatbestandsmerkmal „Gewerkschaftszugehörigkeit“ könnte gänzlich entfallen und dementsprechend der Tarifvertrag unterschiedslos auf alle tarifgebundenen Arbeitnehmer anzuwenden sein.69 Auch könnten die differenzierenden Klauseln von der AVE ausgenommen sein, sodass nur die übrigen Tarifklauseln erfasst würden. In diesem Sinne wurde im Baugewerbe ein am 10.8.1962 geschlossener Tarifvertrag über besondere Alters- und Invalidenbeihilfen für allgemeinverbindlich erklärt. Dabei wurde die Bestimmung, dass die Höhe der Beihilfe nicht nur von der Dauer der Betriebszugehörigkeit, sondern auch von der Dauer der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängen soll, von der Allgemeinverbindlichkeit ausgeklammert. Beim nachfolgenden Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien die Konsequenz aus dieser Praxis gezogen und auf den Antrag zur AVE der entsprechenden Klausel verzichtet.70 67 Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 169 Fn. 34b; 668; ebenso Nikisch, RdA 1967, 87 (89); Schelp, in: FS für Nipperdey, Bd. II, S. 605 f.; Nipperdey/Heussner, in: Jubiläumsschrift zum 100jährigen Bestehen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 224 Fn. 67a. 68 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 364; ders., Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 90 f.; zustimmend Floretta, DRdA 1968, 1 (14); Kunze, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 85; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 88 ff.; ebenso Kempen/Zachert, TVG, § 5 Rn. 9; im Hinblick auf Gemeinsame Einrichtungen Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 50 f. Auch Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 49, geht davon aus, dass differenzierende Normen nicht per se zur AVE ungeeignet sind. Siehe gegen Gamillscheg den Diskussionsbeitrag von Bötticher, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 80 f. 69 Tomandl, ZAS 1966, 158 (159); ebenso Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (6), soweit die Gewerkschaftszugehörigkeit nach dem Willen der Tarifvertragsparteien nicht konstitutiv für die Tarifansprüche ist.

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(1) Ausschluss der Differenzierungsklauseln von der AVE Der Ausschluss der differenzierenden Klauseln von der AVE ist grundlegenden Bedenken ausgesetzt. Nach Nikisch ist es der zuständigen Behörde verwehrt, einzelne Tarifbestimmungen von der AVE auszunehmen. Begründet wird diese Ansicht damit, dass der Tarifvertrag als einheitliches Ganzes zu betrachten ist, dessen ausgewogener Charakter durch Herausnahme einzelner Bestimmungen gestört würde. Zudem seien die Arbeitsbedingungen für Verbandsmitglieder und Außenseiter nicht mehr gleich, wenn die von der AVE ausgenommenen Tarifklauseln nach wie vor allein für die Koalitionsmitglieder kraft ihrer Organisationszugehörigkeit (§ 3 Abs. 1 TVG) gelten würden.71 Nach überwiegender Ansicht kann die anordnende Behörde einzelne Teile eines Tarifvertrags von der AVE ausschließen.72 Soweit nicht Sinn und Zweck des Tarifvertrags verfälscht werden, ist diese Ansicht zumindest bedenkenswert, auch wenn nicht immer offensichtlich sein dürfte, welche Tarifklausel mit einem Kompromiss an anderer Stelle „erkauft“ wurde, sodass faktisch eine Einheit besteht. Gerade Differenzierungsklauseln dürfte häufig ein derartiges Entgegenkommen der Gewerkschaft zugrunde liegen. Deswegen ist in der Regel die Möglichkeit abzulehnen, eine AVE unter Ausschluss der Differenzierungsklauseln vorzunehmen. (2) Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereichs durch die AVE Unstreitig ist es der anordnenden Behörde verwehrt, den persönlichen Anwendungsbereich des Tarifvertrags zu erweitern. Durch die AVE wird allein der Kreis der tarifgebundenen Personen erweitert.73 Die Tarifvertragsparteien blei70 BABl. 1963, 758 f. (AVE); 1965, 250 (Aufhebung); DB 1965, 34 (Beantragung der AVE); vgl. Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 174 f. Fn. 6. Siehe zu weiteren Einzelheiten oben S. 47. 71 Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 496 (vgl. auch S. 501 im Hinblick auf die Frage, welche Wirkung die Änderung des Tarifvertrags auf die AVE hat, da auch hier uneinheitliche Tarifbestimmungen drohen); ebenso OVG Münster, Urt. v. 23.9.1983, BB 1984, 723 (723); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1271; Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 5 Rn. 57 ff. 72 Löwisch/Rieble, TVG, § 5 Rn. 25 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 674; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 473 (unter der Voraussetzung, dass beide Tarifvertragsparteien zustimmen); offen gelassen von Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 891. 73 Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 673 f.; Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 5 Rn. 60 f.; in diesem Sinne bereits RAG, Urt. v. 8.11.1930, Bensh. Samml. 11, 18 (20); Urt. v. 24.5.1933, Bensh. Samml. 18, 447 (447). Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 492, weist darauf hin, dass persönlicher Anwendungsbereich und Tarifgebundenheit streng voneinander zu trennen sind. Nach Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 891 Fn. 62, besteht die Möglichkeit, zur Vermeidung von Tarifkonkurrenz den persönlichen Geltungsbereich der AVE einzuschränken.

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ben also insoweit die Herren über den Inhalt des Tarifvertrages, auch wenn der Tarifvertrag durch die AVE dem direkten Zugriff der Parteien entzogen ist, sodass Änderungen einer erneuten AVE bedürfen.74 Soweit einzelne Tarifnormen die Gewerkschaftszugehörigkeit als anspruchsbegründendes Merkmal in ihrem Tatbestand haben, wird hierdurch der persönliche Anwendungsbereich näher bestimmt und eingeengt. Wenn im Zuge der AVE die Geltung der differenzierenden Tarifnorm auf alle Arbeitnehmer erstreckt würde, wäre hierin eine Ausdehnung des persönlichen Anwendungsbereiches zu sehen. Diese Wirkung fehlt aber der AVE; dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit kommt nicht die Kompetenz zu, sachliche Änderungen am Tarifvertrag vorzunehmen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die Tarifnorm die Gewerkschaftszugehörigkeit rein deklaratorisch nennt, um die Wirkung des § 3 Abs. 1 TVG zum Ausdruck zu bringen, im Ergebnis also keine einfache Differenzierungsklausel vorliegt. In diesen Fällen entfällt die „Gewerkschaftszugehörigkeit“ als Tatbestandsmerkmal zugunsten des allgemeinen Begriffs „Arbeitnehmer“75, was aber unproblematisch möglich ist, da eine inhaltliche Änderung hierin nicht gesehen werden kann. bb) Zulässigkeit der AVE differenzierender Tarifverträge Aus dem zuvor Gesagten ergibt sich, dass es nicht möglich ist, im Falle der AVE das Tatbestandsmerkmal „Gewerkschaftszugehörigkeit“ zu überspielen; in der Regel dürfte es auch nicht möglich sein, die Differenzierungsklausel von der AVE auszunehmen, soweit man dies überhaupt für zulässig erachtet. Dementsprechend verbleiben nur noch zwei Möglichkeiten: 1. Differenzierungsklauseln können für allgemeinverbindlich erklärt werden. 2. Der gesamte Tarifvertrag ist der AVE nicht zugänglich. Welche dieser beiden gegensätzlichen Aussagen zutreffend ist, bestimmt sich nicht nur danach, ob die erste Möglichkeit gegen Grundrechte verstößt (dazu sogleich unten), sondern auch, ob die AVE von Differenzierungsklauseln dem Wesen der AVE widerspricht und deshalb grundsätzlich nicht durchführbar ist. Dem Wortlaut des § 5 TVG ist nicht zu entnehmen, welche inhaltlichen Anforderungen an einen Tarifvertrag zu stellen sind, um ihn für allgemeinverbindlich zu erklären. Allein das in Abs. 1 S. 1 Nr. 2 genannte „öffentliche Interesse“ könnte es zulassen, auf den Tarifvertrag Rückschlüsse zu ziehen. Ob ein solches Interesse gegeben ist, bestimmt sich vornehmlich nach dem Zwecke der AVE. Durch die kartellierende Wirkung der AVE werden die tariflichen Arbeitsbedingungen dem Wettbewerb entzogen, sodass kein Druck auf die organisier74 Vgl. im Einzelnen Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 662 ff. 75 Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (6).

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

ten Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber entsteht, ihre jeweiligen Koalitionen zu verlassen, um zu untertariflichen Bedingungen arbeiten zu können bzw. zu untertariflichen Bedingungen beschäftigen zu dürfen. Dem Tarifvertrag wird so zu größerer Durchsetzungskraft verholfen. Für das Funktionieren Gemeinsamer Einrichtungen wie z. B. der Urlaubskasse im Baugewerbe kann es sogar entscheidend sein, dass von entsprechenden Tarifverträgen sämtliche Arbeitnehmer und Arbeitgeber eines Wirtschaftszweigs erfasst werden. Darüber hinaus besteht als (mitbedachte Nebenwirkung) die sozialpolitische Funktion der AVE darin, Mindestarbeitbedingungen zu garantieren und dadurch die Tarifaußenseiter vor unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu schützen.76 Wenn die AVE auch nicht auf die Stärkung der Gewerkschaften gerichtet ist – durch die AVE wird dem Tarifvertrag der werbende Charakter genommen –, so dient sie doch der Erhaltung des Status quo. Denn im Ergebnis stellt die Koalitionsmitgliedschaft keinen Wettbewerbsnachteil mehr dar. Dieser Zweck wird nicht dadurch vereitelt, dass der Tarifvertrag eine Differenzierungsklausel enthält: Der Arbeitgeber kann auch durch Verbandsaustritt der Tarifgeltung nicht entgehen; für die Gewerkschaften behält der Tarifvertrag weiterhin seinen werbenden Effekt. Hingegen stehen die Differenzierungsklauseln der Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen entgegen, da diese erst durch individualvertragliche Zusatzvereinbarungen erreicht werden können. Die Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen soll die Tarifvertragsparteien vor der so genannten Schmutzkonkurrenz durch Tarifaußenseiter schützen. Dann ist es aber auch nur folgerichtig, wenn die Tarifvertragsparteien auf diesen Schutz partiell verzichten können. Faktisch steht die AVE zur Disposition der Koalitionen. Erst auf ihren Antrag hin darf die zuständige Behörde tätig werden; die AVE bedarf darüber hinaus des Einvernehmens der Vertreter der Spitzenorganisationen im Tarifausschuss, die im Zweifelsfalle nicht gegen den Willen der tarifschließenden Koalitionen handeln werden77. Wenn die Koalitionen der Überzeugung sind, dass die in Folge der Differenzierungsklauseln eintretenden uneinheitlichen Arbeitsbedingungen für ihren Koalitionsbestand und die Funktionsfähigkeit der Tarif76 BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE, 44, 320 (313 f., 342); Wiedemann, RdA 1987, 262 (265); Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., Rn. 2 ff., 68 f.; v. HoyningenHuene, BB 1986, 1909 (1910); den Schutz der Tarifaußenseiter betonen Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1748; Wonneberger, Funktion der AVE, S. 90, 91, 102. Zachert, NZA 2003, 132 (132 f.), betont zudem noch die Bedeutung der AVE für die Effektivität von Gemeinsamen Einrichtungen. Nach Herschel, ArbuR 1966, (199), stellt das „öffentliche Interesse“ nicht das Ziel, sondern lediglich die Schranke der AVE dar. Diese Auffassung ist allerdings zweifelhaft, da § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG die Voraussetzung aufstellt, dass die AVE im öffentlichen Interesse „geboten erscheint“ (also dem öffentlichen Interesse dient), und nicht, dass das öffentliche Interesse der AVE nicht entgegen stehen darf. Vgl. allgemein den Überblick bei Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 81 ff. 77 Auf diesen Umstand weist Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 48 f., hin.

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autonomie unproblematisch sind, ist es nicht geboten, ihnen durch § 5 TVG einen Schutz aufzuzwingen, den sie ablehnen. Eine nur mäßige Differenzierung führt nicht dazu, dass die Tarifaußenseiter zu nicht mehr sozial vertretbaren Arbeitsbedingungen arbeiten müssten. Dass ganze Tarifverträge zum Exklusivgut erklärt werden sollen, wird in der Praxis sicherlich nur die Ausnahme bleiben; in den bisher bekannt gewordenen Klauseln ging es in der Regel nur um einzelne Leistungen, die zudem nicht zu den Hauptarbeitsbedingungen gehörten, sondern zu den Sonderleistungen zählten wie z. B. eine Aufstockung der Betriebsrente. Aber auch die AVE eines Tarifvertrags, der ausschließlich den gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern zugute kommt, kann weiterhin im öffentlichen Interesse liegen. Denn hierdurch wird der Druck von den Arbeitgebern genommen, ihren Verband zu verlassen, um mit den Tarifungebundenen konkurrieren zu können. Für die Außenseiter führt ein solcher Tarifvertrag nicht zu Höchstarbeitsbedingungen, da die Tarifausschlussklausel nicht an der AVE teil hat; der Tarifvertrag steht damit der Vereinbarung sozial angemessener Arbeitsbedingungen nicht entgegen. Deshalb kann der Umstand der nicht einheitlichen Arbeitsbedingungen nicht angeführt werden, um zu belegen, dass die AVE differenzierender Tarifverträge dem Sinn und Zweck des § 5 TVG widersprechen würde. Zudem handelt es sich beim Schutz der Tarifaußenseiter nicht um einen Hauptzweck, sondern nur um eine vom Gesetzgeber mitbedachte Nebenfolge der AVE.78 Zum Schutz aller Arbeitnehmer stehen dem Gesetzgeber andere Instrumente zur Verfügung wie z. B. das Gesetz zur Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen; auch durch das BUrlG oder das ArbZG wird ein Mindeststandard gesichert. Die AVE dient nur insoweit dem Gemeinwohl, wie der Schutz der Tarifregelung und das Gemeinwohl zusammenfallen.79 Hieran wird deutlich, dass dem Interesse der Tarifaußenseiter an bestimmten Arbeitsbedingungen keine vorrangige – quasi absolute – Geltung zukommen kann, hinter dem die Belange der Koalitionen zurücktreten müssten.

78 Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 5 Rn. 3 (dieser Aspekt wird stärker betont von Wank in der 6. Aufl., Rn. 2); ebenso Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 121 f.; den Schutz der Organisierten vor Schmutzkonkurrenz und Lohndrückerei betonen auch Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (11); Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 174; Hueck/Nipperdey/Stahlhacke, TVG, 4. Aufl., § 5 Rn. 1. Richardi, Kollektivgewalt, S. 176; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 470; Wiedemann, RdA 1969, 321 (324); ders., RdA 1987, 262 (265). 79 Vgl. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 121. Auch das BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE, 44, 320 (342), spricht von der AVE „als ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen soll . . .“

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b) Verstoß gegen Grundrechte Auch wenn § 5 TVG nach seinem Sinn und Zweck einer AVE von Differenzierungsklauseln nicht entgegensteht, kann es dennoch sein, dass die zuständige Behörde gegen geltendes Recht verstoßen würde, wenn sie einen entsprechenden Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären würde. Insbesondere aus den Grundrechten der betroffenen Außenseiter kann sich ergeben, dass die AVE von Differenzierungsklauseln zu unterbleiben hat. aa) Negative Koalitionsfreiheit Die AVE eines differenzierenden Tarifvertrags führt dazu, dass die Tarifaußenseiter (zunächst) schlechter gestellt sind, als ihre gewerkschaftsangehörigen Kollegen. Deshalb stellt sich die Frage, ob der Staat die negative Koalitionsfreiheit der Außenseiter verletzt, wenn er einen solchen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt. Um hierauf eine Antwort zu finden, ist zunächst das Verhältnis des Staates zum Inhalt des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags zu untersuchen. Erst hierdurch wird deutlich, ob der Staat für den Tarifinhalt die Verantwortung übernimmt und deshalb besonderen grundrechtlichen Bindungen unterliegt. Maßgeblich hierfür ist, wie sich der Vorgang der AVE rechtlich darstellt, d.h. welcher Rechtsnatur die AVE zuzuordnen ist. Nach nunmehr überwiegender Ansicht handelt es sich bei der AVE im Hinblick auf die Außenseiter um einen Rechtsetzungsakt sui generis, der seine Grundlage letztlich in Art. 9 Abs. 3 GG hat.80 Denn die AVE ist ein Akt staatlicher Mitwirkung bei der Normsetzung der Tarifvertragsparteien. Für die Tarifvertragsparteien stellt sich die AVE entgegen der früher verbreiteten These von der Doppelnatur81 nicht als Verwaltungsakt dar, sondern ist auch ihnen gegenüber ein Rechtsetzungsakt eigener Art.82 Durch die AVE ändert sich allerdings nichts an der privatrechtlichen Wirkung des Tarifvertrages. Das Verhältnis der Arbeit-

80 BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (340); Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (20); BAG, Urt. v. 28.3.1990, AP Nr. 25 zu § 5 TVG (Bl. 3 R). 81 AVE als Verwaltungsakt für die Verbandsmitglieder und Rechtsetzungsakt sui generis für die Außenseiter: Nipperdey/Heussner, in: Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Bd. I, 225 ff., 236; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 660, 691 (anders noch 6. Aufl., S. 471: „Die AVE ist eine Verfügung, ein Verwaltungsakt . . .“); Hueck/Nipperdey/Stahlhacke, TVG, § 5 Rn. 48; zustimmend Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 475. 82 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1283 f.; Mäßen/Mauer, NZA 1996, 121 (122); Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 5 Rn. 50; Wonneberger, Funktionen der AVE, S. 121; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 419. Für eine Charakterisierung der AVE als Rechtsverordnung BVerwG, Urt. v. 6.6.1958, BVerwGE 7, 82 (88); Urt. v. 1.8.1958, BVerwGE 7, 188 (188); Hofbauer, Rechtscharakter der Tarifverträge, S. 93 f.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 174.

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nehmer zu den Arbeitgebern wird weiterhin durch den privatrechtlichen Tarifvertrag gestaltet. Allein die AVE selbst, durch die die Tarifbindung erweitert wird, gehört dem öffentlichen Recht an.83 Wenn in der AVE eine Erweiterung der Autonomie84 der Tarifvertragsparteien gesehen wird, folgt hieraus, dass dem Staat der Inhalt des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags nicht zugerechnet werden kann.85 Für die einzelnen Tarifklauseln bleiben allein die Tarifvertragsparteien verantwortlich, die die Tarifverträge autonom aushandeln; wie bereits gesagt, ändert die AVE nichts am privatrechtlichen Charakter des Tarifvertrages. Auch steht der für allgemeinverbindlich erklärte Tarifvertrag nicht höher als die „gewöhnlichen“ Tarifverträge; Überschneidungen sind nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Lösungsgrundsätzen für die Tarifkonkurrenz zu beseitigen, ohne Rücksicht auf die AVE.86 Weiterhin ist zu beachten, dass der Rechtsetzungsakt des Staates lediglich gegenüber den Außenseitern ergeht; für die ursprünglich tarifgebundenen Arbeitnehmer ändert sich nichts am Geltungsgrund des Tarifvertrages.87 Da Ziel der AVE die einheitliche Geltung des Tarifvertrags ist, wäre es widersinnig nur hinsichtlich der Außenseiter dem Staat den Tarifvertragsinhalt zuzurechnen. Dementsprechend mag zwar allgemein § 5 TVG als öffentlich-rechtliche Norm bzw. der Ausspruch der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags als (gerechtfertigter) Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit gesehen werden88, nicht jedoch speziell die AVE einer Differenzierungsklausel, also der Inhalt eines Tarifvertrages. Folge hiervon ist natürlich nicht, dass der Staat von grundrechtlichen Bindungen befreit wäre. Zum einen ist der Staat für die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit – bildlich gesprochen also für die „Hülle“ – voll 83 Im Sinne der Vertragstheorie: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 487; Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 500; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 662, 668; Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 5 Rn. 31 f. Anders aber die – durch § 5 Abs. 5 S. 3 TVG überholte – Gesetzestheorie, nach der die AVE als Rechtsverordnung anzusehen ist, die den Tarifvertrag in ihren Inhalt aufnimmt und damit seines Vertragscharakters entkleidet (vgl. beispielsweise Krüger, RdA 1957, 46 [47, 50]). 84 Nicht zu verwechseln mit dem Gedanken der „erweiterten Autonomie“, nach dem die Koalitionen „von vornherein alle Angehörigen des jeweiligen Berufskreises erfasse(n)“ (vgl. ablehnend hierzu BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 [344]; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 419). 85 Biedenkopf, Sondervorteile, S. 288, weist darauf hin, dass aus der Sicht der tarifunterworfenen Arbeitnehmer die Tarifnormen der Gewerkschaft und nicht der Regierung zugeschrieben werden, sodass die Beteiligung der Regierung an der AVE als vergleichsweise irrelevant angesehen wird. 86 BVerfG, Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (24); BAG, Urt. v. 20.1.1994, AP Nr. 22 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Bl. 3); Wank, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 5 Rn. 146. 87 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 419. 88 Einen Eingriff ablehnend BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (352 f.); vgl. bereits oben S. 84, 92.

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verantwortlich. So wäre es im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG sicherlich problematisch, wenn der Staat durch die AVE lediglich die nichtorganisierten Arbeitgeber in den Geltungsbereich einer Gemeinsamen Einrichtung einbezieht, jedoch die nichtorganisierten Arbeitnehmer ausklammert.89 Zum anderen treffen den Staat hinsichtlich des Inhalts des Tarifvertrags grundrechtliche Verpflichtungen, allerdings ändert sich die Art der Bindung. Es gilt nicht die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte; der Staat hat allein seine Schutzpflichten im Verfahren der AVE zu beachten. Aus diesem Grund ist für die Frage nach der Rechtmäßigkeit nicht die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs maßgeblich. Der Staat handelt nur dann rechtswidrig, wenn er die aus den Grundrechten resultierende Pflicht, die unterschiedlichen Interessen zu einem Ausgleich zu bringen, evident verfehlt hat.90 Insoweit besteht eine strukturelle Gemeinsamkeit mit den betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen. Bei diesen wird durch § 3 Abs. 2 TVG die Tarifbindung auf die Außenseiterarbeitnehmer erstreckt, ohne dass hierdurch der konkrete Tarifinhalt dem Staat zugerechnet würde. Für die einzelnen Tarifklauseln bleiben allein die Tarifvertragsparteien verantwortlich. Aus Art. 9 Abs. 3 GG ergibt sich, dass die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Koalitionen der Intention des Grundgesetzes entspricht. Auch wenn hieraus nicht resultiert, dass die positive Koalitionsfreiheit gegenüber der negativen höherwertig ist, können doch staatliche Maßnahmen, die eine Steigerung der Attraktivität der Koalitionen zur Folge haben, nicht per se als evidente Verfehlung grundgesetzlicher Schutzpflichten angesehen werden. Zwar hat der Staat bei der AVE die Interessen der Nichtorganisierten zu beachten.91 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Interessen der Nichtorganisierten den Interessen der Koalitionen und ihrer Mitglieder vorgehen müssen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die AVE am Wesen der einzelnen Tarifklauseln nichts ändert. Trotz einfacherer Differenzierungsklauseln kann nach § 4 Abs. 3 TVG eine Gleichstellung aller Arbeitnehmer erreicht werden; trotz Abstandsklauseln bleibt die individualvertragliche Vereinbarung besserer Arbeitsbedingungen weiterhin möglich. Die negative Koalitionsfreiheit wird also nicht entwertet. Deswegen ist dem Staat die AVE von Tarifverträgen mit Differenzierungsklauseln im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit nicht grundsätzlich verwehrt.

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Zöllner, Gutachten zum 48. DJT, Bd. I, S. G 98 f. Vgl. grundlegend zur Bindung des Staates an die abwehrrechtliche sowie an die leistungsrechtliche Seite der Grundrechte Epping, Grundrechte, Rn. 311 ff. 91 BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE, 44, 320 (348); Wiedemann, RdA 1987, 262 (266). 90

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bb) Pflicht zur Gleichbehandlung (1) Verletzung durch die Tarifvertragsparteien Beantragen die Tarifvertragsparteien die AVE eines Tarifvertrages, der nach der Gewerkschaftszugehörigkeit differenziert, verstoßen sie nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, selbst wenn man eine unmittelbare oder mittelbare Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz annimmt. Es wurde bereits festgestellt, dass die Tarifvertragsparteien keine Tarifmacht im Bereich der Inhaltsnormen haben, um die Rechtsverhältnisse der Außenseiter unmittelbar zu regeln und dass deshalb eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit nicht den Gleichheitssatz verletzen kann. Durch die AVE werden die Beschränkungen des § 3 TVG aufgehoben. Die Tarifvertragsparteien haben jedoch weder die rechtliche Möglichkeit, die AVE selbst vorzunehmen – die AVE erfolgt von staatlicher Seite –, noch die Befugnis, nach erfolgter AVE den Tarifvertrag abzuändern, ohne die AVE damit aufzuheben. Das rechtliche Können der Tarifvertragsparteien bewegt sich damit weiterhin in den Grenzen des § 3 TVG. Deshalb kann nicht davon gesprochen werden, dass die AVE besondere Pflichten der Tarifvertragsparteien im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG auslöst. Dieses Ergebnis mag zunächst überraschen, fügt sich aber in das System des kollektiven Arbeitsrechts ein. Es besteht eine Vergleichbarkeit mit dem Rechtszustand ohne die AVE: Dem Arbeitgeber ist es gestattet, zwischen tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern zu differenzieren. Dies ist mit Rücksicht auf die Tarifautonomie und § 3 Abs. 1 TVG gerechtfertigt. Die AVE dient nicht (vorrangig) den Interessen der Außenseiter, sondern ebenfalls dem Schutz der Tarifautonomie. Dieses Ziel wird unabhängig davon gefördert, ob in einem Tarifvertrag an die Gewerkschaftszugehörigkeit angeknüpft wird, sodass eine Ungleichbehandlung weiterhin gerechtfertigt ist. Berücksichtigt man diese Überlegungen, lässt sich auch der Vorwurf des Formalismus zurückweisen. Es ist ein qualitativer Unterschied, ob den Tarifvertragsparteien grundsätzlich die Macht verliehen ist, wie bei § 3 Abs. 2 TVG autonom Regelungen für alle Arbeitnehmer zu treffen, oder ob hierfür staatliche Stellen nach Abschluss des Tarifvertrags tätig werden müssen. Der Schutz der Tarifautonomie erfordert nicht die regelmäßige Erfassung von Außenseitern; die Erstreckung der normativen Tarifmacht auf die Außenseiter dient anderen Zwecken als dem Schutz der Tarifautonomie, beispielsweise einer einheitlichen Gestaltung der Betriebsverfassung für alle Arbeitnehmer. Es kann dementsprechend nicht als Zufall angesehen werden, ob die unmittelbare Außenseiterwirkung vor oder nach dem Tarifschluss herbeigeführt wird. Es ist also von der Sache her berechtigt, die Bindung der Tarifvertragsparteien an den allgemeinen Gleichheitssatz davon abhängig zu machen, ob ihre Tarifmacht grundsätzlich bis zu den Außenseitern reicht (§ 3 Abs. 2 TVG) oder ob hierfür ein staatlicher Mitwirkungsakt (AVE) erforderlich ist.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

(2) Verletzung durch den Staat Die AVE eines Tarifvertrages, der differenzierende Klauseln enthält, hat zur Folge, dass trotz gleicher Tarifbindung gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer und Außenseiter nicht die gleichen Ansprüche erlangen. Trotzdem verstößt der Staat nicht gegen Art. 3 GG, wenn er die AVE ausspricht.92 Soweit der Staat bei der Erklärung der AVE nicht willkürlich bestimmte Personengruppen von der Tarifwirkung ausklammert, kann ein gleichheitswidriges Verhalten nicht konstatiert werden. Da dem Staat der Tarifinhalt nicht zugerechnet wird, hat er auch nicht die Ungleichbehandlung im Tarifvertrag zu vertreten bzw. die Gleichbehandlung durchzusetzen. Aus diesem Grund kann es dahingestellt bleiben, ob die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt ist. Es verbleibt allein eine Bindung an die aus Art. 3 GG resultierenden Schutzpflichten, soweit man solche überhaupt anerkennt.93 Insoweit gelten allerdings die zu Art. 9 Abs. 3 GG gemachten Ausführungen: Darin, dass der Staat organisationspolitische Tarifklauseln für allgemeinverbindlich erklärt, ist keine evidente Verfehlung seiner Schutzpflichten zu sehen. Aus Sicht der Außenseiter macht es keinen Unterschied, ob die tariflichen Arbeitsbedingungen, die ihnen vom Arbeitgeber vorenthalten werden, auf einem einfachen Tarifvertrag oder einem für allgemeinverbindlich erklärten beruhen. Auch hat Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen eine gewichtige Rolle bei der Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zugedacht. Organisationsstärkende Maßnahmen wie beispielsweise Differenzierungsklauseln tragen zur effektiven Wahrnehmung dieser Aufgabe bei, ohne den Schutz der Außenseiter, die bei einfachen Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln auf individualvertraglicher Ebene ausweichen können, zu vernachlässigen. cc) Koalitionspluralismus Die bisherigen Überlegungen sind im Hinblick auf die Vereinbarung allgemeiner Differenzierungsklauseln zu sehen. Bei solchen Klauseln, die die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft begünstigen sollen, stellt sich die Problematik jedoch anders dar. Aus dem Gesichtspunkt des Koalitionspluralismus können sich Bedenken gegen die AVE von beschränkten Differenzierungsklauseln ergebenen. Der Koalitionspluralismus, der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird, besagt, dass zumindest die theoretische Möglichkeit der Verbandsvielfalt bestehen muss. Hieraus resultiert die Neutralitätspflicht des Staates. Der Staat kann nicht zum Helfer einer bestimmten Organisation gemacht werden.94 Das bedeutet, dass für den Staat Schutzpflichten bestehen, diesen Koalitionsplu92 93 94

A. A. Richardi, Kollektivgewalt, S. 174, 356. Siehe oben S. 211 Fn. 558. Vgl. Mäßen/Mauer, NZA 1996, 121 (124).

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ralismus zu achten und zu ermöglichen. Der Staat hat Maßnahmen zu unterlassen, die das Verhältnis der Koalitionen zueinander nachhaltig verändern. Eine einseitige Koalitionsförderung, wie sie in der Vereinbarung beschränkter Differenzierungsklauseln zu sehen ist, muss als evidente Verfehlung dieser Schutzpflichten angesehen werden. Auch wenn der Staat dem Tarifinhalt neutral gegenüber steht, widerspricht die AVE einer beschränkten Differenzierungsklausel dem Wesen der AVE: Die AVE dient dem Bestandsschutz der Koalitionen und damit der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und nicht der Expansion einer bestimmten Koalition. Der Staat würde in den Wettbewerb der Koalitionen eingreifen und dementsprechend das Instrument der AVE zweckwidrig einsetzen. Aus diesem Grund scheidet die AVE beschränkter Differenzierungsklauseln aus. Demgegenüber kann bei den allgemeinen Differenzierungsklauseln, die nicht auf eine bestimmte Gewerkschaft abstellen, keine Ungleichbehandlung der konkurrierenden Koalitionen gesehen werden. Bei ihnen kann allein ein Druck entstehen, irgendeiner Gewerkschaft beizutreten. 2. Möglichkeit zur AVE als Schranke der Tarifautonomie Nachdem die Frage, ob Differenzierungsklauseln einer AVE entgegenstehen, nur im Hinblick auf beschränkte Differenzierungsklauseln bejaht wurde, rückt die zweite Ausgangsfrage wieder in den Mittelpunkt: Ist die Möglichkeit der AVE Voraussetzung eines Tarifvertrages? Zweifelhaft ist, ob der AVE so weit reichende Schlussfolgerungen entnommen werden können. Denn letztlich handelt es sich bei der AVE um eine tarifrechtliche Besonderheit, was dagegen spricht, sie zum Dreh- und Angelpunkt des gesamten Tarifrechts zu machen.95 In der Praxis stellt die AVE eine Ausnahmeerscheinung dar.96 Insoweit ließe sich vertreten, dass es für eine Beschränkung der Tarifmacht durch § 5 TVG eines klaren Anhaltspunktes im Gesetz bedurft hätte. Etwas anderes könnte dann gelten, wenn man davon ausgeht, dass alle Tarifverträge zur AVE hinstreben.97 Dann stellt sich – wie beispielsweise bei der Gesamtrepräsentation der Gewerkschaften – jedoch die Frage, welche rechtlichen Schlussfolgerungen aus einem derartigen eher soziologischen Befund zu ziehen sind. Zu einer schlüssigeren Begründung gelangt man dann, wenn man das Antragsrecht in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt: Wenn aus der Möglichkeit zur AVE Rückschlüsse auf den Umfang der Tarifmacht gezogen werden sollen, muss geklärt werden, ob die Tarifvertragsparteien auf ihr Antragsrecht verzichten können. Ist 95

Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (11). Der Anteil der allgemeinverbindlichen Tarifverträge betrug 2002 lediglich ca. 0,9%. Allgemein zur Bedeutung der AVE im Arbeitsleben siehe Clasen, BABl 3/ 2003, 20 (21); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 882. 97 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 40 ff. So bereits Sinzheimer, Grundzüge, S. 270. 96

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das Antragsrecht disponibel, hat dies zur Folge, dass die Tarifvertragsparteien auch frei in ihrer Tarifgestaltung sind. Schließlich kann es keinen Unterschied machen, ob sie ausdrücklich auf ihr Antragsrecht verzichten, oder ob sie dasselbe (bewusst) mittels bestimmter Tarifvertragsklauseln erreichen, die zur AVE nicht geeignet sind. Diesen Zusammenhang hat auch Bötticher angesprochen: „(Ist man) gewillt, den Tarifvertragsparteien auch für den Fall der AVE Spielraum für eine Sonderbehandlung ihrer Mitglieder zu lassen (. . .), dann muss man sich auch konsequent zu der Auffassung bekennen, dass es den Tarifvertragsparteien gestattet sei, der AVE Hindernisse in den Weg zu stellen.“98 Nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 TVG erfolgt die AVE im öffentlichen Interesse und nicht im Interesse der Tarifvertragsparteien. Dieser Umstand könnte dafür sprechen, dass die Tarifvertragsparteien nicht über das Antragsrecht disponieren können. In diesem Sinne argumentiert Bötticher.99 Andererseits hängt die AVE vom Antrag einer der Tarifparteien ab. Von sich aus kann der Staat nicht tätig werden; von dieser Voraussetzung kennt der § 5 TVG noch nicht einmal eine Ausnahme bei Vorliegen eines sozialen Notstandes. Zur Antragstellung sind die Tarifvertragsparteien hingegen nicht gezwungen. Komplementär hierzu sind die Tarifvertragsparteien nicht gehindert, durch Abänderung oder Aufhebung des Tarifvertrags die Geltung des für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags einzuschränken oder aufzuheben. Ein öffentliches Interesse, wie es § 5 Abs. 5 TVG für die Aufhebung durch die zuständige Behörde voraussetzt, ist hierfür nicht erforderlich. Die Tarifvertragsparteien bleiben also weiterhin die Herren des Tarifvertrages. Nicht vernachlässigt werden darf, dass die AVE durch die Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen auch bzw. sogar vorrangig dem Schutz der Tarifgebundenen dient, indem die durch den Tarifvertrag gewährten Arbeitsbedingungen dem Wettbewerb entzogen werden. Mittelbar werden die Koalitionen selbst geschützt, wenn durch die AVE ein Anreiz für die Mitglieder ausgeräumt wird, der Koalition den Rücken zuzukehren und auszutreten: Durch die AVE wird das Auftreten von sog. Schmutzkonkurrenz verhindert. Diesen Umstand hat das BVerfG deutlich angesprochen und ausgeführt, dass „[die] fehlende Tarifbindung eines Partners oder beider Partner von Arbeitsverhältnissen (. . .) insbesondere in Zeiten nachlassender Konjunktur und gefährdeter Vollbeschäftigung schwerwiegende Nachteile für die Tarifgebundenen und Gefahren für die Verwirklichung des Tarifvertrags zur Folge haben (kann).“100

98 Bötticher, BB 1965, 1077 (1078) = ders., Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 111. 99 Bötticher, BB 1965, 1077 (1078) = ders., Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 112; zustimmend Floretta, DRdA 1968, 1 (16), der aber im Ergebnis die Differenzierungsklauseln einer AVE für zugänglich hält. 100 BVerfG, Beschl. v. 24.5.1977, BVerfGE 44, 322 (323).

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Folglich erfolgt die AVE auch im eigenen Interesse der Tarifvertragsparteien. Wie diese Interessenwahrnehmung in eigener Sache aussieht, bleibt den Tarifvertragsparteien überlassen. Schließlich stellt – wie oben bereits betont – die AVE eine Erweiterung der Autonomie der Koalitionen dar. Ausdruck dieser Autonomie muss es aber sein, dass die Koalitionen auf ihr Antragsrecht (faktisch) verzichten können.101 Auch wenn man wie Bötticher betont, dass das Eigeninteresse der Tarifvertragsparteien am Schutz des Tarifvertrags gegen Schmutzkonkurrenz zugleich ein öffentliches Interesse ist102, kann sich daraus keine andere Bewertung der AVE ergeben. Durch ihr Antragsrecht nach § 5 Abs. 1 TVG ist den Tarifvertragsparteien die Wahrnehmung des öffentlichen Interesses überantwortet; es findet also keine „Durchbrechung“ des Grundsatzes der Tarifautonomie statt. Dass der Staat zum Schutz der Koalitionen gegen ihren eigenen Willen verpflichtet ist und § 5 TVG in diesem Sinne – als Erfüllung der Schutzpflicht – auszulegen ist, kann nicht angenommen werden. Vielmehr würde es einem freien Koalitionswesen widersprechen, wenn dem Art. 9 Abs. 3 GG eine Verpflichtung zur Sicherung des eigenen Bestandes und damit eine Koalitionspflicht entnommen würde. Eine Antragspflicht der Tarifvertragsparteien, um gewisse Mindestbedingungen für die nicht dem Tarifvertrag unterfallenden Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten, ließe sich schließlich nur mit einer Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien begründen. Eine solche ist jedoch abzulehnen; § 5 TVG vermag eine solche auch nicht partiell für den Bereich der AVE zu begründen. Bereits aus diesem Umstand ergibt sich, dass Rückschlüsse von der AVE auf die Zulässigkeit bestimmter Tarifinhalte nicht möglich sind. Wenn die Tarifvertragsparteien auf ihr Antragsrecht verzichten können, können sie auch nicht gehindert sein, ihre Tarifverträge so zu gestalten, dass sie der Eignung für eine AVE entbehren. 3. Ergebnis Die Möglichkeit zur AVE kann nicht als Begrenzung der Tarifmacht der Koalitionen angesehen werden. Denn die Tarifvertragsparteien können rechtswirksam auf ihr Antragsrecht nach § 5 Abs. 1 TVG verzichten. Unabhängig hiervon sind die allgemeinen Differenzierungsklauseln zur AVE geeignet. Allein die beschränkten Differenzierungsklauseln, die der Stärkung einer bestimmten Koalition dienen, können aufgrund des vom Staat zu schützenden Koalitionspluralismus nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden. 101 So im Ergebnis Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 121; Dorndorf, ArbuR 1988, 1 (11); Musa, BB 1966, 82 (86); Richardi, Kollektivgewalt, S. 176, 354; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 194. 102 Bötticher, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 82.

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IV. Unzulässige Beitragserhebung Der Große Senat des BAG hat die Tarifmacht der Tarifvertragsparteien zur Vereinbarung von Differenzierungsklauseln in Abrede gestellt, da es sich seiner Ansicht nach um eine unzulässige Beitragserhebung handelt.103 Ob eine Gewerkschaft von Außenseitern Ausgleichszahlungen fordern kann, ist eine Frage des rechtlichen Könnens, da zu diskutieren ist, ob es vom Tarifvertragssystem und damit von der Tarifmacht umfasst ist, dass die Gewerkschaften die Außenseiter für organisationspolitische Zwecke in materieller Hinsicht in Anspruch nehmen. Das TVG sieht eine Beitragserhebung nicht vor; insoweit fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. Dementsprechend wird – unabhängig von sonstigen verfassungsrechtlichen Bedenken – nach allgemeiner Ansicht die Vereinbarung von Solidaritätsbeiträgen für die Inanspruchnahme des Tarifvertrags als unzulässig abgelehnt.104 Der Große Senat des BAG geht davon aus, dass die Außenseiter, wenn sie in Folge einer Differenzierungsklausel gegenüber den tarifgebundenen Arbeitnehmern schlechter gestellt werden, eine Art Ausgleichszahlung erbringen. Dies wird jedoch nicht weiter ausgeführt, sondern bloß apodiktisch festgestellt; wer auf welchem Wege als Ausgleichsbegünstigter anzusehen ist, bleibt im Dunkeln. Der Große Senat scheint sich jedenfalls vor einer klaren Antwort zu scheuen und nimmt deshalb Zuflucht zu der vagen Formulierung, es handele sich um einen Ausgleich für die Ausnutzung der gewerkschaftlich geschaffenen Tarifwerke und damit um „eine Art Leistung, eine Art Beitrag, eine Art Gebühr, eine Art Abgabe, eine Art Herausgabe von ungerechtfertigter Bereicherung oder ähnliches“.105 Um was es sich nun genau handelt, teilt der Große Senat nicht mit. Ein paar Ausführungen hätte es sicherlich bedurft, um zu begründen, dass die Differenzierungsklauseln eine moderne Art der Kommerzialisierung gewerkschaftlicher Tätigkeit darstellen. So klar und eindeutig wie bei den Solidaritätsbeiträgen tritt der Sachverhalt jedenfalls nicht zu Tage. Leistungsempfänger soll wohl die tarifschließende Koalition sein. Dies ist allerdings nicht so offensichtlich, dass eine Begründung entbehrlich ist. Schließlich wer-

103

BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 20 R). Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 354; Hueck, RdA 1961, 141 ff.; Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rn. 130; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 169; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 427; ebenso Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1192, der aber eine „Ersatzkonstruktion“ vorschlägt, nach der der Arbeitgeber mit den Außenseitern geringere Löhne vereinbart und die Differenz an die Gewerkschaft abführt; weitere Vorschläge bei Heußner, RdA 1960, 295 (298 f.). 105 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 20 R). Auch Bötticher, RdA 1966, 401 (403), geht von der Wesensverwandtschaft von Solidaritätsbeitrag und Lohndifferenzierung aus. Kritisch hierzu: Fenn, ZfA 1971, 347 (353); Lieb, ZfA 1970, 197 (207); Ritter, JZ 1969, 111 (112); Weller, ArbuR 1970, 161 (162). 104

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den die Außenseiter nicht verpflichtet, einen Solidaritätsbeitrag an die Gewerkschaft zu zahlen, wie es beispielsweise in der Schweiz die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Tarifvertrags durch den Außenseiter sein kann (siehe Art. 356b OR)106. Objektiv besteht kein wirtschaftlicher Unterschied, ob der Außenseiter infolge einer Differenzierungsklausel weniger erhält als die tarifgebundenen Arbeitnehmer oder ob ihm der Arbeitgeber – aus welchen Gründen auch immer – bestimmte tarifliche Leistungen vorenthält. In letzterem Fall würde es niemand in Erwägung ziehen, hierin eine Art Abgabe an die Gewerkschaft zu sehen. Zwischen beiden Fallgestaltungen besteht der einzige Unterschied darin, dass bei den Differenzierungsklauseln subjektive Momente der Tarifvertragsparteien hinzutreten; hingegen wird der Arbeitgeber durch die Differenzierungsklausel nicht verpflichtet, die Differenz auf ein Gewerkschaftskonto zu überweisen.107 Allein die Absicht, in einer bestimmten Tarifklausel eine Art Solidaritätsbeitrag zu sehen, kann diese nicht zu einer Ausgleichsabgabe machen. Wenn man auf einen finanziellen Vorteil abstellt, so werden allein die Gewerkschaftsmitglieder bevorzugt, zugunsten derer eine Differenzierung im Tarifvertrag vorgenommen wird. Dieser Vorteil wird wiederum nicht von den Außenseitern gewährt, sondern vom Arbeitgeber getragen. Weder liegt eine direkte materielle Zuwendung an die Gewerkschaften vor, noch werden die Außenseiter mit einem Äquivalent belastet.108 Von einer „Beteiligung (der) Außenseiter an den Kosten der Koalition“ kann deshalb keine Rede sein. Zu einem anderen Ergebnis könnte man nur dann kommen, wenn den Außenseitern eine gesicherte Rechtsposition entzogen würde. Dann müsste aber die Aussicht auf die Vereinbarung bestimmter Arbeitsbedingungen quasi zum gegenwärtigen Vermögen der Außenseiter zu rechnen sein, ähnlich wie eine gesicherte Gewinnerwartung, die ausnahmsweise Art. 14 GG unterfällt.109 Hiergegen spricht jedoch, dass weder Organisierte noch Außenseiter einen Anspruch auf einen bestimmten Tarifabschluss haben; die Außenseiter haben darüber hinaus auch keinen originären Rechtsanspruch darauf, am Tarifvertrag teilzuhaben. Sie können die Gleichbehandlung mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern weder verlangen, noch gerichtlich durchsetzen. Wenn der Große Senat des BAG von den Differenzierungsklauseln als eine „Art Beitrag“ spricht, verstellt dies eher den Blick auf die Zusammenhänge, als dass es zu einer Klärung der Problematik beiträgt. Schließlich wird als Folge der Suggestivwirkung der Beitragsmetaphorik darauf verzichtet zu klären, worin 106 Vgl. hierzu Morand, in: Mosler/Bernhard, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 855 f.; Zanetti, RdA 1973, 77 (82 ff.). 107 So der Vorschlag von Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1192. 108 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 363; Hanau, JuS 1969, 213 (217); Steinberg, RdA 1975, 99 (100). 109 Dietlein, ArbuR 1970, 200 (203).

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und in welcher Höhe die Belastung des Außenseiters zu sehen ist. Wenn es aber bereits an einem Beitrag der Außenseiter fehlt, stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob die Rechtsordnung eine „Kommerzialisierung“ oder „Entgeltlichmachung des Tarifvertrages“ zulässt, wie sie der Große Senat des BAG den Gewerkschaften vorgeworfen hat.110 Dementsprechend ist auch nicht weiter aufklärungsbedürftig, ob das Gerechtigkeitsempfinden der Außenseiter, das durch die undurchsichtige Bemessung tariflicher Leistungen nachhaltig verletzt sein soll, einer Rechtsfortbildung entgegensteht, durch die die Tarifmacht auf die Vorteilsausgleichung mittels tariflicher Gestaltungsmittel erstreckt wird.111 110 BAG GrS, Beschl. v. 29. 11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 20 R); vgl. zur Kritik hieran Hanau, JuS 1969, 213 (219). Es ließe sich überlegen, ob dem Tarifvertrag nicht urheberrechtlicher Schutz zuteil wird, sodass eine Kommerzialisierung durchaus möglich wäre. Die Voraussetzungen eines „Werks“ dürfte der Tarifvertrag jedenfalls erfüllen. Allerdings nimmt die nahezu einhellige Meinung an, dass der Tarifvertrag als materielles Gesetz ein amtliches Werk i. S. v. § 5 Abs. 1 UrhG und dementsprechend nicht schutzfähig ist; vgl. BAG, Urt. v. 11.11.1968, AP Nr. 14 zu Art. 9 GG (Bl. 3 R); Gamm/Gamm, GRUR 1969, 593 (595); Götting, in: Loewenheim, Handbuch, § 31 Rn. 9; Haberstumpf, Handbuch, Rn. 348; MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 253 Rn. 24; Rehbinder, Urheberrecht, Rn. 279; ders., UFITA Bd. 80 (1977), 73 (78 f.); Seiter, SAE 1969, 229 (230); Reinecke, in: Däubler, TVG, § 6 Rn. 29; a. A. Nordemann, in: Fromm/Nordemann, Urheberrecht, § 5 Rn. 2. Hiergegen bestehen jedoch Bedenken. Zum einen ist der Wortlaut des § 5 UrhG auf amtliche, d.h. mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben betraute Stellen bezogen, wohingegen der Tarifvertrag ein privatrechtlicher Normenvertrag ist und die Tarifvertragsparteien nicht beliehen sind; zum anderen enthält ein Tarifvertrag auch einen schuldrechtlichen Teil bzw. kann rein schuldrechtlich ausgestaltet sein, sodass diesbezüglich nicht von einem materiellen Gesetz gesprochen werden kann. Auch die AVE ändert nichts am Charakter des Tarifvertrags, sodass Nordemanns Ausnahme für allgemeinverbindliche Tarifverträge inkonsequent ist. Zudem hat der Gesetzgeber durch Schaffung des § 5 Abs. 3 UrhG – über die EG-rechtlichen Vorgaben hinaus – den privatrechtlichen Normwerken ausdrücklich urheberrechtlichen Schutz zugebilligt. Auch wenn die Gesetzesänderung eine Reaktion auf die Rechtsprechung zum Schutz von DIN-Normen ist – die entsprechende Gesetzesänderung erfolgte in Anbetracht von BGH, Urt. v. 26.4.1990, GRUR 1990, 1003 ff., bestätigt durch BVerfG, Beschl. 29.7.1998, NJW 1999, 414 ff. (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drucks. 15/38, S. 16; Götting, in: Loewenheim, Handbuch, § 31 Rn. 15 ff.) –, lassen sich auch Tarifverträge zwanglos als privatrechtliche Normenwerke charakterisieren. Weiterhin lässt sich aus § 5 Abs. 3 UrhG ableiten, dass die allgemeine Bedeutung privatrechtlicher Normenwerke ihrer Schutzfähigkeit nicht entgegensteht. Durch Schaffung des § 5 Abs. 3 UrhG hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich für einen Urheberschutz von DIN-Normen ausgesprochen, selbst wenn diese durch Verweisung in amtlichen Erlassen allgemeine Verbindlichkeit erlangen. Somit spricht die allgemeine Bedeutung der Tarifverträge für das Arbeitsleben nicht für eine Klassifizierung als amtliche Werke. Es wäre eher darüber nachzudenken, dass dort, wo das Gesetz auf den Tarifvertrag verweist – z. B. in § 3 Abs. 2 TVG oder § 13 Abs. 1 BUrlG – gem. § 5 Abs. 3 UrhG ein Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung gegen eine angemessene Gebühr besteht; für die Verbandsmitglieder dürfte im Verbandsbeitritt eine Erlaubnis zur Nutzung zu sehen sein. 111 So aber die Überlegungen des BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 21 R f.); kritisch hierzu Kempen/Zachert, TVG, Grundl. Rn. 129: „Inwiefern allerdings das ,Gerechtigkeitsempfinden‘ nicht tarifgebundener Personen das

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V. Gegnerunabhängigkeit Sobald die Frage nach der Zulässigkeit von Maßnahmen, die – mittelbar oder unmittelbar – dem Koalitionsgegner zugute kommen, gestellt wird, taucht in der Argumentation der Gesichtspunkt der Gegnerunabhängigkeit auf. Eine Gefährdung der Gegnerunabhängigkeit wurde bereits vor dem Streit um die Differenzierungsklauseln in der Forderung der Gewerkschaften gesehen, die Gewerkschaftsbeiträge durch den Arbeitgeber abführen zu lassen.112 Auch bei der Diskussion um den Schutz der gewerkschaftlichen Vertrauensleute wurde auf diese Argumentation zurückgegriffen.113 Nach Auffassung von Rechtsprechung und Literatur ist es Voraussetzung für die Koalitionseigenschaft i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG, dass die Vereinigung vom Staat und vom sozialen Gegenspieler unabhängig ist, um eine effektive Durchsetzung der Interessen der Mitglieder zu gewährleisten.114 Unabhängigkeit bedeutet, dass sich die interne Willensbildung frei und unbeeinflusst von der Gegenseite vollzieht. Zunächst stellt sich die Frage, aus welchem Grund die Tarifmacht durch Gesichtspunkte der Gegnerunabhängigkeit begrenzt wird. Schließlich ist eine Koalition nicht verpflichtet, ihre Koalitionseigenschaft zu erhalten. Die Koalitionsfreiheit ist als Grundrecht und nicht als Grundpflicht ausgestaltet. Dementsprechend gilt der Grundsatz, dass alles private Verhalten erlaubt ist, solange es nicht ausdrücklich untersagt oder gefordert wird. Nikisch hat darauf hingewiesen, dass es keinen allgemeinen Grundsatz gibt, wonach ein Verein vertragsbrüchig wird, wenn er sich auflöst, solange noch irgendwelche Verträge laufen.115 In der Praxis finden sich hierfür entsprechende Beispiele.116 Ob hingegen der Verlust der Koalitionseigenschaft am Fortbestand eines rechtsgültig geschlossenen Tarifvertrags etwas ändert, ist umstritten.117 Auf diesen Tarifrecht begrenzen soll, bleibt unklar, zumal das TVG eine solche Schranke nicht kennt.“ Vgl. zum Gerechtigkeitsempfinden ausführlich oben S. 124 ff. 112 Dietz/Nipperdey, in: dies., Einziehung der Gewerkschaftsbeiträge, S. 17 ff., 40 f., Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 96; a. A. Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1171; Fechner, Die tarifliche Regelung der Abführung von Gewerkschaftsbeiträgen, S. 17 ff.; differenzierend Herschel, JZ 1965, 81 (82 f.). 113 ArbG Kassel, Urt. v. 5.8.1976, ArbuR 1977, 157 (159); Blomeyer, DB 1977, 101 (110 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1196 f.; Kraft, ZfA 1976, 243 (260 ff.); kritisch zu diesem Argument Bötticher, RdA 1978, 133 (140). 114 BVerfG, Urt. v. 18.11.1954; BVerfGE 4, 96 (106, 107); Urt. v. 6.5.1964, BVerfGE 18, 18 (28); Urt. v. 13.1979, BVerfGE 50, 290 (370, 373 ff.); BAG, Beschl. v. 25.11.1986, AP Nr. 36 zu § 2 TVG (Bl. 4); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 415 ff.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 93 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 113. 115 Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 356. 116 Vgl. z. B. BAG, Urt. v. 28.5.1997, AP Nr. 27 zu § 4 TVG Nachwirkung. 117 Für eine Weitergeltung: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 61, 1470; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 788; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht,

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Aspekt kommt es im vorliegenden Zusammenhang jedoch gar nicht an. Sollten die Differenzierungsklauseln mit der Gegnerunabhängigkeit unvereinbar sein, würden Tarifvertragsabschluss und Verlust der Koalitionseigenschaft – und damit der Fähigkeit, Tarifverträge zu schließen – zeitlich zusammenfallen (auch wenn eine logische Abfolge besteht118); die innere Widersprüchlichkeit dieses Ergebnisses liegt auf der Hand. Aus diesem Grund wird durch die Gegnerunabhängigkeit die Tarifmacht beschränkt.119 Hieraus wird von einem Teil der Literatur abgeleitet, dass Differenzierungsklauseln aufgrund ihres unbestrittenen organisationspolitischen Effekts gegen den Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit verstoßen würden und deshalb die Grenzen der Tarifmacht überschreiten würden.120 Die Argumentation mit der Gegnerunabhängigkeit ist eng verwandt mit der Behandlung der Differenzierungsklauseln als Beitragsregelungen. Nach Zöllner „begegnet die Differenzierungsklausel vor allem dann besonderen Bedenken, wenn sie unter der Motivation des Lastenausgleichs steht.“121 Während vom BAG GrS noch unterstellt wurde, bei den Differenzierungsklauseln handele es sich um eine Art Beitrag der Außenseiter an die Gewerkschaften für die Nutzung des Tarifvertrages, steht nunmehr die Unterstützung durch den Arbeitgeber im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Auffassung des BAG GrS hinsichtlich der Beitragsleistung konnte nicht überzeugen; demgegenüber ist die unterstützende Wirkung der Differenzierungsklauseln unproblematisch festzustellen, da es hierbei nicht auf direkte Transferleistungen ankommt. Ob die Differenzie7. Aufl., Bd. II/1, S. 475; Wank, in: ders., TVG, 6. Aufl., § 4 Rn. 75. Für eine sofortige Beendigung der normativen Wirkung Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 355; Richardi, Kollektivgewalt, S. 219 f. Das BAG, Urt. v. 15.10.1986, AP Nr. 4 zu § 3 TVG (Bl. 2 R f.), hat es zunächst offen gelassen, ob eine Beendigung des Tarifvertrags erst nach Ablauf des normativen Teils (Befristung, Kündigung etc.) eintritt oder ob das Nachwirkungsstadium gem. § 4 Abs. 5 TVG (analog) direkt mit der Verbandsauflösung eintritt. Für eine sofortige Nachwirkung nunmehr BAG, Urt. v. 28.5.1997, AP Nr. 26 zu § 4 TVG Nachwirkung (Bl. 2 R f.); ebenso MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 255 Rn. 83, § 273 Rn. 19 (gegen eine Nachwirkung Löwisch in der Vorauflage, § 248 Rn. 80). 118 Vgl. zu dieser Unterscheidung unten S. 282 ff. 119 Kraft, ZfA 1976, 243 (260). Demgegenüber sieht Blomeyer, DB 1977, 101 (111), einen Tarifvertrag, der zu einer mittelbaren Beeinträchtigung der Gegnerunabhängigkeit führt, als rechtsgültig an. Welche Rechtsfolgen mit dem Verlust der Gegnerunabhängigkeit stattdessen verknüpft sein sollen, lässt Blomeyer allerdings offen. 120 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 33 f.; direkt hiergegen Floretta, DRdA 1968, 1 (11). Der Große Senat des BAG, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 14), hat dieses Argument erwähnt, jedoch nicht weiter verwendet. Nach Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 146, stellt die Gegnerunabhängigkeit ein plumpes Schwert dar, dem die Unzumutbarkeit der Tarifklausel für die Gegenseite vorzuziehen sei (vgl. hierzu unten S. 265 ff.). 121 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 34 (Hervorhebung nicht im Original).

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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rungsklauseln mit der Gegnerunabhängigkeit der Koalitionen in Konflikt geraten können, hängt maßgeblich davon ab, was unter „Gegnerunabhängigkeit“ zu verstehen ist. Darüber, wie rigoros dieses Kriterium zu handhaben ist, besteht in der Literatur Uneinigkeit. Zöllner möchte zwar nicht jede Hilfestellung der Gegenseite als Ausdruck schädlicher Abhängigkeit bewerten. Auf der anderen Seite sieht er aber die Fähigkeit zur sachgerechten Wahrnehmung der Koalitionsbelange dann gefährdet, „wenn nicht ganz unerhebliche direkte oder indirekte materielle Zuwendungen der Gegenseite vorliegen.“122 Auf eine tatsächliche – bereits eingetretene – Beeinträchtigung des verbandsinternen Willensbildungsprozesses komme es demnach nicht an. Seiner Ansicht nach stehen Differenzierungsklauseln unter der Motivation des Lastenausgleichs, sodass mittelbar der Arbeitgeber die Gewerkschaftsbeiträge aufbringt. Da aber für den Verlust der Koalitionsfähigkeit schon die potentielle Gegnerabhängigkeit genüge, reiche bereits die realistische Möglichkeit aus, dass die Gewerkschaft zu nicht sachgerechten Zugeständnissen bereit sein würde.123 Kraft und Bulla gehen noch einen Schritt weiter und legen das Prinzip der Gegnerunabhängigkeit strenger aus. Während Zöllner das Erfordernis der Gegnerunabhängigkeit nicht verabsolutieren möchte124 und eine gewisse Erheblichkeit der Unterstützungsleistungen fordert, gehen Kraft und Bulla davon aus, dass jede finanzielle Unterstützung der Gegenseite wenn nicht zur Abhängigkeit, so doch zur Gefahr der Abhängigkeit führt. Das Tarifvertragssystem baue aber gerade darauf auf, dass Tarifverträge von voneinander völlig unabhängigen Koalitionen geschlossen würden, um ihre typische Richtigkeitsgewähr zu begründen. Die Gefährdung der Unabhängigkeit würde folglich zu einer Gefährdung des Funktionierens des Tarifvertragssystems führen.125 Die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur sieht den Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit erst dann verletzt, wenn die Unterstützung durch die Gegenseite so erheblich ist, dass der Willensbildungsprozess der Gewerkschaft behindert wird, weil die Gewerkschaft ihre eigenen Interessen nicht mehr selbst bestimmen kann und es deshalb zu gravierenden Störungen kommt.126 Insbesondere sei bei bloß mittelbarer Unterstützung der Arbeitneh122 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 34; ebenso Blomeyer, DB 1977, 101 (111). 123 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 33 f. 124 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 34; unter Berufung auf Herschel, JZ 1965, 81 (82 f.). 125 Bulla, BB 1975, 889 (891); Kraft, ZfA 1976, 243 (261); ebenso Dietz, in: Dietz/ Nipperdey, Einziehung von Gewerkschaftsbeiträgen, S. 18 („keinerlei Unterstützung des Verbandes durch die Gegenseite“). 126 BAG, Urt. v. 20.4.1999, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk (Bl. 3 R f.); ArbG Kassel, Urt. v. 5.8.1976, ArbuR 1977, 157 (159); Blomeyer, DB 1977, 101 (111); Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 170; Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 524; Dietlein, ArbuR 1970, 200 (205); Fechner, Die tarifliche Regelung

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

merkoalition wegen der nur schwer messbaren Auswirkungen kein allzu strikter Maßstab anzulegen. Die Unabhängigkeit werde erst dann verletzt, wenn die mittelbare Begünstigung über unerhebliche Förderungsmaßnahmen hinausgehe und die Koalition unter den Einfluss der Gegenseite bringe.127 Eine solche – die Erheblichkeitsschwelle überschreitende – direkte Förderungsmaßnahme dürfte sicherlich dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber die gesamten Gewerkschaftsbeiträge seiner Arbeitnehmer zahlt (nicht zu verwechseln mit der Vereinbarung, die Beiträge für die Arbeitnehmer abzuführen). Wie oben dargestellt, können die Differenzierungsklauseln weder als Beiträge der Außenseiter noch des Arbeitgebers an die Gewerkschaften eingeordnet werden. Es ist zu berücksichtigen, dass der Gewerkschaft erst dann ein Vorteil erwächst, wenn neue Mitglieder eintreten oder Mitglieder vom Austritt abgehalten werden, also letztlich von der arbeitgeberseitigen Bevorzugung motiviert werden. Somit kann in der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln allenfalls eine mittelbare Förderung zu sehen sein. Bedenken gegen eine zu strenge Handhabung des Kriteriums der Gegnerunabhängigkeit bestehen deshalb, weil im Rahmen der Tarifautonomie immer Einflüsse durch die Gegenseite gegeben sind, sodass Unabhängigkeit nicht als hermetische Abschirmung verstanden werden kann.128 Eine solche absolute Unabhängigkeit der Koalitionen würde aber gerade die beispielsweise von Kraft und Bulla vertretene Auffassung voraussetzen. Das Verhalten der einen Seite hat immer auch Auswirkungen auf die Stellung der anderen Seite. Beispielsweise ist es ständige Rechtsprechung, dass der Arbeitgeber den Gewerkschaften die Mitgliederwerbung im Betrieb zu gestatten hat. Diese Form der Unterstützung wird sogar als „unerlässlich“ für Bestand und Betätigung der Gewerkschaften und damit als vom Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst angesehen. Hinsichtlich der Differenzierungsklauseln wird diese „Unerlässlichkeit“ nur ausnahmsweise behauptet. Wenn aber der Koalition noch andere – effektive – Mittel zur Stärkung von Mitgliederzahl und Kampfkraft zukommen, kann die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln die Gewerkschaft nicht in eine so starke Abhängigkeit bringen, dass ihr Willensbildungsprozess nicht mehr autonom abläuft, sondern vom sozialen Gegenspieler beeinflusst wird. Insbesondere im Hinblick auf bloß mittelbare Unterstützungen der Arbeitnehmerkoalition führt eine zu rigorose Abschottung der Koalitionen, da dann jede Leistung eine

der Abführung von Gewerkschaftsbeiträgen, S. 19; Galperin, DB 1970, 298 (298); Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 852, § 2 Rn. 15 ff.; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 72; Seitenzahl/Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 78 f.; Wlotzke, RdA 1976, 80 (81); Zachert, BB 1976, 514 (515 f.). 127 ArbG Kassel, DB 1976, 1675 (1675); Wlotzke, RdA 1976, 80 (81); Zachert, BB 1976, 514 (515 f.); in diesem Sinne auch Art. 2 Abs. 2 ILO-Übereinkommen Nr. 98. 128 Däubler, Gewerkschaftsrecht, Rn. 524; Hanau, JuS 1969, 213 (218); Herschel, ArbuR 1977, 137 (141).; Wlotzke, RdA 1976, 80 (81); Zachert, BB 1976, 514 (516).

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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Gefährdung der Gegnerunabhängigkeit zur Folge hat, zu weit. Bei unerheblichen Förderungen besteht soweit kein Erfahrungssatz, dass Abhängigkeiten produziert werden.129 Wollte man trotzdem den Koalitionen die Tarifmacht absprechen, hätte dies eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit zur Folge, ohne dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie dies erfordern oder gar hiervon profitieren würde. Für die Laufzeit des Tarifvertrags besteht für die Parteien zudem eine Durchführungspflicht, sodass die Gewerkschaft nicht vom Wohlwollen des Arbeitgebers abhängig ist, sondern die Verpflichtung zur Ungleichbehandlung – zumindest bei der Abstandsklausel sowie der im Firmentarifvertrag vereinbarten Tarifausschlussklausel – effektiv durchsetzen kann. Die mögliche Drohung, keinen vergleichbaren Tarifvertrag mehr abschließen zu wollen, gehört dagegen zum natürlichen Bestandteil von Tarifauseinandersetzungen und kann die Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen.130 Auch stehen einer lebensfähigen Gewerkschaft Druckmittel zur Verfügung, um sich einer Verletzung bzw. Aufhebung der Differenzierungsklausel durch den Arbeitgeber zu widersetzen, ohne zu schwerwiegenden Zugeständnissen hinsichtlich anderer tariflicher Vereinbarungen gezwungen zu werden.131 Demgegenüber verkennt Leventis die Problematik, wenn er ausführt, dass schwache Gewerkschaften, für deren Existenz die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln entscheidend sein kann, nicht die Kraft hätten, entsprechende Vereinbarungen durchzusetzen. Gerade bei diesen Gewerkschaften besteht die Gefahr, dass sie aufgrund freiwilliger Zugeständnisse, die sie ansonsten nicht erkämpfen könnten, in die Einflusssphäre der Arbeitgeberseite geraten. Letztendlich zeigt sich aber, dass die Differenzierungsklauseln nicht pauschal zur Abhängigkeit führen, bzw. ein Indiz für eine drohende Abhängigkeit sind. An einer Analyse des Einzelfalles dürfte kein Weg vorbeiführen. Mit der „potentiellen Gegnerabhängigkeit“ wird hingegen der Vielgestaltigkeit der Tarifwirklichkeit nicht ausreichend Rechnung getragen; auch wird der Tarifvertrag mit einem Element der Unsicherheit belastet, da dort, wo es an einer nachweisbaren Kausalität fehlt, auf Vermutungen zurückgegriffen werden muss. Zu geradezu absurden Ergebnissen muss es führen, wenn man die Abschottung der Koalitionen konsequent betreibt. Auch wenn Zöllners Ausführungen auf eine subjektives Merkmal hindeuten – „Unter diesem Gesichtspunkt (Anm.: der finanziellen Unterstützung) begegnet die Differenzierungsklausel vor allem dann besonderen Bedenken, wenn sie unter der Motivation des Lastenausgleichs steht.“132 –, so ist doch die Gegnerunabhängigkeit allein objektiv zu bestimmen; 129 LAG Düsseldorf, Entsch. v. 25.8.1995, ArbuR 1996, 238 (239); Blomeyer, DB 1977, 101 (111 Fn. 140). 130 Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 524; Wlotzke, RdA 1976, 80 (82). 131 Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 72. Siehe zur Erstreikbarkeit unten S. 310 ff.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

auf ein finales Element ist zu verzichten. Deshalb kann es auch nicht ausschlaggebend sein, ob sich die betroffene Gewerkschaft in ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt fühlt. Allein der Umstand, dass eine Gewerkschaft eine bestimmte Forderung erhebt und ihr unterstellt wird, dass sie ihre Unabhängigkeit nicht freiwillig aufgeben möchte133, kann auf die anhand objektiver Umstände zu ermittelnde Gegnerunabhängigkeit keinen Einfluss haben. Die Erfüllung der Koalitionseigenschaft i. S. d. Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht in das subjektive Belieben der Vereinigungen gestellt. Dann macht es – objektiv gesehen – keinen Unterschied, ob der Arbeitgeber freiwillig oder aufgrund einer Differenzierungsklausel zwischen tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern differenziert. Beide Fälle müssten hinsichtlich der Förderung der Gewerkschaft gleich behandelt werden. Das würde im Ergebnis bedeuten, dass es der Arbeitgeber in der Hand hätte, durch konsequente Anwendung des § 3 Abs. 1 TVG die Unabhängigkeit der Gewerkschaft zu beeinträchtigen. Ist der Arbeitgeber also verpflichtet, alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit dem Tarifvertrag zu unterwerfen? Offenbart sich möglicherweise in der Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer nach der Tarifgeltung eine dem Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG unterfallende, auf die „Vernichtung“ des Gegners abzielende koalitionsfeindliche Einstellung? Die Fragen zu stellen heißt, sie zu verneinen. Andernfalls würde das Fundament der Tarifautonomie untergraben. Hieran wird deutlich, dass die Handhabung des Anwendungsbereichs des Tarifvertrags – sei sie faktischer Natur durch den Arbeitgeber, sei sie bereits Inhalt des Tarifvertrags – in keinem Falle die Gegnerunabhängigkeit beeinträchtigen kann. Soweit entsprechende Wirkungen in der Praxis auftreten, sind diese als dem Tarifvertragssystem immanent anzusehen. Ansonsten käme man zu dem paradoxen Ergebnis, dass ein funktionierendes Tarifvertragswesen als Verstoß gegen das Tarifvertragssystem anzusehen wäre. Ein im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG rechtlich relevantes Abhängigkeitsverhältnis kann deshalb in der Anwendung des Tarifvertrags nicht gesehen werden. Vorteil dieser Lösung ist es, dass nicht Mutmaßungen darüber angestellt werden müssen, wie stark die Gewerkschaft durch die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln unter den Einfluss der Gegenseite gerät. Vergleichbar ist dieses Ergebnis mit der oben getroffenen Feststellung, dass – nach Abschluss eines besonders günstigen und vor allem werbewirksamen Tarifvertrags – die Drohung, keinen vergleichbaren Tarifvertrag mehr abzuschließen, zum natürlichen Bestandteil der Tarifauseinandersetzung gehört. Letztlich zeigt sich, dass die Tarifvertragsparteien nicht hermetisch voneinander abgeschirmt in separaten Räumen agieren, sondern 132 Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 34 (Hervorhebung nicht im Original). 133 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1171; auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 424, weist den Gewerkschaften die Kompetenz zu, zu entscheiden, ob sie ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt sehen.

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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zwangsläufig in Interaktion treten: Das Wirken der einen Seite bleibt nicht ohne Folgen für die Position der anderen Seite. Anders ist der Fall natürlich gelagert, wenn der Arbeitgeber der Gewerkschaft besondere Leistungen zuwendet, wie z. B. die bezahlte Freistellung für gewerkschaftliche Vertrauensleute oder ein besonderer Kündigungsschutz. Hier liegen (indirekte) materielle Zuwendungen bzw. sonstige Fördermaßnahmen des Arbeitgebers für die Gewerkschaft vor. Die Differenzierungsklauseln sind mit diesen Fallgestaltungen jedoch nicht vergleichbar.

VI. Schriftform In § 1 Abs. 2 TVG findet sich die Bestimmung: „Tarifverträge bedürfen der Schriftform.“ Dieses Formerfordernis könnte sich als unüberwindliche Hürde für die Differenzierungsklauseln – genauer: für die Abstandsklauseln – erweisen. Während einfache Differenzierungsklauseln und Tarifausschlussklauseln einen klaren Inhalt aufweisen und unmissverständlich für jedermann festlegen, was der Arbeitgeber zu tun und zu unterlassen hat, sind Abstandsklauseln notwendigerweise unbestimmt. Die Folge einer Abstandsklausel ist, dass sich das Leistungsniveau nicht abschließend dem Tarifvertrag entnehmen lässt, da Drehund Angelpunkt zumindest einzelner Leistungen die Behandlung der Außenseiterarbeitnehmer ist. Insofern sind also die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Damit besteht eine Vergleichbarkeit mit den Effektivklauseln, sodass sich das Problem stellt, ob Effektivklauseln und Abstandsklauseln hinsichtlich des Formerfordernisses gleich zu behandeln sind. Die Effektivklauseln zeichnen sich dadurch aus, dass eine Tariflohnerhöhung in jedem einzelnen Falle wirksam wird, und damit auch Arbeitnehmer hiervon profitieren, die bereits übertariflich entlohnt werden. Hierfür gibt es entweder die Möglichkeit, übertarifliche Lohnbestandteile tariflich zu garantieren (allgemeine Effektivklausel, auch Effektivgarantieklausel genannt) oder zumindest zu bestimmen, dass die Tariflohnerhöhung in jedem einzelnen Fall voll wirksam werden muss (beschränkte Effektivklausel). Ob solche Klauseln zulässig vereinbart werden können, ist umstritten.134 In seiner Rechtsprechung hat das BAG entsprechende Klauseln u. a. unter Hinweis auf das Schriftformerfordernis nach § 1 Abs. 2 TVG verworfen.135 134 Gegen die Zulässigkeit: BAG, Urt. v. 13.6.1958, BAGE 6, 31 ff.; Urt. v. 14.2.1968, AP Nr. 7 zu § 4 TVG Effektivklausel. Ebenso Brox/Rüthers, Arbeitsrecht, Rn. 716, 783; Etzel, ArbuR 1969, 257 (263, 267; anders aber für obligatorische Effektivklauseln [vgl. S. 268]); Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 450 ff.; Mayer-Maly, in: FS für Giger, S. 469 ff.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 412 ff., 420 ff.; Tomandl, ZAS 1969, 41 (54). Für die Wirksamkeit: Hansen, RdA 1985, 78 ff.; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 590 ff. Vgl. m. w. N. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 868 f. Fn. 514, 515, 519; Lieb, ZfA 1970, 197 (200 ff.).

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Die Ansprüche der einzelnen Arbeitnehmer lassen sich bei der Abstandsklausel zwar nicht unmittelbar dem Tarifvertrag entnehmen. Erst unter Zuhilfenahme der Leistungen, die der Arbeitgeber den Außenseitern gewährt, kann der genaue Inhalt der tarifvertraglichen Ansprüche ermittelt werden. Dies ist jedoch im Hinblick auf § 1 Abs. 2 TVG unschädlich. Sinn und Zweck der Schriftform ist es, Rechtsklarheit zu gewährleisten (Klarstellungsfunktion).136 Tarifverträge entfalten ihre Wirkung über den Kreis der Tarifvertragsparteien hinaus, sodass auch nicht am Tarifschluss beteiligte Dritte ein Interesse haben, den Tarifinhalt feststellen zu können. Dies gilt nicht nur für normative, sondern auch für schuldrechtliche Klauseln. Das Schriftformerfordernis gem. § 1 Abs. 2 TVG hat hingegen nicht den Zweck, die Tarifvertragsparteien vor Übereilung zu schützen. Insofern ist es nicht erforderlich, dass sich aus dem Tarifvertrag ausdrücklich die Höhe der Belastung ergibt, mit der die Tarifvertragsparteien zu rechnen haben. Weder das Schriftformerfordernis noch der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Bestimmtheitsgrundsatz stehen der Vereinbarung von Abstandsklauseln entgegen. Denn ausreichend, um Unsicherheiten bei den tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu vermeiden, ist es, wenn sich das Leistungsniveau unter Berücksichtigung äußerer Umstände eindeutig bestimmen lässt: Die Bestimmbarkeit ist also maßgeblich. § 1 Abs. 2 TVG erfordert hingegen nicht, dass alle auf der Grundlage eines Tarifvertrags berechneten Leistungen schriftlich/betragsmäßig niedergelegt und von den Tarifparteien auf einer Urkunde unterzeichnet werden.137 Mehr zu fordern hieße, die Klarstellungsfunktion des Schriftformerfordernisses zu überlasten; einen Schutz vor Übereilung soll § 1 Abs. 2 TVG gerade nicht bewirken. Es ist auch nichts Ungewöhnliches in der Tariflandschaft, dass bestimmte Leistungen nicht absolut im Tarifvertrag beziffert werden. So beziehen sich Überstundenzuschläge auf den Effektivver135 BAG, Urt. v. 13.6.1958, BAGE 6, 31 (33 f.); Urt. v. 14.2.1968, AP Nr. 7 zu § 4 TVG Effektivklausel (Bl. 5[R]). Ebenso Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 598 Fn. 56a. Die Schriftform halten für eingehalten: Brox/Müller, Anm. zu BAG, AP Nr. 15 zu § 4 TVG Effektivklausel (Bl. 15 f.); Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 602; Etzel, ArbuR 1969, 257 (258 f., 263); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 869; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 179; Kempen/Zachert, TVG, § 4 Rn. 221; Rumpff, BB 1968, 1161 (1162 Fn. 10); Stahlhacke, DB 1969, 791 (794 f.); Tomandl, ZAS 1969, 41 (46 f.). 136 BAG, Urt. v. 9.7.1980, Urt. v. 10.11.1982, AP Nr. 7 (Bl. 2 R), 8 (Bl. 2 R) zu § 1 TVG Form; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 602; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 516 f.; Kempen/Zachert, TVG, § 1 Rn. 368; Wiedemann, in: ders., 6. Aufl., TVG, § 1 Rn. 228; siehe ausführlich hierzu Mangen, RdA 1982, 229 (230 f.). 137 Etzel, ArbuR 1969, 257 (259); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 869. Siehe bereits oben S. 171 f. die Bedenken, ob die Abstandsklausel auch dann den Bestimmtheitsanforderungen genügt, wenn sie jede individuelle Leistung in Bezug nimmt, auf einen kollektiven Tatbestand also verzichtet.

A. Innere Schranken der Tarifmacht

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dienst.138 Nach allgemeiner Ansicht ist eine Tarifnorm zulässig, die die nähere Ausgestaltung einem Dritten überlässt.139 In der Regel sehen solche Klauseln so aus, dass im Tarifvertrag unbestimmte Rechtsbegriffe (beispielsweise „Entlohnung nach Leistung“) verwendet werden, die durch Dritte konkretisiert werden, oder ein bestimmter Rahmen festgelegt wird, der der Ausfüllung bedarf. „Dritte“ können beispielsweise die Betriebsparteien, die Parteien des Arbeitsvertrages oder Kommissionen sein; aber auch eine Delegation der Ausgestaltungsbefugnis an den Arbeitgeber ist denkbar. In allen diesen Fällen ist der konkrete Tarifinhalt nicht abschließend dem Tarifvertrag zu entnehmen. Nach der Rechtsprechung des BAG genügen die Tarifvertragsparteien den an sie gestellten Anforderungen, wenn sie Umfang und Adressat der Ermächtigung festlegen und damit auf Blankettübertragungen verzichten.140 Die genaue Höhe einer etwaigen Leistungszulage muss der Tarifvertrag dagegen nicht selbst festsetzen. Hierbei reicht die Angabe einer unteren und einer oberen Grenze.141 Bedenken hinsichtlich der Schriftform (§ 1 Abs. 2 TVG) wurden vom BAG nicht geäußert.142 Wenn aber ein Tarifvertrag den Schriftformerfordernissen des § 1 Abs. 2 TVG genügt, der die Leistungsbestimmung dem billigen Ermessen des Arbeitgebers überlässt (§§ 315, 317 BGB), dann muss dies erst Recht auf eine Abstandsklausel – und auch auf eine Effektivklausel – zutreffen, die den tarifvertraglichen Anspruch von einer konkreten Bezugsgröße abhängig macht und damit eine unproblematische Ermittlung der Leistungsansprüche anhand objektiver Kriterien ermöglicht. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass weder die Vereinbarung von Effektivklauseln noch die Vereinbarung von Abstandsklauseln den Formerfordernissen des § 1 Abs. 2 TVG zuwiderläuft.

VII. Ergebnis Die obigen Ausführungen haben ergeben, dass die Tarifmacht keine inneren Schranken aufweist, die der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln entgegenstehen. Den Gewerkschaften steht grundsätzlich die Tarifmacht zu, mittels 138 Vgl. hierzu Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 179; Stahlhacke, DB 1969, 791 (794 f.). 139 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 574 ff. (m. w. N. zur Rechtsprechung); Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 287 f.; Wiedemann, in: ders., TVG, 6. Aufl., § 1 Rn. 202 ff.; vgl. umfassend Baumann, Die Delegation tariflicher Rechtsetzungsbefugnisse (insb. S. 42 ff., 56 ff., 169 ff.), sowie speziell zur Zulässigkeit der AVE einer Bestimmungsklausel Hromadka, NJW 1970, 161 (165 f.). 140 BAG, Urt. v. 3.5.1978, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk (Bl. 3 R); Urt. v. 28.11.1984, AP Nr. 2 zu § 4 TVG Bestimmungsrecht (Bl. 3 R). 141 Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 440. 142 Vgl. Baumann, Die Delegation tariflicher Rechtsetzungsbefugnisse, S. 58.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

schuldrechtlicher Tarifklauseln auf die Rechtsstellung der Außenseiter (faktisch) einzuwirken. Dem TVG sind diesbezüglich keine Beschränkungen zu entnehmen, weder im Hinblick auf außenseiterbegünstigende, noch im Hinblick auf außenseiterbelastende Abreden. Auch wenn sich aus dem Günstigkeitsprinzip eine innere Schranke der Tarifmacht ergibt, stellen einfache Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln keine Höchstarbeitsbedingungen dar. Hingegen kollidieren die Tarifausschlussklauseln mit dem Günstigkeitsprinzips, woraus allerdings keine pauschale Unzulässigkeit resultiert; vielmehr ist eine Abwägung zwischen der Privatautonomie der Außenseiter und der positiven Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften erforderlich: § 4 Abs. 3 TVG schützt weder die Außenseiter ausdrücklich, noch ist eine Ausdehnung seines Anwendungsbereichs verfassungsrechtlich geboten. Ob die Gewerkschaften – zumindest durch Rechtsfortbildung – die Tarifmacht haben, durch Außenseiterbeiträge die „Nutzung“ des Tarifvertrags zu kommerzialisieren, braucht nicht entschieden zu werden, da in der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln kein Beitrag der Außenseiter an die tarifschließende Gewerkschaft zu sehen ist. Die Gewerkschaften geraten auch nicht unter den Einfluss der Arbeitgeberseite, sodass Differenzierungsklauseln der Gegnerunabhängigkeit nicht entgegenstehen. Schließlich lässt sich der Inhalt der Differenzierungsklauseln mit ausreichender Sicherheit bestimmen. Mehr wird von § 1 Abs. 2 TVG im Hinblick auf die Schriftform nicht gefordert.

B. Äußere Schranken der Tarifmacht Dass die Tarifvertragsparteien normative und schuldrechtliche Tarifabreden treffen können, die sich belastend auf die Position von Außenseitern auswirken können, sagt noch nichts darüber aus, ob auch entsprechende Differenzierungsklauseln vereinbart werden dürfen. Inwieweit Rechte Dritter der Vereinbarung entgegenstehen und damit eine äußere Schranke der Tarifmacht der Koalitionen bilden, ist eigenständig zu beurteilen. Dabei ist eine schematische Übernahme der Bewertungen für normative Tarifklauseln auf die schuldrechtlichen Tarifklauseln zu vermeiden. Eine solche ist aber in dem Postulat „Was normativ nicht vereinbart werden kann, darf auch schuldrechtlich nicht vereinbart werden.“143 zu sehen, wenn hiermit nicht nur eine Beschränkung der Tarifmacht auf die Mitglieder begründet wird, sondern auch die Verletzung der Rechtsordnung einbezogen wird. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber, indem er die Koalitionen durch Verleihung der Kompetenz zur Schaffung von Rechtsnormen gegenüber den „normalen“ Vereinigungen i. S. d. Art. 9 Abs. 1 GG privilegiert hat, komplementär hierzu die Möglichkeit der Koalitionen zur Vereinbarung schuldrechtlicher 143

Vgl. oben S. 220 ff.

B. Äußere Schranken der Tarifmacht

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Tarifklauseln einschränken wollte. Ansonsten würden den Koalitionen Vereinbarungsbefugnisse genommen, die anderen Vereinigungen ohne weiteres zustehen können.144 In gewissem Sinne läuft die Gegenauffassung auf ein Primat des Normativen hinaus: Es wird dabei übersehen, dass schuldrechtliche Klauseln nicht ein „Weniger“, sondern etwas qualitativ anderes sind als normative Klauseln. Natürlich soll an dieser Stelle nicht die besondere Wirkung von Rechtsnormen und ihre herausragende Bedeutung für die Tarifpraxis in Abrede gestellt werden. Soweit eine normative Wirkung möglich ist, wird diese in den meisten Fällen den Absichten der Tarifparteien am besten gerecht werden. Welchen Weg die Tarifparteien allerdings beschreiten, muss von ihren Interessen und ihrer freien Entscheidung abhängen; eine Verpflichtung zum Abschluss von Rechtsnormen kann § 1 TVG nicht entnommen werden. Ein rein schuldrechtlich wirkender Tarifvertrag ist durchaus möglich. Dies wird besonders daran deutlich, dass auch die Wahl der rechtlichen Ausgestaltung Teil der Tarifauseinandersetzung ist. „Auch normersetzende Verträge sind Tarifverträge i. S. des TVG. Denn mit welcher Intensität eine Regelung zwischen Tarifvertragsparteien auf das Einzelarbeitsverhältnis einwirken soll – normativ, schuldrechtlich mit Durchführungspflicht, bloße Empfehlung – gehört mit zu deren Inhalt. Auch um diesen Inhalt wird verhandelt, gestritten und notfalls gekämpft.“145 Von einer Umgehung verbotenen Tuns, die eine einheitliche Behandlung normativer und schuldrechtlicher Tarifinhalte rechtfertigen oder gar gebieten würde, kann aus diesem Grund nicht gesprochen werden. Deshalb sind beide rechtlichen Konstruktionen – normativ oder schuldrechtlich – nach den ihnen eigenen Rechtswirkungen zu bewerten.

I. Verstoß gegen Treu und Glauben (Unzumutbarkeit) Die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ist – genauso wie die der Arbeitnehmer – durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Wie bereits oben erwähnt146, ist die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit zu diskutieren. Im Gegensatz zum Außenseiter besteht beim Arbeitgeber die Besonderheit, dass er entweder – wie beim Firmentarifvertrag – Vertragspartei des Tarifvertrags ist oder durch seinen Verbandsbeitritt sich dem Tarifvertrag und den speziellen tariflichen und innerverbandlichen Folgen freiwillig unterworfen hat. Soweit hierin ein – auf den Gegenstand des Tarifvertrags beschränkter – Verzicht auf seine Vertragsfreiheit zu sehen ist, ist dieser nur rechtswirksam, wenn die Grenzen der Zumutbarkeit eingehalten wurden.147 144 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 97, spricht in diesem Zusammenhang von der Rechtsetzungsbefugnis als einem DanaerGeschenk. 145 MünchArbR-Löwisch/Rieble, § 254 Rn. 42. 146 Siehe oben S. 204 f.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Durch die tarifvertraglichen Differenzierungsklauseln wird der Arbeitgeber gehindert, mit den Außenseitern beliebige Arbeitsverträge zu schließen. Dies ist allerdings kein außergewöhnlicher Vorgang, da jeder Vertragsschluss mit (zukünftigen) Beschränkungen einhergeht. Soweit eine Leistung nur einmal erbracht werden kann, kann dieselbe Leistung nicht ein zweites Mal versprochen werden, ohne Schadensersatzpflichten auszulösen. Auch ein Versprechen, mit einer dritten Person nicht zu kontrahieren, ist grundsätzlich möglich; Ausnahmen können sich beispielsweise aus dem GWB oder allgemein aus § 138 BGB ergeben. Nichts anderes macht der Arbeitgeber, der sich durch einen Tarifvertrag bindet. Die Tarifparteien treffen selbst die Entscheidung, in welcher Art und in welchem Umfang sie Verpflichtungen eingehen wollen.148 An diesem Ergebnis ändert sich nur dann etwas, wenn die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln für den Arbeitgeber gegen Treu und Glauben verstößt. Dem § 242 BGB wird nach in Literatur und Rechtsprechung vertretener Ansicht der Grundsatz entnommen, dass eine Koalition von der gegnerischen Koalition nichts Unzumutbares verlangen darf: „§ 242 BGB verbietet es, sich einfach über die Belange des anderen hinwegzusetzen und die eigenen Interessen in einer für den anderen unzumutbaren Weise durchzusetzen.“149 Unzumutbare Vereinbarungen seien deshalb rechtswidrig. In der Sache besteht dabei kein Unterschied, ob man § 242 BGB auf den normativen Teil des Tarifvertrags anwendet, oder ob man seine Geltung auf den schuldrechtlichen Teil beschränkt und ansonsten auf den in § 242 BGB enthaltenen allgemeinen Rechtsgedanken zurückgreift, der auch im kollektiven Arbeitsrecht Geltung beansprucht.150 Die Unzumutbarkeit der Durchführung eines Tarifvertrags hat in der Regel ihre Bedeutung bei der Kündigung aus wichtigem Grund. Auf § 242 BGB als Grenze der Tarifmacht für den Abschluss bestimmter Inhaltsnormen wurde – soweit ersichtlich – erstmalig im Rahmen der Diskussion um die Zulässigkeit von Tarifvereinbarungen, die die Arbeitgeber zur Abführung von Gewerkschaftsbeiträgen verpflichten sollten, abgestellt.151 Die Unzumutbarkeit der Differenzierungsklauseln wird unter vielfältigen Aspekten in Erwägung gezogen. Der Arbeitge147 Ähnlich Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 71 f. 148 A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 211; Gitter, JurA 1970, 148 (156 f.). 149 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22); ebenso Kraft, ZfA 1976, 243 (259). 150 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22): „Im Verhältnis der Koalitionen gilt § 242 BGB mit dem gleichen Gewicht wie im individuellen Rechtsverkehr.“ In jüngeren Entscheidungen wird vom BAG allerdings die Anwendung des § 242 BGB auf tarifliche Normen abgelehnt; vgl. BAG, Urt. v. 6.2.1985, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Süßwarenindustrie. Für den allgemeinen Rechtsgedanken: Gitter, ArbuR 1970, 129 (131); ders., JurA 1970, 148 (158); Bötticher, Die Gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 146 f.

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berverband könnte unzumutbar gezwungen sein, die gegnerische Koalition zu unterstützen. Der Arbeitgeber könnte unzumutbar gezwungen sein, (in Ausführung des Tarifvertrags seines Verbandes) die gegnerische Gewerkschaft zu fördern, und er könnte unzumutbar gezwungen sein, gegenüber den Außenseitern Änderungskündigungen auszusprechen, um Differenzierungsklauseln durchzusetzen und eine Differenzierung herbeizuführen. Darüber hinaus ist als Besonderheit des Arbeitsrechts zu berücksichtigen, dass ein entsprechender Tarifvertrag nicht nur „freiwillig“ abgeschlossen, sondern auch aufgrund eines Arbeitskampfs erzwungen werden kann. 1. Förderung der gegnerischen Koalition a) Unzumutbarkeitskriterium Eine Tarifklausel wird nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht dann als unzumutbar angesehen, wenn eine Koalition die gegnerische Koalition für koalitionspolitische Ziele in Anspruch nimmt. Sekuritätspolitische Tarifklauseln wie z. B. Differenzierungsklauseln dienten allein dazu, die eigenen Verbandsinteressen in Zukunft noch wirkungsvoller durchsetzen zu können. Es widerspreche aber dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB), Forderungen zu erheben oder sogar zu erstreiken, durch die der soziale Gegenspieler zu solchen Maßnahmen verpflichtet werde, die allein die eigene Verbandsmacht stärkten.152 Der Große Senat des BAG hat sich diese Sichtweise zu Eigen gemacht und ausgeführt: „Nach den allgemeinen Maßstäben der Gerechtigkeit ist es einer Arbeitgeberkoalition aber jedenfalls nicht zuzumuten, sich in einer solchen Weise in die Dienste des Koalitionsgegners spannen zu lassen, wie es in den bisher bekannt gewordenen und erörterten Differenzierungsklauseln geschehen soll.“153

Die Unzumutbarkeit kann hingegen nicht mit der (unmittelbaren) wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers begründet werden. Für die Arbeitgeberseite 151 Däubler, BB 2002, 1643 (1648); Gitter, ArbuR 1970, 129 (129); ders., JurA 1970, 148 (156). Vgl. beispielsweise Dieckhoff, BB 1964, 927 (928 f.); Fechner, Die tarifliche Regelung der Abführung von Gewerkschaftsbeiträgen, S. 15 f.; Nipperdey, in: Dietz/Nipperdey, Einziehung von Gewerkschaftsbeiträgen, 1963, S. 41. 152 Bulla, BB 1975, 889 (892); Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 121 ff.; Kraft ZfA 1976, 243 (259 f.); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 52, 67; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 442, 463; ähnlich im Hinblick auf ein aus der Verfassung abgeleitetes Gebot zur Sozialparität Mayer-Maly, in: GS für Peters, S. 938 ff. (insb. S. 946 f., 949). Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 171, verknüpft entsprechend Zumutbarkeit und Gegnerunabhängigkeit. 153 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22 R); ebenso KG Berlin, Urt. v. 21.2.1990, AP Nr. 60 zu Art. 9 GG (Bl. 4 R). Im Beschl. v. 21.4.1983, AP Nr. 20 zu § 40 BetrVG 1972 (Bl. 5 R), hat das BAG festgestellt, dass im Verhältnis der Betriebsparteien § 2 Abs. 1 BetrVG den § 242 BGB verdrängt.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

können Differenzierungsklauseln – insbesondere Tarifausschlussklauseln – sogar wirtschaftlich vorteilhaft sein. Schließlich verbleiben die Außenseiter bzw. die Nichtorganisierten zwangsläufig unterhalb des den tarifgebunden Arbeitnehmern garantierten Leistungsniveaus, wenn sich der Arbeitgeber nicht auf eine individualvertragliche Zusatzvereinbarung einlässt. Das BAG hebt seine Argumentation auf eine abstraktere Ebene und sieht in der mit den Differenzierungsklauseln einhergehenden Ungleichbehandlung von Organisierten und Nichtorganisierten den Betriebsfrieden und damit den unternehmerischen Erfolg gefährdet. Die Rücksichtnahme der Arbeitgeberseite auf die Belange des Sozialpartners (Gewerkschaften) habe hinter diesem ureigensten Interesse der Arbeitgeberseite zurückzustehen.154 b) Vergleichbare Fälle Gedanken der Zumutbarkeit spielen nicht allein bei den Differenzierungsklauseln eine Rolle. Auch bei anderen Fragen des kollektiven Arbeitsrechts wird auf dieses Argumentationsmuster zurückgegriffen. Eine vergleichbare Problematik besteht beispielsweise bei den Tarifverträgen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute. Auch diese dienen – etwa durch besonderen Kündigungsschutz oder bezahlte Freistellung – der effektiven gewerkschaftlichen Organisation. Deshalb ist es Teil der diesbezüglichen Erörterungen, ob entsprechende Tarifklauseln dem Arbeitgeber zuzumuten sind.155 Die Zulässigkeit der Einziehung der Gewerkschaftsbeiträge durch den Arbeitgeber wurde ebenfalls an der Zumutbarkeit gemessen (und im Ergebnis unterschiedlich beurteilt).156 Auch bei der Frage, ob und mit welchem Inhalt eine tarifvertragliche Einwirkungspflicht zur Durchsetzung eines Tarifvertrags besteht, wird auf die Unzumutbarkeit abgestellt.157

154 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22 R); siehe hiergegen Radke, ArbuR 1971, 4 (15 Fn. 26); Gitter, JurA 1971, 148 (158); auch bei Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 67, steht der Schutz des Betriebsfriedens im Vordergrund. Vgl. exemplarisch die Ausführungen des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, RdA 1962, 148 f. 155 Vgl. Blomeyer, EB 1977, 101 (106 f.); Bulla, BB 1975, 889 (892); Dieter, Vertrauensleute, S. 185 ff.; Kraft, ZfA 1976, 243 (259 f.); Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 852; bei Bötticher, RdA 1978, 133 (140 f.), erfolgt eine explizite Gegenüberstellung von Differenzierungs- und Absicherungsklauseln für Vertrauensleute. 156 Siehe oben S. 267 Fn. 151. 157 BAG, Urt. v. 29.4.1992, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Durchführungspflicht (Bl. 4 f.); Buchner, DB 1992, 572 (580); hiergegen Wallisch, Die tarifvertraglichen Einwirkungspflichten, S. 113 ff.

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c) Kritik an der Anwendung der Zumutbarkeit auf Tarifverträge aa) Unzumutbarkeit im direkten Vertragsverhältnis Die Unzumutbarkeit eines Tarifvertrags kann zunächst im Verhältnis der Tarifvertragsparteien, d.h. der Arbeitgeber(-verbände) und der Gewerkschaften zueinander bestehen. Bereits an der „Zumutbarkeit“ als Rechtswidrigkeitsgrund bestehen jedoch Zweifel, da aufgrund der Tarifautonomie die Parteien selbst entscheiden, was sie sich zumuten wollen.158. Beispielsweise wurde laut Sachverhaltsangabe des BAG GrS in seiner Differenzierungsklauselentscheidung der die Differenzierung enthaltende Tarifvertrag mit diversen Arbeitgebern abgeschlossen. In solchen Fällen ist das Kriterium der Zumutbarkeit als Maßstab für das Verhältnis zwischen den Tarifvertragsparteien abzulehnen. Dies muss jedenfalls für die anfängliche Unzumutbarkeit gelten; die nachträgliche – d.h. nach Vertragsschluss eintretende – Unzumutbarkeit mag weiterhin als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung des Tarifvertrags ihre Bedeutung haben, was in Bezug auf die Differenzierungsklauseln aber dahingestellt bleiben kann. Denn schließlich geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht um die (nicht vorhersehbare) Veränderung von Umständen, die einer Vertragsdurchführung besondere Hindernisse entgegenstellen, wie sie für die Unzumutbarkeit im Rahmen des allgemeinen Vertragsrechts maßgeblich sind.159 Vielmehr geht es um eine Unzumutbarkeit, die bereits im Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung bestehen müsste, auch wenn die Tinte unter dem Tarifvertrag noch nicht getrocknet ist. Dass eine Vertragsdurchführung bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses einem der Vertragsteile aufgrund bekannter Umstände unzumutbar und deshalb nichtig sein soll, ist dem allgemeinen Zivilrecht unbekannt. Für ein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 2 BGB ist ein unverhältnismäßiger Aufwand zur Leistungserbringung erforderlich, während § 275 Abs. 3 BGB das Bestehen von Hindernissen, die der Leistung entgegenstehen, voraussetzt. Beide Fälle sind nicht auf Abreden zur Förderung der gegnerischen Koalition übertragbar. Insbesondere ist die Durchführung von Differenzierungsklauseln nicht 158 BAG, Urt. v. 20.4.1999, AP Nr. 28 zu § 1 TVG Tarifverträge: Rundfunk (Bl. 3 R); LAG Düsseldorf, Urt. v. 25.8.1995, ArbuR 1996, 238 (239); Belling/Hartmann, ZfA 1997, 87 (99 f.); Blomeyer, ZfA 1980, 1 (16); Bulla, BB 1975, 889 (892 Fn. 46); Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 528; Gitter, ArbuR 1970, 129 (131); Herschel, ArbuR 1977, 137 (142); ders., ArbuR 1979, 183 (184); ders., in: FS für Nikisch, S. 59; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 157; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 69 f.; Ritter, JZ 1969, 111 (112); A. Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 364; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 463; Wlotzke, RdA 1976, 80 (83); Zachert, BB 1976, 514 (517); gegen Herschel wiederum Bötticher, RdA 1978, 133 (141), der als Maßstab der Zumutbarkeit nicht auf den konkreten, sondern auf den „verständigen Arbeitgeber“ abstellen möchte. 159 Säcker/Oetker, Grundlagen, S. 228; Weiss, Vertrauensleute, S. 49 f.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

notwendig mit rechtlichen oder tatsächlichen Hindernissen verbunden. Vielmehr hängt es allein von einer Entscheidung der Arbeitgeber ab, ob sie ihre Vertragsbzw. Verbandspflichten erfüllen. Für Zumutbarkeitserwägungen ist allein dann Raum, wenn es um die Pflicht des Arbeitgeberverbands geht, die Einhaltung des Tarifvertrags gegenüber seinen Mitgliedern durchzusetzen. Zudem stellt § 311a Abs. 1 BGB klar, dass auch bei Vorliegen dieser Voraussetzungen der Vertrag wirksam bleibt; das gilt nach Abs. 2 S. 2 sogar dann, wenn dem Schuldner die Unzumutbarkeit im Zeitpunkt des Vertragsschlusses unbekannt war. Dementsprechend besteht eine klare Stellungnahme des Gesetzgebers zugunsten der Wirksamkeit eines Vertrages trotz anfänglicher Leistungshindernisse.160 Allein nach Maßgabe des § 138 BGB als Ausdruck einer unverzichtbaren Grenze der Vereinbarungsbefugnis können die Parteien bei einer im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorliegenden Unzumutbarkeit vor sich selbst geschützt werden,161 da die Sittenwidrigkeit ein vom übereinstimmenden Willen der Parteien unabhängiges Kriterium ist. Bis zu dieser Grenze sind Verträge als rechtsgültig und durchführbar anzusehen, auch wenn einseitig eine Partei begünstigt wird. bb) Unzumutbarkeit beim Verbandstarifvertrag Auch wenn sich die anfängliche Unzumutbarkeit nicht aus der unmittelbaren vertraglichen Beziehung der Tarifvertragsparteien ergeben kann, könnte ein Verstoß gegen § 242 BGB darauf gestützt werden, dass der Arbeitgeberverband Normen setzt, die seine Mitglieder zur Unterstützung der Gewerkschaft verpflichten und ihnen dadurch ein Verhalten zumutet, welches nicht durch den Verbandsbeitritt legitimiert ist. Als Folge dieser Überschreitung des Verbandsverhältnisses fehle dem Verband die Tarifmacht zur Vereinbarung entsprechender Klauseln.162 Die Autonomie der Tarifvertragsparteien ist demgegenüber bei Firmentarifverträgen zu respektieren, da hier der Arbeitgeber unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt des Tarifvertrags hat; bei einem solchen Tarifvertrag kann sich der Arbeitgeber jedenfalls nicht auf die aus dem Verhältnis zum Arbeitgeberverband abgeleitete Unzumutbarkeit berufen.163 Der diesbezügliche Unterschied zwischen Firmentarifvertrag und Verbandstarifvertrag bzw. von „direk160 Ähnlich Blomeyer, DB 1977, 101 (106); Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 528 Fn. 889, die allerdings auf die anfängliche objektive Unmöglichkeit nach § 306 BGB a. F. als einzige Fallgruppe der anfänglichen Nichtigkeit und damit als Ausdruck einer gesetzgeberischen Entscheidung abgestellt haben. 161 Vgl. Gitter, ArbuR 1970, 129 (132 Fn. 21); Reuß, ArbuR 1970, 33 (34); Ritter, JZ 1969, 111 (112). 162 Blomeyer, ZfA 1980, 1 (15); Bötticher, Die gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 122, 146 f.; Gitter, ArbuR 1970, 129 (132); Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 67. 163 Siehe oben S. 269 Fn. 158.

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ter“ und verbandsinterner Unzumutbarkeit wird vom Großen Senat des BAG verkannt. Denn der Große Senat spricht von der Unzumutbarkeit für die Arbeitgeberkoalition.164 Diese ist aber – genauso wie der einzelne Arbeitgeber beim Firmentarifvertrag – unmittelbar am Tarifabschluss beteiligt, wohingegen der verbandsangehörige Arbeitnehmer nach der herrschenden Verbandstheorie nicht Tarifvertragspartei ist. Auf den ersten Blick scheint das zuerst von Bötticher vorgebrachte Argument, die Unzumutbarkeit sei aus dem Verhältnis Arbeitgeberverband-Arbeitgeber herzuleiten, eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch die Fragwürdigkeit der dogmatischen Konstruktion dar. Als Folge hiervon ergibt sich, dass Firmentarifvertrag und Verbandstarifvertrag nicht mehr Äquivalente sind: Was Gegenstand des ersteren sein kann, kann nicht Gegenstand des letzteren sein. Die Gewerkschaft könnte mit sämtlichen Arbeitgebern eines Tarifgebiets Tarifverträge mit Differenzierungsklauseln vereinbaren, der Weg über den Arbeitgeberverband und den Verbandstarifvertrag wäre ihr aber versagt. Die aus Art. 9 Abs. 3 GG und dem TVG abgeleitete Tarifmacht ist aber unabhängig von der Art des Tarifvertrages; für einen qualitativen Unterschied zwischen Firmentarifvertrag und Verbandstarifvertrag gibt es im ausgestaltenden TVG keinen Anhaltspunkt.165 Die Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers dient der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und zugleich dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit, da der Verbandsbeitritt freiwillig bleiben kann. Der Firmentarifvertrag ist demnach ein Substitut für den Verbandstarifvertrag. Weitere Zweifel ergeben sich im Hinblick darauf, dass nach Böttichers Argumentation die verbandsinternen Verhältnisse die Tarifmacht begrenzen können. Was der Verband seinen Mitgliedern zumutet und zumuten kann, ist eine innerverbandliche Angelegenheit, die eng mit der internen Willenbildung verknüpft ist. Mutet der Verband seinen Mitgliedern Unzumutbares zu, hat dies in erster Linie verbandsinterne Folgen.166 In letzter Konsequenz muss der Arbeitgeber einen Verband, der seinen Interessen grundlegend zuwiderläuft, verlassen. Wie soll nun eine Verletzung der Verpflichtungen des Verbandes gegenüber seinen Mitgliedern seine Tarifmacht nach außen beschränken? Dies erinnert sehr an die im angloamerikanischen Recht entwickelte ultravires-Lehre, die allerdings im deutschen Rechtssystem – zumindest für juristische Personen des Privatrechts – keine Stütze findet.167 Auch bestehen An164

BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22 R). Weiss, Vertrauensleute, S. 51. 166 Ähnliche Bedenken äußert auch Gitter, JurA 1970, 129 (133), der diese aber nicht weiterverfolgt. Ebenso Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 168 f.; Säcker/ Oetker, Grundlagen, S. 230 f.; Weiss, Vertrauensleute, S. 50; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 464; eine Bindung der Tarifvertragsparteien an interne Verbandspflichten lehnt auch Oetker, in: Wiedemann, TVG, 6. Aufl., § 2 Rn. 145, ab. 167 Karsten Schmidt, AcP Bd. 184 (1984), 529 (530 f.); Palandt-Heinrichs, Einf. v. § 21 Rn. 11; offen gelassen von BGH, Urt. v. 28.2.1956, BGHZ 20, 119 (123 f.). 165

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

klänge an die (durch §§ 1, Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG überholte) Vertretungstheorie, nach der der Tarifvertrag dadurch unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die Tarifvertragsparteien ihre Mitglieder vertreten. Bötticher geht davon aus, dass die Verbandsmitglieder durch ihren Verbandsbeitritt nicht in die Vereinbarung unzumutbarer Tarifverträge eingewilligt haben. Überschreitet der Verband diese ihm gezogene Grenze, wird er als Vertreter ohne Vertretungsmacht behandelt und verliert seine Tarifmacht. Der Verbandsbeitritt erhält damit den Charakter eines Vertrages zu Lasten Dritter, da die mit dem Beitritt verfolgten Motive, soweit sie eine (satzungs-)rechtliche Ausgestaltung erfahren haben, die Gewerkschaft und die tarifgebundenen Arbeitnehmer belasten. Diese Konstruktion ist nicht mit der unmittelbaren Wirkung der Tarifnormen vereinbar, die eine Stellvertretung ausschließt; auch bei schuldrechtlichen Tarifvereinbarungen ist anerkannt, dass sie in der Regel nicht in Stellvertretung der Verbandsmitglieder erfolgen. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Normwirkung des Tarifvertrags mitgliedschaftlich legitimiert wird, ist dies eine prinzipielle Sache und hat nichts mit dem Inhalt des konkreten Tarifvertrags und seiner allgemeinen – vom TVG zugewiesenen – Rechtswirkung zu tun. Was Inhalt eines Tarifvertrags sein kann, ergibt sich aus dem einfachen Recht (insb. dem TVG) als Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit und ergänzend aus Art. 9 Abs. 3 GG, nicht aber aus dem jeweiligen Beitritt zur Koalition bzw. der koalitionsinternen Willensbildung. Die nachteiligen Auswirkungen der (verbandsinternen) Unzumutbarkeit treffen den sozialen Gegenspieler. Für die tarifschließende Gewerkschaft ist nicht ersichtlich, ob die Arbeitgeber mit dem konkreten Tarifvertrag einverstanden sind und dadurch – wie auch die Koalitionen selber – darüber entschieden haben, was sie sich zumuten wollen. Wenn die Tarifmacht vom verbandsinternen Willensbildungsprozess abhängt und die Billigung der „objektiv unzumutbaren Regelung“ durch die betroffenen Arbeitgeber die Unzumutbarkeit ausschließen kann, wird der Tarifvertrag mit einem nicht hinnehmbaren Element der Rechtsunsicherheit belastet.168 Andererseits würde der Gesichtspunkt der UnzumutbarDemgegenüber sprechen Belling/Hartmann, ZfA 1997, 87 (140), davon, dass ein Verband, der für seine Mitglieder unzumutbares vereinbart, „ultra vires“ handelt. 168 Ähnliche Bedenken bei Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 464. Mit der Billigung des Tarifschlusses setzt sich Blomeyer, ZfA 1980, 1 (16 f.), auseinander, der allerdings auch eine verbandsinterne Mehrheitsentscheidung nicht ausreichen lässt. Nicht verwechselt werden darf die Rechtsunsicherheit, ob eine „Einwilligung“ vorliegt mit der Unsicherheit, ob die jeweilige Klausel inhaltlich unzumutbar ist. Soweit Differenzierungsklauseln pauschal als unzumutbar eingestuft werden, bestehen klare Verhältnisse. Jedenfalls kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass die „Unzumutbarkeit“ zu „gefühlsbeladen“ sei, um das erforderliche Maß an Rechtssicherheit zu gewährleisten (so aber Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 124; vgl. hiergegen Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 66). Dies gilt allerdings dann nicht, wenn man den Gedanken der Unzumutbarkeit verallgemeinert und auf Fälle ausdehnt, bei denen es nicht um die Förderung des sozialen Gegenspielers geht, sondern beispielsweise aufgrund der Höhe der vereinbarten tariflichen Leistungen ein Unternehmen in seiner

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keit die Überprüfbarkeit des Tarifvertrags durch die Gerichte ermöglichen. Denn erst anhand des konkreten Tarifvertragsinhalts ließe sich eine Aussage über die Beeinträchtigung von Positionen der Beteiligten treffen. Eine dahingehende Rechtmäßigkeitskontrolle trägt aber die Gefahr einer unzulässigen Zweckmäßigkeitskontrolle und damit der Tarifzensur in sich.169 Von einer Tarifautonomie kann nicht mehr gesprochen werden, wenn nicht die Tarifvertragsparteien über den Inhalt eines Tarifvertrags und damit über das, was sie sich und ihren Verbandsmitgliedern zumuten wollen entscheiden, sondern der Staat verbindliche Vorgaben macht und über deren Einhaltung wacht. Bei konsequenter Fortführung der Rechtsprechung des Großen Senats des BAG wäre der Inhalt des Tarifvertrags justitiabel: Beispielsweise könnte, da der Große Senat des BAG den „unternehmerischen Erfolg“ als abwägungsrelevanten Wert ansieht, der einzelne Arbeitgeber von einem hohen Lohntarifabschluss, der ihn in wirtschaftliche Bedrängnis bringt und seinen Bestand gefährdet, unzumutbar belastet werden.170 d) Kritik an der inhaltlichen Ausfüllung der Zumutbarkeit Nicht nur das Messen des Tarifvertrags am Kriterium der anfänglichen (Un-) Zumutbarkeit ist zu kritisieren; auch das inhaltliche Ausfüllen dieses unbestimmten Rechtsbegriffs durch den Großen Senat des BAG ist Bedenken ausgesetzt. Es ist durchaus zweifelhaft, warum es einer Koalition unzumutbar sein soll, mittelbar die gegnerische Koalition zu stärken. Denn das Tarifrecht baut – in den Grenzen der Gegnerfreiheit – auf dem Zusammenwirken der Tarifparteien auf.171 Insoweit spricht die Tarifpraxis dagegen, dass die Arbeitgeberseite vor sich selber geschützt werden muss. Auch unterfallen sekuritätspolitische Maßnahmen dem Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 3 GG. Wenn aber auf die Stärkung der Gewerkschaft abzielende Tarifklauseln pauschal als unzumutbar angesehen werden, hieße das, dass die Rechte der Arbeitgeberseite gegenüber der Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften vorrangig sind. Warum allerdings das Interesse am unternehmerischen Erfolg in jedem Falle das Interesse Existenz bedroht wird. Dementsprechend möchte Gitter, JurA 1970, 129 (133), eine Unzumutbarkeit nur noch dort annehmen, wo eine Interessenabwägung zu einem unzweifelhaften Ergebnis führt. 169 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 167; Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 528; ders., BB 2002, 1643 (1648); Blomeyer, DB 1977, 101 (107); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 334; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 852; Struck, Vertrauensleute, S. 127; Wlotzke, RdA 1976, 80 (83). 170 In diesem Sinne die Befürchtung von ArbG Kassel, Urt. v. 5.8.1976, ArbuR 1977, 157 (159); vgl. auch Reuß, ArbuR 1970, 33 (34). 171 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 124; A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 211. Nach Fechner, Die tarifliche Abführung von Gewerkschaftsbeiträgen, S. 4 f., bestanden vornehmlich in der Bekleidungsindustrie eine Reihe tariflicher Vereinbarung zum Beitragseinzug unbeanstandet.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

der Gewerkschaft an einer Stärkung der eigenen Durchsetzungsfähigkeit überwiegen soll, ist nicht plausibel. Eine solche Wertung kann dem TVG oder dem § 242 BGB jedenfalls nicht entnommen werden. Letztendlich ist es Teil der Tarifautonomie, dass die Tarifparteien darüber befinden, wie das Interesse der Arbeitgeber am optimalen unternehmerischen Erfolg und das Interesse der Arbeitnehmer an möglichst günstigen Arbeitsbedingungen auszugleichen ist. Vereinzelt wird in der Literatur versucht, die Unzumutbarkeit damit zu begründen, dass dem Arbeitgeber ein Freiheitsbereich verbleiben müsse, innerhalb dessen eine tarifvertragliche Regelung zu unterbleiben habe.172 Dieser Freiheitsbereich werde beeinträchtigt, wenn der Arbeitgeber zur Vornahme einer Differenzierung gezwungen werde, die nicht an der Leistung der Arbeitnehmer ausgerichtet sei, sondern die Prämiierung der Gewerkschaft bezwecke. Insofern wird an die von Siebert geprägte Lehre von der Individualsphäre des Arbeitnehmers angeknüpft, die beinhaltet, dass bestimmte Lebensbereiche der Vereinbarungsbefugnis der Tarifparteien entzogen sind.173 Auf die Individualsphäre wurde insbesondere bei der Bewertung von Lohnverwendungsklauseln Bezug genommen. Durch diese Klauseln sollte den Arbeitnehmern die Verwendung ihres Lohnes in einer bestimmten Art und Weise – beispielsweise zum Kauf unternehmenseigener Produkte – vorgeschrieben werden. Das Rekurrieren auf einen unantastbaren Freiheitsbereich ist nicht überzeugend, da im Ergebnis Ursache und Wirkung vertauscht werden. Gamillscheg hat zu Recht betont, dass die Berufung auf die Individualsphäre das Ergebnis einer Abwägung ist, d.h., es muss sich aus anderen Aspekten des geltenden Rechts ein Bereich ergeben, der dem Zugriff der Tarifvertragsparteien entzogen ist.174 Ebenso haben Zöllner/Loritz festgestellt: „Das Schlagwort von der kollektivfreien Individualsphäre stellt aber nur eine Beschreibung der Rechtsfolgen dar. Es vermag weder anzugeben, auf welche Rechtsgrundlagen sich die Eingriffsfreiheit stützt, noch wo die Grenzen verlaufen.“175 In diesem Sinne hat das BAG beispielsweise entschieden, dass eine Betriebsvereinbarung, die den Arbeitnehmer zur Beteiligung an den Unkosten einheitlicher Arbeitskleidung verpflichtet, gegen das aus dem Günstigkeitsprinzip abzuleitende Verbot ver172 Bötticher, Die gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 120; Bulla, BB 1975, 889 (892, 893); Merker, DB 1960, 263 (266); auch Gitter, ArbuR 1970, 129 (133), zieht es in Erwägung, Fälle der Individualsphäre unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit zu behandeln. 173 Siebert, BB 1953, 241 ff.; ders., FS für Nipperdey, 1955, S. 128 ff.; zusammenfassend Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 227 ff.; klar gegen die Anerkennung einer Individualsphäre Herschel, Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D. 21 ff. 174 Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 79; zustimmend Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 71; Zachert, BB 1976, 514 (518). 175 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 38 III 4, S. 429 (Hervorhebung im Original).

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stößt, materielle Arbeitsbedingungen ausschließlich zuungunsten des Arbeitnehmers zu gestalten: „Ob und wie er seinen Lohn verwenden will, entscheidet der Arbeitnehmer selbst. Die Einschränkung der Verfügungsbefugnis über sein Entgelt ist zumindest immer dann eine ungünstige Regelung, wenn die Gegenleistung des Arbeitgebers – hier die Gestellung der Arbeitskleidung – allein in dessen Interesse erfolgt.“176 Hieran wird deutlich, dass für die Abgrenzung einer Individualsphäre das außerhalb ihrer selbst liegende Günstigkeitsprinzip maßgeblich ist. Übertragen auf die Differenzierungsklauseln bedeutet das, dass die Zumutbarkeit einer Tarifvereinbarung (möglicherweise) maßgebend für die Reichweite der Individualsphäre ist, nicht aber umgekehrt die Individualsphäre die Unzumutbarkeit begründet und originär die Tarifmacht beschränken kann. 2. Zwang zur Änderungskündigung Bei Lehna klingt an, dass die Tarifausschlussklausel für den Arbeitgeber unzumutbar sein könnte, da er durch den Tarifvertrag gezwungen sei, gegenüber dem Außenseiter eine Änderungskündigung auszusprechen, um ihn anschließend untertariflich weiterzubeschäftigen.177 Dieser Einwand ist jedoch fern liegend, da der Außenseiter, der auf den Tarifvertrag Bezug nimmt, nicht die anspruchsbegründende Eigenschaft als Gewerkschaftsmitglied besitzt und deshalb – ohne Änderung seines Arbeitsvertrages – keinen Anspruch auf die vollen tariflichen Leistungen erhält. Dementsprechend stellt die Frage nach der Notwendigkeit einer Änderungskündigung ein Scheinproblem dar; selbst wenn auf die Zumutbarkeit als Grenze der Tarifmacht abgestellt wird, kann aus diesem Gedanken keine Unzumutbarkeit hergeleitet werden. 3. Arbeitskampf Die Besonderheit des Tarifvertrags gegenüber sonstigen Verträgen im Wirtschaftsleben besteht darin, dass erstere mittels eines Arbeitskampfes erzwungen werden können, mit Mitteln also, die andere Verträge in der Regel wegen Drohung dem Anfechtungsrisiko nach § 123 BGB aussetzen würden. Insoweit sind die Tarifvertragsparteien in ihrer Entscheidung über den Inhalt des Tarifvertrags nicht völlig frei. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich die Unzumutbarkeit bestimmter Tarifvertragsklauseln mit Blick auf den Arbeitskampf begründet lässt. Inwieweit Tarifverträge, die Differenzierungsklauseln enthalten, mit den Maßnahmen des Arbeitskampfes durchgesetzt werden können, wird noch zu einem 176 BAG, Urt. v. 1.12.1992, SAE 1994, 316 (318); mit Anm. v. Weber, SAE 1994, 319 ff. 177 Lehna, DB 1959, 916 (917); ebenso Blom, Tarifausschlußklausel, S. 48 ff.: Merker, DB 1960, 263 (265).

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späteren Zeitpunkt zu behandeln sein. Ohne das Ergebnis vorwegnehmen zu wollen, ist hier allgemein danach zu fragen, welche Auswirkungen Streik, Aussperrung etc. auf die Zumutbarkeit haben. Schließlich könnte der Arbeitskampf zur Folge, haben, dass die Tarifvertragsparteien nicht mehr in der gebotenen Eigenverantwortlichkeit darüber entscheiden können, was sie sich zumuten wollen.178 Voraussetzung einer autonomen Reglung der Arbeitsbedingungen ist es, dass ein ausgewogenes Arbeitskampfsystem besteht. Die Parität der Tarifvertragsparteien gewährleistet, dass nicht eine Seite der anderen einen Tarifabschluss diktiert. Druck und Gegendruck gleichen sich zumindest soweit aus, dass auch bei einem erkämpften Tarifvertrag noch von Vertragsfreiheit gesprochen werden kann. Für den Grundsatz der Zumutbarkeit könnte möglicherweise Raum sein, soweit eine gestörte Vertragsparität besteht.179 Hierfür kann aber nicht jedes situative Ungleichgewicht ausreichen. Auch im Wirtschaftsleben wäre es illusorisch anzunehmen, Verträge kämen immer unbeeinflusst von Druck zustande. Soweit aber die Vertragsparität gewahrt bleibt, kann die Zumutbarkeitskontrolle nicht mit dem Arbeitskampf begründet werden. Ansonsten würde eine widersprüchliche Situation entstehen. Denn die Durchsetzung von Tarifverträgen mittels Streik wird damit gerechtfertigt, dass Tarifverhandlungen – aufgrund der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmerseite – ohne die Möglichkeit des Einsatzes von Arbeitskampfmitteln „kollektives Betteln“180 sind. Erst durch dieses Druckmittel werden die Voraussetzungen für wirkliche Vertragsfreiheit geschaffen: Funktion des Arbeitskampfes ist es, den Rahmen für einen möglichst wenig staatlich reglementierten Arbeitsmarkt zu schaffen; eine vergleichbare Stärke der Tarifvertragsparteien gewährleistet die Richtigkeit und Ausgewogenheit der Tarifverträge.181 Rüthers spricht von „Angemessenheitsvermutung“182. 178 Nach Blomeyer, ZfA 1980, 1 (16 f.), steht der Streik der freiwilligen und damit die Unzumutbarkeit ausschließenden Unterwerfung der Verbände entgegen. 179 ArbG Kassel, Urt. v. 5.8.1976, ArbuR 1977, 157 (159); Wiedemann, SAE 1969, 265 (268); ähnlich auch Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 168; Säcker/Oetker, Grundlagen, S. 229. 180 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 R); Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 10); Urt. v. 17.2.1998, AP Nr. 87 zu Art. 9 GG (Bl. 5). 181 Vgl. zur Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags BVerfG, Beschl. v. 27.2.1973, BVerfGE 34, 307 (317); Enderlein, RdA 1995, 264 (264 ff.); Kemper, Die Bestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, S. 178 (m. w. N. in Fn. 136); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284 ff. (m. w. N. auf Literatur und Rechtsprechung in Fn. 128); Zachert, in: FS Arbeitsgerichtsverband, S. 29, spricht von „Richtigkeitschance“. Siehe allgemein zur Richtigkeitsgewähr des Vertrages Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 (153 ff., 156). 182 Rüthers, RdA 1994, 176 (176): „Die Vokabel (Anm.: Richtigkeitsgewähr) stammt aus einem hochinteressanten und dramatischen Aufsatz von Schmidt-Rimpler und war in der Nazizeit zur Verteidigung der Vertragsautonomie gedacht. Daß er zu diesem Zeitpunkt bereits die richtige Vokabel hätte finden können, wird man ihm

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Wenn aber gleichzeitig eine Zumutbarkeitskontrolle und damit – wie bereits oben angesprochen – eine Inhaltskontrolle mit der Erzwingbarkeit des Tarifvertrags einhergeht, würde sich das allgemein als notwendig angesehene Mittel „Streik“ als trojanisches Pferd erweisen, mittels dessen die Tarifautonomie ausgehöhlt würde. Zudem würde sich eine widersprüchliche Situation ergeben: Der Arbeitskampf als Voraussetzung der Tarifautonomie und des vom Staate unabhängigen Arbeitsmarktes müsste zugleich als Begründung einer staatlichen Zumutbarkeitskontrolle herhalten. Der Staat würde also gleichzeitig mit der anderen Hand das beeinträchtigen, was er mit der einen Hand schützt. Die Zumutbarkeit als Grenze der Tarifmacht kann deshalb nicht mit der Möglichkeit des Arbeitskampfes gerechtfertigt werden. 4. Ergebnis Tarifverträge sind nicht an der anfänglichen, d.h. im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestehenden (Un-)Zumutbarkeit zu messen. Es fehlt bereits an einer plausiblen Begründung, warum eine im allgemeinen Zivilrecht nicht bestehende Schranke im Tarifvertragsrecht Anwendung finden soll. Soweit Vertragsparität bzw. Arbeitskampfparität besteht, ist es den Vertragsparteien überlassen, was sie sich zumuten wollen. Insbesondere führt die Zumutbarkeitskontrolle zu einer nicht mit der Tarifautonomie zu vereinbarenden Inhaltskontrolle der Tarifverträge. Das, was gemeinhin von Literatur und Rechtsprechung unter dem Dach der Zumutbarkeit angesprochen wird, sollte systematisch dort eingeordnet werden, wo es normalerweise diskutiert wird: Es geht um Aspekte der Vertragsparität bzw. Arbeitskampfparität, der Gegnerunabhängigkeit und der Kollision von Grundrechten. Die Unzumutbarkeit veranlasst demgegenüber zu Billigkeitserwägungen und – wie auch die Sozialadäquanz – der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen von dem, was in der Gesellschaft als gerecht anzusehen ist.183 Die „Zumutbarkeit“ ist den Tarifbeteiligten deshalb nicht zumutbar.

nicht abfordern können, aber sie muß natürlich ,Angemessenheitsvermutung‘ heißen. Denn wir wissen nicht, wann ein Vertrag ,richtig‘ ist. (. . .) Es gibt nur angemessen erscheinende Interessenausgleiche (. . .).“ 183 Auch der Versuch der Differenzierungsklauselbefürworter, aus dem diffusen Begriff der Sozialpartnerschaft bestimmte Verhaltenspflichten und Zumutbarkeitsschwellen zu entwickeln, ist ein Beispiel hierfür; vgl. die Überlegungen von Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 29 ff.; Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 92; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 73, 75. Siehe zur Kritik hieran Gitter, JurA 1971, 148 (158 f.); Kuckuck, Politische Komponente im Richterrecht, S. 153 ff.; A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 211 Fn. 31.

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II. Unzulässige Vertragsstrafe Die Abstandsklausel hat zur Folge, dass der Arbeitgeber, wenn er die Außenseiter an bestimmten tariflichen Leistungen teilhaben lässt, zu zusätzlichen Leistungen an die tarifgebundenen Arbeitnehmer verpflichtet wird. Insoweit erlangt die Abstandsklausel den Charakter einer Vertragsstrafe. Gemäß § 344 BGB ist ein Strafversprechen dann unwirksam, wenn die damit abgesicherte Leistungsverpflichtung ihrerseits unzulässig ist. Nach überwiegender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur findet § 344 BGB auch auf die selbständige Vertragsstrafe i. S. des § 343 Abs. 2 BGB zumindest entsprechend Anwendung.184 Im Gegensatz zum echten Strafversprechen (gelegentlich auch unselbständige oder akzessorische Vertragsstrafe genannt), ist die selbständige Vertragsstrafe dadurch charakterisiert, dass sie nicht an die Nichterfüllung einer Hauptverpflichtung anknüpft, sondern an ein Handeln oder Nichthandeln, das im Belieben des Anderen steht und damit nicht unmittelbar erzwingbar ist. Bei der Abstandsklausel handelt es sich zumindest auf den ersten Blick um ein solches selbständiges, d.h. nicht akzessorisches Vertragsstrafenversprechen, das an die Stelle einer Tarifausschlussklausel tritt: Der Arbeitgeber ist zwar nicht verpflichtet, den Tarifaußenseitern bestimmte Leistungen vorzuenthalten; im Falle der Leistungsgewährung muss er den tarifgebundenen Arbeitnehmern aber ein „Mehr“ zukommen lassen muss. Die damit einhergehende wirtschaftliche Belastung wird als Strafe angesehen. Demgegenüber wäre die Abstandsklausel als echtes Strafversprechen zu charakterisieren, wenn durch sie eine ausdrücklich vereinbarte Tarifausschlussklausel erzwungen werden sollte. Denn die Tarifausschlussklausel enthält als Hauptverbindlichkeit die einklagbare Verpflichtung, eine Handlung – nämlich die Gleichstellung aller Arbeitnehmer in bestimmten Bereichen – zu unterlassen. Eine solche Kumulation tarifvertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten dürfte in der Regel kaum dem Willen der Tarifvertragsparteien entsprechen, da beide Klauseln das Ziel verfolgen, eine einfache Differenzierungsklausel abzusichern.185 Gewährleistet bereits die Abstandsklausel diese Differenz, besteht kein Bedürfnis nach einer gesondert einklagbaren Hauptverbindlichkeit. Wird dennoch zusätzlich eine Tarifausschlussklausel vereinbart, beispielsweise um die individualvertragliche „Umgehung“ der Differenzierung zu verhindern, ist eine gesonderte Auseinandersetzung entbehrlich. Gegenüber 184 BGH, Urt. v. 6.12.1979, BGHZ 76, 43 (46 f.), Urt. v. 6.2.1980, NJW 1980, 1622 (1623); Urt. v. 1.7.1970, NJW 1970, 1915 (1916); Gottwald, in: Münchener Kommentar, § 343 Rn. 28; § 344 Rn. 10; Janoschek, in: Bamberger/Roth, § 344 Rn. 4; Palandt-Heinrichs, Vor § 339 Rn. 4, 343 Rn. 2. Für die unmittelbare Anwendung von Vertragsstrafenrecht Bötticher, ZfA 1970, 3 (14); Soergel-Lindacher, Vor § 339 Rn. 10; Staudinger-Rieble (2001), Vor §§ 339 ff. Rn. 11, 72; § 344 Rn. 3. Siehe gegen Lindacher wiederum Larenz, Schuldrecht AT, S. 351 f. Gegen eine Anwendbarkeit Staudinger-Kadel (1994), § 344 Rn. 21, 24. 185 Zur unterschiedlichen Wirkung der beiden Tarifklauseln siehe unten S. 281 f.

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der selbständigen Vertragsstrafe weist diese Fallgestaltung keine dogmatischen Besonderheiten auf. Die (entsprechende) Anwendung des § 344 BGB auf die Abstandsklausel setzt zunächst voraus, dass die Tarifausschlussklausel nicht rechtmäßig vereinbart werden kann. Während die einfache Differenzierungsklausel im Ergebnis unverbindlich ist und der Willkür des Arbeitgebers unterliegt, beinhaltet die Tarifausschlussklausel eine durchsetzbare Verpflichtung, ein bestimmtes Verhalten – die Gleichbehandlung – zu unterlassen. Wenn aber bereits die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Außenseitern bestimmte tarifliche Leistungen vorzuenthalten, nicht rechtswirksam vereinbart werden könne, dann könne der Arbeitgeber auch nicht durch eine Tarifabstandsklausel zu einem differenzierenden Verhalten und damit faktisch zur Durchführung einer Tarifausschlussklausel gezwungen werden.186 Diese Argumentation lässt sich gegen diejenigen Vertreter der Literatur anführen, die wie Biedenkopf von der Unzulässigkeit der Tarifausschlussklausel, aber von der Zulässigkeit der Abstandsklausel ausgehen187. Die Auseinandersetzung mit § 344 BGB ist jedoch auch dann erforderlich, wenn man – wie vorliegend vertreten – die Tarifausschlussklausel als grundsätzlich zulässig ansieht. Denn die Tarifausschlussklausel ist im Hinblick auf die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten bzw. die positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten Beschränkungen unterworfen, wohingegen eine Abstandsklausel frei vereinbart werden kann.188 Es sind also Fallgestaltungen denkbar, bei denen die inhaltliche Reichweite der Abstandsklausel über die der Tarifausschlussklausel hinausreicht. Dann stellt sich die Frage, ob der Umfang der durch die Abstandsklausel festgelegten Differenzierung durch die Tarifausschlussklausel begrenzt wird. 1. Verpflichtung zur Differenzierung als (un-)zulässige Hauptverbindlichkeit Die Heranziehung des § 344 BGB zur Lösung der Differenzierungsklauselproblematik stößt auf grundlegende Bedenken. Sinn und Zweck des Vertragsstrafenverbotes ist es zu verhindern, dass eine Handlung, die nicht rechtswirk186 Bötticher, RdA 1966, 401 (406); ders., ZfA 1970, 3 (18 f.); ders., Verhandlungen des 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 80; Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 60 f.; Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 401 f. Fn. 154; ders., in: Biedenkopf, Sondervorteile, S. 293 f.; Säcker, Grundprobleme, S. 126 Fn. 314. Offen gelassen von Richardi, Kollektivgewalt, S. 206 Fn. 52. 187 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 131 f., 136 f.; Gamillscheg, BB 1967, 45 (52 f.), verkennt offensichtlich diesen Zusammenhang zwischen Tarifausschlussklausel und Abstandsklausel (vgl. Säcker, Grundprobleme, S. 126 Fn. 314). Biedenkopf, Diskussion auf dem 46. DJT, Bd. II (Sitzungsberichte), S. D 118; ders., Sondervorteile, S. 279, sieht in der Abstandsklausel keine Strafe für den Arbeitgeber. 188 Vgl. oben S. 170 ff.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

sam versprochen werden kann, mittels einer Vertragsstrafe erzwungen werden kann. Die Frage ist, ob dieses Verbot auf die vorliegende Konstellation passt. Wenn man davon ausgeht, dass die Tarifausschlussklausel nicht rechtswirksam vereinbart werden kann, so scheint man diese Frage ohne weiteres bejahen zu können. Schließlich enthält die Tarifausschlussklausel das Versprechen, die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer zu unterlassen. Trotzdem bestehen in der Literatur Einwände gegen dieses Ergebnis. Dem Arbeitgeber ist es nicht versagt, tarifgebundene Arbeitnehmer und Tarifaußenseiter unterschiedlich zu behandeln. Aus diesem Grund wird die einfache Differenzierungsklausel, die die Gleichstellung der Arbeitnehmer in das Belieben des Arbeitgebers stellt, weitgehend für zulässig erachtet. Kernpunkt des Streits um die Differenzierungsklauseln ist allein, ob der Arbeitgeber diese Ungleichbehandlung auch versprechen darf. Insoweit bleibt festzuhalten, dass sich der Arbeitgeber mittels einer Abstandsklausel zu einem rechtlich zulässigen Verhalten verpflichtet.189 In Hinblick auf § 344 BGB ist dieser Gesichtspunkt jedoch unerheblich. Wenn Galperin betont, dass die Abstandsklausel „keineswegs zur Absicherung einer rechtsunwirksamen Leistung dient“190, setzt diese Argumentation an der falschen Stelle an. Es ist zwar richtig, dass das Unterlassen der Gleichbehandlung, zu dem der Arbeitgeber mittels der Abstandsklausel gebracht werden soll, rechtmäßig ist. Es unterliegt der Willkür des Arbeitgebers, ob er den Tarifvertrag im Betrieb einheitlich anwendet. Ein selbständiges Strafversprechen ist aber analog § 344 BGB dann unzulässig, wenn die in Bezug genommene Handlung bzw. das Unterlassen nicht wirksam versprochen werden kann. Dass, anders als beim echten Strafversprechen, eine aktuelle Verpflichtung nicht vorliegt, führt nicht dazu, dass die Rechtswidrigkeit der erzwungenen Handlung maßgeblich wird.191 Sinn und Zweck des Verbots der Vertragsstrafe ist es, dem Leistenden die freie Entscheidung darüber zu belassen, ob er seine Leistung erbringt. Durch § 344 BGB soll hingegen nicht verhindert werden, dass ein rechtswidriges Verhalten veranlasst wird. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass § 344 BGB auch bei Naturalobligationen Anwendung findet, die zwar erfüllt, aber nicht erzwungen werden dürfen; ebenso verhält es sich, wenn das Hauptversprechen formnichtig ist.192 Insoweit kann § 344 BGB als besondere Ausprägung des Umgehungsverbots193 angesehen werden, indem verhindert wird, dass das Verbot, eine bestimmte Verpflichtung einzugehen, umgangen wird.

189 190 191 192 193

Biedenkopf, Sondervorteile, S. 279 f.; Galperin, DB 1970, 298 (303). Galperin, DB 1970, 298 (303). So aber Biedenkopf, Sondervorteile, S. 280; Galperin, DB 1970, 298 (303). Gottwald, in: Münchener Kommentar, § 344 Rn. 8 f. Vgl. allgemein zum Umgehungsverbot Palandt-Heinrichs, § 134 Rn. 28 f.

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Wären die echte und die selbständige Vertragsstrafe einer grundlegend unterschiedlichen Bewertung zu unterziehen, hinge die rechtliche Bewertung auch vom Zufall ab, ob der Vertragsstrafe durch Auslegung eine einklagbare Verpflichtung zu einer Handlung oder zu einem Unterlassen entnommen werden könnte, was eine echte Vertragsstrafe zur Folge hätte. In der Regel haben die Vertragsparteien die Wahl zwischen beiden Gestaltungsmöglichkeiten, sodass Hauptvertrag und Strafabrede voneinander unabhängig, also abstrakt sind.194 Dies spricht dafür, die echte und die selbständige Vertragsstrafe nicht gleich, aber parallel zu behandeln: Bei ersterer ist entscheidend, ob ein zulässiges Leistungsversprechen vorliegt, bei letzterer muss ein zulässiges Leistungsversprechen zumindest möglich sein bzw. darf von Rechts wegen nicht ausgeschlossen sein.195 Dementsprechend kann für die Zulässigkeit der Abstandsklausel nicht maßgebend sein, ob der Arbeitgeber die Arbeitnehmer ungleich behandeln darf, sondern ob er sich im Wege der Tarifausschlussklausel zu dieser Ungleichbehandlung verpflichten kann. 2. Abstandsklausel als Vertragsstrafe i. S. des § 344 BGB (analog) § 344 BGB (analog) setzt das Vorliegen eines selbständigen Strafversprechens voraus, also das Versprechen einer Strafe für den Fall, dass eine bestimmte Handlung nicht vorgenommen bzw. unterlassen wird. Soll die Abstandsklausel nach § 344 BGB (analog) nichtig sein, müsste sie als Vertragsstrafe einzuordnen sein. a) Charakterisierung der Abstandsklausel als Vertragsstrafe Zweck einer Vertragsstrafe ist es, als Druckmittel zur Erfüllung oder zur Unterlassung einer bestimmten Handlung zu dienen und dem Gläubiger den konkreten Schadensbeweis zu ersparen.196 Durch die Abstandsklausel soll nicht ein Leistungsversprechen mittelbar erzwungen werden. Tarifausschlussklausel und Abstandsklausel stehen nicht in einem Stufenverhältnis, sondern gleichrangig nebeneinander. § 344 BGB (analog) setzt aber ein Stufenverhältnis voraus: Die Vertragsstrafe sichert das Leistungsversprechen – also die Hauptverbindlichkeit – ab (echte Vertragsstrafe) bzw. tritt sogar an dessen Stelle (selbständige Ver194

Vgl. Staudinger-Rieble (2001), Vor §§ 339 ff. Rn. 74. Staudinger-Rieble (2001), § 344 Rn. 3, 7; Larenz, Schuldrecht AT, S. 352 f., der darauf hinweist, dass eine selbständige Vertragsstrafe auch dann zulässig ist, „wenn die Zusage, deren Bekräftigung (sie) dient – wie das Versprechen, nicht zu rauchen oder zu trinken –, sich nur nicht dazu eignet, eine Rechtspflicht und eine klagbare Forderung zu begründen.“ Ebenso Bötticher, ZfA 1970, 3 (14, 15 f.). 196 BGH, Urt. v. 18.11.1982, BGHZ 85, 305 (312 f.); Urt. v. 23.6.1988, BGHZ 105, 24 (27 f.). 195

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tragsstrafe). Die Differenzierung zwischen gewerkschaftsangehörigen und nicht gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern ist das Ziel aller qualifizierten Differenzierungsklauseln; Tarifausschlussklausel und Abstandsklausel sind hierfür unterschiedliche rechtliche Konstruktionen, also die Mittel zur Zielerreichung. In ihrer rechtlichen Ausgestaltung und ihrer Wirkung sind Tarifausschlussklausel und Abstandsklausel durchaus unterschiedlich. Dies wird besonders daran deutlich, dass die Abstandsklausel von ihrer Natur her dem Arbeitgeber nicht verbietet, beliebige Vereinbarungen zu treffen; soweit sie auf individualvertraglicher Grundlage erfolgen, ist sogar eine Gleichstellung, wenn nicht sogar Besserstellung der Außenseiter möglich. Mit der Abstandsklausel kann eine Tarifausschlussklausel folglich nicht in letzter Konsequenz erzwungen werden. Weiterhin kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Tarifausschlussklausel vom Arbeitgeber ein konkretes Unterlassen verlangt. Die Abstandsklausel belässt hingegen dem Arbeitgeber die Wahl, den Außenseitern beliebige Leistungen zukommen zu lassen, führt eine Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer aber dann unmittelbar (in der Regel normativ) herbei.197 Insoweit stellt die Abstandsklausel nicht eine Strafe für ein konkretes absprachewidriges Verhalten dar, sondern gewährleistet – wie ihr Name bereits sagt – „lediglich“ einen Abstand. Man wird sogar sagen müssen, dass aus Sicht der Gewerkschaft ein „Vertragsbruch“ durchaus gewünscht ist, erhöht sich hierdurch doch auch das Leistungsniveau der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer. Gerade diese anspruchsbegründende Wirkung macht deutlich, dass die Abstandsklausel an die Stelle der Tarifausschlussklausel tritt, weil letztere schwer durchsetzbar ist, nicht aber, weil sie von Gerichten für unzulässig gehalten wird. Nichts anderes gilt, wenn mit der ausdrücklich vereinbarten Tarifausschlussklausel die individualvertragliche Vereinbarung gleicher Arbeitsbedingungen ausgeschlossen werden soll. Denn die Abstandsklausel, die nur an Arbeitsbedingungen mit kollektivem Charakter anknüpfen kann, ist ungeeignet, eine solche Klausel zu erzwingen.198 Hieran lässt sich ersehen, dass beide Tarifvertragsklauseln sich nicht ergänzen, sondern alternativ zur Verfügung stehen. Der Abstandsklausel fehlt damit der Charakter einer Vertragsstrafe. b) Abstand als Strafe für die Gleichstellung aller Arbeitnehmer In der Abstandsklausel eine Vertragsstrafe zu sehen, bereitet aber noch aus anderen Gründen Schwierigkeiten. Das Wesen der Abstandsklausel besteht im Ergebnis darin, dass dem Arbeitgeber die Gleichbehandlung (durch Kollektivvereinbarung) qua Tarifvertrag unmöglich gemacht wird. Hingegen wird er nicht durch einen wirtschaftlichen Druck, wie er für die echte Vertragsstrafe 197 198

Zu der schuldrechtlichen Wirkung siehe unten S. 285. Siehe oben S. 170 ff.

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typisch ist, von der Gleichbehandlung abgehalten. Insoweit ist es irreführend, wenn Bötticher formuliert, „daß der Arbeitgeber eine Vertragsstrafe für den Fall verspricht, dass er die Außenseiter den Organisierten im Lohn gleichstellt . . .“199 Schließlich können gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer und Außenseiter nicht gleichgestellt werden. Die Argumentation Böttichers könnte nur dann eine gewisse Plausibilität erlangen, wenn man die Gleichstellung aller Arbeitnehmer zumindest für eine juristische Sekunde für möglich hält. Dann müsste man die Leistungsgewährung an die Außenseiter als Aktion ansehen, die als Reaktion zeitlich anschließend den erhöhten Leistungsanspruch der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer auslöst. Das Zurückgreifen auf die „juristische Sekunde“ ist sinnvoll, wenn zwei Handlungen notwendigerweise aufeinander folgen müssen und eine bestimmte Rechtsfolge in der Zwischenzeit eintreten soll. Nicht abschließend geklärt ist, ob die juristische Sekunde überhaupt eine Dauer aufweist200 oder aber die Größe Null hat201 und damit lediglich ein infinitesimaler Punkt auf der Zeitachse ist. Da vorliegend allein die Anwendung der Abstandsklausel untersucht werden soll und keine grundsätzlichen Überlegungen angestellt werden sollen, kann auf eine umfassende Bestimmung der juristischen Sekunde verzichtet werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll im Folgenden vom allgemeinen Sprachgebrauch ausgegangen werden, nach dem der Begriff „Sekunde“ eine Zeiteinheit beschreibt; die zeitliche Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse soll hingegen als Zeitpunkt gekennzeichnet werden. Wenn allerdings von „zeitlicher Gleichzeitigkeit“ gesprochen wird, schließt das nicht aus, dass nach der gedanklichen Logik eine Abfolge von Ereignissen vorliegt. Soweit es um das rechtliche Sollen und Dürfen geht, kann von der körperlichen Welt, bei der Kausalität immer eine zeitliche Abfolge der Ereignisse meint, abstrahiert werden.202 „Das Nacheinander der Rechtswirkungen ist ,juristisch-logischer‘ Art und darf nicht zeitlich betrachtet werden.“203 Für einen Vertragsschluss bedarf es erst eines Angebotes, das eine juristische Sekunde später angenommen werden kann. Denn hierbei handelt es sich um Vorgänge in der körperlichen Welt, in der die juristische Sekunde die Voraussetzung ist, dass Angebot und Annahme zeitlich nicht gleichzeitig erfolgen. Verkauft der Vorbehaltskäufer sein Anwartschaftsrecht an einen Dritten und zahlt anschließend an den ursprünglichen Eigentümer den vereinbarten Verkaufspreis, stellt sich die Frage, ob er zumindest für eine Zeitspanne (juristische 199

Bötticher, ZfA 1970, 3 (18) (Hervorhebung nicht im Original). Hassold, Leistung im Dreipersonenverhältnis, S. 64. 201 Marotzke, AcP Bd. 191 (1991), 177 (187); Weyand, Durchgangserwerb, S. 5. 202 Marotzke, AcP Bd. 191 (1991), 177 (186); Süß, AcP Bd. 151 (1950/51), 1 (2, 15 f., 22); Wieacker, in: FS für Wolf, S. 437, 439 f., 444, 447, 449. 203 Kuhnel, Juristische Sekunde, S. 38 f. 200

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Sekunde) Eigentümer geworden ist (Durchgangserwerb) und deshalb seine Gläubiger Zugriff auf das Eigentum haben oder lediglich für einen (gedanklichen) Zeitpunkt.204 Anders als beim Vertragsschluss liegt keine Kausalität in der körperlichen Welt vor, sondern allein eine Abfolge von Rechtswirkungen. Zwischen der Ausübung eines Gestaltungsrechts und der gestaltenden Wirkung bedarf es jedenfalls keiner zeitlichen Abfolge; es gilt die zeitliche Simultaneität beider Akte. Die Anfechtung führt automatisch zur Nichtigkeit des Vertrages. Das gestaltende Urteil des Richters gestaltet mit Eintritt der formellen Rechtskraft unmittelbar die Rechtslage um. Auch der Verstoß gegen ein Leistungsversprechen löst ohne (zeitlichen) Zwischenschritt die Vertragsstrafe aus. Nach dem Wortlaut des § 339 S. 1 BGB „ist“ die Strafe verwirkt, wenn der Schuldner in Verzug kommt; eine zeitliche Abfolge würde eher in der Formulierung „wird verwirkt“ zum Ausdruck kommen. Für eine juristische Sekunde besteht in allen diesen Fällen kein Bedarf. Diese zeitliche Gleichzeitigkeit schließt es natürlich – wie oben dargelegt – nicht aus, dass eine logische Abfolge von Handlung und Rechtswirkung vorliegt: Erst der Vertragsbruch löst die Vertragsstrafe aus. In ihrer Wirkung kann die Abstandsklausel mit der Aktivierung einer gesetzlichen Vorschrift verglichen werden. Die Abstandsklausel wirkt normativ, d.h. unabhängig vom Willen der Tarifvertragsparteien. Eine zusätzliche (kollektive) Leistungsgewährung an die Außenseiter löst automatisch und unmittelbar einen Leistungsanspruch der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer aus und gestaltet damit die Rechtslage um. Die Leistung an die Außenseiter dient dabei nur als Berechnungsgröße, um den konkreten Leistungsanspruch zu ermitteln. Marotzke hat diese Wirkung auf den Punkt gebracht: „Die natürliche Trägheit unseres Denkens ändert nichts daran, daß die Rechtsfolge eines Gesetzes stets von demselben Zeitpunkt an gilt, in dem erstmals alle tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind.“205 Hieran wird der innere Zusammenhang der beiden Leistungen des Arbeitgebers deutlich; die Ansprüche der Arbeitnehmer steigen nicht nur parallel, sondern synchron, ohne dass eine juristische Sekunde dazwischen liegt, die Aktion und Reaktion zeitlich trennt. Insofern gilt, dass eine gedankliche Abfolge (Nacheinander) der Dinge vorliegt – erst die freiwillige Leistung an die Außenseiter, dann der zusätzliche Leistungsanspruch der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer –, jedoch ein zeitliches Zusammentreffen festzustellen ist. Um eine Vertragsstrafe zu verwirken, reicht ein gedanklicher Vertragsbruch allerdings nicht aus. Ein Vertragsbruch, der während einer Zeitspanne von der Größe „Null“ – also lediglich in einem Zeitpunkt – erfolgt, hat tatsächlich nicht stattgefunden.206 An dieser Wirkung ändert sich auch im Hinblick auf 204 Fall nach BGH, Urt. v. 21.4.1959, WM 1959, 813 ff.; Marotzke, AcP Bd. 191 (1991), 177 (179 f.); vgl. zu weiteren Beispielen Kuhnel, Juristische Sekunde, S. 13 ff., 47 ff., 63 ff. 205 Marotzke, AcP Bd. 191 (1991), 177 (186 f.).

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die von einer allgemeinen Abstandsklausel begünstigten andersorganisierten Arbeitnehmer nichts. Bei einer individualvertraglichen Bezugnahme auf den Tarifvertrag bedarf es keines zusätzlichen Vertragsschlusses, um an der Besserstellung teilzuhaben: Dem Andersorganisierten erwächst – genauso wie dem tarifgebundenen Arbeitnehmer – ein unmittelbarer Anspruch aus dem Arbeitsvertrag i. V. m. der Abstandsklausel, sodass auch ihnen gegenüber eine Gleichbehandlung nicht möglich ist. Durch die Abstandsklausel kann die Gleichstellung deshalb auch nicht sanktioniert werden; vielmehr verhindert sie tatsächlich die Gleichstellung. Würde man die Abstandsklausel trotzdem als Vertragsstrafe interpretieren, hätten die vorgenannten Überlegungen zur Folge, dass das unterstellte abredewidrige Verhalten (Gleichstellung) – von einem Vertragsbruch kann man streng genommen nicht sprechen, da es an einer einklagbaren Hauptverbindlichkeit gemäß § 339 BGB fehlt – und die Heilung (Aktivierung der Abstandsklausel durch Tatbestandserfüllung) zeitlich zusammenfallen würden. Eine Paradoxie! 3. Ergebnis Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Abstandsklausel an die Stelle der Tarifausschlussklausel tritt, indem sie unmittelbar verpflichtet und berechtigt, sei es aufgrund ihrer normativen Wirkung, sei es aufgrund individualvertraglicher Bezugnahme. Ihre Wirkung besteht darin, dass ein Abstand festgeschrieben wird. Der Abstandsklausel fehlt damit der mittelbare Zwang zur Erfüllung eines (möglichen) Leistungsversprechens, der das Charakteristische einer Vertragsstrafe ist. § 344 BGB (analog) findet also keine Anwendung. Dementsprechend sagen die Grenzen der Tarifausschlussklausel nichts über die Grenzen der Abstandsklausel aus.

III. Verstoß gegen § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG Nach § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG haben Arbeitgeber und Betriebsrat – gleiches gilt nach § 67 Abs. 1 S. 1 BPersVG für Dienststelle und Personalvertretung – darüber zu wachen dass jede unterschiedliche Behandlung der im Betrieb beschäftigten Personen wegen ihrer gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung unterbleibt. Eine Betriebsvereinbarung kann folglich nicht die Gewerkschaftszugehörigkeit als Tatbestandsvoraussetzung enthalten. Da weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände ihre Erwähnung finden, erscheint es fern liegend, aus dieser Regelung Rückschlüsse auf die Zulässigkeit tariflicher Diffe206 Vgl. im Ergebnis ähnlich zur Eigentümerstellung beim Durchgangserwerb Marotzke, AcP Bd. 191 (1991), 177 (192); Hassold, Leistung im Dreipersonenverhältnis, S. 64: „Wer ,zu keiner Zeit‘ Eigentümer war, war nicht Eigentümer.“

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

renzierungsklauseln zu ziehen. Trotzdem wird in der Literatur § 75 Abs. 1 BetrVG bemüht, um die Zulässigkeit sekuritätspolitischer Maßnahmen – vornehmlich geht es um Vergünstigungen für gewerkschaftliche Vertrauensleute – in Tarifverträgen zu diskutieren.207 In seiner Differenzierungsklauselentscheidung ist das BAG auf diese Argumentation nicht näher eingegangen, hat sie aber aus Gründen der Vollständigkeit zumindest erwähnt.208 1. Vorgängernormen Dass besondere Verhaltensanforderungen für die Behandlung der Betriebsangehörigen an Arbeitgeber und Betriebsrat gestellt werden, ist kein Novum des § 75 BetrVG von 1972. Die Vorschrift geht auf den fast wortgleichen § 51 S. 1 BetrVG 1952 zurück. Bereits das Betriebsrätegesetz (BRG) vom 4.2.1920209 kannte eine mit dem § 75 Abs. 1 BetrVG jedenfalls in den Grundzügen vergleichbare Regelung. Richtlinien, die die Einstellung von Arbeitnehmern betrafen (§ 78 Nr. 8 BRG), mussten nach § 81 Abs. 1 BRG die Bestimmung enthalten, „daß die Einstellung eines Arbeitnehmers nicht von seiner politischen, militärischen, konfessionellen oder gewerkschaftlichen Betätigung (. . .) abhängig gemacht werden darf.“ Aus § 81 Abs. 1 BRG wurde die Unzulässigkeit von Tarifverträgen abgeleitet, die die Einstellung der Arbeitnehmer von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig machten (Organisationsklauseln; closed shop) und deshalb – soweit anerkannt – mit der negativen Koalitionsfreiheit kollidierten. Andernfalls komme es zu dem widersprüchlichen Ergebnis, dass dem Arbeitgeberverband ein Verhalten erlaubt sei, das dem einzelnen Arbeitgeber verboten werde.210 Nach der Gegenansicht lässt § 81 Abs. 1 BRG keine Rückschlüsse auf die Zulässigkeit bestimmter Tarifvertragsklauseln zu.211

207 Blom, Tarifausschlußklausel, S. 46 ff.; Bulla, BB 1975, 889 (892); Dietz, BetrVG, 4. Aufl., 1967, § 51 Rn. 11c, § 59 Rn. 9; GK-BetrVG-Kraft, §2 Rn. 100; Haberkorn, Arbeitgeber, 1960, 506 (507); Kraft, ZfA 1976, 243 (265); Lehna, DB 1959, 916 (917 f.); Merker, DB 1960, 263 (263); Osthold, Arbeitgeber, 1959, 446 (448 f.); Wlotzke, RdA 1976, 80 (85); Richardi, in: ders., BetrVG, § 2 Rn. 173, § 75 Rn. 27; Weidelener, Tarifausschlußklausel, S. 42 ff. Ob es hierbei um eine analoge Anwendung des § 75 BetrVG oder nur um einen Rechtsgedanken geht, wird nicht angesprochen. 208 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 16). 209 RGBl. S. 147 ff. 210 Asmus, Negative Vereinigungsfreiheit, S. 66 ff.; Gauß, JW 1921, 521 (522); Müller, RABl (Nichtamtlicher Teil) 1921, 984 (985); Gätcke, Das Vereinigungsrecht, S. 32. 211 Auerbach, Nichtorganisierte und Tarifvertrag, S. 26; Flatow, Betriebsrätegesetz, § 85 Anm. 6; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. II, 3.–5. Aufl., S. 504; Krebs, Die Organisationsklausel, S. 21 ff.; Kurlbaum, in: Kaskel, Koalitionen und Koalitionskampfmittel, S. 86; Nipperdey, in: Die Grundrechte, Bd. III, S. 422; Nolting-Hauff, NZfA 1928, 461 (464 f.); Zimmermann, Soziale Praxis 1922, 145 (147). Ausdrücklich

B. Äußere Schranken der Tarifmacht

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2. Bindung des Arbeitgebers durch § 75 Abs. 1 BetrVG Ein Arbeitgeber, der die tariflichen Leistungen auf die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer beschränkt, handelt konform mit § 3 Abs. 1 TVG. Es besteht kein allgemeiner Grundsatz, alle Arbeitnehmer im Betrieb unabhängig von ihrer Bindung an den Tarifvertrag gleich zu behandeln. Eine entsprechende Verpflichtung kann § 75 Abs. 1 BetrVG nicht entnommen werden. Der Arbeitgeber, der eine Differenzierungsklausel im Betrieb konsequent anwendet, benachteiligt bzw. bevorzugt den Einzelnen nicht aufgrund seiner gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung, sondern weil er vom Tarifvertrag hierzu verpflichtet wird.212 Dem TVG muss gegenüber dem BetrVG diesbezüglich Vorrang eingeräumt werden. Jede andere Interpretation des § 75 Abs. 1 BetrVG würde dazu führen, dass dem Tarifvertrag grundsätzlich allgemeinverbindliche Wirkung zukäme und § 3 Abs. 2 TVG überflüssig wäre. Trotz dieses eindeutigen Befundes werden aus § 75 Abs. 1 BetrVG inhaltliche Anforderungen an Tarifverträge abgeleitet. Sekuritätspolitische Maßnahmen wie insbesondere Differenzierungsklauseln und Regelungen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute führten zu einer Benachteiligung der Arbeitnehmer wegen ihrer gewerkschaftlichen Einstellung.213 Diese Ansicht setzt sich nicht nur über den Wortlaut des § 75 Abs. 1 BetrVG hinweg. Sie ist auch inkonsequent, wenn dem Arbeitgeber gleichzeitig zugestanden wird, den Tarifvertrag auf tarifgebundene Arbeitnehmer zu beschränken.214 § 75 Abs. 1 BetrVG erfasst allein die objektive Ungleichbehandlung; ein subjektives Element ist – anders als bei Art. 9 Abs. 3 GG – nicht erforderlich. Deshalb kann es unter objektiven Gesichtspunkten keinen Unterschied machen, ob der Arbeitgeber die Ungleichbehandlung freiwillig vornimmt oder hierzu aufgrund des Tarifvertrags verpflichtet ist.

offen gelassen von OLG Dresden, Urt. v. 1.2.1923, RABl. (Amtl. Teil) 1925, 286 (287). 212 Vgl. Dieter, Vertrauensleute, S. 167 f.; Fechner, Rechtsgutachten, S. 69; Fitting/ Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, § 75 Rn. 51; Galperin/Löwisch, BetrVG, § 75 Rn. 20; MünchArbR-v. Hoyningen-Huene, Bd. III, § 301 Rn. 78; Richardi, in: ders., BetrVG, § 75 Rn. 26. Ähnlich auch Hessel, DB 1960, 208 (209), der ein subjektives Element auf Seiten des Arbeitgebers fordert – bewusste Ungleichbehandlung aufgrund der Gewerkschaftszugehörigkeit –, dieses Merkmal aber primär nicht gegeben sieht. 213 Richardi, in: ders., BetrVG, § 75 Rn. 27; vgl. auch die in Fn. 207 (S. 286) genannten Autoren. 214 So beispielsweise Richardi, in: ders., BetrVG, § 75 Rn. 26 f. Vgl. auch die in Fn. 212 (S. 287) genannten Autoren.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

3. Bindung der Tarifvertragsparteien durch § 75 Abs. 1 BetrVG Auch wenn der einzelne Arbeitgeber nicht gegen § 75 Abs. 1 BetrVG verstößt, wenn er im Betrieb eine Differenzierungsklausel anwendet, stellt sich die Frage, ob § 75 Abs. 1 BetrVG für den tariflichen Bereich Bedeutung hat. Diesbezüglich wird in der Literatur die Ansicht geäußert, dass § 75 Abs. 1 BetrVG bei allen Tarifbestimmungen Anwendung findet, die sich auf der betrieblichen Ebene auswirken. Dieses ergebe sich daraus, dass das einzelne Arbeitsverhältnis nicht von einer Tarifvertragsnorm gestaltet werden könne, welche mit dem Gleichheitsgrundsatz nicht in Einklang stehe.215 Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 75 Abs. 1 BetrVG ist mit seinem Wesen nicht zu vereinbaren. Das BetrVG geht davon aus, dass die Betriebsparteien unabhängig von den Koalitionen sind. Nach § 2 Abs. 1 BetrVG arbeiten Arbeitgeber und Betriebsrat mit den im Betrieb vertretenen Gewerkschaften vertrauensvoll zusammen. § 2 Abs. 3 BetrVG bestimmt, dass die Aufgaben der Koalitionen durch das BetrVG nicht berührt werden; nach § 74 Abs. 3 BetrVG werden Arbeitnehmer, die Aufgaben nach dem BetrVG wahrnehmen, nicht in ihrer gewerkschaftlichen Betätigung beschränkt. In diesem Zusammenhang muss § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG gesehen werden, der die gewerkschaftliche Neutralität von Arbeitgeber und Betriebsrat festschreibt.216 Das BetrVG räumt den Tarifvertragsparteien zwar einzelne Kompetenzen ein, es beschränkt ihre Rechte aber nicht. Nach §§ 77 Abs. 3, 87 Abs. 1 BetrVG wird den Tarifverträgen sogar der Vorrang vor den Betriebsvereinbarungen eingeräumt und damit dem Regime der Betriebsverfassung ausdrücklich entzogen.217 Eine dem Betriebsrat vergleichbare Neutralitätspflicht kommt den Tarifvertragsparteien hingegen nicht zu; sie vertreten nicht nur allein ihre Interessen und die ihrer Mitglieder. Vielmehr schützt Art. 9 Abs. 3 GG sogar koalitionsfördernde Maßnahmen und damit einen gewissen Verbandsegoismus. Im Ergebnis trägt die Rechtsprechung der Autonomie der Koalitionen Rechnung, wenn sie hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags die Tarifparteien weitgehend von der Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG freistellt. Gegenüber der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG betont das BAG das sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebende Recht der verbandsinternen Satzungsautonomie und die prinzipielle Freiheit verbandsinterner Selbstbestimmung der Koalition.218

215 Kraft, ZfA 1976, 243 (265); Wlotzke, RdA 1976, 80 (85); Bulla, BB 1975, 889 (892); A. A. Blom, Tarifausschlußklausel, S. 46 ff.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 50; Georgi, Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln, S. 9 f.; Leventis, Tarifliche Differenzierungsklauseln, S. 27; Weiss, Vertrauensleute, S. 60. Siehe auch die in Fn. 221 genannten Literaturmeinungen. 216 Vgl. hierzu v. Hoyningen-Huene, Betriebsverfassungsrecht, S. 91 ff. 217 Zur Frage, ob durch Tarifvertrag die Betriebsverfassung abgeändert werden kann vgl. Beuthien, ZfA 1986, 131 ff.; Kempen/Zachert, TVG, § 1 Rn. 272 ff.

B. Äußere Schranken der Tarifmacht

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Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 75 Abs. 1 BetrVG um eine Norm handelt, die durch die Grundsätze der Billigkeit zur Einzelfallgerechtigkeit führen soll.219 Tarifverträge sollen hingegen die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer vereinheitlichen. § 75 Abs. 1 BetrVG dient auch dem Grundrechtsschutz des einzelnen Arbeitnehmers, dessen Grundrechtsbereich u. a. durch Betriebsvereinbarungen beeinträchtigt werden kann, welche – im Gegensatz zu Tarifverträgen – dem Arbeitnehmer gegenüber nicht durch einen freiwilligen Verbandsbeitritt privatautonom legitimiert sind.220 Insoweit besteht allenfalls eine Vergleichbarkeit mit betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen, da diese durch § 3 Abs. 2 TVG ähnlich einer Betriebsvereinbarung den gesamten betrieblichen Bereich erfassen, ohne durchgehend mitgliedschaftlich legitimiert zu sein.221 Eine Beschränkung der Tarifautonomie im Bereich der Inhaltsnormen ist § 75 Abs. 1 BetrVG dagegen nicht zu entnehmen222 und mit der Tarifautonomie auch nicht vereinbar. Wenn die Tarifvertragsparteien § 75 Abs. 1 BetrVG zu beachten hätten, müsste diese Bindung umfassend sein. Die ausdrücklich genannten Diskriminierungsverbote sind nur Beispiele. Als Folge konsequenter Anwendung des § 75 Abs. 1 BetrVG müssten die Tarifvertragsparteien bei der kollektivrechtlichen Regelung der Arbeitsverhältnisse an das Prinzip von Recht und Billigkeit gebunden werden.223 Hierdurch würde eine tief greifende Störung der Tarifautonomie unvermeidlich eintreten. Die Überprüfung, ob die Koalition ihre Mitglieder – und nur auf diese kann die Wirkung einer Inhaltsnorm nach § 3 Abs. 1 TVG erstreckt werden – unbillig benachteiligt, würde nicht nur die Tarifverträge mit einer erheblichen Unsicherheit für alle Beteiligten belasten; sie würde den Inhalt der Tarifverträge der richterlichen Überprüfung zugänglich machen und damit zu einer Tarifzensur führen, obwohl Tarifverträge einer allgemeinen Billigkeitskontrolle entzogen sind.224 218 Vgl. BAG, 4. Senat, Urt. v. 30.8.2000, AP Nr. 25 zu § 4 TVG Geltungsbereich; Urt. v. 24.4.1985, AP Nr. 4 zu § 3 BAT; Urt. v. 18.9.1985, AP Nr. 20 zu § 23a BAT (Bl. 3 f.). Siehe auch oben S. 128. 219 Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, § 75 Rn. 22; GKBetrVG-Kreutz, § 75 Rn. 28, 32. 220 MünchArbR-Richardi, Bd. I, § 10 Rn. 36. Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, S. 458 f., weist zudem darauf hin, dass der Betriebsverfassung im Gegensatz zum Tarifvertrag kein grundrechtlicher Schutz zukommt: „Tarifliche und betriebsverfassungsrechtliche Regelungsbefugnisse fußen also auf ganz unterschiedlichen Kompetenzordnungen.“ 221 So im Ergebnis Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 155; Kraft, ZfA 1976, 243 (264 f.); Bötticher, RdA 1978, 133 (142); ders., Die gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, S. 118 Fn. 19; Dieter, Vertrauensleute, S. 170 f.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 237, 355 f.; Struck, Vertrauensleute, S. 238, 243. 222 Struck, Vertrauensleute, S. 238; Weiss, Vertrauensleute, S. 60; Däubler, Gewerkschaftsrechte, Rn. 526. Vgl. auch GK-BetrVG-Kreutz, § 75 Rn. 57, der sich ausdrücklich dagegen wendet, tarifvertragliche Differenzierungsklauseln an § 75 BetrVG zu messen. 223 Diese Konsequenz befürwortet beispielsweise Bulla BB 1975, 889 (893).

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

4. Ergebnis Eine tragfähige Begründung, § 75 Abs. 1 BetrVG über seinen Wortlaut hinaus auf tarifvertragliche Inhaltsnormen auszudehnen, ist nicht ersichtlich. Die Interessenlagen auf betriebsverfassungsrechtlicher und auf tarifvertraglicher Ebene sind so wesensverschieden, dass eine entsprechende Anwendung nicht möglich ist. Dementsprechend wird die Tarifmacht nicht durch § 75 BetrVG beschränkt. Aus § 75 Abs. 1 BetrVG lassen sich allein dann Rückschlüsse auf die Tarifmacht ziehen, wenn sich die Tarifparteien zur Umsetzung der Differenzierungsklauseln der Betriebsparteien bedienen. Es ist rechtlich zulässig, dass die Tarifvertragsparteien Arbeitgeber und Betriebsrat von der Bindung an § 77 Abs. 3 BetrVG freistellen, und es ermöglichen, dass die Betriebsparteien einen vorgegebenen Rahmen mittels Betriebsvereinbarung ausfüllen. Wird dabei den Betriebsparteien beispielsweise bei der betrieblichen Lohn- oder Urlaubsgestaltung eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit vorgegeben, muss die Umsetzung am Verbot des § 75 Abs. 1 BetrVG scheitern. Von der Bindung an diese Norm können die Tarifvertragsparteien die Betriebsparteien nicht suspendieren. Folge einer solchen tarifvertraglichen Öffnungsklausel wäre also, dass die Betriebsparteien zu einem rechtswidrigen Verhalten ermächtigt wären. Zu einer solchen Tarifvereinbarung fehlt den Tarifparteien die Tarifmacht.

IV. Vertragsfreiheit Im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG wurde bereits kurz auf die Frage eingegangen, ob die Vertragsfreiheit auch die Chance der Außenseiter schützt, beliebige Verträge zu schließen, wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen hierfür gegeben sind.225 Dabei ist die einfachrechtliche Ausgestaltung für die Beantwortung entscheidend. Wie sich gezeigt hat, kommt den Tarifvertragsparteien grundsätzlich die Tarifmacht zur Vereinbarung von Differenzierungsklauseln zu. Wie wirkt sich nun die Vertragsfreiheit der Außenseiter auf die Tarifmacht aus; wird hierdurch dem rechtlichen „Können“ der Tarifvertragsparteien eine Grenze gesetzt? Aus einfachgesetzlichen Normen bzw. Wertungen müsste sich der Schutz der Außenseiter davor ergeben, dass sie durch entsprechende Verträge mit Lastwirkung für Dritte benachteiligt werden.

224 225

Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 213. Siehe oben S. 206 ff.

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1. Sittenwidrige Beschränkung der Chance zum Vertragsschluss Zu denken ist zunächst daran, dass die Tarifausschlussklauseln nach § 138 BGB sittenwidrig und deshalb nichtig sind, da die Gewerkschaften u. a. organisationspolitische Zwecke verfolgen und am Tarifvertragsschluss unbeteiligte Dritte faktisch/mittelbar belasten. Dieses Unwerturteil wurde in der bisherigen Diskussion um die Differenzierungsklauseln – soweit ersichtlich – nicht ausgesprochen. In der Benachteiligung von Außenseitern gegenüber tarifgebundenen Arbeitnehmern eine „Verletzung des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden“226 zu sehen, erscheint überzogen. Die wirtschaftliche Benachteiligung am Vertragsschluss nicht beteiligter Dritter ist grundsätzlich zulässig und verstößt nur in Ausnahmefällen gegen § 138 BGB.227 Die Differenzierung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern ist solange zulässig, wie die Außenseiter nicht zu sittenwidrigen Arbeitsbedingungen beschäftigt werden (müssen).228 Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, allen Beschäftigten Tariflöhne zu bezahlen. Dass sich die Tarifvertragsparteien im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags mit der Situation der Außenseiter beschäftigen, ist an sich zulässig und führt nicht zur Rechtswidrigkeit entsprechender Vereinbarungen.229 Dementsprechend handelt es sich bei den Tarifausschlussklauseln um eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung zur Vornahme grundsätzlich erlaubter rechtsgeschäftlicher Handlungen. Aber auch der Umstand, dass die Außenseiter durch Differenzierungsklauseln behindert werden, Verträge abzuschließen, wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind – Stichwort: Chance zum Vertragsschluss230 – kann nicht zu einer Vermutung der Sittenwidrigkeit führen.231 Dass Verträge im Wirtschaftsleben die Vertragschancen Dritter mindern oder ausschließen, ist automa226 Vgl. allgemein Sack, NJW 1985, 761 ff. Bei der Frage, ob § 138 BGB auf den normativen Teil des Tarifvertrags überhaupt Anwendung finden kann, hat das BAG noch keine einheitliche Linie entwickelt: offen gelassen in Urt. v. 30.11.1983, AP Nr. 1 zu § 20 BMT-G II (Bl. 4 R); Urt. v. 24.3.2004, NZA 2004, 971 (973); abgelehnt in Urt. v. 25.3.1981, AP Nr. 42 zu §§ 22, 23 BAT 1975 (Bl. 4). Für eine Anwendung hat sich die überwiegende Literatur ausgesprochen: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 368; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 323; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rn. 312; Kempen/ Zachert, Grundl. Rn. 206; Mayer-Maly/Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 138 Rn. 9. Dieser Streit hat jedoch nur geringe praktische Auswirkungen, da das BAG in seinem Urt. v. 24.3.2004, a. a. O., festgestellt hat, dass in § 138 BGB „elementare Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen, zum Ausdruck (kommen).“ 227 So ausdrücklich Palandt-Heinrichs, 60. Aufl. 2001, Einf. v. § 328, Rn. 10. 228 Siehe zur Sittenwidrigkeit infolge untertariflicher Arbeitsbedingungen unten S. 295 ff. 229 Vgl. hierzu oben S. 216 ff. 230 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 133; Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 60; ebenso Martens, AcP 177 (1977), 113 (130); Wiedemann, SAE 1969, 265 (268).

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

tische Folge des Vertragsschlusses. Dies resultiert bereits aus der Beschränktheit der persönlichen Leistungsfähigkeit. Ein besonderes Augenmerk ist deshalb auf die Fallgestaltungen zu richten, bei denen der Vertrag darauf gerichtet ist, schutzwürdige Interessen Dritter zu beeinträchtigen. Die Vermutung, dass gleich starke Vertragsparteien ihre divergierenden Interessen in angemessener Weise ausgleichen, kann hier nicht greifen. Denn dem Dritten fehlen die Möglichkeiten, seine Interessen in die Vertragsverhandlungen einzubringen. Schutz erfährt der Dritte allein durch die Interessenpolarität der Vertragsparteien. „Nehmen die Vertragspartner die Regelung der Interessen Dritter für sich in Anspruch, so liegt ein funktionswidriger Gebrauch des Vertrags vor; durch den Vertragsschluss ist weder die Herbeiführung einer gerechten Regelung noch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des betroffenen Dritten gewährleistet.“232 In diesen Fällen der Lastwirkung für Dritte ist eine bei Verträgen zu vermutende Richtigkeit (i. S. v. Angemessenheit der Vertragsbedingungen) nicht gewährleistet, sodass ein staatliches Eingreifen in die Privatautonomie erforderlich werden kann.233 Insbesondere bei einem kollusiven Zusammenwirken der Vertragsparteien kann ein besonderer Schutz des am Vertragsschluss nicht beteiligten Dritten geboten sein. In diesem Sinne hat beispielsweise der BGH festgestellt, dass § 138 BGB dann zur Anwendung gelangt, wenn die Vertragspartner in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken beabsichtigen, fremde Forderungsrechte zu vereiteln.234 Eine Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange Dritter ist in der Regel aber dann ausgeschlossen, wenn der Dritte mit seinen Interessen beim Vertragsschluss durch eine der Vertragsparteien ausreichend repräsentiert wird. Dann fehlt es am Verdacht eines kollusiven Zusammenwirkens der Vertragsparteien; 231 Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, sucht einen Schutz bereits im Vorfeld der Sittenwidrigkeit und nimmt nur ausnahmsweise einen Verstoß gegen § 138 BGB an (S. 55, 75). Für die von Habersack zum Schutz der Rechte Dritter präferierte Kontrolle am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (S. 70 f., 194) fehlt es allerdings an Anhaltspunkten im Gesetz. 232 Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 67. Die Bedeutung der Repräsentation von Minderheiten beim Tarifvertragsschluss betonend Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 298, 390. 233 Vgl. Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, S. 67, 68, 76. ähnlich, allerdings ohne Bezug auf den Dritten, Säcker, Gruppenautonomie, S. 205 ff. m. w. N. Kritisch zu der auf Schmidt-Rimpler, AcP Bd. 147 (1941), 130 ff., zurückgehenden These, dass dem Vertragsmechanismus eine Richtigkeitsgewähr inhärent ist Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 174 f., 190 f. Im vorliegenden Zusammenhang ist es ausreichend, dass der im Vertragsschluss zum Ausdruck kommenden übereinstimmenden Interessenwahrnehmung ein großes Gewicht bei der Beurteilung der Verträge einzuräumen ist, ohne gleichzeitig auszuschließen, dass auch weitere Umstände eine Vertragskontrolle erforderlich machen können. Vgl. zum Verhältnis von Richtigkeitsgewähr und Arbeitskampf bereits oben bei S. 181 Fn. 181. 234 BGH, Urt. v. 23.1.1992, NJW-RR 1992, 948 (949); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 379.

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eine besondere Vertragskontrolle wird entbehrlich. So verhält es sich bei der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln. Zwar sind die Koalitionen nicht gehalten, andere Interessen als die ihrer Mitglieder wahrzunehmen. Der Große Senat des BAG hat jedoch im Ergebnis ein Gleichlaufen der Interessen der Arbeitgeber und der Außenseiter angenommen, indem er in der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer den unternehmerischen Erfolg des Unternehmens gesehen hat.235 Auch das BVerfG hat im Hinblick auf Gemeinsame Einrichtungen ausgeführt, „daß zumindest die gegenseitige Kontrolle der Sozialpartner (. . .) im Ergebnis auch Außenseitern – wie den Beschwerdeführern – zugute kommt.“236 Der Außenseiter wird damit bei den Tarifvertragsverhandlungen durch den wirtschaftlich mächtigen Arbeitgeber bzw. seinen Verband geschützt. Es fehlt zwischen den Tarifvertragsparteien und den Außenseitern an einem besonderen Machtgefälle, das eine Pflicht des Staates zum Eingreifen und damit eine gesteigerten Intensität der Grundrechtswirkung im Privatrecht auslösen würde.237 Auch wenn die Motivationslage des Arbeitgebers differieren und er ein Interesse an der Organisation aller Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft haben kann238, zeigt sich doch, dass sich schematische Lösungen verbieten. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass die Gewerkschaften mit der Stärkung ihrer Verbandsmacht ihrerseits ein grundrechtlich geschütztes Interesse verfolgen. Eine per-se-Rechtswidrigkeit, d.h. ein Überwiegen der Interessen der Außenseiter, von den Auswirkungen des Tarifvertrags nicht betroffen zu werden, wäre mit der prinzipiellen Gleichrangigkeit von positiver und negativer Koalitionsfreiheit sowie der Vertragsfreiheit nicht zu vereinbaren.239 Dieses Ergebnis deckt sich auch mit der in Art. 9 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommenden Tarifautonomie, durch die den Koalitionen die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen überantwortet wird. Die damit zwangsläufig einhergehende Beeinflussung der Sphäre aller Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Tarifbindung entspricht also dem grundgesetzlichen Leitbild. Eine staatliche Beschränkung der Tarifautonomie ist deshalb nicht geboten. Somit ergibt sich, dass der Tarifvertrag keiner Korrektur bedarf, auch wenn er als Vertrag mit Lastwirkung für Dritte aufgefasst wird.

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BAG GrS, Urt. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 22 R). BVerfG, Beschl. v. 15.8.1980, BVerfGE 55, 7 (22). 237 Vgl. allgemein zur Anwendung grundrechtsbezogener Schutzpflichten bei gestörter Vertragsparität Giesen, Tarifvertragliche Rechtsgestaltung, in Bezug auf die Verbandsmitglieder (S. 231 ff.) und die Außenseiter (S. 256 ff. [insb. S. 262 ff.]). 238 Vgl. hierzu die Überlegungen oben S. 136 (insb. Fn. 301). 239 Auf die Berücksichtigung der Interessen der Vertragspartner bei der rechtlichen Bewertung weist Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteresse, S. 70 f., 74, hin. 236

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

2. Differenzierungsklauseln als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung Nach einer vornehmlich von Biedenkopf vorgebrachten Ansicht soll sich der Schutz der Vertragsfreiheit der Außenseiter dem § 21 GWB entnehmen lassen. Dieser verbiete es den Kartellen, auf organisationsunwillige Außenseiter Druck auszuüben. Für die Gewerkschaften könne nichts anderes gelten.240 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Wertentscheidungen des GWB nicht auf das Arbeitsrecht übertragen werden können.241 Dies wird bereits daran deutlich, dass die Tarifverträge mit ihrer (erwünschten) kartellierenden Wirkung nach allgemeiner Ansicht vom Anwendungsbereich des GWB ausgenommen sind.242 Auch kann das Ringen der Tarifvertragsparteien mit ihren entgegengesetzten Interessen um den Abschluss eines Tarifvertrags nicht mit dem Auftreten von wirtschaftlichen Unternehmen mit hohem Machtpotenzial verglichen werden, denen bei entsprechender Monopolstellung ein Widerpart als ausgleichendes Element fehlt. Gerade dadurch, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unterschiedliche und entgegengesetzte Interessen verfolgen, besteht – bei Wahrung des Grundsatzes der Parität zwischen den Tarifvertragsparteien – die Gewähr eines Tarifkompromisses, der sich nicht einseitig an den Zielen einer der Parteien orientiert. In diesem Punkt besteht ein fundamentaler Unterschied zur Kartellbildung, die auf die Durchsetzung eigener Interessen gerichtet ist und gerade die korrigierende Wirkung einer wirtschaftlichen Gegenmacht ausschließen soll.

240 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 98; ders., JZ 1996, 346 (353); es muss allerdings berücksichtigt werden, dass Biedenkopf die Differenzierungsklauseln als nicht von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt ansieht und dementsprechend Art. 9 GG nicht als Rechtfertigungsgrund heranziehen kann. 241 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 157 Fn. 42; Martens, AcP 177 (1977), 113 (168 ff.); Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 455 ff.; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 459; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 31. Siehe bereits oben S. 149 f. 242 BAG, Urt. v. 27.6.1989, AP Nr. 113 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5 R ff.); Urt. v. 28.3.1990, AP Nr. 25 zu § 5 TVG (Bl. 6 R); Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 157; Däubler, Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 311 ff.; ders., Tarifvertragsrecht, Rn. 34, 379 f.; Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 84; ders., Kollektives Arbeitsrecht I, S. 499; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 8 Rn. 35; Löwisch, in: FS für Rittner, S. 387; Musa, BB 1966, 82 (83); MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 244 Rn. 34; Richardi, Gutachten zum 61. DJT, Bd. I, S. B 41; Säcker/Oetker, Grundlagen, S. 206 ff. (anders aber für schuldrechtliche Verträge, die über den normativen Bereich des § 1 TVG hinausreichen); Salje, ZfA 1991, 653 (666 f.; m. w. N. in Fn. 62). Aus europäischer Sicht EuGH, Urt. v. 21.9.1999, Slg. I-5751 (5863 ff. Rn. 59 ff.); vgl. hierzu Britz, in: Britz/Volkmann, Tarifautonomie, S. 43 f.

B. Äußere Schranken der Tarifmacht

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V. Sittenwidrigkeit der Arbeitsbedingungen der Außenseiter Auf Merkmale der Sittenwidrigkeit wurde bereits mehrfach abgestellt, sei es, dass die Sittenwidrigkeit von Arbeitsverhältnissen Indizwirkung für die Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit entfaltet243, sei es, dass sich hieran bemisst, ob in der Tarifausschlussklausel eine unzulässige Einschränkung der Vertragsfreiheit der Außenseiter zu sehen ist244. Schließlich ist noch zu überlegen, ob die Differenzierungsklauseln sittenwidrig sind, soweit sie dazu führen, dass die Arbeitgeber die Außenseiter nur noch zu sittenwidrigen Arbeitsbedingungen beschäftigen können. Sittenwidrig sind bei Vorliegen entsprechender subjektiver Voraussetzungen Arbeitsbedingungen dann, wenn objektiv zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Missverhältnis besteht. Maßstab für die Sittenwidrigkeit eines Arbeitsvertrages ist nach überwiegender Ansicht nicht das Lohnniveau im jeweils einschlägigen Wirtschaftsgebiet, sondern unmittelbar der Tarifvertrag. Erhält der Außenseiter weniger als 2/3 des tariflichen Arbeitslohns, wird überwiegend davon ausgegangen, dass ein auffälliges Missverhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der Gegenleistung des Arbeitgebers besteht und damit eine unangemessene Benachteiligung vorliegt.245 Denkbar ist es, dass der durch den Tarifvertrag festgelegte Abstand dazu führt, dass die Außenseiter diese Schwelle unterschreiten. Die Tarifausschlussklauseln können sich in ihrem jeweiligen Bereich als Höchstarbeitsbedingungen auswirken. Aber auch die Abstandsklauseln dürften in der Regel dazu führen, dass trotz individualvertraglicher Ausweichmöglichkeiten der Abstand zwischen der tariflichen Entlohnung und der Entlohnung der Nicht- und Andersorganisierten gewahrt bleiben wird. Anders als in kleinen Betrieben wird es in größeren Betrieben kaum zu verwirklichen sein, den verwendeten Formulararbeitsvertrag bei einer Vielzahl von Arbeitnehmern durch individuelle Vereinbarungen zu ergänzen. Denn es ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitsvertrag in größeren Betrieben ein „Massengeschäft“ ist und bei der Menge der zu bewältigenden Personalangelegenheiten auch nur sein kann. Die rechtliche bzw. faktische Auswirkung der Abstandsklauseln besteht folglich darin, dass der Arbeitgeber bei entsprechend großer Differenz entweder auf Formularverträge verzichtet oder von der Einstellung von Außenseitern absieht. Denn in letzterem Fall kann der Arbeitgeber die Außenseiter nur zu sittenwidrigen Arbeitsbedingungen einstellen; schließlich würde die Abstandsklausel immer zu einer sittenwidrigen „untertariflichen“ Beschäftigung führen. Ist ein Verzicht auf einheitliche/formularmäßig gestaltete Arbeitsbedingungen in der Regel 243 244 245

Siehe oben S. 183 f., 191 f. Siehe oben S. 291 ff. Siehe die Nachweise oben S. 184 Fn. 471.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

nicht möglich, schaffen die Anforderungen im Wirtschaftsleben Tatsachen, an denen eine rechtliche Bewertung nicht vorbei kommt. Die zweite Variante führt hingegen dazu, dass Außenseitern – abhängig von den regionalen Gegebenheiten – die Chance genommen wird, einen bestimmten Beruf auszuüben. Deshalb trifft den Staat eine Schutzpflicht zugunsten der Berufsfreiheit der Außenseiter aus Art. 12 Abs. 1 GG. Ausdruck dieser Schutzpflicht könnte es sein, die Abstandsklausel in ihrer Höhe so zu begrenzen, dass rechtmäßige Arbeitsbedingungen durch Formulararbeitsverträge vereinbart werden können. Entscheidend ist, ob die Arbeitsbedingungen der Außenseiter infolge von Differenzierungsklauseln überhaupt rechtswidrig, d.h. sittenwidrig werden können. Die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Einzelarbeitsverträgen kann nicht ohne weiteres auf die Differenzierungsklauselsituation übertragen werden. Denn die Außenseiter werden – selbst wenn sie in Höhe des Differenzierungsbetrages hinter den tarifgebundenen Arbeitnehmern zurückbleiben – tarifmäßig bezahlt. Denn sie erhalten den Betrag, den die Tarifvertragsparteien für Außenseiter für angemessen gehalten haben. Ob und wie viel die tarifgebundenen Arbeitnehmer als Entlohnung erhalten, kann für die Bewertung des einzelnen Arbeitsverhältnisses hingegen nicht maßgeblich sein. Denn Bezugspunkt für die Anwendung des § 138 BGB ist der Tariflohn, der als Gestaltungsmittel zur Verfügung steht. Der Lohn der tarifgebundenen Arbeitnehmer liegt außerhalb der Reichweite des (Formular-)Arbeitsvertrages. Das bedeutet, dass der einzelne Arbeitsvertrag dann nicht sittenwidrig sein kann, wenn er durch Vereinbarungen determiniert wird, die ihrerseits rechtmäßig sind. Entscheidend ist also, ob der Tarifvertrag, der dazu führt, dass die Außenseiter nur zu bestimmten Arbeitsbedingungen beschäftigt werden können, seinerseits nicht sittenwidrig ist. Es lässt sich nicht ermitteln, was „Arbeit“ objektiv wert ist; deshalb ist der Tarifvertrag grundsätzlich ein starkes Indiz für die Angemessenheit der Entlohnung. Nichts anderes gilt für einen Tarifvertrag, der eine Differenzierungsklausel enthält. Auch dieser ist in der Regel ein Kompromiss von Arbeitgeber(-verband) und Gewerkschaft, die sich gleichstark gegenüber stehen und damit für die Richtigkeit des Tarifvertrags sorgen.246 Deshalb kann allein aus dem Differenzbetrag nicht darauf geschlossen werden, dass die Außenseiter zu Arbeitsbedingungen beschäftigt werden müssen, die das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verletzen. Der Tarifvertrag legt also gewissermaßen eine Ober- und eine Untergrenze für den Wert der Arbeit fest. Da der Tarifvertrag Maßstab für den Wert der Arbeit ist, kann der Wert der Arbeit schwerlich angeführt werden, um die Sittenwidrigkeit des Tarifvertrags zu belegen. Deshalb

246 Vgl. BAG, Urt. v. 24.3.2004, NJW 2004, 971 (973); LAG Berlin, Urt. v. 29.1. 2003, EzAÜG § 1 AÜG Gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung Nr. 35; vgl. zur Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284 ff. m. w. N.

B. Äußere Schranken der Tarifmacht

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müssen andere objektive Kriterien für Mindestarbeitsbedingungen gefunden werden, die außerhalb des Tarifvertrags liegen und der Tarifautonomie feste Grenzen setzen können. Eine Grenze könnte dort liegen, wo der Tarifvertrag zur Folge hat, dass die Außenseiter zu Arbeitsbedingungen beschäftigt werden, die unterhalb des Existenzminimums liegen. Ab dieser Schwelle treffen den Staat besondere Schutzpflichten, die durch den Richter dahingehend konkretisiert werden können, dass entsprechende Tarifverträge sittenwidrig und damit nichtig sind. Eine einheitliche Meinung, wie Arbeitsverträge zu behandeln sind, die unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegen und dem Arbeitnehmer noch nicht einmal die Erwirtschaftung einer ausreichenden Lebensgrundlage ermöglichen, gibt es nicht.247 Es könnte die Aufgabe des Gesetzgebers sein, Voraussetzungen für einen gesetzlichen Mindestlohn zu schaffen. Letztlich kann diese Frage hier unbeantwortet bleiben, da es vorliegend nicht um Einzelarbeitsverträge, sondern um Tarifverträge geht. Durch Schaffung des Gesetzes über Mindestarbeitsbedingungen, das bis heute allerdings nicht angewendet wurde, hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Festlegung von angemessenen Arbeitsbedingungen vorrangig Sache der Tarifvertragsparteien ist. §§ 310 Abs. 4, 307 Abs. 3 BGB stellen nunmehr klar, dass Tarifverträge nicht Gegenstand, sondern nur Maßstab der Angemessenheitskontrolle von Formulararbeitsverträgen sein können. Diese gesetzgeberische Zurückhaltung kann nicht als evidente Verfehlung von Schutzpflichten angesehen werden, zumal der Gesetzgeber durch Gewährung ergänzender Sozialhilfe bzw. nunmehr des Arbeitslosengeldes II im Ergebnis das Existenzminimum mit eigenen Mitteln sicherstellt. Hieraus und aus der Respektierung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ergibt sich, dass eine Angemessenheitskontrolle tariflicher Arbeitsbedingungen zu unterbleiben hat. Eine solche Überprüfung anhand des § 138 BGB birgt die Gefahr der Tarifzensur in sich.248 Dies wäre nur dann anders, wenn der Gesetzgeber Mindestarbeitsbedingungen ausdrücklich formulieren würde, womit gleichzeitig die Frage beantwortet wäre, was an Stelle des nichtigen Tarifvertrags gelten soll. Ist bereits der Tariflohn sittenwidrig, dürfte den Arbeitnehmern mit dem 247 Vgl. hierzu Lakies, NZA-RR 2002, 337 (342) m. w. N.; ders., in: Däubler, TVG, § 5 Anhang 1 Rn. 47 f., der sich für den Sozialhilfesatz ausspricht, bei dessen Unterschreiten nicht mehr von angemessenen Arbeitsbedingungen gesprochen werden könne. Ebenso ArbG Bremen, Urt. v. 30.8.2000, ArbuR 2001, 231. (232, 234), mit zustimmender Anm. v. Walter; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 179 f., 301. Abgelehnt von BAG, Urt. v. 24.3.2004, NZA 2004, 971 (972); ebenso die Vorinstanz LAG Berlin, Urt. v. 29.1.2003, EzAÜG § 1 AÜG Gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung Nr. 35; in diesem Sinne bereits BAG, Urt. v. 22.3.1989, 5 AZR 151/88, (n. v.), JURIS, Dok.-Nr.: KARE348860203. 248 LAG Berlin, Urt. v. 29.1.2003, EzAÜG § 1 AÜG Gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung Nr. 35; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 695 f. m. w. N. in Fn. 175. Siehe zur Frage, ob § 138 BGB überhaupt auf den normativen Teil des Tarifvertrages Anwendung findet oben S. 291 Fn. 226.

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4. Kap.: Überschreitung der Tarifmacht

Verweis auf den üblichen Lohn kaum geholfen werden. Damit können Differenzierungsklauseln unabhängig von ihrer Höhe nicht sittenwidrig werden. Dieses Ergebnis scheint den Ausführungen zur negativen Koalitionsfreiheit zu widersprechen. Dort wurde die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Arbeitsverträgen als Indiz herangezogen, um eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit darzulegen. Maßstab war dabei allerdings die Zumutbarkeit einer Gewerkschaft nicht beizutreten, die nicht gleichbedeutend mit der (originären) Sittenwidrigkeit ist. Beide Gesichtspunkte betreffen unterschiedliche Sachverhalte. Die Zumutbarkeit fokussiert sich auf die Frage „Ist die Schlechterbehandlung dem Außenseiter zumutbar?“, wohingegen der Sittenwidrigkeit die Frage zugrunde liegt „Ist der Lohn für die Arbeit angemessen?“ Bei der Zumutbarkeit ist Bezugspunkt der Bewertung der Anspruch der tarifgebundenen Arbeitnehmer; entscheidend ist, inwieweit die gewählte Differenz zu ungerechten Arbeitsbedingungen und damit zur Unzumutbarkeit der Hinnahme der Differenz führt. Aus Sicht der Außenseiter sind die Arbeitsbedingungen der Tarifgebundenen durch einen Verbandsbeitritt erreichbar. Bei der Sittenwidrigkeit geht es um den objektiven Wert der Arbeit und die Angemessenheit der Entlohnung. Erreichbar für die Außenseiter sind (faktisch) nur die Tarifbedingungen, die nicht den tarifgebundenen Arbeitnehmern vorbehalten sind. Nur diese Tarifbedingungen sind am Maßstab des § 138 BGB zu messen.

Kapitel 5

Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf Wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, sind Differenzierungsklauseln grundsätzlich zulässige Gegenstände von Tarifverträgen. Welche Auswirkungen haben diese Klauseln aber auf das Arbeitskampfrecht? Bereits oben1 wurde dazu Stellung genommen, dass Arbeitskampf und Unzumutbarkeit von Differenzierungsklauseln sich nicht bedingen. Dort war allerdings Gegenstand der Untersuchung die Frage, ob Differenzierungsklauseln für den Arbeitgeber/die Arbeitgeberkoalition unzumutbar sind, wenn sie erstreikt werden bzw. weil sie erstreikt werden können. Die Rechtswidrigkeit eines Streiks würde sich dann wiederum mittelbar daraus ergeben, dass das Ziel rechtswidrig wäre. Im Folgenden soll erörtert werden, ob Differenzierungsklauseln – ihre Zulässigkeit zugrunde gelegt – überhaupt erstreikt werden können. Ob die Erzwingung von Differenzierungsklauseln mit arbeitskampfrechtlichen Mitteln möglich ist, musste der Große Senat des BAG in seiner Differenzierungsklauselentscheidung nicht beurteilen. Denn Voraussetzung eines zulässigen Arbeitskampfes ist es nach ständiger Rechtsprechung, dass er den Abschluss eines zulässigen Tarifvertrags zum Ziel hat.2 Aus diesem Grund hat sich der Große Senat, nachdem er Differenzierungsklauseln für rechtswidrig erachtet hat, ausdrücklich einer Stellungnahme enthalten.3 Auch wenn die vorliegende Untersuchung gezeigt hat, dass Differenzierungsklauseln grundsätzlich zulässig sind, ist damit die Frage der Erzwingbarkeit noch nicht geklärt; auch unter Befürwortern von Differenzierungsklauseln herrscht – soweit dazu überhaupt Stellung bezogen wird – diesbezüglich keine Einigkeit.4 Deshalb harrt die sechste an den Großen Senat gestellte Vorlagefrage noch ihrer Beantwortung: „Können Regelungen des zu 1. bis 5. geschilderten Inhalts (Anm.: Differenzierungsklau1

Siehe oben S. 275 f. Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1071 (m. w. N. auch zur Gegenauffassung in Fn. 34, 35). 3 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 25 R). In BAG, Urt. v. 21.3.1978, AP Nr. 62 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, wurde folgerichtig der Streik um eine Differenzierungsklausel für rechtswidrig erklärt, da es sich nicht um ein zulässiges Streikziel gehandelt habe. 4 Abgelehnt beispielsweise von Krüger, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 75 f.; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 171 f. Für eine Erstreikbarkeit der Tarifausschlussklauseln Fechner, Rechtsgutachten, S. 91. 2

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

seln) zwar freiwillig vereinbart, aber nicht durch Arbeitskampf erstritten werden?“ Es ist allgemein anerkannt, dass das Streikrecht der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder von Art. 9 Abs. 3 GG umfasst wird. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist die Arbeitnehmerseite darauf angewiesen, durch Mittel des Arbeitskampfes die Arbeitgeberseite an den Verhandlungstisch zu zwingen und zum Abschluss eines Tarifvertrags zu veranlassen. Anschaulich hat das BAG diese Situation damit umschrieben, dass Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik nicht mehr als „kollektives Betteln“ sind. „Diese Feststellung läßt sich nicht mit dem Hinweis anzweifeln, daß weitaus die meisten Tarifverträge ohne vorangehende Arbeitskämpfe zustande kommen. Das ist zwar richtig und in der BR Deutschland jedenfalls bislang besonders ausgeprägt, läßt aber keinen Schluß auf die tatsächliche Bedeutung der Streikbefugnis zu. Schon die glaubwürdige Bereitschaft zum Streik zwingt die Arbeitgeberseite dazu, die Schäden eines möglichen Arbeitskampfes mit den wirtschaftlichen Folgen eines Nachgebens zu vergleichen. Schon dadurch entsteht ein Druck, der regelmäßig zur Verhandlungsbereitschaft führt, ohne daß auch nur eine Urabstimmung durchgeführt werden müßte. (. . .) Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit der Kampfbereitschaft.“5 Der grundsätzlichen Bedeutung des Streikrechts für den Abschluss eines Tarifvertrags steht es nicht entgegen, dass der Gewerkschaft auch noch andere Druckmittel zur Verfügung stehen können. Ein solcher Fall kann dann vorliegen, wenn die Arbeitgeberseite ein größeres Interesse an einem tariflichen Abschluss hat als die Arbeitnehmerseite, sodass die Arbeitgeberseite eher zu Zugeständnissen bereit ist. Beispielsweise hat die IG Metall 2004 im Bezirk Nordrhein-Westfalen betrieblichen Abweichungen vom Flächentarifvertrag nur unter der Prämisse zugestimmt, dass Bonusregelungen zugunsten ihrer Mitglieder getroffen werden.6 Diese Rechtsprechung des BAG zum Streik hat in der Literatur im Wesentlichen Zustimmung, gelegentlich aber auch Ablehnung erfahren.7 Im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings kein Raum, um die Arbeitskampfrechtsprechung einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Da in der Regel auch die Kritiker davon ausgehen, dass die Gewerkschaften den Streik als Ultima-Ratio 5 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 (Bl. 4 R), ähnlich Urt. v. 29.1.1985, AP Nr. 83 (Bl. 3) zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Bei Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 916, findet sich (als Zitat des französischen Wissenschaftlers Leray) der dem Urteil des BAG zugrunde liegende Gedanke in der dem Arbeitskampfrecht eigentümlichen martialischen Sprache zusammengefasst: „(D)er Zusammenschluss zu einer Koalition (verhält) sich zum Arbeitskampf wie das Ultimatum zur Kriegserklärung.“ 6 Siehe hierzu oben S. 24 Fn. 9. 7 Vgl. zusammenfassend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 939 f.

A. Abwehrmaßnahmen des Arbeitgebers gegen einen Arbeitskampf

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anzuwendendes Mittel und damit als Drohkulisse sehen,8 kann von einer Auseinandersetzung abgesehen werden. Bevor nun allerdings die Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln thematisiert werden kann, ist zu untersuchen, welche Abwehrmaßnahmen der Arbeitgeberseite im Streikfall zustehen. Berücksichtigt man den Grundsatz, dass zwischen den Arbeitskampfparteien Parität bestehen muss, können sich Rückschlüsse von den Arbeitskampfmitteln der Arbeitgeber auf den Umfang des Streikrechts ergeben.

A. Abwehrmaßnahmen des Arbeitgebers gegen einen Arbeitskampf I. Aussperrung der Außenseiter Die Differenzierungsklauselentscheidung des BAG GrS hat ihre Auswirkungen über das Tarifrecht hinaus auch im Bereich des Rechts zur Aussperrung. Mit der einheitlichen Anwendung des Tarifvertrags wurde das Verbot begründet, dass der Arbeitgeber keine Ausgleichszahlungen an ausgesperrte Außenseiter leisten darf.9 Das BAG hat die Aussperrung nichtstreikender Arbeitswilliger u. a. damit gerechtfertigt, dass den Gewerkschaften die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln verboten sei und dementsprechend in der betrieblichen Praxis der Tarifvertrag allen Arbeitnehmern zugute komme.10 Welche Rechte stehen dem Arbeitgeber zu, wenn die Gewerkschaft einen differenzierenden Tarifvertrag kampfweise durchsetzen möchte? 1. Tarifvertrag enthält auch Differenzierungsklauseln Der Arbeitgeber darf bzw. muss grundsätzlich auch solche Arbeitnehmer aussperren, die nicht der tarifschließenden Gewerkschaft angehören und sich nicht am Arbeitskampf beteiligen.11 Soweit Außenseiter sich an einem Arbeitskampf 8 Vgl. bspw. Mayer-Maly, Anm. zu AP Nr. 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 8 f.), der den Arbeitskampf als Alternative zur unerwünschten Zwangsschlichtung sieht. 9 Vgl. hierzu Hanau/Kroll, JZ 1980, 180 (184 f.); Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 297; Pfarr, ArbuR 1977, 33 (36 f). 10 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 f.); ebenso Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 216; Pfarr, ArbuR 1977, 33 (38 ff.); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 55 Rn. 10; differenzierend Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 453 f.; a. A. Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (184); Seiter, JZ 1979, 657 (661, 665). Auf den Zusammenhang von Außenseiteraussperrung und Differenzierungsklauseln weist auch Bertelsmann, Aussperrung, S. 353 f., hin. Aus der Differenzierungsklauselentscheidung des BAG GrS schließt Säcker, Gruppenautonomie, S. 333 f., 482 Fn. 85, dass eine Aussperrung der Außenseiter unzulässig ist. 11 BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 9 R); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 304, 1047 f.; Kissel, in: FS für Hanau, S. 556 ff.;

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

beteiligen, wäre es widersprüchlich und ein Verstoß gegen den Grundsatz „venire contra factum proprium“, sie von den nachteiligen Folgen der Streikbeteiligung zu verschonen. Die Aussperrung nichtstreikender Außenseiter beruht auf der Herbeiführung praktischer Konkordanz von positiver und negativer Koalitionsfreiheit. Auf Seiten der Außenseiter kann die unfreiwillige Einbeziehung in den Arbeitskampf als Beeinträchtigung ihrer negativen Koalitionsfreiheit – sei es als Fernbleiberecht, weil der Einzelne dazu veranlasst wird, Schutz in der Gewerkschaft zu suchen, sei es als Recht, nicht von den Koalitionen behelligt zu werden – gesehen werden. Demgegenüber würde eine rein auf die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer beschränkte Aussperrung deren positive Koalitionsfreiheit verletzten und die Gewerkschaften in ihrem Bestand gefährden, da schwerwiegende nachteilige Folgen an die Gewerkschaftsmitgliedschaft geknüpft würden. Wenn zudem die Außenseiter dieselben materiellen Vorteile ohne arbeitkampfrechtliche Risiken erlangen können, stellt die selektive Aussperrung eine Werbung zum Koalitionsaustritt dar.12 Darüber hinaus stellt das Recht zur Aussperrung von Außenseitern erst die arbeitskampfrechtliche Parität her, die die Voraussetzung dafür ist, dass die Gewerkschaften Tarifverträge mit Hilfe von Streiks durchsetzen und damit ihre positive Koalitionsfreiheit wahrnehmen können. Insoweit gewährleistet die Aussperrung die Funktionsfähigkeit des Arbeitskampfsystems.13 Bei der Lösung dieser Grundrechtskollision ist zu bedenken, dass die Außenseiter vom erkämpften Tarifvertrag (faktisch) profitieren. Schließlich entspricht es der betrieblichen Praxis, dass Außenseiter zwar keinen gesetzlichen Anspruch auf tarifliche Leistungen haben, die Verweisung im Arbeitsvertrag auf den Tarifvertrag aber die Regel ist. „Im Arbeitskampf geht es nämlich nicht nur um die Rechte der organisierten Arbeitnehmer, sondern um die Arbeitsbedingungen im gesamten Tarifgebiet. Der erkämpfte Tarifvertrag entfaltet zwar seine normative Wirkung nur für die tarifgebundenen Arbeitnehmer, praktisch werden jedoch die Nichtorganisierten stets gleichgestellt.“ 14 Da somit die Einders., Arbeitskampfrecht, § 55 Rn. 9 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 343 ff., 349. A. A. Richardi, RdA 1970, 65 (70); Säcker, Gruppenautonomie, S. 333 f., 482 Fn. 85; Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 83 f.; Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 99; Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (184). Differenzierend Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 269 f. Bedenken auch bei Wiedemann, RdA 1969, 321 (326). Zwischen den Nicht- und Andersorganisierten bestehen – von einer etwaigen Friedenspflicht abgesehen, keine wesentlichen Unterschiede, sodass eine getrennte Behandlung nicht erforderlich ist; vgl. Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 68, 118; Auktor, Wellenstreik, S. 141 f. 12 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (3 R); Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 81 ff.; Kissel, in: FS für Hanau, S. 559; Pfarr, ArbuR 1977, 33 (39); ebenso Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 348, der im Ergebnis aber eine selektive Aussperrung zulässt. 13 Vgl. zu näheren Einzelheiten unten auf S. 315 bei Fn. 55.

A. Abwehrmaßnahmen des Arbeitgebers gegen einen Arbeitskampf

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beziehung in den Arbeitskampf für die Außenseiter nicht bloß nachteilig ist, sondern im Ergebnis durch wirtschaftliche Vorteile ausgeglichen wird, liegt eine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit nicht vor.15 Die Feststellung, dass die Außenseiteraussperrung die Voraussetzung eines funktionierenden Arbeitskampfsystems ist, kann die Außenseiteraussperrung hingegen nicht rechtfertigen. Entgegen der Ansicht von Thüsing16 ergibt sich hieraus lediglich eine Grundrechtskollision, nicht aber ihre Lösung. Wollte man letzteres annehmen, würde im Ergebnis die positive die negative Koalitionsfreiheit verdrängen, indem den Außenseitern Lasten aufgebürdet würden mit dem alleinigen Ziel, die Grundrechtswahrnehmung der tarifgebundenen Arbeitnehmer zu ermöglichen; von der Herstellung praktischer Konkordanz kann dabei keine Rede sein. Bei einfachen Differenzierungsklauseln können die Außenseiter im gleichen Maße von tariflichen Verbesserungen profitieren, wie tarifgebundene Arbeitnehmer. Demgegenüber haben Tarifausschluss- und Abstandsklauseln eine (zumindest teilweise) Exklusivität des Tarifvertrags zur Folge. Hieraus zieht Bunge die Konsequenz, dass eine Aussperrung der Außenseiter unzulässig ist, wenn der Arbeitskampf ausschließlich um eine Differenzierungsklausel bzw. um einen Differenzierungsbetrag geführt wird.17 Der Fall, dass ein Arbeitskampf allein um eine Differenzierungsklausel und losgelöst vom restlichen Tarifvertrag geführt wird, erscheint als ein hypothetisches und praxisfernes Konstrukt. Eine Differenzierungsklausel kann nur im Zusammenhang mit sonstigen tariflichen Leistungen gedacht werden. Sicherlich gibt es Arbeitskämpfe, die geführt werden, um eine bestimmte zwischen den Tarifvertragsparteien streitige Tarifklausel durchzusetzen. Die betreffende Tarifklausel muss jedoch immer im Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelungen gesehen werden. Ein Entgegenkommen der Arbeitgeberseite wird in der Regel mit Zugeständnissen der Gewerkschaften „erkauft“. Selbst wenn die Streitigkeiten nur eine bestimmte Klausel zum Gegenstand haben, kann diese Klausel nicht aus dem Tarifvertrag quasi herausgelöst und isoliert betrachtet werden.18 Ein Arbeitskampf, der um eine Differenzierungsklausel geführt wird, ist immer ein Kampf um den gesamten Tarifvertrag. 14 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3); zustimmend Kissel, Arbeitskampfrecht, § 55 Rn. 10; die Partizipation der Arbeitnehmer am (fremden) Tarifvertrag betont auch BVerfG, Urt. v. 4.4.1995, BVerfGE 92, 365 (397). 15 Vgl. hierzu Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 87 f.; Kissel, in: FS für Hanau, S. 556 ff.; Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 259; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 348. 16 Thüsing, Außenseiter und Arbeitskampf, S. 73. 17 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 413. Die Ansicht Bunges, a. a. O., S. 391 f., 402, nach der nur die unerlässlichen sekuritätspolitischen Maßnahmen erstreikbar sind, beruht auf einem unzutreffenden Verständnis der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG. 18 Vgl. die obigen Ausführungen zur Frage, ob Differenzierungsklauseln von der AVE ausgenommen werden können, S. 240.

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

2. Tarifvertrag differenziert ausschließlich Wird ein Tarifvertrag insgesamt den tarifgebundenen oder allen gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmern vorbehalten, ergeben sich Besonderheiten für das Arbeitskampfrecht. Dass ein gesamter Tarifvertrag zum Exklusivgut erklärt werden soll, dürfte zwar die Ausnahme bleiben.19 Denkbar ist ein solcher Tarifvertrag durchaus. Beispielsweise könnte ein Urlaubstarifvertrag den tarifgebundenen Arbeitnehmern zusätzlichen Urlaub und Urlaubsgeld gewähren, wohingegen für die Außenseiter allein die gesetzliche Regelung Anwendung finden würde. Die „Exklusivität“ muss außerdem nicht immer mit Hilfe einer Tarifausschlussklausel ausdrücklich angeordnet werden, sondern kann sich auch aus der Struktur des Tarifvertrags ergeben, sodass die bloße Gewerkschaftszugehörigkeit als Tatbestandsvoraussetzung ausreicht, um den Nutzen des Tarifvertrags den Außenseitern vorzuenthalten. Die Tarifvertragsparteien könnten eine Gemeinsame Einrichtung ähnlich der in der Miederindustrie20 schaffen, die einen Zuschuss zur betrieblichen Altersversorgung der tarifgebundenen Arbeitnehmer gewährt und in die alle tarifgebundenen Arbeitgeber einzahlen. Für die saarländische Textil- und Lederindustrie besteht ein Tarifvertrag, der mittels einer Gemeinsamen Einrichtungen „für die Erhaltung der Arbeitskraft, zur Förderung der Gesundheit und zu Erholungszwecken“ ausschließlich tarifgebundenen Arbeitnehmern i. S. d. § 3 Abs. 1 TVG Ansprüche verschafft.21 Auch die bereits erwähnten Vorruhestandstarifverträge22 würden bei entsprechender Interpretation allein den Gewerkschaftsmitgliedern zugute kommen. Während man hierbei gegebenenfalls ein mittelbares Interesse der Außenseiter am Tarifabschluss feststellen könnte – das allgemeine Leistungsniveau wird angehoben –, dürfte ein solches bei Tarifverträgen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute23 gänzlich fehlen. Im Hinblick auf die Erstreikbarkeit von Tarifverträgen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute finden sich im Schrifttum nur wenige knapp gehaltene Stellungnahmen.24 Der Unterscheidung zwischen auch und ausschließlich differenzierenden Tarifverträgen kann nicht entgegengehalten werden, dass jede Differenzierungs19

Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 411; vgl. die Übersicht bei Seitenzahl/ Zachert/Pütz, Vorteilsregelungen, S. 184. 20 Siehe oben S. 42 f. 21 Sieh zu einem vergleichbaren Tarifvertrag von 1963 oben S. 47. 22 Siehe oben S. 159 ff. 23 Von ihrer Wirkung her sind Tarifverträge zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute mit differenzierenden Tarifverträgen durchaus vergleichbar, auch wenn sie anderen Zielen dienen. Siehe zum Vergleich von Differenzierungs- und Absicherungsklauseln Bötticher, RdA 1978, 133 (140 f.). Beispiele von entsprechenden Tarifverträgen bei Wirtz, Stellung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute, Anhang. 24 Für die Erstreikbarkeit Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1070; a. A. MünchArbR-Otto, Bd. III, § 285 Rn. 7.

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klausel notwendigerweise über die spezifizierte Leistung hinaus das gesamte Arbeitsverhältnis erfasst. Wenn Biedenkopf befürchtet, dass es sonst dem Arbeitgeber ein leichtes ist, einer Differenzierungsklausel durch Erhöhung anderer Sozialleistungen auszuweichen – „anderenfalls würde die Klausel nur zu einer Differenzierung in der Art, aber nicht im Wert der Leistung führen und damit ihren Sinn verlieren“25 –, kann dem nicht gefolgt werden. Soweit der Arbeitgeber den Außenseitern übertarifliche Sozialleistungen in kollektiver Form gewährt, haben auch die tarifgebunden Arbeitnehmer einen Anspruch hierauf aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Differenz bliebe also im Ergebnis wieder gewahrt. An einem Tarifvertrag, der insgesamt zum Exklusivgut erhoben wurde, können die Außenseiter direkt allein durch den Gewerkschaftsbeitritt und indirekt allein durch die Anhebung des allgemeinen Leistungsniveaus profitieren. Dementsprechend sind Bunges Bedenken dann beachtenswert, wenn ein Tarifvertrag – bspw. zur Errichtung einer Gemeinsamen Einrichtung – nach seiner Struktur dazu bestimmt ist, allein den tarifgebundenen Arbeitnehmern Leistungsansprüche zu verschaffen. Das Gleiche gilt, wenn ein gesamter Tarifvertrag durch eine Tarifausschlussklausel dem „Zugriff“ der Außenseiter entzogen wird (die Abstandsklausel ermöglicht auch den Außenseitern zumindest noch einen Sockelbetrag). Letztlich erscheint die Partizipation der Außenseiter am tarifvertraglichen Erfolg vermittelt durch eine gesamtwirtschaftliche Entwicklung als zu vage, um die Nachteile zu kompensieren, die ihnen entstehen, wenn sie unfreiwillig in einen (fremden) Arbeitskampf einbezogen werden. Soll ein Tarifvertrag zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute durchgesetzt werden, dürfte es den Außenseiter gänzlich an einem materiellen Eigeninteresse fehlen. In diesen Fällen beeinträchtigt die Aussperrung die Außenseiter in ihrer negativen Koalitionsfreiheit unverhältnismäßig. Eine Einbeziehung in den Arbeitskampf lässt sich deshalb nicht rechtfertigen. Ausnahmsweise kann davon gesprochen werden, dass die Gewerkschaften ihre organisationspolitischen Kämpfe auf dem Rücken der Außenseiter austragen.

II. Betriebs- und Wirtschaftsrisiko Grundsätzlich hat der Arbeitgeber das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko zu tragen, also das Risiko, infolge eines von ihm nicht zu vertretenden Produktionsausfalls oder von Absatzschwierigkeiten den Arbeitnehmern weiterhin Lohnzahlungen zu schulden. Die Betriebsrisikolehre wurde von Rechtsprechung und Literatur entwickelt26 und kommt nunmehr in § 615 S. 3 BGB n. F. zum Aus25

Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Bd. I, S. 136. Vgl. zusammenfassend Biedenkopf, Betriebsrisikolehre, S. 2 ff.; Kalb, in: FS für Stahlhacke, S. 215 ff., sowie aktuell Luke, NZA 2004, 244 ff. 26

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

druck. Diese Risikoverteilung wird vom BAG dann modifiziert, wenn dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung aufgrund eines Arbeitskampfes Dritter nicht möglich oder nicht zumutbar ist (Arbeitskampfrisiko).27 Begründet wird die Modifikation des Betriebsrisikos vom BAG kampfrechtlich, indem auf Gesichtspunkte der Kampfparität zur Lösung dieser Problematik abgestellt wird: „Eine Durchbrechung des allgemeinen Betriebs- und Wirtschaftsrisikos zugunsten kampfrechtlicher Grundsätze ist nur insoweit gerechtfertigt, wie die Fernwirkungen eines Arbeitskampfes unmittelbar oder mittelbar zu einer Störung des Kräfteverhältnisses führen können. Dafür genügt die bloß abstrakte Möglichkeit einer Beeinflussung nicht. Die Bedeutung der Fernwirkungen für den Kampfverlauf muß (bei einer im Interesse der Rechtssicherheit typisierenden Betrachtung), feststellbar sein.“28

Hingegen hat es das BAG abgelehnt, das Arbeitskampfrisiko allein unter dem Gesichtspunkt der Partizipation am Tarifschluss oder der Einflussnahme auf die gewerkschaftliche Kampfführung zu betrachten: „Es geht zwar in der Tat um Vorteile und Einflußmöglichkeiten, dabei kommt es jedoch nicht entscheidend auf die mittelbar betroffenen Arbeitnehmer an. Diese haben jedenfalls dann kaum Einfluß auf den Ablauf des Arbeitskampfes, wenn sie außerhalb des Tarifgebietes tätig sind und/oder sogar nicht einmal einer Gewerkschaft angehören (. . .). Auch die Vorteile eines Arbeitskampfes sind, von bestimmt gelagerten Situationen abgesehen, außerhalb des umkämpften Tarifgebietes nur schwer nachweisbar und von vielen Zufälligkeiten abhängig. Das rechtfertigt jedoch nicht den Umkehrschluß des LAG (. . .), daß das Arbeitskampfrisiko auf das Kampfgebiet beschränkt sein müsse.“29

Allerdings stellt die Möglichkeit der (mittelbaren) Partizipation der Arbeitnehmer an dem Tarifvertrag ein Indiz dafür dar, dass das Kräftegleichgewicht der Arbeitskampfparteien gestört wird, sollte allein die Arbeitgeberseite mit dem Arbeitskampfrisiko belastet werden. So hinge es beispielsweise vom taktischen Geschick der Gewerkschaften ab, sich auf Mustertarifabschlüsse in beschränkten Tarifgebieten zu konzentrieren, und damit den personellen und materiellen Aufwand zu minimieren. § 146 Abs. 3 SGB III können dabei Anhaltspunkte entnommen werden, wann eine entsprechende Konstellation vorliegt.30 27 Vgl. hierzu BAG, Beschl. v. 22.12.1980, AP Nr. 70 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 ff.); Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1244 ff. Ob es sich bei der Betriebsrisikolehre um eine arbeitskampfrechtliche Figur handelt, ist in diesem Zusammenhang nicht zu entscheiden. Siehe hierzu Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 411 Fn. 57; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 33 Rn. 11, 63; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 305 ff., 312, 314. 28 BAG, Beschl. v. 22.12.1980, AP Nr. 70 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 6 R); ebenso Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 214 ff.; vgl. hierzu Reichold, JuS 1996, 1049 (1057); Colneric, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 615 ff. Dass die Belastung der Arbeitnehmer mit dem Arbeitskampfrisiko unter Paritätsgesichtspunkten erforderlich ist, wird angezweifelt von Zöllner, Aussperrung, S. 57. 29 BAG, Beschl. v. 22.12.1980, AP Nr. 70 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4 R f.); unter Berufung auf Weiß, ArbuR 1974, 37 (42); Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 313.

A. Abwehrmaßnahmen des Arbeitgebers gegen einen Arbeitskampf

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Nach der Rechtsprechung des BAG unterfallen auch die Außenseiter den Grundsätzen des Arbeitskampfrisikos.31 Wie lässt sich diese Einbeziehung begründen? Den Außenseitern fehlt die Möglichkeit, auf die innergewerkschaftliche Willenbildung einzuwirken und ein Ende des Arbeitskampfes durchzusetzen. Hieraus zu schlussfolgern, dass die Stellung der Außenseiter keinen Einfluss auf die Kampfparität hat, verbietet sich jedoch. Wie auch bei der Aussperrung ist die Tarifwirklichkeit zu beachten. Die Belastung der Arbeitnehmer mit dem Arbeitskampfrisiko soll gleichzeitig die Arbeitgeber hinsichtlich des Lohnfortzahlungsanspruchs entlasten und damit die Arbeitskampfparität sichern. Wenn weniger als 30% der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind, kann die Entlastung der Arbeitgeberseite nur dann die Arbeitskampfparität beeinflussen/sichern, wenn auch die Außenseiter erfasst werden. Insoweit dient die Einbeziehung der Außenseiter der Funktionsfähigkeit des Arbeitskampfsystems und damit letztlich der positiven Koalitionsfreiheit von Gewerkschaften und Arbeitgebern.32 Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften – wie auch bei der Aussperrung – in ihrer Existenz bedroht wären, würde sich das Arbeitskampfrisiko auf die organisierten Arbeitnehmer beschränken, hier sogar noch empfindlicher, da eine Streikunterstützung durch die Gewerkschaften nicht erfolgt. Diesem Eingriff in die positive Koalitionsfreiheit steht eine Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit – die Außenseiter werden jedenfalls nicht in die Gewerkschaft gedrängt, da ihnen die Organisierung im Hinblick auf das Arbeitskampfrisiko keine Vorteile bringt33 – bzw. der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter als Recht, von fremden Kampfhandlungen verschont zu bleiben, gegenüber. Bei der Herstellung praktischer Konkordanz ist zu berücksichtigen, inwieweit die Außenseiter von dem Tarifschluss zumindest mittelbar (faktisch) profitieren. So hat das BAG in seinem Urteil vom 22.3.1994 festgestellt, dass die Erstreckung der Fernwirkung von Arbeitskämpfen und Aussperrung auf die Außenseiter „durch die Vorteile aufgewogen (wird), die sich mittelbar auch für sie durch eine effiziente Tarifpraxis und Erfolge der gewerkschaftlichen Tarifpolitik ergeben.“34 30 Luke, NZA 2004, 244 (246 f.); vgl. auch Kalb, in: FS für Stahlhacke, S. 228 f. Gegenüber § 146 SGB III sind Art. 69 lit. i ILO-Übereinkommen Nr. 102 und Art. 20 lit. d ILO-Übereinkommen Nr. 168 wesentlich unbestimmter gefasst, wenn sie allgemein von der Arbeitseinstellung als „unmittelbare Folge“ einer Arbeitsstreitigkeit sprechen. 31 BAG, Urt. v. 14.12.1993, AP Nr. 129 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 2); ebenso Auktor, Wellenstreik, S. 86 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 33 Rn. 29; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 242; A. A. Biedenkopf, Betriebsrisikolehre, S. 23. 32 Auktor, Wellenstreik, S. 87. 33 Demgegenüber möchte Adomeit, NJW 1987, 33 (35), im Falle einer beabsichtigten Fernwirkung des Streiks den organisierten Arbeitnehmern einen Anspruch auf Streikunterstützung zusprechen.

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

Wie wirkt sich die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln auf die Verteilung des Betriebs- und Wirtschaftsrisikos aus? Bei der Frage, ob die Außenseiter von einem möglichen Tarifabschluss nennenswert profitieren, sind die gleichen Überlegungen anzustellen, wie bei der Frage nach der Zulässigkeit der Aussperrung. Dementsprechend hat der Tarifvertrag seine Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Außenseiter, wenn die Differenzierungsklausel nur einen Teil des Tarifvertrags umfasst. Hier steht – ggf. nach einer Übernahme des Tarifvertrags in anderen Tarifgebieten – einer Erstreckung der wesentlichen Teile des Tarifvertrags auf individualvertraglicher Ebene nichts im Wege. Ist der Tarifvertrag insgesamt zum Exklusivgut der gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer erhoben, fehlt den Außenseitern – bei allgemeiner Tarifausschlussklausel den Nichtorganisierten, bei beschränkter Tarifausschlussklausel den Nichtund Andersorganisierten – das materielle Interesse am Tarifschluss. Die Hoffnung der Außenseiter, dass durch den Tarifschluss das allgemeine Leistungsniveau angehoben wird, erscheint als zu vage, um daraus rechtliche Konsequenzen ziehen zu können. Erst Recht gelten diese Überlegungen, wenn der Tarifvertrag allein gewerkschaftlichen Zwecken dient, wie dies z. B. bei Tarifverträgen zugunsten gewerkschaftlicher Vertrauensleute der Fall ist. Soweit die Gewerkschaft rein verbandsegoistisch handelt, kann eine Belastung der Außenseiter mit dem Arbeitskampfrisiko nicht mehr als schonender Ausgleich konfligierender Grundrechtspositionen angesehen werden. Die Außenseiter trotzdem in die Pflicht zu nehmen, hieße, die längst überwundene Sphärentheorie35 wieder zu beleben. Welche Rückschlüsse sich für das Streikrecht aus der Beschränkung des Arbeitskampfrisikos auf die tarifverbsandangehörigen Arbeitnehmer ergeben, wird noch zu untersuchen sein.

III. Differenzierungsklauseln als Ersatz für die Aussperrung von Außenseitern Die vorangegangenen Erörterungen haben sich mit der Frage befasst, welche arbeitskampfrechtlichen Besonderheiten unter Zugrundelegung der geltenden Arbeitskampfrechtsprechung bei einem Tarifvertrag bestehen, der Differenzierungsklauseln enthält. Zum Abschluss dieser Überlegungen soll noch auf die eingangs aufgeworfene Problematik zurückzukommen sein. Wie wirkt sich die grundsätzliche Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln de lege lata auf das 34 BAG, Urt. v. 22.3.1994, AP Nr. 130 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 R); vgl. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 33, Rn. 57 ff.; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 242. In diesem Sinne bereits die Überlegungen des LAG Elberfeld, Urt. v. 4.4.1928, Bensh. Samml. 3, LAG Nr. 38, S. 127 (129); siehe zu dieser Entscheidung Biedenkopf, Betriebsrisikolehre, S. 8 ff. 35 Vgl. zur Sphärentheorie RG, Urt. v. 6.2.1923, RGZ 106, 272 (275 ff.); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 33 Rn. 15 f.

A. Abwehrmaßnahmen des Arbeitgebers gegen einen Arbeitskampf

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Recht des Arbeitgebers zur Aussperrung nichtstreikender Außenseiter aus? Von Bertelsmann wurde die These aufgestellt, dass die Möglichkeit, Differenzierungsklauseln zu vereinbaren, die Beschränkung der Aussperrung auf organisierte Arbeitnehmer und streikende Außenseiter, rechtfertigen kann. Eine Erosion der Gewerkschaften könne hierdurch verhindert und eine Verletzung der positiven Koalitionsfreiheit damit ausgeschlossen werden.36 Die Überlegung „Differenzierungsklauseln als Ersatz für die Außenseiteraussperrung“ erscheint nur vordergründig schlüssig, wirft aber im Hinblick auf das kollektive Arbeitsrecht vielfältige Probleme auf. Erstens müssten dann die Differenzierungsklauseln das finanzielle Risiko einer Aussperrung ausgleichen, um trotzdem einen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt zu bieten. Zweitens müsste eine Gleichstellung von tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern auf individualvertraglicher Ebene ausgeschlossen sein. Ansonsten wäre die Vorteilhaftigkeit des Tarifvertrags hinfällig. Drittens würde der Gewerkschaft ihre Tarifpolitik diktiert; sie wäre faktisch dazu gezwungen, Differenzierungsklauseln zu vereinbaren und damit die Arbeitskampfsolidarität der Außenseiter aufs Spiel zu setzen. Wie sich gezeigt hat, kann die tarifliche Begünstigung nicht auf die streikbeteiligten Außenseiter ausgedehnt werden. Die damit einhergehende Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber wäre nicht gerechtfertigt und deshalb unzulässig.37 Dementsprechend könnte die Gewerkschaft die Außenseiter nur pauschal berücksichtigen, unabhängig von einer individuellen Streikbeteiligung. Es kann außerdem nicht Aufgabe einer Gewerkschaft sein, Maßnahmen zu unternehmen, um einen Eingriff in ihre positive Koalitionsfreiheit durch eine selektive Aussperrung der Arbeitgeberseite abzuwehren. Hiermit zusammenhängend würde sich die Kampfparität zugunsten der Arbeitgeberseite verschieben, da es auch von ihr abhängt, ob und in welcher Höhe die Gewerkschaften Differenzierungsklauseln durchsetzen können. Wenn „die Befreiung der Außenseiter von negativen Kampfwirkungen den subtilsten und gefährlichsten Anschlag auf den gewerkschaftlichen Mitgliederstand“38 darstellt, müssten komplementär hierzu die Differenzierungsklauseln elementare Bedeutung erlangen. Die Drohung, eine entsprechende Klausel abzulehnen würde die Gewerkschaft empfindlich treffen. Müsste dann die Arbeitgeberseite verpflichtet sein, Differenzierungsklauseln zu vereinbaren, wenn diese zum Kernbereich der Koalitionsfreiheit gehören? Schließlich verkennt Bertelsmann noch, dass die Außenseiteraussperrung nicht allein dem Bestandsschutz der Gewerkschaften dient, sondern auch den Arbeitgeber in die Lage versetzt, auf 36

Bertelsmann, Aussperrung, S. 353 f.; vgl. auch Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (184). Siehe oben S. 214. 38 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 348; zustimmend Pfarr, ArbuR 1977, 33 (39). Seiter leitet hieraus allerdings keine Pflicht zur Aussperrung von Außenseitern ab, auch wenn die Wortwahl anderes vermuten lässt (vgl. seine Klarstellung in JZ 1979, 657 [661, 665]). Ebenso Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (184). 37

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

Streikmaßnahmen adäquat zu reagieren, beispielsweise durch Reduzierung seiner wirtschaftlichen Belastungen. Bei einer Beschränkung des Rechts zur Aussperrung auf die Gewerkschaftsmitglieder wäre die Kampfparität ernsthaft gefährdet, selbst wenn weiterhin die Grundsätze der Verteilung des Arbeitskampfrisikos39 Anwendung finden würden. Denn das Arbeitskampfrisiko greift nur dann ein, wenn die Aufrechterhaltung der Produktion dem Arbeitgeber nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Wie sich gezeigt hat, sind die Differenzierungsklauseln kein adäquater Ersatz für eine Außenseiteraussperrung. Folglich bleibt es dabei, dass bei der Außenseiteraussperrung eine Kollision von negativer und positiver Koalitionsfreiheit vorliegt, die auf die vom BAG entwickelte Weise zu lösen ist. Sollte es hingegen zu einer Änderung der Rechtsprechung kommen, sodass es dem Arbeitgeber zukünftig freigestellt wird, auch die Außenseiter in eine Aussperrung einzubeziehen – derzeit geht das BAG noch von einer Verpflichtung des Arbeitgebers aus40 –, muss den Gewerkschaften das Mittel der Differenzierungsklauseln als Nachteilsausgleich an die Hand gegeben werden. Auch wenn hierdurch die Waffengleichheit aus den oben genannten Gründen nicht hergestellt werden kann, würde es eine Ungleichbehandlung bedeuten, den Arbeitgebern eine Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit zuzugestehen, sie den Gewerkschaften aber vorzuenthalten.

B. Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln Den einzelnen Typen der Differenzierungsklauseln liegen unterschiedliche rechtliche Konstruktionen und Wirkungen zugrunde. Deshalb soll im Folgenden jede Variante auf ihre „Arbeitskampftauglichkeit“ untersucht werden. Insbesondere ist wie auch bei der Aussperrung danach zu unterscheiden, ob eine Differenzierungsklausel lediglich einzelne Teile eines Tarifvertrags den tarifgebundenen Arbeitnehmern vorenthält oder den gesamten Tarifvertrag zum Exklusivgut erklärt. Wird den Arbeitgebern beim Kampf um Differenzierungsklauseln die Aussperrung teilweise versagt und bleibt das Arbeitskampfrisiko auf tarifgebundene Arbeitnehmer beschränkt, kann das nicht ohne Auswirkungen auf das Streikrecht bleiben.

I. Tarifvertrag enthält auch Differenzierungsklauseln Zunächst ist vom Normalfall auszugehen, dass ein Tarifvertrag neben allgemeinen Leistungen auch bestimmte Leistungen gewährt, die mittels Differenzie39 40

Hierauf verweist Bertelsmann, Aussperrung, S. 356. BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 66 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 R ff.).

B. Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln

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rungsklauseln auf gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer beschränkt sind. Hierdurch werden die Außenseiter nicht gehindert, die wesentlichen Bestandteile des Tarifvertrags auf ihre Arbeitsverhältnisse einwirken zu lassen. Selbst wenn allein um den differenzierenden Teil gestritten wird, muss die Differenzierungsklausel im Gesamtzusammenhang gesehen werden, sodass in diesen Fällen keine Besonderheiten gelten.41 1. Einfache Differenzierungsklauseln und Abstandsklauseln Die einfache Differenzierungsklausel ist dadurch gekennzeichnet, dass sie normativ wirkt und als anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal die Gewerkschaftszugehörigkeit enthält. Dieses ist zulässig und verleiht der Klausel kein grundlegend anderes Gepräge, sodass keine Besonderheiten gegenüber „normalen“ Tarifklauseln gelten. Insoweit lässt sich der allgemeine Satz anführen: „Was vereinbart werden kann, kann auch erstreikt werden.“42 Einfache Differenzierungsklauseln können ohne Abstriche arbeitskampfrechtlich durchgesetzt werden. Ebenso wie die einfache Differenzierungsklausel kann auch die Abstandsklausel im normativen Teil des Tarifvertrags vereinbart werden. Ihre sekuritätspolitische Zielrichtung kann allerdings nur eingeschränkt durch Einbeziehung der Außenseiter durch den Arbeitgeber überspielt werden. Trotzdem sind Gründe, die eine Einschränkung des Streikrechts erfordern könnten, nicht ersichtlich. Der Umstand, dass diese Klauseln (auch) sekuritätspolitischen Zwecken dienen, kann nicht ins Gewicht fallen. Insoweit wäre es inkonsequent, in diesen Klauseln eine Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu sehen, aber ihre Erkämpfbarkeit zu verneinen. Im Hinblick auf den Arbeitskampf können Art. 9 Abs. 3 GG keine anderen Aspekte entnommen werden, als sie bereits für den Umfang der Tarifmacht maßgeblich sind. Dass durch Differenzierungsklauseln eine Außenseiterbenachteiligung angestrebt wird, kann ebenfalls nicht unmittelbar auf das Arbeitskampfrecht durchschlagen. Die Rechte der Außenseiter wurden bereits bei der Frage nach der Zulässigkeit der Differenzierungsklauseln berücksichtigt. Allein über diesen 41

Siehe hierzu oben S. 303. Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 269; Schumann, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 155; Richardi, RdA 1966, 241 (247); Weyand, Tarifvertragliche Mitbestimmung, S. 160; Zöllner, Tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, S. 36; a. A. MünchArbR-Otto, Bd. III, § 285 Rn. 7, 14, der auf die Unzumutbarkeit abstellt. Gegen diese allgemeine Feststellung Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1069 f. Die Ansicht Bunges, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 391 f., 402, nach der nur die unerlässlichen sekuritätspolitischen Maßnahmen erstreikbar sind, beruht auf einem unzutreffenden Verständnis der Kernbereichsrechtsprechung des BVerfG. 42

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

Umweg kann sich eine Außenseiterbenachteiligung auf den Arbeitskampf auswirken. Für die Position der Außenseiter ist es hingegen unerheblich, ob die Differenzierungsklauseln freiwillig vereinbart oder mittels eines Streiks erzwungen wurden; auf ihre Willensfreiheit hat der Arbeitskampf keinen Effekt: Weder sind sie am Tarifschluss unmittelbar beteiligt, noch nimmt der Arbeitgeber ihre Rechte treuhänderisch wahr. Somit wird durch den Arbeitskampf eine etwaige Kollision von Rechten der Koalition und der Außenseiter nicht beeinflusst und schon gar nicht verschärft. 2. Tarifausschlussklauseln Bei den Tarifausschlussklauseln besteht eine besondere Problematik, die eine separate Erörterung erforderlich macht. Tarifausschlussklauseln können nicht normativ vereinbart werden. Hierzu fehlt den Tarifvertragsparteien die Tarifmacht. Deshalb können entsprechende Vereinbarungen nur im schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags getroffen werden. Grundsätzlich können schuldrechtliche Tarifvereinbarungen genauso wie normative erkämpft werden.43 Auch wenn sich der Satz „Schuldrechtlich kann nur das vereinbart werden, was einer normativen Regelung zugänglich ist.“ als falsch erwiesen hat44, stellt sich doch die Frage, ob nicht zumindest nur das erstreikt werden darf, was im normativen Teil des Tarifvertrags geregelt werden kann.45 Die Arbeitskampffreiheit wird durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet; dementsprechend müssen dem Grundgesetz auch die Grenzen der Streikfreiheit entnommen werden. Etwas anderes gilt dann, wenn angenommen wird, dass § 1 TVG nicht nur eine tarifrechtlich abschließende Regelung trifft, sondern auch arbeitskampfrechtlich Art. 9 Abs. 3 GG abschließend konkretisiert.46 Hieran ist richtig, dass dem Gesetzgeber die Befugnis zukommt, die Koalitionsfreiheit näher auszugestalten und insbesondere das Arbeitskampfrecht näher zu regeln. Eine Regelung des Arbeitskampfrechts hat der Gesetzgeber allerdings bislang unterlassen. Allein die Gerichte sind bisher stellvertretend tätig geworden. Allenfalls kann man in § 1 TVG die gesetzgeberische Festlegung dessen sehen, was zulässiges Ziel eines Arbeitskampfes sein kann; aber auch hier fehlt es – entgegen der Ansicht

43 Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 260; Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 388, 401; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1070; Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 125; Schumann, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 155; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 486 ff., 493; a. A. Mayer-Maly, BB 1965, 829 (833); hiergegen wiederum Fechner, Rechtsgutachten, S. 91 f. 44 Siehe oben S. 216 ff. 45 Lieb, DB 1999, 2058 (2067); MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 280 Rn. 8 f.; Beuthien, ZfA 1983, 141 (161 f.). 46 Lieb, DB 1999, 2058 (2067).

B. Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln

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von Lieb – an einer konkreten Aussage über die Reichweite des schuldrechtlichen Teils. Die Formulierung in § 1 Abs. 1 TVG „Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien“ ist viel zu vage, um abschließend die Grenzen von schuldrechtlicher Tarifmacht und Arbeitskampffreiheit abzustecken. Deshalb ist, um die bestehenden „Lücken“ auszufüllen und die Grenzen der Arbeitskampffreiheit zu ermitteln, weiterhin auf Art. 9 Abs. 3 GG und nicht auf das TVG zurückzugreifen. Erforderlich aber auch ausreichend ist es, wenn die zu regelnde Materie den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zugerechnet werden kann.47 Wenn sie dann noch rechtmäßig im Tarifvertrag vereinbart werden kann, kann sie auch erstreikt werden. Dass die Tarifausschlussklauseln diese beiden Voraussetzungen grundsätzlich erfüllen und insbesondere dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG unterfallen, wurde bereits ausführlich dargelegt. Nach der Ansicht von Hueck ist ein Streik um die Vereinbarung einer Tarifausschlussklausel – ihre Zulässigkeit unterstellt – sozial inadäquat und somit rechtswidrig.48 Ursprünglich hat der Große Senat des BAG diesen aus dem Strafrecht stammenden Begriff übernommen und als Maßstab für Arbeitskämpfe herangezogen49, seiner späteren Rechtsprechung jedoch nicht mehr zugrunde gelegt.50 Bereits bei der Auseinadersetzung mit der Differenzierungsklauselentscheidung des BAG GrS hat sich gezeigt, dass die Sozialadäquanz als Begriff viel zu unbestimmt ist, um hieraus konkrete Schlüsse für die Zulässigkeit eines bestimmten Verhaltens ziehen zu können. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Begriff der Sozialadäquanz um eine Sammelbezeichnung für rechtlich zulässige Verhaltensweisen, sodass allein die Gesetze und die vom BAG aufgestellten allgemeinen Rechtmäßigkeitsanforderungen die Grenzen des Arbeitskampfes bestimmen. In diesem Sinne haben Brox/Rüthers ausgeführt: „Die Sozialadäquanz eines um die Vereinbarung der Tarifausschlußklausel geführten Arbeitskampfes richtet sich nach der Zulässigkeit einer solchen Abmachung.“51 Der Sozialadäquanz sind hingegen keine eigenständigen Wertungen 47 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1070, der als Beispiel die Tarifausschlussklausel anführt; ebenso Hölters, Harmonie normativer und schuldrechtlicher Abreden, S. 171 f., der Differenzierungsklauseln allerdings nicht zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zählt und damit konsequent zu einer Verneinung des Arbeitskampfes gelangt. 48 Hueck, Tarifausschlußklausel, S. 52; a. A. Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 137; siehe auch direkt gegen Hueck Gamillscheg, BB 1967, 45 (51). 49 BAG GrS, Beschl. v. 28.1.1955, BAGE 1, 291 (306) = AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 7 R). Übernommen in BAG, Urt. v. 4.5.1955, BAGE 2, 75 (80) = AP Nr. 2 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3). 50 In BAG GrS, Beschl. v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, wurde die Sozialadäquanz nicht mehr erwähnt. Ebenso BAG, Urt. v. 20.12.1963, AP Nr. 34 (Bl. 2 R, 3); Urt. v. 21.3.1978, AP Nr. 62 (Bl. 4 f.) zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Vgl. hierzu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1130; Söllner/Waltermann, Arbeitsrecht, Rn. 264 Fn. 36, 280 f. 51 Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1. Aufl., S. 137.

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

zu entnehmen, sodass sich hieraus keine neuen Gesichtspunkte ergeben. Ein weiteres Eingehen auf die Sozialadäquanz erübrigt sich damit. Folglich bleibt es im Hinblick auf die verfolgten Ziele bei der Konnexität von Arbeitskampf und Tarifvertrag. Ob ein Arbeitskampf sekuritätspolitische Ziele verfolgt, ändert deshalb nichts an seiner grundsätzlichen Zulässigkeit.52 Somit kann als Ergebnis festgehalten werden, dass Arbeitskampfmaßnahmen soweit zulässig sind, wie die angestrebte Tarifausschlussklausel zulässig vereinbart werden kann.

II. Tarifvertrag differenziert ausschließlich Das Recht der Gewerkschaften, einen Tarifvertrag mit Mitteln des Arbeitskampfes durchzusetzen, gilt nicht unbegrenzt. Art. 9 Abs. 3 GG, der die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der autonomen Gestaltung durch die Tarifvertragsparteien überlässt, setzt gleichzeitig voraus, dass sich beide Parteien in gleicher Stärke gegenüber stehen. Durch die Arbeitskampfparität wird gewährleistet, dass der Tarifvertrag nicht das Ergebnis eines einseitigen Diktats ist.53 Auf Seiten des Arbeitgebers dient – neben den Grundsätzen des BAG zur Verteilung des Arbeitskampfrisikos und der Betriebsstilllegung – vornehmlich das Recht zur Aussperrung dazu, Arbeitskampfmaßnahmen der Arbeitnehmerseite effektiv abwehren zu können.54 Paritätserwägungen sind nicht allein dafür maßgeblich, welche Arbeitskampfmittel der Arbeitgeberseite zugestanden werden; auch der von der Aussperrung betroffene Personenkreis wird hierdurch bestimmt. Die Funktionsfähigkeit des Arbeitskampfsystems erfordert das Recht des Arbeitgebers zur Aussperrung von Außenseitern. Erst hierdurch wird der Arbeitgeber in die Lage versetzt, auf den Streik der Gewerkschaften angemessen zu reagieren. Er kann den Kampfrahmen erweitern, um Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, und unter Suspendierung der Entgeltpflicht seinen wirtschaftlichen Schaden begrenzen.55 Darüber hinaus entbindet die Aussperrung 52 Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 401; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1070; a. A. MünchArbR-Otto, Bd. III, § 285 Rn. 7. 53 In seinem Urt. v. 19.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 13), hat das BAG die Verhandlungsparität sogar als obersten Grundsatz des Arbeitskampfrechts bezeichnet. 54 Grundlegend zum Recht der Aussperrung unter Paritätsgesichtspunkten BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Urt. v. 12.3.1985, AP Nr. 83 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3 f.); Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 168 ff.; Zöllner, Aussperrung. Ablehnend dazu, dass die Aussperrung zur Herstellung der Parität erforderlich ist Wolter, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 917. Vgl. auch unter historischen Gesichtspunkten Potthoff, in: Ramm, Arbeitsrecht und Politik, S. 2, der aus Art. 157 WRV ableitet, dass das Arbeitsrecht „bewusst und energisch Partei ergreifen“ soll zugunsten der Arbeitnehmerseite. Der Verfassungsrang des Paritätsgebots wird verneint von Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 62 ff.

B. Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln

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der Außenseiter den Arbeitgeber von der Aufgabe, die Gewerkschaftszugehörigkeit der Beschäftigten, die ihm in der Regel nicht bekannt sein dürfte, herauszufinden56, und erhöht dadurch seine Kampffähigkeit. Ein Arbeitskampfsystem muss der betrieblichen Realität Rechnung tragen57 und berücksichtigen, dass der Organisierungsgrad der Arbeitnehmerschaft insgesamt unter 30% liegt. Würde das Aussperrungsrecht auf die organisierten Arbeitnehmer und die streikbereiten Außenseiter beschränkt, könnte die Arbeitgeberseite dem wirtschaftlichen Druck eines Streiks nicht wirksam begegnen. Mit anderen Worten: Die Aussperrung (der Außenseiter) ist die Voraussetzung des Streiks und damit des Arbeitskampfsystems als Teil der positiven Koalitionsfreiheit. 58 Das Gleiche gilt natürlich für die Betriebsstilllegung und die Verteilung des Arbeitskampfrisikos (sog. kalte Aussperrung59), da auch hierdurch eine wirtschaftliche Entlastung des Arbeitgebers eintritt und Druck auf die Gewerkschaft ausgeübt wird.60 Andernfalls hätte es die Gewerkschaft in der Hand, durch den Streik in Schlüsselpositionen den betrieblichen Ablauf empfindlich zu stören und der Arbeitgeberseite enorme Kosten zu verursachen bei geringem Einsatz eigener Mittel (sog. Minimaxstrategie61). Ob internationales Recht diesem „Paritätskon55 Auktor, Wellenstreik, S. 139 f.; Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 72 f.; Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 258; Seiter, JZ 1979, 657 (659); ders., Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 347. Kritisch Bertelsmann, Aussperrung, S. 348 ff.; Wiedemann, RdA 1969, 321 (326). Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 416 f., verkennt, dass die Aussperrung der Außenseiter der Verringerung der wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers dient, indem er allein problematisiert, dass die Außenseiter keinen Einfluss auf die gewerkschaftliche Willensbildung haben. 56 Vgl. hierzu die Überlegungen von Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (183 f.). Nach Bertelsmann, Aussperrung, S. 355, würde sich als Folge von Differenzierungsklauseln für den Arbeitgeber klar ergeben, welche Arbeitnehmer in der Gewerkschaft sind. Das gilt aber nur, solange nicht die Vergünstigungen mittels einer Gemeinsamen Einrichtung unter Ausschluss des Arbeitgebers verteilt werden (siehe oben S. 41 ff.). 57 Vgl. BAG GrS, Beschl. v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 8): „Die soziale Wirklichkeit des Kampfgeschehens kann nicht ohne rechtliche Folgen bleiben.“ 58 Diese Aussage ist im Hinblick auf die historische Entwicklung der Koalitionsfreiheit natürlich problematisch (vgl. Wolter, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 842 ff.). 59 BAG, Urt. v. 7.6.1988, AP Nr. 107 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 3). Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Kissel, Arbeitskampfrecht, § 33 Rn. 71. 60 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 311, 343 ff. Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 203, 205, 223 ff., betonen, dass die Arbeitgeberseite zumindest ein Mittel in der Hand haben muss, um sich gegnerischer Kampfmittel zu erwehren. Das Verbot von Aussperrung bei gleichzeitiger Einschränkung der Betriebsrisikolehre genüge diesen Anforderungen jedenfalls nicht. Nach der Rechtsprechung finden die Grundsätze des Arbeitskampfrisikos neben der Betriebsstilllegung auch dann Anwendung, wenn es um Störungen im selben Betrieb geht; vgl. BAG, Urt. v. 14.12.1993, AP Nr. 129 (Bl. 2 f.), Urt. v. 11.7.1995, AP Nr. 139 (Bl. 4 f.) zu Art. 9 GG Arbeitskampf; anders aber zwischenzeitlich BAG, Urt. v. 22.3.1994, AP Nr. 130 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 2 R); zum Verhältnis der Urteile Konzen, Anm. zu AP Nr. 137, 138, 139 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5 ff., 11 R).

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

zept“ entgegensteht, soll an dieser Stelle offen bleiben – hierauf wird jedoch noch zurückzukommen sein –, sodass den folgenden Überlegungen die deutsche Arbeitskampfkonzeption zugrunde zu legen ist. Wie sich gezeigt hat, können Außenseiter dann nicht ausgesperrt werden, wenn sie nicht an dem umkämpften Tarifvertrag partizipieren können, der Beeinträchtigung ihrer negativen Koalitionsfreiheit also kein Vorteil gegenüber steht. Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Verteilung des Arbeitskampfrisikos. Nach den eingangs genannten Prämissen wäre der Arbeitgeber also außer Stande, die wirtschaftliche Belastung eines Arbeitskampfes zu reduzieren und sich gegen die gewerkschaftlich geführten Angriffe zur Wehr zu setzen. Deshalb ist es geboten, unter Paritätsgesichtspunkten das Streikrecht der Gewerkschaft abzulehnen, soweit ein Tarifvertrag angestrebt wird, der ausschließlich für die bei ihr organisierten Arbeitnehmer gilt. Auch wenn damit im Ergebnis die Symmetrie von Streik und Aussperrung gewahrt bleibt, liegt diesem Ergebnis nicht automatisch ein formelles Paritätsverständnis zugrunde. Auch beim materiellen Paritätsverständnis ist die Wechselwirkung der unterschiedlichen Arbeitskampfmaßnahmen zu beachten. Durch eine einseitige Arbeitskampfbeschränkung wie der vorliegenden wird nicht allein eine situative Unterlegenheit verursacht, sondern für einen bestimmten Typ von Tarifverträgen das sonst bestehende Gleichgewicht generell aufgehoben. Wie sich damit zeigt, kann in Ausnahmefällen das Paritätsgebot auch für die Grenzen des Streiks relevant werden.62 Dabei ist es hinzunehmen, dass bei dieser einen Frage der Außenseiter zum archimedischen Punkt des Arbeitskampfrechts wird.63 Schließlich hat es die Gewerkschaft weiterhin in der Hand, welche Tarifforderungen sie auf welche Weise durchsetzen möchte. Will sie allerdings eine Einbeziehung der Außenseiter in das Kampfgeschehen, muss die Gewerkschaft ihnen (zumindest faktisch) „etwas bieten“. An einer einseitigen Belastung der Außenseiter hat die Gewerkschaft kein schutzwürdiges Interesse. Eine Lösung, die an die einzelnen Tarifklauseln unterschiedliche Rechtsfolgen knüpft, ist natürlich dem Vorwurf ausgesetzt, die Arbeitskampfpraxis aus den Augen zu verlieren. Bötticher befürchtet, „dass ein Arbeitskampf unschwer am verbotenen Ziel vorbeigeführt werden kann und dennoch seinen Dienst als Druckmittel tut.“64 Es würde über das Ziel hinausschießen, deshalb an dem gefundenen Ergebnis zu zweifeln und den Streik um Differenzierungsklauseln insgesamt für unzulässig zu erklären. Denn einem Verbot ist die Gefahr seiner Umgehung immanent; deshalb auf eine Einschränkung des Streikrechts zu ver61

Vgl. hierzu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 913, 1245. Anders Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 183; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 14 Rn. 77. 63 So die Befürchtung von Gamillscheg, Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, S. 94, im Hinblick auf das Tarifrecht. 64 Bötticher, RdA 1966, 401 (403 Fn. 14). 62

B. Erstreikbarkeit von Differenzierungsklauseln

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zichten, erscheint abwegig. Schließlich ermöglicht die Unterscheidung zwischen Differenzierungsklauseln, die den gesamten Tarifvertrag erfassen, und solchen, die den Tarifvertrag nur ergänzen, eine klare Trennung. Darüber hinaus wird sich eine Gewerkschaft davor hüten, die Außenseiter für einen Tarifvertrag zu mobilisieren, um ihn anschließend zum Exklusivgut zu erklären und die Außenseiter von den Früchten des Streiks auszuschließen. Gerade bei Arbeitskämpfen sind die Gewerkschaften auf das Wohlwollen der Außenseiter angewiesen, das sie sicherlich nicht mit juristischen Winkelzügen gefährden möchten. Der Einwand von Bötticher hätte allein dann seine Berechtigung, wenn man Differenzierungsklauseln – unabhängig von ihrer Reichweite – für freiwillig vereinbar, aber nicht für erzwingbar halten würde, den Gewerkschaften ein offenes Vorgehen also unmöglich wäre. Vor dem Hintergrund der Gewährleistung der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 GG ist die obige Beschränkung der Streikfreiheit unproblematisch. Die Differenzierungsklauseln gehören nicht zum Kernbereich der Koalitionsfreiheit. Deshalb könnte der Gesetzgeber durch eine Reform des TVG entsprechende Klauseln verbieten. Wenn er hierzu die materielle Kompetenz hat, muss ihm auch – quasi als Minusmaßnahme – der Erlass eines diesbezüglichen Streikverbots zustehen.65 Denn das Streikrecht dient der Durchsetzung von Tarifverträgen und kann jedenfalls nicht stärker geschützt werden als diese. Diese Überlegungen gelten natürlich auch für den den Gesetzgeber vertretenden und das Arbeitskampfrecht gestaltenden Richter.

III. Streikrecht der Außenseiter Grundsätzlich kommt den Außenseitern das Recht zu, sich an einem rechtmäßigen Arbeitskampf zu beteiligen. Die Mitgliedschaft in der an der Tarifauseinandersetzung beteiligten Gewerkschaft ist hierzu nicht erforderlich.66 Begründet wird dies u. a. damit, dass ein funktionierendes Tarifvertragssystem auf die Unterstützung der Gewerkschaften durch die Außenseiter angewiesen ist, da in 65

In diesem Sinne Bunge, Tarifinhalt und Arbeitskampf, S. 404. BAG GrS, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 9 R); BAG, Urt. v. 22.3.1994, AP Nr. 130 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 2 R); Brox, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 289; Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 108, 130 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Sn. 994 f.; Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 44 ff.; Hanau/Kroll, JZ 1980, 181 (185); Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 256 f., 258; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 48. Umstritten ist nach wie vor, wie die Streikteilnahme der Außenseiter dogmatisch zu begründen ist. Ob aus Art. 9 Abs. 3 GG ein subjektiv-privates Streikrecht entnommen wird (Seiter, a. a. O., S. 48) oder ob das Streikrecht auf Art. 9 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 12 GG (Scholz/Konzen, a. a. O., S. 117), die Tarifautonomie (Gamillscheg, a. a. O., S. 994), das Gewohnheitsrecht (Gebhardt, a. a. O., S. 58) oder praktische Erwägungen (Brox, a. a. O., Rn. 289) gestützt wird, kann im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben. 66

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5. Kap.: Differenzierungsklauseln und Arbeitskampf

vielen Wirtschaftsbereichen der Organisationsgrad zu gering ist, um einen Streik allein tragen zu können. Ob der angestrebte Tarifabschluss erfahrungsgemäß auf die Außenseiter Anwendung findet67 und deshalb für sie vorteilhaft ist, ist hingegen unerheblich. Eine andere Betrachtung würde zu Rechtsunsicherheiten führen, die die Funktionsfähigkeit des Arbeitskampfsystems erheblich stören würden. Denn im Verlaufe eines Streiks ist dort, wo es an einer dynamischen Verweisung im Arbeitsvertrag auf den jeweils gültigen Tarifvertrag fehlt, nicht immer abzusehen, ob der angestrebte Tarifvertrag auch auf die Rechtsverhältnisse der Außenseiter angewendet wird. Zudem hätte es der Arbeitgeber in der Hand (soweit keine Verpflichtung besteht), durch Erstreckung des Tarifvertrags über die Streikteilnahme der Außenseiter zu entscheiden. Nach Sinn und Zweck des Streiks ist allein entscheidend, dass er einen Tarifabschluss fördert. Nipperdey fragt eher etwas gefühlsbetont: „Sollen sie (Anm.: die Außenseiter) auch für Tarifausschlussklauseln mitstreiken?“68 Hierzu ist festzustellen, dass es den Außenseitern überlassen bleiben muss, ob sie für Ziele der Gewerkschaft streiken, die ihnen keinen direkten Vorteil bringen. Dies ist aber eine Frage von Gewerkschaftspolitik und Außenseitermotivation. Von Art. 9 Abs. 3 GG wird jedenfalls die Beteiligung eines Arbeitnehmers an einem Arbeitskampf geschützt, auch wenn er der betreffenden Gewerkschaft nicht angehört. Die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln kann an diesem Grundsatz nichts ändern, da das Außenseiterstreikrecht nicht an etwaige Vorteile durch den Tarifvertrag gebunden ist. Soweit der angestrebte Tarifvertrag auch Differenzierungsklauseln enthält, bestehen keine Besonderheiten im Vergleich zu „normalen“ Tarifverträgen. In welchem Umfang gilt das Streikrecht hingegen, wenn den Außenseitern der Tarifinhalt insgesamt vorenthalten werden soll? Bei einem Arbeitskampf um einen ausschließlich differenzierenden Tarifvertrag richten sich die Kampfmaßnahmen gegen den Kampfgegner des Hauptarbeitskampfes. Insoweit weicht die Konstellation von der eines typischen Solidaritätsarbeitskampfes, der in einem fremden Betrieb stattfindet, ab. Eine Vergleichbarkeit ergibt sich allerdings unter dem Gesichtspunkt, dass auch hier die streikenden Außenseiter keine Aussicht auf die Vorteile eines Tarifschlusses haben, da sie aus dem persönlichen Anwendungsbereich des angestrebten Tarifvertrags herausfallen. Der Arbeitskampf ist also rein „fremdnützig“69. Soweit man deshalb die Streikbeteiligung der Außenseiter als eine Art Solidaritätsarbeitskampf einordnet, führt dies zu keiner anderen rechtlichen Bewertung des Streikrechts. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BAG kann ein Solidaritätsarbeitskampf ausnahmsweise dem Schutz-

67

Diesen Aspekt betont Kissel, Arbeitskampfrecht, § 38 Rn. 18, § 42 Rn. 54 f. Nipperdey, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/1, S. 168 Fn. 34. 69 Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24 Rn. 18, gebraucht diesen Begriff als Kennzeichnung eines Sympathiearbeitskampfes. 68

C. Ergebnis

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bereich des Art. 9 Abs. 3 GG unterfallen, wenn hierdurch Druck auf den Kampfgegner des Hauptarbeitskampfes ausgeübt werden kann.70 Wenn damit den Außenseitern grundsätzlich ein Streikrecht zusteht, ist zu beachten, dass dieses Recht nicht weitergehen kann als das der tarifgebundenen Arbeitnehmer. Schließlich verfolgen die Außenseiter keinen eigenständigen Zweck, sondern werden nur hilfsweise tätig. Da den tarifgebundenen Arbeitnehmern der Streik zur Durchsetzung eines ausschließlich differenzierenden Tarifvertrags untersagt ist, kann für die Außenseiter nichts anderes gelten. Insoweit ist ihre Arbeitskampfbeteiligung rechtswidrig.

C. Ergebnis Um die Grenzen eines zulässigen Arbeitskampfes zu ermitteln ist zu unterscheiden. Enthält ein Tarifvertrag neben anderen Klauseln auch Differenzierungsklauseln, kann der Tarifvertrag mit Hilfe von Arbeitskämpfen durchgesetzt werden. Es gelten für die Arbeitnehmerseite keine Einschränkungen. An diesen Kämpfen können sich – wie auch bei der Durchsetzung „gewöhnlicher“ Tarifverträge – die Außenseiter beteiligen. Der Arbeitgeber kann die Außenseiter grundsätzlich aussperren; das BAG nimmt sogar an, dass ein Verbot der selektiven Aussperrung besteht. Die Möglichkeit zur Vereinbarung von Differenzierungsklauseln ändert an der hierzu ergangenen Rechtsprechung nichts. Anders ist es zu bewerten, wenn der angestrebte Tarifvertrag ausschließlich den tarifgebunden Arbeitnehmern (möglicherweise unter Einschluss der Andersorganisierten) zugute kommen soll. Hier ist eine Aussperrung der Nicht- und/ oder der Andersorganisierten unzulässig, da sie nicht vom Tarifvertrag profitieren können. Auch das Arbeitskampfrisiko haben sie nicht zu tragen. Aus dem Verbot der Aussperrung der Außenseiter und aus der Belastung des Arbeitgebers mit dem Arbeitskampfrisiko folgt, dass die Gewerkschaften exklusive Tarifverträge nicht mit Arbeitskampfmitteln erzwingen können. Insoweit kommt selbstverständlich auch den Außenseitern kein Streikrecht zu. Da somit gleichzeitig mit dem Verbot der Aussperrung ein Verbot des Streiks einhergeht, bleibt die Symmetrie des Arbeitskampfs gewahrt.71 Eine Benachteiligung der Arbeitgeber geht mit dem Verbot also nicht einher.

70 BAG, Urt. v. 5.3.1985, AP Nr. 85 (Bl. 5); Urt. v. 12.1.1988, AP Nr. 90 (Bl. 4) zu Art. 9 GG Arbeitskampf. Vgl. ausführlich zum Solidaritätsarbeitskampf Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24 Rn. 16 ff. 71 Die Konnexität von Streik und Aussperrung betonen Kissel, Arbeitskampfrecht, § 55 Rn. 3; Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 257 f. Hiergegen wendet sich Thüsing, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 67 f.

Kapitel 6

Internationales Recht Wie sich gezeigt hat, sind Differenzierungsklauseln grundsätzlich mit deutschem Verfassungsrecht sowie mit einfachem Recht vereinbar. Nicht vergessen werden darf aber, dass noch weitere Rechtsnormen – mit unterschiedlicher Intensität – in das deutsche Recht hineinwirken und bei der Lösung der Differenzierungsklauselproblematik zu berücksichtigen sind.1 Internationale Vereinbarungen können sich zum einen auf der Ebene des Tarifvertrags auswirken und zum anderen das Arbeitskampfrecht beeinflussen. Entscheidend ist, ob die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten durch diese Vereinbarungen umfassender geschützt ist als durch das Grundgesetz oder aber – anders als nach deutschem Recht – grundsätzlich hinter die positive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften bzw. ihrer Mitglieder zurücktreten muss. Auf die von den beschränkten Differenzierungsklauseln betroffene positive Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten haben die internationalen Abkommen hingegen keinen Effekt. Hier stehen sich immer gleichberechtigte Rechtsträger gegenüber, sodass es stets – wie im deutschen Recht – der Abwägung der kollidierenden Rechte bedarf. Weiterhin könnten die internationalen Bestimmungen das nationale Streikrecht dahingehend „modifizieren“, dass im Ergebnis das Streikrecht auch bei solchen Differenzierungsklauseln gelten muss, die ausschließlich den tarifgebundenen Arbeitnehmern zugute kommen sollen. Ein solcher Schluss ließe sich dann ziehen, wenn durch internationale Bestimmungen das Streikrecht unabhängig davon gewährleistet wird, ob der Arbeitgeberseite das Recht zur Aussperrung als Reaktionsmöglichkeit zusteht. In diesen Fällen würden die internationalen Bestimmungen klare Anforderungen postulieren, denen das deutsche Recht entsprechen muss, will es nicht den Schutzbereich verkürzen und eine Pflicht zur Rechtfertigung auslösen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass eine völkerrechtsfreundliche Auslegung der deutschen Verfassungsnormen vorgenommen wird. Denn der Streik scheitert nicht daran, dass er gegen grundgesetzliche Rechte der Arbeitgeber aus Art. 9 Abs. 3 GG verstoßen würde und deshalb rechtswidrig wäre.2 Dass der Streik um exklusive Tarifverträge im Ergebnis unzulässig ist, stellt eine rechtmäßige Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG 1 Einen knappen Überblick über die Auseinandersetzung der Rechtsprechung mit internationalem Arbeitsrecht bietet Leinemann, BB 1993, 2519 ff.

A. Europäische Menschenrechtskonvention

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dar. Art. 9 Abs. 3 GG macht jedoch keine genauen (zwingenden) Vorgaben, wie die Parität im Einzelnen auszugestalten ist; der Staat könnte auch eine von der Rechtsprechung des BAG abweichende Ausgestaltung vornehmen. Deshalb ist es durchaus denkbar, dass der (nicht paritätische) Streik durch eine unterverfassungsrechtliche Norm zugelassen wird, sei es, dass das einfache Recht in diesem Sinne völkerrechtsfreundlich ausgelegt wird, sei es, dass die betreffende völkerrechtliche Norm unmittelbare Geltung im deutschen Recht beansprucht.

A. Europäische Menschenrechtskonvention I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit Art. 11 EMRK Auf europäischer Ebene werden Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit durch Art. 11 EMRK geschützt. Art. 11 EMRK wie auch die anderen internationalen Gewährleistungen der Koalitionsfreiheit gewinnen in den Ländern an Bedeutung, die die (negative) Koalitionsfreiheit nicht schützen. So fehlt der österreichischen Verfassung ein mit Art. 9 Abs. 3 GG vergleichbarer Artikel.3 Ebenso kann in Großbritannien die Koalitionsfreiheit nur über Art. 11 EMRK durchgesetzt werden.4 In Deutschland steht die EMRK im Rang des Zustimmungsgesetzes (Art. 59 Abs. 1 S. 1 GG) unterhalb der Verfassung auf der Stufe des einfachen Rechts, verdrängt aber nach der lex posterior Regel entgegenstehendes einfaches Recht, soweit es im Zeitpunkt der Transformation bereits in Kraft war.5 1. Allgemeine Differenzierungsklauseln Wie bei Art. 9 Abs. 3 GG stellt sich bei Art. 11 EMRK die Frage, ob neben der positiven auch die negative Koalitionsfreiheit geschützt wird. Der Wortlaut 2 Anders mag dies beim Beamtenstreik sein, der nach Schlüter, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 516 ff., unmittelbar von Art. 33 Abs. 4, 5 GG verboten sein soll. 3 Vgl. Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (87); für einen schwachen Schutz Floretta, DRdA 1968, 1 (8). Für das österreichische Recht ist bedeutsam, dass die EMRK 1964 mit Verfassungsrang ausgestattet wurde. 4 Vgl. Scholz, in: FS für Maurer, S. 1003. 5 Stern, in: ders., Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1624 f. Hingegen zählt Stern, a. a. O., S. 1620, die Koalitionsfreiheit nicht zum Völkergewohnheitsrecht, sodass Art. 25 GG keine Anwendung findet; anders wohl Lörcher, ArbuR 1991, 97 (103). Vgl. zur Stellung der EMRK im deutschen Recht sowie zur entsprechenden Auslegung der Grundrechte BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004, NJW 2004, 3407 (3408 ff.); Beschl. v. 28.12. 2004, NJW 2004, 1105 (1107); Cremer, EuGRZ 2004, 683 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 ff.

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6. Kap.: Internationales Recht

formuliert lediglich positiv das Recht, „Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“, sich also aktiv zu verhalten. Das passive „Abseitsstehen“ des Einzelnen, das wohl kaum dem „Schutz seiner Interessen“ dienen kann, kann hierunter nicht subsumiert werden. Da auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) in Art. 20 Abs. 2 die negative Vereinigungsfreiheit ausdrücklich anerkennt, hätte es entstehungsgeschichtlich – die AEMR wird in der Präambel der EMRK ausdrücklich in Bezug genommen – nahe gelegen, eine entsprechende Gewährleistung auch im Wortlaut der EMRK zu verankern, worauf jedoch verzichtet wurde.6 Dennoch nehmen der EGMR und ihm folgend die überwiegende Ansicht in der Literatur an, dass auch die negative Koalitionsfreiheit durch Art. 11 EMRK geschützt ist.7 Unter Hinweis darauf, dass die EMRK im Lichte der gegenwärtigen Verhältnisse auszulegen ist („that the Convention is a living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions“), hat der EGMR festgestellt, dass der Entstehungsgeschichte keine entscheidende Bedeutung beizumessen ist.8 Letztlich ergeben sich bei Art. 11 Abs. 1 EMRK dieselben Bedenken, wie sie auch bei Art. 9 Abs. 3 GG gegen einen logischen Schluss von der positiven auf die negative Koalitionsfreiheit bestehen. Hier ist allerdings nicht der Ort, um die Grenzen des Art. 11 Abs. 1 EMRK abstrakt auszuloten. Ausreichend ist es, auf Grundlage der Rechtsprechung des EGMR die Vereinbarkeit der Differenzierungsklauseln mit Art. 11 Abs. 1 EMRK zu untersuchen. Entscheidend ist, ob Art. 11 Abs. 1 EMRK die negative Koalitionsfreiheit stärker schützt als Art. 9 Abs. 3 GG. Dies ist im Ergebnis zu verneinen, auch wenn der EGMR nunmehr die negative Koalitionsfreiheit als im vollen Sinne geschützt ansieht. Ursprünglich hat der EGMR in der Entscheidung Young, James und Webster gegen Vereinigtes Königreich festgestellt: „Eine Auslegung des Art. 11, derzufolge jegliche Zwangsmaßnahmen im Bereich von Gewerkschaftsmitgliedern gestattet sei, würde den Wesensgehalt an Freiheit verletzen, 6 Vgl. Ausschussbericht an das Ministerkomitee, vorgelegt am 19.6.1950, Sammelband der „Travaux Préparatoires“, Bd. III, S. 653; Bd. IV S. 262; siehe auch EKMR, Bericht v. 14.12.1979, EuGRZ 1980, 450 (452 Rn. 166). Gegen einen Umkehrschluss ausgehend von Art. 20 Abs. 2 MRK Thomashausen, EuGRZ 1981, 564 (567). 7 EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (560 Rn. 52); Urt. v. 30.6.1993, ÖJZ 1994, 207 (208 Rn. 35); Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 11 Rn. 8, 10.; Grabenwarter, EMRK, § 23 Rn. 63; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 12, 14; Mayer-Maly, ZAS 1969, 81 (87); Peters, Einführung in die EMRK, S. 87 f.; Scholz, AöR 106 (1981), 79 (85); ders., AöR 107 (1982), 126 (140) Stern, in: ders., Staatsrecht, S. 1570; so wohl auch Wildhaber, in: FS für Vischer, S. 353 f.; a. A. Lörcher, ArbuR 1997, 411 (412); Mitglieder der EKMR Fawcett, Kellberg, Nørgaard, abweichende Meinung zum Bericht der EKMR v. 14.12.1979, EuGRZ 1980, 450 (454, 455); abweichende Meinung der Richter Sørensen, Thór Vilhjálmsson, Lagegren zu EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (563 f.); offen gelassen in EKMR, Bericht v. 14.12.1979, EuGRZ 1980, 450 (452 Rn. 165). 8 EGMR, Urt. v. 30.6.1993, ÖJZ 1994, 207 (208 Fn. 35).

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den diese Bestimmung gerade schützen soll.“9 Demnach schien der EGMR die negative Koalitionsfreiheit lediglich in ihrem Kernbereich schützen zu wollen. Dieser Eindruck wird noch unterstrichen, wenn es weiterhin heißt: „Ausgehend davon, dass Art. 11 die negative Vereinigungsfreiheit nicht in dem gleichen Maße gewährleistet wie die Vereinigungsfreiheit im positiven Sinne, sind Zwangsmaßnahmen, die auf den Beitritt zu einer bestimmten Gewerkschaft abzielen, nicht in jedem Fall mit der Konvention unvereinbar.“10 Der EGMR hat aufgrund dieser Annahmen den Beitrittsdruck, der durch einen nach Arbeitsaufnahme eingeführten closed shop auf dem einzelnen Arbeitnehmer lastet, für mit Art. 11 EMRK unvereinbar erklärt. Hinsichtlich des closed shop und des union shop hat sich der EGMR einer Stellungnahme ausdrücklich enthalten. Auch wenn der EGMR in seiner Entscheidung im Fall Sigurjonsson vom 30.6.1993 die negative Koalitionsfreiheit als vollwertiges Recht anerkannt hat, hat er – ganz im Sinne des vorgenannten Zitats – weiterhin nicht jegliche Zwangsmaßnahmen für rechtswidrig erklärt, soweit nicht den Wesensgehalt der Vereinigungsfreiheit („the very substance of the right guaranteed by Article 11“) berührt wird, und gleichzeitig weiterhin unentschieden gelassen, ob sich negative und positive Koalitionsfreiheit gleichrangig gegenüber stehen.11 In einer anderen Entscheidung (Fall Sibson) aus dem Jahre 1993 kam der EGMR zu dem Schluss, dass der Druck von Arbeitnehmern auf den Arbeitgeber, der auf die Versetzung bzw. Entlassung eines aus der Gewerkschaft ausgetretenen und in eine konkurrierende Gewerkschaft eingetretenen Kollegen abzielte, unter den gegebenen Unständen zulässig ist.12

9 EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (560 Rn. 52). Murswiek, JuS 1983, 58 (58), und Thomashausen, EuGRZ 1981, 564 (567), sind hingegen der Ansicht, der EGMR hätte die Frage der negativen Koalitionsfreiheit offen gelassen. Dies erscheint unzutreffend, da sich der EGMR im Zusammenhang mit obigem Zitat mit der negativen Freiheit nach Art. 20 Abs. 2 MRK auseinandergesetzt hat. Außerdem spricht der EGMR in Rn. 55 vom „Konzept der Vereinigungsfreiheit in seinem negativen Sinne.“ Ebenso Scholz, AöR 107 (1982), 126 (130 ff.); Wildhaber, in: FS für Vischer, S. 355. Für einen umfassenderen Schutz der negativen Koalitionsfreiheit das Sondervotum der Richter Ganshof van der Meersch, Bindschedler-Robert, Liesch, Gölcüklü, Matscher, Pinheiro, Farinha, Pettiti, a. a. O., S. 563. 10 EGMR, Urt. v. 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (561 Rn. 55). 11 EGMR, Urt. v. 30.6.1993, ÖJZ 1994, 207 (208 Rn. 35); bestätigt durch Urt. v. 25.4.1996, ArbuR 1997, 408 (409, Rn 45); Urt. v. 29.4.2002, EuGRZ 2002, 234 (237 Rn. 39). 12 EGMR, Urt. v. 20.4.1993, ÖJZ 1994, 35 (36 Rn. 29); Nach Ansicht des EGMR war entscheidend, dass der Arbeitnehmer nicht auf einem anderen Arbeitsplatz weiterarbeiten wollte und der Gewerkschaftsaustritt zudem nicht auf einer bestimmten Überzeugung beruhte. Im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG hätten diese Gründe das Verhalten der Arbeitkollegen sicherlich nicht rechtfertigen können. Insbesondere hat der Große Senat des BAG, Beschl. v. 29.11.1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Bl. 18 R f.), die Motivation für das Fernbleiben für unerheblich erachtet (vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 176 S. 106).

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Der Beitrittsdruck einer Differenzierungsklausel – auch wenn ihm nicht durch eine Individualvereinbarung entgegengewirkt werden kann – verbleibt wesentlich unterhalb des Druckes, der ausgeübt wird, wenn der Arbeitsplatz mit der Koalitionszugehörigkeit verknüpft wird. Wenn eine allgemeine Tarifausschlussklausel nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstößt, dann muss dies erst Recht im Hinblick auf Art. 11 Abs. 1 EMRK gelten, der nach der im Fall Young, James und Webster gegen Vereinigtes Königreich geäußerten Ansicht des EGMR der negativen Koalitionsfreiheit eine schwächere Stellung einräumt als der positiven. Insoweit kann es dahingestellt bleiben, inwieweit Art. 53 EMRK dem entgegen steht, dass die positive Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG unter Hinweis auf die negative Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK zurückgedrängt wird. Ganz im Gegenteil scheint die deutsche Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR die negative Koalitionsfreiheit zu stark zu gewichten und die positive Koalitionsfreiheit unverhältnismäßigen Schranken zu unterwerfen, wenn bereits geringfügige Benachteiligungen der Nichtorganisierten zu einer Verletzung ersterer führen sollen. Hier sind Zweifel an der Vereinbarkeit der Differenzierungsklauselentscheidung des BAG GrS mit Art. 11 EMRK angebracht. Allerdings ist zu bedenken, dass mit dem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG i. V. m. dem TVG und der Rechtsprechung des BAG eine gesetzliche Beschränkung der positiven Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK vorliegt; was die Bestimmtheit der gesetzlichen Ermächtigung anbelangt, ist der EGMR jedenfalls großzügig.13 Ob diese Beschränkung allerdings „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, um die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen, und damit die Anforderungen des Abs. 2 erfüllt, bleibt hingegen fraglich. Versteht man den Terminus dahingehend, dass die Einschränkung einen von der EMRK vorgegebenen Eingriffszweck zumindest fördern muss,14 ist das Verbot von Differenzierungsklauseln nur soweit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, wie durch diese Tarifklauseln insbesondere die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 11 EMRK beeinträchtigt wird. Ein dem Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbarer Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht kennt die EMRK jedenfalls nicht. 2. Beschränkte Differenzierungsklauseln Die beschränkten Differenzierungsklauseln müssen mit der positiven Koalitionsfreiheit der Außenseiter zu vereinbaren sein. Zwar wird von Art. 11 Abs. 1 EMRK auch der Gewerkschaftspluralismus gewährleistet. „Es muss Raum sein 13 Vgl. EGMR, Urt. v. 26.4.1979, EuGRZ 1979, 386 (387 f. Rn. 51 f.); Grabenwarter, EMRK, § 18 Rn. 11; siehe zum Gesetzesbegriff der EMRK unten S. 331 ff. 14 Weiß, Gesetz i. S. d. EMRK, S. 126; Scholz, AöR 106 (1981), 79 (88), spricht im Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 2 EMRK von der Lösung einer Grundrechtskollision.

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für mehr als eine Gewerkschaft.“15 Damit gibt Art. 11 Abs. 1 EMRK dem einzelnen Arbeitnehmern das Recht, frei zwischen mehreren Koalitionen zu wählen. Jedoch ist nicht festzustellen, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK dem Einzelnen einen über Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehenden Schutz vor der Gewerkschaftskonkurrenz zuteil werden lassen möchte, oder umgekehrt, dass den Gewerkschaften besondere Zwangsmittel zugestanden werden sollen, um sich gegenüber der Gewerkschaftskonkurrenz durchsetzen zu können. Aus diesem Grund sind beschränkte Differenzierungsklauseln soweit mit Art. 11 Abs. 1 EMRK zu vereinbaren, wie ihnen auch Art. 9 Abs. 3 GG nicht entgegensteht. Insoweit besteht ein Gleichlauf beider Gewährleistungen.

II. Erstreikbarkeit Nachdem festgestellt wurde, dass die Differenzierungsklauseln nach der EMRK grundsätzlich zulässig sind und damit eine dem deutschen Recht entsprechende Bewertung besteht, stellt sich als nächstes die Frage, ob ihre Durchsetzung mittels eines Arbeitskampfs gleichsam dem Schutz der EMRK untersteht. 1. Gewährleistung des Streiks Ein ausdrücklicher Schutz von Maßnahmen des Arbeitskampfes kann dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht entnommen werden. Trotzdem geht der EGMR davon aus, dass das Streikrecht in der Regel notwendig ist, um Kollektivverhandlungen zu flankieren.16 Dieses Verständnis von Art. 11 Abs. 1 EMRK hat sich auch in der Literatur durchgesetzt.17 Ob demgegenüber die Aussperrung als Arbeitskampfmaßnahme der Arbeitgeber von Art. 11 Abs. 1 EMRK gewährleistet wird, erscheint zweifelhaft. Zwar wird auch das Streikrecht nicht namentlich erwähnt, weshalb teilweise ein umfassender Schutz der Arbeitskampffreiheit und damit auch der Aussperrung angenommen wird.18 Jedoch erfolgt nach der Formulierung des zweiten Halbsat15 EKMR, Bericht v. 14.12.1979, EuGRZ 1980, 450 (452); vgl. auch Scholz, AöR 107 (1982), 126 (138). 16 EGMR, Urt. v. 6.2.1976, EuGRZ 1976, 68 (70 [Rn. 36]); eine stärkere Betonung des Streikrechts erfolgt in EGMR, Urt. v. 2.7.2002, ÖJZ 2003, 729 (730 f. [Rn. 45, 46]); vgl. Kitz, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1082 f.; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 11 Rn. 13 f. 17 Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 127; Grabenwarter, EMRK, § 23 Rn. 62; MünchArbR-Otto, Bd. III, § 284 Rn. 50; Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 920 f.; Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 229 ff., 240 f.; offen gelassen von Peters, Einführung in die EMRK, S. 87.

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zes der Gewerkschaftsbeitritt des Arbeitnehmers „zum Schutz seiner Interessen“. Die Gewerkschaften dienen also dem Schutz der Interessen der in ihnen zusammengeschlossenen Arbeitnehmer. Das Streikrecht ist die Maßnahme der Arbeitnehmer, um ihre unterlegene Verhandlungsposition auszugleichen; durch das Streikrecht verwirklichen die Gewerkschaften die durch Art. 11 Abs. 1 EMRK auf sie übertragene Schutzpflicht zugunsten ihrer Mitglieder. Das Streikrecht wird also nicht aus der allgemeinen Vereinigungsfreiheit abgeleitet; wie die Satztrennung durch das Semikolon deutlich macht, dient nicht die allgemeine Vereinigungsfreiheit „zum Schutz seiner Interessen“, sondern allein der Gewerkschaftsbeitritt. Arbeitgeber sowie Arbeitgeberverband können sich jedoch ausschließlich auf die allgemeine Vereinigungsfreiheit berufen. Der Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 Hs. 1 EMRK bietet keinen Anhaltspunkt, dass eine Interessendurchsetzung mit kollektiven Maßnahmen – konkret mittels einer Aussperrung – erfolgen kann. Wenn Art. 11 Abs. 1 EMRK dem Streikrecht der Arbeitnehmer eine bevorzugte Stellung einräumt, indem auf den Schutz der Aussperrung als gleichrangigem Widerpart der Streikfreiheit verzichtet wird, kann die Streikgarantie nicht durch Auslegung auf den paritätischen Streik beschränkt werden. Denn der Grundsatz der Waffengleichheit oder Kampfparität ist „Ausdruck der Tatsache, daß Art. 9 Abs. 3 GG beide Sozialpartner gemeinsam in gleicher Weise zur autonomen Gestaltung des Arbeitslebens habilitiert.“19 Dies tut die EMRK nicht in gleicher Weise. Art. 11 EMRK erteilt einem Paritätsverständnis i. S. des Art. 9 Abs. 3 GG in der Interpretation der überwiegenden Ansicht in Literatur und Rechtsprechung eine Absage; weder für die formelle noch für die materielle Parität nach deutscher Lesart kann die EMRK in Anspruch genommen werden.20 Damit ist nicht gesagt, dass Art. 11 EMRK keine Paritätserwägungen zugrunde liegen. Denn die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in der EMRK kann auch so verstanden werden, dass erst der Streik der Arbeitnehmerseite eine der Arbeitgeberseite gleichrangige Verhandlungsposition verschafft. Nach der Rechtsprechung des BAG hat die Arbeitnehmerseite ein größeres Interesse am Abschluss eines Tarifvertrags als die Arbeitgeberseite, sodass auf eine frei18

So z. B. Stern, in: ders., Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1570; offen gelassen, aber in der Tendenz zustimmend Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 63. Raiser, Aussperrung, S. 95 f., legt sich entgegen der Ansicht von Scholz/Konzen, a. a. O., nicht fest. Unklar Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 127, der allgemein von der „Garantie der Koalitionsfreiheit einschließlich des Arbeitskampfes“ spricht. Ähnlich unbestimmt auch Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 920 f. In den gängigen Kommentierungen zu Art. 11 EMRK wird die Aussperrung nicht thematisiert: vgl. Frowein/Peukert, EMRK, Art. 11 Rn. 1, 6 ff., 11 ff. Grabenwarter, EMRK, § 23 Rn. 62; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 11 Rn. 14, 16. 19 Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 928. 20 Anders ist dies beispielsweise bei der ESC, soweit ein Schutz der Aussperrung anerkannt wird; so z. B. Rüthers, Aussperrung, S. 18 f.; vgl. hierzu unten S. 346 ff.

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willige Verhandlungsbereitschaft der Arbeitgeber nicht vertraut werden kann.21 Durch die Möglichkeit, individualvertragliche Vereinbarungen herbeizuführen und dabei die Konkurrenz der Arbeitnehmer um einen Arbeitsplatz auszunutzen, wird der Arbeitgeberseite die Macht verliehen, sich mit einem tarifvertragsfreien Zustand abfinden zu können, wirtschaftlich also nicht auf einen Tarifvertrag angewiesen zu sein. Die Gewerkschaften werden damit in die Defensive gedrängt, aus der heraus sie Forderungen aufstellen und durchsetzen müssen. Der Streik kann dann als Mittel angesehen werden, um den Vorsprung der Arbeitgeberseite einzuholen. Berücksichtigt man diese Gesichtspunkte, ließe sich entgegen der Schlussfolgerung des BAG überlegen, ob nicht die Aussperrung die Parität stören würde. So verzichten beispielsweise eine Reihe europäischer Staaten auf den (verfassungsrechtlichen) Schutz der Aussperrung22, ohne dass damit zwangsläufig die Wertung einhergeht, hierdurch würde der Arbeitnehmerseite der Vorzug gegeben. Die Feststellung von Seiter, Art. 11 EMRK beinhalte keinen über Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehenden Aussagegehalt23, erscheint vor diesem Hintergrund etwas voreilig. 2. Ausgestaltung Wird nach der deutschen Rechtsprechung das Streikrecht auf den paritätischen Streik beschränkt, stellt sich die Frage, ob diese Beschränkung am Vorbehalt des Gesetzes nach Art. 11 Abs. 2 EMRK („prescribed by law“) zu messen ist. Problematisch erscheint dabei, ob das Kriterium „gesetzlich vorgesehen“ erfüllt ist. Auch wenn man Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 11 EMRK entsprechend dem deutschen Recht einer Ausgestaltung für zugänglich hält24 und die Rechtsprechung des BAG zum Arbeitskampf als Ausgestaltung (des Art. 9 Abs. 3 GG) begreift25, lassen sich die Bedenken gegen die Zulässigkeit der richterrechtlich geformten Streikbegrenzung nicht ohne weiteres umschiffen. Es erscheint bereits zweifelhaft, ob die deutsche Rechtsprechung zur Arbeitskampfparität materiellrechtlich als Ausgestaltung des Art. 11 EMRK angesehen 21

BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 (Bl. 4 R). Vgl. die Übersichten bei Birk, ZfA 1979, 231 ff.; ders., RdA 1986, 205 ff.; Lecher/Naumann, in: Däubler/Lecher, Die Gewerkschaften in den 12 EG-Ländern, S. 104 f. 23 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 129 Fn. 1; ebenso Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 920. Ob man BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981, BVerfGE 58, 233 (253 f.), eine über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende entsprechende Aussage entnehmen kann, ist zweifelhaft (so aber Seiter, AöR, Bd. 109 (1984), 88 [136]). 24 Marauhn, RabelsZ Bd. 63 (1999), 537 (539, 554 f.); MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 242 Rn. 73. 25 Dies wird bestritten von Pieroth: in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, S. 306 f., 312. 22

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werden kann. Die Ausgestaltung hat sich am Schutzzweck der jeweiligen Norm zu orientieren und ist auf die Schaffung und Erweiterung der Voraussetzungen privatautonomer Grundrechtswahrnehmung gerichtet. Soweit eine natürliche Freiheit wie z. B. die Streikfreiheit im Blickpunkt steht, kann nur insoweit von Ausgestaltung gesprochen werden, wie die im Grundrecht angelegten Wertungen und Konfliktfelder nachgezeichnet werden. Da in der Regel keine bestimmte Lösung der Konflikte vorgegeben ist, muss der Staat eine wertende Entscheidung innerhalb einer Grauzone treffen. Art. 11 Abs. 1 EMRK schützt den Streik unabhängig von (aussperrungsbezogenen) Paritätserwägungen. Das schließt nicht aus, dass aus Paritätsüberlegungen im nationalen Recht die Aussperrung gewährleistet wird oder die Arbeitnehmer das Arbeitskampfrisiko zu tragen haben. Eine Verpflichtung der europäischen Staaten zur „Diskriminierung“ der Aussperrung kann Art. 11 Abs. 1 EMRK nicht entnommen werden. Für eine so extensive Interpretation hätte es zumindest einer ausdrücklichen Gewährleistung der Streikfreiheit bedurft.26 Eine Verkürzung des Streikrechts aus Gründen der Parität ist allerdings nicht bereits in Art. 11 EMRK angelegt. Ein solches „Streikverbot“ begrenzt die materielle Substanz der Streikfreiheit, ohne dass zugleich die Rechtssphären von Arbeitgebern und Gewerkschaften innerhalb von Art. 11 EMRK voneinander abgegrenzt werden. Der Arbeitgeber hat keinen Anspruch auf den paritätischen Arbeitskampf im deutschen Sinne. Dementsprechend wäre hierin nicht – anders als beispielsweise bei den formellen Voraussetzungen eines Arbeitskampfes wie der Urabstimmung – eine Effektuierung der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer zu sehen, sondern allein die Beschränkung der Wahrnehmungsmöglichkeiten. Weiterhin sprechen formelle Aspekte dagegen, dass eine etwaige Ausgestaltung die Pflicht des Staates zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage suspendiert. Es ist ein Spezifikum des deutschen Grundrechtsverständnisses, dass die Ausgestaltung von Grundrechten im Hinblick auf den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes keiner gesetzlichen Ermächtigung bedarf. Denn der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Vorbehalt des Gesetzes ist an den Grundrechtseingriff gebunden.27 Dies schließt es jedoch nicht aus, ausgehend vom Wesen der Ausgestaltung bzw. von der Wesentlichkeitstheorie auch für die Ausgestaltung eine gesetzliche Grundlage zu fordern. Denn der Richter, dessen Entscheidungen lediglich inter-partes-Wirkung entfalten, kann keinen Bestand an abstrakt-generell wirkenden Normen schaffen, der die Autonomie des Einzelnen erweitert und damit einer effektiven Grundrechtswahrnehmung dient, was aber 26 In einzelnen europäischen Ländern wird die Streikfreiheit teilweise so extensiv ausgelegt, dass eine gleichrangige Zulassung der Aussperrung als Verletzung angesehen wird (vgl. Birk, ZfA 1979, 231 [273]). Nach Dolzer, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1267, steht kein internationales Übereinkommen der Aussperrung entgegen. 27 Epping, Grundrechte, Rn. 357.

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für die Ausgestaltung charakteristisch ist. Die deutsche Arbeitsrechtswissenschaft begnügt sich – in der Regel ohne nähere Auseinandersetzung – mit einer originären Ausgestaltungsbefugnis durch den Richter.28 Zwar spricht Art. 11 Abs. 2 EMRK nur davon, dass „Einschränkungen“ gesetzlich vorgesehen sein müssen; welche rechtstechnischen Anforderungen an Ausgestaltungen zu stellen sind, wird hieraus nicht deutlich. So weit reichende Folgen wie den Verzicht auf eine gesetzliche Grundlage an die oftmals schwierig zu treffende Unterscheidung zwischen Ausgestaltung und Eingriff zu knüpfen29, würde allerdings dem Wesen der EMRK widersprechen. Die EMRK beansprucht in unterschiedlichen Rechtsordnungen Geltung und ist als „living instrument which must be interpreted in the light of present-day conditions“ ständigen Wandlungen unterworfen.30 In der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 11 EMRK findet die dogmatische Figur der Ausgestaltung keinen Widerhall. Wenn der EGMR beispielsweise im Fall Wilson & The National Union of Journalists u. a. darüber zu befinden hat, ob es rechtmäßig ist, dass der Arbeitgeber im Vereinigten Königreich durch finanzielle Zuwendungen den Verzicht auf die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Rechte veranlassen kann, ist ein Unterlassen des Staates Gegenstand der Betrachtung des EGMR.31 Ausschlaggebend für die Beurteilung des konkreten Falles ist die Frage, ob sich aus staatlichen Schutzpflichten eine Pflicht zum Handeln – Schutz der Gewerkschaften – ergibt.32 Der EGMR hat sich jedoch nicht damit auseinandergesetzt, ob bei einer Verletzung der Schutzpflichten die bestehenden Gesetze als rechtswidrige Eingriffe oder als verfehlte Ausgestaltung des Art. 11 EMRK zu werten sind. Überhaupt kommt dem Eingriffsbegriff in der Rechtsprechung des EGMR keine mit dem deutschen Recht vergleichbare zentrale Bedeutung zu, um bestimmte staatliche Verhaltensformen voneinander abzugrenzen. So hat der EGMR festgestellt: „Allerdings lässt sich die Grenze zwischen den Handlungsund den Unterlassungspflichten des Staates nach dieser Vorschrift [Anm.: Art. 8 EMRK] nicht deutlich ziehen. Die anwendbaren Prinzipien sind jedoch ähnlich.“33 Dementsprechend liegt die Bedeutung des Eingriffsbegriffs vorrangig 28 Butzer, RdA 1994, 375 (379); Schuhmann, Negative Freiheitsrechte, S. 253; Schwerdtfeger, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 217; Schwarze, JuS 1994, 653 (659); Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 108. Ebenso Säcker, Grundprobleme, S. 124 f., 132 ff., 148 f., der allerdings die richterliche Konkretisierung eines „vagen Rechtssatzes“ als Gesetzgebung ansieht (S. 100) und demgemäß von „Normerzeugung“ (S. 102) sowie von „Zuordnung verfassungskonformer Ausführungsrechtssätze“ (S. 124) spricht. 29 Vgl. zur Abgrenzung von Ausgestaltung und Eingriff Gellermann, Grundrechte, S. 282 ff.; Epping, Grundrechte, Rn. 390 ff.; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 435 ff. 30 EGMR, Urt. v. 30.6.1993, ÖJZ 1994, 207 (208 Fn. 35). 31 EGMR, Urt. v. 2.7.2002, ÖJZ 2003, 729 ff. 32 Ausführlich zur Begründung von Schutzpflichten aus der EMRK Jaeckel, Schutzpflichten, S. 103 ff.

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darin zu ermitteln, ob der Schutzbereich in rechtlich relevanter Weise berührt wird; die Intensität des Eingriffs bestimmt wiederum die Anforderungen an die Rechtfertigung.34 In der Literatur zur EMRK wird die Differenzierung zwischen Ausgestaltung und Eingriff nur ausnahmsweise angesprochen, wobei nicht deutlich wird, welche dogmatischen Konsequenzen aus dieser Unterscheidung gezogen werden (sollen), d.h. ob auch der Vorbehalt des Gesetzes Anwendung findet.35 Geht man davon aus, dass eine unzulässige Ausgestaltung in einen Eingriff umschlagen kann36, wird jedenfalls ab diesem Punkt eine gesetzliche Eingriffsgrundlage erforderlich. Will man das von Art. 11 EMRK intendierte Schutzniveau nicht erheblich relativieren und gravierende Rechtsunsicherheiten produzieren, ist auch dann, wenn man die dogmatische Figur der Ausgestaltung auf die EMRK überträgt, eine gesetzliche Grundlage im Sinne des Abs. 2 zu verlangen. Bei der Übertragung deutscher Grundrechtsdogmatik auf die EMRK ist jedenfalls Zurückhaltung geboten. 3. Einschränkungen Die Unzulässigkeit des Streiks nach deutschem Recht, soweit es um die Durchsetzung ausschließlich differenzierender Tarifverträge geht, stellt eine Beschränkung der Streikfreiheit und damit eine Verkürzung der Koalitionsfreiheit dar. Dementsprechend muss sich die deutsche Arbeitskampfrechtsprechung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK rechtfertigen lassen. Art. 11 Abs. 2 EMRK besagt, dass Eingriffe „gesetzlich vorgesehen“ („prescribed by law“) sein müssen. Während es in ausländischen Rechtsordnungen gesetzliche Regelungen des Arbeitskampfrechts gibt, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Normierungsdichte,37 fehlt es in Deutschland an (ausdrücklichen) Vorgaben des Gesetzgebers. Die Zulässigkeit von Streik und Aussperrung bemisst sich allein anhand der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien. Um als wirksame Rechtsgrundlage für 33 EGMR, Urt. v. 26.5.1994, EuGRZ 1995, 113 (119 Rn. 49). Vgl. auch Holoubek, DVBl., 1997, 1031 (1034 f.), der für einen Eingriff die Zurechnung zu einem beliebigen staatlichen Handeln oder Unterlassen ausreichen lässt. Kritisch dazu, dass diese Ansicht die Unterschiede von Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte nivelliert Jaeckel, Schutzpflichten, S. 122 ff. Darauf, dass es bislang an einer systematischen Eingriffsdogmatik fehlt, weist Ehlers, in: ders., Grundrechte und Grundpflichten, § 2 Rn. 32, hin. 34 Grabenwarter EMRK, § 18 Rn. 6; Holoubek, DVBl. 1997, 1031 (1037). 35 Ehlers, in: ders., Grundrechte und Grundpflichten, § 2 Rn. 33; Marauhn, RabelsZ Bd. 63 (1999), 537 (539, 554 f.); MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 242 Rn. 73. 36 Ehlers, in: ders., Grundrechte und Grundpflichten, § 2 Rn. 33. Nach der vorzugswürdigen Gegenauffassung, kann eine unzulässige Ausgestaltung nicht gerechtfertigt werden: Butzer, RdA 1994, 375 (381); Gellermann, Grundrechte, S. 364 ff., insb. S. 371; Epping, Grundrechte, Rn. 395 f. 37 Vgl. den Überblick bei Birk, RdA 1986, 205 ff.

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eine Einschränkung der Streikfreiheit angesehen werden zu können, müsste die Rechtsprechung des BAG unter den Gesetzesbegriff des Art. 11 Abs. 2 EMRK zu subsumieren sein. Das BAG ist im Hinblick auf die Arbeitskampffreiheit auf die Problematik der Einschränkbarkeit nur durch Gesetz nicht eingegangen.38 a) Der Gesetzesbegriff des Art. 11 Abs. 2 EMRK Was unter „Gesetz“ i. S. des Art. 11 Abs. 2 EMRK zu verstehen ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Auch wenn die Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) nicht unmittelbar auf die EMRK anzuwenden ist, da die EMRK vor der WVK in Kraft getreten ist (vgl. Art. 4 WVK), kann bei der Auslegung die WVK hilfsweise herangezogen werden, soweit die in ihr enthaltenen allgemeinen Auslegungsregeln anerkannte Rechtssätze des Völkerrechts darstellen.39 Auszugehen ist entsprechend Art. 31 Abs. 1 WVK zunächst vom Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 EMRK.40 Der in der deutschen Übersetzung verwendete Begriff „Gesetz“ scheint dafür zu sprechen, dass die Einschränkungen auf geschriebenes Recht zurückzuführen sein müssen. Demgegenüber sind die in der englischen und der französischen Fassung verwendeten Begriffe, die nach Art. 59 Abs. 4 EMRK maßgeblich sind, nicht so eindeutig. Die Begriffe „law“ und „loi“ haben eine allgemeine Bedeutung. „Law“ kann gleichermaßen Gesetz, aber auch Recht im weitesten Sinne bedeuten.41 Dem französischen „loi“ lässt sich zumindest eine Beschränkung auf formelle Gesetze nicht entnehmen, sodass auch materielle Gesetze hierunter zu subsumieren sind.42 Der in der älteren Literatur formulierte Vorbehalt des formellen Gesetzes43 ist jedenfalls zu 38 Vgl. BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 11 R f.), allerdings im Hinblick auf die ESC; ebenso Urt. v. 10.12.2002, RdA 2003, 356 (360). 39 EGMR, Urt. v. 21.2.1986, EuGRZ 1988, 341 (343 f. Rn. 42, 347 Rn. 64); Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Präambel Rn. 5; Weiß, Gesetz i. S. d. EMRK, S. 40 f. 40 Siehe zum objektiven Ansatz als herrschende Auslegungsregel im Völkerrecht Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, § 11 Rn. 4 f. 41 Vgl. Tomsin/Bader/Byrd, Wörterbuch, S. 439; v. Beseler/Jacobs-Wüstefeld, Law Dictionary, S. 948 (auch „Rechtsordnung, Rechtssystem“); Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vorbemerkung zu Art. 8–11 Rn. 3; Matscher, in: FS für Loebenstein, S. 111. 42 Vgl. Doucet/Fleck, Wörterbuch, Teil 1, S. 457; vgl. zu beiden Begriffen Weiß, Gesetz i. S. d. EMRK, S. 77; Grabenwarter, EMRK, § 18 Rn. 8; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung, S. 37. 43 Gitter, ZfA 1971, 127 (134 m. w. N. in Fn. 27); ebenso hinsichtlich EMRK und IPBPR Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 12 Rn. 26, Art. 22 Rn. 20, der allerdings ungeschriebene Rechtsnormen des common law einbezieht; hinsichtlich EMRK und Art. 6 Nr. 4 ESC Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 86 Fn. 1, 97; Ramm,

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eng und wurde auch vom EGMR verworfen.44 Ob auch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht und Richterrecht den Anforderungen der EMRK genügen, lässt sich dem Wortlaut somit nicht mit Sicherheit entnehmen. Der Gesetzesbegriff ist aus Sinn und Zweck des Vorbehalts des Gesetzes zu entwickeln. Der Vorbehalt des Gesetzes soll staatliches Handeln für den Einzelnen vorhersehbar und berechenbar machen und Willkür ausschließen. Der Bürger muss die Konsequenzen eines bestimmten Verhaltens abschätzen können. Dementsprechend hat der EGMR festgestellt, dass ein Gesetz für den Bürger ausreichend zugänglich und hinreichend bestimmt sein muss, um Rechtssicherheit zu gewährleisten.45 Dass nicht nur formelle, sondern auch materielle Gesetze diesen Anforderungen genügen können, bedarf vorliegend keiner weiteren Begründung. Aber auch ungeschriebenes Recht – Gewohnheitsrecht und Richterrecht – kann im Rahmen der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung grundsätzlich einer willkürlichen Ausübung von Staatsmacht entgegenwirken und zu vorhersehbaren Entscheidungen führen. Dieses Ergebnis korrespondiert mit der Tatsache, dass Staaten mit unterschiedlicher Rechtstradition der EMRK beigetreten sind und mit diesem Beitritt keine Angleichung ihrer Rechtsordnungen beabsichtigt haben. Für durch vom Common Law geprägte Länder kann geschriebenes Recht als Eingriffsgrundlage nicht gefordert werden. Ansonsten müsste der EMRK eine rechtssystemändernde Kraft zugebilligt werden, oder wie der EGMR im Fall Sunday Times im Hinblick auf den Ausschluss der Judikativakte aus dem Gesetzesbegriff formuliert: „this would deprive a commonlaw State which is Party to the Convention of the protection of Article 10 (2) (Art. 10-2) and strike at the very roots of that States legal system.“46

ArbuR 1967, 97 (110); vgl. hierzu und m. w. N. Trechsel, EuGRZ 1980, 514 (519 Fn. 42). 44 EGMR, Urt. v. 25.3.1983, EuGRZ 1984, 147 (150 Rn. 86); ebenso Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vorbemerkung zu Art. 8–11 Rn. 10; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung, S. 39. 45 EGMR, Urt. v. 26.4.1979, EuGRZ 1979, 386 (387 Rn. 49); Urt. v. 25.2.1988, EuGRZ 1988, 591 (598 Rn. 61 f.); siehe zusammenfassend Grabenwarter, EMRK § 18 Rn. 9 ff. 46 EGMR, Urt. v. 26.4.1979, EuGRZ 1979, 386 (387 Rn. 47); inhaltlich bestätigt durch Urt. v. 22.10.1981, EuGRZ 1983, 488 (490 Rn. 44); zu weitgehend Weiß, Gesetz i. S. d. EMRK, S. 92, 93 f., 94 f., die auch in Common-Law-Ländern das neu zu erlassende Richterrecht auf ein Parlamentsgesetz zurückführen möchte. Der IAGMR versteht in seinem Gutachten v. 9.5.1986, EuGRZ 1987, 168 ff., unter einem Gesetz i. S. v. Art. 30 AMRK nur eine solche Rechtsnorm, „die durch demokratisch gewählte verfassungsmäßige Organe verabschiedet wurde.“ (S. 172 Rn. 38) Werde Gesetz „als Synonym für beliebige Rechtsnormen (ausgelegt)“, habe dies zur Folge, dass als einzige formelle Voraussetzung gelte, „dass solche Einschränkungen in Bestimmungen allgemeinen Charakters vorgesehen werden.“ (S. 170 Rn. 26) Diese Ansicht wurde ausdrücklich unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR im Fall Sunday Times und in Anbetracht dessen formuliert, dass manche Vertragsstaaten der AMRK dem System des Common Law zugerechnet werden können (S. 170 Rn. 20).

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Es ist also festzustellen, dass das Streikrecht durch englisches case law eingeschränkt werden kann. Was bedeutet diese zum englischen Recht ergangene Rechtsprechung des EGMR aber für die vom kontinentaleuropäischen Recht geprägten Rechtsordnungen? Einfach fällt die Antwort, wenn man wie Gamillscheg dort, wo in internationalen Abkommen von „Gesetzen“ die Rede ist, die richterliche Rechtsbildung gleichstellt, ohne Berücksichtigung nationaler Besonderheiten.47 In diesem Sinne geht Seiters beispielsweise davon aus, dass dort, wo die Europäische Sozialcharta (ESC) ein „Gesetz“ fordert, um das Streikrecht einzuschränken, auch dann „case law“ ausreicht, wenn in den betreffenden Ländern die Rechtsprechung keine Gesetzgebungsfunktion übernimmt.48 Insgesamt führen diese Ansichten zu einer Angleichung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller betroffenen Rechtsordnungen. In seiner Entscheidung Rassemblement jurassien u. a. hat die EKMR ausdrücklich offen gelassen, ob eine Maßnahme „vom Gesetz vorgesehen“ ist, wenn sie allein auf ein richterrechtlich geschaffenes und unbestrittenes Rechtsinstitut zurückzuführen ist.49 Das an der Entscheidung beteiligte Kommissionsmitglied Trechsel hat Zweifel geäußert, ob die Rechtsprechung des EGMR im Sunday Times-Fall auf das kontinentale Recht übertragen werden kann. Nach seiner Darstellung bestanden in der Kommission „erhebliche Hemmungen“, den von der schweizerischen Bundesregierung befürworteten Schritt zu gehen.50 In späteren Entscheidungen hat der EGMR betont, dass die nationalen Gerichtsentscheidungen ihre Bedeutung für die Konkretisierung einzelner gesetzlicher Bestimmungen haben. Das heißt, dass eine an sich zu unbestimmte Norm 47 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 146. Ebenso MünchArbR-Löwisch/ Rieble, Bd. III, § 244 Rn. 89. Die hierfür zitierte Entscheidung des EGMR vom 13.8.1981, EuGRZ 1981, 559 (561 Rn. 60), lässt diesen Punkt jedoch ausdrücklich offen. Das ArbG Stuttgart, Beschl. v. 12.9.2003, BB 2004, 827 (831), begnügt sich mit der Feststellung, dass der durch Gesetz einschränkbare Art. 11 EMRK einen geringeren Schutz gegenüber dem vorbehaltslosen Art. 9 Abs. 3 GG bietet. Inwieweit die deutsche Rechtsprechung zur Tariffähigkeit die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK erfüllt, wird nicht weiter problematisiert. 48 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 138 f.; a. A. Ramm, ArbuR 1967, 97 (110); ders., ArbuR 1971, 65 (72 Fn. 67). Siehe zum Verhältnis von ESC und EMRK Kitz, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, 1074. Für die Ansicht von Seiter könnten die Ausführungen des Committee of Independent Experts, Conclusions, Bd. I, Straßburg 1969/1970, sprechen: „Where the limits within the right to strike may be exercised have been determined, in a state, not by legislation but by the courts, it is for the Committee to examine whether the case law thus established is in accordance with the requirements of the Charter.“ Ob diese Aussage auch für Länder gilt, in denen das Richterrecht keine Gesetzgebungsfunktion innehat, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Zur Frage, ob das italienische Richterrecht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 4 ESC genügt, hat das Committee mangels ausreichender Informationen nicht Stellung bezogen (S. 39 f.). 49 EKMR, Entsch. v. 10.10.1979, EuGRZ 1980, 36 (37 Rn. 6). 50 Trechsel, EuGRZ 1980, 514 (519).

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durch eine gefestigte Gesetzesanwendung durch die Gerichte ein ausreichendes Maß an Vorhersehbarkeit erlangen und deshalb mit der EMRK in Einklang stehen kann. Voraussetzung hierfür sei, dass die Rechtsprechung – wie auch das Gesetz selbst – veröffentlicht und zugänglich sei. Der EGMR hat es jedoch nicht in Erwägung gezogen, Eingriffe unmittelbar auf die (gefestigte) Rechtsprechung zu stützen.51 Bezugnehmend auf den Fall Müller vom 24.5.198852 hat der EGMR sich im Fall Kruslin explizit mit der Bedeutung seiner Ausführungen im Fall Sunday Times für das kontinentaleuropäische Recht auseinander gesetzt. Dabei hat der EGMR betont, dass in Ländern mit kontinentalem Rechtssystem die Rechtsprechung eine bedeutende Rolle bei der Rechtsentwicklung einnimmt, sodass ihre Außerachtlassung das Rechtssystem an seinen Wurzeln treffen würde.53 Auch wenn der EGMR ausgeführt hat, die Unterschiede zwischen den Rechtssystemen in Common-Law-Ländern und in kontinentaleuropäischen Ländern nicht übertreiben zu wollen („but it would be wrong to exaggerate the distinction between common-law countries and continental countries“), kann diesem Urteil nicht entnommen werden, dass auch in Deutschland in der Regel Richterrecht genügt, um Einschränkungen der EMRK zu rechtfertigen. Denn nach Ansicht des EGMR bestehen trotz mancher Gemeinsamkeiten weiterhin grundlegende Unterschiede, die sich auch auf den Gesetzesbegriff niederschlagen müssen. Wie sich diese Unterschiede praktisch auswirken, wird anhand des Verweises im Urteil auf den Fall Müller deutlich: Das geschriebene Recht ist im Lichte der Rechtsprechung der zuständigen Gerichte auszulegen, die ihrerseits grundsätzlich nicht als originäre Eingriffsgrundlage angesehen werden kann. In diesem Sinn heißt es im Fall Kruslin: „In a sphere covered by the written law, the ,law‘ is the enactment in force as the competent courts have interpreted it in the light, if necessary, of any new practical developments.“54 Der Rechtsprechung kommt damit lediglich eine ergänzende Funktion zu. Aus dem zuvor Festgestellten ergibt sich, dass die EMRK zwar inhaltliche Vorgaben für den Gesetzesbegriff macht, die gesetzliche Grundlage eines Eingriffs in die Konventionsrechte jedoch in Abhängigkeit von der nationalen Rechtsordnung gesehen werden muss, sodass in der konkreten Anwendung der Begriff „Gesetz“ im Geltungsbereich der EMRK nicht einheitlich zu verstehen 51 Vgl. EGMR, Urt. v. 24.5.1988, EuGRZ 1988, 543 (544 f. Rn. 29, 546 Fn. 38); Urt. v. 25.5.1993, ÖJZ 1994, 59 (60 Rn. 49); ähnlich, allerdings im Hinblick auf die Präzisierung durch erläuternde Mitteilungen an die Normunterworfenen EGMR, Urt. v. 25.3.1983, EuGRZ 1984, 147 (150 Rn. 88 f., 94); auch Satzungen öffentlich-rechtlicher Zwangskörperschaften bedürfen nach EGMR, Urt. v. 25.3.1985, EuGRZ 1985, 170 (Rn. 24 ff. [nicht abgedruckt], 173 Rn. 46), einer – wenn auch allgemein gehaltenen – Ermächtigungsgrundlage. 52 EGMR, Urt. v. 24.5.1988, EuGRZ 1988, 543 ff. 53 EGMR, Urt. v. 24.4.1990, ÖJZ 1990, 564 (565 f. Rn. 29). 54 EGMR, Urt. v. 24.4.1990, ÖJZ 1990, 564 (566 Rn. 29).

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ist.55 Am ehesten wird man den nationalen Besonderheiten gerecht werden, wenn man die Allgemeinverbindlichkeit – d.h. die Geltung gegenüber jedermann – als ein konstitutives Gesetzesmerkmal betont. Durch die Allgemeinverbindlichkeit werden die Folgen eines Rechtssatzes für den Einzelnen vorhersehbar und berechenbar; das Gesetz kann auf diese Weise die Kompetenz der Verwaltung begrenzen und damit die ihm zugedachte Funktion erfüllen.56 Es ist der nationalen Rechtsordnung überlassen, welchen Rechtsakten sie eine allgemeine verbindliche Wirkung zubilligt. In diese Richtung könnte auch die Aussage des EGMR im Fall Silver interpretiert werden, dass nur solche Rechtsakte als „law“ und damit als Eingriffsgrundlage in Betracht kommen, die nach dem nationalen Rechtsverständnis Gesetzeskraft aufweisen.57 Allgemeinverbindliches ungeschriebenes Recht ist beispielsweise das Gewohnheitsrecht. Im deutschen Recht, dessen Gerichtsurteile inter partes wirken – Ausnahmen sind allein die Entscheidungen des BVerfG nach Art. 31 Abs. 2 BVerfGG –, ist die gesetzesgleiche Wirkung von Richterrecht ausgeschlossen. Zu einem anderen Ergebnis kann man nur dann kommen, wenn eine gefestigte Rechtsprechung in Gewohnheitsrecht erwachsen ist.58 b) Arbeitskampfrechtsprechung als Gesetz i. S. des Art. 11 Abs. 2 EMRK Wenn Art. 11 Abs. 2 EMRK grundsätzlich allgemeinverbindliches Recht als Grundlage für die Rechtsprechung fordert, müsste die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG entweder auf ein geschriebenes Gesetz zurückzuführen oder als Gewohnheitsrecht anzusehen sein. Allein unter diesen Voraussetzungen sind die Einschränkungen der Streikfreiheit unter Berücksichtigung des deutschen Rechtssystems „gesetzlich vorgesehen“ i. S. d. EMRK.

55

Grabenwarter, EMRK, § 18 Rn. 8. In diesem Sinne beispielsweise Kiss, in: Henkin, The International Bill of Rights, S. 304 f. (allerdings im Hinblick auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte). 57 EGMR, Urt. v. 25.3.1983, EuGRZ 1984, 147 (150 Rn. 86). 58 Weiß, Gesetz i. S. d. EMRK, S. 106 f.; Larenz, in: FS für Henkel, S. 33, 39, weist darauf hin, dass die Gerichte immer nur den Einzelfall entscheiden, auch wenn sie versuchen, allgemeingültige Regeln aufzustellen. In Anbetracht der Vielgestaltigkeit der zu entscheidenden Fälle könne auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung keine Allgemeingültigkeit zugesprochen werden. Ob bei der Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung Vertrauensschutz zu berücksichtigen ist, wird vom BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (227 f.), offen gelassen. Das Gleich gilt für die Frage der Zulässigkeit der Rückwirkung von Rechtsprechungsänderungen (BVerfG, Beschl. v. 19.2.1975, BVerfGE 38, 386 [397]). 56

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aa) Geschriebenes Recht (1) § 823 Abs. 1 BGB Eine ausdrückliche Regelung des Streikverbots existiert nur in Teilbereichen wie z. B. in § 74 Abs. 2 S. 1 BetrVG oder § 66 Abs. 2 S. 2 PBersVG. Eine darüber hinausgehende (umfassende und abschließende) Normierung der arbeitskampfrechtlichen Grundsätze ist hingegen ausgeblieben. Das richterrechtliche Verbot des nichtparitätischen Streiks könnte auf die Generalklausel des § 823 Abs. 1 BGB zurückzuführen sein.59 Der Streik stellt in der Regel einen Eingriff in das durch § 823 Abs. 1 BGB geschützte Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb dar. Ob eine Beschränkung der Streikfreiheit hierauf gestützt werden kann, ist damit allerdings noch nicht gesagt. § 823 BGB trifft keine Aussage über die Zulässigkeit eines Streiks. Der Eingriff durch Streikmaßnahmen in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb indiziert – anders als bei einem Eingriff in ein absolutes Recht – nicht die Rechtswidrigkeit. Die Rechtswidrigkeit des Eingriffs muss für jeden Einzelfall positiv durch Abwägung der beteiligten Güter und Interessen festgestellt werden.60 Für die Beurteilung, wann ein Streik rechtswidrig ist, enthält § 823 BGB keine Wertungen; § 823 BGB steht dem Streik neutral gegenüber. Dementsprechend knüpft § 823 BGB allein eine bestimmte Rechtsfolge – die Schadensersatzpflicht – an einen rechtswidrigen Streik und ein individuelles Verschulden, verbietet den Streik aber selber nicht; unter Zuhilfenahme des § 1004 BGB analog kann nur die Durchführung eines rechtswidrigen Streiks untersagt werden. Letztendlich stellt damit der quasinegatorische Unterlassungsanspruch lediglich die Rechtsfolge einer Handlung dar, die ihrerseits den objektiven Tatbestand des § 823 BGB in rechtswidriger Weise erfüllt. Die richterlich festgestellte Rechtswidrigkeit hat auch nur Wirkung inter partes; der Entscheidung kann also keine allgemeingültige und Dritte bindende Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Streiks entnommen werden. Insoweit ist die Rechtswidrigkeit in Bezug auf jeden einzelnen Antragsteller erneut zu prüfen. Würde man das Arbeitskampfrecht auf den gänzlich unbestimmten § 823 BGB stützen, ließe sich mit der gleichen Argumentation die Arbeitskampfrechtsprechung auf § 611 BGB zurückführen. Denn dadurch, dass die Grenzen des Streikrechts festgelegt werden, hat das BAG bestimmt, unter welchen Voraussetzungen ein an sich arbeitsvertragswidriges Verhalten – die Verweigerung 59 So beispielsweise Gitter, ZfA 1971, 127 (143). Siehe hiergegen Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 137 Fn. 36. 60 Anders Lieb, Arbeitsrecht, Rn. 613 ff., der für den Streik – anders als für sonstige Eingriffe im Wettbewerb – eine Rechtfertigung fordert. Dies ist zweifelhaft, da Lieb den Arbeitskampf quasi als Fremdkörper in der Wirtschaftsordnung beurteilt, obwohl der Arbeitskampf die tradierte Methode ist, um das bestehende Marktversagen auszugleichen und die Arbeitsbedingungen festzulegen.

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der geschuldeten Arbeit – nicht als Verstoß gegen § 611 BGB anzusehen ist. In den anderen Fällen wird dem einzelnen Arbeitnehmer eine Streikteilnahme untersagt. Aus § 611 BGB die Regeln für Arbeitskämpfe herzuleiten, erscheint, da er keinerlei arbeitskampfbezogene Aussage enthält, fern liegend und wird soweit ersichtlich von niemandem befürwortet. Das Zurückgreifen auf § 823 Abs. 1 BGB, der noch nicht einmal eine spezielle arbeitsrechtliche Materie darstellt, erscheint nicht plausibler. Dass § 823 Abs. 1 BGB als gesetzliche Grundlage eines Arbeitskampfrechts untauglich ist, ergibt sich noch aus einem anderen Grund. Denn mit § 823 Abs. 1 BGB ließen sich allein die Grenzen des Streikrechts abstecken. Da das „Recht am Arbeitsplatz“ nicht als sonstiges Recht anerkannt ist61, kann das Verbot der Aussperrung nicht aus § 823 Abs. 1 BGB hergeleitet werden. Hierfür müsste eine andere gesetzliche Grundlage gefunden werden. Diese Unterscheidung mutet im Ergebnis nicht nur zufällig an, sondern hätte Folgerwirkungen: Eine Verknüpfung von Streik und Aussperrung und damit ein einheitliches Arbeitskampfsystem wären nur schwerlich zu begründen. § 823 BGB kann also nicht als gesetzliche Grundlage eines Streikverbots angesehen werden. Dieser Ansicht entspricht letztendlich auch die Argumentation der Rechtsprechung. In seiner Grundsatzentscheidung zum wilden Streik begründet das BAG ganz allgemein die Rechtswidrigkeit des nichtgewerkschaftlichen Streiks, um erst in einem nächsten Schritt nach der Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 1 BGB zu fragen.62 (2) Art. 9 Abs. 3 GG Das Verbot eines nichtparitätischen Streiks könnte auch auf Art. 9 Abs. 3 GG beruhen, sodass Art. 9 Abs. 3 GG seine Bedeutung nicht nur bei der Auslegung des § 823 Abs. 1 BGB, sondern auch als Rechtsgrundlage für die Arbeitskampfrechtsprechung hätte.63 Denn um zu bestimmen, wann ein Streik rechts61 Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. II, S. 127 f.; Palandt-Sprau, § 823 Rn. 20; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 457 f.; Wagner, in: Münchener Kommentar, § 823 Rn. 169; a. A. Brox, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 346; Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 995 ff. 62 BAG, Urt. v. 20.12.1963, AP Nr. 32 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (8 ff., 10 f.); siehe hierzu Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 466. In BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5), stellte das BAG dementsprechend darauf ab, dass der rechtswidrige Streik den Eingriff in den Gewerbebetrieb des streikbetroffenen Unternehmers rechtswidrig macht, nicht umgekehrt. Auch das BVerfG geht in seinem Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (226 f.), offensichtlich davon aus, dass es an einer gesetzlichen Grundlage für die Beschränkungen des Arbeitskampfs aus Paritätsgesichtspunkten fehlt. 63 Nach Darstellung des deutschen Vertreters im Regierungsausschuss der ESC soll Art. 9 Abs. 3 GG unmittelbar ein verfassungsrechtliches Verbot bestimmter Arbeits-

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widrig ist, ist auf Art. 9 Abs. 3 GG zurückzugreifen. Dass aus der Verfassung ein Verbot hergeleitet wird, ist nichts Ungewöhnliches und im Hinblick auf den von der EMRK formulierten Vorbehalt des Gesetzes unbedenklich. Beispielsweise verbietet die Verfassung von Portugal in Art. 57 Abs. 4 expressis verbis die Aussperrung. Wie auch sonstige Gesetze ist die Verfassung einer Konkretisierung durch die Rechtsprechung zugänglich. Die EKMR hat es ausreichen lassen, dass eine von der Rechtsprechung entwickelte Eingriffsgrundlage auf die Berner Kantonsverfassung zurückzuführen ist.64 Art. 9 Abs. 3 GG erklärt bestimmte Abreden und Maßnahmen für rechtswidrig bzw. nichtig, sodass es grundsätzlich möglich erscheint, hierauf – ggf. in Verbindung mit der Arbeitskampfrechtsprechung – ein Streikverbot zu stützen. Auch wenn die Tarifautonomie gleichgewichtige Tarifparteien voraussetzt, ist Art. 9 Abs. 3 GG dennoch nicht das Verbot eines nichtparitätischen Streiks zu entnehmen. Vielmehr wird auch dieser Streik noch vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst. Soweit bereits der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit im Lichte der Parität zu interpretieren ist, lässt sich hierdurch allein die kampfformen zu entnehmen sein (ArbuR 1998, 154 [155]). Das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern werde durch Art. 9 Abs. 3 GG verbindlich geregelt. Art. 9 Abs. 3 GG habe durch die langjährige Rechtsprechung von BAG und BVerfG eine bindende Auslegung erfahren; den (bestätigenden) Entscheidungen des BVerfG komme zudem Gesetzeswirkung zu. Eine Änderung des Richterrechts erfordere deshalb eine Grundgesetzänderung. Gegen diese Ausführungen bestehen ganz erhebliche dogmatisch-formale Bedenken; mit dem deutschen Rechtssystem sind die Ausführungen jedenfalls nicht zu vereinbaren (zur inhaltlichen Kritik siehe Däubler, ArbuR 1998, 144 [145 f.]): Richterrecht – auch ständiges – kann den Inhalt der Verfassung nicht ändern. Richterrecht kann durch Richterrecht korrigiert werden, soweit es die Auslegung der Verfassung zulässt. Weiterhin erwachsen Entscheidungen des BVerfG über Verfassungsbeschwerden nicht grundsätzlich in Gesetzeskraft, wie § 31 Abs. 2 BVerfGG deutlich macht. Erforderlich ist immer, dass das BVerfG ein Gesetz bestätigt oder verwirft. An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn das BVerfG die Rechtsprechung des BAG unbeanstandet lässt. Selbst wenn die Gesetzeskraft unterstellt werden könnte, wäre die Darlegung des deutschen Vertreters immer noch nicht richtig. Wie das Richterrecht kann auch das einfache Gesetzesrecht den objektiven Inhalt der Verfassung nicht ändern. Auch wenn ausnahmsweise wie bei Art. 14 GG eine konkrete einfachrechtliche Position (Eigentum) verfassungsrechtlichen Schutz genießt, wird dadurch lediglich der abwehrrechtliche Gehalt, aber nicht der objektive Schutzbereich selbst verbindlich festgelegt. Gestaltet der Gesetzgeber den Schutzbereich aus oder um, bleibt weiterhin für die Zulässigkeit der Ausgestaltung allein die Verfassung maßgeblich. Zudem steht der Spruch des BVerfG nicht über dem Gesetz und ist dementsprechend nicht dem „Zugriff“ des (einfachen) Gesetzgebers entzogen; der Rechtsprechung des BVerfG kann auch nicht entnommen werden, dass die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG durch Art. 9 Abs. 3 GG zwingend vorgeschrieben wird. Gerade bei einem ausgestaltungsbedürftigen Grundrecht wie Art. 9 Abs. 3 GG hat es der Gesetzgeber in der Hand, der einfachrechtlichen/richterlichen Umsetzung eine andere Richtung zu geben. Dass einer bestehenden Ausgestaltung kein Verfassungsrang zukommt, ist ständige Rechtsprechung (vgl. BVerfG, Urt. v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290 [355]; Beschl. v. 27.1.1998, BVerfGE 97, 169 [175 f.]). 64 EKMR, Entsch. v. 10.10.1979, EuGRZ 1980, 36 ff.

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generelle Gewährleistung einer bestimmten Arbeitskampfmaßnahme begründen. Für die Beantwortung der Frage, ob die einzelne Maßnahme in der konkreten Situation noch geschützt oder sogar verboten wird, fehlen Art. 9 Abs. 3 GG handhabbare Maßstäbe.65 „Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang eine Koalition dieses verfassungsrechtlich geschützte Mittel (Anm.: die Aussperrung) einsetzen darf, ist ebenso wie beim Streik keine Frage des Schutzbereichs, sondern der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung.“66 Macht Art. 9 Abs. 3 GG keine Vorgaben, unter welchen Umständen das Kräfteverhältnis der Arbeitskampfparteien paritätisch ist, ermangelt es Art. 9 Abs. 3 GG an der notwendigen Bestimmtheit, um als Gesetz die Koalitionsfreiheit aus Art. 11 EMRK einschränken zu können. Werden die Gerichte rechtsschöpferisch tätig, kann nicht mehr von dem „Normsetzungsakt, wie ihn die zuständigen Gerichte, wenn nötig im Lichte jeder neuen praktischen Entwicklung ausgelegt haben“67 als der gesetzlichen Grundlage i. S. d. Art. 11 Abs. 2 EMRK gesprochen werden. Erst eine an der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie und insbesondere dem Paritätsprinzip orientierte Ausgestaltung durch den Gesetzgeber vermag eine ausreichend bestimmte gesetzliche Grundlage zu schaffen, die wiederum durch die Rechtsprechung konkretisiert werden könnte. Der Gesetzgeber ist bislang allerdings untätig geblieben; § 146 Abs. 3 SGB III stellt beispielsweise nur eine die Parität betreffende Detailregelung dar, der allenfalls für die Verteilung des Arbeitskampfrisikos konkrete Wertungen entnommen werden können. Das Richterrecht vermag nur dann an die Stelle der gesetzlichen Ausgestaltung zu rücken, wenn es als Gewohnheitsrecht Normcharakter erlangt hat. Wenn die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG weder als (normkonkretisierende bzw. lückenfüllende) Auslegung angesehen noch auf eine Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG zurückgeführt werden kann, fehlt es an einer geschriebenen Rechtsgrundlage, auf deren Basis die Streikfreiheit aus Art. 11 EMRK eingeschränkt werden kann. Dass der Richter seine Erkenntnisse auf der Grundlage der geltenden Rechtsordnung gewinnt und damit eine Verknüpfung mit der Rechtsordnung besteht68, führt zu keiner anderen Bewertung. Die Konformität der Rechtsprechung mit der nationalen Rechtsordnung vermag eine gesetzliche Grundlage i. S. d. Art. 11 Abs. 2 EMRK nicht zu ersetzen.

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BVerfG, Urt. v. 4.7.1995, BVerfGE 92, 365 (395). BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (225). 67 EGMR, Urt. v. 24.4.1990, ÖJZ 1990, 564 (566 Rn. 29). 68 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 7); Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 122. 66

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bb) Richterrecht (1) Arbeitskampfrechtsprechung als Gewohnheitsrecht Gilt die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG als Gewohnheitsrecht, könnte der den Einzelfall entscheidende Richter seine Entscheidung hierauf stützen. Wie oben gezeigt, fordert Art. 11 Abs. 2 EMRK nicht ausschließlich eine formelle Rechtsgrundlage. In seinem Beschluss vom 21.4.1971 hat der Große Senat des BAG von „gesetzesvertretendem Richterrecht“ gesprochen.69 Dies könnte darauf hindeuten, dass ausnahmsweise die vom BAG geprägte Arbeitskampfrechtsprechung den Rang von Gesetzesrecht einnimmt und deshalb dem geschriebenen Recht gleichzustellen ist, sodass hierin eine „gesetzliche“ Ausgestaltung bzw. Einschränkung der Streikfreiheit zu sehen wäre. Prinzipiell ist dies denkbar, da der EGMR ausdrücklich die Besonderheiten des nationalen Rechtssystems berücksichtigen möchte. Die Eingriffsgrundlage muss nach dem innerstaatlichen Recht als Rechtsnorm angesehen werden.70 Damit eine Rechtsprechung in Gewohnheitsrecht erwächst, bedarf es nach Darstellung von Larenz nicht nur der Erwartung der Rechtsunterworfenen, „daß die Gerichte nach dieser Maxime verfahren werden“, sondern auch der Überzeugung, „daß sie dies tun werden, weil es sich um eine sie bindende Norm handelt.“71 Diesen Anforderungen genügt die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG nicht. Bötticher spricht im Zusammenhang mit der Arbeitskampfrechtsprechung zwar von „in Rechtsüberzeugung gebildete(m) Bundesgewohnheitsrecht“.72 Gegen diese Ansicht hat sich jedoch das BAG gewandt. In seinem Urt. v. 10.6.1980 hat es sich ausführlich damit auseinander gesetzt, ob durch seine Rechtsprechung zur Aussperrung Normen erzeugt wurden, die trotz ihres richterrechtlichen Ursprungs bindende Wirkung für die Rechtspraxis entfalten: „Eine ständige Rechtsprechung kann nur dann Gewohnheitsrecht erzeugen, wenn sie in das allgemeine Rechtsbewußtsein übergeht und von den Rechtsgenossen überwiegend als geltende Norm anerkannt wird. Nur der allgemeine „Rechtsgeltungswille“ führt zu einer normativen Wirkung (. . .). Diese Voraussetzung wird von der Arbeitskampfrechtsprechung des BAG nicht erfüllt. Die vom BAG entwickelten Grundsätze waren von Anfang an umstritten. Daß sie vom Rechtsgeltungswillen der betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen würden, ist noch nie festgestellt und auch nur behauptet worden (. . .). Auch die Bezeichnung „Richterrecht“ darf nicht zu dem Trugschluß verführen, als könnten die Gerichte Normen setzen. 69 BAG GrS, Beschl. v. 21.4.1971, AP Nr. 44 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 12 R); siehe hierzu BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 6 R f.). 70 EGMR, Urt. v. 25.3.1983, EuGRZ 1984, 147 (150 Rn. 86); Frowein, in: Frowein/ Peukert, EMRK, vor Art. 8–11 Rn. 4. 71 Larenz, Methodenlehre, S. 433. 72 Bötticher, RdA 1969, 367 (368).

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Grundsatzentscheidungen bilden zwar eine Rechtserkenntnisquelle, begründen aber keine Normen (. . .). Soweit der Große Senat des BAG in seinem Beschl. vom 21.4.1971 von „gesetzesvertretendem Richterrecht“ gesprochen hat (. . .), ging es um eine andere Problematik.“73

In Bekräftigung seiner zuvor dargestellten Ansicht hat das BAG in einer späteren Entscheidung festgestellt, dass das richterrechtliche Arbeitskampfrecht nicht als Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB angesehen werden kann, sondern das Ergebnis einer Auslegung der grundgesetzlich gewährleisteten und durch das TVG konkretisierten Tarifautonomie darstellt.74 Auch das BVerfG geht davon aus, dass die Rechtsprechung des BAG zur Aussperrung nicht an die Stelle eines vom Gesetzgeber zu erlassenden Gesetzes treten kann. „Höchstrichterliche Urteile sind kein Gesetzesrecht und erzeugen keine damit vergleichbare Rechtsbindung.“75 Die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG ist im Laufe der Zeit vielfältigen Wandlungen unterworfen gewesen und noch immer unterworfen. Viele Aussagen zur Zulässigkeit eines Arbeitskampfs sind – wie auch das BAG selbst festgestellt hat –, wenn nicht in ihrem Grundsatz, so doch in ihrer genauen Ausformung, der Kritik von Literatur sowie von betroffenen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften unterworfen. Beispielsweise ist nach wie vor umstritten, was unter Parität zu verstehen ist und wie diese im Einzelfall bestimmt wird.76 Von einem übereinstimmenden Rechtsgeltungswillen der Rechtsunterworfenen kann deshalb nicht gesprochen werden; Gewohnheitsrecht konnte sich insoweit nicht bilden.77 Die Rechtsprechung des BAG kann somit nicht als gesetzliche Grundlage eines Streikverbots herangezogen werden.

73 BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 65 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 6 R f.). Auch in seinem Urt. v. 12.3.1985, AP Nr. 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5), verneint das BAG den normativen Charakter seiner Aussperrungsrechtsprechung. Vgl. hierzu Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 122. 74 BAG, Urt. v. 21.12.1982; AP Nr. 76 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5 R); offengelassen von BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5 R); a. A. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 466; ebenso wohl auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1222; hiergegen wiederum Colneric, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 1162 Fn. 127. 75 BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (227); vgl. zur Charakterisierung der Rechtsprechung als Rechtsanwendung und nicht als Rechtsquelle Kissel, Arbeitskampfrecht, § 21 Rn. 12 ff., 19 ff. m. w. N. zur Rechtsprechung. 76 Vgl. nur die Ausführungen von Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 968 ff. m. w. N. Das BVerfG hat in seinem Urt. v. 4.7.1995, BVerfGE 92, 365 (395 f.), darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber an die Paritätserwägungen des BAG, auch wenn diese verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind, nicht gebunden ist. 77 Gitter, ZfA 1971, 127 (143); Egbert Schneider, Die Vereinbarkeit des deutschen Arbeitskampfrechts, S. 209 ff. Anders mag dies beispielsweise beim Streikrecht Nichtorganisierter sein, das seit geraumer Zeit nahezu unangefochten gilt; vgl. Gebhardt, Außenseiter im Arbeitskampf, S. 54, die hierin Gewohnheitsrecht sieht.

342

6. Kap.: Internationales Recht

(2) Exkurs: Weitere Anforderungen der EMRK Zum Abschluss soll noch kurz auf die Frage eingegangen werden, ob die Rechtsprechung des BAG zu Streik und Aussperrung – abgesehen davon, dass sie nicht auf eine geschriebene Rechtsgrundlage zurückzuführen ist – den weiteren Anforderungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK genügen würde. Welche Kriterien die Rechtsprechung erfüllen muss, um als „Gesetz“ im Sinne der EMRK angesehen zu werden, hat der EGMR genau formuliert. Demnach muss das „Gesetz“ für den Betroffenen zugänglich und seine Auswirkungen vorhersehbar sein. Weiterhin muss das „Gesetz“ mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zu vereinbaren sein.78 Welches Maß an Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit gefordert ist, hängt auch davon ab, welche Lebenssituation durch das „Gesetz“ geregelt werden soll. Dabei kommt es u. a. auf die Normunterworfenen an.79 Von einem Streikverbot sind zunächst die Gewerkschaften betroffen, von denen eine gewisse Sachkunde erwartet werden kann. Auch der einzelne Arbeitnehmer muss sichere Auskunft über die Rechtmäßigkeit von Streikmaßnahmen erlangen können. Andernfalls riskiert er – wenn ihm der Irrtum vorwerfbar ist – Schadensersatzforderungen und möglicherweise sogar die Kündigung. Der EGMR hat deutlich gemacht, dass ein Gesetz, das durch die Rechtsprechung (wesentlich) präzisiert wurde, zugänglich ist, wenn die Rechtsprechung öffentlich publiziert wurde.80 Insoweit ist die Rechtsprechung des BAG jedermann zugänglich. Ob aber die Paritätserwägungen des BAG die Zulässigkeit eines Streiks – wenn auch unter Inanspruchnahme rechtskundiger Beratung81 – vorhersehbar machen, darf bezweifelt werden. Dies zeigt sich nicht nur in den nach wie vor bestehenden unterschiedlichen Meinungen in der Literatur, die bereits der Annahme von Gewohnheitsrecht entgegenstehen.82 Auch das BAG hat seine Rechtsprechung im Laufe der Zeit stark geändert. Als Stichwort ist hier die sog. Arbeitskampf-Arithmetik zu nennen.83

78 EGMR, Entsch. v. 24.4.1990, ÖJZ 1990, 564 (565 Rn. 27); vgl. zusammenfassend Grabenwarter, EMRK, § 18 Rn. 9 ff. 79 EGMR, Urt. v. 28.3.1990, NJW 1991, 615 (618). 80 EGMR, Urt. v. 24.5.1988, EuGRZ 1988, 543 (545 Rn. 29). 81 EGMR, Urt. v. 26.4.1979, EuGRZ 1979, 386 (387 Rn. 49). 82 Vgl. oben S. 341 Fn. 76. 83 In BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 16), wurde ein zahlenmäßiges Verhältnis von Streikenden und Auszusperrenden festgelegt. Bereits in BAG, Urt. v. 12.3.1985, AP Nr. 84 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 5 R ff.), wurde hierauf nicht mehr abgestellt, während in BAG, Urt. v. 7.6.1988, AP Nr. 107 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 2 R), Bedenken hinsichtlich eines starren Zahlenverhältnisses geäußert wurden. Vgl. hierzu Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 468 f.; zur Kritik an dieser Rechtsprechung Zöllner, DB 1985, 2450 (2458 f.).

A. Europäische Menschenrechtskonvention

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III. Ergebnis Art. 11 EMRK steht der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln grundsätzlich nicht entgegen. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zur negativen Koalitionsfreiheit erscheint die Rechtsprechung des BAG GrS in seiner Differenzierungsklauselentscheidung als zu restriktiv; die positive Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften wird über Gebühr eingeschränkt. Soweit die Differenzierungsklauseln Bestandteil eines zulässigen Tarifvertrags sind, gewährleistet Art. 11 EMRK im deutschen Recht mit einfachrechtlicher Wirkung das Streikrecht. Das Verbot des unparitätischen Streiks, das allein auf der Rechtsprechung des BAG beruht, kann das Streikrecht nicht wirksam begrenzen. Hierfür fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage. Auf den Punkt gebracht hat Larenz die Situation, wenn er ausführt, dass die Arbeitskampfrechtsprechung der Ausfüllung einer Lücke – „zwar nicht des (nicht vorhandenen) Gesetzes, wohl aber der gesamten Rechtsordnung“84 – dient. Nur am Rande sei noch angemerkt, dass dieses Ergebnis im Hinblick auf den im deutschen Recht geltenden Vorbehalt des Gesetzes keine weitergehenden Probleme aufwirft. Wie bereits im Rahmen der Ausgestaltung angesprochen, findet der Vorbehalt des Gesetzes nur dann Anwendung, wenn der Staat in die Grundrechte der Bürger eingreift; im Bereich des Privatrechts ist der Richter jedoch nicht an die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte gebunden.85 Er hat lediglich die objektiven Wertentscheidungen der Verfassung wie die Einrichtungsgarantien und die Schutzpflichten zu beachten. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt das BAG, wenn es die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern miteinander in Einklang bringt, indem die Parität der Arbeitskampfparteien erreicht werden soll. Die Gegenüberstellung von Streik und Aussperrung erscheint dabei als eine von vielen Möglichkeiten. Dementsprechend liegt kein Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes vor, wenn das BAG bestimmte Regeln für den Arbeitskampf aufstellt und einzelne Arbeitskämpfe für unzulässig erklärt. Problematisch bleibt allerdings noch, ob nach der Wesentlichkeitstheorie nicht trotzdem der Gesetzgeber zuständig wäre. Insbesondere ist der Richter nicht in der Lage, aus eigener Machtvollkommenheit einen Bestand an Normen zu schaffen, um eine effektive Grundrechtswahrnehmung 84 Larenz, in: FS für Henkel, S. 44; ähnlich Hilger, in: FS für Larenz (1973), S. 111, die vom „gesetzesfreien Raum“ spricht, in dem der Richter „ohne Rückhalt am Gesetz entscheiden muss.“ Ähnlich Dieterich, NZA 1996, 673 (676) („Nicht einmal Leitprinzipien hat der Gesetzgeber normiert.“); Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 83. Nach Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 97 f., fehlt es an einer Grundlage um die Streikfreiheit der ESC rechtmäßig einzuschränken. 85 BVerfG, Urt. v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198 (205 ff.); Beschl. v. 11.5.1976, BVerfGE 42, 143 (147 ff.); Beschl. v. 23.4.1986, BVerfGE 73, 261 (268 f.); Urt. v. 15.12.1999, BVerfGE 101, 361 (388 ff.); Epping, Grundrechte, Rn. 315 ff.; a. A. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 486 ff.; Hellermann, Freiheitsrechte, S. 212.

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6. Kap.: Internationales Recht

zu ermöglichen. Insoweit ist der parlamentarische Gesetzgeber in der Pflicht. Das BVerfG hat in diesen Punkt in zweifelhafter Weise umgangen, indem es festgestellt hat, die Wesentlichkeitstheorie gelte nicht, wenn es um das Verhältnis von Privatpersonen gehe.86

B. Europäische Sozialcharta Die Europäische Sozialcharta (ESC) dient nach Art. 136 EG der EG als Orientierung. In Deutschland richtet sie sich an den Staat, sodass sie, auch wenn sie keine subjektiven Rechte vermittelt, zumindest bei der Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen ist.87 Aus dem Anhang zu Teil III der ESC ergibt sich nichts Gegenteiliges. Zwar heißt es dort, dass die Charta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthält, deren Durchführung aus86 Die Wesentlichkeitstheorie findet entgegen BVerfG, Beschl. v. 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 (226), Anwendung, obwohl die Koalitionen dem privaten Recht angehören. Denn wenn ein Gericht (in Erfüllung staatlicher Schutzpflichten) eine privatrechtliche Streitigkeit entscheidet, entsteht ein Dreiecksverhältnis. Gewährt das Gericht der einen Seite eine Leistung und schränkt damit gleichzeitig die Rechte der anderen Seite ein, kann eine solche Entscheidung wesentlich für die Grundrechtsausübung sein, sodass eine vom Parlament geschaffene und damit unmittelbar demokratisch legitimierte Rechtsgrundlage erforderlich wird. Geht man zudem davon aus, dass die Wesentlichkeitstheorie aus dem Demokratieprinzip herzuleiten ist, muss sie auch zwischen Legislative und Judikative gelten, da die Rechte des Parlaments auch von der Rechtsprechung untergraben werden können. Die Ansicht des BVerfG wird geteilt von Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 951, Haltern/Mayer/Möllers, Die Verwaltung Bd. 30 (1997), 51 (60 ff.); Schwarze, JuS 1994, 653 (659); a. A. Gellermann, Grundrechte, S. 393 f.; Hillgruber, JZ 1996, 118 (123 f.); MünchArbR-Otto, Bd. III, § 284 Rn. 60 f.; im Ergebnis ebenso Zöllner, DB 1985, 2450 (2453); siehe umfassend Gellermann, a. a. O., S. 390 ff. 87 Frowein, Aussperrung, S. 18; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 130 ff. (m. w. N. in Fn. 4, 5), 137 ff., 189; Rüthers, Aussperrung, 1980, S. 17 ff.; Zöllner, Aussperrung, S. 10 f. So wohl auch BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981, BVerfGE 58, 233 (254); BAG, Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 11 R f.); Urt. v. 10.12.2002, RdA 2003, 356 (360) (siehe hierzu die Anmerkung von Kohte/ Doll, ZESAR 2003, 393 ff.). Auch BVerwG, Beschl. v. 18.12.1992, AP Nr. 1 zu Art. 16 ESC (Bl. 2 R f.), betont, dass dort, wo der Gesetzgeber keine abschließende Regelung getroffen hat, auf die ESC zurückgegriffen werden kann. Gegen eine Anwendung durch die Gerichte haben sich ausgesprochen Nipperdey/Säcker, in: Hueck/ Nipperdey, Arbeitsrecht, Bd. 7. Aufl., II/2, S. 922 ff.; Scholz, SAE 1985, 33 (39 ff.); Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 61 f. (jedenfalls keine Pflicht der Gerichte zur Anwendung); Wengler, Die Unanwendbarkeit der Sozialcharta im Staat, S. 10 ff.; Zuleeg, RdA 1974, 321 (324). Für eine unmittelbare Wirkung zumindest der Streikfreiheit Gitter, ZfA 1971, 127 (136); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20 Rn. 23; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 58 (mit ausführlicher Auslegung S. 38 ff.); Neubeck, Die Europäische Sozialcharta, S. 170 ff.; Ramm, ArbuR 1967, 97 (98, 108); ders., ArbuR 1971, 65 (74). Ebenso Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 64, 66 ff. (Streikfreiheit als subjektives Recht), der allerdings die gerichtliche Durchsetzbarkeit verneint (ein im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG fragwürdiges Ergebnis).

B. Europäische Sozialcharta

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schließlich von den in Teil IV vorgesehenen Organen überwacht wird. Wenn die Gerichte nationales Recht ESC-konform auslegen, werden sie jedoch nicht zwangsläufig als „Überwacher“ tätig, sondern sind an der Durchführung der ESC beteiligt; gerade im Bereich des Arbeitskampfes hat sich der Gesetzgeber einer gesetzlichen Regelung enthalten, sodass von einer „Überwachung“ nicht gesprochen werden kann. Dass ausschließlich der Gesetzgeber zur Implementierung der Gewährleistungen der ESC in das nationale Recht ermächtigt ist, lässt sich der ESC jedenfalls nicht entnehmen, was durch Teil V Art. I der revidierten ESC – die von Deutschland noch nicht ratifiziert wurde – nunmehr deutlich gemacht wird. Demnach können Verpflichtungen aus der ESC u. a. durch Gesetze, Kollektivvereinbarungen oder andere geeignete Mittel erfüllt werden. Wenn die Gerichte eine (völkerrechtliche) Pflicht trifft, die ESC bei der Auslegung zu berücksichtigen, muss dieser Verpflichtung jedoch nicht zwangsläufig ein subjektives Recht des einzelnen Bürgers korrespondieren, sodass ein Widerspruch zu der oben genannten Anhangsbestimmung zu Teil III nicht besteht: Es bleibt dann dabei, dass die ESC nur eine völkerrechtliche Pflicht des Staates begründet.

I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit der ESC In Art. 5 ESC findet sich kein Hinweis auf die Gewährleistung einer negativen Koalitionsfreiheit. Eine ausdrückliche Regelung wie in Nr. 11 Abs. 2 der (als politische Absichtserklärung formulierten [vgl. Art. 136 S. 1 EG]) Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer fehlt.88 Da im Zeitpunkt des Vertragsschlusses der closed shop in einigen Staaten legales organisationspolitisches Mittel gewesen ist, ist davon auszugehen, dass die Frage nach der negativen Koalitionsfreiheit bewusst offen gelassen werden sollte. Zwar hat die Entstehungsgeschichte der EMRK – auch die EMRK sollte dem closed shop nicht entgegenstehen – den EGMR nicht davon abgehalten, in Art. 11 EMRK den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit hineinzulesen. Für die ESC gilt jedoch die Besonderheit, dass sich im Anhang, der nach Art. 38 ESC Bestandteil der Charta ist, die Auslegungsregel findet, dass Art. 1 Abs. 2 ESC (Recht auf Arbeit) nicht so auszulegen ist, „als würden durch sie Schutzklauseln oder Schutzmaßnahmen einer Gewerkschaft verboten oder erlaubt.“ Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass der dem Schutz der Gewerkschaften dienende closed shop nicht im Hinblick auf das „Recht des Arbeitnehmers (. . .), seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen“, für rechtswidrig erklärt wird. An dieser Auslegungsregel wird deutlich, dass die ESC koalitionsfördernden Maßnahmen der Gewerkschaften zumindest neutral gegenübersteht; 88

Vgl. hierzu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 59 m. w. N. in Fn. 258.

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6. Kap.: Internationales Recht

der (umfassende) Schutz der negativen Koalitionsfreiheit würde diese Absicht konterkarieren.89 Damit kann die ESC gegenüber den Differenzierungsklauseln nicht ins Feld geführt werden.

II. Erstreikbarkeit Art. 6 Abs. 4 ESC nennt ausdrücklich nur das Streikrecht; die Aussperrung findet keine Erwähnung. In dem Anhang Teil II Art. 6 Abs. 4 zur Sozialcharta wird nur eine gesetzliche Ausgestaltung des Streikrechts erwogen; ein Hinweis auf die Aussperrung fehlt. Dementsprechend ist fraglich, ob sich der Schutzbereich auf den paritätischen Streik beschränken lässt, wie dies z. B. vom BAG für den gewerkschaftlichen Streik unter Ausklammerung des wilden Streiks getan wurde.90 Das BAG konnte sich darauf berufen, dass Art. 6 Abs. 4 ESC das Streikrecht nur im Rahmen von Kollektivverhandlungen gewährleistet und damit einen gewissen gefestigten organisatorischen Zusammenhalt der Streikenden voraussetzt. Aus der Formulierung, dass das „Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts“ geschützt wird, wird aber ersichtlich, dass das Streikrecht nur exemplarisch genannt ist. Das Recht zur Aussperrung ist eines der wichtigsten Arbeitskampfmittel der Arbeitgeber. Welche anderen kollektiven Maßnahmen den Arbeitgebern von Art. 6 Abs. 4 ESC zugestanden werden, bleibt fraglich. Androhung oder Vornahme von Kündigungen91 können genauso wenig als „kollektive Maßnahmen“ bezeichnet werden wie die Produktionsfortsetzung mit Arbeitswilligen92. Insofern geht es – wie auch beim kollektiv ausgeübten Zurückbehaltungsrecht der Arbeitnehmer93 – um individuelle Handlungen, die ihren Charakter nicht dadurch ändern, dass viele Arbeitnehmer von ihnen betroffen sind. Sproedt, der den Schutz der Aussperrung verneint, charakterisiert diesen Passus in Art. 6 Abs. 4 ESC – soweit man hierunter nur kollektive Kampfmaßnahmen versteht – als eine „reine Floskel“.94 Die Schlussfolgerung von Sproedt er89 Kitz, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1089 f. („bewußt offen gehalten“); Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 17 ff. („keine endgültige Stellungnahme“). Für einen Schutz der negativen Koalitionsfreiheit Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 278. 90 BAG, Urt. v. 7.6.1988, AP Nr. 106 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 4); a. A. Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393 (396 ff.); Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 119 ff., 133. Anders in der Tendenz nunmehr BAG, Urt. v. 10.12.2002, AP Nr. 162 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; vgl. hierzu Kothe/Doll, ZESAR 2003, 396 ff. 91 So die Vorschläge von Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 77. 92 Betelsmann, Aussperrung, S. 144, mit weiteren Beispielen. Nach Mitscherlich, Arbeitskampf, S. 67, wurden neben der Aussperrung andere kollektive Maßnahmen der Arbeitgeber bei der Ausarbeitung der ESC noch nicht einmal erwähnt. 93 Vgl. hierzu Kissel, Arbeitskampfrecht, § 61 Rn. 13 ff. 94 Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 77.

B. Europäische Sozialcharta

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scheint aber nicht schlüssig, wenn man berücksichtigt, dass sich nach seiner Darstellung die konservativen – aussperrungsfreundlichen – Kräfte bei der Entstehung durchgesetzt haben95, sodass es widersprüchlich ist, wenn sie sich trotzdem mit einer „reinen Floskel“ begnügt haben sollen. Eine Beschränkung des Schutzbereichs auf den gewerkschaftlichen Streik unter Ausschluss der arbeitgeberseitigen Aussperrung lässt sich nicht auf einen Umkehrschluss stützen, wie es vereinzelt in der Literatur versucht wird. Wenn es in der Anhangsbestimmung zu Art. 6 Abs. 4 ESC heißt, „daß jede Vertragspartei für sich die Ausübung des Streikrechts durch Gesetz regeln kann“, lässt sich hieraus nicht folgern, dass das Recht zur Aussperrung einschränkungslos zu gewährleisten wäre, würde man es zum Schutzbereich des Art. 6 Abs. 4 ESC hinzuzählen. Hinsichtlich der Einschränkungsmöglichkeiten kommt der zuvor genannten Anhangsbestimmung lediglich klarstellende Bedeutung zu, da die Aussperrung durch die „Generalklausel“ des Art. 31 ESC eingeschränkt werden kann. Das in der ESC nicht ausdrücklich genannte Aussperrungsrecht genießt folglich keinen stärkeren Schutz als das ausdrücklich erwähnte Streikrecht.96 Somit ist im Ergebnis davon auszugehen, dass auch das Aussperrungsrecht als kollektive Maßnahme der Arbeitgeberseite erfasst wird.97 Wenn Art. 6 Abs. 4 ESC Streik und Aussperrung schützt, so ist noch nichts über das Verhältnis dieser beiden Rechte zueinander gesagt. Muss dem Streik in jedem einzelnen Fall als Reaktionsmöglichkeit die Aussperrung gegenüber stehen? Dass Art. 6 Abs. 4 ESC das Recht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf kollektive Maßnahmen schützt, jedoch explizit den Streik hervorhebt, deutet 95 Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 61; kritisch hierzu Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 21 Fn. 36, 63 ff. 96 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 318. A. A. Bertelsmann, Aussperrung, S. 142; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 84. Vgl. im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 51 ff., 62 f. Hier widerspricht sich Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, wenn er die Anhangsbestimmung gegen die Aussperrung ins Felde führt, da sie nur Einschränkungsmöglichkeiten für den Streik vorsehe (S. 77), auf S. 85 aber die bloß ergänzende Funktion der Anhangsbestimmung betont. 97 In diesem Sinne Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 124; Frowein, Aussperrung, S. 16 f.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 957; Gitter, ZfA 1971, 127 (140 f.); Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20 Rn. 10; Kitz, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1094 f.; Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 60 ff., 94 f.; Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 924 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 316 ff.; Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 62; Zöllner, Aussperrung, S. 10; Committee of Independent Experts, Conclusions Bd. I, S. 38; kritisch Raiser, Aussperrung, S. 97; Wolter, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 913 ff.; a. A. Bertelsmann, Aussperrung, 141 f.; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, S. 83 f.; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 73 ff.; Wengler, Die Unanwendbarkeit der Sozialcharta im Staat, S. 5 ff.; siehe hiergegen Frowein, a. a. O., S. 11 f. Eine vergleichbare Problematik stellt sich auch im Hinblick auf Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta (vgl. z. B. Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20 Rn. 4).

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6. Kap.: Internationales Recht

auf einen materiellen Paritätsbegriff hin, der im Gegensatz zur formellen Kampfparität sehr unbestimmt und deshalb vielfältigen Ausgestaltungen durch die nationalen Rechtsordnungen zugänglich ist. Mayer-Maly spricht dementsprechend von der „unscharfe(n) Formulierung zur Kampfparität“ die auf Länder mit unterschiedlicher Auffassung passt.98 Insofern kann keine eindeutige Feststellung dahingehend getroffen werden, dass die für das deutsche Arbeitskampfrecht charakteristische Wechselbeziehung zwischen Streik und Aussperrung der Streikfreiheit des Art. 6 Abs. 4 ESC widersprechen würde, auch wenn den Rechtsordnungen anderer Länder dieses Verhältnis fremd ist.99 Deshalb halten sich die bei Art. 9 Abs. 3 GG angestellten Paritätsüberlegungen noch innerhalb des Auslegungsspielraums des Art. 6 Abs. 4 ESC, sodass letzterer nicht dafür in Anspruch genommen werden kann, ein über den deutschen Paritätsgrundsatz hinausgehendes Streikrecht zu begründen. Dies bedeutet andererseits, dass sich, solange die deutsche Rechtsprechung die Garantien des Art. 6 Abs. 4 ESC nicht einschränkt, die Frage einer Gesetzesgrundlage überhaupt nicht stellt.

C. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 (AEMR) enthält neben der allgemeinen Vereinigungsfreiheit einen besonderen Schutz der Koalitionsfreiheit. Inwieweit die AEMR der Vereinbarung sekuritätspolitischer Maßnahmen entgegensteht, wird dadurch bestimmt, welche Rechte den nichtorganisierten Arbeitnehmern von der AEMR eingeräumt werden. Anders als Art. 23 Abs. 4 AEMR formuliert Art. 20 Abs. 2 AEMR ausdrücklich die negative Vereinigungsfreiheit, weshalb unklar ist, ob letztere durch die gegenüber der allgemeinen Vereinigungsfreiheit speziellere Koalitionsfreiheit verdrängt wird oder daneben zur Anwendung kommt. Beyerlin spricht im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte von einem gewollten Dissens.100 Ein Streikrecht wird Art. 23 Abs. 4 AEMR nicht entnommen.101 Letztendlich können diese Punkte offen bleiben, da der AEMR keine innerstaatliche Verbindlichkeit zukommt; es handelt sich schlicht um eine Deklaration, d.h. um eine politische 98

Mayer-Maly, RdA 1968, 432 (434). Gitter, ZfA 1971, 127 (141); Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 929; Rüthers, Aussperrung, S. 18 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 172; Wolter, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 916; a. A. Wengler, Die Unanwendbarkeit der ESC, S. 7 ff.; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 76; ebenso Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 92 f., 94 f., der allerdings im Wesentlichen darauf abstellt, dass das deutsche Recht anders als die ESC (vgl. S. 90 ff.) die lösende Aussperrung (ausnahmsweise) zulässt. 100 Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1160. 101 Gitter, ZfA 1971, 127 (132); bei der Abstimmung im 3. Komitee wurde eine ausdrückliche Streikgarantie verworfen; vgl. hierzu Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1160. 99

D. ILO-Übereinkommen

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Empfehlung, die nicht zu einer Verpflichtung zur Anpassung der nationalen Rechtsordnungen führt.102

D. ILO-Übereinkommen Die älteste Sonderorganisation der UNO, die International Labor Organisation (ILO), hat sich in mehreren Übereinkommen mit der Koalitionsfreiheit befasst. Für die Frage, ob das nationale Recht den Abschluss von Differenzierungsklauseln und gegebenenfalls ihre Erstreikbarkeit zulassen muss, stehen die ILO-Übereinkommen Nr. 87103 und Nr. 98104, die am 4.7.1950 bzw. am 18.7.1951 geschlossen wurden, im Mittelpunkt der Betrachtung. Die besondere Bedeutung dieser Übereinkommen wird dadurch unterstrichen, dass sie auch für die Mitgliedsländer der ILO verpflichtende Wirkung entfalten, die die Übereinkommen nicht ratifiziert haben. Insoweit gehört der Schutz der Koalitionsfreiheit zum Kernbestand der ILO und steht auf einer Stufe mit dem Kampf gegen Kinderarbeit und Zwangsarbeit, wie die 1998 verabschiedete „Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work“ zum Ausdruck bringt.105 Inwieweit die ILO-Übereinkommen innerstaatlich unmittelbar anwendbares Recht darstellen und dem Einzelnen subjektive Rechte gewährleisten, soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Ausreichend ist es, dass sie nach dem Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung auf die nationalen Rechtsnormen einwirken, ihr Geltungsgehalt also bei der Auslegung und Lückenschließung Berücksichtigung finden muss.106

102 Vgl. Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 125; Gitter, ZfA 1971, 127 (132). 103 BGBl. 1956 II, S. 2072 ff. 104 BGBl. 1955 II, S. 1122 ff. 105 Vgl. hierzu Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 104 ff. 106 Vgl. Däubler, in: FS Arbeitsgerichtsverband, S. 623; Frowein, Aussperrung, S. 5; MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 242 Rn. 89; Schwerdtfeger, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. I, S. 158. In seinem Urt. v. 12.9.1984, AP Nr. 81 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 11 R f.), hat das BAG allgemein festgestellt, dass der lückenausfüllende Richter völkerrechtliche Verpflichtungen nicht verletzen darf. Nach BAG, Urt. v. 10.6.1980, AP Nr. 64 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 7 R), ist das ILOÜbereinkommen Nr. 87, geltendes Recht; ebenso BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981, BVerfGE 58, 233 (255); ebenso Egbert Schneider, Die Vereinbarkeit des deutschen Arbeitskampfrechts, S. 180, 195, 213, der sich allerdings nicht festlegt, ob das ILOÜbereinkommen Nr. 87 ein subjektives Recht gewährt oder lediglich objektivrechtlich wirkt; für eine bloße Staatenverpflichtung Däubler, in: ders., Arbeitskampfrecht, Rn. 104; Gitter, ZfA 1971, 127 (133); Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 28 Fn. 2.

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6. Kap.: Internationales Recht

I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit den Übereinkommen der ILO Nach Art. 1 Nr. 1 ILO-Übereinkommen Nr. 98, das die durch das ILO-Übereinkommen Nr. 87 aufgestellten Schutzverpflichtungen konkretisiert, hat der Staat die Vereinigungsfreiheit zu schützen. Was unter „Vereinigungsfreiheit“ zu verstehen ist, wird dadurch deutlich, dass in Art. 1 Nr. 2 beispielhaft solche Situationen aufgezählt werden, die die positive Koalitionsfreiheit beeinträchtigen. So ist der Staat gehalten, Schutz davor zu gewähren, dass ein Arbeitgeber die Beschäftigung von einem Gewerkschaftsaustritt abhängig macht. Fallgestaltungen, bei denen die Beschäftigung von einem Gewerkschaftseintritt abhängig gemacht wird, lassen sich hierunter nicht subsumieren. In diesem Sinne schützt das ILO-Übereinkommen Nr. 87 zwar die „Vereinigungsfreiheit“, spricht aber in Art. 2 von der Bildung und dem Beitritt zu Organisationen. Anhaltspunkte für eine negative Koalitionsfreiheit finden sich nicht.107 Insbesondere stellt sich hier wie auch bei anderen internationalen Übereinkommen das Problem, dass im Zeitpunkt der Annahme des Übereinkommen durch die Allgemeine Konferenz der ILO am 1.7.1949 der closed shop in einigen Ländern verbreitet war und auch beibehalten werden sollte; ein etwaiger Schutz der negativen Koalitionsfreiheit hätte deshalb in diesen Ländern weit reichende Folgen gehabt. Aus der Entstehungsgeschichte wird deutlich, dass „union security clauses“ von den Übereinkommen unbeeinflusst bleiben sollten und der Ländergesetzgebung überlassen wurden, was natürlich auch zur Folge hat, dass Differenzierungsklauseln nicht geschützt, aber auch nicht verboten werden. In der abschließenden Diskussion zum Übereinkommen Nr. 98 wurde festgestellt: „(T)he Convention could in no way be interpreted as authorising or prohibiting union security arrangements, such questions being matters for regulation in accordance with national practice.“108 Ebenso hat zu einem späteren Zeitpunkt der Sachverständigenausschuss (Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations) ausgeführt, dass die Zulässigkeit des closed shop, des union shop und des agency shop von den ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98

107 Gegen den Schutz der negativen Koalitionsfreiheit Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 281; v. Potobsky, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1132 ff.; 1150, 1401; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 26 f. (insb. Fn. 1). Die Aussage von MünchArbR-Löwisch/Rieble, Bd. III, § 244 Rn. 87, das ILOÜbereinkommen Nr. 98 schütze die negative Koalitionsfreiheit, wird nicht weiter begründet. Die Entstehungsgeschichte spricht jedenfalls eindeutig gegen diese Annahme (vgl. ILO, 32nd session, Record of Proceedings (1949), S. 465 ff.). 108 ILO, 32nd session, Record of Proceedings (1949), S. 468; ebenso im Hinblick auf das ILO-Übereinkommen Nr. 87 International Labour Conference, 43rd session (1959), Report III Part 4, Rn. 36. Siehe auch v. Potobsky, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1135; Creighton, in: Ewing/Gearty/Hepple, Human Rights, S. 5 f.

D. ILO-Übereinkommen

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nicht berührt wird, soweit diese auf Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien erfolgen und nicht vom Staat festgelegt werden.109 Soweit entgegen Wortlaut und Entstehungsgeschichte auch das Recht, einer Koalition fern zu bleiben, als gewährleistet angesehen und zudem auf „union security clauses“ bezogen wird, ist davon auszugehen, dass das ILO-Übereinkommen Nr. 87 nicht über die Grundsätze hinausgeht, die durch Art. 9 Abs. 3 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG abgesichert sind.110 Fehlt es hingegen an einem Schutz der negativen Koalitionsfreiheit und wären Differenzierungsklauseln deshalb in einem weiteren Umfange zulässig als nach nationalem Recht, muss die nach nationalem Recht erfolgte Einschränkung zum Schutz der Außenseiter als wirksame Begrenzung der ILO-Übereinkommen angesehen werden. Insgesamt ist jedenfalls bei der Auslegung von ILO-Übereinkommen Zurückhaltung geboten. Schließlich sollen diese Übereinkommen in einer Vielzahl von Staaten unterschiedlichster Entwicklungsstufen hinsichtlich der Koalitionsfreiheit Anwendung finden. Insoweit ist Gamillscheg beizupflichten, wenn er anmahnt: „Der Versuchung, aus den Abkommen herauszulesen, was gerade dienlich erscheint, sollte man nicht erliegen.“111

II. Erstreikbarkeit Das ILO-Übereinkommen Nr. 87 enthält genauso wenig eine ausdrücklich formulierte Garantie von Arbeitskampfmaßnahmen wie das ILO-Übereinkommen Nr. 98. Wenn Art. 69 lit. i des Übereinkommens Nr. 102 den Anspruch auf soziale Leistungen ausschließt, soweit die Arbeitslosigkeit unmittelbare Folge eines Arbeitskampfes ist, liegt hierin allein eine Anerkennung des nationalen Arbeitskampfrechts; eine Aussage hinsichtlich der Gewährleistung des Arbeitskampfes in anderen ILO-Übereinkommen kann dieser Bestimmung hingegen nicht entnommen werden. Gleichwohl geht die Kommission für die Vereinigungsfreiheit (Committee on Freedom of Association; CFA) davon aus, dass das Streikrecht immanenter Bestandteil des ILO-Übereinkommens Nr. 87 ist.112 Der Sachverständigenausschuss hat sich der Sichtweise des CFA angeschlossen.113 Auch von der überwiegenden Literatur wurde dieser Schritt mitgegan109 International Labour Conference, 81st session (1994), Report III Part 4 B (general survey), Rn. 100 ff. (S. 45 f.), Rn. 205 (S. 94). 110 BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981, BVerfGE 58, 233 (253); ebenso Konzen, in: FS 25 Jahre BAG, S. 291 Fn. 139. 111 Gamillscheg, ArbuR 1996, 41 (46 f.); ähnlich ders., Kollektives Arbeitsrecht I, S. 52. 112 Vgl. EuGRZ 1987, 47 f.; zustimmend der UN-Ausschuss für Menschenrechte, Entsch. v. 18.7.1986, ebd., S. 50; vgl. hierzu Ben-Israel, The Case of Freedom to Strike, S. 64 ff.; von Potobersky, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1145 ff., 1150 f., 1437 f. Siehe auch die Nachweise in Fn. 114.

352

6. Kap.: Internationales Recht

gen.114 Die vom CFA vorgenommene Auslegung ist nichts Ungewöhnliches, wenn man bedenkt, dass Art. 9 Abs. 3 GG bis zu seiner Änderung im Jahre 1968 lediglich die Bildung von Vereinigungen erwähnt hat; von der überwiegenden Meinung wurde der Schutzbereich trotz des klaren Wortlauts auf Arbeitskampfmaßnahmen ausgedehnt. Jedenfalls definiert Art. 10 des ILO-Übereinkommens Nr. 87, dass die Organisationen, die die Arbeitnehmer nach Art. 2 berechtigt sind zu bilden, der Förderung und dem Schutz ihrer Interessen dienen. Die Organisationen haben nach Art. 3 des Übereinkommens das Recht, ihre Tätigkeit zu regeln. Aus dem Interessenschutz wurde bereits bei Art. 11 EMRK die Streikfreiheit hergeleitet, weshalb eine ähnliche Interpretation des ILO-Übereinkommens Nr. 87 nahe liegend ist. Die Entstehungsgeschichte des Übereinkommens spricht jedenfalls nicht gegen ein solches Verständnis. Zwar wurde von der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation auf die Aufnahme eines Streikrechts verzichtet. Hierin ist jedoch kein Negativvotum zu sehen. Das Internationale Arbeitsamt hat die Aufführung des Streikrechts für verzichtbar gehalten, da seiner Ansicht nach der umfassende Schutz der Koalitionsfreiheit das Streikrecht bereits beinhaltet. Demgegenüber kam von Arbeitnehmerseite Widerstand gegen eine explizite Nennung, da diese fürchtete, dass sich die Arbeitgeberseite nur bei gleichzeitiger Festschreibung besonderer Restriktionen mit dem Streikrecht abfinden würde.115 Ob durch das ILO-Übereinkommen Nr. 87 darüber hinaus aus Paritätsgründen auch die Aussperrung geschützt ist, ist umstritten. Hierfür würde sprechen, dass nach Art. 2 i. V. m. Art. 10 auch die Arbeitgeber das Recht haben, zum Schutz ihrer Interessen Organisationen zu bilden. Die Empfehlung Nr. 92 vom 6.6.1951 der ILO erwähnt zumindest neben dem Streik die Aussperrung, stellt aber gleichzeitig fest, dass keine Bestimmung der Empfehlung dahingehend interpretiert werden darf, dass das Streikrecht beschränkt wird.116 Da die Allge113 International Labour Conference, 81st session (1994), Report III Part 4 B (general survey), Rn. 149, 151 (S. 66). Siehe zur Haltung des Komitees zu einzelnen Streikformen Lörcher, ArbuR 1991, 97 (100); Vgl. Däubler, Arbeitskampfrecht, Rn. 104a; Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 199 ff. In jüngerer Zeit versucht die Arbeitgeberseite auf eine Änderung der Ansichten der Überwachungsgremien hinzuwirken und dadurch das Streikrecht zu begrenzen sowie das Recht auf Aussperrung zu stärken (vgl. Novitz, a. a. O., S. 120 ff., 200 ff., 336). 114 Däubler, in: ders., Arbeitskampfrecht, Rn. 104a; Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 126; Frowein, Aussperrung, S. 6 ff.; Egbert Schneider, Die Vereinbarkeit des deutschen Arbeitskampfrechts, S. 35 ff., der allerdings eine authentische Auslegung durch den Sachverständigenausschuss und das CFA verneint (S. 65 ff.). Gegen eine Streikgarantie Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte, S. 24, 27 ff.; Gitter, ZfA 1971, 127 (133). 115 Ben-Israel, The Case of Freedom to Strike, S. 36 ff. (insb. S. 45 f.). 116 Empfehlung betreffend das freiwilligen Einigungs- und Schiedsverfahren, abgedruckt in: IAO (Hrsg.), Übereinkommen und Empfehlungen 1919–1966, Bd. I (1919– 1966), Genf 1963, S. 911 f.; vgl. hierzu Frowein, Aussperrung, S. 8 f.

D. ILO-Übereinkommen

353

meine Konferenz wohl lediglich die Praxis des Arbeitskampfes, deren Bestandteil in der Regel die Aussperrung ist, anerkannt, ein (in ILO-Übereinkommen enthaltenes) Recht zur Aussperrung aber nicht vorausgesetzt hat, lässt sich aus der Empfehlung für die vorliegende Problematik nichts ableiten. Ein Konsens der Vertragsstaaten hinsichtlich der Aussperrung lässt sich jedenfalls nicht feststellen.117 Aus diesem Grund kann nicht mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden, dass das ILO-Übereinkommen Nr. 87 ein über die paritätische Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehendes Streikrecht erfordert. Soweit man Art. 4 ILO-Übereinkommen Nr. 98 ebenfalls einen Schutz des Arbeitskampfes entnimmt118, gilt diesbezüglich nichts anderes. Lehnt man den Schutz der Aussperrung ab, hat dies allerdings nicht automatisch zur Folge, dass der Streik uneingeschränkt geschützt wird. Da in den ILOÜbereinkommen der Arbeitskampf nicht explizit aufgeführt wird, kann er nicht als eigenständiges Recht dem Erreichen frei definierter Ziele der Koalitionen dienen. Vielmehr muss der Streik als Hilfsinstrument zur Durchsetzung der in den ILO-Übereinkommen gewährleisteten Arbeitnehmerrechte fungieren.119 Der Grenzen der Streikfreiheit können also nur im Gesamtzusammenhang der ILOÜbereinkommen richtig erfasst werden. Entscheidend ist deshalb, ob die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen unter den Schutz der ILO-Übereinkommen fällt. Wie sich oben gezeigt hat, werden „union security agreements“ wie beispielsweise Differenzierungsklauseln nicht mehr vom ILOÜbereinkommen Nr. 87 umfasst. Werden entsprechende sekuritätspolitische Maßnahmen vom Schutz ausgeklammert, schlägt sich dies auch auf der Ebene des Arbeitskampfes nieder. Ein auf die Durchsetzung von Differenzierungsklauseln gerichteter Streik kann folglich nicht von dem Übereinkommen geschützt werden.

117 Vgl. Frowein, Aussperrung, S. 9 f., der sich für einen Schutz der Aussperrung ausspricht. Zustimmend Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 64. Ebenso im Ergebnis Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 126; unklar Egbert Schneider, Die Vereinbarkeit des deutschen Arbeitskampfrechts, S. 110, der die Aussperrung wohl einzelfallabhängig nur dann als umfasst ansieht, wenn anders die Interessen der Arbeitgeberseite nicht zu wahren sind. Vgl. zu den Bestrebungen der Arbeitgeberseite, eine Gleichstellung von Streik und Aussperrung in der Praxis der ILO zu erreichen Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 201, 203. 118 Egbert Schneider, Die Vereinbarkeit des deutschen Arbeitskampfrechts, S. 123. 119 Nicht entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, ob man die Ansicht des Committee of Experts der ILO teilt und entsprechend dem „romanischen Konfliktmodell“ den Arbeitskampf als ein von der Tarifautonomie unabhängiges Hilfsmittel zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen ansieht (vgl. Birk/Konzen/Löwisch/Raiser/ Seiter, Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte, S. 26 f.; Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 285 ff., 332 f.).

354

6. Kap.: Internationales Recht

E. IPBPR/IPWSKR Anders als beispielsweise die zuvor genannten ILO-Übereinkommen und die ESC räumt der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPBPR)120 nach wohl überwiegender Ansicht den Bürgern subjektive Rechte ein.121 Ob hingegen der Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPWSKR)122 unmittelbar zugunsten des Einzelnen anwendbare Rechte enthält, ist umstritten. Daraus, dass Art. 8 IPWSKR die Vertragsstaaten verpflichtet, die Koalitionsfreiheit zu „gewährleisten“ („ensure“), wohingegen es in den anderen Artikeln des Paktes nur „anerkennen“ („recognize“) heißt, wird abgeleitet, dass dem Einzelnen subjektive Rechte zustehen. Zudem hängt die Gewährleistung von Gewerkschaftsrechten – anders als bei sonstigen sozialen Rechten – nicht von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Staates ab.123 Insofern sprechen die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Länder, die dem IPWSKR beigetreten sind, nicht gegen die Statuierung entsprechender subjektiver Rechte. Die Problematik der subjektiven Rechte braucht an dieser Stelle jedoch nicht vertieft zu werden, da der Staat mit der Implementierung der in den beiden Pakten genannten Rechte beauftragt ist. Beide Pakte sind folglich bei der Auslegung des nationalen Rechts durch die Gerichte zu beachten.

I. Vereinbarkeit von Differenzierungsklauseln mit den UN-Pakten Art. 8 IPWSKR gewährleistet die Koalitionsfreiheit, wobei nach seinem Wortlaut allein positives Verhalten („bilden“, „beitreten“) gemeint ist. Ob auch das Recht, einer Gewerkschaft fern zu bleiben, gleichermaßen geschützt ist, wird in der Literatur nur in Ausnahmefällen problematisiert. Für eine Gewähr120

BGBl. II 1973, S. 1533 ff. BAG, Urt. v. 15.5.1997, AP Nr. 12 zu § 29 BAT (Bl. 3) („in der Bundesrepublik unmittelbar geltendes Recht“); Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1170 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 20 Rn. 54; Schachter, in: Henkin, The International Bill of Rights, S. 312; so wohl auch Nowak, CCPR-Kommentar, Einführung Rn. 14, Art. 2 Rn. 50; a. A. Stern, in: ders., Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1547 f. 122 BGBl. II 1973, S. 1569 ff. 123 Für eine unmittelbare Geltung des Art. 8 IPWSKR: Ben-Israel, The Case of Freedom to Strike, S. 86, 92; Craven, The International Covenant, S. 251, 261 f. (unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte); Künzli/Kälin, in: Kälin/Malinverni/Nowak, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, S. 122 („Art. 8 [ist] justiziabel und damit self-executing“); Scherf, Umsetzung des IPWSKR, S. 42 ff., 51 ff., 152 f.; Zuleeg, RdA 1974, 321 (324). A. A. Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1162 f.; ebenso Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 48; Stern, in: ders., Staatsrecht, Bd. III/2, S. 1546 f.; vgl. auch die Denkschrift der Bundesregierung vom 19.12.1966, BT-Drucks. 7/658, S. 18. 121

E. IPBPR/IPWSKR

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leistung der negativen Koalitionsfreiheit bestehen im Wortlaut keine Anhaltspunkte. Zwar möchte Scherf aus der Koalitionswahlfreiheit („trade union of his choice“) die Freiheit ableiten, keiner Koalition anzugehören.124 Da aber nicht auf die „Freiwilligkeit“ der Koalitionsbildung abgestellt wird – anders beispielsweise Art. 11 EMRK: „frei (. . .) zusammenzuschließen“ –, kann in der englischen Formulierung kein „deutliche(r) Hinweis“ gegen den Organisationszwang gesehen werden. Auch die Entstehungsgeschichte weist nicht auf die Einbeziehung der negativen Koalitionsfreiheit hin.125 Dementsprechend schließt Art. 8 IPWSKR einen Organisationszwang nicht aus. Bei Art. 22 Abs. 1 IPBPR fehlt es ebenfalls an einer ausdrücklichen Erwähnung negativer Freiheitsrechte. Ob wegen des an Art. 11 Abs. 1 EMRK angelehnten Wortlauts die Rechtsprechung des EGMR im Fall Young, James and Webster auf Art. 22 Abs. 1 IPBPR übertragen und die negative Koalitionsfreiheit als gewährleistet angesehen wird, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Bei der Auslegung des IPBPR ist die EMRK zu berücksichtigen.126 Wie auch bei Art. 11 Abs. 1 EMRK würde gegen ein solches Verständnis von Art. 22 Abs. 1 IPBPR die Entstehungsgeschichte sprechen: Der Zusatz „No one may be compelled to join an association“, wie er sich in Art. 20 Abs. 2 AEMR findet, wurde von der Commission on Human Rights ausdrücklich verworfen, da er den Interessen der Gewerkschaften zuwider laufen könnte.127 Zumindest erhält die negative Koalitionsfreiheit mit der Formulierung „freedom of association“ eine (vage) Stütze im Wortlaut, wenn man Freiheit als das Recht, etwas zu tun oder zu lassen auffasst. Wenn aber EMRK und IPBPR in diesem Punkt „harmonisiert“ werden, müssen auch die Erwägungen des EGMR Geltung finden, nach denen Art. 11 EMRK dem Organisationszwang nicht grundsätzlich entgegensteht. Erst dieses Verständnis von Art. 22 Abs. 1 IPBPR trägt der Tatsache Rechnung, dass die UN-Pakte – wie auch die EMRK – die vom closed shop dominierten Gewerkschaftssysteme in England, Schweden, Australien etc. nicht grundlegend verändern sollten. Wenn aber die Vereinbarung eines closed shops mit den UN-Pakten zu vereinbaren sein soll – der EGMR hat bisher allein in dem nachträglichen closed shop einen Verstoß gegen Art. 11 EMRK gese124

Scherf, Umsetzung des IPWSKR, S. 146. Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1164, 1171 f.; Craven, The International Covenant, S. 267 ff.; Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 49; offen gelassen von Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 287. 126 Nowak, CCPR-Kommentar, Einführung Rn. 18. 127 Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 22 Rn. 13; vgl. zur Diskussion der Comission on Human Rights die Darstellung bei Bossuyt, Travaux Préparatoires, S. 425; einige Länder im Third Committee haben hingegen in der endgültigen Fassung einen Schutz der negativen Koalitionsfreiheit gesehen, ohne dass es hierüber zur Abstimmung gekommen ist (vgl. S. 433); für einen Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit Achermann/Caroni/Kälin, in: Kälin/Malinverni/Nowak, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, S. 219; Partsch, in: Henkin, The International Bill of Rights, S. 232, 235; a. A. Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 52 f. 125

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6. Kap.: Internationales Recht

hen128 –, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die UN-Pakte der Vereinbarung von – für den Außenseiter weniger nachteilig wirkenden – Differenzierungsklauseln entgegenstehen.

II. Erstreikbarkeit 1. Gewährleistung des Streikrechts Ihre Bedeutung könnten der IPWSKR und der IPBPR im Hinblick auf die Arbeitskampffreiheit, speziell auf die Streikfreiheit entfalten. In Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR wird den Gewerkschaften bzw. den einzelnen Arbeitnehmern129 das Streikrecht zugesprochen.130 Das Besondere des IPWSKR ist es, dass nicht nur der Streik explizit erwähnt wird, sondern dass das Recht auf Aussperrung dem IPWSKR nicht entnommen werden kann. Anders als Art. 6 Abs. 4 ESC kommt der IPWSKR ohne eine der Generalklausel „kollektive Maßnahmen“ vergleichbare Formulierung aus. Überhaupt lässt der IPWSKR die Rechte der Arbeitgeber außen vor.131 Dementsprechend wird der Streik als Arbeitskampfmittel der Arbeitnehmer privilegiert. Ebenso verhält es sich mit dem IPBPR. Der IPWSKR und der IPBPR sind im Zusammenhang zu sehen, da – wie in der jeweiligen Präambel betont wird – erst im Zusammenspiel der in beiden Pakten gewährten Rechte „das Ideal vom freien Menschen, der frei von Furcht und Not lebt, (. . .) verwirklicht werden kann“. Die Präambel ist wiederum für die Auslegung der Pakte bei Zweifelsfällen heranzuziehen (vgl. Art. 31 Nr. 2 WVK).132 Auch wenn Art. 22 Abs. 1 IPBPR auf eine ausdrückliche Formulierung des Streikrechts verzichtet, lässt sich ihm das Recht der Arbeitnehmer bzw. der Gewerkschaften auf Arbeitskampfmaßnahmen entnehmen.133 Hierfür 128

Siehe oben S. 321 ff. Vgl. zur Frage, ob die Streikfreiheit ein individuelles oder ein kollektives Recht ist Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1165. 130 Siehe zur Entstehungsgeschichte des Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR Ben-Israel, The Case of Freedom to Strike, S. 72 ff. 131 Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1163; Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 286; Zuleeg, RdA 1974, 321 (329). Vgl. hierzu die Denkschrift der Bundesregierung vom 19.12.1966, BT-Drucks. 7/658, S. 22; zu den Diskussionen in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen um die Einbeziehung der Arbeitgeber Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 42 ff. Offen gelassen von Scherf, Die Umsetzung des IPWSKR, S. 144. Die Entstehungsgeschichte des Art. 8 IPWSKR lässt keinen eindeutigen Schluss zu (vgl. Craven, The International Covenant, S. 252, 262). 132 Denkschrift der Bundesregierung vom 19.12.1966, BT-Drucks. 7/658, S. 18; Nowak, CCPR-Kommentar, Präambel Rn. 1. 133 Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 22 Rn. 17, 37; Entsch. d. Minderheitsmeinung v. 18.7.1986 des UN-AMR, EuGRZ 1987, 47 (51 f.); in der Tendenz wohl auch Novitz, International and European Protection of the Right to Strike, S. 208 f., 332; a. A. Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1172; Däubler, in: ders., 129

E. IPBPR/IPWSKR

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spricht, dass nach dem Wortlaut jeder Arbeitnehmer das Recht hat, „zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden“. Das Streikrecht ist das elementare Recht, um eine effektive Interessenvertretung der Mitglieder zu betreiben. Dies ist bei dem ähnlich formulierten Art. 11 Abs. 1 EMRK die überwiegende Ansicht. Aber auch aus Art. 10 des ILO-Übereinkommens Nr. 87 („Schutz der Interessen“) wird das Streikrecht hergeleitet, sodass sich die Frage stellt, wieso Art. 22 IPBPR anders auszulegen sein sollte.134 Das Streikrecht ist jedenfalls wie die Koalitionsfreiheit zugleich eine soziale und eine politische Freiheit, sodass sich sein Schutz in die Systematik des IPBPR einfügt. Art. 22 IPBPR behält – wie Art. 11 EMRK – die Koalitionsfreiheit den Arbeitnehmern vor und eröffnet den Arbeitgebern lediglich die allgemeine Vereinigungsfreiheit. In der deutschen Übersetzung heißt es unmissverständlich: „Jedermann hat das Recht, sich frei mit anderen zusammenzuschließen sowie zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten.“ Zwar kann das französische „syndicats“ auch Arbeitgeberorganisationen umfassen, das englische „trade unions“ meint hingegen eindeutig nur Gewerkschaften.135 Da das Recht zur Aussperrung aus der Koalitionsfreiheit resultiert und nicht aus der allgemeinen Vereinigungsfreiheit, kann sich die Arbeitgeberseite zur Durchsetzung entsprechender Kampfmaßnahmen nicht auf Art. 22 IPBPR berufen. Dadurch, dass das Recht der Arbeitgeber zur Aussperrung weder in Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR noch in Art. 22 IPBPR enthalten ist, kann die Streikfreiheit auch nicht unter dem Paritätsvorbehalt nach deutscher Lesart stehen. Insoweit unterscheidet sich insbesondere der IPWSKR mit seiner ausdrücklichen Streikgewährleistung von anderen internationalen Vereinbarungen, aber auch von Art. 9 Abs. 3 GG, denen im Allgemeinen eine Gleichberechtigung von Aussperrung und Streik entnommen wird. Vielmehr bringt der IPWSKR durch seine einseitige Parteinahme zum Ausdruck, dass die Arbeitnehmer des Streiks bedürfen, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen effektiv fördern und schützen zu können, die Arbeitgeberseite aber nicht auf die Aussperrung als adäquate Reaktionsmöglichkeit angewiesen ist.136

Arbeitskampfrecht, Rn. 104e; Partsch, in: Henkin, The International Bill of Rights, S. 236; Entsch. d. Mehrheitsmeinung des UN-AMR v. 18.7.1986, Mitteilung Nr. 118/ 1982, EuGRZ 1987, 47 (50 f. Rn. 6.2 ff.); offen gelassen von Achermann/Caroni/ Kälin, in: Kälin/Malinverni/Nowak, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, S. 219 f. 134 Hierauf weist das Minderheitenvotum des UN-AMR in der Entsch. v. 18.7.1986 hin (EuGRZ 1987, 47 [52 Rn. 7]). 135 Vgl. die Darstellung bei Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 11 Rn. 11 ff.; a. A. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 286 Fn. 874. 136 Vgl. Ben-Israel, Strikes, lockouts and other kinds of hostile action, Rn. 64.

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6. Kap.: Internationales Recht

Eine solche „Bevorzugung“ des Streiks gegenüber der Aussperrung steht nicht im Widerspruch zu anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen, sodass eine „Kollision“ nicht vorliegt. Durch den IPWSKR wird weder die Aussperrung ausgeschlossen, noch festgelegt, in welchem Rangverhältnis Streikrecht und Aussperrungsrecht zueinander stehen müssen; Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR zählt die Arbeitskampfmittel nicht abschließend auf und nimmt dementsprechend, auch wenn er ausschließlich die Streikfreiheit gewährt, keine Stellung zur Zulässigkeit der Aussperrung.137 Selbst wenn angenommen wird, dass das ILO-Übereinkommen Nr. 87 neben der Streikfreiheit auch die Aussperrungsfreiheit gewährleistet, wird letztere bei dem Kampf um ausschließlich differenzierende Tarifverträge nicht aufgrund der einseitigen Gewährung des Streikrechts durch den IPWSKR eingeschränkt. Denn die Aussperrung der Nichtorganisierten scheitert in der vorliegend zu diskutierenden Fallkonstellation an deren negativer Koalitionsfreiheit, nicht an der „Privilegierung“ der Gewerkschaften durch den IPWSKR. Das Recht der Arbeitgeber, die der kämpfenden Gewerkschaft angehörenden Arbeitnehmer auszusperren, wird hingegen weder durch deutsches noch durch internationales Recht beschränkt. Dementsprechend greift Art. 8 Abs. 3 IPWSKR nicht ein, der festlegt, dass „(keine) Bestimmung dieses Artikels die Vertragsstaaten des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation von 1948 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts (ermächtigt), gesetzgeberische Maßnahmen zu treffen oder Gesetze so anzuwenden, dass die Garantien des oben genannten Übereinkommens beeinträchtigt werden.“ 2. Einschränkungen Ob Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR bzw. Art. 22 Abs. 1 IPBPR dem deutschen Arbeitskampfrecht entgegenstehen, nachdem die Arbeitskampfmittel Streik und Aussperrung in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen, ist nicht einfach zu beurteilen. Art. 22 IPBPR darf nur den „gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden“ („prescribed by law“) und weist damit einen normalen Gesetzesvorbehalt auf. Probleme wirft hingegen Art. 8 Abs. 1 lit. d. IPWSKR auf. Nach der (amtlichen) deutschen Übersetzung steht die Streikfreiheit unter dem Vorbehalt der innerstaatlichen Rechtsordnung. Scholz/Konzen schlussfolgern hieraus: „Erkennt dies (Anm.: das nationale Arbeitsrecht) ggf. auch das Aussperrungsrecht an oder anerkennt dies einen spezifischen Sinn- und Funktionszusammenhang zwischen Streikrecht einerseits und Aussperrungsrecht andererseits, so gilt das Streikrecht auch nach dieser völkerrechtlichen Vereinbarung nur nach Maßgabe jener national-rechtlichen Rege137 Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 65; Dolzer, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1267.

E. IPBPR/IPWSKR

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lung.“138 So verstanden, wäre Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR nur ein bescheidener Regelungsgehalt zu entnehmen, solange das Streikrecht in irgendeiner Form anerkannt wird.139 Insofern würde eine Vergleichbarkeit mit Art. 28 der Charta der Grundrechte der EU bestehen, der in seiner deutschen Fassung das Streikrecht ausdrücklich nur im Rahmen der nationalen Gepflogenheiten gewährleistet. Jeder Richterspruch könnte den Streik besonderen Anforderungen unterwerfen und damit Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR einschränken. Entscheidend ist deshalb, ob Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR die Streikfreiheit tatsächlich nur in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung gewährleistet – so der Wortlaut der deutschen Fassung – oder ob zur Eingriffsrechtfertigung ein (förmliches oder materielles) Gesetz erforderlich ist. Nur im ersteren Fall wäre es zulässig, dass das ausschließlich auf Richterrecht beruhende deutsche Arbeitskampfrecht die Streikfreiheit unter Paritätsgesichtspunkten einschränkt, also unter Gesichtspunkten, die nicht dem Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR zu entnehmen sind und die deshalb nicht bereits dessen Schutzbereich begrenzen (können). Nach Art. 31 IPWSKR sind allein der chinesische, der englische, der französische, der russische und der spanische Wortlaut maßgeblich. Der vereinbarte Vertragsinhalt ergibt sich erst aus einer Gesamtschau aller als verbindlich anzusehenden Textfassungen. Dieser in Art. 33 Abs. 4 WVK niedergelegte Grundsatz stellt einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, der auf den IPWSKR anzuwenden ist, auch wenn der Pakt zeitlich bereits vor der Vertragsrechtskonvention geschlossen wurde. Die Gesamtschau der Sprachen gilt selbst dann, wenn der Vertrag nicht in allen verbindlichen Sprachen im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde.140 Dadurch, dass der Gesetzgeber im Bundesgesetzblatt den Wortlaut des IPWSKR in Englisch und Französisch angegeben, die deutsche Fassung aber mit „Übersetzung“ überschrieben hat, wird deutlich, dass dem fremdsprachlichen Wortlaut auch bei der innerstaatlichen Rechtsanwendung der Vorrang einzuräumen ist.141 Die deutsche Fassung ist folglich nicht verbindlich. 138 Scholz/Konzen, Aussperrung, S. 65; ebenso Denkschrift der Bundesregierung vom 19.12.1966, BT-Drucks. 7/658, S. 22. 139 In diesem Sinne Däubler, in: ders., Arbeitskampfrecht, Rn. 104d; Echterhölter, BABl. 1973, 496 (498); im Ergebnis wohl auch Birk, in: FS für Ben-Israel, S. 98 f.; Scherf, Umsetzung des IPWSKR, S. 150; ähnlich im Ergebnis Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 100, 101 f., der allerdings auf einen – seiner Ansicht nach völlig unsubstanziierten – Gesetzesvorbehalt abstellt. Nach Ben-Israel, The Case of Freedom of Strike, S. 88, müssen Einschränkungen zusätzlich die Voraussetzungen von Art. 4 IPWSKR erfüllen; siehe hiergegen Birk, a. a. O., S. 98. 140 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, 231 f.; Zuleeg, RdA 1974, 321 (322), möchte hingegen aus praktischen Erwägungen die Wortlautauslegung auf die gängigen Sprachen beschränken. 141 Hilf, Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 189 ff., 234; siehe auch dort allgemein zur Bedeutung der deutschen Fassung für die innerstaatliche Rechtsanwendung. Für die (alleinige) Maßgeblichkeit der deutschen Fassung Ramm, ArbuR 1967, 97

360

6. Kap.: Internationales Recht

Die englische Fassung spricht von „conformity with the laws of the particular country“. „Law“ kann – wie sich bereits oben im Hinblick auf Art. 11 Abs. 2 EMRK gezeigt hat142 – geschriebenes Recht, aber auch die gesamte Rechtsordnung meinen. So lautet die amtliche Übersetzung der Formulierung „restrictions (. . .) in conformity with the law“ in Art. 21 IPBPR „gesetzlich vorgesehene(n) Einschränkungen“. Bei Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR gilt allerdings die Besonderheit, dass „law“ im Plural gebraucht wird, was eher auf „Gesetze“ als auf „Rechtsordnung“ hindeutet. In der Übersetzung der Zeitschrift Internationales Recht und Diplomatie und des Jahrbuchs für Internationales Recht lautet der Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR: „in Übereinstimmung mit den Gesetzen des betreffenden Landes“143 und hält sich damit ebenfalls innerhalb der Grenzen zulässiger Wortlautauslegung. In letzterem Sinne gebraucht Beyerlin im Zusammenhang mit Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR unter Bezugnahme auf die englische Fassung den Begriff „speziellen Gesetzesvorbehalt“, der das Streikrecht in seiner Schutzwirkung stark relativiert habe144. In Richtung „Gesetz“ weisen auch das französische „loi“ sowie das russische „2"8@>“, wobei eine unzweifelhafte Feststellung nicht zu treffen ist. Die Wortlautinterpretation vermag deshalb zu keinem eindeutigen Ergebnis zu führen.145 Ob die systematischen Erwägungen zu einer klaren Aussage verhelfen, muss bezweifelt werden. Zwar ist anzunehmen, dass der Begriff „law(s)“ überall dort, wo er im IPWSKR verwendet wird, dieselbe Bedeutung hat, soweit nicht eine andere Absicht der Vertragsparteien deutlich wird. Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR weist jedoch mit der Formulierung „in conformity with the laws“ eine Besonderheit gegenüber den sonst verwendeten Formulierungen auf (z. B. „prescribed by law“, „determined by law“), die einer einheitlichen Behandlung entgegenstehen könnte. Nach Darstellung von Nowak zu Art. 21 IPBPR müssen Eingriffe – um „in conformity with the law“ zu sein – „nicht notwendigerweise in einem Gesetz im formellen Sinne genau determiniert sein, sondern können auch aufgrund genereller gesetzlicher Ermächtigungen selbständig von Verwaltungsbehörden vorgenommen werden.“146 Da auch Nowak auf eine gesetzliche Grund(98 f.); hiergegen Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 919 Fn. 37b („abwegig“); Mitscherlich, Arbeitskampfrecht, S. 87. 142 Siehe oben S. 331. 143 Internationales Recht und Diplomatie 1968, 132; Jahrbuch für Internationales Recht, Bd. 15 (1971), S. 777. 144 Beyerlin, in: Mosler/Bernhardt, Koalitionsfreiheit, Bd. II, S. 1168 (in diesem Sinne auch S. 1164); ähnlich Däubler, in: ders., Arbeitskampfrecht, Rn. 104d, der von einem umfassenden Gesetzesvorbehalt spricht. 145 Eine ähnliche sprachliche Diskrepanz findet sich auch zwischen der deutschen und der englischen Fassung des Art. 28 der Europäischen Grundrechtecharta. Während in der deutschen Fassung das Streikrecht nur innerhalb einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ausgeübt werden darf, lautet die englische Fassung: „in accordance with (. . .) national laws“. Im Unterschied zum IPWSKR sind jedoch beide Sprachfassungen verbindlich.

E. IPBPR/IPWSKR

361

lage für einschränkendes staatliches Handeln nicht verzichten möchte, im deutschen Arbeitskampfrecht aber nicht die Qualität der gesetzlichen Grundlage problematisch ist, sondern eine gesetzliche Ermächtigung gänzlich fehlt, braucht diese Problematik vorliegend nicht abschließend erörtert zu werden. Somit lässt sich der Inhalt der Formulierung „in conformity with the laws“ durchaus mit anderen Formulierungen des Gesetzesvorbehalts vergleichen. Wortlaut und Wortsinn wären dann nicht weiter aufklärungsbedürftig, wenn man wie Gamillscheg in internationalen Abkommen wie beispielsweise dem IPWSKR dort, wo von „Gesetzen“ die Rede ist, die richterliche Rechtsbildung (nicht: Rechtsfortbildung) gleichstellt.147 Allerdings hat sich gezeigt, dass der Gesetzesbegriff der EMRK nationalen Besonderheiten unterworfen ist und in vom kontinentaleuropäischen Recht geprägten Ländern ein (formelles oder materielles) Gesetz fordert, sodass Gamillschegs Meinung in ihrer Generalität nicht zutrifft. Zudem ist die EMRK für die Auslegung von IPWSKR und IPBPR bedeutsam – entsprechend Art. 31 Nr. 1 WVK ist in der Regel dem Vertrag die übliche Bedeutung der Begriffe zugrunde zu legen –, weshalb die bei der EMRK gemachten Ausführungen zum Gesetzesbegriff auch im vorliegenden Zusammenhang Berücksichtigung finden müssen. Sinn und Zweck des Vorbehalt des Gesetzes – Vorhersehbarkeit und Vermeidung von Willkür – sprechen dafür, bei dem Gesetzesbegriff des IPWSKR und des IPBPR wie auch bei der EMRK die Allgemeinverbindlichkeit des zur Einschränkung ermächtigenden Rechtssatzes herauszustellen148 und dann hinsichtlich der allgemeinen Verbindlichkeit nationale Besonderheiten zu berücksichtigen. So wird erreicht, dass die UN-Pakte in unterschiedlichsten Rechtsordnungen ihre Wirkung entfalten können und damit über den Charakter bloßer politischer Absichtserklärungen wie der AEMR hinausgehen, ohne gleichzeitig eine Angleichung des Rechtsschutzes (auf niedrigstem Niveau) zu fördern. Dementsprechend ist Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR so zu verstehen, dass das Streikrecht in Übereinstimmung mit den 146 Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 21 Rn. 17, vgl. auch Art. 12 Rn. 25 f. („Ein abweichender [weniger strenger] Inhalt ist demgegenüber dem Ausdruck ,in Übereinstimmung mit dem Gesetz‘ . . . beizumessen.“); ebenso Kiss, in: Henkin, The International Bill of Rights, S. 304 f.; Partsch, in: Henkin, ebd., S. 232 f. Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkungen, S. 38 f., sieht in dieser Formulierung allein einen Hinweis darauf, dass kein formelles Gesetz erforderlich ist, verneint aber sonstige inhaltlichen Besonderheiten. Ein formelles Gesetz wird gefordert von Sproedt, Koalitionsfreiheit und Streikrecht, S. 104. Siehe zur Diskussion der Commission on Human Rights bei Bossuyt, Travaux Préparatoires, S. 416: „The words ,imposed in conformity with the law‘ were subseququently preferred as allowing for legitimate administrative action.“ 147 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 146. 148 Kiss, in: Henkin, The International Bill of Rights, S. 304 f., betont im Hinblick auf Art. 21 IPBPR, dass zwar common law ausreichen kann, um als Beschränkung „in conformity with the law“ zu sein. Jedoch heißt es weiter: „In every case the objective is to avoid arbitrary restrictions on rights by requiring that the limitation be established by general rule.“

362

6. Kap.: Internationales Recht

Gesetzen des jeweiligen Landes garantiert wird. Hieraus ergibt sich, dass das – nicht auf ein Gesetz zurückzuführende – richterliche Arbeitskampfrecht in Deutschland – wie auch bei Art. 11 Abs. 2 EMRK – zur Einschränkung nur ausreicht, soweit es gewohnheitsrechtlich gilt. An einer solchen gewohnheitsrechtlichen Geltung fehlt es jedoch. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man dann, wenn man die in Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR formulierte Einschränkung nur auf die formellen Voraussetzungen eines Arbeitskampfes bezieht. Formelle Voraussetzungen sind z. B. die Verpflichtung der Gewerkschaften, vor einem Streik eine geheime Wahl mit einem Mindestquorum durchzuführen149, den Arbeitgeber über den Streikbeginn zu informieren oder während der Schlichtungsverhandlungen auf Streiks zu verzichten. Werden allerdings der Inhalt des Streikrechts und damit seine Substanz von staatlichen Maßnahmen betroffen, sind Art. 8 Abs. 2 IPWSKR und Art. 4 IPWSKR einschlägig. Art. 4 IPWSR, der allgemeine Schrankenbestimmungen enthält, fordert eine gesetzliche Grundlage für Einschränkungen der im IPWSKR verankerten Rechte, soweit nicht ein speziellerer Vorbehalt des Gesetzes eingreift.150 Wird der Streik davon abhängig gemacht, ob den Arbeitgebern aus Gründen der Parität geeignete kampfrechtliche Abwehrmaßnahmen zustehen, kann nicht mehr von besonderen Verfahrensvoraussetzungen gesprochen werden. Da die Erstreikbarkeit von ausschließlich differenzierenden Tarifverträgen vom Inhalt der Tarifverträge abhängig gemacht und generell – und nicht bloß vorübergehend – untersagt wird, wird die Substanz des Streikrechts beeinträchtigt, sodass hierfür gem. Art. 4 IPWSKR eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist.

F. Ergebnis Es hat sich gezeigt, dass die untersuchten internationalen Verträge der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln nicht entgegenstehen. Der EGMR hat festgestellt, dass Art. 11 EMRK einen gewissen Organisationszwang sogar zulässt. Diese Erwägungen finden auch im Rahmen des Art. 22 Abs. 1 IPBPR Berücksichtigung. Insoweit ist umgekehrt zu fragen, ob die Differenzierungsklauselentscheidung des BAG GrS mit internationalem Recht zu vereinbaren ist oder ob nicht Art. 11 EMRK einen stärkeren Schutz der positiven Koali149 In Deutschland wird die Urabstimmung überwiegend als verbandsinterner Willensbildungsakt angesehen, der keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit eines Streiks hat: Rüthers, in: Brox/Rüthers, Arbeitskampfrecht, 2. Aufl., Rn. 203; Hromadka/Maschmann, Arbeitsrecht, Bd. II, § 14 Rn. 66; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 462; a. A. Nipperdey/Säcker, in: Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1025 f. 150 Craven; The International Covenant, S. 281 f.; Künzli/Kälin, in: Kälin/Malinverni/Nowak, Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, S. 123.

F. Ergebnis

363

tionsfreiheit fordert, als ihr nach deutschem Recht zuteil wird. Letztendlich dürfte aber im TVG i. V. m. Art. 9 Abs. 3 GG sowie der Rechtsprechung zur negativen Koalitionsfreiheit die gesetzliche Grundlage für eine zulässige Einschränkung der Tarifautonomie zu sehen sein, sodass Eingriffe in die genannten internationalen Bestimmungen gerechtfertigt werden können. Die Begrenzung des Streikrechts aus Paritätsgründen – wenn den Arbeitgebern kein gleichwertiges „Gegenmittel“ zukommt – schränkt die Streikgewährleistungen der Art. 11 Abs. 1 EMRK, 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR und 22 Abs. 1 IPBPR ein. Denn anders als Art. 6 Abs. 4 ESC und ggf. das ILO-Übereinkommen Nr. 87 enthalten diese Übereinkommen nicht Streik und Aussperrung gleichermaßen. Insoweit stimmt die deutsche Arbeitskampfrechtsprechung materiellrechtlich nicht mit dem internationalen Recht überein. Hinzu kommt, dass formellrechtlich für eine zulässige Einschränkung im deutschen Recht eine gesetzliche Grundlage fehlt, die ggf. durch die Rechtsprechung konkretisiert werden könnte. Die Arbeitskampfrechtsprechung des BAG reicht allein nicht aus, da es ihr an der gewohnheitsrechtlichen Geltung ermangelt. Dem Gesetzgeber ist es natürlich unbenommen, das Streikrecht – im Rahmen des in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen (Art. 11 Abs. 2 EMRK) – durch ein Gesetz einzuschränken, um den Status quo des deutschen Rechts wieder herzustellen und die internationalen Gewährleistungen rechtmäßig zu beschränken. Soweit dies allerdings noch nicht geschehen ist, ist auch der Streik um Tarifverträge, die ausschließlich den gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern Vorteile bringen, grundsätzlich rechtmäßig.

Kapitel 7

Gesamtergebnis A. Zusammenfassung der Ergebnisse Der Tarifvertrag ist grundsätzlich kein kollektives Gut. Denn die Tarifvertragsparteien sind nicht gehindert, einzelne Tarifverträge oder Teile von Tarifverträgen zum Exklusivgut („Klubgut“) zu erheben und damit die Nutzung des Tarifvertrags an die Gewerkschaftsmitgliedschaft zu binden. Weder die Arbeitnehmer, die nicht der tarifschließenden Gewerkschaft angehören, noch die Arbeitgeber haben ein (absolutes) Recht, den Tarifvertrag für ihre Interessen in Dienst zu nehmen bzw. von Wirkungen des Tarifvertrags verschont zu bleiben.

I. Verletzung von Grundrechten Die negative Koalitionsfreiheit wird nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG, sondern durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.1 Für die Frage der Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln führt diese Unterscheidung im Ergebnis jedoch nicht zu unterschiedlichen Antworten. Differenzierungsklauseln nehmen am Schutz der positiven Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG teil.2 Ebenso werden sie von Art. 11 EMRK3, Art. 8 IPWSKR und Art. 22 IPBPR geschützt.4 Die ILO-Übereinkommen Nr. 87 und Nr. 98 klammern union security agreements hingegen aus ihrem Anwendungsbereich aus.5 Abstandsklauseln sowie einfache Differenzierungsklauseln greifen in keinem Fall in die negative bzw. die positive Koalitionsfreiheit der Außenseiter ein, sodass sie unbeschränkt zulässig sind. Es liegt in der Natur dieser Klauseln, dass den Außenseitern durch entsprechend gestaltete Tarifverträge nicht die Möglichkeit verwehrt wird, durch individualvertragliche Vereinbarungen beliebige Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Der Tatbestand der Abstandsklausel 1 2 3 4 5

Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe

hierzu hierzu hierzu hierzu hierzu

S. S. S. S. S.

59 ff., 108 ff. 144 ff. 321 ff. 354 f. 350.

A. Zusammenfassung der Ergebnisse

365

wird nur dann erfüllt, wenn der Arbeitgeber einseitig mit kollektiver Wirkung eine bestimmte Leistung gewährt.6 Demgegenüber sind Tarifausschlussklauseln im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit der Andersorganisierten rechtfertigungsbedürftig, soweit die Differenzierung den Gewerkschaftsbeitrag übersteigt. Denn Tarifausschlussklauseln können – soweit kein entgegenstehender Wille der Tarifvertragsparteien seinen Niederschlag im Tarifvertrag gefunden hat – auch jede individualvertragliche Umgehung verhindern. Deshalb fehlt den Außenseitern die Möglichkeit des Ausweichens. Da auf der anderen Seite die Differenzierungsklauseln von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt werden, muss die entstehende Kollisionslage im Wege der praktischen Konkordanz aufgelöst werden. Die Außenseiter sind deshalb nicht vor sämtlichen Nachteilen ihrer Grundrechtswahrnehmung zu schützen. Zu fragen ist, ob den Außenseitern die Hinnahme der tarifvertraglich festgelegten Differenz zumutbar ist. Ein staatlich gesetzter Orientierungspunkt für das, was dem Außenseiter zumutbar ist, bietet § 138 BGB. Ab der Schwelle, ab der ein einzelner Arbeitsvertrag normalerweise, d.h. unabhängig von etwaigen Differenzierungsklauseln sittenwidrig wäre, ist es für die Außenseiter nicht mehr zumutbar, die Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Dies ist dann der Fall, wenn der Abstand zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern mehr als ein Drittel der jeweiligen tariflichen Leistung beträgt. Als Folge hiervon werden die Nichtorganisierten in ihrem Recht auf negative Koalitionsfreiheit verletzt.7 Bei den Andersorganisierten, die durch die positive Koalitionsfreiheit geschützt werden, sind von diesem Betrag die eigenen Gewerkschaftsbeiträge abzuziehen. Hieraus ergibt sich dann die maximal zulässige Differenzierung. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz leiten sich für die Tarifvertragsparteien keine Verpflichtungen im Hinblick auf die Gleichbehandlung von tarifgebundenen Arbeitnehmern und Außenseitern ab. Da die Tarifvertragsparteien nicht die unmittelbare (normative) Möglichkeit haben, alle Arbeitnehmer gleichzubehandeln, trifft sie auch nicht die Pflicht, ihre Tarifverträge so zu gestalten, dass die Außenseiter uneingeschränkt an ihnen teilhaben können.8

II. Tarifmacht Aus der Tarifmacht ergeben sich keine rechtlichen Bedenken gegen die Differenzierungsklauseln. 6 Siehe hierzu S. 156 ff. (einfache Differenzierungsklauseln), 170 ff. (Abstandsklauseln). 7 Siehe hierzu S. 179 ff., 189 ff. 8 Siehe hierzu S. 210 ff.

366

7. Kap.: Gesamtergebnis

Den Tarifvertragsparteien kommt die Tarifmacht zu, bei ihrer schuldrechtlichen Tarifgestaltung die Außenseiter einzubeziehen. Eine Beschränkung auf außenseiterbegünstigende Abreden lässt sich dem TVG nicht entnehmen.9 Das aus Privatautonomie und Berufsfreiheit abzuleitende Günstigkeitsprinzip gilt für die Außenseiter nicht absolut. Die Wirkung des § 4 Abs. 3 TVG ist auf tarifgebundene Arbeitnehmer beschränkt. Deshalb sind die Rechte der Außenseiter einer Abwägung mit der positiven Koalitionsfreiheit der Gewerkschaften zugänglich. Soweit sich Tarifausschlussklauseln als Höchstarbeitsbedingungen auswirken, lassen sie sich durch Art. 9 Abs. 3 GG rechtfertigen.10 Allgemeine Differenzierungsklauseln können für allgemeinverbindlich erklärt werden. Für den Inhalt des betreffenden Tarifvertrags sind weiterhin die Tarifvertragsparteien verantwortlich; eine Zurechnung zum Staat findet nicht statt. Deshalb ist die Allgemeinverbindlicherklärung möglich, soweit die Tarifvertragsparteien Differenzierungsklauseln vereinbaren dürfen. Der Staat würde allein dann seine Pflicht zur Neutralität verletzen, wenn er einseitig bestimmte Gewerkschaften mittels der Allgemeinverbindlicherklärung beschränkter Differenzierungsklauseln unterstützen würde. Die Tarifvertragsparteien sind hingegen nicht gehalten, ihre Tarifverträge so zu gestalten, dass sie grundsätzlich einer Allgemeinverbindlicherklärung zugänglich sind.11 Differenzierungsklauseln lassen sich nicht als eine Art Beitrag der Außenseiter an die Gewerkschaften charakterisieren. Weder werden die Außenseiter zu bestimmten Leistungen verpflichtet, noch werden die Gewerkschaften begünstigt. Nicht durch die Schlechterbehandlung erlangen die Gewerkschaften wirtschaftliche Vorteile, sondern durch die Beitragszahlung infolge eines Gewerkschaftsbeitritts. Denn objektiv macht es keinen Unterschied, ob die Benachteiligung der Außenseiter durch eine Differenzierungsklausel veranlasst wurde, oder ob der Arbeitgeber autonom die Außenseiter untertariflich entlohnt. Dementsprechend wird auch die Gegnerunabhängigkeit durch die Differenzierungsklauseln genauso wenig gefährdet wie durch die (freiwillige) Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber entsprechend der Tarifbindung.12 Abstandsklauseln verstoßen nicht gegen das Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG. Der konkrete Leistungsanspruch der Außenseiter stellt lediglich eine Bezugsgröße dar, um den tarifvertraglichen Anspruch der tarifgebundenen Arbeitnehmer zu bestimmen.13

9

Siehe hierzu S. 216 ff. Siehe hierzu S. 229 ff. 11 Siehe hierzu S. 236 ff. 12 Siehe hierzu S. 252 ff. 13 Siehe hierzu S. 261 ff. 10

A. Zusammenfassung der Ergebnisse

367

Die (anfängliche) Zumutbarkeit (§ 242 BGB) ist kein Kriterium, an dem sich Tarifverträge messen lassen. Im direkten Verhältnis entscheiden die Tarifvertragsparteien selbst, was sie sich zumuten wollen. Wird darauf abgestellt, was die Verbände ihren Mitgliedern zumuten dürfen, führt dies zu nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheiten und zur Inhaltskontrolle durch die Gerichte.14 Die Abstandsklauseln lassen sich nicht als selbständige Vertragsstrafen i. S. v. § 344 BGB (analog) einordnen, die an die Stelle des ausdrücklichen Verbots der Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer (Tarifausschlussklauseln) treten. Ihre Wirkung besteht gerade darin, die Gleichbehandlung und damit den Vertragsbruch auszuschließen.15 Die Tarifvertragsparteien haben nicht § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG zu beachten. Dieser gilt lediglich auf der betrieblichen Ebene für Arbeitgeber und Betriebsrat.16 Differenzierungsklauseln beeinträchtigen weder in unzulässiger Weise die Chancen der Außenseiter, beliebige Verträge abschließen zu können, wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen günstig sind,17 noch verstoßen sie gegen kartellrechtliche Bestimmungen.18 Die Interessen der Außenseiter werden durch den Arbeitgeber bzw. den Arbeitgeberverband ausreichend repräsentiert, sodass nicht von einem kollusiven Zusammenwirken der Tarifvertragsparteien zulasten der Außenseiter ausgegangen werden kann. Eine Verletzung der Vertragsfreiheit liegt deshalb nicht vor. Die Arbeitsbedingungen der Außenseiter können nicht allein wegen der tarifvertraglich angeordneten Differenzierung als sittenwidrig i. S. v. § 138 BGB eingestuft werden. Auch wenn die Außenseiter zu schlechteren Arbeitsbedingungen als die tarifgebundenen Arbeitnehmer beschäftigt werden, kann davon gesprochen werden, dass sie noch tarifgemäß entlohnt werden. Schließlich richten sich ihre Arbeitsbedingungen nach dem, was die Tarifvertragsparteien für angemessen halten. Ab wann ein Tarifvertrag wegen zu geringer Leistungen sittenwidrig ist, lässt sich nicht bestimmt. Denn in der Regel ist der Tarifvertrag der Maßstab für die (individualvertragliche) Sittenwidrigkeit. Hingegen fehlt es an konkreten gesetzlichen Vorgaben (Mindestarbeitsbedingungen) oder anderen objektiven Anhaltspunkten für den Wert der Arbeitsleistung, um § 138 BGB auszufüllen. Insbesondere hat es das BAG abgelehnt, den Sozialhilfesatz als Richtgröße anzuerkennen.19 Erst wenn bei der (verfassungskonformen) Auslegung der Sittenwidrigkeit die negative Koalitionsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG 14 15 16 17 18 19

Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe

hierzu hierzu hierzu hierzu hierzu hierzu

S. S. S. S. S. S.

265 ff. 278 ff. 285 ff. 291 ff. 294. 295 ff.

368

7. Kap.: Gesamtergebnis

berücksichtigt wird, kann sich ab einer bestimmten Differenzierungshöhe ein Verstoß gegen § 138 BGB ergeben. Dann rührt die Sittenwidrigkeit allerdings nicht aus einer zu niedrigen Entlohnung, d.h. aus einer Bezahlung, die nicht annähernd dem Wert der geleisteten Arbeit entspricht, sondern aus dem Druck zum Gewerkschaftsbeitritt.20

III. Arbeitskampf Die Differenzierungsklauseln können soweit erstreikt werden, wie sie auch freiwillig vereinbart werden können.21 Können einzelne Tarifverträge aufgrund der Differenzierung ausschließlich den tarifgebundenen Arbeitnehmern zugute kommen, dürfen die Außenseiter weder ausgesperrt noch mit dem Arbeitskampfrisiko belastet werden. Andernfalls wäre ihre Koalitionsfreiheit verletzt.22 Der Grundsatz der Parität steht dem Streikrecht nicht entgegen, auch wenn der Arbeitgeber lediglich tarifgebundene Arbeitnehmer sowie Außenseiter, die sich am Arbeitskampf beteiligen, aussperren darf. Insoweit modifiziert das internationale Recht das deutsche Arbeitskampfrecht. Denn es ist bei der Anwendung des nationalen Rechts zu berücksichtigen, dass Art. 11 EMRK, Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR und Art. 22 IPBPR den Streik unabhängig von der Aussperrung schützen.23

B. Konsequenzen für die Praxis Aus dem zuvor Gesagten ergeben sich Konsequenzen für die tarifliche Praxis und für die Gesetzgebung.

I. Formulierungsvorschlag für eine Differenzierungsklausel Wollen die Gewerkschaften bestimmte tarifliche Vergünstigungen den bei ihnen organisierten Mitgliedern vorbehalten, bietet sich folgende Tarifvertragsklausel als Ergänzung zu einer Differenzierungsklausel an: „Das Recht der Nichtorganisierten/Andersorganisierten, beliebige Arbeitsbedingungen für das einzelne Arbeitsverhältnis individualvertraglich zu vereinbaren, bleibt von diesem Tarifvertrag unberührt.“ 20

Siehe hierzu S. 185 ff. Siehe hierzu S. 310 ff., 362 f. 22 Siehe hierzu S. 304 ff. 23 Siehe zu Art. 11 EMRK S. 325 ff., zu Art. 8 Abs. 1 lit. d IPWSKR und Art. 22 IPBPR S. 356 ff. 21

B. Konsequenzen für die Praxis

369

Hierdurch wird für die Abstandsklauseln klargestellt, dass die Außenseiter die Möglichkeit haben, gleiche oder gar bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln; insoweit ist die tarifvertragliche Feststellung lediglich deklaratorisch. Für die Tarifausschlussklauseln hat dieser Zusatz zur Folge, dass sie ohne Höchstgrenze zulässig sind. Insoweit wirkt der Zusatz für die Zulässigkeit konstitutiv.24

II. Gesetzliches Verbot von Differenzierungsklauseln Möchte der Gesetzgeber hingegen die Vereinbarung von Differenzierungsklauseln unterbinden, so hat er hierzu de lege ferenda die Möglichkeit. Da tarifvertragliche Vorteilsregelungen nicht zum Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG gehören, steht die Koalitionsfreiheit einem Verbot nicht entgegen.25 Eine Änderung des TVG könnte beispielsweise so aussehen, dass § 1 Abs. 1 TVG einen Satz 2 erhält: „Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, tarifliche Leistungen den Arbeitnehmern, die nicht gemäß § 3 dieses Gesetzes tarifgebunden sind, vorzuenthalten, kann durch Tarifvertrag nicht begründet werden.“

Der Gesetzgeber hat mittels des TVG die Tarifmacht der Tarifvertragsparteien umschrieben und damit die Koalitionsfreiheit ausgestaltet. Da bestehende Ausgestaltungen keinen Verfassungsrang genießen, wäre die Änderung des TVG nicht als Eingriff in die Koalitionsfreiheit rechtfertigungsbedürftig. Dieser Gesichtspunkt ist entscheidend, weil beispielsweise die Abstandsklauseln nicht in die Koalitionsfreiheit der Außenseiter eingreifen, sodass der Staat Grundrechtsverkürzungen der Gewerkschaften nicht auf die Grundrechte Dritter – in diesem Fall die negative Koalitionsfreiheit der Nichtorganisierten – stützen könnte. Ob die Differenzierungsklauseln in absehbarer Zeit eine so große Bedeutung erlangen werden, dass sich der Gesetzgeber auf das verminte Gelände des Tarifrechts begibt, darf jedoch bezweifelt werden.

24 25

Siehe hierzu S. 171 ff., 177. Siehe hierzu 317 f.

Kapitel 8

Ausblick Die vorangehenden Erörterungen haben gezeigt, dass Differenzierungsklauseln unter den verschiedensten Blickwinkeln diskutiert werden. Es bestehen nicht nur Berührungspunkte mit dem Zivilrecht und dem Verfassungsrecht, sondern auch mit dem internationalen Recht. Ausgeklammert wurde bei der Betrachtung hingegen die Frage, ob Differenzierungsklauseln organisationspolitisch vorteilhaft sind. Wie bereits zu Beginn der Arbeit festgestellt, ist diese Verrechtlichung der Problematik intendiert. Deshalb möchte ich am Schluss dieser Arbeit lediglich ein paar vorsichtige Überlegungen anstellen. Anders als Massenvereinigungen wie beispielsweise der ADAC, der in der Literatur häufig als Vergleichsmaßstab für die Gewerkschaften herangezogen wird, leben die Gewerkschaften von den Aktivitäten ihrer Mitglieder. Eine erfolgreiche Gewerkschaftspolitik ist darauf angewiesen, dass sich die organisierten Arbeitnehmer einerseits an der internen Willensbildung beteiligen und andererseits an der Willensumsetzung mitwirken. Erfolgreiche Tarifverhandlungen erfordern aus Gewerkschaftssicht eine Basis, die den Forderungen mittels eines Arbeitskampfes Nachdruck verleihen kann. Eine rein passive, an kurzfristig zu erlangenden materiellen Vorteilen orientierte Mitgliedschaft verändert das Auftreten der Gewerkschaften. Die gewerkschaftliche Basis wird inhomogener, weshalb die Bereitschaft der Basis, sich für bestimmte gewerkschaftliche Ziele zu engagieren, unberechenbarer wird. Zu bedenken ist sogar, ob sich aus der Vereinbarung von Differenzierungsklauseln für die Gewerkschaften sogar ein besonderer Aufnahmezwang ergibt, wie er beispielsweise bei closed-shop-Vereinbarungen angenommen wird.1 Natürlich besteht bereits aufgrund ihrer herausragenden Stellung im Arbeitsleben und ihrer Bedeutung für den einzelnen Arbeitnehmer ohnehin eine weitgehende Verpflichtung der Gewerkschaften, beitrittswillige Arbeitnehmer aufzunehmen.2 Durch Differenzierungsklauseln würde diese Situation allerdings noch verstärkt; eine restriktive Aufnahmepolitik könnte sogar dem Vorwurf des „venire contra factum proprium“ ausgesetzt sein. Mittels einer entpolitisierten Basis, die die Gewerkschaft als eine Art Dienstleistungsunternehmen begreift, wird es für eine Gewerkschaft nur schwerlich möglich sein, ein umfassendes Konzept von Arbeits- und Wirtschaftsbedin1 2

Thomashausen, EuGRZ 1981, 564 (565 Fn. 12). BGH, Urt. v. 10.12.1984, BGHZ 93, 151 ff.

8. Kap.: Ausblick

371

gungen zu entwickeln und umzusetzen. Diese Gefahr besteht jedoch nicht nur bei den Differenzierungsklauseln, sondern ist allen gewerkschaftlichen Sonderleistungen immanent, sei es der Rechtsschutz oder die günstige Versicherung. Eine maßvolle Differenzierung, die sich – soweit es um das Entgelt geht – am Gewerkschaftsbeitrag orientiert, wird bei den Außenseitern sicherlich nicht auf Unverständnis stoßen. Werden hierdurch Arbeitnehmer zum Gewerkschaftsbeitritt veranlasst, bestehen keine organisationspolitischen Nachteile für die Gewerkschaften. Eine solche Vorteilsregelung bietet allenfalls einen Anreiz zum Beitritt für jene Arbeitnehmer, die ohnehin den Gewerkschaften positiv gegenüber stehen. Letztendlich muss über die organisationspolitische Vorteilhaftigkeit die Praxis entscheiden. Das Gleiche gilt für die Frage, ob es sinnvoll ist, die Differenzierungsklauseln gegen die gewerkschaftliche Konkurrenz zu richten und damit den Tarifvertrag im gewerkschaftlichen Wettbewerb einzusetzen. Durch Differenzierungsklauseln wäre eine erfolgreiche Gewerkschaft in der Lage, einen Tarifvertrag, der mit den finanziellen Mitteln und gegebenenfalls mit dem Einsatz der eigenen Mitglieder durchgesetzt wurde, (teilweise) zum Exklusivgut zu erklären. So könnte durch eine Tarifausschlussklausel eine konkurrierende Gewerkschaft daran gehindert werden, mittels eines Anschlusstarifvertrags fremde Tariferfolge für ihre Basis nutzbar zu machen.3 Eine Gewerkschaft könnte dann nur mit den Erfolgen werben, die sie selbst durchgesetzt hat. Umgekehrt wäre ihr der Weg versperrt, durch Anschlusstarifverträge ressourcenschonend einen umfassenden tariflichen Schutz anzubieten und gleichzeitig mit geringen Beiträgen um Mitglieder zu werben. Diese Problematik ist solange nicht akut, wie das BAG mit seiner Rechtsprechung zur Tariffähigkeit das Prinzip der Einheitsgewerkschaft fördert. Werden die Anforderungen an die soziale Mächtigkeit zurückgeschraubt oder wird das Erfordernis der Überbetrieblichkeit aufgegeben, sodass wie in England Betriebsgewerkschaften gebildet werden können, dürfte sich der Wettbewerb der Gewerkschaften verschärfen. Der Streik der kleinen Lokführergewerkschaft GDL bei der Deutschen Bahn AG im Jahr 2003 sowie der Streik der unabhängigen Pilotenvereinigung Cockpit bei Lufthansa und Condor im Jahr 2001 oder die Forderungen der in Konkurrenz zur Verdi stehenden Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) im Jahr 2004 haben auf einen tatsächlich bestehenden Koalitionspluralismus einen Vorgeschmack geliefert.4 Da Differenzierungsklauseln grundsätzlich nicht gegen geltendes Recht verstoßen und die Tarifvertragsparteien zudem die Tarifmacht zum Abschluss entsprechender Klauseln mit Außenseiterbezug haben, ist der Weg frei für eine Erprobung. 3 Vgl. Kempen, in: FS 50 Jahre BAG, S. 742 f. Franzen, RdA 2001, 1 (9 f.), befürchtet einen Verdrängungswettbewerb außerhalb rechtlich geordneter Bahnen. 4 Vgl. Jahn, „Richter rütteln am Gewerkschaftsmonopol“, FAZ v. 19.5.2003, S. 15; „Fluglotsen stimmen für Arbeitskampf“, FAZ v. 25.5.2003, S. 13.

Abstract Collective agreements between trade unions and employers respectively employers’ associations determine most of German working life. This is quite astonishing if you take into account that collective agreements are only binding for the parties to an individual contract if two requirements are met. Firstly, the employee must be a member of the trade union that concluded the collective agreement. Secondly, the employer or employers’ association has to be a party to the collective agreement as well. Therefore, the basic thought behind collective bargaining is that the parties to a collective agreement negotiate only for their respective members. However, employers usually grant all their employees the advantages arising out of collective agreements, unwilling to give any incentive trade union membership. Doing this, employers rob trade unions of the possibility to heighten their attractiveness by advertising their collective agreements, and thus make it difficult for trade unions to recruit members. Outsiders, i. e. employees that do not belong to the trade union that concluded the collective agreement, enjoy the benefits of collective agreements on working conditions and collective wage agreements without having to take on the disadvantages that come with trade union membership, especially membership fees. This opportunity of free riding is one of the reasons why German trade unions – as well as trade unions in many other industrial nations – suffer from continuous loss of members. In Germany, less than one in three employees is a trade union member. To counter this dilemma, trade unions have developed different strategies. In the USA and in England, union security clauses comprising a closed shop used to be the predominant instrument to secure trade unions a sufficient amount of members. In Switzerland, trade unions may raise solidarity fees from outsiders and thus commercialise the usage of collective agreements (similar to US-American agency shop). In Germany, legal reasons forbid imitating these constructions. In my dissertation I reach the conclusion, however, that the parties may keep their collective agreements exclusive, whether in part or in total, and have only trade union members benefit from them (differentiation clauses [Differenzierungsklauseln]). In this respect, the opinion held by most courts and scholars must be contradicted. There are three different kinds of differentiation clauses. Simple differentiation clauses (einfache Differenzierungsklauseln) make trade union membership

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essential for the applicability of certain clauses in the collective agreement. Outsiders are excepted from the effects of those clauses. Nevertheless, in an individual contract employer and outsider may agree on simple differentiation clauses to apply to them, too. Tarifausschlussklauseln prevent the employer transferring certain terms of collective agreements on working conditions or collective wage agreements to contracts with outsiders. Abstandsklauseln determine that regarding certain benefits arising out of collective agreements there must always be a difference between trade union members and outsiders. Consequently, employers are free to grant outsiders the working conditions they like. At the same time, however, they are bound by the collective agreement to increase benefits for trade union members so that there remains a difference. Until a judgment by the Großer Senat (Great Senate) of the Bundesarbeitsgericht (Federal Industrial Tribunal) in 1967, these differentiation clauses were discussed by a broad public and occasionally put into practice. The Großer Senat then declared differentiation clauses to be illegal. From their point of view, differentiation clauses violate the outsiders’ right to stay away from trade unions. The Großer Senat stated this negative freedom of association was founded in article 9, paragraph 3 Grundgesetz (Basic Law, German Constitution), in accordance with the majority of courts and scholars. Furthermore, the Großer Senat held differentiation clauses constituted an unlawful form of membership fees. Through differentiation clauses, outsiders were forced to make some sort of contribution to trade unions for using their collective agreements. Employers could not be forced to support the opposing coalition, if this meant endangering industrial peace by treating employees who belonged to a trade union differently from those who did not. Scholars found numerous additional arguments against differentiation clauses. Despite diverse criticism against the ruling by the Großer Senat and despite dissenting decisions by various Land (state) Industrial Tribunals, aforementioned decision still depicts the legal status quo. Since 1967, bonuses for trade union members have been agreed to only very occasionally. It was not until 2004 that trade union IG Metall concluded collective agreements with several companies in North Rhine-Westphalia that contained special bonuses for IG Metall members and were publicly advertised to attract new members. Legal objections against differentiation clauses are unpersuasive. Parties to collective agreements have the legal possibility to include outsiders in collective agreements. Neither simple differentiation clauses nor Abstandsklauseln violate the outsiders’ negative freedom of association. Outsiders are free to negotiate individual terms of contract with any content. Simple differentiation clauses and Abstandsklauseln merely make it difficult for the employer to pro-

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ceed in accordance with certain general criterions, treating every employee the same regardless of personal circumstances. Only Tarifausschlussklauseln may in principle violate the negative freedom of association. This could be the case if it were economically favourable for employees to become trade union members, i. e. if the value of the bonuses for trade union members amounted to more than the membership fees. Differentiation clauses are a means of attracting new members. As such, they constitute an expression of the positive freedom of association protected by article 9, paragraph 3 Grundgesetz. Therefore, there is a collision of basic rights that must be solved with regard to the facts and circumstances of each case. Generally, neither of the colliding basic rights takes priority over the other. Hence, it is decisive to what extent outsiders are restricted in their free will to stay away from trade unions. The higher the differential sum, the stronger will be the pressure on outsiders to join the trade union. In consequence, the difference between the position of an outsider and the position of a trade union member must not be more than one third of the respective benefit for trade union members. A larger difference usually turns working conditions unreasonable and therefore constitutes a violation of moral principles. However, if there are statutory minimum employment standards, as for instance concerning holiday entitlement, there is no upper limit to the difference between benefits for trade union members and outsiders. Ultimately, it is irrelevant whether negative freedom of association is protected by article 9, paragraph 3 or – as would be correct – by article 2, paragraph 1 Grundgesetz. Differentiation clauses do not violate the principle of equal treatment (article 3, paragraph 1 Grundgesetz) or the freedom of contract (article 2, paragraph 1 Grundgesetz), nor any provisions of the TVG, BGB or GWB. Differentiation clauses may also be declared to have universal validity, thus preventing collective agreements to be applicable and binding for all employees according to section 5 TVG. Since differentiation clauses give an incentive to join a trade union, employers will not normally agree to them freely. Particular importance must be given to the question how trade unions force differentiation clauses upon employers. In some companies in North Rhine-Westphalia, the IG Metall only agreed to deviations from local union agreements if there were included bonuses for trade union members in the collective agreements with these companies. Special emphasis must be put on the right to strike as well. Differentiation clauses may be pushed through by means of industrial practices. In this respect, there is no difference between collective agreements that contain differentiation clauses as well as clauses applicable to all employees, and collective agreements that apply exclusively to trade union members. Although in the second

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constellation, employers may not include outsiders in the industrial action, e. g. by locking them out, for trade unions there still remains the right to strike. This conclusion might be contrary to the parity principles developed by the Bundesarbeitsgericht from article 9, paragraph 3 Grundgesetz, according to which employers must have appropriate defensive means against strike. However, article 11 ECHR, article 8, paragraph 1, subparagraph d International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, and article 22 International Covenant on Civil and Political Rights must be taken into account. In contrast to German judgments on industrial actions, these international treaties privilege the right to strike in comparison with employers’ defensive rights, especially the right to lockout.

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Sachwortverzeichnis Absperrungsklauseln 22 Abstandsklauseln 373 – Begriff 32 – Benachteiligungsverbot 32 – Gleichstellung von Außenseitern 171– 174, 369 – negative Koalitionsfreiheit 170–175 – normative Wirkung 33 – Spannensicherungsklauseln 32 – Spannungsklauseln 32 – Vertragsstrafe 278–285 Agency shop 53–54, 372 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 348 Allgemeinverbindlicherklärung 85, 236, 366 – Gleichbehandlung 247–248 – negative Koalitionsfreiheit 244–246 – von Differenzierungsklauseln 241–243 Altersteilzeit, Tarifverträge 52, 163 – Überforderungsschutz 164 Arbeitskampf – Aussperrung 301–305, 368 – Aussperrung, lösende 223 – Betriebs- und Wirtschaftsrisiko 305– 308 – Einschränkung durch Gesetz 336–344 – Europäische Menschenrechtskonvention Siehe dort – Europäische Sozialcharta Siehe dort – Gewohnheitsrecht 340–341 – ILO-Übereinkommen Nr. 87, 98 Siehe dort – Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Siehe dort

– Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Siehe dort – Minimaxstrategie 315 – negative Koalitionsfreiheit 302–303 – Parität 314–317, 321, 326–327, 346, 348, 352, 357, 359, 363, 368 – Streik 275–277, 300, 310–319, 368 – Streikrecht der Außenseiter 317–319 – Verhältnismäßigkeit 166 Ausgestaltung Siehe Grundrechte Außenseiter, Begriff 31 Außenseiterklauseln 33 Aussperrung Siehe Arbeitskampf Beitragszahlung der Außenseiter Siehe Differenzierungsklauseln Benachteiligungsverbot 32 – im Tarifvertrag der GTB 49, 196 Betriebs- und Wirtschaftsrisiko Siehe Arbeitskampf Closed shop 22, 31, 44, 46, 54, 75, 372 – EGMR 136, 322 – ESC 345 – ILO-Übereinkommen Nr. 87, 98 350 – Interesse der Arbeitgeber 136 – IPBPR 355 – ordre public 56 – Parlamentarischer Rat 72 – Taft-Hartley Act 54, 133 Differentiation clauses 372 Differenzierungsklauseln – Abstandsklauseln Siehe dort – allgemeine 32 – Änderung des TVG 51, 57, 369

Sachwortverzeichnis – Arbeitskampf Siehe dort – Begriff 31 – Beitragszahlung der Außenseiter 252– 254, 256, 366 – beschränkte 32 – BVerfG 120–123 – differentiation clauses 372 – Differenzierung nach der Arbeitskampfbeteiligung 32, 214 – Durchsetzbarkeit 36–41 – einfache Siehe dort – Formulierungsvorschlag 368 – Gemeinsame Einrichtungen 41–43 – gesetzliches Verbot 369 – Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats 74–76 – internationaler Vergleich 52–56, Siehe auch dort – Kritik der Gewerkschaften 27 – LAG Düsseldorf (1974) 51 – LAG Hamm (1994) 52, 115–116 – Nutzung durch Arbeitgeber 24 – ordre public (Art. 6 EGBGB) 55 – organisationspolitische Bedeutung 27 – praktische Umsetzung Siehe dort – qualifizierte Siehe Abstandsklauseln, Tarifausschlussklauseln – Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG 144– 154 – Tabu-Katalog 23, 51 – Tarifausschlussklauseln Siehe dort – Vertrauensleute Siehe dort – Weimarer Republik 44–46 Drittwirkung von Grundrechten – mittelbare 187–188 – negative Koalitionsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG 188–189 – Schutzpflichten Siehe dort Effektivgarantieklauseln 212, 261 Effektivklauseln 261 Einfache Differenzierungsklauseln 156– 170

411

– Allgemeinverbindlicherklärung 156– 159, Siehe auch dort – Begriff 32 – Qualifizierung 32, 157–158 Europäische Menschenrechtskonvention 321–344 – Ausgestaltung 327–330, Siehe auch Grundrechte – Aussperrung 325 – Gesetz 331–335 – negative Koalitionsfreiheit 321 – Parität 326–327 – Streik 325–326 Europäische Sozialcharta 344–348 – Arbeitskampf 346–348 Existenzminimum 181–183 Exklusives Gut 31, 155, 243, 304–305, 317, 364 Freie Arbeiter-Union Deutschland 45 Gegnerunabhängigkeit 255–261, 366 Gemeinsame Einrichtungen 41–43, 47, 224, 293, 304 – Erstreikbarkeit 43 – paritätische Verwaltung 48 Gemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien 165–167, 169, 251 Gerechtigkeitsempfinden 113–116, 128 – der organisierten Arbeitnehmer 135– 140 – materialer Gehalt 130–132 – Tatsachengrundlage 132–134 Gesamtrepräsentation 167–169 Gesetz – Gewohnheitsrecht 340–341 – i. S. d. EMRK 331–335 – Wesentlichkeitstheorie 328, 343 Gewohnheitsrecht, Arbeitskampfrechtsprechung 340–341 Gleichbehandlung – Allgemeinverbindlicherklärung 247– 248

412

Sachwortverzeichnis

– Art. 3 Abs. 1 GG 210–215, 365 – Schutzpflicht aus Art. 3 Abs. 1 GG 211 – § 75 Abs. 1 S. 1 BetrVG 285–290, 367 Grundrechte – Ausgestaltung 58, 111, 147, 205–206, 209, 216–219, 222, 290, 327–330, 343, 369 – Drittwirkung Siehe dort – objektivrechtliche Funktion 89–90 – Rangverhältnis 86–88, 186 – Schutzpflichten Siehe dort Günstigkeitsprinzip 229–236, 264, 366 – Schutz der Außenseiter 232–236 ILO-Übereinkommen Nr. 87, 98 349– 353 – Aussperrung 352–353 – negative Koalitionsfreiheit 350–351 – Streik 351–353 – union security arrangements 350 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 354–363 – Streikrecht 356–357 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 354–363 – Einschränkungen des Streikrechts durch Gesetz 358–362 – Streikrecht 356–358 Internationaler Vergleich – Belgien 55 – Dänemark 55 – Frankreich 55 – Italien 55 – Niederlande 55 – Österreich 53 – Schweden 55 – Schweiz 53 – USA 54, 148 – Vereinigtes Königreich 55 Juristische Sekunde 283–285

Kartellrecht 149, 209, 294, 367 Klubgut 29, 31, 364 Koalitionsfreiheit – Ausgestaltung Siehe Grundrechte – Freiwilligkeit der Koalitionsbildung 99–103 – Kernbereich 146 – Koalitionspluralismus 103–106, 198, 200, 248–249, 371 Koalitionsfreiheit, negative – Anerkennung durch das BVerfG 60, 122 – Arbeitskampf Siehe dort – Europäische Menschenrechtskonvention Siehe dort – Freiheit von fremder Normsetzung 84–86, 92 – ILO-Übereinkommen Nr. 87, 98 Siehe dort – Landesverfassung Bremen und Hessen 107–108 – mittelbare Drittwirkung des Art. 2 Abs. 1 GG Siehe dort – objektivrechtliche Funktion 89–90 – Parlamentarischer Rat 69–76 – Rangverhältnis 86–88 – Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG 108– 111, 364 – Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG 59– 108 – Schutz durch Art. 159 WRV 63–69 – Schutz vor öffentlich-rechtlichen Vereinigungen 93–96 – unmittelbare Drittwirkung 90–92 – Verletzung Siehe dort Koalitionsfreiheit, positive 193–204 – Verletzung durch Tarifausschlussklauseln 199–201 Koalitionswesen, historische Entwicklung 63–69 Kollektives Gut, der Tarifvertrag als 28– 31 – Klubgut Siehe dort Konkurrenzschutz im Mietrecht 35

Sachwortverzeichnis Landesverfassung Bremen und Hessen 107–108 Machtgefälle 189 – zwischen Verbänden und Außenseitern 210, 293 Minimaxstrategie 315 Öffentlich-rechtliche Vereinigungen 93– 96, 122 Olson, Mancur jr. 26, 28–31, 133 Organisationsklauseln 22 Parität Siehe Arbeitskampf Parlamentarischer Rat 69–76 Praktische Umsetzung – Baugewerbe 47 – Formulierungsvorschlag 368 – IG Holz 48 – IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen 24, 51, 182, 300 – internationaler Vergleich Siehe dort – Miederindustrie 24, 47, 51 – saarländische Textil- und Lederindustrie 304 – Tarifvertrag der GTB von 1964 48 – Textilindustrie des Saarlandes 51 – Vorschlag der ÖTV Hamburg 23–24, 51 – Weimarer Republik 44–46 Qualifizierte Differenzierungsklauseln Siehe Abstandsklauseln, Tarifausschlussklauseln Rechtsetzungsmacht der Tarifparteien – Autonomietheorie 217 – Delegationstheorie 217 – Integrationstheorie 217 Rechtspolitische Erwägungen 25–26 Richtigkeitsgewähr der Tarifverträge 257, 276

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Schriftform von Tarifverträgen 261–263, 366 Schutzpflichten 101, 185, 189–190, 236, 246, 297, 343 – Art. 2 Abs. 1 GG 109, 188–191, 209 – Art. 3 Abs. 1 GG 211, 215, 248 – Art. 11 EMRK 329 – Art. 12 Abs. 1 GG 296 – Koalitionspluralismus 248 – Machtgefälle Siehe dort Sekuritätspolitische Maßnahmen 22 Shop stewards 137 Sittenwidrigkeit 291–293, 295–298, 365, 367–368 – Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit 183–185 Solidaritätsbeiträge 22, 46 Sozialadäquanz 111–114, 125–129 – Gerechtigkeitsempfinden Siehe dort Spannensicherungsklauseln 32 Spiegelbildtheorie 76–78 Streik Siehe Arbeitskampf Syndikalismus 45 Tabu-Katalog 23, 51 Tarifausschlussklauseln – absolute Obergrenze 181–183 – Begriff 32, 373 – Durchsetzbarkeit 36–41 – negative Koalitionsfreiheit 176–185 – normative Wirkung 34–36 – Obergrenze 183–185, 365 – schuldrechtliche Wirkung 34 – Untergrenze 180 Tarifeinheit 200–201 Tarifkonkurrenz 199 Tarifmacht Siehe Tarifvertrag Tarifpluralität 199, 201–202 Tarifvertrag – Gemeinsame Einrichtungen Siehe dort – kartellierende Wirkung 136, 149, Siehe auch Kartellrecht – normative Tarifmacht 219, 229

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Sachwortverzeichnis

– Richtigkeitsgewähr Siehe dort – schuldrechtliche Tarifmacht 216–229, 264, 366 – Sittenwidrigkeit von Tarifverträgen 297 – Tarifzensur 166, 174, 273, 289, 297 – Urheberrecht 254 Ultra-vires-Lehre 271 Union shop 31, 54, 148 – Taft-Hartley Act 133 Unzumutbarkeit von Differenzierungsklauseln 265–277, 367 – Erstreikbarkeit 275–277 Urheberrecht an Tarifverträgen 254 Vereinigungsfreiheit, negative, Schutz vor öffentlich-rechtlichen Vereinigungen 93–97, 122 Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit – Rechtsprechung des BAG GrS (Sozialadäquanz) 111–114

– Rechtsprechung des BVerfG 118–119 – Rechtsprechung nach 1967 115–118 – Sittenwidrigkeit Siehe dort Vertragsfreiheit 204–210, 290–294, 367 Vertragsstrafe 278–285, 367 – juristische Sekunde 283–285 – selbständige 278 – unselbständige 278 Vertrauensleute, gewerkschaftliche 32, 91, 181, 255, 261, 268, 286–287 – Erstreikbarkeit tariflicher Regelungen 304–305, 308 Vorruhestandstarifverträge 52, 116–118, 155, 159–167 – Altersteilzeit 163 – Überforderungsschutz 161–162, 238 Wesentlichkeitstheorie 343

und

Privatrecht

Zumutbarkeit von Differenzierungsklauseln 265–277