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German Pages [408] Year 2009
böhlau
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner · Wolfgang Manti · Manfried Welan Band 94
William M . Johnston
Der österreichische Mensch Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs
BÖHLAU VERLAG WIEN
· KÖLN
·
GRAZ
Gedruckt mit Unterstützung durch: Bundesministerium fiir Wissenschaft und Forschung, Wien Österreich-Kooperation Österreichische Kulturvereinigung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78298-8 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Graz http://www.boehlau.at http ://www.boehlau.de Umschlaggestaltung: Judith Mullan Umschlagabbildung: Kolo Moser, Selbstbildnis © Belvedere, Wien
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : CPI Moravia, Tschechische Republik
Geleitwort
Das neue Buch von William Johnston über den österreichischen Menschen stellt eine längst überfällige Aufgabe dar. Die Frage, ob Österreich eine eigene Nation, das österreichische Idiom nur ein Dialekt oder eine eigene Sprache, bzw. der Österreicher wesentlich unterschiedlich zum Deutschen ist, stellt einen langjährigen Streitpunkt dar, der nur teilweise zugunsten der Eigenständigkeit und der Eigenart Österreichs bzw. der Österreicher entschieden wurde. Schon in der frühen Neuzeit wurde — wenn es politisch opportun war — die Eigenständigkeit der Habsburger Länder dem Hl. Römischen Reich gegenüber hervorgehoben; dies wurde meistens mit dem sogenannten Privilegium Maius begründet, einer Fälschung mit weitreichenden Spätfolgen. Die nationalstaatlichen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts tendierten zwar ursprünglich dazu, die unterschiedlichen Länder des habsburgischen Herrschaftsbereichs wegen der Dominanz der österreichischen „Deutschen" zum Großteil dem Deutschen Bund zuzuschlagen, der verlorene Krieg von 1866 gegen den Mitbewerber um die Vorherrschaft in der deutschen nationalstaatlichen Bewegung führte aber zu einer Neuorientierung und staatlichen Neuorganisation der Habsburger Monarchie. Als Folge davon beschäftigten sich Historiker, Staatsrechtler, aber auch Literaten und Dichter vermehrt mit der Frage nach der eigenständigen Entwicklung der österreichischen Länder sowie eines österreichischen Menschentypus. Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann in der Zeit des Ständestaates wurde immer wieder versucht, die Unterschiede zwischen den „Reichsdeutschen" und den Österreichern herauszuarbeiten; teilweise wurde dies mit Klischees versucht, deren Bilder bis heute nachwirken, etwa wenn wir von pflichtbewussten, ordentlichen Deutschen im Gegensatz zu den etwas schlampigen, aber auch Normen freier auslegenden Österreichern sprechen. Johnston zeigt nun anhand einiger bedeutender Dichter und Schriftsteller jene Entwicklung auf, die den Typus des österreichischen Menschen entdeckt und weiterentwickelt hat. Ursprünglich die Abgrenzung zu den „Deutschen", später die Erkenntnis, in einem eigenen Kulturraum zu leben, der das Lernen voneinander dem Herrschen übereinander voranstellte, bilden die Inhalte der Texte, welche Johnston untersuchte und interpretierte; Texte, welche teilweise
Geleitwort
zwar bekannt waren, deren Bedeutung aber oftmals unterschätzt wurde. Der Autor hat eine willkürliche Auswahl der Schriftsteller getroffen, zu der er aber steht und deren Werke ihm wichtig erscheinen. Der Leser sollte dies zum Anlass nehmen, seinerseits nach Texten zu suchen, welche die herausgearbeiteten Ergebnisse untermauern. William Johnston hat dieses Buch als englischsprachiger Wissenschaftler in deutscher Sprache geschrieben; er hat sich eines wichtigen Themas angenommen, das bei österreichischen Wissenschaftlern bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden hat, außer in Zusammenhang mit Repliken auf Wortspenden deutschnationaler Kreise. Umso mehr ist William Johnston zu danken, dass er sich die Mühe gemacht hat, sich dieser Aufgabe anzunehmen, und sich auch damit wieder als großer Freund Österreichs und guter Kenner der österreichischen Kulturund Geistesgeschichte zu erweisen. Es war und ist den Vereinen Österreichische Kulturvereinigung sowie ÖsterreichKooperation in Wissenschaft, Bildung und Kultur ein besonderes Anliegen für das Entstehen dieses Werkes einen kleinen Beitrag leisten zu können.
Wien im September 2009 Dr. Bernhard Stillfried und Prof. Dr. Michael Dippelreiter
In dankbarem Gedenken an diese „theresianischen Menschen", die mich inspiriert haben, Osterreich zu verstehen
HANS BRÜCKE (1906-2000) HANNS KOREN (1906-1985) W E R N E R STARK ( 1 9 0 9 - 1 9 8 5 ) WILFRIED ZELLER-ZELLENBERG
(1910-1989)
VIKTOR SUCHY (1912-1997) FRIEDRICH HEER (1916-1983) JOSEPH PETER STERN (1920-1991) W O L F G A N G KRAUS ( 1 9 2 4 - 1 9 9 8 )
„Ich glaube, das gute Österreichische (Grillparzer, Lenau, Bruckner, Labor) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit." [1929] Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen: Eine Auswahl aus dem Nachlass, 2. Ausgabe (Oxford/Cambridge MA: Blackwell 1998), S 5.
„Osterreich heißt Fügung aus Geschichte, Schicksal aus Geschichte, daher das ihm eigene Konservative, welches sich gut mit Liberalität verträgt [...]." Rudolf Kassner, „Grillparzer" [1954], in: Sämtliche Werke, 10 (1991), S 223.
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
- iS -
I. E I N L E I T U N G .
E S S A Y I S T E N AUF D E R
NACH DEM „ÖSTERREICHISCHEN
SUCHE
MENSCHEN"
-19Der Diskurs über das Osterreichertum : Terminologie und Voraussetzungen - 19Die Verspätung des Diskurses und ihre Folgen -24„Der österreichische Mensch" und „Gedächtnisorte" - 31 Die Autoren und ihre Ideologie -35 -
II. D I E
ERSTEN
FORMULIERUNGEN
1910-1914
-47„Der Dichter als Herold seiner Epoche" : Hofmannsthals Grundsätze -47Max Meli und das Defizit der Selbstbeschreibung vor 1 9 1 4 - 51 -
IO
Inhaltsverzeichnis
Hermann Bahr und der Verfall der k.k. Institutionen - 5 4 Robert Musil über das „verfehlte Weltexperiment Österreichs"
-58-
III. D I E E S S A Y I S T E N DAS
DER KRIEGSZEIT
BEJAHEN
ÖSTERREICHERTUM
-63Hofmannsthals Gegenüberstellung der Österreicher und der Reichsdeutschen
-64Hofmannsthals Mythos von der „Unzerstörbarkeit des österreichischen Wesens" -71 Bahr über das „österreichische Wunder" der nationalen Selbstverleugnung -79" Hofmannsthals Zusammenfassung von 1 9 1 7 -90Robert Müller und die Züchtung des „Reichsmenschen"
- 102 Bahr als Befürworter des „geistigen Konnubiums der Völker"
- 119Richard Schaukai über das innere perpetuum mobile des Deutschösterreichers
- 129 Richard von Kraliks Feier des österreichischen Kulturstils - 137-
II
Inhaltsverzeichnis
Die geopolitische Megalomanie Erwin Hansliks -
IV. N E U B E W E R T U N G E N
1 4 2 -
DES „ K A K A N I S C H E N
MENSCHEN"
1919-1930
- 145 Drei Typen von Nachkriegsessays - 145 Hofmannsthal und die Dauer des Bäuerlichen in der österreichischen Kultur -
147-
Musils Diagnose der Unentschlossenheit der Nachkriegsösterreicher - 153 Musils Prägung des Begriffs „Kakanien" -
157-
Hofmannsthals Ironie gegenüber seinen früheren Entwürfen -
169
-
Hans Pragers Entmythisierung des Osterreichertums - 175 -
V. D A S
ENTSTEHEN
DES
„DER ÖSTERREICHISCHE UND DESSEN
BEZUG
SCHLAGWORTES MENSCH"
ZUR LANDSCHAFT -
I924-25 ÖSTERREICHS
1 8 9 -
Oskar Schmitz als Initiator des Schlagwortes -
190
-
Hugo Hassingers wissenschaftliche Auffassung des Schlagwortes -
196
-
12
Inhaltsverzeichnis
Poetische Visionen der Landschaft 1925-1928 - 203 Ernst Lissauers Spiritualisierung der Landschaft Österreichs - 204 Felix Braun und die Landschaft - 209
VI. N E U E E N T W Ü R F E DES Ö S T E R R E I C H I S C H E N
MENSCHEN
1930-1936 - 213 Anton Wildgans' Erneuerung von Hofmannsthals Vision - 214 Josef Lebs Bilanz der österreichischen Eigenschaften - 219 Oskar Bendas soziologischer Entwurf des Österreichertums - 224 -
VII. VERZWEIFELTE
R Ü C K B L I C K E VOR DER
DROHENDEN
1937/1938 -243 -
KATASTROPHE
Franz Werfeis Begriff des sacrificium nationis des „gelernten Österreichers" - 2-44Thun-Hohenstein und das ständige „Zuspätkommen" Österreichs -250Andrian-Werburgs Wachsmuseum der Stereotypen - 258 -
Inhaltsverzeichnis
13
Rudolf Kassners via negativa zur Formulierung der österreichischen Eigenart - 264
-
V I I I . U R T E I L E ÜBER DIE R O L L E DES Ö S T E R R E I C H I S C H E N ALS S O Z I A L K A P I T A L - 275
MENSCHEN
1945-1967
-
Von der Kulturkritik des Osterreichertums zur Praxis der Kulturgeschichte - 275 Friedrich Heer über die Humanitas
austriaca als einen Habitus
- 2 7 7 -
Das Hassinger-Lhotsky-Paradigma -
287-
Friedrich Torberg und die Rolle der Juden als Träger der Eigenart Österreichs - 296
-
Otto Basils Entlarvung des „Feuilletonismus" - 305 Der Skeptiker Herbert Eisenreich und das Ende einer Tradition des Diskurses - 315 -
I X . D A S E R G E B N I S DES D I S K U R S E S Ü B E R DAS
ÖSTERREICHERTUM
1910-1967 -
323
-
SCHLUSSWORT
Überlegungen zur Identitätsdebatte in Österreich 1 9 7 0 - 1 9 9 0
- 333 -
Inhaltsverzeichnis
M BIO-BIBLIOGRAPHIE
DER ESSAYISTEN ZUM
ÖSTERREICHERTUM
- 339 ALLGEMEINE
BIBLIOGRAPHIE
ZUM
ÖSTERREICHERTUMSDISKURS
1910-1967 -
369-
DANKSAGUNG
- 375 PERSONENREGISTER
- 376SACHREGISTER - 3 8 3 -
Vorwort
Der Dichter Felix Braun schrieb in seiner Würdigung Hermann Bahrs einen Satz, der die Zielsetzung dieses Buchs vorwegnimmt: „Österreich lebt mit in diesem liebevollen Bildnis eines hohen und reinen Mannes [Bahr], Österreich - das Land, das Schicksal, die Menschen, die Musik, das Leben, die versäumte Aufgabe - , wo fände es sich besser erkannt, wo treuer abgebildet als in den vielen Versuchen seines zürnend-liebenden Sohns, es auf dem Weg zu sich selber, zu seiner von ihm selbst unbegriffenen Idee zu bringen?" (S 162) Parallel zu diesen Überlegungen stellt mein Buch die Versuche von fünfundzwanzig „zürnend-liebenden" Söhnen Österreichs dar, die von seiner Bevölkerung selbst nicht erfasste Eigenart dieses Landes zu erklären. Das Land, das Schicksal und vor allem die Menschen des Habsburgerreichs und der beiden Republiken finden in diesen Texten ein teils liebevolles, teils ambivalentes Bildnis ihrer Möglichkeiten und ihrer versäumten Aufgabe. Die Essayisten, die hier zu Wort kommen, wollten Österreich zwischen 1 9 1 0 und 1967 auf den Weg zu sich selbst bringen. Das ist auch das Hauptanliegen dieses Buchs, das die Menschen der Zweiten Republik auf einen Wanderweg zu den Thesen von ihrer Eigenart und ihrer Kulturgeschichte begleitet. In einer Begegnung mit dem vergessenen Diskurs über den „österreichischen Menschen" wird jeder Österreicher hier eine große Zahl weitgehend unbekannter Texte und Erzählungen über sich selbst entdecken. Dieses Buch entspringt meiner vierzigjährigen Beschäftigung mit der österreichischen Kulturgeschichte. Um das Jahr 1980 hatte ich die Idee, ein Buch über den Diskurs zur österreichischen Identität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Das Erscheinen des voluminösen Bandes von Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität (1981), hat mich entmutigt. Überdies empfand ich als NichtÖsterreicher die Debatten rund um die österreichische Identität zu Beginn der 1980er Jahre als so polemisch und so verwickelt, dass ich mich nicht einmischen wollte. Seit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union verläuft die Diskussion in der Zweiten Republik in ruhigeren Bahnen. Gleichzeitig habe ich zahlreiche, meist nur wenig bekannte Texte zu dieser Thematik entdeckt. Dieses Buch will diese neuen Materialien
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Vorwort
in der Form einer Geistesgeschichte der Entfaltung des gesamten Diskurses zwischen 1 9 1 0 und 1967 erschließen. Diese beginnt mit den ersten Ansätzen vor dem Ersten Weltkrieg und gipfelt schließlich in Alphons Lhotskys Auseinandersetzung mit der Funktion des so genannten „österreichischen Menschen" als Sozialkapital von 1967. Ich benütze den Ausdruck „der österreichische Mensch" in drei Bedeutungen, von denen die zweite und dritte den Stoff dieses Buches bilden. Die erste, auf die ich mich kaum beziehe, verweist auf den Österreicher im Allgemeinen. In diesem banalen Sinne ist jeder Österreicher seit eh und je ein „österreichischer Mensch" und diese Binsenweisheit spielt in diesem Buch keine weitere Rolle. Im zweiten Sinne betrifft das Schlagwort „der österreichische Mensch" die Selbstsicht und -auffassung der „Deutschösterreicher" als Kulturmenschen, d.h. als Schöpfer und Träger der österreichischen Kultur seit der beginnenden Neuzeit. Die Charakterzüge dieser kulturschaffenden Deutschösterreicher innerhalb des deutschen Sprachraums konstituieren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Hauptstoff der Essays über die Eigenart Österreichs. Dieses Buch verfolgt mehr als zwei Dutzend der Versuche, den österreichischen Menschen zu charakterisieren, vor allem im Unterschied zu den „Reichsdeutschen". Im dritten und engeren Sinn bezeichnet der Ausdruck „der österreichische Mensch" jenen Charaktertypus des k.k. Beamten bzw. „Dienstaristokraten", der laut Hugo Hassinger, Oskar Benda und Alphons Lhotsky zwischen 1700 und 1 9 1 8 das Habsburgerreich am Leben erhielt. Für diesen Charaktertypus habe ich in Anlehnung an Hofmannsthal und Heer den Ausdruck „der theresianische Mensch" geprägt. In dieser dritten Bedeutung (aber nicht in der zweiten) haben Hassinger und Lhotsky neben den Deutschösterreichern auch die Magyaren und Slawen mit einbezogen. In mehr als zwanzig der hier vorliegenden Essays habe ich sowohl den zweiten als auch den dritten dieser Bedeutungsinhalte verfolgt und interpretiert. Dieses Buch ist nicht aus dem Englischen übersetzt worden, denn es gibt keine englische Version davon. Mit Absicht habe ich dieses Buch auf Deutsch geschrieben. Von Anfang an schien es mir sinnlos, ja unmöglich, die Nuancen der Essays über das spezifisch Österreichische in einer nichtdeutschen Sprache zu erfassen oder auszudrücken. Von ihrer Grundlegung her begründet die Fragestellung nach der österreichischen Einmaligkeit eine deutschsprachige Debatte. Vor zwei oder drei Generationen fanden die Österreicher es selbst noch schwierig genug, ihre Selbstfindung auf Deutsch zu formulieren, und englische Entsprechungen für die damals gebräuchlichen Wortfelder sind beinahe
Vorwort
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unmöglich zu finden. Außerdem geht der idiomatische Reiz mancher dieser Schilderungen in der Übersetzung verloren. Die Autoren der hier besprochenen Essays haben etliche neue Ausdrücke geprägt, um die österreichische Eigenart zu charakterisieren. Die bekannteste dieser Wortprägungen ist wohl „der österreichische Mensch", die Oskar Schmitz und Hugo Hassinger unabhängig voneinander 1 9 2 4 und 1 9 2 5 eingeführt haben und die Anton Wildgans durch seine Rede Anfang 1 9 3 0 berühmt machte. Weiters spreche ich selbst vom „theresianischen Menschen" und vom „spätkakanischen Menschen" und habe den methodologischen Terminus „Quellenauffrischung" (als Ubersetzung des französischen Wortes ressourcement) kreiert. Anscheinend kann man die literarische Suche nach der österreichischen Eigenart kaum anschneiden, ohne neue Redewendungen und Begriffe einzuführen. Dieses Buch stellt viele, wenig bekannte Texte über die Eigenart Österreichs zur Diskussion. Mehr als die Hälfte der hier angeführten Autoren sind in Vergessenheit geraten, und einige der gehaltvollsten Texte - wie diejenigen von Hassinger, Benda und Otto Basil - sind völlig vergessen. Weil es hier um neu Entdecktes geht, habe ich zum Teil besser bekannte Aspekte der Problematik nicht dargestellt. Obwohl auf diesen Seiten so manche Stellungnahme zur Ersten Republik zitiert wird, habe ich die politischen Ideologien jener Zeitepoche nicht in die Diskussion einbezogen. Dieses Buch ist ein Beitrag zur Geistesgeschichte der Beschreibungen und Thesen der Einmaligkeit Österreichs. Es ist keine Sozialgeschichte der ideologischen Anwendung dieser Formulierungen unter Politikern und Parteileuten der Ersten bzw. der Zweiten Republik. Dementsprechend konzentriert sich das Buch auf die neu entdeckten Textstellen und setzt sie in Bezug zur chronologischen Entwicklung von 1 9 1 0 bis 1967. Bisher ist diese Essayistik in ihrer Gesamtheit nie erfasst worden, und als ein Ganzes hat diese Literatur nie die ihr zustehende Beachtung gefunden. Hier wird erstmals versucht, die Aufmerksamkeit des österreichischen Publikums auf diese Fundgrube an unbekannten historischen und literarischen Thesen zu richten. Darin erfolgreich zu sein, das wäre für den Autor der schönste Ertrag dieses Buches.
I. Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
D E R D I S K U R S Ü B E R DAS Ö S T E R R E I C H E R T U M : TERMINOLOGIE UND VORAUSSETZUNGEN
Dieses Buch interpretiert die Texte von fünfundzwanzig Essayisten, die zwischen 1 9 1 0 und 1967 das Phänomen des „österreichischen Menschen" untersucht haben. Der Schwerpunkt liegt auf rund fünfunddreißig Essays bzw. Schriften, die den österreichischen Charaktertypus teils lobpreisend, teils neutral und teils satirisch behandeln. In dieser Einführung sollen zunächst die Beiträge der Essays nach Zeitperiode, Gattung und ihrer ideologischen Ausrichtung klassifiziert werden. Obwohl diese Autoren historisch gesehen relativ spät begonnen haben, das Phänomen des Osterreichertums mittels Idealtypen zu objektivieren, entstand zwischen 1 9 1 4 und 1938 zu dieser Frage eine reichhaltige Literatur. Die Anzahl der Hypothesen, Typologien und Entwürfe der Charakterzüge des Österreichers ist beeindruckend. Vielleicht die stichhaltigste dieser Hypothesen ist jene des österreichischen Menschen als Sozialkapital. Der Begriff Sozialkapital entstammt den Sozialwissenschaften und bezeichnet einen Fundus an gemeinsamem Wissen, Gewohnheiten und Erwartungen, die von Angehörigen einer Gruppe geteilt werden und die das Funktionieren einer modernen Gesellschaft gewährleisten.1 Das Erziehungs- und Bildungssystem einer Nation mehrt ihr Sozialkapital, indem es neue Generationen auf den Aufbau des Landes vorbereitet. Das Sozialkapital der zu diesem Zweck erzogenen und ausgebildeten Menschen reichert sich über Generationen hinweg an. Wenn das durch gemeinsame Erziehung akkumulierte Ethos verloren geht, lässt es sich jedoch nur schwer ersetzen. Das Sozialkapital ist somit ein unentbehrlicher Besitz jeder Gesellschaft, und wie Hugo Hassinger, Oskar Benda und Aiphons Lhotsky - drei der hier 1 Zur aktuellen Diskussion über das Konzept des Sozialkapitals siehe John FIELD, Social Gamitó/(New York: Routledge 2003) und David HALPERN, Social Capital (Oxford : Polity 2004).
20
Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
zu behandelnden Autoren — festgestellt haben, bestand im Habsburgerreich zwischen 1700 und 1918 ein unersetzlicher Teil des Sozialkapitals aus gemeinschaftlich ausgebildeten Beamten und Offizieren. Die soziale Funktion des so genannten österreichischen Menschen steht im Mittelpunkt des Interesses in Texten des Geografen Hassinger und des Historikers Lhotsky aus den Jahren 1925 bzw. 1967. Ihre Ausführungen bezeichne ich als „Hassinger-Lhotsky-Paradigma", und in der Besprechung ihrer Thesen werde ich auf dieses Paradigma näher eingehen. Daneben vertrat Robert Müller den verwandten Begriff einer Züchtung zum so genannten „Reichsmenschen" : als Produkt der Ausbildung der imperialen Beamtenschaft diente der Charaktertypus des „österreichischen Menschen" dazu, zwischen den Klassen, den Regionen und vor allem den Nationalitäten zu vermitteln. Er ist mit dem gleichzusetzen, was Sozialwissenschaftler heute einen Fundus an Sozialkapital nennen. Dieser Hypothese folgend, hat das rasche Verschwinden eines Sozialkapitals an vermittelnden Beamten Mitteleuropa in die Konflikte zwischen 1918 und 1989 gestürzt. In diesem Zusammenhang ist ein zweiter soziologischer Terminus anzuwenden. Das menschliche Sozialkapital Altösterreichs bestand in dem, was der deutsche Soziologe Norbert Elias einen Habitus nannte, d.h. einen bewusst anerzogenen Besitz an gemeinsamen Gewohnheiten, Zielsetzungen und gemeinsamem Wissen. Der Habitus der Konzilianz, der Duldsamkeit und des Konservatismus bei den österreichischen Beamten bildet eines der Hauptthemen dieser Essayisten. Laut dem Hassinger-Lhotsky-Paradigma hielten Vertreter dieses Habitus das Habsburgerreich in den letzten zwei Jahrhunderten seiner Existenz zusammen. Das Vakuum aus dem Untergang dieses Sozialkapitals, das aus dieser zum Habitus der Versöhnlichkeit erzogenen Beamtenschaft bestand, ist nach 1918 in Ostmitteleuropa nie beseitigt worden, es sei denn durch die Integration dieser Staaten in die Europäische Union nach 1989. Eine These über die Rolle der österreichischen Frauen lässt sich an diese Analyse knüpfen. Ihr zufolge erfüllten die Frauen der Mittelschichten in der Monarchie eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung dieses Habitus. Leider spielt die Diskussion der Gender-spezifischen Charakterzüge der österreichischen Frauen, die die zur Vermittlungsarbeit bestimmten Beamten und Offiziere erzogen haben, in diesem Diskurs insgesamt nur eine geringe Rolle. Mit Ausnahme von Hugo von Hofmannsthal und Robert Müller bezieht sich der gesamte Diskurs des Österreichertums auf die männlichen Produkte dieser Er-
Der Diskurs über das Österreichertum : Terminologie und Voraussetzungen
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ziehung und keineswegs auf die potenziellen Erzieherinnen dieses Charaktertypus. Robert Müller ist überhaupt der Einzige hier präsentierten Essayisten, der den Frauen Österreichs ein eigenständiges Kapitel widmete. Die explizite These über die staatserhaltende Funktion des „österreichischen Menschen" wurde erst 1925 von dem Kulturgeografen Hugo Hassinger formuliert. Elf Jahre später hat der typologisierende Historiker Oskar Benda eine ähnliche Auffassung auf soziologischem Weg entwickelt, allerdings ohne Hassinger zu erwähnen. Benda sah den Dienstaristokraten als die Schlüsselgestalt, welche die Donaumonarchie an ihren entlegensten Orten zusammenhielt. Diese These wurde erst 1967 durch den Mediävisten Alphons Lhotsky dem Versuch einer Begründung mit historisch-wissenschaftlichem Anspruch unterzogen. Von diesen drei Ausnahmen abgesehen sind die anderen Äußerungen zur österreichischen Eigenart von ausgesprochen unwissenschaftlichem und mitunter ideologischem Charakter. Der Diskurs über den österreichischen Charaktertypus entfaltete sich unter Literaten, Publizisten und Romanciers, welche die Thematik meistens entweder locker und phantasievoll oder todernst und dogmatisch behandelten. Insgesamt produzierte dieser Diskurs sowohl Geistesblitze, Satiren und Fehlleistungen als auch ernst zu nehmende Versuche, das Funktionieren des alten Reiches und seiner Kultur neu zu verstehen. Erst der Erste Weltkrieg und das Verschwinden jenes Sozialkapitals nach 1918 regte etliche Autoren dazu an, den Konsequenzen dieses Verlustes nachzuspüren. Die Geschichte des Diskurses über den österreichischen Menschen betrifft somit eine literarische bzw. wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem kulturellen Verlust. Zu spät in ihrem spezifischen Osterreichbewusstsein erwacht, haben die ersten Vertreter dieses Diskurses den Zusammenbruch der Monarchie nicht verhindern können. Für wenige Sachverhalte scheint Hegels Satz „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" so treffend wie für die Suche nach der Formulierung des spezifisch Osterreichischen.2 Die zwischen 1 9 1 4 und 1938 entstandenen Hypothesen kamen zu spät, um zur Bewahrung des Sozialkapitals bzw. des Habitus des österreichischen Menschen den von ihnen angestrebten Beitrag leisten zu können. Der Diskurs des „österreichischen Menschen" war eine Begleiterscheinung des Untergangs des Habsburgerreichs.
2
Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Vorrede zum Grundriss der Philosophie des Rechts [1821], in: Werke, 7 : S 28. Er drückte damit aus, dass erst im Zuge des Untergangs eines Phänomens eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Beschäftigung damit beginnt.
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
Als zweite Hauptthese vertrete ich in diesem Buch die Auffassung, dass der Diskurs über den österreichischen Menschen zwischen 1 9 1 0 und 1967 auch dazu diente, die Kulturgeschichte des Habsburgerreichs zum ersten Mal einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wurde eine ganze Reihe von Bezeichnungen fur die „Kulturträger" Österreichs eingeführt. Wir werden einige dieser Ausdrücke häufig verwenden, wie „Reichsmensch" (Müller), „Stockösterreicher" (Bahr) und „österreichischer Mensch" (Schmitz, Hassinger, Wildgans, Leb) sowie „Osterreichertum" (Hofmannsthal, Bahr, Benda), „das spezifisch Osterreichische" und „Austriazismus" (Hofmannsthal, Otto Basil). Friedrich Heer sprach als Einziger gern auch von der humanitas austriaca. Alle diese Redewendungen fungierten, einem Begriff Richard Schaukais entsprechend, als „Rahmenbezeichnung".3 Mit anderen Worten, diese Etiketten wirkten als „placemarkers", um die vorgeblich langfristigen Züge der österreichischen Kultur zu bezeichnen. Unter den austrophilen Essayisten bezeichnete das Schlagwort „österreichischer Mensch" bis in die 1960er Jahre ausschließlich den deutschsprachigen Menschen des Donauraums. Mit Ausnahme von Hugo Hassinger 1925, Oskar Benda 1936, Franz Werfel 1937, Rudolf Kassner 1938 und Alphons Lhotsky 1967 wurden die „Nichtdeutschen" nur selten in die Konzepte des „Österreichertums" einbezogen. Vielmehr galten in den Essays die De«öcÄösterreicher über Jahrhunderte hinweg als Träger einer gesamtdeutschen Kultur im Grenzgebiet zwischen dem Deutschen Reich und den slawischen Ländern im Osten und Südosten Europas. Dieser Sicht zufolge lag die Tragödie dieses Staatsvolks darin, dass sein Status als Vertreter der gesamtdeutschen Kultur die Entwicklung eines eigenen Selbstbewusstseins behinderte. Die Argumentation dieser Autoren setzt voraus, dass der österreichische Mensch eine Spielart des deutschen Menschen gewesen sei. Dabei übersahen sie, dass die ersten Erzieher dieses Typus im 18. Jahrhundert darauf abzielten, Magyaren und Slawen gemeinsam mit Deutschösterreichern in diesen Charaktertypus zu inkludieren. Dieser Absicht zum Trotz wollten unsere Essayisten den deutschösterreichischen Menschen als die einzige Stütze der Donaumonarchie hervorheben und dadurch von den „Reichsdeutschen" differenzieren. Aus dieser Perspektive beriefen sie sich für das Staatsvolk der Deutschösterreicher bis mindestens 1945 auf eine zivilisatorische Rolle, die in der deutschnationalen Geschichtsschreibung den Deutschen in Ost- bzw. Südosteuropa seit Kaiser Otto I. (Mitte des 10. Jahrhunderts) zugeschrieben wurde. 3
Richard SCHAUKAL, Österreichische Züge (München: Georg Müller 1918), S 85.
Der Diskurs über das Österreichertum : Terminologie und Voraussetzungen
2-3
Der Diskurs über den „österreichischen Menschen" enthält essentielle, ahistorische Kategorien wie das „Wesen Österreichs" oder das „zeitlose Österreich". Mythische Konzepte dieser Art werden als Gegenstand der Dekonstruktion behandelt werden. Ich selbst halte es für gerechtfertigt, abwechselnd die Redewendungen „die Eigenart" bzw. „die Sonderart Österreichs" bzw. die „Einmaligkeit Österreichs" zu verwenden, um das „spezifisch Österreichische" zu benennen. Da sich jede Eigenart nur durch Vergleiche erkennen lässt, ist die Suche nach der österreichischen Eigenart zugleich eine Suche nach den geeignetsten Vergleichskulturen.4 Meistens war die Vergleichskultur für diese Essayisten nolens volens das Deutsche Reich und fast nie (außer im Falle des Kultursoziologen Oskar Benda) Frankreich oder Großbritannien. Ungarn wurde überraschenderweise nur bei dem Ideologen Erwin Hanslik und dem strengen Methodologen Alphons Lhotsky in die Betrachtung einbezogen. Keiner von beiden verglich den „österreichischen Menschen" jedoch mit dem „ungarischen Menschen", und nur Lhotsky formulierte eine nachvollziehbare Erklärung der Grundverschiedenheit zwischen den politischen Kulturen Österreichs und Ungarns: Ihm zufolge lag der entscheidende Faktor in der Tatsache begründet, dass Ungarn nie ein Teil des karolingischen Reiches war. Bis zu einem gewissen Grad habe ich die Suche nach der Eigenart Österreichs mit dem Diskurs über den so genannten „österreichischen Menschen" gleichgesetzt. Die Merkmale der „Deutschösterreicher" standen im Brennpunkt der ersten Essayisten um 1 9 1 4 und allmählich mündete die Beschäftigung mit den Eigenschaften der Österreicher in den Begriff des „österreichischen Menschen" ein. Bei der Diskussion der Entwürfe der Charakterzüge des „österreichischen Menschen beziehe ich des Öfteren Vorstellungen von der österreichischen Kultur mit ein. Demnach trägt der österreichische Mensch seine Geschichte gewissermaßen in sich. Ohne Bezug auf die Kulturgeschichte gibt es kein Verstehen der Entwürfe des Charaktertypus des österreichischen Menschen oder dessen sozialer Funktion im Habsburgerreich. Die Ausdrücke „österreichische Idee" bzw. „österreichische Staatsidee", die in der zeitgenössischen Diskussion eine große Rolle spielten, habe ich weitgehend vermieden. Dieser Ideenkomplex gehörte zur Ideologie des österreichi4
Bis heute gibt es wenige Bücher, die die Kulturgeschichte der Gesamtmonarchie darstellen. Ein neueres Buch, das die Kunstgeschichte des gesamten Habsburgerreichs umfasst, ist Elizabeth CLEGG, Art, Design and Architecture in Central Europe 1890-1920 (New Häven/London: Yale University Press 2006). Die Künstler, Stile und Geistesströmungen in Wien, Prag, Krakau, Lemberg, Budapest und Laibach werden darin gleichwertig dargestellt.
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
sehen Staates während der Ersten Republik und insbesondere im autoritären „Ständestaat". Die meisten unserer Essayisten haben den Begriff des „österreichischen Menschen" und der von ihm geschaffenen Kultur diskutiert, ohne zugleich eine mit ihm verbundene Staatsidee festzumachen, und umgekehrt haben die wenigen Autoren, die sich wie Andrian-Werburg für die „österreichische Idee" begeisterten, den österreichischen Menschen größtenteils außer Acht gelassen. U m mit Oskar Benda zu sprechen, gingen unsere Schriftsteller lieber der österreichischen „Kulturidee" nach als der österreichischen „Staatsidee". Diesem Zwiespalt entsprechend habe ich den Diskurs über die Charakterzüge der Österreicher verfolgt, ohne auf die Debatten über den Zweck und die Begründung des Staates während der Ersten bzw. Zweiten Republik einzugehen. Ich wollte eine Geistesgeschichte verfassen, nicht eine staatspolitische Geschichte dieses Diskurses und ließ den ideologischen Streit über die Staatsidee gänzlich außer Acht. 5
D I E V E R S P Ä T U N G DES D I S K U R S E S UND IHRE F O L G E N Auffällig an diesem Diskurs ist vor allem, dass er keinerlei Ursprünge im 1 9 . Jahrhundert aufzuweisen hat. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hat Österreich erst sehr spät damit begonnen, seine Kultur begrifflich zu erfassen. Obwohl einige Österreicher kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dann häufig während des Krieges über den Ausdruck „Kultur" debattiert haben, befasste sich niemand v o r i 9 i 4 m i t den Kernfragen : „Was ist ein Österreicher ? In welcher Hinsicht soll sich ein Österreicher von einem Reichsdeutschen unterscheiden ? Von einem Tschechen ? Von einem Franzosen ? Von einem Italiener ?" Wenn man das Jahr 1 9 1 4 als Ausgangspunkt für den Diskurs zum Österreichertum wählt, so muss man bedenken, dass die Fürsprecher anderer Kulturnationen schon längst vorher begonnen hatten, die Eigenschaften und die historische Entwicklung ihres jeweiligen Nationalstils zu kodifizieren. In ganz Europa blieben die „Deutschösterreicher" das einzige staatstragende Volk, das diese Aufgabe vor 1 9 1 4 oder sogar vor 1 8 5 0 nicht in Angriff genommen hat. In krassem Kontrast dazu hatten die „Reichsdeutschen" seit mehr als einem Jahrhundert ihre nationalen Eigenschaften, ihre Begabungen und ihre Schwä-
5 Siehe Werner SUPPANZ, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik (Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1998).
Die Verspätung des Diskurses und ihre Folgen
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chen diskutiert, debattiert und historisch begründet. Die Bewegung der deutschen Romantik und die damit verbundene Volkserweckung war im Grunde nichts anderes als die groß angelegte Erforschung des Deutschtums während der tausendjährigen Entfaltung seiner Kultur. Das 19. Jahrhundert hindurch hatte es sich eine Anzahssl genialer deutscher Dichter und Kulturhistoriker - beginnend mit Johann Gottfried Herder und den Gebrüdern Schlegel um 1800, über Wilhelm Heinrich Riehl und Heinrich Leo schließlich hin zu Karl Lamprecht und Julius Langbehn in den neunziger Jahren - zum Lebensziel gesetzt, die deutsche Kulturgeschichte vergleichend zu betrachten. Zumindest seit 1800 gab es in Deutschland keinen Mangel an Auseinandersetzungen mit Grundfragen wie: „Was heißt Deutschtum? Was sind die Errungenschaften des deutschen Volkes ? Wie unterscheiden sich die Deutschen von den Franzosen und den Engländern?" Die größten Genies wie Goethe, Schiller, Herder, Fichte, Hegel, Ranke und Nietzsche haben dabei das Ihrige zu dieser Diskussion beigesteuert. Unter den Deutschösterreichern existierte vor dem Jahr 1 9 1 4 nichts Vergleichbares und auch in Deutschland interessierten sich die Pioniere der nationalen Identität nicht für die Nebenfrage, in wieweit sich die Österreicher von anderen Deutschen unterschieden. Man setzte voraus, dass die Deutschösterreicher dem Deutschtum angehörten und deshalb keine weitere Identität brauchten. Ihr Diskurs über die eigene Kultur schloss die deutschsprachigen Österreicher mit ein, oder besser gesagt, man hielt eine eigenständige „österreichische Kultur" für nicht existent. Die in Österreich beheimatete Kultur - sowohl der Literaten als auch des Volkes - wurde als eine Variante der deutschen Gesamtkultur interpretiert, und bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg sahen das weder die reichsdeutschen Kulturforscher noch ihre Kollegen in Österreich anders. Der Mangel an einem inneren Diskurs über die Eigenschaften der österreichischen Kultur im Rahmen einer gesamtdeutschen Kultur ist eine der unausweichlichen Realitäten der österreichischen Geistesgeschichte seit 1700. Selbst die anderen Völker der Donaumonarchie haben früher damit begonnen, sich mit ihrer eigenen Kulturgeschichte zu befassen als die „Deutschösterreicher". In erster Linie war es die Wiederentdeckung der Nationalsprachen, die diese Wegbereiter der kleineren Nationen angeregt hat. Auf diesem Weg zum Nationalbewusstsein konnten ihnen die Deutschösterreicher freilich nicht folgen. In diesem Zusammenhang wirkten die Ungarn vorbildhaft. Intellektuelle wie József Eötvös ( 1 8 1 3 - 1 8 7 1 ) , István Széchenyi ( 1 7 9 1 - 1 8 6 0 ) und János Aranyi ( 1 8 1 7 - 1 8 8 2 ) haben die Kulturgeschichte als die Grundlage eines Nationalbe-
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
wusstseins gefördert. Die Tschechen derselben Generation brachten Kulturforscher wie Frantisele Palacky (1798-1876) und Josef Dobrovsky ( 1 7 5 3 - 1 8 2 9 ) hervor. Während des Risorgimento in Italien haben Geistesführer wie Giuseppe Mazzini, Alessandro Manzoni und Antonio Rosmini den Diskurs über die Wurzeln des italienischen Kulturerbes weitergeführt. Aus guten Gründen gab es unter den Deutschösterreichern kein geistiges Risorgimento. Als das Staatsvolk eines Imperiums hielten sie es für überflüssig, ein eigenes nationales Bewusstsein innerhalb des Vielvölkerstaats zu entwickeln. Die Folgen dieses Mangels an einem eigenständigen Diskurses über das Nationalbewusstsein der Deutschösterreicher erwiesen sich als fatal. Vor 1 9 1 4 hatte die Literaten keine Untersuchungen zu dieser Problematik veröffentlicht, sondern nur Satiren über die unbeholfenen Deutschösterreicher, die nicht zu erklären wussten, welche kulturellen Eigenschaften ihre Existenz untermauerten. In diesem Buch treten als repräsentativ für diese Art von Satire die beiden Freunde Robert Musil und Robert Müller auf. Neben sie könnte man eine Anzahl von Wiener Feuilletonisten, wie Franz Blei, Alfred Polgar, Felix Saiten, Egon Friedell und nicht zuletzt Karl Kraus, setzen. Die Artikel dieser Meister der kleinen Formen sprühten vor Witzen über das Wienertum, die Wiener Selbstbezogenheit und die Wiener Eigenart, aber diese Lokalliteraten verabsäumten es, die Charakterzüge der Kultur Wiens bzw. Österreichs vergleichend zu schildern. Überdies glaubten die meisten Feuilletonisten nicht, dass es ihre Aufgabe sei, diesen Existenzfragen nachzugehen. Man konnte Feuilletons über Wiener Sonderbarkeiten schreiben, aber eine Diagnose des spezifisch Osterreichischen verstieß gegen den guten Geschmack. Man stolpert hier über einen circulus vitiosus, der bis zum Jahr 1 9 1 4 jede Objektivierung des Österreichertums behinderte. Seit eh und je hatten weder die Sachkundigen noch die Publizisten ein österreichisches Nationalbewusstsein ernst genommen. Weil kein Historiker ein Nationalbewusstsein der Deutschösterreicher behauptete bzw. widerlegte, weil kein Kunsthistoriker einen österreichischen nationalen Stil ausmachte, weil kein Musikhistoriker eine spezifisch österreichische Eigenart innerhalb der deutschen Musik aufzeigte, verfügten die Publizisten über keine sachliche Basis, diese Fragen ernsthaft zu debattieren. Kein Gelehrter legte die Grundlinien einer österreichischen Sichtweise in der Kulturgeschichte dar, keiner brachte eine deutschösterreichische Auffassung der Geschichte des Donauraums vor das Publikum. Im Jahr 1 9 1 0 stand damit der Diskurs zum Österreichertum gerade bei der Stunde Null.
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Auffällig ist die Rolle des Kaiserhauses in diesem allgemeinen Stillschweigen. Die habsburgische Monarchie war ein dynastischer Staat, mit anderen Worten, die Monarchie war als das Eigentum des Hauses Österreichs, der Casa d'Austria, entstanden. Das Reich existierte, weil die Herrscher dieser Dynastie die betroffenen Länder erworben und bewahrt hatten. Warum sollten Mitglieder des Herrscherhauses sich dazu herablassen, ihre Besitzungen begrifflich zu rechtfertigen oder die Begründungen ihres Reiches zu erforschen ? In ihren Augen war Österreich eine Familiensache, nicht eine Volkssache. Auch Ehepartner von außerhalb Österreichs haben keine Intellektuellen in den Kreis der Dynastie gefuhrt. Niemand hat in Österreich jene anregende Rolle gespielt, die Prinz Albert von Sachsen-Coburg in Großbritannien als Gemahl von Königin Victoria für sich kreiert hatte. Selbst ein schöpferischer Kulturstifter wie Erzherzog Johann ( 1 7 8 2 - 1 8 5 9 ) übte außerhalb seiner Heimat Steiermark nur wenig Einfluss aus und seine frustrierende Amtszeit als Reichsverweser in Deutschland 1848/49 trug nichts dazu bei, die Deutschösterreicher zu einem eigenen Nationalbewusstsein zu erwecken. Allein Kronprinz Rudolf (1858—1889) galt in gewisser Hinsicht in der Politik der achtziger Jahre als ein allerhöchster Wortführer, aber seine anonymen Zeitungsartikel waren zu einseitig, um eine allgemeine Diskussion auszulösen. Es spricht für sich selbst, dass Kaiser Franz Joseph I. das verordnete Stillschweigen der Österreicher über sich selbst personifizierte. Der „Hofrat von Schönbrunn" verkörperte der Kulturgeschichte gegenüber eine eisige Gleichgültigkeit. Er war der Inbegriff jenes wurzellosen Bewusstseins der k.k. Beamtenschaft, das im Ersten Weltkrieg erstmals analysiert wurde. 6 Solange der alte Kaiser lebte, behinderte seine Verkörperung dieses kulturellen Stillschweigens jede Analyse der österreichischen Eigenart. Zudem hat der „gute, alte Kaiser" auch nur wenige Satiren und schon gar keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den kulturgeschichtlichen Grundlagen seines Reiches inspiriert. Dieses Vakuum an Diskurs über Existenzfragen mag uns als äußerst bedenklich erscheinen, aber vor 1 9 1 4 blieb der Anspruch des Habsburgerreichs auf sein Fortleben eine Selbstverständlichkeit. Wie man sehen wird, haben die ersten Österreichdeuter während des Ersten Weltkriegs das Fehlen eines Diskurses über die Eigenart Österreichs als typisch für ihr Land betrachtet. Es brauchte
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Siehe Richard SCHAUKAL, „Skizzen zu einem Charakterbildnisse weiland Kaiser Franz Josephs I.", in: österreichische Züge (München: Georg Müller 1918), S 9 - 2 6 und Heinrich FRIEDJUNG, „Kaiser Franz Joseph I. Ein Charakterbild", in: Historische Aufsätze (Stuttgart: Cotta 1919).
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
zwanzig Jahre, ehe Oskar Benda jene Konstellation soziologisch untersuchte, und die Nichtbeachtung seines Durchbruchs im Jahr 1936 zu einer wissenschaftlich fundierten Untersuchung muss als eine Fortsetzung der früheren Gleichgültigkeit gelten. Das Fehlen einer langen Tradition im Diskurs zum Österreichertum erklärt die ungleichmäßige Qualität der Texte, die dieses Buch behandelt, denn alle unsere Essayisten waren Anfänger in dieser Materie. Sie mussten alles erst entdecken, alles herausholen, alles erfinden, um das spezifisch Osterreichische zu erfassen und es dem Publikum bekanntzumachen. Dieses Buch erzählt den langwierigen, zu spät begonnenen Prozess des Einziehens eines Unterbaues für ein längst baufälliges Reich. Die Deutschösterreicher der Donaumonarchie haben diesen Prozess zu spät begonnen, um einen Gewinn daraus zu ziehen. Das berüchtigte „Zuspätkommen Österreichs" trifft besonders krass auf die Bemühungen dieser Essayisten zu. Die Weltgeschichte hat den Deutschösterreichern nach 1918 einen üblen Streich gespielt. Die Tatsache, jahrhundertelang in einem dynastischen Staat gelebt zu haben, behinderte die Diskussion vor 1914, und der Zusammenbruch vom November 1918 verzerrte die Diskussion hinterher. Die drei großen Traumata des Kriegsendes, erstens die Niederlage, zweitens der Zusammenbruch des Reiches 1918 und drittens das Verbot eines Anschlusses an Deutschland 1919 wirkten zusammen, um den Prozess des Entstehens eines Nationalbewusstseins in der Ersten Republik hinauszuzögern. „Der Staat, den Keiner wollte" war auch ein Staat, dessen Kultur keiner verstand. Der Diskurs, dessen Entwicklung dieses Buch beschreibt, litt unter vielen Hemmnissen. Es ist eine ernüchternde Bilanz, die österreichischen Dichter und Denker des 20. Jahrhunderts aufzuzählen, die zu ihren Lebzeiten kein Wort zum Diskurs über die Sonderart ihrer Kultur beigesteuert haben. Unter den Schriftstellern der Ersten Republik sind Hermann Broch (1886-1951) und Arthur Schnitzler (1862-1931) bedeutende Abwesende bei dieser Diskussion. Stefan Zweig (1880-1942) nahm nur aus dem Exil daran teil mit Die Welt von Gestern (1942), und das Gleiche tat Broch mit Hofmannsthal und seine Zeit: Eine Studie (1949/1955). Es ist ebenso sehr zu bedauern, dass der unvergleichliche Satiriker Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877-1954) seine Romane nicht mit Aufsätzen zu dieser Thematik ergänzt hat. Unter den Philosophen hätten erfinderische Denker wie Christian von Ehrenfels (1869-1932) und Moritz Schlick (1882-1936) gewiss Eindringliches zur Einmaligkeit Österreichs äußern können. Unter den Psychoanalytikern haben sich selbst die am eifrigsten in der Kultur engagierten wie Otto Rank (1884-1939) und Wilhelm Stekel (1868-1940)
Die Verspätung des Diskurses und ihre Folgen
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während der Ersten Republik nicht mit dem spezifisch Österreichischen auseinander gesetzt. Historisch denkende Nationalökonomen wie Friedrich von Wieser (1851-1926) und Joseph Schumpeter (1883-1950) haben die Eigentümlichkeit Österreichs nicht zum Thema genommen und selbst Juristen wie der Schöpfer der Bundesverfassung der Ersten Republik, Hans Kelsen (1881-1973), haben die Sonderart von Österreichs kultureller Tradition nicht kommentiert. Die Abwesenheit der Historiker von diesem Diskurs ist noch auffälliger. Die äußerst belesenen Beitragenden zum deutschnationalen Sammelband Österreich: Erbe und Sendung im deutschen Raum (1936) haben zwar die geografischen und sozialgeschichtlichen Eigenschaften Österreichs skizziert, jedoch kaum die kulturellen.7 Selbst die Auslassungen des Mitherausgebers, des Literaturhistorikers Josef Nadler (1884—1963), in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme behandeln alle Regionen innerhalb des deutschen Kulturraums, aber nicht die selbstständige Republik Österreich. Als deutschnationaler Ideologe glaubte er am allerwenigsten an eine Sonderart eines österreichischen „Stammes" innerhalb der deutschen Kultur, denn dem österreichischen „Volksverbande" unterliege ein „bayrisches Urwesen". 8 Der zweite Herausgeber, der deutschnationale Historiker Heinrich Ritter von Srbik ( 1 8 7 8 - 1 9 5 1 ) , enthielt sich jeder Äußerung über die Sonderart seines geliebten Österreichs. Auch in seiner meisterhaften Darstellung der Traditionen des deutschen historischen Schrifttums Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart (1950/51) widmete er in einem Buch von 850 Seiten bloß ein schmales Kapitel „der deutschen Geschichtsschreibung Österreichs". (2: S 80-122) Die Abwesenheit des nach 1945 tief gekränkten Srbik vom Diskurs über die Eigenart der österreichischen Kultur spricht Bände über die Mentalität der Deutschnationalen. Aus ideologischen Gründen weigerte sich damit einer der versiertesten Gelehrten seiner Zeit, die Eigenart seines Heimatlandes zu erforschen.9 7
Eine Ausnahme bildet Wilhelm BAUER (1877-1953), dessen Aufsatz „Das Deutschtum der Deutsch-Österreicher", in: NADLER und SRBIK (Hg.), Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum (Salzburg/Leipzig: Pustet 1936), S 369-382, die Republik als das Land der „Zurückgebliebenheit und der kulturellen Absorption" charakterisierte. ( S 378) Ein späteres Korrektiv zur älteren Literatur besteht in den von zwanzig Deutschen und Österreichern verfassten Aufsätzen in Robert A. KANN und Friedrich E. PRINZ (Hg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch (Wien/München: Jugend und Volk 1980). 8 Josef NADLER, „Die deutsche Dichtung Österreichs", in: NADLER und SRBIK (Hg.), Österreich. Erbe undSendungim deutschen Raum (Salzburg/Leipzig: Pustet 1936), S 315-328.
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Das Kapitel „War Österreich geistiges Ausland?", in: SRBIK, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz (München: Bruckmann 1935-1942; Nachdruck
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
Der Kulturhistoriker und Feuilletonist Egon Friedeil (1878-1938) wäre ebenfalls sehr geeignet gewesen, die österreichische Kultur zu charakterisieren. Im dritten Band seiner Kulturgeschichte der Neuzeit10 hat er die Gelegenheit verabsäumt, die Kultur Österreichs mit jener von Deutschland zu vergleichen. An Wien um 1900 interessierten ihn vor allem die Gestalten seiner Freunde Peter Altenberg und Arthur Schnitzler. Über Letzteren bemerkte er, dieser habe in seinen Sittenstücken „etwas Analoges geleistet wie Nestroy für das Wien des Vormärz". (3 : S 5 1 1 ) Seine Begabung für die allgemeine Kulturgeschichte regte Friedeil jedoch zu keiner eigenen Interpretation der Kultur Österreichs an. Unter den Kunsthistorikern hat Hans Tietze (1880—1954) zwölf Bände der österreichischen Kunsttopographie herausgegeben ( 1 9 0 7 - 1 9 3 1 ) und eine Geschichte Wiens (19 31) geschrieben, ohne Essays über das Österreichische schlechthin zu verfassen. Nur Hans Sedlmayr (1896-1984) hat seine Pionierarbeiten über das Barock mit Essays über das Österreichische in der Kunst fortgesetzt.11 Der Wiener Musikhistoriker Guido Adler ( 1 8 5 5 - 1 9 4 1 ) gab die Denkmäler der Tonkunst in Österreich (1894-1938) heraus, ohne an eine getrennte österreichische Tradition in der Kunstmusik zu glauben. Der geniale Musiktheoretiker Heinrich Schenker (1868-1935) hat die strukturellen Grundlagen der Wiener Klassik völlig neu analysiert, fest in der Überzeugung, dass die Wiener Meister den Höhepunkt deutscher Musik verkörperten. Der in Galizien geborene Jude vertat die Überlegenheit der deutschen Kultur, ohne sich je eine österreichische Variante derselben vorgestellt zu haben. Wie die meisten Musiker in Österreich vor 1945 glaubte er, dass so etwas wie die österreichische Musik nicht existiere.12
1963), 1: S 284-299 bietet verlockende Ansätze zu einer Kulturgeschichte des österreichischen Vormärzes, verweigerte aber jede Zusammenfassung. 10 Egon FRIEDELL, Kulturgeschichte der Neuzeit (München 1928-1931). 11 Hans SEDLMAYR, „Österreichs bildende Kunst", in: NADLER und SRBIK (Hg.), Österreich : Erbe und Sendung im deutschen Raum (Salzburg/Leipzig 1936), S 329-346 und SEDLMAYER, „Die Charaktere der Bildenden Kunst", in: Otto SCHULMEISTER (Hg.), Spectrum Austritte (Wien: Herder 1957), S 524-582. 12 Siehe Carl DAHLHAUS, „Die Musikgeschichte Österreichs und die Idee der deutschen Musik", in: Robert A. KANN und Friedrich E. PRINZ (Hg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch (Wien/München: Jugend und Volk 1980), S 322-349. Einer, der an das Österreichische in der Musik glaubte, war Schenkers Schüler Viktor Zuckerkandl (18961965). Siehe Viktor ZUCKERKANDL, „Der Geist des Musik", in: Otto SCHULMEISTER (Hg.), Spectrum Austriae (Wien: Herder 1957), S 524-553 und dazu William M. J O H N STON, Visionen der langen Dauer Österreichs (Wien: Picus Verlag 2009), S 3 5 - 4 0 .
„Der österreichische Mensch" und „Gedächtnisorte"
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Die Enthaltsamkeit so vieler bedeutender Denker von der Suche nach einer österreichischen Eigenart macht jene Pioniere umso verehrenswerter, die vor 1938 diesen Diskurs entwickelt haben. Die ganz berühmten Namen unter ihnen sind Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Franz Werfel. Auf einer etwas niedrigeren Ebene des Ruhmes stehen die Schriftsteller Hermann Bahr, Richard Schaukai, Richard von Kralik, Felix Braun und Anton Wildgans. Neben ihnen spielen ganz Unbekannte eine entscheidende Rolle : Robert Müller, Hugo Hassinger, Hans Prager, Josef Leb, Oskar Benda und Paul Graf Thun-Hohenstein. Ohne sie wäre die Diskussion nie zu ihrer vollen Entfaltung gelangt. Zwei ebenfalls vergessene deutsche Literaten haben Interessantes beigesteuert : Oskar Schmitz und Ernst Lissauer.
„ D E R ÖSTERREICHISCHE M E N S C H "
UND
„GEDÄCHTNISORTE"
Dieses Buch befasst sich mit der Zeitepoche von 1 9 1 0 bis 1967. Seitdem hat sich die Konzeption einer österreichischen Eigenart tiefgreifend verändert und man könnte sogar sagen, dass diese Problematik seit ca. 1970 einer regelrechten Revolution unterworfen war. Anfang der siebziger Jahre begann man häufig von der „österreichischen Identität" zu sprechen, und dieses Schlagwort hat seinen Vorgänger „der österreichische Mensch" aus dem Feld geschlagen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die beiden Begriffe nicht identisch sind, ja sich kaum decken. Der Begriff „österreichischer Mensch" bezieht sich auf die Suche nach einem Charaktertypus und entspricht der Annahme, dass sich die „Deutschösterreicher" von den „Reichsdeutschen" vor allem durch ihre Charakterzüge unterschieden. Der Diskurs hat sich nur nebensächlich damit befasst, den Deutschösterreichern ein Selbstbewusstsein, eine „Identität" zu verschaffen. Es ging weniger um ein Selbstgefühl der Staatsbürger, sondern um die Eigenständigkeit einer kulturellen Tradition. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg kreiste dieser Diskurs um die Merkmale der Kultur und die Charakterzüge des Menschentypus, der sie angeblich geschaffen hatte. Übrigens hatte der Diskurs bis zum Jahre 1970 kaum die Beziehungen zwischen Kultur und Politik berührt. Nach 1970 drängte sich der Begriff „österreichische Identität" in das Zentrum der öffentlichen Diskussion in der Zweiten Republik. Die Debatte ging um die Beziehungen zwischen den Staatsbürgern und ihren gesamten Traditionen, sowohl die politischen und wirtschaftlichen als auch die ideologischen
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
und kulturellen. Die Intellektuellen und die Medien gingen auf die Suche nach Wurzeln und Triebfedern der Zweiten Republik, um die Zielsetzungen des Staates zu erforschen und das Nationalbewusstsein seiner Bürger zu erwecken. Man wollte alle Hindernisse auf dem Weg zu einer Selbstidentifikation der Staatsbürger mit allen Aspekten der österreichischen Tradition beseitigen. Im Vergleich zur medialen Übersättigung der Identitätsdebatte der siebziger Jahre war der Diskurs um den österreichischen Menschen zwischen 1 9 1 0 und 1967 jedoch elitär, begrenzt und sprunghaft. Nur Intellektuelle und Publizisten nahmen daran teil, nicht das breite Publikum oder der Großteil der Politiker, und die Debatte drehte sich um die Kultur schlechthin, nicht um die Beziehungen zwischen der Kultur und dem politischen Leben. Merkwürdigerweise haben die Essayisten vor 1967 das Wort „Identität" kaum benutzt. Selbst die von Viktor Suchy inspirierte Bücherreihe „Das österreichische Wort" bzw. die „Stiasny-Bücherei", die zwischen 1959 und 1965 ungefähr 150 Bände mit Texten repräsentativer österreichischer Schriftsteller veröffentlichte, haben das Wort für die Vermarktung des „unvergänglichen Schatzes unserer Dichtung" nicht gebraucht. 13 Gewöhnlich sprach man damals vom „Wesen Österreichs" anstatt von der österreichischen Identität. Dementsprechend habe ich auf vor 1938 entstandene Texte das Wort „Identität" nicht angewendet. Das vorliegende Buch lässt die Frage außer Acht, inwieweit die spätere Diskussion der österreichischen Identität direkt an den vor 1967 entstandenen Diskurs anknüpfte. Hoffentlich wird es einige Forscher dazu anregen, die hier wiederentdeckten Schriften mit den Höhepunkten der späteren Diskussion zu vergleichen. Aber das ist nicht die eigentliche Aufgabe dieses Buches. Stattdessen scheint es mir wichtiger, die älteren Texte vorzustellen, miteinander zu vergleichen und als Bestandteile eines Gesamtdiskurses zu interpretieren. Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist man nicht bei den Identitätsdebatten der siebziger Jahre stehen geblieben. In den neunziger Jahren rückte ein neuer Begriff in den Focus der Geschichtspolitik, und zwar der Begriff „Gedächtnisort" {„lieu de mémoire" oder „site of memory"). Ursprünglich wurde der Begriff auf spezifische Orte wie die Geburtshäuser berühmter Menschen bezogen, aber bald wurde er im etymologischen Sinn von topos interpretiert, d.h. als historischer „Gemeinplatz". Heute bedeutet „Gedächtnisort" jede Erscheinung — ob 13 Siehe Das Große Erbe (Graz/Wien 1962), S 1. Dieser Band ist Nummer 100 in der StiasnyBücherei.
Der österreichische Mensch" und „Gedächtnisorte"
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Name, Ort, Buch, Begriff, Slogan - , welche die Aufmerksamkeit eines Publikums auf einen Aspekt der Vergangenheit lenkt. Kurzum : Ein Gedächtnisort ist ein Gedächtnisthema, und in diesem Sinn ist das Schlagwort „der österreichische Mensch" jedenfalls ein Gedächtnisort. Weitere Gedächtnisorte sind berühmte Texte, wie Wildgans' Rede über Österreich, geflügelte Worte wie Musils Prägung „Kakanien" und große Lebensthemen wie Friedrich Heers „Kampf um die österreichische Identität". Hier stößt man auf ein Paradoxon: Da die meisten unserer Essayisten und die Mehrzahl ihrer Texte kaum bekannt sind, kann man ihre Beiträge nicht Gedächtnisorte nennen, denn nur weithin bekannte Exempel verdienen diesen Status. Heutzutage wissen alle Kulturinteressierten, wie sehr die Pflege von Gedächtnisorten in den letzten zwanzig Jahren in Europa Mode gekommen ist. Seit dem Erscheinen des von Pierre Nora konzipierten Meisterwerks haben sich Kulturhistoriker sowie Kulturpolitiker immer eifriger mit Gedächtnisorten befasst. 14 Vor ein paar Jahren erschien das dreibändige Sammelwerk Memoria Austriae (2004-2005), das dreißig Aufsätze zu verschiedensten Aspekten der österreichischen Gedächtnisthemen enthält. Diese Aufsätze behandeln nicht nur große historische Gestalten wie Mozart, Maria Theresia und Kardinal König, sondern Themen wie „Sporthelden", „die Gemütlichkeit" und „Kraftwerke". Die Autoren durchleuchten nicht nur den Stephansdom, die Donau und Salzburg-Mythen als Brennpunkte des kollektiven Gedächtnisses, sondern auch das Wiener Riesenrad, Mariazell und die allgemeine „landschaftliche Schönheit". Uberraschenderweise erhielt das Schlagwort „der österreichische Mensch" kein Kapitel ; ein weiteres Zeichen, dass dieses Wort außer Mode gekommen ist. In welchem Sinn denn darf man das Schlagwort „der österreichische Mensch" als einen Gedächtnisort interpretieren ? Wie die oben zitierten Kapitel aus Memoria Austriae andeuten, muss ein Gedächtnisort keine geografische Ortlichkeit sein. Obwohl ein Gedächtnisort meist eine bestimmte Lokalität ist, liegt die Hauptsache in den Gedächtnisinhalten, die um jenen Ort kreisen. Ein Gedächtnisort ist damit ein Thema bzw. ein Topos oder Gemeinplatz, der reiche Erinnerungen erweckt. In diesem Sinn funktionierte das Schlagwort der „österreichische Mensch" in den dreißiger Jahren als ein bekanntes Gedächtnisthema, das seit den fünfziger Jahren allmählich verblasste. Das Schlagwort erlebte nur eine kurze Periode der Blüte. Das Nazi-Regime hat den Diskurs über die österreichische Eigenart abgewürgt und nach einer Wiederbelebung 14 Pierre N O R A (Hg.), Les lieux de mémoire, 7 Bände (Paris: Gallimard 1984-1992).
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
von Wildgans' Rede über Österreich in den ersten Nachkriegsjahren spielte der Begriff „österreichischer Mensch" nur mehr eine geringe Rolle. Das kurze Aufblühen des Schlagwortes liefert auch einen Grund, warum dieses Buch besser von der „österreichischen Eigenart" als vom „österreichischen Menschen" sprechen soll. Letzterer Begriff genoss einen zu kurz währenden Ruhm, um als ein lebender Gedächtnisort zu gelten. Freilich bleibt das Schlagwort ein Gedächtnisori, ja buchstäblich ein GedächtnisKWi aus den dreißiger Jahren, das an den Diskurs zum Österreichertum jener Zeit erinnert. Es hat aber kaum mehr als ein allgemein bekannter Gedächtnisort funktioniert. Manche Argumente, die der Diskurs über die österreichische Eigenart zwischen 1 9 1 0 und 1967 aufgeworfen hat, betreffen einen spezifisch österreichischen Charaktertypus. Selbstverständlich kommen in Sammelbänden über österreichische Gedächtnisorte wie Memoria Austriae ähnliche Argumente zum Ausdruck. 15 In der Tat kreist die Diskussion heutzutage um die Auslegung von bestimmten Gedächtnisorten. Nicht von ungefähr gibt es im heutigen Osterreich eine Debatte über die Vermarktung der Gedächtnisorte. Der Historiker Moritz Csáky spricht sogar von „der Verortung von Gedächtnis" und tadelt die Monopolisierung der historischen Reflexion durch eine Besessenheit mit Gedächtnistopoi. 16 Die Sucht nach Gedächtnisorten verzerre die erzählende Funktion der Geschichtsforschung und privilegiere jenes bereits Bekannte, das mit einem erkennbaren Gedächtnisort konnotiert werde. Gedächtnisorte machen das bereits Gekannte noch mehr bekannt, aber per definitionem kann das noch nicht Erforschte nicht als ein Gedächtnisort gelten. Dieses Buch befasst sich jedenfalls mit einem Diskurs, der alles andere als allgemein bekannt ist. Rund die Hälfte der hier angeführten Texte hat niemals ein breites Publikum gefunden und nur eine kleine Anzahl dieser Autoren ist heute allgemein bekannt. Obwohl man diese vergessenen Texte nicht als Gedächtnisorte betrachten kann, enthalten ihre Themen eine Reihe einzelner Gedächtnistopoi. Unter ihnen spielen die Gestalten des Prinzen Eugen, der Kaiserin Maria Theresia und des Dramatikers Franz Grillparzer eine unübersehbare Rolle im Diskurs der Essayisten über die österreichische Eigenart. Allerdings wurden 15 Ein anderes Beispiel ist Ernst BRÜCKMÜLLER und Peter URBANITSCH (Hg.), ostarrichi Österreich 996—1996. Menschen, Mythen, Meilensteine [Osterreichische Länderausstellung 1996] (Horn: Verlag Berger 1996), vor allem die zahlreichen Beiträge von Peter Melichar, die sich mit Themen unserer Essayisten, wie das Phäakentum und das ewige Zuspätkommen des Habsburgerreichs, befassen. 16 Moritz CSÁKY, Die Verortung von Gedächtnis (Wien : Passagen Verlag 2001 )
Die Autoren und ihre Ideologie
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diese Leitbilder nur angeführt, um ihre Funktion als Verkörperung der österreichischen Eigenart darzustellen, nicht um ihre Funktion als Gedächtnisorte hervorzuheben.
D I E AUTOREN UND IHRE
IDEOLOGIE
Dieses Buch behandelt zwar die österreichische Kulturgeschichte, ist aber der Form nach eine Literaturgeschichte. Fast alle Essayisten waren vortreffliche Autoren und haben nicht nur die österreichische Kulturgeschichte beleuchtet oder, besser gesagt, entdeckt, sondern daneben auch verschiedene Typen des deutschsprachigen Essays perfektioniert. Vor der Einzeldarstellung der Texte lohnt es sich, diese literarischen Essays und ihre Standpunkte in mehrere Typen zu klassifizieren, damit sich ihre Beiträge zur Erfassung des Osterreichertums klarer einordnen lassen. Die beiden Geografen Hanslik und Hassinger sowie der Historiker Lhotsky bleiben hier außer Acht, da sie keine Berufsschriftsteller waren. Ich habe die literarischen Essayisten in fünf Kategorien eingereiht. Selbstverständlich fallen einige der Autoren in zwei oder drei der Kategorien, aber in der Regel gehört jeder Essayist vorwiegend bloß zu einer. Die fünfte Kategorie mit den Schriftstellern, die eine Synthese der Standpunkte versuchten, hat zwei Funktionen. Erstens beleuchtet sie, wieso ein paar dieser Autoren über die anderen hinausragen, insbesondere durch eine Zusammenschau der Standpunkte. Die wenigen Dichter, die erfolgreich eine literarische Synthese der Kategorien schufen, wurden, wie Hofmannsthal und Wildgans, zu den Klassikern der Essayistik zur österreichischen Eigenart. Zweitens haben jene Autoren, die eine politische Synthese der Kategorien hervorbrachten, eher die Ideologie anstatt die Phänomenologie gefördert. In diesem Zusammenhang interpretiere ich „Ideologie" als die einseitige Ausformung eines Standpunktes. Eine Ideologie der österreichischen Eigenart gebrauchte die Kategorien der Essayistik für politische Zwecke und nicht mehr für rein literarische. Die Ideologie des Osterreichertums beginnt demnach im Literarischen und endet im Politischen. Daher halte ich die Ideologie in diesem Bereich für ein Nebenprodukt, das aus der literarischen Auseinandersetzung mit dem Österreichertum entstand. Keiner der Essayisten hat in erster Linie politische Pamphlete schaffen wollen, sondern Beschreibungen und Typologien der Österreicher. Die Ideologie im Sinne der Verteidigung eines politischen
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
Standpunktes entstand erst als eine „Nebenwirkung", etwa bei Richard von Kralik, Paul Graf Thun-Hohenstein und Leopold von Andrian-Werburg. In den meisten Fällen schadet eine solche Ideologisierung aber kaum dem Interesse der dargestellten Einsichten. Die übrigen vier Kategorien ziehen die Standpunkte oder genauer gesagt die Geisteshaltungen der Autoren in Betracht. Was hat ein Schriftsteller bezweckt ? Was an Osterreich und den Österreichern hat ihn am meisten begeistert ? Was für ein Gefühl wollte er im Leser erwecken ? Welche seiner literarischen Begabungen wollte er einsetzen ? Ein Punkt sei hier hervorgehoben: Alle unsere Essayisten waren Männer. Der weibliche Standpunkt kommt hier nicht zu Wort, weil keine Frau in dieser Zeitperiode einen bedeutenden Essay zum Thema verfasst hat. Nur ein einziger Schriftsteller, Robert Müller, hat über die Rolle der österreichischen Frau als solche diskutiert. Der Diskurs um den „österreichischen Menschen" drehte sich um den „österreichischen Mann" als einen „gender-freien" Archetypen.
Ι . S A T I R I K E R N ÄUSSERN SICH IN G E D A N K E N S P I E L E N Ü B E R DIE ZWIESPÄLTE DES
ÖSTERREICHERTUMS
Eine bedeutende Gruppe dieser Schriftsteller, und darunter einige der intelligentesten, betrachtete die österreichische Eigenart als eine Herausforderung für das Denken, als einen Stimulus für Geistesübungen - mit einem Wort als eine Anregung zum Essayschreiben. Diese Autoren blickten aus einer Distanz auf die Phänomene der österreichischen Kultur, und aufgrund ihrer Erfindungsgabe schufen sie glänzende intellektuelle Gedankengebäude. Ihre Essays sprühen vor Geist und unterhalten den Leser mit unerhörten Zusammenhängen, Wortprägungen und neuen Ansichten. Sie schrieben die brillantesten Aufsätze und gelten mit Recht als Meister der Essayistik Als bestes Beispiel für diese Geistesspieler steht selbstverständlich Robert Musil, der auch in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften glänzende Essays eingeschoben hat. Ahnlich erscheinen die Essays von Musils Freund Robert Müller, und nicht von ungefähr hat Musil für seinen Gesinnungsgenossen den besten zeitgenössischen Nekrolog geschrieben. Beide haben sich auf spielerische Weise mit dem Österreichertum auseinandergesetzt. Ihnen fehlte jedes Pathos, und an dessen Stelle tritt eine Leichtigkeit, ein komischer Zug, ein Hang zur Satire. Bei Musil ist es manchmal schwer, den Ton eindeutig festzustellen, und in der Tat interpretierte er den Österreicher als Menschen, dessen
Die Autoren und ihre Ideologie
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Grundhaltung letztlich undefinierbar sei. Nach Musil ist der Österreicher ein Erfinder von neuen Geisteshaltungen, ein Erforscher der nicht untersuchten Lebensbereiche, mit einem Wort ein geborener Essayist. Wenn Müller mehrere Essays über das Osterreichertum geschrieben hätte, so hätte er sich wahrscheinlich dem Ton seines Freundes noch stärker angenähert. Ein dritter Vertreter dieser Kategorie ist der Münchner Freigeist Oskar Schmitz. Dieser schwer einzuordnende Essayist war merkwürdigerweise der erste, der das Wort „der österreichische Mensch" als Titel setzte (1924). Obwohl er auch eine Ideologie vertrat, diejenige der Paneuropa-Bewegung, legen sein Geistesreichtum und seine Gedankenspielerei es nahe, ihn in die Kategorie der Berufssatiriker einzureihen.
2. T Y P O L O G E N K O N S T R U I E R T E N A N A L Y T I S C H E S C H E M A S , UM SICH VOM PATHOS DER G E S C H I C H T E ZU DISTANZIEREN
Das Anliegen von Typologen ist es, menschliche Typen nach bestimmten Kriterien zu differenzieren. Die Vertreter dieser zweiten Kategorie ähneln der ersten, indem sie eine Distanz zu den Erscheinungen aufrechterhalten wollten. Sie schaffen Kategorien, konstruieren Schemas und arbeiten Begriffsnetze aus, damit der Leser ein Gedankengerüst erhält, durch das er die Österreicher besser versteht. Diese Autoren sahen die Herausforderung des Themas darin, dass man sich erst ein Begriffssystem ausdenken muss, bevor eine ernsthafte Diskussion der Einzelfalle beginnen kann. Durch die Strenge ihrer Methodik reagierten diese Systematiker gegen den so genannten „Feuilletonismus" (Otto Basil), der in Wien um 1900 vorherrschte. Die Typologen wollten Disziplin und klare Definitionen in den Diskurs einführen. Sie strebten nach Gründlichkeit und theoretischen Ernst und lehnten alle Arten von Spekulationen, Ahnungen und Gedankenspielen ab. Der Hauptvertreter dieser Richtung ist der heute vollkommen vergessene Landesschulinspektor Oskar Benda. Sein Büchlein Die österreichische Kulturidee in Staat und Erziehung (1936) ist zweifelsohne der fundierteste und strengste Essay über die österreichische Eigenart, der vor 1945 erschienen ist. Seine Methodologie beruht auf jener des deutschen Kulturhistorikers Karl Lamprecht, mit deren Hilfe er ein klar gegliedertes Begriffssystem entwickelte, das alles Österreichische neu beleuchten sollte. Die Strenge seiner Methodik übertrifft jene fast aller anderen in diesem Buch aufgeführten Essayisten. Leider ist Bendas Durchbruch weder vom Publikum noch von Gelehrten aufgenommen worden und bleibt bis heute
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
eine terra incognita. Benda schrieb 1931 eine der allerersten Kampfschriften gegen die Nazis und wurde daher 1938 sofort aus seinem Amt entlassen. Aus allen diesen Gründen verdiente dieser konstruktive Geist seine Rehabilitierung. Ein zweiter Typologe war der Meisteressayist Rudolf Kassner, ein enger Freund Rilkes und Hofmannsthals. Kassner widmete sein Lebenswerk der Problematik der Typologien. Die Richtung, die er nach Johann Kaspar Lavater Physiognomik nannte, befasst sich mit den Schwierigkeiten der Bezeichnung der menschlichen Typen schlechthin. Kassner schuf unter anderem Typologien der Methoden, die uns helfen können, neue Typologien herzustellen. Aufgrund dessen stand er jeder Typologie des Osterreichischen distanziert gegenüber. Hier begegnet man zwei Paradoxa: Erstens verfasste er als 83-Jähriger eine sehr eigentümliche Beschreibung der österreichischen Eigenart, denn seine Argumentation beruhte auf einer Analyse des McÄrösterreichischen bei seinem Freund Rainer Maria Rilke (1955). Zweitens hob Kassner als ein Merkmal Altösterreichs ausgerechnet seinen Überreichtum an menschlichen Typen hervor. Ein dritter Essayist, der sich mit der Bezeichnung der Typen befasst hat, war der symbolistische Dichter Richard Schaukai, der wie Kassner am Brünner Gymnasium seine Schulbildung erhielt. Während des Ersten Weltkriegs hat der Beamte mit Beschreibungen der österreichischen Züge experimentiert, um letzten Endes keine davon befriedigend zu finden. Distanziert und desillusioniert erkünstelte er ein Schema der österreichischen Charakterzüge, das keinen weiteren Einfluss ausübte.
3 . B E W U N D E R E R Ö S T E R R E I C H S PFLEGTEN E H R F U R C H T VOR S E I N E R LANGEN D A U E R
Der dritte Standpunkt ist eine Grundhaltung, die viel mehr auf Gefühlen als auf Denkmethoden beruht. Diese Essayisten waren dadurch motiviert, ihre Ehrfurcht vor der langsamen Entfaltung der Geschichte Österreichs zum Ausdruck zu bringen. Das Pathos der langen Vergangenheit Österreichs rührte sie, tröstete sie, stärkte sie. Durch die Betrachtung der langen Dauer des österreichischen Menschen sollten die Staatsbürger lernen, ihren Patriotismus zu pflegen und die Errungenschaften ihrer Landsleute zu bewundern. Wie eine Lebensquelle sollte die lange Dauer Österreichs die Staatsbürger der Ersten Republik erquicken. Die Untersuchenden der langen Dauer bemühten sich, die „Deutschösterreicher" von den „Reichsdeutschen" zu differenzieren. Sie sahen einen
Die Autoren und ihre Ideologie
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Hauptunterschied des „Donau-Alpenmenschen" (Müller) zu anderen deutschen Stämmen darin, dass seine Hochkultur länger ununterbrochen bestanden habe. Seit den Babenbergern hätten sich die „Deutschösterreicher" im mittleren Donautal vor allem durch ihre Kontinuität ausgezeichnet. Diese Geschichtsenthusiasten wirkten alles andere als satirisch und spielerisch wie die erste Gruppe und auch weniger distanziert und diszipliniert als die zweite Gruppe. Sie wollten in den Lesern Begeisterung wecken, nicht Gedankenspiele. Der Hinweis auf die Anziehungskraft der langen Dauer Österreichs bleibt ein Verdienst dieser Schriftsteller. Mit Hofmannsthal und Bahr haben sie die Kulturgeschichte als den Schwerpunkt der österreichischen Eigenart salonfähig gemacht. Sie äußerten sich in zwei Modalitäten, einer positiven oder heiteren bzw. einer tragischen oder düsteren. Als Hauptvertreter der ersten Gruppe muss man Hugo von Hofmannsthal ansehen, der zwischen 1 9 1 4 und 1 9 2 1 ungefähr zehn Essays über die lange Dauer der Kultur im Donauraum schrieb. Er legte die „Traditionen" der Literatur, der Politik, des Kunstgewerbes und der allgemeinen Lebenshaltung der Deutschösterreicher aus. Da er sich auch als Hauptvertreter der Synthese zwischen den vier Standpunkten auszeichnete, wird sein Beitrag unten beim fünften Punkt besprochen. Hugo von Hofmannsthal erscheint daher als der Bejaher der kulturellen Traditionen in mehr Kontexten und Stellen dieses Buches als irgendein anderer Essayist. Hofmannsthals Engagement für die lange Dauer des Österreichertums hat mehrere Nachfolger inspiriert. Der streitbarste war wohl Hermann Bahr, der einflussreichste Anton Wildgans, der subtilste Paul Graf Thun-Hohenstein und der herbste Leopold von Andrian-Werburg. Um 1 9 1 5 erwies sich auch Richard von Kralik als ein Gesinnungsgenosse und nach 1945 glänzte Friedrich Heer als sowohl der gelehrteste als auch der komplizierteste Vertreter dieser Richtung. Kralik trieb die Geisteshaltung bis zur Selbstkarikatur, während Heer alle ihre Nuancen durchlebt und erlitten hat. In der zweiten Modalität stand das Negative, ja das Tragische am österreichischen Menschen im Vordergrund. Merkwürdigerweise waren es zwei in Prag geborene Juden, die die tragische Vision der langen Dauer am schärfsten formulierten. Am deutlichsten fand die Tragödie des österreichischen Menschen bei dem wenig bekannten Philosophen Hans Prager ihren Ausdruck. Der Schwager von Felix Braun hatte sich in Dostojewski vertieft, und angeregt durch dessen Ideen entwickelte er eine russophile Anschauung der Geschichte des Habsburgerreichs.
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1936 hat der um drei Jahre jüngere Franz Werfel ein weniger tragisches Thema aus der Entwicklung der Donaumonarchie betont, und zwar dasjenige des sacrificium nationis. Die k.k. Beamten und Offiziere mussten sich entwurzeln, d.h. ihre von Geburt an bestehenden Verbindungen zu einem Volk aufopfern, um zu „gelernten Österreichern" zu werden. Dieser Vorgang hat laut Werfel die Lebenskräfte der Beamten und der Staatsmänner Altösterreichs ausgehöhlt und als erzwungene Verleugnung der ethnischen Identität gerade für das Staatsvolk der Deutschösterreicher tragische Folgen nach sich gezogen. Wie Hassinger und Lhotsky konstatierten, verdankte die habsburgische Monarchie gerade diesen „gelernten Österreichern" ihre lange Dauer, die nach 1900 nicht mehr fähig gewesen seien, das Reich zusammenzuhalten. Werfel hat den tragischen Niedergang der Gültigkeit des Hassinger-Lhotsky-Paradigmas bedauert, während Prager sie prinzipiell bezweifelte. Diesbezüglich erhebt sich die Frage, inwieweit andere Interpreten der langen Dauer ebenfalls eine tragische Auffassung vertreten haben. Der depressive Leopold von Andrian-Werburg frönte einer tragischen Weltanschauung und auch der Typologe Richard Schaukai stellte eine düstere Vision des österreichischen Wesens dar. Vor allem kommt hier aber Friedrich Heer in Betracht. Als seine Karriere voranschritt, neigte er immer mehr einer tragischen Sicht der Dinge zu. Im Lauf der Jahrzehnte wurden seine Deutungen der langen Dauer Österreichs immer bedrückter und sein letztes Buch, Der Kampf um die österreichische Identität (1981), wirkt sogar ausgesprochen tragisch. Obwohl er den Essay Hans Pragers (1928) nicht erwähnte und wahrscheinlich gar nicht kannte, hätte der späte Heer diesen russophilen Autor als kongenial empfunden, denn beide trauerten um die versäumten Gelegenheiten der habsburgischen Geschichte. Letzten Endes glaubte Friedrich Heer nicht mehr an die künftige Erlösung Österreichs durch jene Art „theresianische Menschen", deren Huldigung er einst mit Hugo von Hofmannsthal geteilt hatte. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war der theresianische Mensch, der Mensch der Konzilianz, nicht mehr imstande, die Gegensätze der Zweiten Republik zu versöhnen.
4. M E I S T E R DER G A T T U N G DER „HISTORISCHEN E V O Z I E R T E N DAS P A T H O S D E R
LANDSCHAFT"
GEDÄCHTNISORTE
Auf den ersten Blick scheint der vierte Standpunkt dem dritten eng verbunden, ja fast mit ihm identisch. Einige begabte Schriftsteller haben die lange Dauer Österreichs durch Begegnungen mit seinen Landschaften erlebt. Durch deren
Die Autoren und ihre Ideologie
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Beschreibung fanden sie zur Beschäftigung mit der Kulturgeschichte und Formulierung der österreichischen Eigenart. Diese Faszination fußte auf der Tradition einer literarischen Gattung, der so genannten „historischen Landschaft". Diese entstand in erster Linie unter Schriftstellern, die sich auf Reisen in Italien aufhielten, exemplarisch bei Ferdinand Gregorovius in den fünf Bänden seiner Wanderjahre in Italien (1856-1880). Andere Ausländer in Italien, die historische Landschaften schufen, waren Viktor Hehn, Hippolyte Taine und John Ruskin. Beinahe kein österreichischer Schriftsteller ist im Zuge dieser literarischen Begegnung nach Italien gewandert, selbst der italophile Sigmund Freud nicht. Diese Schriftsteller verwoben Darstellungen der politischen und kulturellen Geschichte mit Beschreibungen von Kunstwerken, Sehenswürdigkeiten und Gedächtnisorten Italiens. Die Gattung der historischen Landschaft machte dem gebildeten Leser eine ortsbezogene Synthese der Kulturgeschichte zugänglich, indem der Autor die lange Dauer der menschlichen Tätigkeit innerhalb einer bestimmten Landschaft in Szene setzte. Diese Gattung hat die Kulturgeschichte Italiens durch eine Zusammenschau seiner Gedächtnisorte popularisiert und machte den Begriff der langen Dauer der Zivilisation, vor allem in Italien, zu einem Gemeingut aller Bildungsbürger. Gerade an dieser Art von Geschichtsschreibung mangelte in der Donaumonarchie. Der in Südtirol geborene und in München tätige Orientalist Jakob Philipp Fallmerayer ( 1 7 9 0 - 1 8 6 1 ) hat die Gattung in seinen Fragmenten aus dem Orient (1845) perfektioniert, aber sich nie mit dem Habsburgerreich befasst. Obwohl die Gattung der historischen Landschaft gut für eine Darstellung Österreich geeignet war, gibt es aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige Beispiele dieser literarischen Form. Zwar tauchen in den Landschaftskapiteln des „Kronprinzenwerks" Vorgänger dafür auf, d.h. in Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild {1885—1902), aber diese vom Kronprinzen Rudolf angeregte Bücherreihe war zu umfangreich, um weithin benutzt zu werden. 17 Keiner unserer Essayisten hat sie je auch nur 17 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, 24 Bde (Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei 1885-1902). Die Statistik dieser landeskundlichen Enzyklopädie ist imponierend. Insgesamt haben 432 Mitarbeiter 587 Beiträge auf fast 13.000 Textseiten verfasst. Die Bände wurden nach Kronländern geordnet und erschienen auch in Ungarisch. Naturgeschichte, Volkskunde und eine positivistische Art von Ethnografie bzw. Kulturgeschichte kommen häufig vor. Es würde sich lohnen zu untersuchen, inwieweit einige Beiträge die Themen der späteren Essayistik über die österreichische Eigenart vorwegnahmen. Was die Pflanzengeografie
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Einleitung. Essayisten auf der Suche nach dem „österreichischen Menschen"
erwähnt. Es gehört zu den unerforschten Fragen der österreichischen Eigenart, warum es im 19. Jahrhundert keine Schriftsteller gab, die die lange Dauer Wiens, Prags oder Salzburgs durch ihre Gedächtnisorte verfolgten. Erst der katholische Ideologe von Kralik entdeckte dieses Potenzial in seinem Büchlein Das unbekannte Osterreich (1917). Der Hauptvertreter der Gattung der historischen Landschaft in Osterreich war der Dichter Felix Braun. In einem Aufsatz vom Jahr 1928 evozierte der klassizistische Dramatiker meisterhaft die lange Dauer der Donau- und Alpenlandschaften. Leider sind nur die wenigsten Autoren seinem Beispiel gefolgt. In den Essays Hofmannsthals, Schaukais, Müllers, Musils, Bahrs, und Kassners sucht man vergeblich nach Beschreibungen von Landschaften. Auch Friedrich Heer war in dieser Gattung nicht bewandert. Wildgans hat zwar in seinem Erinnerungsbuch Musik der Kindheit (1928) liebevoll die Vorstädte Wiens geschildert, aber nur in Bezug auf seine eigenen Erlebnisse und nicht in Bezug auf die lange Dauer dieser Orte. Es mag jedoch sein, dass diese Beschäftigung den Dichter kurze Zeit später dazu veranlasste, den Entwurf des österreichischen Menschen zusammenzustellen. Werfel hat in seinen Novellen der dreißiger Jahre diverse Landschaften, vor allem im Dreiländereck am Neusiedlersee, skizziert, aber baute darauf keine Vision Österreichs auf. Leider wurde daher eine umfassende Darstellung der Gedächtnisorte der Donaumonarchie in der literarischen Gattung der historischen Landschaft nicht verwirklicht. Allerdings hat ein vergessener Wahlösterreicher die Gattung der historischen Landschaft karikiert, indem er die Landschaften des Landes in den Himmel erhob und über alle Maßen lobte. Der deutsche Dichter Ernst Lissauer verfasste einen Lobgesang auf die „Seelengemeinschaft" der Ersten Republik in seiner Liebeserklärung Glück in Österreich (1925). Leider schließt der Mangel an Kulturgeschichte sowie an Gedächtnisorten diese Liebeserklärung aus der Gattung der historischen Landschaft aus. Lissauers Hochlied klingt beinahe operettenhaft im Vergleich zu den ernsten Tönen der von Gregorovius komponierten Opern.
betrifft, hat das Kronprinzenwerk „die Florengrenzen zwischen West und Ost — hie baltische, hie pontische Flora - mitten durch die Wiener Landschaft" gehen lassen. Siehe O t t o BASIL, „Panorama vom Untergang Kakaniens", in: Das Große Erbe (Graz/Wien: Stiasny 1962), S 92, Anm. 10. Vgl. den Abschnitt weiter unten über Erwin Hanslik.
Die Autoren und ihre Ideologie
5. V E R S U C H E EINER S Y N T H E S E DER ANDEREN VIER
43 STANDPUNKTE
Das weitgehende Fehlen der Gattung der historischen Landschaft beraubte die Autoren der Ersten Republik der Chance, die Kulturgeschichte zu popularisieren. Wie sonst hätten die Essayisten ihre Ansichten zur Eigenart Österreichs synthetisieren können? Die meisten betrieben einen oder höchstens zwei der oben genannten Standpunkte. Die Gedankenspieler Musil und Müller haben alles Erhebende vermieden, die Typologen Benda und Kassner haben die Landschaften vernachlässigt, die Verfechter der langen Dauer haben die Satire sowie die strenge Typologie abgelehnt und die wenigen Meister der historischen Landschaftsschilderung, wie Kralik und Braun, waren alles andere als Satiriker oder Typologen. Wer hat diese vier Geisteshaltungen vereint? Wer hat die Huldigung der langen Dauer durch die Satire gewürzt? Wer hat die Typologie durch das Erkennen der historischen Ausnahmen vertieft? Die spärlichen Antworten auf diese Fragen beweisen eine gewisse Armut in der Literatur über die österreichische Eigenart und insbesondere der Kontrast zur entsprechenden „reichsdeutschen" Literatur ist deprimierend. So grundunterschiedliche Deuter der deutschen Eigenart wie Johann Gottfried Herder und Friedrich Schiller, Leopold von Ranke und Wilhelm Heinrich Riehl, Karl Lamprecht und Friedrich Meinecke haben alle vier Geisteshaltungen in sich vereint. Sie verstanden es, in ihren Schriften Huldigung und Kritik, Typologie und Satire mühelos miteinander in Einklang zu bringen. In Österreich hat im Grunde nur Hugo von Hofmannsthal die vier Gesinnungen zumindest teilweise vertreten. Seine Grundhaltung war jene der Huldigung der langen Dauer, aber er glänzte auch in der Formulierung von Typologien und vor allem nach 1918 versuchte er sich auch in satirischer Kritik; nur die Form der historischen Landschaft hat er nicht versucht. Zumindest einmal in seinem Leben hat Anton Wildgans in der Rede über Österreich (1930) die vier Geisteshaltungen überbrückt. Seine Huldigung der langen Dauer ging mit einem gewissen Geschick in der Typologie zusammen, und sein Trauerlied auf den Verlust der Monarchie enthielt auch Kritik, wenn auch keine Satiren über die Schwächen ihrer Staatsmänner. Zweifelsohne verdankte dieser Text sein dauerhaftes Interesse nicht zuletzt dieser Kombination von drei der vier Geisteshaltungen. Paul Graf Thun-Hohenstein hat in seinem Büchlein Österreichische Lebensform (1937) ein ähnliches Resümee niedergelegt. Der Blick auf die lange Dauer ging mit Kritik und Bruchstücken einer Typologie Hand in Hand. Auch den Landschaften wird aus der Vogelschau Referenz erwiesen. Diese seltene Synthese macht das Büchlein umso lesenswerter.
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Und wie steht es mit dem Vielschreiber Hermann Bahr? Er hat die lange Dauer ins Auge gefasst und auch Typologien, ja sogar zu viele davon, aufgestellt. Gewiss hat er auch Landschaften als Beispiele für seine Thesen herangezogen und nicht zuletzt ausgiebig scharfe Kritik an den k.k. Beamten geübt. Leider muss man Bahrs Gesamtbeitrag dennoch eher negativ beurteilen. Meines Erachtens hat Hermann Bahr auf der Suche nach einer Synthese versagt, weil seine Argumente zu oft auseinander driften und nie in eine dauerhafte Zusammenfassung einmünden. Sein Vorschlag, das Barock als die österreichische Synthese schlechthin zu betrachten, wirkte so als eine Ausrede für das Versäumnis einer gründlicheren Untersuchung der Kulturgeschichte Österreichs. 18 In der Tat zeigt unsere Darstellung des Diskurses zwischen 1 9 1 0 und 1 9 6 7 vielmehr das Gegenteil der Bahr'schen These über die zentrale Stellung des Barocks auf. Es gab zu viele andere Visionen der Sonderart des österreichischen Menschen, um eine einseitige Hervorhebung des Barocks zu rechtfertigen. Wenn es überhaupt eine Quintessenz der Entwürfe des Osterreichertums gibt, so besteht sie in einer Synopse verschiedener Sichtweisen, etwa einer satirischen, einer typologischen, einer kulturhistorischen und einer landschaftsbezogenen. Im Grunde hat vor 1938 keiner der Essayisten eine derartige Vision formuliert, und am allerwenigsten vermutlich Hermann Bahr. Er schrieb zu Vieles und erwies sich als zu verstreut, zu erregbar und zu unsystematisch, um je eine stichhaltige Zusammenfassung zu erreichen. Es bleibt die Frage offen, wer sich zwischen 1945 und 1 9 7 0 einer solchen umfassenden Vision am ehesten genähert hat. Friedrich Heer hat sich gewiss am unermüdlichsten darum bemüht. In der Praxis der Quellenauffrischung (ressourcement) hat er neue Pfade beschritten und zahlreiche Möglichkeiten erforscht. Leider erhebt seine wachsende Desillusionierung gegenüber dem Phänomen des Osterreichertums die Frage, ob sich jemand ohne ein wachsendes Gefühl von Frustration diesem Stoff ein Leben lang zu widmen vermag. Es erhebt sich auch die Frage, was das Deprimierende in der Entwicklung Österreichs seit dem 1 1 . Jahrhundert war. Tragiker wie Hans Prager und Franz Werfel haben diesen Aspekt vielleicht überbetont, und ein alles umfassender Geist wie Hofmannsthal hat das Tragische durch die Vision des theresianischen 18 Es ist zu bedauern, dass der in Wien geborene Romanist Leo Spitzer (1887-1960) nie seine Interpretation des spanischen Barocks auf Osterreich anwendete. Insbesondere sein Vortrag „The Spanish Baroque" [ 1944] hätte Friedrich Heers Begriff der humanitas austriaca glänzend ergänzt. Siehe SPITZER, Representative Essays (Stanford/CA: Stanford University Press 1988), S 125-139.
Die Autoren u n d ihre Ideologie
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Gleichgewichts zu sublimieren versucht. In dieser Sublimierungsgeste sind ihm Anton Wildgans und Paul Graf Thun-Hohenstein nachgefolgt. Die Satiriker hingegen haben das Tragische ins Komische umgewandelt, eine Prozedur, die für die untragbare Last dieses Materials spricht. Was Musil oder Müller amüsierte, hat Prager und Werfel eher betroffen gemacht, und dasselbe historische Material hat Benda und Kassner zu einer distanzierten Betrachtung der Typen angeregt. Letzten Endes kam es darauf an, welches Temperament oder welche Geisteshaltung jeder einzelne Essayist mitbrachte. Die gleichen Tatbestände sahen die Satiriker satirisch, die Typologen klinisch, die Erbauer der langen Dauer erhaben und die Landschaftsmaler ortsbezogen. Mit Hilfe welcher dieser Anschauungsweisen ist die österreichische Geschichte am tiefsten zu erkennen? Meine Wahl bevorzugt die Verwendung der Typologie, weil ich unter allen unseren Essayisten den Typologen am nächsten verwandt bin. Im Grunde will das vorliegende Buch eine Typologie der Essayisten und ihrer Standpunkte darlegen. Ich bin weder ein Satiriker noch ein Schöpfer oder Fachmann der Gedächtnisorte, sondern ein Klassifizierer dieser und anderer Geisteshaltungen und schließe mich daher mit Benda und Kassner der Methodologie der Typenschilderung an.
II. Die ersten Formulierungen 1 9 1 0 - 1 9 1 4
Dieses Kapitel stellt drei Hauptvertreter des Diskurses zum Österreichertum vor. Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr und Robert Musil sind die diejenigen der in diesem Buch behandelten fünfundzwanzig Schriftsteller, die in mehreren Abschnitten eine Rolle spielen. Ihre ersten Versuche, Österreichs Einmaligkeit zu definieren, kündigten bereits vor dem Ersten Weltkrieg zentrale Motive ihres Lebenswerks an. Im Fall von Musils Essay „Politik in Österreich" nahm der Autor eine ganze Reihe seiner später bevorzugten Themen vorweg. Hofmannsthal und Bahr hingegen ließen noch kaum erahnen, welche Bewunderung sie während des Krieges für Österreich entwickeln würden. Ein Hauptzweck dieses Kapitels ist es, zu unterstreichen, in welch hohem Maße vor 1 9 1 4 die Diskussion über die Eigenart Österreichs noch in ihren Anfängen stand. Der Diskurs zum Österreichertum begann eigentlich erst mit „dem großen Anlaß" (Hermann Bahr) des Ersten Weltkriegs. Dementsprechend betont dieser Abschnitt den geringen Stellenwert des Diskurses vor dieser Zäsur sowie die Beschränkungen der ersten Entwürfe der Eigenart Österreichs.
„ D E R D I C H T E R ALS H E R O L D S E I N E R HOFMANNSTHALS
EPOCHE":
GRUNDSÄTZE
Hugo von HOFMANNSTHAL (1874-1929), „Der Dichter und diese Zeit" (März 1907 in Die Neue Rundschau) in: Reden undAußätze, 1 (1979), S 54-83. Dieser für ein deutsches Publikum geschriebene Vortrag bietet einen Ausgangspunkt für das Verständnis jener Essays über das Österreichertum, die mit Hermann Bahr 1 9 1 o ihren Anfang nahmen und mit dem Historiker Alphons Lhotsky 1967 zu Ende gingen. Fast ein Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg kündigte ein davon noch nichts ahnender Hofmannsthal die künftige Aufgabe des Essayisten in der Kriegszeit an. Dieser sollte zu „dem beredten, dem bewussten Herold seiner Epoche" werden. (S 74) Gerade weil die österreichischen Literaten der Jahr-
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hundertwende diese Rolle eindeutig ablehnten, ist Hofmannsthals Aufforderung zu dieser verpassten Sendung umso relevanter. Die selbstbezogenen Kulturträger der Vorkriegszeit mussten ihr Selbstverständnis grundlegend ändern, ehe sie das spezifisch Osterreichische auszudeuten begannen. Es ist offen, ob und wann es ohne die vom Krieg ausgelösten Veränderungen der (Selbst-)Wahrnehmung zu einem Diskurs des „österreichischen Menschen" gekommen wäre. In diesem berühmt gewordenen Vortrag schildert Hofmannsthal die Zielsetzung seiner späteren Essays über das Österreichertum, und damit zugleich jene von Dichtern wie Bahr, Müller und Schaukai. Es war ihre Aufgabe, die „geheimnisvollste Ausgeburt der Zeit", ihr „seismographisches Gebilde" symbolhaft zu erfassen. (S 81) Nur ein Dichter verstünde es, die „verknüpfenden Gefühle, die Weltgefiihle, die Gedankengefühle" eines Volkes zu verspüren und in Worten auszudrücken. (S 65) In diesem Vortrag formuliert Hofmannsthal seine weihevolle Vision von der Sendung eines Dichters in einer schwierigen Zeit. Alle seine späteren Beiträge zum Diskurs wiesen diesen feierlichen Ton auf, und nur wenige andere Autoren wie Kralik, Wildgans und Andrian-Werburg drückten sich in einem ähnlichen Stil aus. Hofmannsthal verkörpert mit diesem Habitus gewissermaßen den großen Propheten unter diesen Essayisten. Selbstbewusst trifft der Vortragende eine Vorhersage, die sich allerdings nach dem Kriegsausbruch als falsch erwies : „Niemals wieder wird eine erwachte Zeit von den Dichtern [...] ihren erschöpfenden rhetorischen Ausdruck, ihre in begrifflichen Formeln gezogene Summe verlangen." (S 76) Denn ausgerechnet eine derart gezogene „Summe" verlangte die „erwachte Zeit" des Ersten Weltkriegs von den Essayisten Österreichs und Deutschlands, vor allem eine Summe über die Eigenart ihres Landes. Statt einer „Atomisierung, Zersetzung des Menschlichen in seine Elemente" wollte der Dichter ab 1 9 1 4 eine Würdigung der Rolle des Menschlichen in Osterreich zur Darstellung bringen. (S 73) Z u diesem Zweck sollte er seine Fähigkeit ausnützen, „alle Dinge zusammenzuführen" und „die dumpfen Schmerzen der Zeit" zu reinigen, denn unter den Dichtern „wird alles zum Klang und alle Klänge verbinden sich". (S 7 2 73) Hofmannsthal betonte, dass ein Wissenschaftler keine Synthese seiner Zeit schaffen könne, weil das Streben, sein Werk „zur Mathematik emporzuläutern", andere Bemühungen notwendigerweise überschattet. Nicht der Wissenschaftler und nicht der Gelehrte, sondern nur der Dichter vermöchte es, „unter dem ungeheuerem Druck des ganzen angesammelten Daseins [zu] leben" und dadurch das gesamte Leben seiner Zeit zu verstehen. (S 65) Als Interpret seiner Zeit bleibe er seinen Zeitgenossen ein unentbehrlicher Wegweiser.
„Der Dichter als Herold seiner Epoche": Hofmannsthals Grundsätze
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In noch spezifischerer Weise nimmt Hofmannsthal 1907 seine Kriegsessays und gewissermaßen seine ganzes Lebenswerk vorweg: Prophetisch behauptet er, dass der Dichter in einer besonderen Beziehung zu den großen Toten stehe. Sein „Hirn ist der einzige Ort, wo sie [die Toten] für ein Zeitatom nochmals leben dürfen [...] wo ihnen das grenzenlose Glück des Lebendigen zuteil wird [...]." (S 69) Nicht zum Priester, nicht zum Heiligen, nicht zum Psychologen und nicht zum Historiker, sondern nur zum Dichter kehrten die großen Toten auf Besuch zurück, nur bei ihm fühlten sie sich zu Hause. Die Dichter sind für Hofmannsthal die einzigen Kulturschaffenden, die dazu berechtigt sind, die Quellenauffrischung (ressourcement) - um einen Begriff von Friedrich Heer zu verwenden - durchzuführen. Nach der Definition des französischen Kirchenhistorikers Yves Congar bedeutet dieses Wort die Wiederentdeckung und Wiederbelebung einer bestimmten Denktradition. Der Praktiker des Ressourcement soll den Strom der Zeit hinauffahren, um das Quellgebiet der Geistesströmungen zu besuchen, alte Schätze aus ihm zu holen und wieder unter die Lebenden zu bringen. Diese Tätigkeit verlangt den ständigen Kontakt mit den Toten, und nach Hofmannsthal stehen die großen Toten nur dem Dichter in dieser Weise zur Verfügung. Begeistert haben einige unserer Essayisten diese Rolle der Geisterseher auf sich genommen, vor allem Richard von Kralik, Felix Braun und Rudolf Kassner. Mit Ausnahme von Kralik betrachtete sich keiner von ihnen als Historiker von Beruf. Rückblickend würden wir Postmodernen eher sagen, dass diese Autoren es verstanden haben, eine Art Kulturgeschichte zu schaffen. Die Aufgabe, die Toten wieder ins Leben heraufzubeschwören, die Hofmannsthal den Dichtern vorbehalten wollte, schreiben wir heute ohne weiteres den Kulturhistorikern zu. Ein Merkmal der Osterreichinterpreten vor 1 9 3 8 war aber die Tatsache, dass sie sich sehr selten auf das Schlüsselwort „Kulturgeschichte" beriefen. Es mag den Leser verwundern, dass unter unseren Essayisten erst Friedrich Heer sich von seiner Berufung her als Kulturhistoriker verstand. Er war der erste unter ihnen, der den Umgang mit den vergangenen Generationen gewissermaßen professionell pflegte. Die anderen strebten danach, die Toten durch poetische Mittel dem Leser zur Schau zu stellen, und nicht allen ist dieses heikle Unternehmen gelungen. In diesem Sinn entwickelte sich der Diskurs des Österreichertums allmählich vom Prophetentum des Dichters um 1 9 1 0 zum Beruf des Kulturhistorikers um i 9 6 0 . M i t anderen Worten, das Fach der Kulturgeschichte Österreichs ist parallel zu unserer Essayistik entstanden.
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Die ersten Formulierungen 1 9 1 0 - 1 9 1 4
Zu Beginn seines Vortrags erwähnte Hofmannsthal einen englischen Begriff, der die Leitperspektive seiner künftigen Essays zum Ausdruck bringt : „Man of Genius". (S 58) Im Gegensatz zum deutschen Wort „Genie" trifft das englische, wenigstens seit dem 18. Jahrhundert, auf „große Geister" zu, die in allen Lebensbereichen tätig sind und nicht nur in den Künsten. Sowohl Lord Nelson, Robert Clive und Pitt den Jüngeren als auch die Dichter John Milton, Samuel Johnson und Lord Byron feierte Hofmannsthal als „Men of Genius". Denn solche Männer verkörperten das Allerbeste ihrer Zeit und ihrer Nation. Ein Man of Genius „muss eine Gestalt sein, aus der etwas Außerordentliches hervorblitzt, etwas Unvergleichliches von Kühnheit, Glück, von Geisteskraft oder von Hingabe". (S 58) Genau diesen Begriff verwendete Hofmannsthal später in seinen Kriegsessays, um das Osterreichertum zu beschreiben: Aus dem Prinzen Eugen sei etwas Unvergleichliches an Kühnheit und Geisteskraft „hervorgeblitzt", aus Maria Theresia etwas Einmaliges an Güte und Selbsthingabe und aus Franz Grillparzer etwas Außerordentliches an Spannung und Komplexität. In den Begabungen dieser „Men of Genius", die nicht vorwiegend Dichter waren, glaubte der Essayist, das Osterreichische schlechthin zu erblicken. Das spezifisch Osterreichische sei daher nicht nur in den Künstlern zu entdecken, sondern in jeder Art von „Genius" vorhanden. Noch kühner drückte Hofmannsthal seinen Glauben an die Führerschaft der schöpferischsten Menschen aus : Alles Literarische, ob Wertvolles oder Triviales, gehe aus „den wenigen großen Büchern der Weltliteratur" hervor. (S 63) Die Schöpfer der Meisterwerke einer Sprache hätten alle späteren Schriftsteller und Leser in ihrem Sog mitgezogen. Die Magie der größten Autoren halte sozusagen die Welt der Bücher zusammen, und in jedem Stück Literatur versuche ein Leser, einen Hauch jener Magie wieder zurückzubringen, die die größten Schöpfer kreiert hätten. Ein ähnlicher Elitarismus liegt Hofmannsthals Verständnis der „Men of Genius" zugrunde. Alles Wertvolle in einer Zivilisation werde durch die von ihnen gegründeten Institutionen weitervererbt, und dementsprechend hat er als Kriegsessayist ihre schöpferische Rolle für Osterreich hervorgehoben : Alles Österreichische sei von größten Geistern des Landes geschaffen und gestaltet worden, und nur durch ihre Beispiele könnten die Spätgeborenen das Osterreichertum begreifen. Freilich ist das ist eine sehr literarische Art und Weise, das Funktionieren von Kultur zu entwerfen : Alles Wertvolle in einer Kultur leite sich von wenigen Geistesgrößen und einer geringen Anzahl an Meisterwerken ab. Alle übrigen Kulturleistungen seien derivativ, nachgeahmt, zweitrangig. Denn nur die we-
Max Meli und das Defizit der Selbstbeschreibung vor 1914
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nigsten Menschen seien wirklich kreativ, alle anderen sind in Hofmannsthais feudaler Sichtweise als Gefolgschaft aufzufassen wie treue Diener eines Herrn. Die Vermittler, die Schöpfer der Institutionen und die Arbeiter spielten demnach in dieser Sicht nur eine kulturelle Nebenrolle. Wieder einmal lässt sich konstatieren, wie wenig das Verständnis der Kulturgeschichte in Osterreich vor 1 9 1 4 entwickelt war und auch lange danach blieb. Zu diesem Vorstellungskomplex passt der Begriff eines österreichischen Charaktertypus hervorragend. Denn der „österreichische Mensch" erweist sich dieser Auffassung nach als das Destillat, als Quintessenz jener „Men of Genius". Wie wir sehen werden, ist dieser bei Musil, Präger und Leb jedoch alles andere als die Verkörperung der Errungenschaften einiger höchst kreativer Personen. Nicht alle unsere Essayisten dachten so elitär wie Hofmannsthal, aber sie hatten dennoch Schwierigkeiten, die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit in ihr Konzept aufzunehmen. Jeder von ihnen hielt den einen oder den anderen Teil des Volkes fair modellhaft, fast keiner sah das ganze österreichische Volk als den Träger der präsumtiven Einmaligkeit der Kultur des Landes. Bis in die 1970er Jahre wurde der „österreichische Mensch" als Destillat ausgewählter Sektoren der Bevölkerung imaginiert. Die Essayisten trafen in der Regel keine Aussagen über die „unteren Klassen" der Gesellschaft ebenso wenig wie über die Bauern. Nur ausnahmsweise gingen Vertreter dieses Elitarismus, wie Hofmannsthal und Kralik, davon aus, dass das gesamte Volk die Geisteshaltungen der „Men of Genius" widerspiegle. Mit Ausnahme von Oskar Benda blieb auch eine präzise Analyse der Klassenunterschiede in den Erörterungen des „österreichischen Menschen" aus.
M A X M E L L U N D DAS D E F I Z I T DER VOR
SELBSTBESCHREIBUNG
1914
Max MELL (1882-1971) (Hg.), Österreichische Zeiten und Charaktere. Ausgewählte Bruchstücke aus österreichischen Selbstbiographien (Wien/Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag 1912). Der Novellist und spätere Dramatiker Max Meli ist in diesem Kontext nicht von Interesse, weil er der österreichischen Eigenart nachgegangen wäre, sondern im Gegenteil die Gelegenheit versäumt hat, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Er personifizierte den Mangel an Verständnis fïir die Kulturgeschichte und an
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Interesse für die Frage nach der Einmaligkeit Österreichs. In seinem dreißigsten Lebensjahr gab dieser Freund Hofmannsthals eine Sammlung von Texten unter dem verheißungsvollen Titel Österreichische Zeiten und Charaktere. Ausgewählte Bruchstücke aus österreichischen Selbstbiographien (1912) heraus. Der Titel lässt eine Interpretation des österreichischen Charakters schlechthin erwarten, aber nichts Derartiges wird in der Einleitung des rund 600 Seiten starken Buches erwähnt. Statt von einem „Volkscharakter" zu sprechen, wählte der Erzähler Meli ausschließlich jene Lebensaufzeichnungen aus, die das Herz enthüllen, den „Grundriss eines Wesens auf dem Boden seiner Zeit" entwerfen und das „ausgelebte Schicksal" wie in einem Schauspiel darstellen. (S iii) Am klarsten beleuchten solche Herzensergießungen jene Zeitpunkte, wo man „nicht reflektiert, sondern handelt". Der Herausgeber war bestrebt, das Dramatische und nicht das Charakteristische an diesen Lebenszeugnissen hervorzuheben, um „den Pulsschlag des Einzelnen fühlbar" zu machen. (S iii-iv) Er stellt Individuen und nicht Kultur ins Rampenlicht, aber die Frage, ob diese Individuen, darunter einige „Men of Genius", die Eigenart Österreichs sowohl verkörpert als auch mitgestaltet hätten, interessiert Meli nicht weiter. Merkwürdigerweise verspürte der künftige Dramatiker von Mysterienspielen keinen Impetus, die geschichtlichen Hintergründe seiner dreizehn Autobiographien auszuleuchten. So gesehen, lehren diese „interessanten Charaktere, welche die österreichischen Länder hervorgebracht haben", den Leser nichts über den Charakter der Bevölkerung dieser Länder. (S v) Nach Mells Auffassung sprechen die ausgewählten Autoren seines Bandes bloß in eigener Sache und nicht im Geringsten als Augenzeugen des sie umgebenden Vielvölkerreichs. Auf den dreißig Seiten der Einleitung zum Buch fällt kein Wort über Volkscharakter oder Sozialstruktur Österreichs oder über die österreichische Gesellschafts-, geschweige denn Kulturgeschichte. In keiner Weise ging der Herausgeber dem „österreichischen Wesen", dem „österreichischen Menschen" oder dem „Österreichertum" nach. Max Meli ließ berühmte Repräsentanten des Landes sich selbst beschreiben, ohne eine Spur von Interesse am Gesamtverlauf der österreichischen Geschichte aufzubringen. Er verzichtete beim Studium der Autobiographien auf jeden Kontext, jeden kulturellen Zusammenhang. Zeitgenössische Leser sollten die „Herzensenthüllungen" ihrer Vorgänger genießen, ohne je das Phänomen des Habsburgerreichs in den Blick zu nehmen. Stattdessen ging es ungezwungen um ein Schauspiel, um „prägnante, schicksalsvolle Situationen", die keinen Bezug zur Interpretation der Staatsgeschichte oder zur Kulturgeschichte
M a x Meli u n d das Defizit der Selbstbeschreibung vor 1914
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haben sollten. (S v) Die ganze Erzählkunst des Herausgebers zielt darauf ab, „jene Punkte aus etlichen Schicksalen herauszuheben, an denen sich Zeiten und Charaktere kreuzen und einander Gestalt und Symbol werden lassen". (S vi)Nirgends wurde erklärt, wieso diese Schicksale als „Gestalt und Symbol" fungierten. Anscheinend sollten sie bloß individuelle Lebensverläufe symbolisieren und nicht einen österreichischen Charaktertypus. In Mells Augen war es nicht die Aufgabe dieser Dokumente aus vier Jahrhunderten, die Eigenart Österreichs zu veranschaulichen, weil ihm nichts Derartiges in den Sinn kam. Max Meli hat den österreichischen „Volkscharakter" nicht thematisiert, weil bis 1 9 1 2 kaum ein Schriftsteller darüber geschrieben hatte. Mit Ausnahme Hermann Bahrs hatte kein Autor Thesen zur „österreichischen Kultur" bzw. zur „österreichischen Eigenart" geäußert. In der Tat verfasste Meli seine Einleitung zu einer Zeit, als die allerersten Arbeiten über die Charakteristik Österreichs erschienen. Bis dahin existierte keine sekundäre Literatur zur Kulturgeschichte, die seinen Text hätte unterfüttern oder erweitern können. Dieses Vakuum an geschichtlichen Abhandlungen zur österreichischen Eigenart bildet den Ausgangspunkt dieses Buches. Es wird den Werdegang der Essays über den „österreichischen Menschen" von den ersten Anfängen kurz vor dem Ersten Weltkrieg bis zum Ausklang dieser Art historischer Essayistik kurz vor 1 9 7 0 verfolgen. Denn erst seit den 1970er Jahren liegen wissenschaftliche Arbeiten von Seiten der österreichischen Kulturgeschichte vor, die jene Art Essays ablösten, die zwischen 1 9 1 0 und 1 9 6 7 das Feld beherrscht hatten. Dementsprechend hätte der Untertitel dieses Buches auch lauten können: „Die Entstehung des Faches Kulturgeschichte aus den Bemühungen der literarischen Essayisten". Jedenfalls hat es vor 1 9 1 4 kein Essayist unternommen, die deutschsprachigen Bewohner der Donaumonarchie von den Deutschen des Bismarckreichs zu differenzieren. Aber schon in den ersten Monaten des Kriegs begannen zwei künftige Hauptrepräsentanten des Diskurses über das Österreichertum, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr, Essays über die Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland bzw. Preußen zu verfassen. Der Begriff des „Österreichertums" ist in einem verblüffenden Ausmaß ein Ergebnis des Ersten Weltkriegs. Noch im Jahr 1 9 1 2 hatte Max Mells fehlende Thematisierung der Merkmale spezifisch österreichischer Kultur nichts Besonderes an sich. Schon im Jahr 1 9 1 5 oder 1 9 1 6 war der Verzicht auf die Vorstellung von der österreichischen „Differenz" zu Deutschland fast unvorstellbar.
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H E R M A N N B A H R UND DER V E R F A L L DER K.K.
INSTITUTIONEN
Hermann BAHR (1862-1934), Wien (Stuttgart: Krabbe 1907) und Austriaca (Berlin: Fischer 1911) Hofmannsthal wurde erst mit Ausbruch des Krieges dazu angestoßen, die Rolle des Dichters als „Herold seiner Epoche" zu erfüllen. Im Gegensatz zu ihm war Hermann Bahr der Einzige, der diese Aufgabe schon vor 1914 auf sich genommen hatte. Dieser Dichter spielte eine entscheidende Rolle in den Anfängen des Diskurses über das Osterreichertum, und zwar zwischen 1910 und seiner Ubersiedlung von Salzburg nach München im Jahr 1922. Bahrs Fähigkeit, sich in die verschiedensten Fragen hineinzudenken, scheint unbegrenzt gewesen zu sein. Er war ein vielgesichtiger Proteus unter den Essayisten seiner Epoche. Obwohl er wie Hofmannsthal und Musil in mehreren Kapiteln dieses Buches figuriert, können im Rahmen des Themas nur drei seiner fast 150 Titel behandelt werden. Es wäre reizvoll, behaupten zu können, dass die Suche nach der Eigenart Österreichs ausgerechnet mit einem Buch über Wien begann. Leider stimmt das nicht, vor allem nicht im Fall von Hermann Bahrs Wien (1907). Das sechste Kapitel dieser unzusammenhängenden Geschichte der Stadt charakterisiert den Wiener ohne den geringsten Bezug zu Osterreich, und die dort angeführten Merkmale „der Wiener" treffen nur in geringem Maße auf Gesamtösterreich zu. Ein beliebiges Beispiel zeigt den auf die Hauptstadt bezogenen Eigensinn dieses Diskurses: .Alles drängt den Wiener von der Wirklichkeit ab. Das regierende Haus verlangt, Menschen durch den eigenen Geist [eines Staatsbegriffs] zu formen." (S 70) Einige Bemerkungen nehmen Gedanken Musils vorweg: „Daher auch die merkwürdige Wiener Art, Talent zu haben. Es gibt auf der ganzen Welt nirgends so viel Talent als in Wien. Für alles. Politisches wie Künstlerisches. Aber es ist immer ein Talent von besonderer Art. Es ist nirgends angebunden, es hängt in der Luft. Es ist ein Talent, das nichts auszudrücken hat als sich selbst." (S 77) Mit anderen Worten: Die Wiener wiesen ein Talent auf, Talent aufzuweisen. Hier nähert man sich dem Bereich von Musils „Möglichkeitsmenschen", der eine Begabung für das Erfinden von im Alltag nie zur Umsetzung gelangenden Begabungen entwickelt hat. Aus der Parallele zu Musil sieht man, dass Bahr seine Kollegen im Café Griensteidl mit zunehmender Distanz zu betrachten begonnen hatte. Er hatte auch zu dieser Zeit aber noch nicht als Ersatz für Wien in der Provinz Fuß
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gefasst. Einer der Aphorismen Bahrs beschreibt den Standpunkt des Autors treffend: „Der Wiener braucht immer ein Beispiel. Dazu geht er ins Theater. Es ist kein Abbild des Lebens. Das Leben ist sein Nachbild". (S 73) Diese Definition eines auf dem Theater beruhenden Ästhetizismus trifft auf Bahrs eigenen „Feuilletonismus" zu, d.h. auf jene Geisteshaltung, die den Schein der Wirklichkeit gerne mit der Wirklichkeit selbst verwechselte. Später, während des Krieges, sollte Bahr diese Haltung anprangern. Erst in Austriaca ( 1 9 1 1 ) begann der wandlungsfähige Denker, die Wirklichkeit, die Missstände Österreichs, ernst zu nehmen. In dieser Sammlung wurde er zum ersten Essayisten, der seinen Blick auf die österreichische Eigenart richtete. Der skandalkolportierende Titelessay umfasst zwölf Abschnitte, und wie die anderen sechs Stücke lässt dieser Text kaum ahnen, dass der Leser am Beginn eines aufkeimenden Diskurses steht. Leider sind alle diese Essays der Tagespolitik verhaftet, sodass man die Grundlagen der späteren Argumentationen mühsam ableiten muss. Satirische Ausführungen über Karl Lueger (S 9—12), Graf Aehrenthal, „den österreichischen Bismarck", (S 13—18, 122—135) und Franz Ferdinand (S 18—27) sind zwar unterhaltend, aber kaum fundiert. Das Thema des Buches ist Bahrs Desillusionierung durch den Bürokratismus, man könnte fast sagen: durch den Hofratismus. Hier attackierte der spätere Fürsprecher des österreichischen Barock das Überleben der Gestalt des Hofrats aus dem aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts. Diese unzeitgemäße „Bureaukratie" sei die Wurzel aller Übel im Habsburgerreich : „Keiner, der einmal dem österreichischen Bureaukratismus verfallen ist, hat je die Kraft, innerlich der schlimmsten Abart des Cäsarenwahns zu widerstehen: unserem Beamtenwahn." (S 90) In diesem frühesten Entwurf des typischen Deutschösterreichers wird dieser höchst unschmeichelhaft dargestellt. Dank der Einmischungen der Beamten im Alltag sei der Österreicher gerade zum Gegensatz jener konzilianten duldsamen Art des „österreichischen Menschen" geworden, dem Anton Wildgans knapp zwanzig Jahre später huldigte. Interessanterweise beginnt die Reihe der Essays über das Österreichertum mit einem negativen Bild. Erst während des Ersten Weltkriegs erkannte Bahr die verheißungsvolle Zukunft eines neuen Österreich. In den Essays von Austriaca hingegen war der Vorkriegsösterreicher noch als neidvoller Mensch angeklagt worden, der niemals fähig sei, sich über die Werke der anderen zu freuen. (S 74) Schuld an der Verschlechterung des Charakters des Österreichers sei einzig und allein die „Bureaukratie", die in der Gegenwart fortwurstele, bloß um ihr eigenes Überleben zu sichern. Das beamtete Überbleibsel des aufgeklärten
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Absolutismus seit 1750 verderbe jeden Aspekt des Lebens in der Donaumonarchie. Bahr formulierte diese These am eindringlichsten im dritten Abschnitt des Titelessays. „Dieses Beamtentum ist stärker als das Volk und die Dynastie zusammen" und will den alten Staatsgedanken um jeden Preis aufrechterhalten. (S 2.9) Hier sind einige Ansatzpunkte der späteren Kritik von Bahr am Unheil des von Hofräten erfundenen Staatsbegriffs erkennbar. Je mehr sich der Essayist an seiner Rhetorik delektierte, desto mehr diente seine Schreiblust dazu, seiner Verzweiflung über die Unabänderlichkeit der Missstände Ausdruck zu verleihen. Er wusste nichts anderes gegen die beschriebenen Übel zu tun, als Sätze wie die folgenden zu verfassen : In Osterreich habe sich die Bureaukratie „neben dem Staat etabliert, auf eigene Faust und voll Eifersucht, voll Neid, voll Misstrauen gegen ihn. [...] Jeder österreichische Beamte ist ein Frondeur gegen den Staat. [...] Die Bureaukratie, das Mittel des Staats, hat sich bei uns vom Zweck befreit : statt dem Staat zu dienen, bedient sie sich des Staats, um, indem sie alle gegen alle hetzt, den Staat mit der Kirche, die Dynastie mit dem Volk, jede Nation mit jeder andern entzweit und an jeder Macht nagt, allein über alle zu herrschen." (S 86, 87) Gelegentlich glaubt der Leser in ein von Franz Kafka konzipiertes Reich eingeführt zu werden, wo die Staatsdiener den Staatsbürgern keinerlei Beachtung schenken. Allerdings sind Beamte bei Kafka eher Frondeure gegen alle Menschen und nicht nur gegen den Staat. Mit Ausnahme des Tragikers Hans Prager im Jahr 1928 hat sich kein anderer Essayist so verbittert über die Grundlagen des österreichischen Lebens geäußert wie Bahr im Jahr 1 9 1 1 . In scharfem Gegensatz zu jenen späteren Beobachtern wie Hassinger und Benda, die den k.u.k. Beamten als Bewahrer des Vielvölkerstaats verehrten, sah Bahr im Hofrat bloß dessen Zerstörer. Der k.u.k. Beamte sei keineswegs, wie es später hieß, der Versöhner der Völker, sondern im Gegenteil der Verhinderer ihrer Kooperation : „Was unsere Völker verbindet, ist überall viel stärker, als was sie trennt. [...] Wenn irgendwo fünf vernünftige Tschechen oder Kroaten oder Italiener mit fünf vernünftigen Deutschen beisammensitzen, einigen sie sich ; denn sie haben das Gefühl, alle dasselbe zu brauchen. Es wird aber verhindert, dass sie beisammensitzen. Darin besteht die Tätigkeit des Beamtentums. Es fühlt sich als Kurator der alten Staatsidee." (S 33) Die Völker und die Dynastie glaubten nicht mehr an die alte Staatsidee, von der „nichts mehr übrig [geblieben sei] als der Kurator", d.h. der Beamte. Fünf Jahre später nannte Bahr die „Idee Österreichs" eine „Samtmaske", die nur dazu diente, die Charakterzüge der Menschen tückisch zu verschleiern.
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1 9 1 6 wird er Gewichtiges über diese bisher maskierten Züge sagen, aber 1 9 1 1 bemerkte er bloß die Nachteile des mangelnden Diskurses über die Eigenart Österreichs, ohne diese Lücke selbst füllen zu wollen. Stattdessen traf er eine Feststellung, die heute noch in gespenstischerWeise prophetisch anmutet: „In unsern Völkern ist eine stille Gemeinsamkeit da, die nur einen großen Anlaß braucht, eine allgemeine Not oder eine allgemeine Tat, um sich zu zeigen ; vielleicht wird man das bald einmal sehen." (S 33) In der Tat brach der große Anlass des Kriegs allzu bald herein, und Bahr war einer der ersten Schriftsteller, der sich dieser Herausforderung stellte. Vor dem Krieg verharrte der unruhige Geist Bahr selbst in jenem unheimlichen Zustand des Wartens, den er bei den Österreichern allgemein beobachtete. Allerdings gab er zu, dass auch er an den Unarten seines Landes teilhatte. Er nützte jene Begabung für das Verstehen von „verknüpfenden Gefühlen", die Hofmannsthal den Dichtern zuwies, um ununterbrochen von „uns Österreichern" zu sprechen: „Wunderlich ist es, wie wir Österreicher immer in Erwartung leben und es dann aber doch verpassen, wenn es in Erfüllung geht." (S 71) Der Satz leitet eine Passage über den ausgeprägten Hang der Österreicher zur Ironie ein : „Jeder einzelne klagt darüber, das [sie] man ihn niemals zeigen lässt, was er eigentlich kann ; und so murrt das ganze Land, dass es mit seinen Kräften still im Winkel stehen muss und sie nicht regen darf." (S 71) Auch Bahr fühlte sich unfähig, etwas daran zu ändern. Nur einmal in Austriaca fand der Kritiker Anlass, die Charakterzüge des Österreichers aufzuzählen. In seinem Bericht über den „Prozess Friedjung" (1909) schrieb er dem Österreicher die abstoßendsten Züge zu. Im Lauf dieses Buches werden viele andere Auflistungen der Charakterzüge des Österreichers ihre Darstellung finden. Allerdings muss man sich darüber verwundern, dass diese Tradition der Selbstbeschreibungen mit einer der verbittertsten begann: „Unseren Sitten, unserer Gesinnung nach sind wir immer im alten [d.h. josefinischen bzw. metternichschen] Österreich der gegenseitigen Verdächtigung, der gegenseitigen Verleumdung, der gegenseitigen Verachtung, des allgemeinen Hasses, des allgemeinen Neides, des allgemeinen Misstrauens." (S 1 5 1 ) Nichts habe sich seit 1800 verbessert! Im Gegensatz zu den späteren Porträtisten des „österreichischen Charakters" milderte Bahr sein negatives Bild nicht durch die Erwähnung von positiven Zügen. In diesem ersten Entwurf fand der Pessimist keine Spur jener Begabung für Konzilianz und Ausgewogenheit, welche die Verehrer des österreichischen Menschen wie Hofmannsthal und Wildgans später hervorhoben. Kein Satz aus dem ganzen Diskurs zum Österreichertum
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schmetterte den österreichischen Menschen so unerbittlich zu Boden wie dieser Aufschrei eines enttäuschten Optimisten. Die Suche nach der Eigenart Österreichs begann bei Bahr mit einer Vision der versäumten Gelegenheiten. Das gleiche Thema herrschte auch in den ersten Äußerungen Robert Musils vor. Bahr hat diesen herabsetzenden Ton später bereut. Angesichts des „großen Anlasses" des Weltkrieges hoffte er, dass die Herausforderungen die österreichischen Missstände wieder beheben und ein Nachkriegsösterreich ein neues Vorbild für ganz Europa abgeben würde. In Bahrs Kriegszeitvision eines austriakisierten Südosteuropa begegnet man einem ersten Beispiel der Mythisierung des Habsburgerreichs. Nach 1 9 1 4 sollte der Kritiker der österreichischen Bürokratie seinen neuen Lebenszweck entdecken : Er wollte Osterreich neu konzipieren.
R O B E R T M U S I L Ü B E R DAS „VERFEHLTE WELTEXPERIMENT
ÖSTERREICHS"
Robert MUSIL (1880-1942), „Politik in Österreich" (1913), in: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden (Hamburg: Rowohlt 1955), 2: S 589—592. Im Gegensatz zu Bahr war Robert Musil weit entfernt von jeder Art von Mythisierung. Seiner Skepsis gemäß wurde dieser Romancier zu einem der führenden Essayisten des deutschen Sprachraums im 20. Jahrhundert. Sein Roman Der Mann ohne Eigenschaften ( 1 9 3 0 - 1 9 4 3 ) beinhaltet selbst eine ganze Reihe von Essays. Musil schrieb aber nicht nur einige der scharfsinnigsten Abhandlungen über die Eigenart Österreichs, sondern er war auch einer der ersten, der an dieser Problematik Interesse fand. Allerdings schlug der vielseitige Essay Musils aus dem Jahr 1 9 1 3 zu viele neue Thesen vor, um leicht zugänglich zu sein. In fast jedem Absatz stoßen unerhörte Begriffe, Paradoxa und Satiren aneinander, und nur die wenigsten dieser Meinungen schmeichelten den Landsleuten. Es scheint, als ob der Essayist die Lieblingsthemen seines Lebenswerks im Voraus zur Schau zu stellen beabsichtigte. Der Essay „Politik in Österreich" nimmt nicht nur einige Themen seines eigenen Lebenswerks, sondern des gesamten späteren Diskurses vorweg. In komprimierter Form bietet dieser Text eine Vorschau auf Musils Nachkriegsbeiträge zum Verständnis der österreichischen Eigenart. Er gewährt einen Vorgeschmack auf jene Kapitel über Kakanien, die manche Leser des Romans Der Mann ohne Eigenschaften hoch schätzen.
Robert Musil über das „verfehlte Weltexperiment Österreichs"
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Selbst der spätere Begriff „Mann ohne Eigenschaften" scheint in einer Formulierung des Essays von 1913 durch, in jener des „negative[n] Idealismus". Dieser Ausdruck bedeutet eine Art Idealismus, die keinen Wert auf die Erfüllung seiner Ideale legt. In dieser Konzeption existieren Ideale nur dazu, um nicht erfüllt zu werden. Wie siebzehn Jahre später beim „Möglichkeitsmenschen" Ulrich befassen sich die dem negativen Idealismus anheim gefallenen Politiker Österreichs lieber mit dem Möglichen als mit dem Wirklichen. Aus Faszination für das unerreichbare Mögliche war die „passive Phantasie" der österreichischen Politiker nicht in der Lage, deren Arbeit ernst zu nehmen : „Man weiß nicht, wovon man sich eigentlich beherrschen lässt ; zeitweilig erhebt sich ein Orkan und alle Minister fallen sofort wie geübte Turner, aber der Orkan ist beruhigt und ihre Nachfolger stehen in genau der gleichen Stellung da" (2 : 590) In jedem Orkan der unverwirklichten Möglichkeiten gebe es viel Lärm um nichts. Wie Bahr bedauerte Musil, dass sich an der österreichischen Politik vor 1914 nichts verändern lasse, aber wo Bahr die Hofräte anprangerte, hielt Musil die Politiker für schuldig an der Gewohnheit, in lauter Möglichkeiten zu schwelgen. Der Kern der Diagnose der „politischen Spielereien" im Mann ohne Eigenschaften war bereits im Essay von 1913 formuliert. Auch Anklänge an den Essay „Buridans Österreicher" (1919) lassen sich eindeutig herauslesen. Wie sechs Jahre später beklagte Musil schon 1913 : „Es liegt etwas Unheimliches in diesem hartnäckigen Rhythmus ohne Melodie, ohne Worte, ohne Gefühl. Es muss irgendwo in diesem Staat ein Geheimnis stecken, eine Idee. Aber sie ist nicht festzustellen. [... WJahrscheinlich ist das Ganze wirklich nur Bewegung zufolge Mangels einer treibenden Idee [...]." (2 : S 590) Die einzige Idee, durch die sich Österreich zu einem „Weltexperiment" erheben könnte, nämlich diejenige einer kulturellen Symbiose verschiedener Völker, werde hierzulande nicht einmal diskutiert. Bezüglich dieser Anklage des „verfehlten Weltexperiments" darf man fragen: Hatte Musil zu jener Zeit die föderalistischen Arbeiten der Austromarxisten Otto Bauer (1881—1938) und Karl Renner (1870-1950) gelesen? Kannte Musil das Buch Die Vereinigten Staaten von Groß-Osterreich (1906) von Aurel Popovici (1863—1917) über das Potenzial des politischen und kulturellen Föderalismus? Wahrscheinlich hätte der Romancier dazu gesagt: „Diese Autoren berühren lauter Möglichkeiten, die nie zustande kommen können. Wie andere österreichische Politiker sind sie Virtuosen der unrealisierbaren Möglichkeiten." Mit anderen Worten, auch diese „Weltexperimentatoren" gehörten zu den Scharlatanen des Romans Der Mann ohne Eigenschaften. Ebenfalls ähnelte der angebliche Mangel an einer
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„staatstreibenden" Idee um 1 9 1 3 dem Fehlen einer „lebenstreibenden" Idee bei Ulrich, dem Protagonisten des Romans. Auch er litt am „negativen Idealismus", denn auch er hat die Verwirklichung der Ideale zugunsten von deren bloßer Betrachtung aufgegeben. Auch er wusste nicht, von welchen Idealen im Leben er sich „eigentlich beherrschen" lassen sollte. Obwohl Musil den Ausdruck „österreichischer Mensch" nicht verwendete, formulierte er in den folgenden Jahrzehnten oftmals zitierte Bemerkungen über den Menschenschlag der Donaumonarchie: „Politik in Österreich hat noch keinen menschlichen Zweck, sondern nur österreichischen. Man wird kein Ich durch sie, obwohl man alles andere mit ihrer Hilfe werden kann, und kein Ich vermag sich in ihr manifestieren." (2 : S 590) Schon in Bahrs Austriaca war man der Idee begegnet, dass das Leben in Osterreich das Werden eines Ichs behinderte. Die gleiche Klage hallte mannigfach wider in den Kriegsessays Bahrs, Hofmannsthals und Schaukais, und diese Idee lieferte die Grundthese für Hans Pragers spätere Diagnose des gespaltenen Ichs des Österreichers. Musil ist in dieser Hinsicht als ihr Vorläufer anzusehen. Im Kontrast zu jenen späteren Aufsätzen stellt der Essay „Politik in Österreich" keinen geschichtlichen Uberblick dar. Musils Satire des Parlamentarismus im Habsburgerreich unterscheidet sich von den Versuchen der Kriegsessayisten vor allem dadurch, dass er die Geschichte Österreichs und seine Ehrenhalle der berühmten Vorbilder mit keinem Wort erwähnt. Musil stellt das leere Spiel der Politik in ein geschichtliches Vakuum, während sich die anderen gerade bemühten, einen geschichtlichen Hintergrund zur österreichischen Sonderart herauszufinden. 1 9 1 3 aber dachte Musil ahistorisch über Österreichs „politische Missstände". Selbstverständlich gab es in seinen Augen auch keine „Men of Genius", die als Leuchttürme in der Finsternis der unrealisierbaren Möglichkeiten dienen konnten Die ahistorische Denkweise schloss aber Vergleiche mit Zeitgenossen nicht aus. Musils komparatistisches Denken stellte eine einzigartige These über den Charakter des österreichischen Bürgertums im Vergleich zum französischen oder englischen auf, dem Bürgertum in den „großen Staaten mit [...] Weltbeziehungshintergrund". (2: S 591) In diesen westeuropäischen Ländern „realisiert [die Kultur] ihre Zwecke heute nicht mehr durch den Staat [...]", sondern bedient sich der „Unvollkommenheiten, Lücken und Kraftlosigkeit" des Ganzen. (2: S 591) Hier erspähte der Essayist Spuren dessen, was Soziologen die Massengesellschafi nennen. Diese zeige sich in der Anonymität der klassenlosen Massen, denen keine Vermittler mehr in Institutionen gegenüberstehen, wie
Robert M u s i l über das „verfehlte Weltexperiment Österreichs"
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etwa der Kirche oder den Zünften : „Es ist die Auflösung durch die unübersehbare Zahl, was den kulturellen Grundunterschied gegen jede andere Zeit bildet, das Alleinsein und Anonymwerden des einzelnen in einer immer wachsenden Menge, welches eine neue geistige Verfassung mit sich bringt [...]·" ( 2 '• S 591) Gerade diese Art Bürgertum samt der von ihr erlaubten zunehmenden Anonymisierung fehle in Osterreich, denn „man wird noch immer vom Schicksal nur auf eine persönliche Empfehlung hin zum Österreicher geschaffen" ; nämlich nur durch das, was Musils Freund Robert Müller „Verhältnisse" nannte, und nicht durch die anonymen Prozesse eines „Ideenlaboratoriums" wie in Frankreich. (2: S 591) Freilich erzeuge das Bürgertum Frankreichs und Englands weniger „faszinierende Menschen, Prototypen" als in Osterreich, aber dafür lassen diese Länder einen „Schöpfer außerhalb seiner Leistung einen Unbekannten", sodass er in einem vom Staat geschützten „Ideenlaboratorium Seelenformen schafft [...]." (2: S 591) Ebenso intensiv wie Bahr sehnte sich Musil nach der Verminderung der Allgegenwärtigkeit der österreichischen Beamten, damit die kreativen Energien der Individuen frei werden könnten. Sonst würden die schöpferischen Österreicher, ganz wie Ulrich im Roman, in der bloßen Betrachtung der Möglichkeiten stecken bleiben. Diesbezüglich nahm Musil eine These Robert Müllers vorweg. In Österreich sei ,,[d]ie gesellschaftliche Struktur [...] bis hoch hinauf ein einheitliches Gemenge von Bürger und Kavaliersart. Man ist in natürlichem Zustand fein und herzgesund", aber dieses Feine sei auch eine Schwäche, die bei Besuchen im Ausland ihre Auswirkungen zeige. (2: S 590) Der Österreicher schätze das Menschliche „in natürlichem Zustand" allzu hoch ein, und diese Vorliebe sei außerhalb seines Landes zu einer Schwäche geworden. In den folgenden fünfzig Jahren wird diese These der Naturhaftigkeit der Österreicher im Diskurs über den österreichischen Menschen mehrfach wiederkehren. Die vermeintliche Humanität des Österreichers bringe ein zweideutiges Erbe mit sich, das als der Segen der Natürlichkeit und als Last der Untauglichkeit fortwirkte. Dieser frühe Essay eines zu diesem Zeitpunkt ziemlich unbekannten Autors war zu komprimiert und voller neuer Ideen, um irgendeinen Einfluss ausüben zu können. Der interessante Aspekt des Textes besteht vor allem in seiner Ankündigung der späteren Themen des Romanciers. Dasselbe lässt sich vom Vorkriegsdiskurs unserer vier Essayisten in seiner Gesamtheit sagen. Vor 1 9 1 4 entstanden somit nur Vorarbeiten zur später so viel umfangreicheren Auseinandersetzung mit der Eigenart Österreichs.
III. Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Osterreichertum
Dieses Kapitel behandelt die maßgeblichen Texte in der Entfaltung des Diskurses über das Osterreichertum während des Ersten Weltkriegs. Nach wie vor spielten Hofmannsthal und Bahr eine entscheidende Rolle, Robert Musil dagegen meldete sich zu diesem Thema erst nach dem Krieg wieder zu Wort. Musils späterer Freund, der früh verstorbene Robert Müller, schrieb den vielleicht brillantesten Essay unter allen jenen aus der Kriegszeit. Sein höchst originelles Buch Österreich und der Mensch (1916) verdient es, wiederentdeckt zu werden. Es reiht sich mit Hans Pragers Essay Der Österreicher von 1928 und Oskar Bendas Abhandlung von 1936, Die österreichische Kulturidee in Staat und Erziehung, unter die gehaltvollsten der vergessenen Essays ein, die hier erneut vorgestellt werden sollen. Die drei weiteren Vertreter des Diskurses, die in diesem Abschnitt analysiert werden, weisen höchst unterschiedliche Charaktere auf. Der symbolistische Dichter und Ministerialbeamte Richard Schaukai schrieb in Österreichische Züge (1918) desillusioniert über seine Landsleute, während der erzkatholische Publizist Richard von Kralik den „österreichischen Gedanken" mythisierte und der Kulturgeograf Erwin Hanslik über eine erhoffte Erweiterung Österreichs nach Südosten fantasierte. Die beiden Letzteren sind repräsentativ für eine große Anzahl von Schwärmern, die der Krieg dazu anregte, das Wort zu ergreifen. Dieses Buch stellt diese vom Gedanken des Österreichertums „Besessenen" vor allem dar, um den Wert der „Nichtbesessenen" hervorzuheben. Der Diskurs über das Osterreichertum bestand zwischen 1 9 1 4 und 1938 zumeist aus ehrenwerten Versuchen, sich endlich mit einem als vernachlässigt geltenden Sachverhalt zu beschäftigen. Gleichsam von einem Tag auf den anderen setzten sich im Jahr 1 9 1 4 engagierte Schriftsteller dafür ein, die Kultur ihres Landes zu umreißen, zu begründen und zu würdigen. Dabei erweist sich der Diskurs über die Eigenart Österreichs zugleich als einer über die Kulturgeschichte und über den Menschenschlag des alten Reiches. Im Dienste dieser Ziele haben die „Pioniere" dieses Diskurses, Hofmannsthal und Bahr, die Maßstäbe gesetzt und ihnen ist es immerhin zu verdanken, dass Phantasten wie Erwin Hanslik keine hegemoniale Stellung erlangt haben.
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Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Österreichertum
H O F M A N N S T H A L S G E G E N Ü B E R S T E L L U N G DER Ö S T E R R E I C H E R U N D DER R E I C H S D E U T S C H E N Hugo von H O F M A N N S T H A L (1874-1929), „Die Bejahung Österreichs", Die österreichische Rundschau, 1. November 1 9 1 4 , in: Reden und Aufsätze. II 1914—1924 (Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1979), 2: S 356-359. „Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen", Neue Freie Presse, 25. Dezember 1 9 1 4 , in: Reden, 2: S 375-383. „Wir Österreicher und Deutschland", Vossische Zeitung, 10. Jänner 1 9 1 5 , in: Reden, 2: S 390-396. Z u s a m m e n mit Robert Musil ist H u g o von Hofmannsthal der begabteste Schriftsteller unter jenen, die sich ein Leben lang mit der Suche nach der Eigenart Österreichs befassten. E r war nicht nur als Dramatiker und Lyriker oder als Schriftsteller und Literat berühmt, sondern in erster Linie als „Dichter". Frühreif, erstaunlich sprachbegabt, äußerst feinfühlig, hat er selbst diese Rolle während seiner Laufbahn mehrfach definiert. Neben Rilke gilt er als der größte österreichische „Dichter" der Periode zwischen 1 8 9 5 und 1 9 3 0 . 1 9 W i e wir bei der Diskussion Oskar Bendas und Rudolf Kassners sehen werden, schrieb der in Prag geborene Rainer Maria Rilke allerdings fast kein Wort über Osterreich. Manche der hier behandelten Essayisten - wie Bahr, Musil, Werfel und Kassner — führten ein Wanderleben, aber Hofmannsthal blieb wie Anton Wildgans Zeit seines Lebens in Wien sesshaft. Seine Auffassung vom Österreichertum spiegelte seine gleichzeitige Verwurzelung in seinem Wohnsitz in Wien-Rodaun und in der europäischen Literatur wider. Er war — einzigartig in seiner Generation - gleichermaßen in der französischen, italienischen, spanischen und englischen Literatur zu Hause. Die gleiche Eigenschaft schätzte er bei seinem Vorgänger und Vorbild Franz Grillparzer. Hofmannsthals Zielsetzung, die Stellung Österreichs im deutschen Sprachraums zu situieren, drückte seine Uberzeugung aus, dass Österreich seit eh und je Teil einer deutschen Kulturnation gewesen sei. Wie die meisten anderen Essayisten der Kriegszeit — Hermann Bahr, Robert Müller und Richard von
19 Siehe Michael HAMBURGER, „Hugo von Hofmannsthal", in: A Proliferation of Prophets (Manchester: Carcanet 1983), S 83-148.
Hofmannsthals Gegenüberstellung der Österreicher und der Reichsdeutschen
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Kralik - strebte der Dichter aus Rodaun danach, das Österreichische innerhalb des deutschen Sprachraums zu kennzeichnen. Die österreichische Kultur, die er bis zur Mythisierung verherrlichte, ordnete er in die gesamtdeutsche Kultur als größeren Rahmen ein und sein Leben lang gab er diesen Standpunkt nie auf. Vor 1 9 1 8 lehnte nur der frankophile Richard Schaukai dieses Konzept ab. Der amerikanische Kulturhistoriker Michael Steinberg hat diese Haltung als „nationalistischen Kosmopolitismus" bezeichnet. 20 Wie Bahr und Müller blieb Hofmannsthal ein Kosmopolit, der einen deutschen Standpunkt, obgleich keinen reichsdeutschen Standpunkt, unbeirrbar aufrechterhielt. Ahnlich wie Thomas Mann blickte er unentwegt auf das gesamte kulturelle Erbe Europas, und durch die Linse der unterschiedlichen Literaturen schätzten die beiden Großmeister der Literatur das deutsche Erbe innerhalb Europas als überlegen ein. In diesem Kontext interpretierte Michael Steinberg die Kriegsessays Hofmannsthals als Produkte einer „Metapolitik", die Österreichs kulturelle Überlegenheit innerhalb Europas führender Kultur, der deutschen, beweisen sollte. Der Österreicher wiederum sei Deutscher einer höheren Art. Ohne Deutschland wäre Österreich unvorstellbar, aber gleichzeitig wäre die deutsche Kultur ohne Österreich unerträglich. Im Lichte einer solchen Gesinnung erschien der Anschlussgedanke von 1 9 1 8 / 1 9 als eine Selbstverständlichkeit. Nur wenige Fürsprecher eines selbstständigen Österreichs, wie die Deutschen Oskar Schmitz und Ernst Lissauer, und etwas später die Österreicher Hans Prager und Anton Wildgans, lehnten in der Nachkriegszeit diese Haltung ab. Auf uns heutige Menschen wirkt die Haltung des „nationalistischen Kosmopolitismus" unzeitgemäß und in mancher Hinsicht unverständlich. In der Tat war der nationalistische Kosmopolitismus der Kriegspublizisten nicht so sehr kosmopolitisch als bloß mitteleuropäisch. Den Standpunkt einer nicht mehr ausschließlich an Deutschland orientierten Nationalität vertraten Josef Leb und Franz Werfel während der Ersten Republik sowie Friedrich Heer und Herbert Eisenreich in der Zweiten; unter den Essayisten der Kriegszeit pflichtete ihm allerdings nur Richard Schaukai bei. Sonst konzipierten sie alle Österreich nur innerhalb und keineswegs außerhalb des deutschen Kulturraums. Diesen Autoren zufolge waren die „Deutschösterreicher" die anpassungsfähigsten, die einfühlsamsten und vor allem die interessantesten aller Deutschen, wohl aber nicht die diszipliniertesten oder die tüchtigsten.
20 Michael P. STEINBERG, The Meaning of the Salzburg Festival. Austria as Theater and Ideology, 1890-1938 (Ithaca NY/London 1990), S 84-115.
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Hofmannsthal hat so viele Beiträge zum Diskurs über das Österreichertum verfasst, dass seine Essays in drei Kapiteln dieses Buches behandelt werden. Als „Fahnenträger" hat er den Diskurs salonfähig gemacht, und nach seiner Ankündigung der Herausgabe einer „Osterreichischen Bibliothek" in der Neuen Freien Presse vom 15. August 1 9 1 5 bekannte sich eine Anzahl weiterer Autoren zur zeitgenössisch so bezeichneten „geistigen Bejahung" Österreichs. Kaum drei Monate nach Kriegsbeginn begann er seine Serie von fast einem Dutzend Essays über das Österreichische mit dem Artikel „Die Bejahung Österreichs" in der Österreichischen Rundschau (1. November 1914). Kurz danach erschienen die „Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen" in der Neuen Freien Presse (25. Dezember 1914). Die erste dieser Schriften kündigte das Engagement des Autors sowohl für den österreichischen Gedanken als auch für das Bündnis von „Geist" und Politik während des Krieges an. In Analogie zur „großen Defensivtat" von 1683 gegen die Türken begrüßte der Dichter das Heer als den gegenwärtigen „Schwerpunkt" des Staates. Von 1683 sei eine Welle ausgegangen, die zu einer Blüte des Wohlstands und der Künste führte, zu jener Art Blüte, „die so ausgesprochen österreichisch ist" (2: S 357). Die Hoffnung, dass der Weltkrieg eine ähnliche Blüte hervorbringen werde, bleibe momentan im Volk unartikuliert, „nirgend zum Schlagwort erniedrigt", komme aber „aus wahrhaften Volkstiefen" (2: S 357). Hier erkennt man einige der zentralen Themen, die Hofmannsthal im nächsten Jahrzehnt beschäftigen sollten : die Anziehungskraft der historischen Analogien für die Bestimmung der Größe Österreichs, die Abscheu vor Phrasen, die eminente Bedeutung der Vorstellung von künstlerischer Blüte für die österreichische Eigenart und die Berufung auf „die vegetative Grundschicht der Völker" (2: S 357). Die Geisteseliten und das Volk stünden im Einklang, um eine „allgemeine Seelenstimmung" durch die Künste zu fördern. Dieses Wunschbild bildete die Grundlage für Hofmannsthals Lebenswerk. Obwohl der Essayist „Phrasen" vermeiden wollte, prägte er das Schlagwort von der „Bejahung Österreichs", um die angestrebte Bewusstseinshaltung seiner Mitbürger zu benennen. Man könnte diesen Ausdruck benützen, um den gesamten Diskurs zum Österreichertum zu bezeichnen, denn dieser bemühte sich sowohl um die „Bejahung Österreichs" als auch um die Beschreibung seiner Kultur. Gleichzeitig enthüllte er, dass diese erst nach vielen Generationen einer ausgesprochenen Nicht-Bejahung reale Gestalt annahm. In der Kampagne für die „Bejahung" nahm Hofmannsthal eine führende Rolle, ja in mancher Hinsicht die fuhrende Rolle ein.
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Dabei leitete er sein Engagement mit der Formulierung eines Mythos ein: Im letzten Absatz seines Artikels formulierte er ein gleichsam triumphalistisches Destillat des habsburgischen Mythos. In Erinnerung an „das kaiserliche Heer, in welchem Eugen von Savoyen als Oberst ritt, das befreite Wien im Rücken lassend", müsse man entzückt feststellen : „Ein Staat wie dieser, von den höchsten Mächten gewollt, entzieht sich nicht seiner Schickung [ . . . ] " (2: S 359). Die Goethe'sche Redewendung von den„höchsten Mächte[n]" sowie das würdevolle Synonym einer höheren Berufung, „Schickung", brachte die Ebene des Erhabenen in den Diskurs ein. Den Satiren eines Karl Kraus zum Trotz proklamierte Hofmannsthal von allem Anfang an die höchsten Ziele der Bejahung Österreichs, die gottgewollte „österreichische Mission". Im Unterschied zum Emporkömmling Preußen handelte es sich um eine Sendung, deren göttliche Führung in der Barockzeit offenbar wurde, und nicht um ein Unterfangen, das in der Bismarckzeit als menschliche Erfindung seinen Aufstieg erlebte. Fast zwei Monate später, zur Zeit der ersten Kriegsweihnacht, veröffentlichte der Dichter seine „Worte zum Gedächtnis des Prinzen Eugen". Der Titel hätte wohl auch „Worte zur Mythisierung des Prinzen Eugen" lauten können, denn Hofmannsthal bestand darauf, dass das „kaum zu Entwirrende, die Zerfahrenheit" des Weltkriegs „durch einen Strahl aus höheren Welten gespalten werden" muss (2: S 377). Die Gestalt des Helden soll dem Leser umso mächtiger imponieren, weil „jedes Atom an ihr [...] lebendig" sei. Unentwegt dramatisiert der Essayist die „schöpferische Gewalt" dieses Mannes, durch dessen Taten „unser Osterreich" geboren wurde (2: S 376, 377). Obwohl der Dichter den Begriff „Man of Genius" hier nicht erwähnt, beschreibt er Prinz Eugen als eine der allergrößten Heldengestalten. Hier proklamierte Hofmannsthal zum ersten Mal seine Hauptthese über Österreich als friedliches, alle Gegensätze versöhnendes Reich, eine These, die in den Essays der nächsten sieben Jahre stets präsent war: „Österreich ist das Reich des Friedens, und es wurde in Kämpfen geboren ; es ist eine Schickung, dass es Gegensätze ausgleiche, und es muss sich in Kämpfen behaupten und erneuen." (2: S 377) Der Dichter würde die gleichen Charakteristika bezüglich Maria Theresias lobpreisen, und im Grunde wird der Charaktertypus, den ich den „theresianischen Menschen" nenne, hier vorausgeahnt: Der theresianische Mensch verstand es, ein Reich des Friedens inmitten einer Welt des Kampfes durch die Ausgleichung der Gegensätze aufrechtzuerhalten. Das Erstaunlichste am Prinzen Eugen sei die Tatsache gewesen, dass seine Eroberungen die verschiedensten Länder befruchtet und ihnen keinen Schaden zu-
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gefügt hätten. „Hinter seinem Heer geht der Pflug und im Walde die Axt des Kolonisten. Er besiedelt das verödete Kroatien, Syrmien, das Banat." (2: S 380) Der Prinz handelte als theresianischer Mensch, denn ,,[e]r unterwirft und versöhnt, er vereint und leitet" (2: S 381). Bei diesem Porträt des Paradebeispieles eines „gelernten Österreichers" erlaubte sich der Dichter einen Hauch Selbstironie. In den Mémoires, Noten und Briefen des Prinzen zeige sich Klarheit nicht nur über die „verworrene Gegenwart", sondern auch über die Zukunft, welche eine „seltenste Gabe" überall gewesen, aber vor allem in Osterreich (2 : S 380). Darf man, unter der Voraussetzung, dass Eugen einer der ganz seltenen Österreicher war, die die Zukunft zu deuten wussten, daraus schließen, dass Hofmannsthal sich selbst in diese Elite einreihte ? Nicht unbedingt, aber auf alle Fälle hielt sich der Dramatiker für fähig, durch das Nach-Denken der großen Taten „ein Etwas in unsere Seele" zu bringen (2: 381). Als Hofmannsthal die Aufgabe der Quellenauffrischung durchführte, nahm er einige Leistungen des österreichischen Staates wahr, die auf den Prinzen zurückzuführen waren, und mit dieser Auflistung beginnt die Mythisierung jenes „Man of Genius". Der Prinz habe die Ungarn in die Armee gebracht, er habe die Stadt Triest neu gegründet sowie die Warasdiner Grenzer und Banater Schwaben in die neu eroberten Länder „verpflanzt". Obwohl der Heerführer dreizehn Mal verwundet wurde, versagte seine Willenskraft nie. Ohne eine Spur Humor mahnen diese sachlichen Beteuerungen an ein Märchenstück, das „Die Wundertaten des Prinzen Eugen" betitelt sein könnte. Umso verwunderlicher ist es, dass diese Lobrede auf den „Reichserhalter" eine Aufzählung der „Erzübel" der Österreicher inkludiert. Ehe der Dichter die Tugenden der Österreicher benennt, ist er ihren Lastern auf der Spur. Aus Liebe zu Österreich musste der Prinz eine Herkules-Arbeit „als Organisator der widerspenstigsten Materie" leisten, gegen jene Übel, deren „Wurzel immer die gleiche [war] : Trägheit der Seele, dumpfe Gedankenlosigkeit, die geringe Schärfe des Pflichtgefühles, die Flucht aus dem Widrigen in die Zerstreuung [...]." (2: S 382) Gegen solche Folgen „einer schweren dumpfen Leiblichkeit" musste er als „großer, guter Mensch" 39 Jahre hindurch bis ans Ende als „Sieger und Schöpfer" ringen. Hofmannsthals Nennung jener Laster als „österreichische Erzübel" übte auf die späteren Kriegszeitessayisten keinen Einfluss aus, denn mit Ausnahme von Bahr gehörte die Enthüllung der Schwächen nicht zur Haupttradition des Schrifttums über das österreichische Wesen. Nur einige besonders gewissenhafte Autoren wie Richard Schaukai, Hans Prager und Josef Leb versuchten, Tugenden und Schwächen im Gleichgewicht zu halten. Hofmannsthal selbst befasste
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sich an anderer Stelle auch nur w e n i g mit den Schattenseiten der v o n i h m gepriesenen T u g e n d e n , denn er wollte den „theresianischen M e n s c h e n " m o n u mentalisieren, nicht nuancieren. D e r „Adlerblick" des Prinzen Eugen selbst ging dabei so h o c h über das menschliche M a ß hinaus, dass man nicht daran denken durfte, v o n einem „Eugenischen bzw. Eugen-artigen M e n s c h e n " zu sprechen. Verkörperte „die Kaiserin" Maria Theresia nachahmenswerte Charakterzüge, so erwies sich der Prinz Eugen als unnachahmlich. Z u seinen unzähligen Leistungen zählte, dass er den theresianischen M e n s c h e n vor dessen Z e i t repräsentiert habe, aber gleichzeitig weit über jedes Vorbild hinausragte. Prinz Eugen verkörperte in dieser Sicht den Schöpfer, den Triumphator, den Herkules, dessen Taten alle späteren Errungenschaften im Habsburgerreich erst ermöglichten. Diese mythische Gestalt wäre prädestiniert gewesen, ein Märchenstück zu inspirieren. Vor allem wollte sein Prophet den Prinzen als Organisator z u m M o n u m e n t erheben. D e r Prinz Eugen stand damit als erster in einer Reihe v o n Persönlichkeiten w i e Grillparzer u n d Maria Theresia, die der D i c h t e r in den nächsten Jahren unkritisch preisen würde. D i e menschlichen S c h w ä c h e n spielten bei diesen H e roisierungen nur eine geringe Rolle u n d mit Recht erscheine der „Eroberer" als erster in der Reihe dieser m o n u m e n t a l e n Gestalten, die „unser" Osterreich in „ein G e b i l d e des Geistes" erhoben haben. " ( 2 : S 3 8 2 - 3 8 3 ) F ü n f M o n a t e später sollte der D i c h t e r dieses T h e m a durch eine W ü r d i g u n g Grillparzers ergänzen. Inzwischen erschien in der Berliner Vossischen Zeitung
am 10. Jänner 1 9 1 5
H o f m a n n s t h a l s Essay „ W i r Österreicher u n d D e u t s c h l a n d " , der die D e u t s c h e n z u m U b e r d e n k e n ihres Bildes v o n der D o n a u m o n a r c h i e bewegen sollte. U n geachtet seines Titels bot der Artikel nicht so sehr einen Vergleich der beiden Reiche als einen A u f r u f an die D e u t s c h e n , Österreichs Mission in Südosteuropa anzuerkennen. D a b e i stehen die gemeinsamen Kriegsziele im Vordergrund, d.h. es geht mehr u m das Korrigieren falscher Sichtweisen der „Reichsdeutschen" als u m die C h a r a k t e r z ü g e der Österreicher. Z u B e g i n n warnt der A u t o r vor d e m Irrtum, W i e n mit Österreich gleichzusetzen, u n d w i e H e r m a n n Bahr zur selben Z e i t bedauert er: „Seit Bismarcks T o d hat D e u t s c h l a n d keinen e m i n e n t e n K e n ner Österreichs aufzuweisen." (2: S 3 9 1 ) D i e aufschlussreichsten Bücher über die D o n a u m o n a r c h i e stammten nicht v o n D e u t s c h e n , sondern v o n d e m E n g länder H e n r y W i c k h a m Steed u n d d e m Schotten Robert W . Seton-Watson. 2 1
21 In einem Gedächtnisfehler schrieb Hofmannsthal „Watson-Seton" für Robert W. Seton-Watson (1879-1951). Er identifizierte den Korrespondenten der Londoner Times, Henry Wickham Steed (1871-1956), als „W. Steed".
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Wie Bahr empfiehlt Hofmannsthal den Deutschen, Österreich „weniger als ein Erstarrtes und Gewordenes, denn als ein Werdendes und sich Verwandelndes anzusehen" (2: S 392). Z u jener Zeit ließ sich Hofmannsthal durch die Hoffnung eines Optimisten wie Robert Müller noch dazu hinreißen, an die positive Verwandlung der Monarchie durch den Krieg zu glauben. Dieser Essay bildet ein Musterbeispiel für den Standpunkt, den Michael Steinberg „nationalistischen Kosmopolitismus" nannte, denn Hofmannsthal hob Osterreich darin als Hauptverfechter der deutschen Aufgabe in Europa hervor. Das Habsburgerreich sei die Verkörperung des deutschen Drangs nach Osten, der „germanischen Besiedlung über eingesessenem slawischen Volk" (2: S 392). Die Verbreitung von „urslawischen Orts- und Bergnamen [...] im scheinbar deutschen Land" regte ihn zu einem Kommentar über Österreichs Status als „einen Teil des alten deutschen Imperiums" an (2: S 392—393). Hofmannsthal gerät unvermeidlich in die Mythisierung dieses imperialistischen Gestus, indem er die Vorhersehung zwar nicht Gottes, sondern des „deutschen Geistes" heraufbeschwört. Österreich sei „das vom Geschick zugewiesene Feld eines rein geistigen Imperialismus" (2: 393-94). Was deutsch an Österreich ist, sei nicht durch politische Gewalt, sondern durch den „deutschen Geist" zustande gekommen. Österreich bedürfe des ständigen geistigen Austausche, des Einströmen deutschen Geistes, aber der Schriftsteller warnte zugleich vor der Gefahr einer Nivellierung dieses Geistesaustausches : „Wo uns Deutschland ein Minderes gibt, als sein Höchstes und Reinstes, wird es uns zu Gift." (2: S 94) Bekanntlich erfüllte sich diese Warnung vor einer Vergiftung aus Deutschland im Jahr 1938 im höchsten Grade. Auf der Mittellage Österreichs in Europa beruhte Hofmannsthals Prophezeiung einer besseren Zukunft. Wie der Kulturgeograf Hugo Hassinger zehn Jahre später stellte der Dichter 1 9 1 5 fest: „Österreich ist gegen Osten und Süden ein gebendes, gegen Westen und Norden ein empfangendes Land." (2: S 394) In diesem Kontext wagte er es, einen Vergleich zur Selbsterneuerungskraft Amerikas einzuführen : Der Verweis auf „unmessbar viel Junges und Unverbrauchtes" in der Donaumonarchie lässt ,,de[n] Begriff eines europäischen Amerika" anklingen, d.h. eines sich verjüngenden Landes im Herzen Europas (2: S 394). Das Pathos dieses Traumgebildes gemahnt an ähnliche Erneuerungsphantasien in den Kriegsessays Hermann Bahrs und Robert Müllers, woraus letztlich wenig Gutes entstanden ist. Hierauf folgt ein interessanter Blick auf einige deutsche Berühmtheiten, die allzu kurz auf Besuch in Österreich weilten, wie Heinrich von Kleist im Jahr
Hofmannsthals Mythos von der „Unzerstörbarkeit des österreichischen Wesens"
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1809. „Lessing hätte kommen sollen und kam nicht" (2: S 395), aber diejenigen, die kamen und blieben - Friedrich Schlegel, Zacharias Werner und Friedrich von Gentz - waren leider „nicht das Höchste und reinste deutschen Wesens, und sie waren nicht, was wir brauchten". (2: S 395) Mit anderen Worten, sie waren eher Gift als Geschenk. Die große Ausnahme in dieser enttäuschenden Liste der deutschen Zugereisten ist selbstverständlich kein geringerer als Beethoven, „das einzige große Geistesgeschenk, das wir wahrhaft empfangen konnten" (2: S 395). In den Gestalten des Prinzen Eugen und Beethovens huldigte Hofmannsthal einem Paar von Kulturhelden, die als Schutzgottheiten eines deutschen geistigen Imperiums fungierten. „Beide zusammen repräsentieren, unter sich geschieden wie der klare Tag von der tiefen heiligen Nacht, das Höchste, was Osterreich von Europa empfangen und sich verlangend zu eigen machen konnte : aus dem Westen den Typus der Geistesklarheit, [...] aus dem Norden die deutsche Seelentiefe " (2: S 395—96) Was für ein gewagter Gedanke zur Kriegszeit: bei den Deutschen wurzele alles Imperialistische in Geistesklarheit. Nicht die deutsche Gewalt, sondern der „deutsche Geist" begeisterte den Propheten, aber gleichzeitig musste er bezweifeln, ob aus dem Westen je wieder Geistesklarheit kommen würde. Umgekehrt sei das jetzige Osterreich eine Quelle der Erneuerung fur Deutschland selbst, denn von jetzt an sei das Beste und Reinste eher von Österreich als von Deutschland zu erwarten. Merkwürdigerweise lässt dieser Essay aus dem ersten Kriegswinter ein Echo des Konzepts einer „Parallelaktion" zwischen den beiden Mittelmächten in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften anklingen. Im Weltkrieg sollte Österreich dem deutschen Partner das Beste und Reinste an ihrer gemeinsamen Aufgabe in Europa veranschaulichen und der einstige Empfanger großer Vorbilder aus Deutschland sollte jetzt seinerseits welche dorthin schicken.
H O F M A N N S T H A L S M Y T H O S VON DER „ U N Z E R S T Ö R B A R K E I T DES Ö S T E R R E I C H I S C H E N
WESENS"
„Grillparzers politisches Vermächtnis", Neue Freie Presse, 16. Mai 1 9 1 5 , in: Reden, 2: S 4 0 5 - 1 0 .
Hofmannsthals Essays aus dem ersten Kriegsjahr erreichten ihren Höhepunkt in einem Artikel für die Neue Freie Presse vom 16. Mai 1 9 1 5 , „Grillparzers politisches Vermächtnis". Drei Monate später erschien der Aufsatz als das Anfangsbändchen der „Österreichischen Bibliothek" (Leipzig, Insel Verlag
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1 9 1 5 — 1 9 1 7 ) . Hier finden sich zum ersten Mal ein bewusstes Konstrukt des österreichischen Menschen sowie ein Schema zur Typologie von Slawen und Deutschen. In Bezug auf die von Hofmannsthal so heiß bewunderte Gestalt von Grillparzer muss man sich mit dem Hang des Essayisten zur Mythisierung des Osterreichischen auseinandersetzen. Uberraschenderweise war Grillparzer der einzige Schriftsteller, dessen Name im Titel eines der Kriegsessays Hofmannsthals vorkommt. Übrigens galt Grillparzer für Hofmannsthal aus der ganzen deutschsprachigen Literatur Österreichs seit 1800 als der einzige, der ein „politisches Vermächtnis" hinterlassen habe. Im Allgemeinen aber spielte der verehrte Dramatiker eine geringere Rolle im Diskurs zum Österreichertum, als man erwartet hätte. Einige Essayisten erwähnten ihn zwar, aber mit Ausnahme von Kassner und Torberg erfuhr er keine ausführlichere Analyse als andere Repräsentanten der Eigenart Österreichs. Selbst der Literatursoziologe Oskar Benda verzichtete darauf, dem „stilgeschichtlich vieldeutsamen Österreichertum [...] des Rätsels Grillparzer" nachzugehen. 22 Hofmannsthals Versuch ist umso wertvoller, weil kein anderer diese Distel so kunstvoll gepflückt hat. Er beabsichtigte nichts Geringeres als die,Ausprägung" „unseres reinen österreichischen Selbsts" bei dieser so wenig heroischen Figur hervorzuheben. (2: S 405) Es ging darum, Grillparzer nicht als Politiker zu huldigen, sondern ihn neben Goethe und Kleist als „politischesten K o p f ' unter den deutschen Dichtern seit 1800 zu würdigen. Der Essayist lobte zum Beispiel Grillparzers Urteil, dass Metternich „ein guter Diplomat, aber ein schlechter Politiker" gewesen sei. (2: S 405) Im Gegensatz zu zeitgenössischen Literaten wie den Jungdeutschen oder den Saint-Simonisten ging aber Grillparzer nicht gern ins Allgemeine, sondern eher ins Besondere, nämlich „dieses alte lebendige Staatsgebilde, sein Österreich". (2: S 406) Sein politisches Vermächtnis besteht in seinen Dramen, deren Themen von dem „Herrschen und Beherrschtwerden, und [von der] Gerechtigkeit" in einer Reihe von großen politischen Gestalten zum Wort kommen. Als Hauptbeispiele nehmen laut Hofmannsthal Bancbanus und sein König, Ottokar sowie Rudolf von Habsburg, Rudolf II. und Libussa darunter den Vorrang ein. Auf dieser Basis baute Hofmannsthal eine Parallele zwischen Grillparzers „österreichischer Natur" und seinen dramatischen Herrscherporträts. Das
22 Oskar BENDA, Die österreichische Kulturidee in Staat und Erziehung (Wien : Saturn-Verlag 1936), S 75. Siehe auch Rudolf KASSNER, „Grillparzer", in: Der goldene Drachen (1957), Sämtliche Werke 10 (1991), S 220-234.
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Geheimnis seines tiefen Denkens liege in der Tatsache, dass der Dichter „in seinem Wesen Volk und [...] in seinen Träumen Herrscher" gewesen sei. (2: S 407) Dadurch verstand er von Hause aus die „beiden Zeitideen", die ihn umspielten wie „Gebirg und Tal von wechselnden Nebelschwaden : der Herrscher und das Volk". (2: S 407) Es ist nicht verwunderlich, dass Hofmannsthal seine erste volle Auflistung der Charakterzüge des Österreichers aus einer Gegenüberstellung von zwei Figuren aus dem literarischen Werk zusammenstellte: Rudolf II. und die Frau aus dem Volk in Der arme Spielmann ( 1 8 4 7 ) , in Gestalt der Greißlertochter. „Beide zusammen geben symbolisch Grillparzers Osterreich", das ebenfalls Hofmannsthals Österreich sein sollte. Es ist fast rührend, dass der Dichter den Charaktertypus des Österreichers aufgrund von literarischen anstatt historischen Gestalten herzustellen meinte. Nicht Österreichs „Men of Genius" wie Prinz Eugen und Maria Theresia, sondern repräsentative Gestalten eines Dramatikers von Genie lieferten den ersten Stoff zu einem umfassenden Porträt des Österreichers. Glücklicherweise nahmen fast alle späteren Charakterisierungen des österreichischen Menschen eine breitere Skala von Typen in Betracht. Hofmannsthal listete neun Adjektive auf, ehe er ein erstes Zeitwort einbezog. Der Mangel an Zeitwörtern gibt dem Porträt eine statische Aussicht: Rudolf II. und die Greißlerfrau sind beide „von starker und tiefer Natur, geduldig, weise, gottergeben, unverkünstelt und ausharrend. Beide sind scheu und gehemmt; beide bedürfen sie des Mediums der Liebe, um von Menschen nicht verkannt zu werden, aber mit Gott und der Natur sind sie im reinen." (2: S 407) Einige diese Themen nahmen Anton Wildgans' Entwurf des österreichischen Menschen vorweg: Duldsamkeit, Natürlichkeit der Instinkte und Fleiß ohne Fron; Wildgans machte 1930 jedoch keinen Hinweis auf Gott oder das Gehemmtsein. Im Unterschied zu Richard Schaukai oder Josef Leb unternahm Hofmannsthal keine Gegenüberstellung von Stärken und Schwächen, und er stellte keine Hierarchie ihrer Wesenszüge auf. Die von Grillparzer konzipierten Österreicher stehen mit Gott und der Natur auf besserem Fuße als mit ihren Mitmenschen, eine These, die die berühmte Konzilianz und Mitmenschlichkeit des Wildgans'schen Typus verleugnet. Im Grunde scheint diese erste Auflistung eher ein Porträt von Grillparzer zu sein als ein allgemeingültiges Porträt des Österreichers schlechthin ; noch mehr scheint es ein Selbstporträt des Verfassers zu sein. Auch Hofmannsthal wollte sich als „von starker und tiefer Natur, geduldig, weise, gottergeben, unverkünstelt und ausharrend" ansehen. Übrigens war auch er „scheu und gehemmt, aber mit Gott und der Natur im reinen".
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Nach diesem ersten Versuch eines Porträts des Österreichers geht Hofmannsthal der Frage nach, welche „schöpferischen Staatsmänner" Grillparzer wirklich gekannt habe. Nur eine einzige Gestalt kommt in Betracht, der in Mainz geborene Johann Philipp Stadion, Graf von Warthausen ( 1 7 6 3 - 1 8 2 4 ) , der den Dichter 1 8 2 3 als Hofkonzipisten in die Allgemeine Hofkammer brachte. Grillparzer war zu jung, um Gewinn aus dieser Bekanntschaft ziehen zu können, und im Revolutionsjahr 1848 war er schließlich zu alt, eine bedeutende Rolle an der Seite eines Staatsmannes auf sich zu nehmen. In Bezug auf dieses Versäumnis prägte Hofmannsthal einen Aphorismus, der von Grillparzer selbst hätte stammen können: „Es fehlt in Osterreich selten an geistigen Kräften, öfter an dem Willen, von ihnen Gebrauch zu machen." (2: S 408) Unbewusst formuliert Hofmannsthal hier eine These, die das Lebenswerk Musils durchdringt: immer werde in Österreich eine mögliche Stärke durch eine entsprechende Schwäche vereitelt. Auf diese melancholische Bestätigung folgt der Versuch, „die spezifisch österreichische Geistigkeit" mit der deutschen zu vergleichen. Erwartungsgemäß war es Grillparzers Charakter, der „den Begriff eines unzerstörbaren österreichischen Wesens" inspirierte, aber das Ergebnis dieses Vergleichs führte ins Unerwartete: „Der Deutsche hat ein schwieriges, behindertes Gefühl zur Gegenwart. Sei es Epoche, sei es Augenblick, ihm fällt nicht leicht, in der Zeit zu leben. Er ist hier und nicht hier. Er ist über der Zeit und nicht in ihr. Darum wohl ist bei keinem Volk so viel von der Zeit die Rede, als bei den Deutschen ; sie ringen um den Sinn der Gegenwart, uns [Österreichern] ist er gegeben." (2 : S 408-409) Diese bedenklichen Sätze entsprangen dem Kopf des Dichters ohne irgendeine vorherige Erörterung des Zeitgefühls. Man weiß nicht, welcher Charakterzug bzw. Text Grillparzers Hofmannsthal zu diesem Thema hinleitet, und merkwürdigerweise ist das Thema des „In-der-Gegenwart Lebens" der Österreicher bei späteren Essayisten kaum wieder aufgetaucht. Den Kulturkritiker beschäftigt der Gedanke, dass „dies Klare, Gegenwärtige [...] am schönsten im österreichischen Volk realisiert [ist], unter den oberen Ständen am schönsten in den Frauen". (2: S 409) Außer in dem zwei Jahre später erschienenen Essay „Maria Theresia" hat Hofmannsthal die österreichischen Frauen kaum erwähnt, und mit Ausnahme von Robert Müller haben die übrigen Essayisten das Thema ebenfalls vernachlässigt. In ihrem unbehinderten Verhältnis zur Gegenwart sah der Dichter von Rodaun aber „die geheime Quelle des Glückgefühls, das von Haydns, Mozarts, Schuberts, Strauß' Musik ausströmt [...]" (2: S 409) Man kann mit Sicherheit annehmen, dass der Librettist Richard Strauss', nicht die-
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sen, sondern Johann Strauß den Sohn neben das große Dreigestirn österreichischer Musik setzen wollte. Ohne es ausdrücklich zu sagen, scheint der Essayist zu ahnen, dass diese Komponisten das „Schöne, Gesegnete" aus der Seele der österreichischen Frauen geschöpft haben. (2 : S 409) Ein verwandter Gedanke liegt dem Libretto von Der Rosenkavalier zugrunde. Noch ist der Dichter mit der Auflistung der österreichischen „Seelenpunkte" in Grillparzers dichterischen Werken nicht fertig. Eine weitere Liste über „alle anderen Seiten des österreichischen Wesens" schildert ziemlich komplizierte Geisteshaltungen. (2 : S 409) Leider gehört diese Passage zu den verwickeltsten, die der Meister der Klarheit je über das Österreichertum geschrieben hat. Er spricht von der „natürlichen Klugheit [...] die naiv ist, den Mutterwitz ohne einen Zusatz des Witzelnden [...]; eine völlige Einfachheit, wovon der oberste Stand sich den Begriff der Eleganz ausgeprägt hat [...]" (2: S 409) In „Grillparzers politisches Vermächtnis" heißt es dazu weiter, dass dieser Begriff der Eleganz sich „mit dem tieferen der Vornehmheit kaum berührt; dann eine gewisse Kargheit und Behinderung des Ausdrucks, das Gegenteil etwa der preußischen Gewandtheit und Redesicherheit ; jenes lieber zu wenig als zu viel zu sagen, war bei Grillparzer bis zum Grillenhaften ausgebildet; in der Tat sagt er meistens mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mochte." (2: S 409) Durch dieses Geständnis wird das von Hofmannsthal vorher Geschriebene sehr kompliziert und unwillkürlich richtet sich der Blick des Lesers auf die noch nicht realisierte Gestalt von Hans Karl Bühl in der Der Schwierige (1921), die dem wortkargen Österreicher einen redegewandten Preußen gegenüberstellt. Obwohl der Essay zu Grillparzer auf den Artikel „Preuße und Österreicher. Ein Schema" vom Dezember 1 9 1 7 zu verweisen scheint, finden darin nur wenige der dreißig Begriffspaare eine Vorwegnahme. Selbst die Polarität „Redesicherheit - Behinderung des Ausdrucks" kommt dort nur in der verschleierten Form „Stärke der Dialektik — Ablehnung der Dialektik" vor. Zu viele weitere Essays des Dichters zum Österreichertum sind zwischen Frühjahr 1 9 1 5 und Weihnachten 1 9 1 7 entstanden, als dass er diesen frühen Text noch im Kopf gehabt hätte. Zum Abschluss schlägt Hofmannsthal einen Zug von Grillparzers Geistigkeit als ein Merkmal des Österreichischen schlechthin vor. Der Essay erreicht seinen Höhepunkt, als der Kritiker die höchst diskutierbare Behauptung wagt, „sein [Grillparzers] Österreichertum hatte nichts Problematisches. Seinem innersten Gemüt, dem Leben seines Lebens, der Phantasie standen die slawischen Böhmen und Mährer nahe, wie die Steirer oder Tiroler [...] Böhmen und die Erblande, dies war ihm [Grillparzer] gottgewollte Gegebenheit, nicht ihm
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bloß, auch dem Genius in ihm, der aus dieser Ländereinheit von allen auf Erden seine Heimat gemacht hatte." (2: S 409-410) Hermann Bahr hat in seiner Sammlung Schwarzgelb (1917) einen ganzen Essay über die Entstehung dieser geopolitischen Einheit seit dem Jahr 1526 geschrieben, aber Hofmannsthal gab sich mit der Mythisierung von Grillparzers „Wahlheimat" zufrieden, ohne auf die Geschichte einzugehen. Es ist nahezu unbegreiflich, wie ein Erzwiener wie Hofmannsthal dazu kam, diese „gottgewollte Gegebenheit" für unproblematisch zu halten, aber hatte Hofmannsthal sich wohl so tief in Grillparzers Geisteshaltung hineingedacht, dass er die geopolitische Lage von 1 9 1 5 aus dem Auge verloren hat. Der Wille zum Mythisieren hatte den Dichter so verblendet, dass er nicht mehr sehen konnte, dass Grillparzer selbst alles Österreichische problematisiert hat. Während Schillers historische Dramen „in aller Herren Länder" spielten, handelten jene Grillparzers ausschließlich in Osterreich, entweder den Erblanden samt Böhmen sowie Ungarn oder Spanien. Der Text gipfelt in einem Lobgesang auf den Geist der Konzilianz, mit dem Grillparzer die Gestalten des „slawischen" Königs Ottokar und des „deutschen" Rudolf von Habsburg in König Ottokars Glück und Ende (1825) kontrastiert hat: „[...] es ist das glänzende, dämonisch kraftvolle, aber unsichere slawische Seelengebilde mit ebensolcher gestaltender Liebe gesehen wie das schlichte tüchtige des Deutschen, der auf Organisation und Dauerhaftigkeit ausgeht." (2 : S 410) Wie soll der Leser diese Passage anders interpretieren als ein Wunschbild in Bezug auf eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschösterreichern in der k. u. k. Armee ? Die seinem großen Vorgänger zugeschriebene „gestaltende Liebe" kennzeichnet wohl am besten die Geisteshaltung Hofmannsthals selbst, die in seinen Opernlibrettos und Dramen deutlich zum Ausdruck kommt. Bei der Suche nach der Eigenart Österreichs war es aber eher eine „mythisierende Liebe", die das Leitmotiv seiner Essayistik bildet. Dieser Hang kommt zum Abschluss des Essays eindeutig zum Vorschein, als Hofmannsthal in wenigen Sätzen die Merkmale skizzierte, welchen er zwei Jahre später bei der Kaiserin Maria Theresia huldigen würde. Das Bild des „theresianischen Menschen", jenes Menschenschlags, der eine dominante Rolle in Hofmannsthals Essays, ebenso wie denjenigen seiner Nachfolger Wildgans und Thun-Hohenstein, spielte, taucht hier zum ersten Mal auf. Diese erste Formulierung weist eine Frische und Unschuld auf, die den Leser fasziniert: „Zum Schlüsse nenne ich den österreichischen Sinn für das Gemäße, die schöne Mitgift unsrer mittelalterlichen, von zartester Kultur durchtränkten Jahrhunderte, wovon uns trotz allem noch heute die Möglichkeit des Zusammenlebens ge-
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mischter Völker in gemeinsamer Heimat geblieben ist, die tolerante Vitalität, die uns durchträgt durch die schwierigen Zeiten [ . . . ] " (2: S 409) Den Kern des theresianischen Menschen bildet jene Tugend, die dem Hassinger-LhotskyParadigma über die „vermittelnde Arbeit" der k.k. Beamten zugrunde liegt, die überall in Cisleithanien „tolerante Vitalität" bekundet haben. Weder hier noch später befasste sich der Dichter allerdings mit einer soziologischen Analyse dieser Konzilianz als einer „Mitgift" der k.k. Beamten. Hofmannsthal sah als die Quintessenz des politischen Vermächtnisses von Grillparzer, dass das ganze österreichische Volk und nicht bloß eine einzelne soziale Klasse einen Sinn für das Gemäße besitze. Mit dieser These kündigt sich eine ganze Anzahl späterer Auseinandersetzungen mit der Einmaligkeit Österreichs an. Welche Rolle spielte die „Mythisierung" im Kontext des Diskurses zum Osterreichertum ? In seiner Grundbedeutung ist ein Mythos eine Erzählung, die den Ursprung oder den Charakter eines bestimmten Phänomens erklären will. Normalerweise spielen diese Erzählungen in einem zeitlosen Raum außerhalb der geschichtlichen Zeit. Der Mythos setzt eine vorgeschichtliche bzw. eine außergeschichtliche Zeit voraus, die parallel zu unserer historischen Zeitabfolge läuft, und das Mythische geschieht außerhalb der menschlichen Zeit in einer unbestimmten Vorzeit. Wenn man von einer Mythisierung in Hofmannsthals Essays spricht, meint man daher seine Bereitschaft, gewisse Tendenzen oder Geisteshaltungen aus der Geschichte ins Zeitlose zu erheben. Ein mythisierendes Denken sucht keine sozialwissenschaftlichen Hypothesen, um Charakterzüge zu erklären. Statt eines sozialen Kontexts bevorzugt es einen zeitlosen Kontext für die Phänomene des Osterreichertums. Nicht die Zeitenfolge der Geschichte, sondern das Zeitlose des Mythischen habe das „Osterreichische" zustande gebracht. Wenn Hofmannsthal zum Beispiel von Grillparzers Begriff der „gottgewollten Gegebenheit" der Einheit Böhmens mit den Erblanden spricht (2: S 4 1 0 ) , so stellt er sich vor, dass Gott selbst diese geopolitische Realität ins Leben gerufen habe. Wenn der Essayist von „einem unzerstörbaren österreichischen Wesen" spricht (2: 408), so beruft er sich auf ein überzeitliches „Wesen", in dem das Menschliche unzerstörbar fortdauere. Das, was die Menschen geschaffen haben, wird in mythischer Weise in ein Himmelreich der ewig dauernden Realitäten enthoben. Man könnte solche Redewendungen zu verharmlosen versuchen, indem man darauf hinweist, dass das angeblich Mythische nur eine gleichnishafte Sprechweise sei, die nicht ernst zu nehmen ist. Als Postmoderne sind wir geneigt, das Zeitlose und das Göttliche wieder durch Entmythisierung ins Historische und
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Menschliche zuriickzuwandeln, und es ist uns durchaus erlaubt, Hofmannsthals „unzerstörbares österreichisches Wesen" so zu entzaubern. Das bedeutet aber nicht, dass der Dichter unserer Umgestaltung seines Denkens beigepflicht hätte, vielmehr müssen wir annehmen, dass Hofmannsthal, der angeblich österreichische Charakterzüge wie die „tolerante Vitalität" mythisiert hat, selbst an den zeitlosen Bereich geglaubt hat. Für ihn haftete dem „ewigen Österreichertum" etwas Zeitloses und Außergeschichtliches an. Der Charaktertypus des theresianischen Menschen sei dazu bestimmt, den Wandel der Geschichte überleben, wenn nicht im Habsburgerreich, so doch im Himmelreich der „Wesen", auch wenn für uns Postmoderne solche Wortmagie ihren Zauber längst verloren hat. Hofmannsthals Vorliebe für Mythisierungen hat auch seine Dramen unerhört bereichert : Gestalten wie die Marschallin in Der Rosenkavalier und Hans Karl Bühl in Der Schwierige haben diese österreichischen Typen aus ihrer Vergänglichkeit in den „zeitlosen" Bereich der Kunst hinauf gehoben. Aber diese Begabung des Dichters, diese dramatischen Charaktere mit „gestaltender Liebe" zu erschaffen, bedeutet nicht, dass es legitim war, einen allgemeinen österreichischen Charaktertypus auf ähnliche Weise heraufzubeschwören. Verallgemeinernde Umschreibungen wie die neun Adjektive in „Grillparzers politisches Vermächtnis" beriefen sich auf eine zu schmale Datenauswahl, um sozialwissenschaftlich gültig zu sein, und entspringen der Phantasie des Dichters und sind Geschöpfe seines literarischen Genies. Mehrere Nachfolger haben sich bemüht, Hofmannsthals Anregungen ausführlich auszuarbeiten. Obwohl seine Ideen auf den ganzen nach 1 9 1 5 fortgesetzten Diskurs zum Österreichertum schöpferisch wirkten, wiesen seine Denkanstöße nur einen geringen wissenschaftlichen Wert auf. Auch wenn wir seine literarischen Geistesblitze genießen, müssen wir seine Produkte erst entmythisieren, eher wir sie auf historische Einzelfälle beziehen. Sie sind fachlich nur in der nachprüfbaren Form verwendbar, die ihnen das Hassinger-LhotskyParadigma verliehen hat. Hofmannsthal war freilich nicht der einzige Essayist, der Teilaspekte des Österreichischen ins Mythische erhob. Richard von Kralik hat die Landschaft des Habsburgerreichs in katholischer Manier mythisiert, und Hofmannsthals Freund Leopold von Andrian-Werburg hat den ganzen Geschichtsverlauf in Österreich seit 1 1 0 0 in ein mythisches Mysterium verwandelt. Im Vergleich zu diesen monomanischen Geistern scheint Hofmannsthals Zuflucht ins Zeitlose harmlos, sozusagen eine literarische Ausschmückung seiner Argumentation. Trotzdem bleibt der Hang zum Mythisieren ein Hindernis zur Entfaltung eines
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ernst zu nehmenden Diskurses zum Osterreichertum. Schwärmereien wie jene von Bahr, Kralik und Hanslik haben Robert Musil dazu bewogen, gar keinem Essay über die Eigenart Österreichs zu vertrauen. Seine alles verspottende Haltung gründete im Fehlen eines mythenfreien Diskurses über die Einmaligkeit des Habsburgerreichs. Bei Musil und seinem Freunde Robert Müller wurde die „tolerante Vitalität" so zu einer „satirischen Vitalität". Diese beiden Arten von Vitalität, eine ins Mythische erhobene Toleranz einerseits und eine zur Satire überzeichnete Charakterlosigkeit andererseits, bilden die Lieblingsthemen der beiden produktivsten Schriftsteller, deren Beschäftigung mit der Eigenart Österreichs einen wesentlichen Bestandteil ihres literarischem Werks bildete, H o f mannsthal und Musil. Wer eine Mythisierung des spezifisch Österreichischen bevorzugt, kann sich Hofmannsthal und dessen Verehrern anschließen, und wer eine Entmythisierung des Österreichertums anstrebt, kann sich auf Musil berufen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik findet am besten zwischen diesen beiden Polen statt ; als ein Musterbeispiel dafür habe ich das Hassinger-Lhotsky-Paradigma hervorgehoben, in dem Sozialwissenschaftler durch Idealtypen nachgeprüft haben, was Hofmannsthal mythisierte und Musil zur Satire verarbeitete.
B A H R ÜBER DAS „ Ö S T E R R E I C H I S C H E W U N D E R " DER N A T I O N A L E N
SELBSTVERLEUGNUNG
Hermann B A H R (1863-1934), Schwarzgelb (Berlin: Fischer 1 9 1 7 ) Hermann Bahr wird für gewöhnlich als „typisch österreichisch" angesehen oder, besser gesagt, als typisch für den „Feuilletonismus" der Wiener Kultur um 1 9 0 0 . In unserer Studie muss er aber präziser charakterisiert werden. Was der in Prag geborene Philosoph Hans Prager 1 9 2 8 über die Österreicher sagte, trifft hervorragend auf diesen Vielschreiber zu. „Wir [Österreicher sind] nicht Wurzelmenschen [ . . . ] . Beweglich gehen wir von Problem zu Problem, wir sind geistig immer auf der Reise und wandern immer hinauf und hinaus von unserem Umstand hinweg stets zu dem Fremden hin [ . . . ] " 2 3 Hermann Bahr war immer in Bewegung. Im Bereich der Ideen war er das, was Oskar Benda ei-
23 Hans PRAGER, „Der Österreicher", in: Erwin RIEGER (Hg.), Ewiges Österreich. Ein Spiegel seiner Kultur (Wien: Manz 1928), S 222.
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nen Vaganten nannte, jemand, der immer auf der Wanderschaft war und der niemals Wurzeln in ein bestimmtes Ideengut senkte. Hermann Bahr war der Prototyp eines Geistesvaganten. Diese Rastlosigkeit lenkte die Aufmerksamkeit dieses Bewegungsmenschen unvermeidlich auf die Problematik der österreichischen Eigenart. Der Erste Weltkrieg überraschte den rastlosen Ideensammler in seinem zweiundfünfzigsten Lebensjahr, als er schon mehr als achtzig Bücher veröffentlicht hatte. In den Essays des Bandes Austriaca ( 1 9 1 1 ) hatte er die Verfassung Österreich-Ungarns in scharfen Worten angeprangert. Seit er in den Jahren 1906/07 Regisseur bei seinem ehemaligen Wiener Kollegen Max Reinhardt ( 1 8 7 3 - 1 9 4 3 ) in Berlin gewesen war, verfügte er über das nötige geistige Rüstzeug, um Vergleiche zwischen Preußen und Osterreich anzustellen. Die ersten dieser Art stammten aus dem Jahr 1 9 1 4 und erschienen als das erste Kapitel seiner Kriegsessaysammlung Schwarzgelb (1917). Interessanterweise hat Bahr das Buch „dem großen Österreicher Richard von Kralik" gewidmet. Es wäre verlockend, in Bahrs Untersuchung der Parallelen zwischen den beiden Mittelmächten erste Ansätze zu Musils concetto einer „Parallelaktion" zwischen Österreich und Deutschland in Der Mann ohne Eigenschaften (1930— 1943) zu erkennen. Bahr sah im Ersten Weltkrieg einen willkommenen Anlass, Österreich mit dem moderneren Rivalen erfolgreich in Konkurrenz treten zu lassen. Nach Bahrs Auffassung war der Erste Weltkrieg der Anlass dazu, dass Österreich und Preußen erst „einander wirklich kennengelernt" hätten und sich gegenseitig ergänzen vermochten. (S 9) Dieser Optimismus verlangte einen detaillierten Vergleich der Stärken und Schwächen der beiden Länder, den der Essayist im ersten Kapitel „Deutschland und Österreich" (1914) formuliert. Wie Hofmannsthal, Robert Müller und Richard von Kralik vertrat auch Bahr den Standpunkt des „nationalistischen Kosmopolitismus". Obwohl Österreich bis 1866 offiziell ein Teil Deutschlands blieb, ist das Habsburgerreich seit eh und je auch außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gestanden. Die Dialektik zwischen den deutschen und nichtdeutschen Beziehungen Österreichs und deren Rückwirkung auf beide Länder bilden das Hauptthema des Essays. Bahr schuf darin eine glänzende Metapher für die Rolle Österreichs in der gesamtdeutschen Geschichte. Immer habe Österreich in Deutschland „aus der vierten Dimension, aus einem Jenseits, jedenfalls von draußen, von drüben, vom anderen Ufer [...]" mitgetan und immer zugleich etwas Wesentliches zurückgehalten, das die Deutschen nicht spürten. (S 13) Ununterbrochen hätten die „Reichsdeutschen" die einundfünfzig Millionen Menschen von ganz
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Osterreich mit dessen zwölf Millionen „Deutschösterreichern" verwechselt. Bahr beklagt sich, dass seit Bismarck kein Deutscher Österreichs Eigenartigkeit verstanden habe. (S 23, 48) Vom Krieg angeregt, wollte der Berlinkenner die Reichsdeutschen dazu überreden, ihre Verständnislücke zu schließen, damit sich Österreich als die vierte Dimension Deutschlands profilieren könne. Mit der Absicht, die Deutschen über dieses andere Ufer ihrer Kultur zu informieren, stellte Bahr die Geschichte Österreichs seit 1 5 26 in einem Abriss dar. Österreich entstand nach dem Tod des Ungarnkönigs Lajos II. in der Niederlage von Mohács (29. August 1526), als der tatkräftige Ferdinand I. (reg. 1 5 2 1 1564) die Kronen Böhmens und Ungarns mit jener der Habsburger Erblande vereinigte. Dies geschah durch das Zusammenfließen von vier Bedürfnissen : es ging um „ein dynastisches Bedürfnis [...], ein Bedürfnis des Erblandes [...], ein Bedürfnis Böhmens, ein Bedürfnis Ungarns." (S 14) In einem Satz, der die Ansichten Robert Müllers vorwegnahm, bemerkte Bahr, „Ferdinand war der Erbe Maximilians, auch der Erbe seiner unsteten Seele, der letzte Ritter spukt in ihm noch nach" (S 1 4 - 1 5 ) , und war damit nicht der einzige, der in der „unsteten Seele" der Habsburger wie Maximilian I. etwas typisch Österreichisches sah. Darauf folgt Bahrs erster Entwurf der Österreicher als Gegenstück zu den anderen Deutschen: „Es waren Menschen von einer fruchtbaren, aber stockenden Tüchtigkeit, unfähig, ihr Wesen selbst aus der eigenen Tiefe zu heben. Sie blieben in sich stecken, wenn sie nicht aufgeschreckt wurden." (S 1 5 ) Daraus meint man fast die Stimme des Polizeiministers Josef Graf Sedlnitzky ( 1 7 7 8 - 1 8 5 5 ) zu hören, als dieser den Kaiser Franz I. dazu anregte, seine Völker durch Polizeispitzel und politische Gefängnisse aufzuschrecken. Bahr hielt sich für einen Experten in Bezug auf die Böhmen (d.h. die Tschechen), und äußerte sich in herablassender Arroganz gegen sie. Wie die Ungarn brauchten die Böhmen „durch den drohenden Anblick oder Angriff einer befremdenden Art herausgefordert" zu werden. (S 1 5 ) Das liest sich wie die Propaganda für die Notwendigkeit des Habsburgerreichs als Sauerteig, der in allen drei Völkern - und am dringendsten bei den Deutschösterreichern - das mangelnde Selbstbewusstsein erwecken sollte. Ohne die anderen beiden bleibe jedes der drei Völker „inkomplett, unfertig, ein Fragment [...] ein verworrenes Vorspiel seiner selbst [...]" (S 16) Glücklicherweise hätten sich die drei vermeintlichen „Völker-Fragmente" unter der Führung der Habsburger miteinander vermählt. Bahr vertiefte die biologistische Metapher einer Völkerehe durch die pikante Frage, wer in der Ehe zwischen Österreich und den zwei Kronländern Ungarn und Böhmen denn der Mann und wer das Weib sei ? Es ist das Glück Öster-
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reichs gewesen, dass keiner wisse, „welche Rechte, welche Pflichten, welchen Platz" den Partnern zuteil gewesen sind. Der „Geistesvagant" bekundet seine eigene Rastlosigkeit, als er sich mit der Bemerkung tröstet: „Aber vielleicht soll Osterreich gar nicht zur Ruhe kommen, weil es vielleicht sein Wesen ist, Bewegung zu sein, ein ewiges Aufwärts seiner [...] emporgetragenen Völker." (S 1 7 ) Selbst Oskar Benda, der Erfinder des Begriffs vom österreichischen Menschen als Vaganten, hat nie zu postulieren gewagt, dass Osterreich selbst ein Vagant gewesen sei. Tragikomisch klingt dieser vom Krieg angeregte Optimismus in diesem Aufschrei des verblendeten Sehers Hermann Bahr an, denn der erhoffte Aufwärtsdrang des immer in Bewegung befindlichen Osterreich fand im November 1 9 1 8 sein Ende. Der Kern von Bahrs Vision beruhte auf seinem Glauben, dass sich die Ungarn und Böhmen im Jahr 1 5 2 6 „frei für Osterreich entschlossen haben, keines der österreichischen Länder ist mit Waffen erobert worden, keines ist bezwungen worden, sie fanden sich zusammen und wuchsen zusammen [...]" (S 17) Aus den sich Gemeinschaft wünschenden Völkern sei etwas Größeres entstanden, ein erster europäischer Versuch „einer Organisation von Völkern in Freiheit, einer Ordnung des Vielfältigen zur Eintracht, eines neuen Staates aus alten Staaten [...]" (S 1 7 ) Selbstverständlich habe ein derartiger Völkerstaat mehr Zeit zur Reife als ein Nationalstaat benötigt. Daraus folgte auch die Zukunftsvision eines „Völkerbundesstaates", der nach den Worten Karl Renners „in Erdteilen denken" solle. (S 2 1 1 ) Wie hohl erscheint diese Phantasie, diese Vision eines „Werkbundes", der nach dem Krieg Deutschland und Österreich mit der Türkei und Persien „geistig, sittlich und wirtschaftlich" verbinden soll. Für diesen künftigen Völkerbund sei Österreich seit eh und je ein „noch ungewisses, gespenstisch schwankendes, zaghaft ahnungsvolles Vorbild" (S 2 1 ) gewesen, von dem Musil schon 1 9 1 3 sagte, dass es nichts anderes als das Vorbild eines verfehlten „Weltexperiments sei." 24 Ganz wie Robert Müller zwei Jahre später bemühte sich der zum Futuristen gewordene Denker, das alte Österreich als das Vorbild eines neuen Europas zu legitimieren: „Wir Österreicher [... schaffen] das Modell des neuen Europa." Österreich sollte nicht mehr wie zwischen 1 8 6 6 und 1 9 1 4 der bloße „Zuschauer Europas" sein, der keine Rolle mehr in Deutschland erfüllte. (S 22) Unverhohlen schildert der Geistesvagant sich selbst, wenn er bedauert, „ [ . . . ] es ist kein Wunder, wenn wir [Österreicher] Ästheten wurden, Dilettanten, Kostgänger aller geistigen Moden". (S 2 1 ) Der
24 Robert MUSIL, „Politik in Österreich", in: Werke (Hamburg: Rowohlt 1955), 2 : S 590.
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Feinschmecker der geistigen Moden war von der Sehnsucht erfüllt, sich mit „dem Weltdeutschen der Zukunft" in einem „aufrechten, selbstbewussten, tatbereiten Osterreich" zu engagieren. Im nächsten Kapitel von Schwarzgelb, „Das österreichische Wunder", schwächt sich das Kriegsfieber etwas ab. Trügerischerweise erschien die gleiche Phrase in einem Bahr'schen Buchtitel aus demselben Jahr, Das österreichische Wunder. Einladung nach Salzburg (Stuttgart 1915). Jedoch hat das in Schwarzgelb gemeinte vielfache Wunder überhaupt nichts mit Bahrs Wahlheimat Salzburg zu tun. In erster Linie bestehe das Wunder gerade in der vom Krieg verursachten Verwandlung Österreichs aus einer Stimmung des Zwistes in eine des Opfermuts. Der Kriegsbegeisterte ging auf die Suche nach Vorläufern dieser durch die politische Situation aufgezwungenen Verwandlung und seine Methode der Quellenauffrischung (ressourcement) führte ihn zu einem unerwarteten Präzedenzfall. Der Amateurhistoriker erzählt eine Anekdote vom Beginn der Regentschaft Maria Theresias, nämlich den Treueschwur der ungarischen Magnaten zu Preßburg im Jahr 1741. Auf einen Kupferstich dieser Szene aus seiner Kindheit zurückblickend, setzt sich der Dramatiker daran, die Szene auf dreieinhalb Seiten zu theatralisieren. Die stattliche Kaiserin überredet die ungarischen Magnaten, die „Pragmatische Sanktion" ihres Vaters Karl VI. von 1 7 1 3 freiwillig zu unterstützen und erlöst dadurch Ungarn aus den Wirren der Rákóczi-Kriege. Das österreichische Wunder bestehe darin, dass die Ungarn die Bedrohung durch Preußen im Jahre 1741 nicht ausgenützt haben, ihren jahrhundertealten Wunsch nach Eigenständigkeit zu erfüllen und das Band zum Reich zu zerreißen, sondern im Gegenteil ein noch engeres Bündnis mit dem Kaiserhaus geschaffen haben. (S 33) Der Erzähler sucht keine kontextuelle Erklärung dieses politischen Umschwungs, sondern beschwört den Begriff eines unerklärlichen Wunders herauf: „Aus solchen Unbegreiflichkeiten, Unerklärlichkeiten besteht Österreichs Geschichte. Denn bei allen Völkern Österreichs kehrt dieser Augenblick einer tiefsten Selbstverleugnung, die noch im Grunde nur eine tiefste Selbstbesinnung ist, immer wieder [...]" (S 34) Das Wort von der „Selbstverleugnung" nimmt den Schlüsselbegriff vorweg, den Franz Werfel 1936 einführte, den Ausdruck des sacrificium nationis. Bahr stilisiert den Entschluss der ungarischen Magnaten im Preßburger Schwur von 1741 zu einem solchen sacrificium nationis, und er fand vorgeblich keine historische Erklärung dafür. Im Vorausklang zum Glauben an die göttliche Vorsehung eines Andrian-Werburg gründet Bahr seine Legitimierung des Habsburgerreichs auf einem Wunder Gottes.
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Nach dieser Quellenauffrischung aus Preßburg ging der Autor seinen eigenen Erinnerungen des Wagnerkults der achtziger Jahre nach. Er schrieb eine der seltenen autobiographischen Erklärungen bezüglich der Nicht-Bejahung der österreichischen Eigenart: „Meine Generation, wir, die jetzt um die Fünfzig sind, wir wuchsen in Vergessenheit Österreichs auf. Denn unseren Vätern war Osterreich abhanden gekommen [...] Aus Großdeutschen waren sie über Nacht [im Jahr 1866] Kleinösterreicher geworden. Es war nirgends mehr ein Platz für sie." (S 3 5) Bahr selbst wuchs als ein deutscher Irredentist auf, der sich an den Vorbildern Bismarck, Moltke und Wagner nährte. 1883 hielt der Neunzehnjährige die Rede beim Trauerkommers der Wiener Studentenschaft für Richard Wagner; vierzehn Tage später wurde er relegiert, worauf er nach Berlin ging. Dort kam er allmählich zur Uberzeugung, dass Deutschland ein starkes Osterreich brauche, und im Ersten Weltkrieg predigte er diese Lektion seinen Landsleuten. Hier formulierte er enthusiastisch einen ausgesprochenen österreichischen Mythos. Im darwinistischen Kampf der Nationalitäten miteinander werde jedes Volk selbstbewusster und zugleich vom Ganzen des Reichs abhängiger, „[...] alle seine Nationen brauchen es [das Reich], damit das Wesen einer jeden erst ganz in Erfüllung gehe." (S 39) Die verschiedenen Nationen seien zu Wachsamkeit und Misstrauen gegeneinander gezwungen, was ihre Willenskraft stärke. Der Kern dieses Mythos eines „schöpferischen Misstrauens" 25 liegt in Bahrs Behauptung: „So wächst in der Organisation der Völker, die Österreich ist, jedem dieser Völker etwas zu, an Kraft, an Mut, an Seele, so viel, dass es ihm jedes Opfer aufwiegt." (S 40) Interessanterweise sind es Gemütstxigenáen wie Kraft und Mut, und nicht Geistestugenden wie Ideenreichtum und Genie, die Bahr als Belohnung des Misstrauens innerhalb des Vielvölkerstaats aufzählt. Demgegenüber hat ein satirischer Deuter Österreichs wie Robert Musil im Gegenteil den Gewinn an Genie betont und den Mangel an Mut bedauert. Angesichts solcher Meinungsgegensätze beginnt man zu verstehen, warum Musil alles Suchen nach der österreichischen Eigenart skeptisch ablehnte. Pathos durchdringt den ganzen Absatz, in dem sich im Jahr 1 9 1 5 ein aufgewühlter Bahr die Auflösung des Habsburgerreichs vorstellte. Inwieweit hat sich diese Vorhersage eines gegenseitigen Verlusts nach 1 9 1 8 erfüllt ? „Jedes der Völker Österreichs ist an den andern erstarkt, es kann von ihnen nicht mehr
25 Vgl. Herbert EISENREICH, „Das schöpferische Misstrauen oder Ist Österreichs Literatur eine österreichische Literatur?", in: Otto BASIL u.a., Das große Erbe. Aufsätze zur österreichischen Literatur (Graz7Wien: Stiasny 1962), S 94—126.
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lassen, weil es, ihnen entrissen, an sich selber Schaden litt [...] Aber was der österreichische Deutsche, was der Tscheche ist, das sind sie doch nur in Österreich geworden, einer am andern. Was sie selber an sich lieben, worauf sie so stolz sind, was ihnen ihr eigenes Wesen erst recht wert macht, gerade das haben sie von Österreich." (S 40-41) Hier stellt sich die Frage, wie viele Tschechen diesem Patriotismus im Jahr 1915 noch immer beigepflichtet hätten. Das Wunder, mit dem Bahr prahlte, bestand um 18 50 in der gegenseitigen Anerkennung dieses ineinander Verwobenseins vor allem seitens der slawischen Völker. Aber im Jahr 1 9 1 5 war dieses Wunder längst Vergangenheit und nur mehr wenige Slawen glaubten, dass sie ihr „eigenes Wesen" Österreich verdankten. Hugo Hassinger hat den Begriff „der österreichische Mensch" gerade deshalb geprägt, um das Entstehen dieser gegenseitigen Anerkennung zu erklären. Der gebürtige Wiener Geograf Hassinger hat dieses „Wunder" erklärt, indem er die ununterbrochene Pflege des staatserhaltenden Bewusstseins der eigens dazu ausgebildeten Klasse der k.k. Beamten zuschrieb. Was Bahr ein Wunder genannt hatte, führte der Geograf auf das Sozialkapital einer Beamtenschaft zurück, die es verstand, die von Bahr gepriesene Interdependenz der Nationalitäten aufrechtzuerhalten. Dieser ganze Diskurs über den „österreichischen Menschen" befasst sich mehr oder weniger mit Bahrs angeblichem Wunder der nationalen Selbstverleugnung der k.k. Beamten, die der ständigen Versuchung widerstehen mussten, ihre eigene Nationalität gegen jene der anderen zu verfechten. Nach den Haupttheoretikern dieser Vision des österreichischen Menschen, wie Hassinger, Wildgans und Lhotsky, haben die k.k. Beamten das „Wunder" durch ihr sacrificium nationis und ihr Engagement fur das von Bahr gepriesene Wohl des Ganzen bewusst verwirklicht. Das Wunder stammte also von Menschen, nicht von Gott. Laut dem Hassinger-Lhotsky-Paradigma liegt die Erklärung der „Unbegreiflichkeiten" der Geschichte Österreichs im Sozialkapital der Beamten und Offiziere, jener Dienstaristokraten, die auf ihrer Wanderschaft unter den Nationalitäten des Reiches gute Dienste leisteten. Durch unermüdliche Arbeit haben diese „österreichischen Menschen" den Mythos eines von Gott gewollten Vielvölkerstaats ermöglicht. Das österreichische Wunder verdankt sich dem Ausbildungsweg, der diesen Beamten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ihr berufliches Ethos beibrachte. Der „Geistesvagant" aus Salzburg bewies zu wenig Verständnis für die Sozialwissenschaften, um diese Erklärung seines „Wunders" akzeptieren zu können, aber in seiner Unkenntnis der Soziologie ähnelte er den meisten der zeitgenössischen Essayisten. Man könnte fast sagen, dass die Suche
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nach der österreichischen Eigenart in einem Vakuum der Sozialwissenschaften vor sich ging. Bahrs theatralische Darstellung des Preßburger Schwurs sowie seine dithyrambischen Lobgesänge auf die Unbegreiflichkeiten der österreichischen Geschichte ersetzten eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Problematik. Rhetorisch blieb Bahr ein geschickter Schriftsteller, auch wenn er im dritten Kapitel von Schwarzgelb in den politischen Wissenschaften dilettiert. Dort konstruiert er eine Theorie von der Besonderheit der Verfassung Österreichs. Zunächst vergleicht der barockisierende Dichter die scheinbar planlose Entwicklung des Staates mit derjenigen einer Burg: „Österreich wuchs wild auf, Stück um Stück, lauter Einzelbauten, ohne Plan. Es entstand, wie Burgen entstehen, Stück um Stück [...]" (S 49) Dazu gehörte eine Theorie vom Wesen des Barock, die Bahr dem Kunsthistoriker Alois Riegl verdankt. „Diese Fassade des Barocks hat sein bester Kenner, Alois Riegl, die .repräsentative Schauwand' genannt; das Wort trifft ihr schillerndes, vieldeutiges, entgleitendes Wesen. Eine Wand. Sie verbirgt also. Doch eine Schauwand: also fürs Auge." (S 50) Zauberhaft verfuhrt diese nach außen gekehrte Schauwand unseren Blick, sodass „wir etwas sehen sollen und dabei doch im unklaren bleiben, ob, was wir sehen, selbst vorhanden ist, oder vielleicht bloß in unsern eigenen Augen." (S 51) Diese These gefiel dem Ästheten Bahr ungemein, denn bei so einer Kunst und in so einem Land wie Österreich wirkten die Täuschung und die Wahrheit in einer Dialektik miteinander. Alles schillert, alles täuscht, alles verbirgt sich, wie auf einer Schauwand. In Anlehnung an die Metapher einer Schauwand spekuliert Bahr über das, was in der Vergangenheit anders hätte kommen können. Österreich sei nie vom Grunde auf neu aufgebaut worden, weil es keinen Napoleon gehabt hätte. Stattdessen habe es zwei Männer dieser Art gehabt : „Ferdinand [II.] und Wallenstein, wenn man sie sich in einem Manne vereint denkt, wären fähig gewesen, Österreich auf seiner Idee rein aufzurichten. Das misslingt, und so wird Wien nicht der Ausdruck Österreichs, sondern seine repräsentative Schauwand." (S 5 2) Ausgehend vom Misslingen der Pläne des Möchtegern-Reichsumbauers Ferdinand II. (reg. 1617—1637) gerät man zum Paradox, „Wien ist freilich eine optische Täuschung Österreichs, aber eine notwendige". Offenbar hat der Wahlsalzburger Bahr die kulturelle Eigenständigkeit der Erblande endlich entdeckt, denn im Gegensatz zu Wien sei Salzburg keine optische Täuschung. Diese aus lauter Metaphern aufgebauten Gedankengänge zeigen, wie rasch sich der „Geistesvagant" Bahr zu bewegen wusste. Seine Rhetorik geriet in die Gefahr, selbst eine reine Schauwand herzustellen. Unbeirrt aber kommt er auf
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die Hauptfrage, und zwar : Wenn die Schauwand Wien Osterreich verberge, wo denn soll dieses Land leben ? Die einzigartige Antwort lautet, dass Osterreich in seinen Gemeinden lebt. Diese den Preußen unverständliche Beobachtung fußt auf einem Buch von Bahrs Freund Josef Redlich. 26 Am 20. März 1849 hatte der Innen- und Unterrichtsminister Franz Graf Stadion (1806—1853) den Gemeinden Österreichs die „Staatsfreiheit" verliehen. Kein Geringerer als Karl Lueger, der „Doge Wiens", hat diese Loslösung des Munizipiums vom Staat später brillant ausgenützt. In einem Satz, der von Musil stammen könnte, meint Bahr: „Jeder österreichische Bürgermeister ist ein solcher Doge, jede österreichische Gemeinde ist eigentlich eine kaiserlich königliche Republik." (S 55) - Kakanien als ein Konglomerat von Gemeinderepubliken. Darauf aufbauend wollte Stadions Kollege Alexander Bach (1813-1893) ein dezentralisiertes „naturwüchsiges" Reich errichten, wo der Kaiser „der oberste Bürgermeister aller Bürgermeister" sein sollte. (S 5 6) Leider ist „dieses ,Verfassungswerk' eines organischen Österreich bis auf den heutigen Tag unverfasst geblieben". (S 56) Das Ausbleiben einer Staatsverfassung hat verursacht, dass „Österreich [...] daneben erbaut worden [ist], nicht auf diesem Grund, sondern auf keinem". (S 56) Entrüstet über dieses Versäumnis tröstet sich Bahr mit talmudischen Fragen : „Ist also Böhmen ein Königreich ohne König? [...] Ist der Statthalter in Prag an Kaisers Statt oder des Königs" (S 57, 58) Diese Grübeleien leiten in die Frage nach dem Wesen des „Staates" über, einem Begriff, der keinen Bezug zu einem Reich der Gemeinden hat. Unter Kaiser Franz I. (1792-1835) sprach man noch immer im Plural von den Ländern als den „k.k. Staaten". Der Singular entstand erst bei der späteren Beamtenschaft als ein Hilfsbegriff. Dank ihrem Starrsinn sei der Staat in Österreich eine lautere Idee, „ein bloßer Gedanke, von Beamten erdacht [...] Ein Dekret, ein Erlass, und der Beamte zweifelte nicht, dass der Staat da ist". (S 59) Wiederum denkt man unwillkürlich an die Fähigkeiten der Beamten in Musils Der Mann ohne Eigenschaften, inhaltslose Gedanken zu erdenken. Die Argumentation um die Selbsttäuschung der Beamten erinnert an Bahrs Verleumdung der Bezirkshauptmänner in Austriaca ( 1 9 1 1 ) . 2 7 Diese Anklagen stehen denkbar weit entfernt von Hugo Hassingers Lob der k.k. Beamten als Aufrechterhalter des Reiches. Nach Bahr war vor allem Alexander Bach an der Schaffung jener Fiktion des k.k. „Gesamtstaats" schuld gewesen. Dieser „wütende Rationalist" beging einen „Racheakt [...] an der unlogischen Wirklich26 Josef Redlich, Das Wesen der österreichischen Kommunal-Verfassung (Leipzig: Duncker 1910). 27 Hermann BAHR, Austriaca (Berlin: Fischer 1911), S 30-33.
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keit, ein Duell einer Fiktion mit dem Leben [...]" (S 62) Der Gewinner dabei war der archetypische Hofrat, dessen Eltern Diener eines Gutsherrn gewesen waren und der allmählich zum Diener des Staates aufgestiegen ist. Für diese Staatsdiener sei „Geschriebenes [...] eine Tat". (S 59) Der Ton verbittert sich: „ [ . . . ] schon in den Eltern war der Bauernzorn zur Bedientenlist geronnen." (S 6 1 ) Im Unterschied zum Beamten in Preußen des Friedrich des Großen bediene der k.k. Hofrat „einen unfähigen Herrn". Die Verleumdung Alexander Bachs geht weiter: mit ihm begann ein Österreich, „dessen Hauptwort .provisorisch' wird [...] die Begabung des ,Fortwursteins' ist in Bach fast bis zur Genialität gesteigert gewesen." (S 64—65) Interessanterweise haben die meisten der Essayisten das Schlagwort vom „Fortwursteln" nicht aufgenommen. Höchst verärgert bedauerte der Amateurpolitologe, dass Bach die Ideen der österreichischen Romantik verzerrt habe. Bei Metternich und bei Klemens Maria Hofbauer ( 1 7 5 1 - 1 8 2 0 ) sei eine „Idee" von dem „Geheimnis Österreich" gediehen, die Vergangenheit und Zukunft auf eine von Bahr unerklärte Art und Weise zusammenweben sollte. Leider klingt Bahrs Versuch, die politische Romantik durch „das Prisma der Idee" zu verstehen, eben so leer wie zweiundzwanzig Jahre später der Versuch Leopold von Andrian-Werburgs, den Ständestaat durch bloße Ideen zu legitimieren. Der Diskurs zum Österreichertum misslingt beinahe jedes Mal, indem sich ein nach der Eigenart des Landes Suchender auf eine Idee beruft anstatt auf die Kultur bzw. die Menschen. Keiner hat die Gründe für das Versagen der Idee besser erklärt als der Hofrat-Verächter Hermann Bahr. Österreichs Geheimnis, d.h. seine Eigenart, bestehe in seinen Menschen und nicht in seiner Staatsidee, jener Fiktion der Hofräte. U m das Unheil der österreichischen Idee zu beweisen, zitiert Bahr aufgeregt ein Schlagwort Richard von Kraliks, der diese Idee eine „kleine Samtmaske" genannt hat. (S 76) Als Träger dieser kleinen Samtmaske wird jeder Österreicher „zu einer Miniatur Österreichs". In der Gemeinde und auf dem Lande befände er sich wohl, aber auf der Ebene des Staates „sieht er sich [...] plötzlich ins Wesenlose gesetzt [...]. Irgendetwas macht ihn plötzlich irre." Von der Samtmaske der Staatsidee getäuscht wird er „ungewiss, darum übertreibt er sich. Er gefällt sich nicht, darum sucht er zu gefallen. Er verliert die Zuversicht, das macht ihn so lärmend lustig". (S 76—77) Mit diesen bedrückenden Sätzen näherte sich Bahr der Diagnose Hans Pragers von der gespaltenen Seele des Österreichers an. Im Gegensatz zum russophilen Tragiker Prager aber schmeichelte Bahr seinen Landsleuten mit einem Hofmannsthal'schen Mythos, welchem er den Stachel der Kritik hinzufügt. Der Österreicher sei „ganz Natur. Kein and-
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rer Menschenschlag hat einen geraderen Wuchs. Wohlgeboren, wohlgestaltet, wohllautend wächst der Österreicher wohlgemut auf und — wird irre." (S 76) Nur drei Juden unter den Essayisten - Hans Prager, Franz Werfel und Friedrich Torberg - haben sich ununterbrochen bemüht, solches Irrewerden historisch zu begründen. Die meisten blieben dem Mythos der österreichischen Gemütlichkeit zu sehr verhaftet, um seine Kehrseiten bloßzustellen. Wie jene drei in ihren Entblößungen gewährt Bahr in dieser einzigen Textstelle einen Blick auf eine tief verwurzelte Angst um die drangsalierten Seelen seiner Mitbürger. Die Unfähigkeit, existenzielle Entscheidungen zu treffen, plage den Österreicher: „Wann wird er irre? [...] In dem Augenblick, wo er sich entscheiden soll, wo er wählen, sein eignes Leben, das ihm gemäße, das ihm zugewiesene Leben wählen muss, wo er zu handeln hat." (S 77) Merkwürdigerweise beginnt Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften mit der Entscheidung des Protagonisten Ulrich, derart existenzielle Fragen nicht zu entscheiden. Er begnügt sich damit, ein Möglichkeitsmensch zu bleiben, einer, der allerart Möglichkeiten gern betrachtet, ohne das „ihm zugewiesene Leben" bewusst zu wählen ; oder vielmehr besteht das eigene Leben des Mannes ohne Eigenschaften gerade im Zustand der permanenten Unentschlossenheit, den Bahr fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen von Musils Roman den Österreichern zugeschrieben hat. Bahr begründete die existenzielle Not des Österreichers in der verfehlten Idee Österreichs: „Aber wie soll der Österreicher die Idee, die er ist, die er zu tun hat, sehen können, wenn er die Idee Österreichs niemals gesehen hat. Was er sieht, ist doch immer nur die kleine Samtmaske." (S 77) Ulrich in Musils Roman sieht die kleine Samtmaske in der Parallelaktion zur gemeinsamen Staatsfeier Österreichs und Preußens im Jahr 1 9 1 8 . Musils Freund Robert Müller hingegen huldigte der Samtmaske im Nachkriegstraum eines größeren Österreich und Andrian-Werburg in der Ideologie eines Ständestaats, wo jede Klasse ihre Funktion in Isolation voneinander erfüllen sollte. Bahrs Kapitel 3 endet mit dem Aufschrei des verzweifelten Kriegspropagandisten : Er beklagt bei seinen Landsleuten „die Wehmut ihrer tollen Lebenslust, den Geigenklang österreichischer Menschen". (S 78) Die darauf folgende Äußerung über die Eigenart Österreichs ist eine der schmerzvollsten, die dieser Gesamtdiskurs produzierte. Später wird man untersuchen müssen, inwieweit andere Essayisten entweder einen Trost oder eine Widerlegung der nachstehenden Diagnose lieferten. Hier ging Bahr mit der Entlarvungslust eines Sigmund Freud der „verstummten Tiefe" des österreichischen Menschen nach: „Und weil sie [die Österreicher] sich selbst nicht erleben können, müssen sie
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sich verwandeln: daher ihre Schauspiellust." (S 78) Erstaunlicherweise sah der Theatermann Bahr darin nur Unheil, denn das Schauspiel erzeuge keine Erlösung, nur einen stummen Leichtsinn. Die Diagnose hört sich ziemlich verwickelt an : „ U n d weil doch alle Verwandlung aber keinen Menschen je von sich selbst erlöst, was nur die befreiende, entladende Tat kann, deshalb ihre Flucht vor dem eignen Ernst, ihr holder Leichtsinn, der österreichische Leichtsinn, mit dem sich kein andrer auf der weiten Welt vergleichen kann an A n m u t und Liebreiz und Seligkeit, weil es ein Leichtsinn voll seliger Sehnsucht ist, ein Leichtsinn aus verstummter Tiefe." (S 78) Das klingt, als ob Grillparzer in seiner boshaftesten Stimmung die Kehrseiten des lebensfrohen Österreichers geschildert hätte. Manche Kritiker haben Hermann Bahr selbst für den Inbegriff des holden Leichtsinns gehalten, für einen Feuilletonisten voll Liebreiz und Seligkeit, der niemals mit seinem eigenen Ernst fertig wurde. Das Ende des Kapitels 3 widerlegt solche Annahmen. Hier spricht der „Geistesvagant" — ein angeblicher Leichtsinniger aus seiner bisher „verstummten T i e f e " — aus bitterer Selbstkenntnis von der existenziellen Krise, ja der Tragödie seiner Mitbürger. In den dreißiger Jahren glaubten die Fürsprecher des österreichischen Menschen, Wildgans, Leb und Thun-Hohenstein, dass die Erste Republik die Gründe für eine solche Angst überwunden habe. W i r Postmoderne müssen uns aber fragen, inwieweit der Wildgans'sche Diskurs nicht bloß eine Samtmaske auf diese Angst gelegt habe, ohne sie beseitigen zu können.
H O F M A N N S T H A L S Z U S A M M E N F A S S U N G VON
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.Österreich im Spiegel seiner Dichtung" [Vortrag in Warschau am 7. Juli 1 9 1 6 und in Wien am 21. Oktober 1916], Neue Freie Presse, 15. und 16. November 1 9 1 6 ; in: Reden undAufiätze (Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1979) 2: S 1 3 - 2 5 . „Maria Theresia: Zur zweihundertsten Wiederkehr ihres Geburtstages", Neue Freie Presse und Vossische Zeitung [Berlin], 13. Mai 1 9 1 7 ; in: Reden, 2: S 443-453 „Die österreichische Idee", Neue Zürcher Zeitung, 2. Dezember 1 9 1 7 ; in: Reden, 2: S 454-458 „Preuße und Österreicher. Ein Schema", Vossische Zeitung, 25. Dezember 1 9 1 7 ; in: Reden, 2: S 459-461
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Die Idee der Staatspropaganda als einer Samtmaske wäre Hofmannsthal zuwider gewesen. Sein Essay über die Schlüsselgestalt des österreichischen Selbstbewusstseins, Franz Grillparzer, fand seine Steigerung im berühmtesten der Kriegsessays, „Österreich im Spiegel seiner Dichtung", der als Vortrag für Warschau am 7. Juli 1 9 1 6 konzipiert war. Einige Literaturhistoriker sehen diesen Text als fons et origo des ganzen späteren Diskurses über die Frage : „Was ist österreichisch an der österreichischen Literatur?" Dementsprechend wird der Text des Öfteren ohne Bezug auf die vom Dichter initiierte Kampagne für die Bejahung Österreichs analysiert. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass der Text für ein ausländisches Publikum konzipiert war, für das ein Jahr zuvor von der deutschen Armee eroberte Warschau. Die Absicht war es, einem die militärische Okkupation erduldenden Publikum die Hauptmerkmale der österreichischen Dichtung darzustellen, einem slawischen Publikum, das Österreich hauptsächlich durch seine Musik kannte. Der Vortrag beginnt mit einer Untersuchung der Gemeinsamkeiten zwischen den Bereichen von Musik und Literatur in Österreich, deren Produkte nach Hofmannsthal selbstverständlich Teil einer gesamtdeutschen Kultur bildeten. Nach wie vor durchdringt „nationalistischer Kosmopolitismus" diese Erörterung der Eigenart Österreichs, nicht zuletzt aufgrund der häufig angeführten Parallelen zwischen den Österreichern und Johann Wolfgang Goethe. Der Vortrag strotzt vor bemerkenswerten Formulierungen zur Eigenart der österreichischen Kultur. Man hat den Eindruck, dass der Dichter zu viele Schlagworte darin verpackt hat, um alle gelten zu lassen. Bei Haydn zum Beispiel empfinde man „Seligkeit ohne Ekstase [.. .in der] aus der tiefsten Deutschheit geschöpften Musik, Deutschheit aber ohne Sehnsucht, ohne Schweigendes, Größe ohne Titanisches [...]" (2: S 13) In Schuberts Liedern erlebe man etwas „von höherer Volkstümlichkeit", einer Eigenschaft, die auch bei dem „Kunstdichter" Grillparzer, den „Schauspielern" Raimund und Nestroy und den „Bauernsöhnen" Anzengruber und Rosegger sowie beim „Böhmerwaldsohn" Stifter vorkomme. Mit Stolz setzt hier Hofmannsthal eine österreichische „Poesie der Bauernsöhne" der reichsdeutschen Geistigkeit der lutherischen „Pastorensöhne" gegenüber. Ein Urbeispiel der österreichischen Dichtung nennt der Dichter das Textbuch zur Zauberflöte, aus dem Grillparzer mit Hilfe seiner halbslawischen Amme „buchstabieren" gelernt hätte. Seine besten Dramen seien auf einem „volkstümlichen Kanevas" aufgestickt, denn es sei etwas „von dramatisierten Ammenmärchen" in ihnen. Bei Raimund, Nestroy und Anzengruber zeige
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sich — auf eine fast mythische Weise - ,,[d]iese Heiterkeit, die Mitgift des Volkes [...] das eigentümlich vergoldende Element der heiteren Geselligkeit", das selbst bei Goethes Faust fehle. (2: S 15) Die Kritik am Dichter aus Weimar unterstellt, dass Goethe es besser gelernt hätte, das Bildungshafte seiner Dramen durch das Volkhafte und das Humoristische auszugleichen, wenn er nur in Wien geweilt wäre! Hofmannsthal veranschaulichte die schöpferischen Kräfte des „aus dem Volke gekommenen Theater" in Wien durch die „merkwürdige" Fähigkeit des Kaisers Franz I., „Legende zu werden." (2: S 16) Dieser habe „Sinn und Instinkt für das Theater" gezeigt, als er um das Jahr 1808 gleichzeitig mit dem Tiroler Volksaufstand das „großherzoglich-toskanische Gepräge" seiner Jugend ablegte, um zur Legende des „guten Kaiser Franz" zu werden. Die entscheidende Rolle der gleichzeitig geschlossenen Ehe des Kaisers mit der jungen Italienerin Maria Ludowika für diese Verwandlung bleibt bei Hofmannsthal unerwähnt. Neben dem im Bühnenwesen eingewurzelten Volkhaften stehe ein zweites Element der österreichischen Dichtung, die landschaftliche Bindung: „Der österreichische Dichter hat zum Hintergrunde seine Landschaft." (2: S 16) Nur wenige Essayisten, wie Richard von Kralik, Ernst Lissauer und Felix Braun, haben dieses Thema weiter entwickelt. Allerdings schuf Hofmannsthal ein sehr treffendes Bild, um die reichsdeutsche Entfernung von der Landschaft von der österreichischen Verwurzelung darin zu unterscheiden. Kant, Hölderlin und Nietzsche flögen zu hoch, um ihr Gefieder von unten erblicken zu lassen, aber ein „österreichischer Vogel fliegt nicht so hoch, dass man nicht das Gefieder erkennen könnte." (2: S 16) Das Heimatgebundene an der österreichischen Literatur käme in Roseggers Spruch zum Ausdruck: „So ein Kind bin ich, und meine Mutter ist die Steiermark." (2: S 16) In Osterreich drücke sich der Partikularismus so durch das Volk aus und nicht wie in Reichsdeutschland durch die Fürsten. Obwohl Hofmannsthal die politische Theorie Josef Redlichs nicht erwähnt, nähert er sich Bahrs These über die Eigenständigkeit der k.k. Städte an, wenn er die „sehr große Lebendigkeit des Einzelgebildes" als eine Wurzel des Antizentralismus würdigt. (2 : S 17) Hier führt er Adalbert Stifter an, der sich nach 1856 von einer Karriere als Schulinspektor abwendete, um einen Weg „ins Einzelne, ja Einsiedlerische" anzutreten. Stifters Sonderlinge überlassen der Natur „das letzte Wort [...] ein Regenschauer, ein Schneefall löst alles, das eigene Geschick wird an die Natur abgegeben". (2: S 17) Darauf folgt eine Formulierung jenes Glaubens an ein kosmisches Gleichgewicht, den Friedrich Heer für spezifisch
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österreichisch hielt : „Ich kenne keine merkwürdigere Synthese als diese Stiftersche Frömmigkeit, die Synthese zwischen Christlich und Antik, eine eigentlich christliche Seelenhaltung mit einem antiken Naturkraftglauben, ein Gebundensein an die Natur [ . . . ] " (2: S 1 7 - 1 8 ) Als soziale Grundlage für die Vielfalt Österreichs zählt Hofmannsthal einige „erhaltende Faktoren" auf: „Der Klosterbesitz, die Gutsherrschaft, die Einzelbesiedelung, wie die Militärbesiedelung in den Zeiten Maria Theresias, Prinz Eugens, Kaiser Josephs." (2: S 18) Die Klasse der k.k. Beamten nennt er hier nicht, jene „Dienstaristokraten", die im Hassinger-Lhotsky-Paradigma als die Mittler des Habsburgerreichs vorkommen. Der Dichter wirft aber ein Licht darauf, warum die Vermittlungsarbeit der Beamten und Offiziere notwendig war, indem er „den Partikularismus des Einzelnen" und „die höchste Besonderheit" der Volkstypen betonte. Ein Satz, der nur von Hofmannsthal kommen konnte, fasst das Porträt zusammen : „So haben Sie lauter Partikularismen, und das Ineinanderklingen derselben gibt die österreichische Gesamtatmosphäre, die als poetischer und reizvoller Weltzustand so bezaubernd auf die Romantiker gewirkt hat, die gleiche schwebende, vieldeutige, beziehungsvolle Atmosphäre [...]", die Grillparzer inspirierte. (2: S 19) Das „Ineinanderklingen" der Partikularismen kennzeichnet die österreichische Kultur und begünstigt jene Art menschlicher Beziehungen, die Robert Müller „Verhältnisse" nennt. Eine derart schwebende Atmosphäre hat Müllers „geistig herrische" Männer hervorgebracht, auf dass sie sich inmitten der Vielfalt profilieren konnten. In diesem reizvollen Weltzustand erkennt Hofmannsthal das Potenzial für Poesie, Müller hingegen das Potenzial für die Entstehung ,,problematische[r] Naturen." Ganz flüchtig nimmt Hofmannsthal die Ansichten Kraliks und Brauns vorweg, wenn er „die Erinnerungen an das Mittelalter auf der Donau" hervorhebt. Wie Friedrich Heer vierzig Jahre später erfreut er sich über die lange Dauer der „Spuren germanischen und slawischen Urlebens" der Donau entlang, während derartiges am Rhein längst ins „Museum übergegangen" sei. (2: S 19). Als Beispiel einer Kontinuität mit Alteuropa preist der Dichter die alten Salzstraßen: „Da kommen Ihnen diese alten Dinge, bezogen auf unser Salzwesen, ganz wie von heute und ganz nahe vor [ . . . ] " (2: S 19) Um einen „praktischen Austriazismus" zu umreißen, listete der Dichter noch einmal jene vier Paare von Elementen auf, die Grillparzer zu einer Synthese geführt hatte. Es gehe um eine Synthese „von Naiv und Reflektierend [...] von Eigenbrötlerisch und Sozial, von Katholisch und Humanistisch, von Städtisch und Bäuerlich." (2: S 20) Im ersten Wortpaar wiederholt sich Friedrich Schil-
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lers „Naiv und Sentimental" aus dem Jahr 1 7 9 5 ; die anderen drei fassen Hofmannsthals eigene Beobachtungen zusammen. Im nächsten Absatz geht der Vortrag der Frage nach, was Nationalbewusstsein heiße. Die Poesie und die Taten seien die beiden „Genien", aus denen „ein nationaler Mythos, [...] ein gewecktes und reiches nationales Bewusstsein" hervorgehe. Der Dichter führt das Beispiel Frankreichs an, als den Inbegriff einer „unsäglichen Verwobenheit [... einer] kühnen Synthese" dieser Elemente. (2: S 20) Hofmannsthal fordert nichts Geringeres als „ein nationales Pathos, eine nationale Sprache [...] einen berechtigten Austriazismus höheren Stils" (2 : S 20) Dieses Reich der übertriebenen Partikularismen brauche „ein Zusammenhaltendes, [... das nur] in den Dezennien einer schwierig werdenden politischen Begriffsbildung" hätte entstehen können. (2: S 2 1 ) Obwohl Kralik und Bahr die österreichische Staatsidee eine „Samtmaske" nannten, dessen ungeachtet operiert Hofmannsthal mit einem „rein geistigen oder sittlichen Begriffe der Nation für Osterreich". (2: S 21) Voraussetzung dafür sei ein „Dualismus des Gefühles", um „unsere Zugehörigkeit zu Österreich, [und] unsere kulturelle Zugehörigkeit zum deutschen Gesamtwesen" zu vereinigen. Es ist anzumerken, dass Hofmannsthal das Wort „Kultur" hier nur auf Österreichs Beziehung zur deutschen Gesamtheit verwendet und nicht auf Österreich selbst. Um Österreichs Eigenart innerhalb dieser Gesamtkultur abzugrenzen, bezieht er sich nochmals auf die Dauerkraft Alteuropas innerhalb des Habsburgerreichs. Frohen Herzens ergibt er sich dem Mythischen, wenn er fragt: „Wo spiegelt sich am größten die alte Idee deutschen Wesens, im Deutschen Reiche offenbart, aber nie völlig verkörpert, wenn nicht in uns ? Hier nahm sie ein fur allemal Körper an [...] In uns wie nirgends in der Welt tritt dem deutschen Volke das Produktive seiner großen Vergangenheit entgegen." (2: S 23) In dieser Auffassung Österreichs als echtesten Ausdruck des uralten deutschen Wesens erreichte der „nationalistische Kosmopolitismus" zweifellos seinen Höhepunkt. Ähnlich wie viele spätere Bejaher Österreichs nimmt der Dichter das Wort „Kultur" todernst, als er auf den kulturellen Besitz Österreichs zu sprechen kommt : „Kultur ist uns kein Totes und Abgeschlossenes, sondern ein Lebendiges, das Ineinandergreifen der Lebenskreise und Lebenskräfte, des Politischen und des Militärischen, die Verbindung des Materiellen mit dem Sittlichen." (2 : S 24) Durch einen fatalen „österreichischen Fehler" seien in der Vergangenheit immer „Politik und Verwaltung, Verwaltung und Kultur gesondert behandelt" worden. (2 : S 24) Die Lebenskraft einer Kultur wohne im Volk, nicht in der „Geistigkeit der Gebildeten". Aus heutiger Sicht können wir in diesen
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Äußerungen den Kern des Programms der Salzburger Festspiele erkennen: „Die Geistigkeit des Volkes ist eine wunderbare reine Tafel, auf der wenige Erkenntnisse mit reinen Zügen, die die Jahrhunderte durchdauern, eingetragen sind." (2: S 25) Inzwischen habe der Krieg einen „sehr radikalen, eingreifenden, momentanen Austriazismus" durch die „Erfassung der österreichischen Idee" notwendig gemacht. Der Dichter schließt mit der Bemerkung, „ [ . . . ] ohne einen Hauch von geistigem Universalismus kann ein zukünftiges Österreich weder gewollt noch geglaubt werden." (2: S 25) Der Schluss des Vortrags liest sich wie pathetische Kriegspropaganda, aber im Unterschied zu Bahr unterließ der Redner die geopolitische Betrachtung Europas als einem vergrößerten Österreich. Hofmannsthals Begriff eines geistigen Universalismus ist jedoch nicht weniger ehrgeizig und bestimmt den Großteil des Nachkriegsdiskurses über die österreichische Kultur. Der erste Teil dieses berühmten Vortrags passte sehr gut in den Kontext der Ersten Republik, während der zweite Teil sehr stark von den Kriegsumständen bedingt scheint. Schöne Phrasen wie über die „Seligkeit ohne Ekstase" und die „Größe ohne Titanisches" blieben jedoch von späteren Essayisten unbeachtet. Es ist anzunehmen, dass Hofmannsthal kein Inventar seiner zahlreichen Äußerungen über die Eigenart Österreichs geführt hat, und manche davon später zusammenhanglos im Raum schwebten. Vermutlich hätten seine Formulierungen einen dauerhafteren Einfluss ausgeübt, wenn er die Österreich-bezogenen Essays selbst in einem Einzelband herausgegeben hätte. 28 Interessanterweise wartete der Dichter noch ein halbes Jahr, eher er wieder das Wort über die Einmaligkeit Österreichs ergriff. Im Mai 1 9 1 7 , sechs Monate nach der Thronbesteigung Kaiser Karls, setzte Hofmannsthal seine Reihe der Kriegsessays fort, indem er die Gestalt Maria Theresias als den Inbegriff des „allerbesten Österreichischen" aufgriff. Obwohl er den Ausdruck nie verwendete, hat mich seine Bewunderung für die Kaiserin dazu angeregt, vom „theresianischen Menschen" zu sprechen. Sie bezeichnet jene Variante des „österreichischen Menschen", die Konzilianz, menschliche Wärme und Seelenstärke in sich vereinigt, und damit Hofmannsthals und Wildgans' Konstrukt verdeutlicht, das diese Autoren als das höchste Idealbild der Geschichte des Habsburgerreichs entnommen haben. Der „theresianische Mensch" galt bei Hofmannsthal, ebenso wie bei seinen Gesinnungsgenossen wie Wildgans und Thun-Hohenstein, als die Komprimie-
28 Erst 1956 erschien ein solcher Band als HOFMANNSTHAL, Österreichische Auftätze und Reden, hg. v. Helmut A. FIECHTNER (Wien: Bergland Verlag 1956).
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rung der allerbesten Charakterzüge Österreichs. Jedoch beinhaltet dieser Begriff keine bloße Auflistung der Einzelzüge, sondern ein konkretes Modell für eine Menschenart. Mit dem „theresianischen Menschen" haben Hofmannsthal, Wildgans, Paul Graf Thun-Hohenstein und Friedrich Heer den Geschichtsverlauf des Habsburgerreichs erhellen, ja begründen wollen. Der Ausdruck „theresianischer Mensch" soll auch dazu dienen, Hofmannsthals Übertreibungen zu entmythisieren. Sein Essay fángt mystisch an mit einem Absatz über das „etwas Schauerliches und Dämonisches", das den größten Monarchen innewohnte (2: S 443) Bei Maria Theresia spiele das Unheimliche einer Elisabeth von England oder Katharina von Russland jedoch keine Rolle : „Sie war eine große Herrscherin, indem sie eine unvergleichliche, gute und ,naiv-großartige' Frau war. Das ist das Einzigartige an ihr. Hier ist die vollkommenste Rundung und gar keine Kontur." (2: S 443-444) Maria Theresia war geradezu geschaffen, das Volkhafte Österreichs mit dem Verantwortungsbewusstsein einer Herrscherin zu verbinden. „[...] darum konnte sie Österreich begründen [...] Diese Durchkreuzung des höchst Individuellen mit dem höchsten Natürlichen ist Maria Theresias Signatur [...] Sie folgte darin ihrem Genius, das dämonisch Mütterliche in ihr war das Entscheidende." (2: S 444) Empfindung, unermüdliche Sorge und Zartgefühl sind Teile ihrer „alles durchdringenden Frömmigkeit". (2: S 445) 29 Diese Charakterzüge ermöglichten die historische Größe der Kaiserin, indem sie „die großen Ideen der Zeit, die Ideen von Natur und Ordnung" in ihrer Person vereinte. Sie erhob „das starrende Einzelne, Beschränkte, Überkommene [...] in ein höheres Leben". (2: S 445) Der Dichter legt Gewicht auf einige Wörter, die bei Wildgans' Schilderung des österreichischen Menschen wiederkehren : die Kaiserin „hat viel Mut und noch mehr Geduld' (2 : S 446), sie bestand darauf, dass „die Autorität der Gesetze durch die Geltung der Schicklichkeit und des Herkommens gemildert und verstärkt werde". (2: S 446; Hervorhebung W.J.) Laut Wildgans zeichnet sich der theresianische Mensch durch Konzilianz, Duldsamkeit, Natürlichkeit der Instinkte und Konservatismus aus. Das sind die gleichen Charakterzüge, die Hofmannsthal bei der Kaiserin hervorhebt. 29 Siehe Michael HAMBURGER, „Hugo von Hofmannsthal", in: A Proliferation of Prophets (Manchester: Carcanet 1983), S 83-148, insbesondere S 138-140. Hamburger meinte, Hofmannsthals Schilderung der Kaiserin entstand erst in seinen Notizen zu La Bruyères Les Caractères (1688/1885). Siehe HAMBURGER, „Hofmannsthals Bibliothek", in: Euphorion, 55 (1961), S 4 6 - 4 7 [nicht S 43, wie Hamburger 1983 angibt].
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Das Mythisierende dieses Porträts besteht nicht zuletzt in Hofmannsthals Betonung eines „Mysteriums" in ihrem Wesen, „eine vollkommene Rundung, die Äußerung einer ganz ausgeglichenen Kraft [...] deren mysteriöse Nachwirkung über anderthalb Jahrhunderte hinweg eine von den mitbestimmenden Kräften unsrer Existenz ist" (2: S 4 5 1 ) In der Kaiserin wirkte eine Einheit der Person, des Kopfes und des Herzen, die sie vor der Willkür schonte und die sie von ihrem Sohn Joseph II. unterschied. Um diesen Unterschied zu erklären, gipfelte der Aufsatz in einem Vergleich des „Theresianischen" und des „Josefinischen." Das letztere sei „schärfer im Umriss und leichter fasslich ; das Theresianische ist bei weitem stärker, geheimer und schicksalsvoller. In ihr [der Kaiserin] war eine Zusammenfassung des österreichischen gesellschaftlichen Wesens, die für die Folge entscheidend geblieben ist." [...] Maria Theresia [hatte] einen naiven und großen Begriff vom Volk, der [...] intuitiv und darum unerschöpflich [war]." (2: S 452) Hier zeigt sich die Hofmannsthal'sche Auffassung des Mythischen: dieses sei, wie die großen Mysterien, intuitiv und darum unerschöpflich, während das Vernünftige zu leicht umreißbar sei. Der Aufsatz endet mit einer Auflistung der Tugenden der Kaiserin, die zugleich ein Porträt des theresianischen Menschen abbildet: „Das theresianische Weltwesen war irdisch und naiv und voll Frömmigkeit. Es war voll Mut zur Ordnung und Natur und voll Erhebung zu Gott. Es war naturnahe und, wo es stolz war, voll echtem Stolz ohne Steifheit und Härte." (2: S 453) Der Begriff des „theresianischen Menschen", den ich aufgrund Hofmannsthals Essays geprägt habe, soll als ein Synonym für das Wildgans'sche Bild des österreichischen Menschen dienen. Ich habe dieses von den beiden Dichtern geschaffene Bild dem Hassinger-Lhotsky Paradigma der Vermittlungsarbeit der k.k. Beamten gegenüber gestellt. Lhotsky nahm das Konstrukt von Wildgans zur Beschreibung der Charakterzüge von Hassingers Beamten zu Hilfe. Die Gleichsetzung von Wildgans' Porträt und Hassingers Sozialkapital an „einfühlenden, verstehenden, schmiegsamen Kulturmenschen" entsprechen einem Destillat von Hofmannsthals Porträt der Kaiserin. 30 Das Hassinger-Lhotsky-Paradigma arbeitet dessen mythisierende Betrachtungen wissenschaftlich auf, um das lange Fortwirken des kaiserlichen Konstrukts zu erklären. Die k.k. Beamten, die die gezielte Erziehungspolitik von Maria Theresias Nachfolgern hervorbrachte, haben das Ethos der Kaiserin weiter am Leben erhalten. In diesem Sinn darf man auch von einem „there30 Hugo HASSINGER, Die Tschechoslowakei (Wien: Rikola 1925), S 37.
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sianisierten Menschen" sprechen. Durch den Hinweis auf den Ausbildungsprozess haben Hassinger und Lhotsky Hofmannsthals Anlehnung an Mythen aus der Geschichte Österreichs entmythisiert. Der „theresianische Mensch" war eben keine mythische Gestalt, sondern ein absichtlich kultivierter Typus eines Dienstaristokraten, in Gestalt des theresianisierten Beamten. Es ist ein reizvoller Gedanke, dass sich auch Hofmannsthal über diese Revidierung seines Mythos gefreut hätte. Sein Essay zum 200. Geburtstag der Kaiserin stand auf jeden Fall Pate zum Begriff des theresianischen Menschen. 3 1 Hofmannsthal bestätigte diese These, wenn er den Aufsatz mit dem Gedanken endet, dass Haydn, Gluck und Mozart „des theresianischen Weltwesens [...] unvergänglicher Geist gewordener Gehalt" seien (2: S 453) Die „theresianischen Menschen" der k.k. Beamtenschaft und des österreichischen Offizierskorps haben den Gehalt dieses Geistes ebenfalls zu verkörpern gelernt, wenn auch nicht in so unvergänglicher Weise wie jene Komponisten. Sieben Monate nach dem Porträt der Kaiserin entstand ein für die Schweiz geschriebener Artikel über „Die österreichische Idee". Es war bereits davon die Rede, wie gering Hermann Bahr die Staatsidee Österreichs schätzte, und dieser bloße Titel lässt wiederum Kriegspropaganda erwarten. Obwohl dieser Artikel den geopolitischen Überlegungen Bahrs und Müllers näher kam als jeder andere Text des Dichters, betonte er den Wert der historischen Dauer Österreichs eindringlicher als die beiden anderen Schriftsteller. Er bemüht sich darum, den neutralen Schweizern den Optimismus der Österreicher erklärlich zu machen. Dieser beruhe auf „der Dauer des Bestandes dieses Reiches und seiner geografischen Situation [...] an den Ufern des größten Stromes, der Europa mit dem Orient verbindet [...]" (2: S 455) Machiavelli wird heraufbeschworen, um den Wert der langen Dauer eines Staates zu bestätigen, und darauf folgt ein Uberblick zur österreichischen Geschichte seit Marc Aurel und Karl dem Großen. Hinter diesem Geschichtsverlauf stehe etwas Unzerstörbares, eine Idee von Österreich als einem Grenzland, „einem Ausgangspunkt der Kolonisation, der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen". (2 : S 456) Seit eh und je stand Österreich als die „fließende Grenze [...] zwischen dem europäischen Imperium und einem dessen Toren vorlagendern, stets chao-
31 Meines Wissens hat keiner je von einem „josephinischen Menschen", geschweige denn von einem „josephinierten Menschen" gesprochen. Ein Kritiker der k.k. Beamtenschaft wie Hermann Bahr hätte vielleicht auf den „josephinierten Menschen" hinweisen können, weil er Kaiser Joseph II. für das Vorbild des angeblichen Starrsinns des Beamtentums hielt.
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tisch bewegten Völkergemenge Halb-Europa, Halb-Asien", das jenseits dessen Grenze liegt. (2: S 456) Diese Idee lebe fort als eine „geistig-politische Erbschaft der Römer", die von der katholischen Kirche fortgesetzt wurde und die in ihrer „geistigen Amplitude" alle Ideologien überragt. Wie immer erhob Hofmannsthal das Geistige über das Wirtschaftliche, denn allein diese Idee habe eine österreichische Geschichte ermöglicht. Das Habsburgerreich sei „auf Ausgleich mit dem Osten" angelegt, „der alteuropäischen lateinisch-germanischen mit der neu-europäischen Slawenwelt". (2: S 4 5 6 - 4 5 7 ) Sein Appell an die Grundlinien einer neuen internationalen Politik Europas klingt wie Bahrs geopolitische Vision vom Nachkriegs-Europa als einem vergrößerten Osterreich: „Dies Europa, das sich neu formen will, bedarf eines Österreich: eines Gebildes von ungekünstelter Elastizität [...] eines wahren Organismus, durchströmt von der inneren Religion zu sich selbst." (2: S 457) Kein anderer hat je behauptet, dass Österreich eine innere Religion zu sich selbst entwickeln konnte, und der desillusionierte Hans Prager bestand sogar darauf, dass im Gegenteil Österreich an einem Zwiespalt mit sich selbst zugrunde gegangen ist. Bei aller Verehrung für den Dichter aus Rodaun muss man zugestehen, dass er mit diesen Hoffnungen fantasierte. Der Gedanke, dass das Habsburgerreich jene Eigenschaft der „Elastizität" besaß, ist grotesk, und alle anderen Essayisten waren sich dieser wenig erfreulichen Tatsache bewusst. Zwar könnte man einräumen, dass Ulrich, Musils „Mann ohne Eigenschaften", große Elastizität in seiner Einbildungskraft bewies, und dass Müllers Sicht auf die österreichischen Frauen ihnen „Elastizität der Seele" zuschrieb, aber keiner wäre auf den Gedanken gekommen, dass Reich als „elastisch" zu definieren. Im Gegenteil : Spätkakanien war gemeinsam mit Russland und der Türkei der am wenigsten elastische Staat, der am Weltkrieg teilnahm. Oder anders gesagt: das Habsburgerreich hat seine Elastizität erst dadurch bewiesen, dass es so einfach zusammenbrach. Der Kulturkritiker Otto Basil bedauerte den „Feuilletonismus" und den „Atomisierungsgeist" Spätkakaniens ; beiden Tendenzen liegt eine Art Elastizität zugrunde, jedoch jene eines verwesenden Ganzen. In diesem Fall gerät Hofmannsthal bei der Suche nach der Idee Österreichs in die Falle jener „Samtmaske" der Selbstillusion, die Bahr in seiner Kritik dieser Idee enthüllte. Der Gedanke der potenziellen Elastizität Österreichs war nichts anderes als eine Samtmaske, die die Nachfolgestaaten im November 1 9 1 8 gewaltsam abrissen. Ein letztes Mal entpuppte sich die Idee Österreichs als etwas Gekünsteltes, mit dem Ergebnis, dass sich die Nachkriegsessayisten auf keine
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Staatsidee berufen durften, sondern bloß auf die Schilderung der Charakterzüge der Österreicher. Drei Wochen nach dem Erscheinen des Artikels in Zürich veröffentlichte der Dichter seine berühmteste Formulierung der österreichischen Einmaligkeit, „Preuße und Österreicher. Ein Schema" am 25. Dezember 1 9 1 7 . Die dreißig Paare von Formeln, mittels derer er den Österreicher im Gegensatz zum Preußen beschreibt, bilden ein nuanciertes Porträt, das zwar auf dem Begriff des theresianischen Menschen beruht, aber weit darüber hinausgeht. Viele der Phrasen im Schema gemahnen in fast unheimlicher Weise an Äußerungen von Müller, Bahr und Musil. Das subtile Schema, in dem in gewisser Hinsicht Hofmannsthals dreijährige Beschäftigung mit der Eigenart Österreichs gipfelte, zerfällt in drei Teile : „Im Ganzen", „Soziale Struktur" und „der Einzelne". Es vergleicht zuerst die Länder Preußen und Österreich, dann die sozialen Strukturen in je fünf Formeln und am Ende die Menschentypen in je zwanzig Punkten. Der letzte Teil enthält somit zwei Drittel der Formeln und betrifft den österreichischen Menschen als Individuum. Im dritten Teil spielen einige Schlüsselwörter aus dem Essay über Maria Theresia eine bedeutende Rolle: „Frömmigkeit, Heimatliebe als Zusammenhaltendes, traditionelle Gesinnung, historischer Instinkt, geringe Begabung für Abstraktion und Schicklichkeit." Man muss den Dichter umso mehr Bewunderung zollen, dass er bei den theresianischen Zügen nicht stehenbleibt und auch den zeitgenössischen Österreicher schildert, eben jenen spätkakanischen Menschen, den Robert Musil und Otto Basil analysiert haben. Das Ende des dritten Teils liest sich wie ein Entwurf des Müller'schen Reichsmenschen : „Ablehnung der Dialektik, Selbstironie, scheinbar unmündig, bleibt lieber im Unklaren, verschämt, eitel, witzig, weicht den Krisen aus." (2: S 460—461) Man nähert sich an Musils Möglichkeitsmenschen an, wenn Hofmannsthal von „Lässigkeit, Hineindenken in andere bis zur Charakterlosigkeit und Ironie bis zur Auflösung" spricht, sodass man fast vermuten möchte, Musil habe im Schema nachgeschlagen, als er Ulrich, den Mann der Charakterlosigkeit, konzipierte. Wenigstens eine Formel erinnert an den Meister der Typologien, Rudolf Kassner: „Jeder Einzelne [ist] Träger einer ganzen Menschlichkeit." (2: S 4 6 1 ) Dieser Spruch liegt Kassners Kunst der Physiognomik zugrunde, die in jedem äußerlichen Zeichen Spuren einer ganzen Menschlichkeit erblickte. Übrigens war Kassner davon überzeugt, das das Habsburgerreich einen größeren Reich-
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tum an vollkommenen Typen als andere Länder Europas beherberge. Die Formel „Polygene Beamtenwelt: Keine geforderte Denk- und Fühlweise" scheint dem Hassinger-Lhotsky-Paradigma über die k.k. Beamten zu widersprechen, denn dieses setzt voraus, dass eine gemeinsame „Denk- und Fühlweise" durch die Erziehung der Beamten und Offiziere „herangezüchtet" wurde. Die im Schema gegenüber stehende Formel beschreibt die „homogene Beamtenwelt" Preußens als „Träger eines Geistes". Die Vermittlungsarbeit der k.k. Dienstaristokraten beruhte auf ihrer Fähigkeit, andere Denk- und Fühlweisen mitzuerleben, ohne einem vornherein bestimmten Geist gerecht werden zu müssen. Das „Hineindenken in andere" war der Kern der theresianischen Mentalität, und dementsprechend bestand das angebliche Mirakel der k.k. Beamtenschaft darin, dass diese Fähigkeit gemeinsam gefördert wurde, ohne wie in Preußen von allen Beteiligten einen gemeinsamen Geist zu verlangen. Das Schema darf als die Quintessenz der Kriegsessays von Hofmannsthal gelten. Am Ende des Jahres 1 9 1 7 fand der Dichter endlich Muße, das grenzenlose Interesse Robert Müllers für „Osterreich und seine Menschen" zu teilen. Nach einer Reihe von Aufsätze und Vorträgen über Kaiser, Schriftsteller und Generäle als „Men of Genius" und „Herolde der Zeit" komprimierte der Dichter nun seine Einsichten in diesem Inventar des österreichischen Charaktertypus. Es ist nur zu bedauern, dass Müller den Text nie kommentiert hat. Ein unternehmenslustiger Verleger hätte um 1920 eine Rundfrage unter den Schriftstellern der Ersten Republik zum Thema zirkulieren lassen können : „Wie stehen Sie zu Hugo von Hofmannsthals ,Preuße und Österreicher. Ein Schema'?" Ein Büchlein mit Antworten auf diese Frage hätte dem Diskurs zum Österreichertum vermutlich ein größeres Publikum gewinnen können, als dieser vor dem Jahr 1938 je erreichte. Nur ein einziger der Nachkriegsessayisten stand ganz außerhalb Hofmannsthals Ideenkreises, und zwar Hans Prager. Dieser Tragiker erwies seine Originalität, indem er seine Diagnose des Zwiespalts des Österreichers durch einen Vergleich mit Russland anstatt mit Deutschland herstellte. Mit Ausnahme von Josef Leb orientierten sich alle anderen, die sich mit der Einmaligkeit Österreichs zwischen 1 9 1 8 und 1938 befassten, an der gesamtdeutschen Kultur als Standard, und sie alle standen mehr oder weniger im Sog von Hofmannsthals Schema.
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ROBERT M Ü L L E R UND DIE DES
ZÜCHTUNG
„REICHSMENSCHEN"
Robert MÜLLER (1887-1924), Österreich und der Mensch (Berlin: Fischer 1916). Robert Müller ist der witzigste und in mancher Hinsicht einfallsreichste unter unseren Essayisten, aber zugleich der unzuverlässigste. Gemeinsam mit dem Philosophen Hans Prager ist er auch der radikalste und eindringlichste Denker. Gleich zu Beginn des Diskurses prägte der Kulturkritiker einige nie wieder erwähnte Ausdrücke, wie den „Reichsmenschen" und den „geistig herrischen Menschen". Er bemühte sich jedoch als Einziger, österreichische Männer und Frauen zu differenzieren. Als Unruhestifter war er so unverschämt, in einer Satire auf die Rassengeschichte Wiens, diese Stadt einen „Rassensarkophag" zu nennen. Müllers Schreibweise war kurz und bündig, aber seine Gedankenübergänge waren oft sprunghaft und seine Argumentation mangelhaft. Als abstoßend erscheint uns heute die Tatsache, dass er einen Teil seiner Gedanken in Anlehnung an die Rassenlehren eines Houston Stewart Chamberlain ( 1 8 5 5 - 1 9 2 7 ) entwickelte, und es leider fast unmöglich ist, Müllers Ideen von ihren rassentheoretischen Grundlagen zu trennen. In seiner Radikalität kam dieser Aufrührer dem gleichaltrigen Hans Prager ( 1 8 8 7 - 1 9 4 0 ) nah, aber dieser vertrat als getaufter Jude einen ernsthafteren Standpunkt. Während Prager ein Verehrer Dostojewskis war, verkörperte Müller jene Art „Feuilletonismus", die Otto Basil für die Epoche von 1880 bis 1 9 1 8 in Osterreich für typisch hielt. Zudem fehlte es Müller weniger an konstruktiver Besinnung, sondern vielmehr an Sitzfleisch. Er revidierte seine Essays kaum, verglich seine neuartigen Ideen nicht miteinander und übte keine Selbstkritik. Er sprudelte vor Geist, aber es mangelte ihm an Beharrlichkeit. Im Vergleich scheint der „Geistesvagant" Hermann Bahr geradezu ein Vorbild an Disziplin und Zähigkeit, und auch Müllers älterer Freund, Robert Musil, betrieb seinen Essayismus auf eine viel konstruktivere und zugänglichere Art. Trotz allem wünscht man, dass Müller eine ganze Reihe von Essaybänden über die Einmaligkeit Österreichs geschrieben und dafür einen tüchtigen Redakteur gefunden hätte. Sein Essayband Osterreich und der Mensch bleibt eine Pionierarbeit ohne Nachfolger, ohne Einfluss, ohne Leserschaft. Neben dem Tragiker Hans Prager und dem Lyriker Ernst Lissauer ist Müller ein großer Einzelgänger unter den Essayisten, den man heute — gemeinsam mit dem ganz andersartigen Hans Prager - „counter-cultural" nennen würde.
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In einem gewissen Sinn schreibt Müller die einfallsreichste Untersuchung des österreichischen Menschen und übertrifft selbst Hofmannsthal an der Erfindung von Querverbindungen innerhalb der Kulturgeschichte. Wie eine creatio ex nihilo entstand sein Diskurs über „Rassenzucht", „Kulturvolk" und das „nationale Konglomerat", mit einem Wort über die „Geschichtsgemeinschaft" der Österreicher. Er erstellte fast zwei Jahre vor Hofmannsthal ein Schema zu Preußen und Österreichern und war, wie Hermann Bahr und Oskar Benda, ein Wortschöpfer ersten Ranges, wenn es um neue Bezeichnungen fiir die Eigenart der österreichischen Kultur ging. Trotz mancher Glanzlichter leiden seine Essays aber unter erheblichen Schwächen, die sein Freund Robert Musil am besten diagnostiziert hat. Müller beeinträchtigte seine Argumentation durch sein Wandern von einem Standpunkt zum anderen, ohne eine „praktikable Anschauung" zu verteidigen. Müller improvisierte in jedem denkbaren Thema; in langen Passagen formulierte er „die persönlichsten Theorien ohne Nachdenken" und „viele Träumereien, aber nicht Träumerisches".32 Das „Stürmische dieses Wesens" stimulierte eine Umarmung der Zukunft, einen Futurismus, der mit seinem Hang zum Expressionismus zusammenhing. Alles in allem hatten seine Ansichten etwas Abenteuerliches, Unbedachtes und Gefährliches, mit einem Wort „Untheresianisches". In Österreich und der Mensch empfiehlt es sich, jedes einzelne Kapitel getrennt von den anderen behandeln, als ob jedes einen Anfang ex nihilo machte. Obwohl weder Hofmannsthal noch Bahr einen Einfluss auf dieses Original ausübten, näherte er sich in manchen Ansichten unbewusst an sie an. Das erste Kapitel, das einen Vergleich zwischen Preußen und Österreichern darlegt, fußt auf dem vergessenen Buch von Lucia Dora Frost Preußische Prägung (Berlin: Fischer 1915). Anhand ihrer Überlegungen formuliert Müller eine Antithese zwischen dem planenden Willen Preußens und der „wahnwaltenden" Verwaltung Österreichs, die „musischen Tugenden entsprechend [...] typisch versagt". (S 10) Nach dieser Fanfare ergeht er sich in ununterbrochenen Wiederholungen : „Ja, das Preußische ist mehr Ergebnis als das Österreichische. Es ist ,geprägt', gestanzt, gepaukt, geübt. Es ist ein Training, eine Prononzierung [sie!]. Es ist von Männern, Willenskräften, Ideen geschaffen. Das Österreichische stammt aus Verhältnissen und rechnet mit Verhältnissen. Es ist Milieuund Geschichtsprodukt, es ist eine Menschenzucht." (S 11—12) Unwillkürlich denkt man an gewisse Zeilen in Hofmannsthals „Preuße und Österreicher. Ein 32 Robert MUSIL, „Robert Müller", in Werke (1955), 2: S 745-750, insbesondere 746.
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Schema", wie etwa „Staatsgesinnung als Zusammenhaltendes" und „präzise Maschinerie" bei den Preußen und „Heimatliebe als Zusammenhaltendes" und „die [unpräzise] Mechanik des Ganzen" bei den Österreichern. Obwohl nicht bekannt ist, ob Hofmannsthal Müllers Buch je gelesen hat, hat der ungestüme Kulturkritiker zweifelsohne den phantasievollsten Vergleich zwischen den beiden Völkern vor Hofmannsthals Schema von 1 9 1 7 formuliert. Um die Verwendung des Wortes „Zucht" zu rechtfertigen, musste Müller weiter ausholen : Am Österreicher werde man eine andere Art Zucht vorfinden, „eine starke sinnliche Zucht, keine metaphysisch grübelnde Sittlichkeit, aber eine durchgeführte und elegante geistige Sitte, eine harmonisch maßgebende Anschauung". Im Gegensatz zu diesem schmeichelnden Gemeinplatz sei der Preuße kaum ein Volk, denn „er ist eine Deutschheit, eine deutsche Chance, möchte man sagen. Der Österreicher aber ist nicht nur eine Zucht, er ist beinahe eine Rasse". (S 12) Aus diesen Wortanhäufungen bemerkt man, dass der Österreicher nach Müller selbst keine „harmonisch maßgebende Harmonie" aufwies, eher eine „grübelnde" Geistigkeit. Wie die stichhaltigeren Vergleiche von Benda zeigen werden, sind Begriffe wie „Deutschheit" und „eine deutsche Chance" unbrauchbar und reine Wortspiele. Hier ist allerdings auch unversehens das unheilvolle Wort „Rasse" gefallen : Um Müllers Anlehnung an die Rassentheorie zu erklären, muss man auf den Kulturkritiker Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) verweisen, der zwischen 1889 und 1908 in Wien wohnte und dort sein Hauptwerk, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bände (1899), verfasste. Der belesene Brite stilisierte den Begriff der „Germanen" hoch, jenes Volkes, mit dem sich durch die Jahrhunderte die Deutschen allmählich identifiziert hatten. Im Werk Müllers ist der Begriff „Germanen" wie auch bei Chamberlain sowohl kulturell als auch „rassisch" zu verstehen, denn die beiden Theoretiker betrachteten die Kulturgeschichte Europas durch die Linse der Rassengeschichte. Die Germanen hätten als kulturgestaltende Kraft alle schöpferischen Geistesbewegungen in Europa ausgelöst, darunter die Renaissance, die protestantische Reformation und die Volkwerdung Deutschlands.33 Wie aus seiner Persönlichkeit zu erwarten war, konnte Müller nicht einfach bei Chamberlains Ansichten verharren. Der Essayist sprach von Rasse in
33 Siehe Rudolf KASSNERS Würdigung Chamberlains in Ruch der Erinnerung, 2. Auflage [1954] in: Sämtliche Werke, 7 (1984), S 140-147, wo er bemerkt: „Ich bin keinem bedeutenden Menschen begegnet mit größeren Widersprüchen." 7: 143. Leider kannte Kassner Robert Müller nicht.
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„einer ästhetisch-impressionistischen Meinung" als „einem körperlichen Komplex bestimmter und eindeutiger Eigenschaften". (S 14) Hier stößt man auf eine Parallele zum Wildgans'schen Bild des „österreichischen Menschen" als einem Aggregat von Charakterzügen, aber im Gegensatz dazu prägte Müller die Metapher, dass eine „auf die Spitze getriebene Person" etwas wie „Rasse" habe. In diesem Kontext bedeutete Rasse „die ganz hervorragende Schärfe allgemeiner vielverteilter Wesenheiten ihres Volkes". (S 14) Demnach stellt eine Person, die Rasse hat, die Eigenschaften ihres Volkes konzentriert und auf die Spitze getrieben zur Schau ; in den Spitzenleistungen eines Volkes könne man seine Eigenart erst erblicken. Einem ähnlichen auf Spitzenexemplare gelegten Schwerpunkt begegnet man bei dem Soziologen Oskar Benda, der zwanzig Jahre später wirkte. Auch laut Hofmannsthal offenbarte sich der Österreicher am klarsten in seinen ausgeprägtesten Vorbildern, seinen „Men of Genius". Müller war kein strenger Theoretiker, und in seiner losen Denkweise erwies er sich nach Hofmannsthals Schema als Österreicher, nicht Preuße. Statt einen festen Begriff von „Rasse" vorzuschlagen, bevorzugte der Improvisator einen schwebenden, ja einen inkohärenten Standpunkt. Die großen historischen Rassen seien „Kompromisse", gefolgt von der Schlüsselbemerkung: „Wenn wir .Germane' sagen, so meinen wir [...] eine im Trieb überlieferte Zukunftsart, eine Vorwärtserinnerung. Uber den Germanen wissen wir nichts, als was wir darüber wissen wollen; und dies ist das Wichtigere." (S 1 5 ) Das Paradoxon einer kulturellen „Erinnerung", die nach vorne weist, berechtigt zum Schluss, dass Müller glaubte, eine Rasse bestünde aus ihrem Potenzial, aus ihrer möglichen Zukunftsform und lasse sich nicht durch ihre Vergangenheit determinieren. Die Erfüllung des Österreichers ebenso wie des Nordamerikaners bliebe daher einer vagen Zukunft anheim gestellt. Nach diesem Vorspiel kommt es endlich zu einer Auseinandersetzung mit dem „weltbedeutenden Vorgang, den wir sich seit tausend Jahren in Österreich vollziehen sehen". (S 18) Der Österreicher sei „ein Kompromissprodukt, ein unwillkürlicher Eroberungsakt, eine Ausbuchtung in Fremdes". Erstaunlicherweise führte dieser Rassendiskurs Müller zu einem Schluss, den die meisten anderen Essayisten vermieden. Unter „Österreicher" verstand er nicht nur die Deutschösterreicher, sondern auch die anderen Völker des Habsburgerreichs: „Der Österreicher ist ungermanisch, deutsch, als solcher aber kann er wieder Deutsch, Slawisch, Ungarisch, Rumänisch, also alle Abstufungen vom Arischen bis zum Reinmongolischen aufweisen." (S 18) Dieser Einzelgänger schöpfte aus der Rassentheorie eine breitere Konzeption des österreichischen Menschen
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als die meisten Nachkriegsessayisten, die sich mit Ausnahme von Hugo Hassinger auf die Deutschösterreicher konzentrierten. Robert Müller war beinahe der einzige Essayist, der einen „Reichsmenschen" konzipierte, d.h. einen Menschentypus, der aus allen Ethnien des Habsburgerreichs bestand. Obwohl Müllers Ausdruck „Reichmensch" nie Verbreitung fand, bezeichnet er das, was das Hassinger-Lhotsky-Paradigma den „österreichischen Menschen" nannte. Diesem zufolge war der österreichische Mensch aus allen Völkern des Reichs und nicht bloß den Deutschösterreichern entstanden. Dieser Durchbruch führt zu einer unerhörten Metapher, die das Spektrum der Typen des Deutschtums differenzieren sollte. Hier wurde eine neue Bildsprache erfunden, um das Verhältnis von Preußen zu Osterreich zu kennzeichnen. Der unorthodoxe Denker postulierte ein „deutsches Spektrum, dessen Ultraviolett der Preuße, dessen Ultrarot der Österreicher trägt". (S 19) Das Ultrarot des Österreichers schließe auch die Völker der Donau entlang ein, während das Ultraviolett des Preußen das „gesamtdeutsche Spektrum einschließlich des österreichischen Ultras" umfasse. Diese Metapher erzeugt eine glühende Vision des Nachkriegseuropas. Die Strahlen der beiden Extreme dieser deutschen „Spannungstabelle" sollten sich ununterbrochen kreuzen und nach Kriegsende als „ein einheitliches deutsches Licht erstrahlen". (S 20) Die deutsche Spannung bestehe aus der Polarität Ultraviolett-Preußen und Ultrarot-Österreich, dessen Verschwinden katastrophale Folgen für das Deutschtum haben würde, denn dann würde das „geistige Gleichgewicht des Gesamtdeutschtums" untergehen. (S 24) Im Nachhinein kann man schwerlich bestreiten, dass die deutschsprachigen Völker Europas in den dreißiger Jahren ihr „geistiges Gleichgewicht" verloren haben. Seine persönliche Theorie steigert Müller durch das Paradox, dass der Preuße kein Eroberer, sondern ein „Erunterer" sei. Ihm fehle die nötige Begabung des Eroberers zur „Liebenswürdigkeit, Verschwendung, Gleichmut". Der Eroberer sei überraschenderweise eher der Österreicher, „Verführer zu sich. Sache des Eroberers ist es, im Eroberten zu verschwinden. Der Eroberer ist schlampig gegen sich [ . . . ] " (S 23) Hier stößt man auf den Kern der Argumentation: der „Reichsmensch" verschwinde mit seinen Charakterzügen in den eroberten Völkern. Es ist zu bedauern, dass der Ausdruck „Reichsmensch" kein Echo gefunden hat, denn er trifft auf die ganze Geschichte des Habsburgerreichs seit dem 1 2 . Jahrhundert zu, während die Phrase „kakanischer Mensch" nur für die Periode 1 8 6 7 - 1 9 1 8 passend ist. In Bezug auf das Verschwinden der Charakterzüge des Reichsmenschen denkt man wiederum an Hofmannsthals Text „Preuße und Österreicher. Ein
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Schema", vor allem an das „Hineindenken in andere bis zur Charakterlosigkeit". Müller zieht einen schmeichlerischen Schluss: der Österreicher „ist wissenschaftlich keine Rasse : aber er hat Rasse. Ja, er hat sie in stärkerem Grade als der Preuße". (S 25) Um diese These zu begründen, fáhrt der begeisterte Essayist fort: „Der Österreicher ist von Verhältnissen erzogen, nicht von der Idee, nicht vom Manne, nicht von Plan." Der Österreicher sei aus Mischehen entstanden, nicht aus einem Wille oder einer Politik. „Ein Reich [...] hat aus Überbleibseln, Abhub, Versprengtem, Individuen und Genien eine Zucht geschweißt, einen Menschenschlag verkittet." (S 26) Müllers zweites Kapitel trägt den verheißungsvollen Titel „Österreich und die Frau". Nach seiner Ansicht verkörpert die Frau manche Merkmale des Österreichers eindeutiger als der Mann, und in diesem Kapitel unternimmt er es, die von Frauen erzogenen „Reichsmenschen" zu umreißen, beginnend mit Musterbeispielen aus der Familie Habsburg: „Österreich entstand nicht durch Eroberungen schlagfertiger Art, sondern aus Verhältnissen', aus Ehen, Verschwägerungen, Erbschaften." Hier taucht zum ersten Mal der Begriff des „Verhältnismenschen" auf, d.h. eines Menschen, der sich durch seine Verhältnisse zu Frauen definiert. Dementsprechend seien die Habsburger von Anfang an „Produkte des Reichsgemüts, [schon bereits] in ihrem Ersten, Rudolf von der Habichtsburg, aber ein geschichtsselektionistisch erwählter Typus". (S 28) Verblüffender Weise betrifft Müllers erste Präzisierung der österreichischen Charakterzüge ausgerechnet den von der Geschichte auserwählten Typus der Habsburger. Sie seien die Vorgänger des Reichsmenschen gewesen, denn „sie waren abstrakt, geistig, verträumt und überkonservativ. Sind sie nicht der vornehmste und ursprünglichste Mensch einer allgemeinen Art, die heute verbürgerlicht, lebensfremd, eigenbrötlerisch, egozentrisch sich ins Kaffeehaus zurückzieht?" (S 28) Der im Kaffeehaus sitzende Peter Altenberg ähnle nach diesem phantastischen Konzept Müllers also einem verbürgerlichten Habsburg! Es lohnt sich bei diesem Porträt der Habsburger zu verweilen. Sie seien „außerordentlich interessante Menschen von einem reinen menschlichen, weniger von einem historischen Gesichtspunkt aus [...] Alle jene Habsburger sind apart, sie fesseln nicht als höchste schöpferische Verwaltungsbeamte, als Strategen, als Eroberer, sondern als problematische Naturen, als verzwickte Charaktere, als Seelen, als mystische, oft hieratisch versteifte Denker." (S 28—29) Diese Sonderlinge lebten im Volksbewusstsein als Individualitäten fort. Nach wie vor ragen einzigartige Schlagwörter aus dem Text heraus, wie „problematische Naturen", „verzwickte Charaktere" und „hieratisch versteifte Denker". Diese
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Phrasen umschreiben ziemlich genau das Syndrom des seelischen Zwiespalts, das ein zweiter Einzelgänger, Hans Prager, zwölf Jahre später diagnostiziert hat, jedoch nicht so sehr bei den Habsburgern als bei den Österreichern selbst. Aus dem Problematischen im „Urwesen" der Habsburger schloss Müller Folgendes über das zeitgenössische Österreich : „Der interessante Mensch gilt mehr als der aktive oder der schöpferische Mensch. Der große Mann, der Genius, der gigantische Lebensarbeiter wird ,verkannt'. [...] Die großen Österreicher werden erst im Ausland oder durch das Ausland." (S 30) Dieser Zusammenhang leitet den Essayisten, oder besser gesagt den Feuilletonisten, in eine Theorie des Wiener Kaffeehauses über: „Bei bestem Kaffee der Welt und forensischen Gesprächen" verschwinden „die Distanzen zur kleinbürgerlichen Weltauffassung, [...] eine solche Gesellschaft hat für den Nimbus der großen Leistung kein Organ. Sie ist leutselig nach oben hin." (S 30) Die Kaffeehausintellektuellen werden in „der Brutwärme der Gemütlichkeit männiglich vermenschlicht". (S 30) Allein durch diese schwungvolle Zeichnung hat Müller ein klassisches Stück Kaffeehausliteratur improvisiert. Der Begeisterte geht aber in seinem Vergleich noch weiter: der Geist des Café Griensteidl sei „jener selbe aus der Astrologenwarte und der Alchimistenküche der älteren Habsburger". (S 31) Demnach sei auch Rudolf II. auf dem Hradschin eine Kaffeehausnatur gewesen! Bei Müller mündet die Suche nach der langen Dauer Österreichs offenkundig in Kaffeehauskonversation ein. Seine Passage über das Kaffeehaus ist ein unverhülltes Stück Feuilleton. Um dieses Charakterbild zu aktualisieren, bezieht sich der Autor auf Schnitzlers frühe Gestalt Anatol (1893) und sieht voraus, dass dieser nach dem Krieg wieder ins Café zurückkommen würde. Und nicht nur sei dieser Anatol, „der Mann der Verhältnisse in jeder Beziehung", ein Eroberer, sondern Österreich selbst bedürfe seiner Galanterie und Grazie, um sich zu erhalten. Um das Reich in die neue Zeit hinüberzuretten, musste der Reichsmensch zu einem vollkommenen Verhältnismenschen werden. Darauf folgt eine Schlüsselfrage über die Rolle der Frauen, eine Frage, die wohl kein anderer Essayist je gestellt hatte: „Welches ist nun die Person, die weder aktiv noch schöpferisch ist und dennoch stets interessant bleibt? Ist es nicht die Frau? Ist nicht die Frau geradezu ein Inhalt, ja Gehalt des Österreichischen?" (S 32) Aufgrund dieser Beobachtung schlug Müller als die Basis einer Reichspolitik eine „Charmeoffensive" vor. Das Habsburgerreich „reizt förmlich das noch Fehlende zu sich heran", es habe sich mit Weichheit, mit „dem leidenden Zug
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ihrer Entbehrung" ausgebaut. (S 32-33) „Das Reichsgebilde, das endlich zustande kommt, hat ein Wesen von Weiblichem, und gleich ihm hat es auch sein Geschöpf, der [sie!] Reichsmensch. Die Wärme seiner Form, die Drucklosigkeit an den Reibungsstellen der Gesellschaft, kommen allmählich als durchgebildete Eigenschaften eines unwillkürlichen Systems zu Reife und Ausdruck." (S 33) Dieses Reich mit einem weiblichen Wesen steht im Einklang mit Hofmannsthals Porträt Maria Theresias und mit dem darauf beruhenden Bild des theresianischen Menschen. Obwohl die Kaiserin „Wärme und Drucklosigkeit" als Staatsmaßnahmen benützt haben soll, betont Müller das ungeplante Entstehen des Systems. Das Hassinger-Lhotsky-Paradigma hebt hingegen den Erfolg einer Erziehungspolitik hervor, die einen Hang zum angeblich Weiblichen und Drucklosen bei den k.k. Beamten anerzog. Der Essayist scheut vor dem logischen Schluss seiner Gedankenkette nicht zurück. Unentwegt verknüpften die Fremden, darunter die Deutschen, das Beste an Osterreich mit seinen Frauen: „Kurz, man betrachtet als Vertretung Österreichs die Frau. Und man hat den guten Instinkt dabei." (S 3 5) Aus dieser Bemerkung entstand eine der kühnsten, ja eine der barocksten von Müllers Ideenketten. Er bringt nun drei Haltungen in Zusammenhang miteinander, die in Osterreich angeblich vorherrschen : die Erotik, die Feindschaft und die Ambivalenz. „Zur Entfaltung lebhaften erotischen Lebens gehören Mischung, Fremdheit, gehören der nordische Mann und das südliche Weib [...] Die Eroberung, auch die politische, trägt Spuren der erotischen Beziehung. Die Hassliebe von persönlichen Gegnern, die man im Verlaufe von Wiener Literatenkriegen, aber auch in dem merkwürdigen System des Verkehrs zwischen politischen Feinden, in der Reibung von österreichischen Nationen beobachten kann, ist tiefste österreichische Seele." (S 36) Hans Prager wäre mit der Bemerkung einverstanden, dass Hassliebe „tiefste österreichische Seele" sei, und wie Sigmund Freud spürte Müller darin eine Art erotischer Attraktion. Die Tatsache, dass diese drei Denker, Müller, Prager und Freud, einander nicht kannten, erscheint fast unheimlich. Eine der kompliziertesten Äußerungen in Müllers Buch bietet eine frühe Synthese des Diskurses über das Österreichertum : „Die Mischung der Rassen und die eigentümlich gesellende Wirkung des Erdreiches", — man denke an Felix Brauns und Ernst Lissauers Gedanken über die menschengestaltende Wirkung der Alpenlandschaft - „die dem Manne statt Strenge Bizarrerie, Barockheit (gebrochene Strenge) und verinnerlichte Wildheit gaben, haben den Frauentypus zu einer mitteleuropäischen Klassik geschmeichelt". (S 36) Hat
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sich das Ultraviolett Preußens vermännlicht, so hat sich das Ultrarot Österreichs verweiblicht. Jetzt folgt einer der kühnsten Ideenblitze von allen. Als Beispiel einer „Mythik" interpretierte Müller die Frauengestalten des Nibelungenlieds als Vorbilder der österreichischen Frauen aller Zeiten. Das Nibelungenlied sei ein österreichischer Gesellschaftsroman! (S 38) Die Charakterzüge der Kriemhilde und des Gunther veranschaulichten diejenigen der heutigen Reichsmenschen. Denn Kriemhilds „ungebundene, erotisch-ekstatische, temperamentvolle Seele tollt auch heute noch durch die donauentsprossene Kultur der reichischen Städte [...] Gunther, ein anständiger Mensch, zeigt schon das zögernde, denkelnde, im endlichen Entschluss katastrophierende Halbtempo des Österreichers. Erinnert er nicht wieder an Anatol?" (S 37—38) Die Praxis der QuellenaufFrischung (ressourcement) bringt hier einen ihrer schönsten Funde hervor, eine sieben Jahrhunderte überspringende Querverbindung zwischen Gunther und Anatol. Der Mediävist Friedrich Heer wäre stolz auf solch einen Einfall gewesen. In Vorwegnahme von Anton Wildgans fünfzehn Jahre später betonte Müller, dass diese donauentsprossene Kultur auf Psychologie beruhe: „Der ,Liebe Lust und Leid' macht Politik [...] Staaten fallen und entstehen aus Psychologie." Als Beispiel nennt der Kulturkritiker Hagen, „diesen Erzpsychologen, finsteren Literat, Sittlichkeitsfurie, zugleich aber höchsten Politiker", der einmal Metternich als Nachfolger haben würde, denn ganz wie auf der Bühne habe sich Metternich als ein Nachkomme Hagens inszeniert! „Aber auch Kürnberger und Grillparzer kündigen sich an, und in einer der reichischen Städte wird man überpsychologisch sein [...]" (S 38) Man muss sich hier fragen, ob Müller bereits von Freud, jenem Hauptvertreter der „überpsychologischen Stadt" Wien, gehört hatte? Der Name des Psychoanalytikers taucht in seinem Büchlein jedenfalls nicht auf. Wiederum scheint dieser Satz eine „Vorwärtserinnerung" an keinen anderen als Friedrich Heer zu sein, der gern Parallelerscheinungen aus tausend Jahren des Donaualpenlandes zusammenstellte. In seiner Hervorhebung des Nibelungenlieds als Vorzeichen der österreichischen Psychologie nahm Müller jene Art der Quellenauffrischung (ressourcement) vorweg, die Heer praktizierte. Beide Autoren, der eine am Anfang und der andere am Ende der Entfaltung des ganzen Diskurses, ergötzten sich an der langen Dauer der „donauentsprossenen Kultur". Noch ausdrücklicher als Heer begrüßte Müller das unbegrenzte Potenzial eines solchen Verfahrens. In geradezu unheimlicher Weise nimmt er zugleich den „Raisonneur" Sigmund Freud sowie den Symbolisten Carl Gustav Jung
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vorweg, wenn er vom Donaubereich sagt : „Es ist ein stetes Schicksal und eine ewige Form, und man könnte Kabbaiist [Freud] werden und Orthodoxer des Symbols [Jung] wenn man sieht, wie untrennbares Wesen aus einem Erdreich quillt und sich in geschichtlichen Geschichten wiederholt." (S 38-39) Friedrich Heer erwies sich später als der Großmeister der Auffindung dieser „geschichtlichen Geschichten" durch tausend Jahre hindurch. Wie Rudolf Kassner erkannte Müller die unerhörte Fähigkeit Österreichs, Typen zu erfüllen und das Archetypische zu verkörpern. Diese beiden Kritiker verehrten Österreich als ein Land der ausgeprägten Typen. 34 Beim Ubergang zum dritten Kapitel, „Österreich und der Mann" erwähnt Müller nochmals die österreichische Herkunft des Ausdrucks „Verhältnisse". Im Donauraum seien es „Verhältnisse von Menschen untereinander", die vieles „erklären, fördern, hindern". (S 40) Der Reichsmensch sei vor allem ein Verhältnismensch. In keinem der beiden Kapitel über die Frau und den Mann hat Müller die „österreichische Frau" als solche wirklich charakterisiert, aber wenigstens hat er auf Geschlechterbeziehungen (gender relations) hingewiesen. Seine Analyse suggeriert, dass die Frau die Reichsmenschen „züchtete", indem sie jenen Komplex der Gewohnheiten und „Verhältnisse" für ihn modelliert, den Norbert Elias einen Habitus nennt. Die österreichische Frau vermittelte dem heranwachsenden Mann den Habitus eines Reichsmenschen, ja eines „theresianischen Menschen". Auch Oskar Schmitz hat bemerkt, dass „der österreichische Knabe zu ausschließlich von der Frau erzogen wird [...]" und war neben Müller der einzige, der auf diese Rolle der Frauen aufmerksam machte.35 Wenn die Frau das Österreichertum schärfer in sich konzentriert als der Mann, wie unterscheidet sich dann der österreichische Mann von ihr? Wenn das Österreichertum im Grunde weiblich sei, was ist männlich daran? Wie gewöhnlich beantwortet der Kritiker diese Frage in der Form eines Vergleichs mit dem „übrigen Deutschtum". Österreich „gibt dem Manne keine Arbeits34 Rudolf KASSNER, „Etwas zum alten Österreich" [1954], in: Sämtliche Werke, 10 (1991), S 364-367. 35 Oskar A.H. S C H M I T Z , Der österreichische Mensch. Zum Anschauungsunterricht fiir Europäer, insbesondere fiir Reichsdeutsche (Wien/Leipzig: Wiener Literarische Anstalt 1924), S 61. Wer die erzieherische Rolle der österreichischen Frauen untersuchen will, sollte mit Gestalten wie Marie von Ebner-Eschenbach, Bertha von Suttner und Rosa Mayreder sowie Berta Szeps-Zuckerkandl und Eugenie Schwarzwald anfangen. Es wäre höchst interessant, die Ansichten dieser Frauen über die Problematik zu erforschen.
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methoden [...] aber es gibt ihm zu einem guten Teil seine Genüsse." (S 4 1 ) Als geschichtliche Erklärung dieses angeblichen Zuges der österreichischen Männer schrieb Müller ihre heutige „Neigung zum Kavalier" den Ahnen zu, d.h. den „tüchtigen alten bajuwarischen Raubrittern". (S 4 1 ) Müllers Porträt dieses Ideenkavaliers liest sich wie ein Selbstporträt: „Er hat viele und gute Gedanken, er produziert verschwenderisch umfassende Ideen und Pläne, beobachtet scharf und schließt mit glücklicher Intuition. Das Ausfüllen des Planes, die kluge Kritik, die Treue zur Kleinigkeit, die den andern Deutschen auszeichnet, besitzt er nicht und achtet er kaum." (S 41—42) Dieses Selbstporträt trifft eben so gut auf Wiener Feuilletonisten wie Franz Blei und Kaffeehausintellektuelle wie Hermann Bahr zu, aber in keiner Weise auf konstruktive Geister wie Freud, Kelsen oder Schönberg. Dieser Lücke ungeachtet leitet Müller die Hauptzüge des österreichischen Mannes von den Germanen her. In einem Beispiel einer Art „Träumerei über das geistig Interessante", die Musil an ihm bemerkte, prägte der Kulturkritiker zwei einzigartige Attribute für den österreichischen Literaten, das „GeistigHerrische" und das „Herrisch-Herrliche". Leider ist Müllers Ausdeutung dieser Begriffe zu komprimiert, um kohärent zu sein. Eine Neigung zur intellektuellen Selbstbehauptung, zu diesem „Germanischen Reststück", das „gleichsam wie eine geistige Adlernase" unproportioniert bei Grillparzer und Kürnberger hervortrete, zeige sich vor allem „während Krämpfen, Zweifeln, Anläufen, Rucken und Zusammenbrüchen [...] und bleibt ihm beim Erguss". Dieser überladene Satz darf als eine „Vorwärtserinnerung" an Hans Pragers Diagnose der Seelenkrämpfe des Österreichers gelten. Die Kehrseite dieser „Rittertugenden" sei eine edle Abneigung gegen „unvornehmen Schweiß, Hitze, Brandwunden und StofFdruck, [und] Quetschungen am Objekt". (S 43) Erstaunlicherweise muss man daraus schließen, dass der „herrisch-herrliche" Literat kein Meister des Details ist, kein Verwalter, mit einem Wort kein geeigneter Bürokrat. Es fehlt ihm an Sitzfleisch und Pedanterie. Insofern scheint er das Gegenstück zum „theresianischen Menschen" zu sein, denn es fehlt ihm die Konzilianz und Duldsamkeit sowie der Konservatismus dieses ausgebildeten Versöhners. Wie Müller selbst gehört der „herrisch-herrliche" Intellektuelle ins Kaffeehaus, nicht in das Büro oder in die Kaserne. Offenbar hat sich der Autor hier in einen Widerspruch verwickelt, denn was hat seine Widerlegung der Hofmannsthal'schen These über die Schmiegsamkeit des k.k. Beamten mit seiner Hervorhebung des „Menschen der Verhältnisse" zu tun? Anscheinend ist Müller über die Unzulänglichkeiten des Staates so sehr
Robert Müller und die Züchtung des „Reichsmenschen"
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empört, dass er nur dessen Verfallserscheinungen wahrnimmt. Entschlossen verwirft er jeden Impuls, den k.k. Beamten zu mythisieren, nicht zuletzt weil dieser nach 1900 das Reich so „schleppend, ungenau, ja leer" verwaltet habe. (S 43) Das Reich konnte sich zwar „einen runden Menschen züchten", aber dafür hat dieser einen Staat geschaffen, der „einem halbmöbilierten, schön gelegenen Zimmer ähnelt". (S 43) Wie Hermann Bahr hielt Müller den Krieg, „diese preußischen Gehschule für Österreich", für die einzige Methode, die „Unglückspunkte" des Staatsgefüges zu verbessern. (S 43-44) Auf Grundlage des Charakterzugs „des Herrisch-Herrlichen" liefert Müller die Erklärung, warum Österreichs Männer, jene Nachkommen der Germanen, einen „halbmöbilierten" Staat errichtet hätten. Der Germanenherkunft gemäß seien sie so „herrisch-herrlich" gewesen, dass ein jeder „Herr sein will" und keiner gern arbeite. Müller scheint die „Maßlosigkeit seiner Ungeduld" (Musil) auf seine Landsleute projiziert zu haben. Es folgt ein Aufschrei gegen die Schlamperei, jenen Habitus, den der Kulturkritiker auf einen Exzess der Individualisierung zurückführte. Diese Textstelle verurteilt die Schwäche des Reichsmenschen, jenes Geisteskavaliers, jenes herrisch-herrlichen Verwalters eines Chaos. Hier kippt Müllers „Mythik des Donau-Alpenmenschen" in einen Gegenmythos um. Die Korruption des Reichsmenschen wird wie sonst nie in der ganzen Literatur, abgesehen von Hans Prager, angeprangert. Müller fahrt fort: „Das Grundverhältnis [dieser Gesellschaft] ist auch nicht Lohn zu Arbeit, sondern Geist zu Arbeit. Aber dieses Chaotische, Isolierende, Asoziale, das seit jeher jedwedes Individualisieren, doch auch jede Protektion, Gelegenheitsregierung, eine Abart psychologisches Panama, wo Einzelseele mit Einzelseele übereinkommt" garantiert „die Talentlosigkeit österreichischer Verwaltung". 36 (S 44-45) Ganz wie Robert Musil in Der Mann ohne Eigenschaften entdeckte sein Freund unverhofft eine „sympathische und gute Seite" solcher Untüchtigkeit. Nützte der Romancier dieses „psychologische Panama" als Stoff für eine Satire, so begrüßt Müller darin eine neue Art anarchische Staatskunst. Weil die alten Formeln der Gesellschaft bloß einem Staat passen, in dem „überhaupt keine Form da ist", verkehrte Müller das Klischee der „Schlamperei" in das Schlagwort von der „Schlamperei aus Geist", d.h. Schlamperei aus Prinzip. (S 46) Das Merkmal der „herrisch-herrli-
3 6 „Panama" verweist auf den französischen Skandal der achtziger Jahre, als Deputierte Schmiergelder für das Unternehmen zum Bau des Panamakanals annahmen. Ein „psychologisches Panama" bedeutete damals etwa das gleiche wie ein „psychologisches Watergate" heute.
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chen Reichsmenschen" sei die Tatsache, dass bei ihnen keine Prinzipien übrig bleiben. Alles bleibt Förmlichkeit, die „durch gesellschaftliche Formlosigkeit" vereitelt wird. (S 46) Wie bei Musil sei das Geheimnis der österreichischen Gesellschaft die Tatsache, dass im Grunde alles anders vor sich geht, als es scheint. Die Gesellschaftsformeln bewirkten nur, eine zugrunde liegende Formlosigkeit, ja eine latente Anarchie, zu verschleiern. Bei Musil leitete diese „Schlamperei aus Geist" in den Begriff des „Möglichkeitsmenschen" über, d.h. in die Gestalt eines Menschen wie Ulrich, der die Formlosigkeit einer von Formeln umwobenen Gesellschaft ausnützte, um sich zu durch die Betrachtung der zahllosen Möglichkeiten zu individualisieren. Die Müller'sche Zukunftstugend der „Schlamperei aus Geist" befreit den Möglichkeitsmenschen Musils von den Schranken des „Wirklichkeitssinns". Wo alles möglich scheint, braucht sich keiner von der Wirklichkeit gehemmt zu fühlen. Wie Müller sagte, „Hierin klingt Zukunftsmusik", die unerhörte Musik eines Lebens ohne feste Eigenschaften. (S 46) Bei Musil beweist der „geistig herrische" Mensch seine Herkunft aus dem Germanentum nicht durch seine sachliche Kompetenz als Verwalter des Reiches, sondern durch sein Sichabfinden mit dem „Chaotischen, Isolierenden, Asozialen" der Schlamperei aus Geist. In Der Mann ohne Eigenschaften erfindet der „herrisch-herrliche" Mensch Ulrich seine Berufung als ein Experimentierender der Formlosigkeit. Im Unterschied zu Musil aber erweist sich Müller als weniger begeistert von „dem modernen Mechanisierungsprozess", der in Reichsdeutschland voranschreitet. Nach Müller besitzt der „anarchisch-konservative" Österreicher die „Zukunftstugend", der Nachkriegsmechanisierung Widerstand entgegen setzen zu wollen. Obwohl er das in den dreißiger Jahren verbreitete Wort „Totalitarismus" noch nicht kannte, hält er den Reichsmenschen für einen Bollwerk gegen den übermechanisierten Staat der Zukunft. Offenbar entpuppte sich sein Vertrauen auf die „Schlamperei aus Geist" als ebenso wehrlos gegen die NaziMaschinerie als das Vertrauen eines Hofmannsthal oder eines Wildgans auf die Tugenden des theresianischen Menschen. Unversehens folgt darauf ein Lobgesang auf die durch „Genüsse" vollzogenen Eroberungen des Habsburgerreichs. „Wir haben ein Reich vor uns, das mehr erobert hat als das deutsche [...] Es hatte auch keinen vollendeten Staat, niemals eine glänzende und überzeugende Gesellschaftsordnung, die gereizt hätten: und hat dennoch methodisch erobert und bewahrt." (S 46-47) Dieses Beispiel einer „persönlichsten Theorie" suggeriert eine verzerrte Vision der Errungenschaften jenes theresianischen Menschen, der es vermieden hätte, er-
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oberte Völker durch einen schwerfälligen Staat zu ärgern. Durch Schlamperei aus Geist funktionierte dieses Reich reizfrei, weil es jedem Manne Genüsse spende, „Genüsse nicht von rohem Leben, sondern an jener geistigen Grenze, wo Luft Schöpfung wird [...], wo ästhetische Werte sittliche werden und der Spezialist Mensch ist." (S 47) Dieser Satz bildet ein passendes Motto für die Donaumonarchie unter der Führerschaft der theresianischen Menschen, für jene Art von Reich also, wo „ästhetische Werte sittliche werden". Hofmannsthal hätte diesem Spruch sicher begeistert beigepflichtet, denn seine Huldigung an Maria Theresia beruhte auf demselben Prinzip, denn wie kein Herrscher vor oder nach ihr hatte die Kaiserin ästhetische Werte in sittliche umzuwandeln gewusst. Es scheint jedoch bizarr, dass Müller die Herrscherin in seinem Text nirgends erwähnt. Die Idee, dass der Sachkundige in Osterreich trotz allem ein Mensch bleibt und zu keinem preußischen Arbeitsvieh entartet sei, fasst das Hofmannsthal'sche Schema über Preußen und Österreicher in genialer Weise zusammen. Die Synthese gipfelt in einer Wortprägung, die ebenfalls viele Thesen in sich vereint. Müller spricht vom „Allausnahmssozialismus", d.h. von einer sozialen Ordnung, die sich auf jede Art von Ausnahmen beruft. Die Österreicher genössen einen Sozialismus der Ausnahmen, einen staatslosen Sozialismus, der im Namen der Formlosigkeit alles erlaube. Gerade dieser Freizügigkeit verdankten die Österreicher ihren „freistaatlichen Genuss", ihre „Schlamperei aus Geist", ihre „harmonisch maßgebende Anschauung". Ahnlich wie Musil begrüßt auch sein Freund Müller die österreichische Toleranz gegenüber allen Möglichkeiten als einen Ansporn für Literatur, Kunst und Musik. (S 47) Wiederum baut Müller eine höchst persönliche, ja exzentrische Theorie auf, diesmal auf der rassentheoretischen Prämisse, dass die Germanen eine Begabung für die Organisation aufwiesen. Demzufolge sei die Architektur eine rein germanische Kunst, die „am meisten intellektuelle ,Kunst', die schon nicht mehr Kunst, sondern Organisation zu nennen ist". (S 50) Diese Begabung „einer mächtigen organisatorischen Phantasie" habe sich in Österreich mit dem „sinnlichen Gehör" w/rÄigermanischer Rassen vereinigt, um die österreichische Musik hervorzubringen. Laut Müller sei der „Reichsdeutsche" selbst zwar „liederfroh", aber es mangele ihm an „Gehör im Verhältnis zur Sangeslust". (S 48) Als der „schöngeistige Spezialist" des Deutschtums habe der Deutschösterreicher die Musik im Kontakt zu den Rassen perfektioniert. Diese Theorie verliert sich in langen Exkursen über Asien und Afrika, die zu einer Würdigung von Arthur de Gobineau ( 1 8 1 6 - 1 8 8 2 ) überleiten. Dieser sei ein Denker gewesen,
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der „als gotischer Baumeister vor den Ziegelträgern der Wissenschaft so wenig Gnade findet". (S 52) Obwohl Müller die „Ziegelträger der Wissenschaft" gering schätzte und von ihnen ebenfalls kaum bemerkt wurde, münden seine Theorien in einen versöhnlichen Schluss. Er prägt das Wort von der „schweigenden Organisation", um den ,„Ohnstaat' des Donaureiches", und dessen „ungesellschaftliche Gesellschaft" zu kennzeichnen. Diesbezüglich wagt er eine Analogie zur Musik von Arnold Schönberg und Richard Strauss, einer Musik, die „bei höchster ,Verstaatlichung' der Töne eine höchste Freiheit derselben walten lässt". (S 52) Die Musik des damals in Berlin wohnenden Schönberg, etwa die 5 Orchesterstücke (1912) oder Pierrot lunaire (1914), verkörperten demnach den „freistaatlichen Genuss", ja den „Allausnahmssozialismus" der Donaumonarchie! Dieser Geistesblitz trifft vielleicht noch besser auf die Benützung der Volksmelodien in „der ungesellschaftlichen Gesellschaft" von Gustav Mahlers Symphonien zu, die von Müller nicht erwähnt werden. Sein Talent für die Herstellung von kulturgeschichtlichen Querverbindungen gerät hier ins Schrankenlose. Der Einfall, dass die Allausnahmsmusik Schönbergs eine „schweigende Organisation" der Töne erreiche (d.h. eine strenge verheimlichte Struktur), weist auf die surrealistischen Querverbindungen, die Otto Basil fünfundvierzig Jahre später in Bezug auf die Kultur Spätkakaniens formulierte. Als literarische Parallelfiguren zu Schönberg hebt Müller drei seiner Zeitgenossen hervor : den Salzburger Georg Trakl, den Triestiner Theodor Däubler sowie den Niederösterreicher Paris von Gütersloh. Die Gedichte des ersten zeigten eine Sprache der reinen Sinnlichkeit „in einem neuen und höchsten Ausmaße organisiert", und aus einem Gedicht des zweiten „tritt die deutsche Sprache als Naturerscheinung" hervor mit übertriebener Organisation. (S 53—55) Parallel zu dieser Entelechie laufe die „sinnlich naive, organisatorisch übertrieben strenge Prosa" von Paris von Gütersloh, etwa im Roman Die tanzende Törin ( 1 9 1 1 ) . Der Kunst- und Literaturkritiker lässt sich allzu leicht durch Analogien verführen, die in maßlose Übertreibungen ausarten. Dennoch greift Müller hier einen Gemeinplatz des Diskurses zum Österreichertum auf, denn fast alle Essayisten erklären, dass das Donaureich seine künstlerischen Errungenschaften einer Rassenmischung verdanke, die sowohl in zweifelhafter wie schöpferischer Weise fortwirke. (S 56) Nach diesem Exkurs über die Rolle des Germanentums in der österreichischen Kunst um 1900 bereitet Müller dem Leser eine herbe Enttäuschung. Allem bisher Gesagten über das Wiener Kaffeehaus und das Nibelungenlied zum Trotz, geht er in Kapitel 4 daran, Wien und die Wiener als
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„Rassensarkophag" herabzuwürdigen. Er behauptet, die Stadt Wien habe seit der Vorgeschichte eine uralte Rasse von „Gletschermenschen" beherbergt, und diese Rasse habe alle späteren Eroberer der Stadt verhängnisvoll überdauert. Diese spöttische Rassenfabel gipfelt in der Sentenz: „Zur Oper Österreich gibt es auch eine böse misslungene Operette Wien." (S 58) Mit diesem unsäglichen Tiefschlag mündete das geistreiche Büchlein in eine aufgeblähte Rassenphantasmagorie. Ohne Vorwarnung zieht der Futurist seinen Optimismus zurück, als ob er plötzlich eine düstere Zukunft für den Reichsmenschen wittere. Aber im Unterschied zu Karl Kraus gingen von diesem Ideensarkophag eines Wiener Selbsthasses, wenigstens während des Krieges, keine fruchtbaren Impulse aus. 3 7 Im letzten Kapitel findet Müller wieder zur Vernunft zurück und schöngeistige Wortprägungen sprudeln in Vorwegnahme des Hofmannsthalschen Schemas, vor allem zur Formel „Hineindenken in andere bis zur Charakterlosigkeit". Es lohnt sich einen ganzen Absatz aus Kapitel 5 als ein Destillat dieser geistvollen Ubersicht der österreichischen Charakterzüge zu zitieren. Der Österreicher „sieht zu sehr das Menschliche eines Einzelfalles, um einer Allgemeinheit gerecht zu werden. Er ist gesättigt mit steter Psychologie, er erfasst sofort die Situation des andern, die .Verhältnisse'. Dieser psychologische Tick [...] führt bei gleichwohl starker Vitalität und Tatfreude zu einem Indifferentismus des Handelns. Wenn schon gehandelt wird, dann paradox, in Ausnahmen; es wird nahezu dialektisch gehandelt. Man vertritt zwei Standpunkte, die Regel und die Ausnahme; die Regel aber in der Ausnahme." (S 100) Diese Textstelle hätte wohl von Robert Musil stammen können. Der Reichsmensch erinnert an Ulrich den Möglichkeitsmenschen, der gern die Regeln in jeder Ausnahme und die Ausnahme in jeder Regel heraussuchte. Als Inbegriff dieser Psychologie des „Ethikers als Dialektiker" hebt Müller Johann Nestroy hervor. Seine Analyse gipfelt in einem Porträt des „rein kultivierten Österreichertums" des Possenschreibers. (S 1 0 1 ) Leider sei diese Nestroy'sche Dialektik durch den „jüdischen Charakterkopf' Karl Kraus „ins wertlos Pathologische hinüberorna-
3 7 Als ob er seinen Unsinn über den „Gletschermenschen" wieder gut machen wollte, veröffentlichte Müller sieben Jahre später einen hervorragenden Essay „Wien" in Rassen, Physiognomien, Kulturhistorische Aspekte (Berlin: Reiss 1923), S 6 3 - 9 1 . In Worten, die gleichzeitig ein Selbstporträt des Autors liefern, beschreibt er diese „Großstadt nach innen" als „selbstgenügsam, hochfahrend, gutbös wie ein alter Hofrat, sarkastisch, in seine Weisheit vernestelt, abwinkend [...] ein in sich befriedigt werdendes Ornament [...]" S 69. „Gutbös wie ein alter Hofrat" dieser Ausdruck trifft gut zu auf die süßsauere Auffassung des theresianischen Menschen bei Hermann Bahr, freilich nicht auf die süßliche bei Anton Wildgans.
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mentalisiert". Diese isolierte antisemitische Bemerkung ist umso bedauerlicher, da sie zu nicht nur einer treffenden Würdigung von Kraus' Leistungen, sondern auch zur Berufung der Österreicher als Erfinder der Sprachphilosophie überleitet: „Es gibt auf dem ganzen Planeten keine Menschenkategorie, die das Sprechdenken, die sprachsinnliche Meisterschaft, das quälend Dialektische des Sinnierens derart beherrschte wie der Österreicher. Diese Spezialität allein macht das Österreichertum innerhalb einer Weltkultur unüberwindbar." (S ι ο ί ) Es scheint fast, als ob Müller das Potenzial der Sprachphilosophien eines Wittgenstein, eines Buber oder eines Mauthner im Voraus geahnt hätte, die die Philosophie des 20. Jahrhunderts durch ihre Analysen des „quälend Dialektischen des Sinnierens" maßgeblich mit gestaltet haben. Wie fast in jeder Hinsicht bietet der zwiespältige Denker eine seltsame Mischung von Geistesblitzen und blankem Unsinn dar. Obwohl manche seiner Wortprägungen eine systematischere Analyse verdienten, scheinen seine rassentheoretischen Überlegungen mit Hinblick auf die späteren Ereignisse äußerst naiv und geradezu unverantwortlich. Meines Wissens hat sich kein späterer Autor mit Müllers Büchlein jemals auseinandergesetzt. Es steht als ein Monument für jene Art von Isolierung und Individualisierung, die der Autor als ein Merkmal der „ungesellschaftlichen Gesellschaft" der alten Monarchie ansah. Er selbst war ein Ausbund jener Eigenschaften, die er seinen Landsleuten zuschrieb: Überpsychologie, „geistige Herrischkeit", eine „Neigung zum Kavalier" und nicht zuletzt „Schlamperei aus Geist". Sein Porträt eines widersprüchlichen Reiches, dessen „Ohnstaat" den Intellektuellen unerhörten Spielraum lasse, und seine Darstellung der Schriftsteller seiner Zeit als Organisatoren des Sinnlichen bieten bislang unentdeckte Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Wiener Jahrhundertwende. Obwohl dieser Kulturkritiker den „Rassensarkophag" Wien schmähte, zeigte er manchmal dieselbe Leichtsinnigkeit, die Otto Basil später für typisch für den „Feuilletonismus" der Jahrhundertwende hielt. Für sie war Wien ein Zwiespaltsarkophag, wo in jedem Kaffeehaus Ambivalenzen auf problematische Naturen lauerten. Man darf fragen : Deutete solche Ambivalenz Wien gegenüber auf einen österreichischen Selbsthass hin ? Bei Müller gewiss nicht, denn er wollte „den unstaatlichen Staat" letzten Endes preisen, weil seine „Schlamperei aus Geist" das Nachkriegseuropa zu den Möglichkeiten eines „Allausnahmssozialismus" erwecken vermochte. Wer würde meinen, dass eine solche „Anarcho-Demokratie" schlimmer für Europa gewesen wäre als der übermechanisierte Totalitarismus der Nazis ? Der Erfinder des Reichsmenschen, des Verhältnismenschen und des „herrisch-herrlichen" Menschen er-
B a h r als B e f ü r w o r t e r des „geistigen K o n n u b i u m s der V ö l k e r "
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lebte die Echos seiner Überlegungen im Roman seines Freundes Robert Musils nicht mehr. Die Pleite seines Verlages in der Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit hatte ihn in den Freitod getrieben. Zweifelsohne wäre Robert Müller ein idealer Leser dieses Romans gewesen, ja dessen alleridealster Leser. Der Mann ohne Eigenschafien diagnostiziert die zukunfitsverkündenden Eigenschaften des Müller'schen Reichsmenschen. In Ulrich hat der Romanautor seinem Freunde ein entmonumentalisierendes Monument gesetzt. In Ambivalenz pendelt der Leser des Romans zwischen Bewunderung und Abneigung, Faszination und Enttäuschung, Reiz und Ekel. Wie Musils Ulrich war dieser geistig herrische Mensch so etwas wie ein Allausnahmskünstler. Sein Spürsinn fur die Dialektik zwischen Normen und Ausnahmen machte ihn zu einem Kulturkritiker von enormem Geistesreichtum.
B A H R ALS B E F Ü R W O R T E R DES „ G E I S T I G E N K O N N U B I U M S DER V Ö L K E R "
BAHR, Schwarzgelb (Berlin: Fischer 1917), Kapitel 4-6. Wir haben Hermann Bahr im Jahr 1 9 1 5 bei seiner hoffnungslosen Diagnose „eines Leichtsinns voll seliger Sehnsucht, eines Leichtsinns aus verstummter Tiefe" verlassen (S 78) Diese Worte „erinnern vorwärts" an ähnliche Ausdrücke Robert Müllers über den Reichsmenschen. Im Vergleich zu diesen gequälten Äußerungen klingt Hofmannsthals Feierlichkeit optimistischer, vielleicht weil er nach dem Krieg weniger Verbesserungen erwartete. Allerdings warnt Bahr am Ende von Schwarzgelb, dass die von Hofmannsthal angeregte „Osterreichische Bibliothek" „einen Schuss von unmittelbarer lebendiger Kraft" brauche sowie „mehr fortwirkenden Bezug auf den Augenblick [...] um es vor dem Alexandrinischen zu bewahren". (S 208) Niemand würde Bahr des Alexandrinismus tadeln, denn er sprudelt über von „unmittelbarer lebendiger Kraft". 3 8 Im Vergleich dazu scheint Hofmannsthals „herzhaftes, großgesinntes Unterneh3 8 H O F M A N N S T H A L warnte die Österreicher davor, einem falschen D e u t s c h t u m zuzuneigen, das sich „ z u m B i s m a r c k i s m u s verhält wie der Alexandrinismus zur wirklichen A n t i k e " . „ Ö s t e r reich i m Spiegel seiner D i c h t u n g " [ 1 9 1 6 ] in Reden und Aufiätze,
2 ( 1 9 7 9 ) , S 2 2 . Vermutlich
hat B A H R diese Art E p i g o n e n t u m bei der „Österreichischen B i b l i o t h e k " gespürt, etwa in B ä n d e n wie N u m m e r 2, M E L L S Heldentaten 4 , Bismarck
und
Österreich.
der Deutschmeister
1697 bis 1914 oder N u m m e r
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men" in der Tat etwas lebensfremd. Der zweite Teil von Bahrs Buch ist konkreter und weniger hochfliegend als die ersten drei Kapitel, der Ton entscheidend nüchterner als jener Müllers. Ein Kapitel über Böhmen regt den Autor zu einer großangelegten Analyse der Zwistigkeiten zwischen den Tschechen und den Deutschösterreichern seit 1526 an. Er erweist sich als ein tauglicher Historiker der langen Dauer des Habsburgerreichs. Er untersucht den Gebrauch des Namens Osterreich seit 9 5 5 so sorgfältig und liefert so viele Varianten dessen, dass der Leser gern wieder auf Musils Prägung „Kakanien" zurückgreift. (S 80-83) Die Betrachtung der tschechischen Bevölkerung spornte Bahr an, seine Lieblingsthese über die Funktion des Reichs als den notwendigen Hintergrund zur Selbstentfaltung jedes Volkes zu wiederholen: „Ein so starkes, ehrgeiziges, unaufhaltsames, aber kleines, einsames und ganz auf sich selbst angewiesenes, in sich selbst eingeschränktes Volk" brauche „einen großen geistigen Hintergrund". (S 94) Die Berufung des Habsburgerreichs sei es, „diesen Anker ihrer Seelen" allen seinen Völkern zu bieten, aber die Beamten hätten ihre Pflicht versäumt, das Bedürfnis der Tschechen und Böhmen „nach einem Horizont, nach geistiger Weite, nach innerer Berührung mit der großen äußeren Welt irgendwie zu stillen [...]" (S 94—95) Angesichts der heutigen Bewunderung für die „geistige Weite" der Denker des ausgehenden Kakanien klingt dieser Vorwurf merkwürdig. Wie Hofmannsthal einmal bemerkt, fehlte es in Altösterreich selten an geistigen Kräften, 39 jedoch an Willenskraft und an praktischem Sinn. Bahr stellt eine Parallele zwischen den Tschechen und den Deutschösterreichern fest: Wenn „ein so starkes und dabei doch so kleines Volk [wie das tschechische] [...] das Gefühl nicht erträgt, isoliert zu sein", so sei das nur natürlich, denn „die Deutschen Österreichs kommen ja mit Osterreich allein innerlich nicht aus, ihr Vaterland muss größer sein [...]" (S 9 5) Beide Völker sehnten sich nach einem idealen Raum, der jenseits der Grenzen liege: Die Tschechen verlangten einen Anschluss an die anderen Slawen, die Deutschösterreicher an die Reichsdeutschen, während Bahr beide zum österreichischen Patriotismus bekehren wollte. Das große Hindernis für einen solchen Lernprozess bleibe „das ewige Misstrauen der Bürokratie", jener Beamtenschaft, die im Krieg leider nichts gelernt und nichts verlernt habe. (S 100) Der Patriot verwarf im Voraus das spätere Konzept der k.k. Beamtenschaft als eines staatserhaltenden Sozial-
39 HOFMANNSTHAL, „Grillparzers politisches Vermächtnis" (1915), in Reden, 2 (1979), S 408.
Bahr als Befürworter des „geistigen Konnubiums der Völker"
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kapitals und hätte für Hugo Hassingers Wertschätzung der Vermittlungsarbeit der k.k. Beamten ausgerechnet in Böhmen nur Spott übrig gehabt. Der Wahlsalzburger nimmt den hundertsten Jahrestag der Vereinigung Salzburgs mit Österreich am i. Mai 1 8 1 6 als Anlass zum Feiern. Mit Stolz beschreibt er die Ubertragungszeremonie, als „die bayrischen Wachen von den österreichischen abgelöst wurden, an der Residenz das bayrische Wappen sank. Der Doppelader aufstieg [...]" (S 1 0 1 ) Diese Erinnerungen ermuntern Bahr zu einer patriotischen Bekundung zugunsten „der erlauchten Größe, Macht und Würde Österreichs". (S 104) Jedes Volk des Reiches müsse einen Augenblick des Zögerns überstanden haben, ja muss einen Augenblick des Argwohns wegen der aufgeopferten Autonomie widerstanden haben, um „ein ahnendes, hellsehendes, der Gegenwart enteilendes Vorgefühl seiner wahren Bestimmung, seiner inneren Sendung, seiner geschichtlichen Berufung" zu erfahren. (S 104) Ehrfurchtsvoll schreibt Bahr jedem Volk das Erlebnis des sacrificium nationis zu, das Franz Werfel bloß der Beamtenschaft zubilligte. Dieses Prinzip wirft: ein Licht auf die Schwierigkeiten, welche die Nachkriegsessayisten begleiten würden, ein neues Österreichertum zu formulieren, das jedem Anflug der nationalen Selbstverleugnung widerstand. Erst Anton Wildgans ist es 1930 gelungen, einen österreichischen Menschen ohne eine Spur von sacrificium nationis zu schildern. Das fünfte Kapitel von Schwarzgelb ist mit „Der Österreicher" übertitelt. Obwohl dieser Titel elf Jahre später in Hans Pragers Beitrag zum Sammelband Ewiges Österreich (1928) noch einmal aufscheint, war er ansonsten sehr selten. Hier prägt Bahr das Wort, das bei anderen und auch später bei ihm selbst nie wieder vorkam, vom „Stockösterreicher". (S 1 1 2 ) Zunächst wiederholt der Essayist seine Lieblingsthese über das „ganz unerklärliche, ratlose Plus in seinem Wesen", das jeder österreichische Deutsche oder österreichische Slawe durch das Zusammenleben mit anderen Völkern erhalte. Diese Art von „unbewusstem geistigem Konnubium" erzeuge Angst vor dem Gesamtreich Österreich, d.h. „vor dem Österreich in der eigenen Brust", weil der nationale Teil eines Menschen „über die Beredsamkeit eines ganzen Volkes verfügt, der österreichische Teil aber stumm bleibt". (S 107) Eindeutiger hätte man das Unheil des Ausbleibens eines Diskurses des Österreichertums nicht ausdrücken können: „Österreich ist ja noch nie formuliert worden, es hat keine Sprache, es kann sich nur durch Musik und die bildende Kunst oder unmittelbar durch die Tat verständigen [...]" (S 1 0 7 - 1 0 8 ) Es ist verwunderlich, dass spätere Analytiker des Österreichertums diesen Satz nicht zitiert haben und man denkt an Grillparzers
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Zeilen : „Und lieber schien er [der Österreicher] kleiner, als er war, als sich zum Ungetümen anzuschwellen." 40 Beide Äußerungen hätten als Mottos für die gesamte Bejahungskampagne dienen können. Weil das politische Vokabular Europas erst in den Nationalstaaten entstand, hatte man keinen passenden politischen Wortschatz für das geistige Konnubium Österreichs geprägt. Wenn eine Nation sich benötigt findet, „sich auf andre Nationen zu beziehen, mit ihnen zu hausen, sie sich und sich ihnen anzupassen", so muss sie denn „jenes seelische Konnubium erleben", das Österreich eigen ist. Diese Symbiose von Völkern könne in einem Nachkriegseuropa als Vorbild wirken, wo jede Nation gewisse Teile ihrer Bevölkerung jenseits ihrer Grenzen haben würde. Innerhalb eines solchen irredentistischen Spannungsfelds von „bald feindlichen, bald verbindenden Elektrizitäten" werde Europa zu einem größeren Österreich werden. (S 1 1 0 ) Man fühlt den Stolz des Essayisten, wenn er behauptet, „der Österreicher, welcher Nation immer, ist [...] ein erster Versuch des Europäers". (S 1 1 1 ) Er beeilt sich hinzufügen, dass die größten Österreicher, „die österreichischsten Österreicher" fast ausnahmslos keine waren, sondern „Zugereiste" wie Abraham a Sancta Clara aus dem Bodenseegebiet, Prinz Eugen aus Paris, Mozart aus dem damals noch nicht österreichischen Salzburg und Metternich aus Koblenz. Wie bei Hofmannsthal und Werfel erscheint der gelernte Österreicher bei Bahr als der europäischste aller Europäer. Bahr aber findet eine neue Variante dieses Themas. Andere berühmte Emigrierte wie Stendhal, Chopin oder Turgenjew hätten zwar die Idee eines Europäers auf eigene Faust verwirklicht, aber nur Österreich habe einen ganzen Kreis von Menschen erzeugt, die ohne ihr Land je zu verlassen, „geistig über ihr Volk, über ihren Staat, ja über sich selbst hinaus und gewissermaßen daheim, zugleich aber auch noch in einer andern Welt leben". (S i n — 1 1 2 ) Diese Protoeuropäer seien stark in ihrer Heimat verwurzelt, führten aber ein „seltsames inneres Doppelleben", das vor allem im Adel und Klerus zu beobachten wäre. Diese „Stockösterreicher" mokierten sich darüber, dass sie „immer noch auch etwas anderes" waren als sie erschienen. Ob als Deutsche, Tschechen oder Kroaten lebten sie „von den anderen Nationen beleuchtet, mit denen sie leben". Dieses seelische Konnubium machte das Deutsche oder das Slawische „beweglicher, flüssiger" als sonstwo, sodass „es keine Schwere mehr [hat], es wird sublimiert, es ist mehr sozusagen nur noch ein Abglanz von sich selbst". (S 1 1 2 ) Hier tastet
40 Zitiert in Richard von Kralik, Das unbekannte Österreich. Eine Entdeckungsfahrt (Wien : Wiener Urania 1917), S 39.
Bahr als Befürworter des „geistigen Konnubiums der Völker"
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Hermann Bahr sichtlich nach Wörtern, um das Funktionieren der kulturellen Austauschprozesse zu beschreiben. Er ist der Uberzeugung, dass die Zugehörigkeit zu einem Vielvölkerstaat auf die Charakterzüge der verschiedenen Mitbürger abfärbt. Es ist auffällig, dass das Schlüsselwort „Kultur" in dieser Diskussion der Vorteile des kulturellen Austausches zwischen den Völkern fehlt. Eigentlich hätte Bahr vielmehr von einem kulturellen Konnubium sprechen sollen, denn die Metapher der Ehe trifft auf die Gegenseitigkeit des kulturellen Austausches ganz gut zu. Der Begriff „Kultur", der nach unseren heutigen Begriffen Bahrs These zugrundeliegt, stand ihm jedoch nicht zur Verfügung, weil sich die Kulturgeschichtsschreibung Österreichs noch nicht entfaltet hatte. Der Gewinn aus dem ständigen kulturellen Austausch, mit anderen Worten eines kulturellen Konnubiums, bildet heute ein Hauptthema der postmodernen Forschung zum Habsburgerreich, aber 1 9 1 6 war diese Idee ein Novum. Das, was Bahr ein „seelisches Konnubium" nannte, ist heutzutage als der freie Markt der Ideen und künstlerischen Motive bekannt. Nach Bahrs These soll das Habsburgerreich zum Teil aus Mangel an einem politisch-kulturellen Vokabular zugrunde gegangen sein, aber Bahrs Einsicht in diesen Mangel kam, wie der Flug der Eule der Minerva, zu spät, um das alte Reich retten zu können. Tiefes Bedauern über die versäumte Aufgabe der Donaumonarchie, das kulturelle Konnubium ihrer Völker zu fördern, durchdringt Bahrs Diskurs. Nicht nur hat der Essayist niemals an die Möglichkeit eines Verschwindens des Reiches gedacht, sondern an eine bessere Zukunft geglaubt, wenn die „vergrößerten Österreicher [...] die Lehrmeister, Tanzmeister Europas" sein werden. (S 1 1 3 ) Im Rückblick hielten die meisten Essayisten der Ersten Republik den Untergang des Reiches für unabwendbar, Bahr jedoch suggerierte, dass eine rechtzeitig umgesetzte Kulturpolitik der Deutschösterreicher den Slawen gegenüber das Reich vielleicht hätte erhalten können. Das kulturelle Konnubium wäre rettbar gewesen, wenn die führenden Schichten es nur rechtzeitig begrifflich verstanden hätten. Die Zeit des geistigen Konnubiums war aber vorbei, schon während des Krieges herrschte dieses zwischen den Wortführern der Deutschösterreicher wie Hermann Bahr und den Führern der Tschechen wie Thomas Masaryk längst nicht mehr. Heute akzeptieren wir nur ungern die Hypothese, dass das Habsburgerreich zum Teil aus einem Mangel an Diskurs zum Österreichertum zusammengebrochen sei. Auf alle Fälle begann ein solcher Diskurs viel zu spät, um die „Stockösterreicher" zur Bedeutung ihrer Rolle als Sozialkapital zu erwecken, nämlich als Europäer zu leben. Um mit Hassinger und Lhotsky zu argumen-
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tieren, entwickelten die k.k. Beamten zu spät ein (Selbst-) Bewusstsein für ihre geschichtliche Leistung als Bewahrer des geistigen Konnubiums zwischen den Völkern. Die Bemühungen Hofmannsthals und Bahrs um diese Bewusstwerdung vermochten an diesem traurigen Zustand nichts zu ändern. Die Essaysammlung Schwarzgelb enthält als sechstes Kapitel „Wien und Berlin", das den Vergleich zwischen Osterreich und Deutschland in bündiger Form weiterführt. Der Vielschreiber Bahr entwickelt ein Talent zur Kürze, wenn er hier in drei Abschnitten eine Anzahl von Polaritäten zur Vorschein bringt. Im ersten Abschnitt handelte es sich um die „alles österreichische Leben beherrschende Maxime", dass es bei allen beliebigen Urteilen darauf ankomme, „sympathisch zu sein". (S 1 1 5 ) Nicht die Leistung, sondern der Eindruck, den einer macht, entscheide über den Erfolg. Anstatt die Qualität der Leistung eines Schauspielers zu beurteilen, frage man bloß, ob die Person einem gefällt. In Berlin frage man natürlich ausschließlich nach der Leistung, „kurz: wir fragen nach dem ganzen Menschen, unsre Nachbarn nach seiner Verwendbarkeit [...]" (S 1 1 6 ) Bahr erlaubt sich eine Spur Ironie: Obwohl der österreichische Standpunkt am ehesten zu einem Nekrolog passe, inzwischen bis zum jüngsten Tage müssten sich die armen Österreicher bemühen, in der bevorstehenden deutschen Weltwirtschaft leistungsfähig zu sein. (S 1 1 6 - 1 1 7 ) Diese Umwälzung werde eine Revolution in der österreichischen Kindererziehung voraussetzen. Hier verfasst Bahr eine der seltenen Kritiken des Schulwesens, die im Diskurs zum Österreichertum vorkommen. Mit Lhotsky war er der Einzige, der nach den Gebräuchen an den Schulen fragte: „Schon Eltern und Lehrer ziehen das artige, das brave, das freundliche Kind dem tüchtigen, dem starken, dem begabten, das zutunliche dem eigenwilligen, das Hascherl und das Tschaperl dem ungeselligen, mühsamen, widerspenstigen Talent vor. Wer unangenehm auffällt durch Eigenart, Eigensinn und Eigenmacht, hat's am schwersten [...]." (S 1 1 7 ) Diese unerfreuliche Diagnose führte unseren Kritiker zu der Frage, ob Talent und Charme in einer Person überhaupt vereinbar seien. Die Antwort ist verblüffend, denn ohne Vorbereitung hebt unser Dichter im Lobgesang den barocken Menschen empor. Von einer Kritik des Schulwesens ausgehend gerät er in einen Mythos, dessen Formulierung nur schwer zu verstehen ist: „Unser Barock ist der weltgeschichtliche Versuch, schon entrückte Menschen vom Himmel dann wieder in Erdenlust und Erdenleid zu bringen, wo sie nun, was sie dort erblickt, hier bewähren sollen. Im Barock wird der Mensch erst ganz von jedem irdischen Zweck erlöst, um gerade dann aber wieder in den irdischen
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Dienst gestellt zu werden, den er nun freilich jetzt nicht mehr als seufzender Knecht, sondern mit dem Lächeln der Freiheit tut." (S 1 1 8 ) Diese Textstelle verkörpert jenen Mangel an Logik, die Bahrs Prosa einen schlechten Ruf beschert haben. Was hat eine vermeintliche Versöhnung von Arbeit und innerer Freiheit im österreichischen Barock mit den Spannungen zwischen Deutschen und Österreichern während des Ersten Weltkriegs zu tun ? Die Argumentation zeigt den Missbrauch der Quellenauffrischung (ressourcement), die ein zeitgenössisches Problem durch die Entdeckung der relevanten historischen Quellen beleuchten soll. Stattdessen meint Bahr das Problem durch die Zuflucht in eine mythisierte Vergangenheit zu lösen. Er ist überzeugt, dass die Menschen des Barocks die Tugenden der späteren Reichsdeutschen und Österreicher verbanden. Die nachstehende Passage ist nur deshalb interessant, weil sie die Extreme der österreichischen Vorliebe für gedankliche Synthesen demonstriert: „Im Menschen, den das Barock uns offenbart, wird eine Verbindung des persönlichen mit dem sachlichen, des herrschenden mit dem dienenden, des schönen, guten, wahren, des gottgefälligen mit dem nützlichen, brauchbaren, fähigen, dem weltgerechten Menschen angekündigt [...]" (S 1 1 8 ) Bahr scheint die Absicht der Salzburger Festspiele vorausgeahnt zu haben, den weltgerechten österreichischen Menschen auf die Bühne zu stellen. Der Weltkrieg bringe somit den richtigen Augenblick, diese „Zeichen einer neuen Menschheit" aus dem österreichischen Barock hervorzuholen und neu zu verwirklichen. Die tiefere Bedeutung der Polarität zwischen Reichsdeutschland und dem Habsburgerreich liege im Potenzial des Letzteren, eine neue Art von Barockmenschen ins Leben zu rufen. Nicht von ungefähr waren es nicht Österreichs Staatsmänner, die diese Erneuerungsmöglichkeit damals erblickten, sondern die Künstler. Reflexartig berief sich Bahr auf die barocken Künstler als die Herolde einer späteren Epoche. Wenn schon die k.k. Beamten es nicht verstehen, eine derart vermittelnde Rolle zwischen Tschechen und Deutschösterreichern zu spielen, werden die Künstler des Barocks heraufbeschworen, um Ähnliches zumindest zwischen beiden Arten der Deutschen zustande zu bringen. Was für eine Verzerrung des Geistes des Barocks! Der zweite Abschnitt konfrontiert den Leser mit den Spannungen zwischen Wienern und Berlinern. Bahr spricht die Berliner direkt an, um sie zu überzeugen, wie wenig sie die Österreicher und deren Empfindlichkeit kennen. Darauf folgt ein verwickelter Satz über die Wechselwirkung zwischen dem ewigen Gekränktsein des Österreichers und seinem Wunsch, diesen Missmut möglichst zu verheimlichen. Fatalerweise nehme es der Österreicher übel, wenn seine Verschleierung des Sichgekränkt-
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fühlens den anderen täuscht, und diese erneute Enttäuschung über den Mangel an Feinfühligkeit des anderen wird wiederum verheimlicht. Unvermeidlich wird eine Kette der „fortgesetzten, stets verheimlichten, doch sorgsam angesammelten und aufbewahrten Empfindlichkeiten" früher oder später explodieren, und der angeblich „gemütliche" Mensch wird alle Konzilianz vergessen, wenn er in eine Wut gerät. (S 119) Zwar erwähnt Bahr den Begriff des theresianischen Menschen nicht, aber hier schilderte er ein Szenario für das plötzliche Versagen dieser angeblich alles versöhnenden Geisteshaltung. Was Bahr hier diagnostiziert, ist jener psychische Prozess, den Sigmund Freud „Verdrängung" nannte, und ebenso wie er betont Bahr die Schranken der seelischen Kraft, alle möglichen Frustrationen auf die Dauer auszuhalten. Wie Freuds Praktizierender der Verdrängung wehre sich der Österreicher gegen Beleidigungen „so spät, dass der, gegen den er sich wehrt, inzwischen schon längst vergessen hat, wogegen er sich wehrt. Wer das nicht weiß [...], kann mit uns Überraschungen erleben, die zuweilen nicht angenehm sind, und verspielt unsere Freundschaft leicht." (S 1 1 9 - 1 2 0 ) Als Anlass zu einem berechtigten Wutausbruch gegen die Reichsdeutschen beklagt der Essayist die Gewohnheit der Berliner, die Leistungen der österreichischen Künstler ausschließlich nach reichsdeutschen Maßstäben zu beurteilen. In Berlin komme ein Künstler aus Österreich bloß als eine besondere Art Deutscher vor und keineswegs als Ausländer. Der Berliner gestatte ungern, dass ein Österreicher eine Spur österreichischer Einmaligkeit aufweise. Er verweigere jede Anerkennung des spezifischen Österreichischen, indem er den Österreicher „bloß nach dem Grade seiner (gespielten oder wirklichen) Assimilation ans Deutsche" schätze. (S 123) Darauf folgt eine Ehrenparade jener großen Österreicher, die in Deutschland kein Publikum fanden: Walther von der Vogelweide, Fischer von Erlach, der Bildhauer Franz Anton Zauner und selbst der aus Schwaben stammende Abraham a Sancta Clara, der als „Modell zum Kapuziner im .Wallenstein' stand". (S 1 2 3 - 1 2 4 ) Wie der gewöhnliche Wut verdrängende Österreicher hat Bahr selbst eine Liste der Anlässe zum Gekränktsein angesammelt. Unter den Meisterwerken, die Reichsdeutschland nicht aufgenommen habe, wird Stifters Nachsommer als „das reinste Gefäß österreichischer Weisheit" gepriesen sowie Grillparzers Libussa als das „reichstes Werk" des Autors. In diesem Zusammenhang huldigt der Wahlsalzburger Bahr dem oberösterreichischen Mundartdichter Franz Stelzhamer (1802-1874) als einen „Epiker von homerischer Unschuld, Bildnerkraft und Sprachgewalt", ja als „dem größten Dichter, den wir im neunzehnten Jahrhundert hatten". (S 124) Sein Ahnl soll Goethes
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und Dorothea „in der ungetrübten Beherrschung des Hexameters"
übertreffen. Bei diesem gewagten Urteil kippt die Bejahung Österreichs ins Absurde um. Bahrs eigenes Gekränktsein enthüllt sich weiter, wenn er die Reichsdeutschen anklagt: „Dostojewski ist so stockrussisch wie Stelzhamer stockösterreichisch, und Cézanne kaum deutscher als Klimt. Aber jene dürfen, wir nicht." Die Österreicher passten zu Deutschland nur dann, „wenn wir auf uns selbst verzichten". (S 1 2 4 ) Die Belage zielt darauf ab, dass die Reichsdeutschen den Österreichern keineswegs halfen, ihre Eigenart darzustellen. Ganz im Gegenteil : Jede Beziehung Österreichs zum Deutschen Reich hemme die Suche nach der Einmaligkeit des Habsburgerreichs. U m in Deutschland überhaupt bemerkt zu werden, müsse sich ein Österreicher entösterreichisieren. Dieses Verbot der Bejahung des Österreichertums sei vielleicht das Schlimmste, das die Reichdeutschen ihren Alliierten antäten. Nicht nur interessierten sich die Deutschen fur das spezifisch Österreichische gar nicht, sondern sie spürten auch die Existenz einer solchen Eigenart nicht, und sie entmutigten die leicht gekränkten Brüder, auf die Suche nach sich selbst zu gehen. Aufgrund dieser Diagnose prägt Bahr einen Aphorismus über den österreichischen Widerwillen gegen die Selbstbejahung: „Nichts wird uns so schwer, als uns ruhig zu behaupten. Entweder geben wir uns hin und werfen uns weg oder wir rollen uns ein und sperren uns ab." (S 126) Dieser Spruch könnte als Leitwort für Friedrich Heers Werk Der Kampf um die österreichische Identität ( 1 9 8 1 ) dienen, ja als eine Beschreibung jener Geisteshaltung, die der ganze Diskurs des Österreichertums zu überwinden versuchte. Bahr wendet auf das Verhältnis zwischen Österreichern und Reichsdeutschen dasselbe Prinzip an, das Hassinger und Wildgans auf jenes zwischen Deutschösterreichern und Slawen angewendet haben. Nur durch die Assimilation der Eigenschaften des anderen missverstandenen Volkes könne ein Volk „zu seiner eigenen Vollkommenheit" gelangen. (S 1 2 7 ) Ein geistiges Konnubium zwischen den Reichsdeutschen und den Deutschösterreichern wäre daher wünschenswert. Für die Begegnung mit dem Anderen setzte Bahr aber deutliche Grenzen: Es wäre ihm lieber, wenn die Völker einander durch ihre Höhen, aber nicht durch ihre Wurzeln kennen lernen. Obwohl sich ein Tiroler oder ein Steirer seinem Gau zugehörig fühle, sollte er „von der uralten, tief geheimnisvollen österreichischen Geschichte [...] einen belebenden, befruchtenden beglückend Strahl" auf sich wirken lassen. (S 1 2 7 ) Im besten barocken Stil soll also ein jeder durch seine Verwurzelung im Lokalen dem Ganzen zu dienen versuchen.
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In den einzelnen Kapiteln von Schwarzgelb drückt der Autor einen Optimismus bezüglich des Krieges aus, der sich als irregeführt entpuppte. Keine von Bahrs Hoffnungen für die Nachkriegszeit haben sich in den ersten Jahren der Ersten Republik verwirklicht. Die Selbstbejahung Österreichs blieb weitgehend aus und die Führerschaft im Diskurs zum Österreichertum, die er in den Jahren 1 9 1 6 und 1 9 1 7 mit Hofmannsthal geteilt hatte, entglitt ihm. Mit Ausnahme des Essays „Das österreichische Problem" (1921) hat Bahrs Anteilnahme an der Suche nach der Eigenart Österreichs den Weltkrieg nicht überlebt. 41 1 9 2 1 fasste er resigniert zusammen : „Seit Österreich zerging, sind die deutschen Länder Österreichs eigentlich nur noch aus alter Gewohnheit beisammen [...] Was uns noch allenfalls zusammenzuhalten scheint, ist eigentlich nur ein gewisses Gefühl, nicht Abschied nehmen zu können." 42 Von Josef Redlichs frühreifem Sohn, dem sechszehnjährigen Hans Ferdinand Redlich (1903-1968), übernahm der Resignierte einen großsprecherischen Ausdruck, der im Nachkriegsdiskurs nie wieder auftaucht: „die Manifestation totalösterreichischen Geistes". Der musikfreudige Bahr klagt, dass solcher Geist ganz ermattet sei, „nun allerdings jetzt nur noch als Musik in der Welt vorhanden, wir ,Totalösterreicher' sind ganz zu Musik geworden, vielleicht ist aber das erst unser wahres Leben!" 43 Gegen eine derartige Absage an die Politik mussten die Österreich-Bejaher der Ersten Republik immer wieder kämpfen, und keiner dieser Verfechter hat es je wieder gewagt, von „Totalösterreichern" zu reden. Bahrs Versagen nach dem Krieg lässt seine früheren Äußerungen umso wertvoller erscheinen. Wie in fast jedem anderen Bereich, hat Bahr auch in das Buch Schwarzgelb zu viel hineinzupressen versucht und dieses zeigt noch weniger Zusammenhalt als Müllers Österreich und der Mensch. Ihre lose Struktur sowie ihr Mangel an Konsequenz berechtigt jedoch nicht, diese beiden Bücher wieder der Vergessenheit anheim zu geben. Bahrs Diagnose der Verdrängung eines unheilbaren Gekränktseins nahm die Gedankengänge Hans Pragers über die gespaltene Seele des Österreichers vorweg, und die Anprangerung des „Hofratismus" wirft ein neues Licht auf die Beamtenwelt Franz Kafkas und Robert Musils. Im Unterschied zu seinem Gesinnungsgenossen Hofmannsthal hob Bahr die Schwächen seiner Landsleute hervor, seine Mythisierungen sind
41 BAHR, „Das österreichische Problem", in: Summula (Leipzig: Insel 1921), S 185-221. 42 Ebenda, S 220-221. 43 Bahr, „Österreichische Musik" [1920], in: Summula, S 184. Bahr zitiert aus Hans Ferdinand REDLICH, Gustav Mahler. Eine Erkenntnis (Nürnberg: Carl 1919).
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leichter zu entlarven als jenes des Dichters aus Rodaun. Alles in Allem tritt Bahr als ein weltoffener, wohlwollender, schöpferischer Geist vor uns, dessen Träume von Europa als einem vergrößerten Osterreich sich nach dem Krieg in Alpträume verwandelten. Sein Freund Paul Graf Thun-Hohenstein veröffentlichte in Bahrs Sterbejahr eine Auswahl von dessen Gedanken unter dem reizvollen Titel Mensch, werde wesentlich (1934). Ähnlich hätte der Titel von Schwarzgelb wohl lauten können Österreicher; sei wesentlich, denn Bahr gehörte zu den eifrigsten Fürsprechern der Bejahung Österreichs. Eben deshalb mag es sein, dass uns Postmodernen die Äußerungen von Satirikern wie Müller und Musil oder Sozialwissenschaftlern wie Hassinger und Benda besser gefallen als das mit Bitterkeit gefärbte Pathos Hermann Bahrs. Wenige Essayisten haben so sehr an der Suche nach der Eigenart Österreichs gelitten wie dieser literarische Verwandlungskünstler. Klarer als viele andere hat er gespürt, welches „Weltexperiment" (Musil 1 9 1 3 ) das Habsburgerreich hätte zustande bringen können, wenn seine Politiker nur rechtzeitig aufgewacht wären, und besser als viele andere hat er verstanden, wie das ewige Gekränktsein und die Verdrängung des Missmuts einen Durchbruch behindert haben. Es ist schade, dass Bahr nicht lange genug gelebt hat, um auf ähnlich gesinnte Versuche der dreißiger Jahre reagieren zu können, etwa diejenigen von Oskar Benda und Paul Grafen Thun-Hohenstein. Obwohl sich Bahr des ewigen Zuspätkommens des Habsburgerreichs wohl bewusst war, kamen seine Diagnosen in einem gewissen Sinne zu früh, um verstanden zu werden. Vergebens warnte er als eine Kassandra vor den Folgen einer verfehlten Auseinandersetzung mit der Eigenart Österreichs.
R I C H A R D S C H A U K A L ÜBER DAS I N N E R E P E R P E T U U M DES
MOBILE
DEUTSCHÖSTERREICHERS
Richard SCHAUKAL (1874-1942), Österreichische Züge (München: Georg Müller 1918) [geschrieben 1 9 1 4 - 1 9 1 7 ] Schuld an einem derart verfehlten Verstehen Österreichs war der Dichter Richard Schaukal sicherlich nicht. Aber im Gegensatz zum lebensfreudigen Bahr war der Lyriker und Aphoristiker Richard Schaukal bei weitem nicht der anziehendste Mensch unter den Essayisten : er war arrogant, elitär, herb, in der
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Politik monarchistisch und antisemitisch, wenn auch kein Nazi. Ab 1898 arbeitete er zwanzig Jahre lang als k.k. Beamter, seit 1903 im Ministerratspräsidium in Wien. Im Mai 1 9 1 8 hat Kaiser Karl den Literaten mit dem Kriegskreuz II. Klasse für Zivilbedienstete zugleich nobilitiert und pensioniert. Wie ironisch: der Beamte Richard von Schaukai erhielt die erbliche Nobilitierung nur wenige Monate, bevor die Erste Republik die Benützung der Adelstitel verboten hat. In seiner frühen Lyrik ahmte der Brünner die französischen Symbolisten nach, und eine dauernde Leistung besteht in seinen deutschen Ubersetzungen von Verlaine, Mérimée und Barbey-d'Aurevilly. Lebenslang verehrte der Dichter als sein Vorbild E. T. A. Hoffmann. Schaukais frühe Verse, sowie der Novellenband Eros Thanatos (1906), beweisen einen Hang zum erotischen Sadismus und zur Groteske in der Manier seines Freundes Alfred Kubin. Folgendes kurzes Gedicht zeigt die Härte des Dichters auf: Böse große Vögel Und kommen große Vögel durch die Nacht Mit krummen und verachtend starken Schnäbeln, Sie haben alles Leben schnöd betrachtet Mit klugen bösen kalten grauen Augen Und sind in Nebel-Ferne dann geflogen Mit weithinschattenden und stummen Flügeln. 44
Ähnlich wie diese Vögel richtete der Schriftsteller seine „klugen bösen kalten" Augen auf seine Mitmenschen. Wie diese Vögel hat auch er „alles Leben schnöd betrachtet", einschließlich des Habsburgerreichs, dem er als Beamter im Ministerratspräsidium fünfzehn Jahre lang diente. Als der einzige k.k. Beamte unter den Essayisten leistete Schaukai Pionierarbeit mit seinen Aufsätzen im Band Österreichische Züge. Neben Würdigungen von Stifter, Saar und Ebner-Eschenbach enthält der Band die fünf bahnbrechenden Abschnitte der „Beiträge zur Erkenntnis Österreichs", von denen der erste während des Jahres 1 9 1 4 und die anderen zwischen Jänner 1 9 1 6 und Oktober 1 9 1 7 geschrieben wurden. Diese Texte gehören zu den einschneidendsten, eigentümlichsten und verwickeltsten Äußerungen des 20. Jahrhunderts über das Österreichertum. Der Meister des literarischen Symbolismus stellt darin ein bissiges Selbstporträt seiner eigenen 44 Zitiert in Oskar BENDA (Hg.), Die Lyrik der Gegenwart (Wien/Leipzig 1926), S 93.
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Individualität her und nennt es einen „Beitrag zur Erkenntnis Österreichs". Vielleicht ist es kein Zufall, dass kein anderer Essayist das Werk dieses Egozentrikers je zitiert hat. Der Dichter ging einen einsamen Weg auf der Suche nach Erkenntnis jener „Rahmenbezeichnung", die Osterreich heißt, und was er unterwegs fand, hat ihn tief verstört. (S 85) Trotz allem pflichtet der Einzelgänger der Hauptthese der übrigen Kriegsessayisten bei; die Staatsbürger müssten den historischen Sinn des Habsburgerreichs in naher Zukunft erkennen: „Österreich-Ungarn ist nicht wie das Deutsche Reich die gelungene Lösung einer Aufgabe [...] sondern bei allem Chaotischen der lebendigen Äußerung ein organisches Gefüge [...] Sein Sinn ist da; es müsste nur zur Besinnung kommen." (S 81-82) Das Habsburgerreich müsste vor allem einen Bewusstwerdungsprozess unter seiner Bevölkerung entfachen. Das Reich diene einem nicht zu bezweifelnden Zweck, und seine Bürger müssten sich dessen nur bewusst werden, um das Staatsgefüge aufrecht erhalten zu wollen. Anstatt etwas Gekünsteltes zu sein, sei die Donaumonarchie etwas Organisches, ein von der Geschichte und der Geografie geradezu gefordertes Gefüge. Wie Bahr, Hofmannsthal und Kralik glaubte auch Schaukai, dass seine Landsleute ihre Aufgabe als Bewahrer dieses organischen Ganzen erfüllen würden. Im Gegensatz zu diesem Vertrauen in das Bestehende sahen Müller und Musil allzu viele mögliche Anlässe für ein Versagen, und der Tragiker Hans Prager sollte später aus dem Zusammenbruch schließen, dass die Österreicher ihrer Aufgabe als Staatsvolk nie gewachsen waren. Der Buchtitel Österreichische Züge ist insofern irreführend, als der Autor den Mangel an bestimmbaren Charakterzügen behauptet : „Der wirkliche Österreicher, der, in dem der Geist des,Begriffs' Österreich als lebendes Symbol umgeht, der sich als seine Individuation fühlt, hat gar keine Züge, sondern eine seinen Ausdruck stets erschaffende Seele, ein perpetuum mobile, das Staat, Dynastie, Volk, Partei, Schicht, Klasse, Bildungsstufe, Tradition, Familie zugleich ist, verkörpert in einem selbst belanglosen oder bedeutenden Individuum österreichischen Selbstgefühls." (S 90-91) Ähnlich wie E. T. A. Hoffmann sich selbst in der Figur des Musikers Kreisler erkannte, betrachte der Österreicher Österreich als eine Ergänzung seines Selbst. (S 89) Hier finden sich zwei Ausdrücke, die spätere Ausdeuter des Österreichertums wohl hätten benützen können, aber „Individuation" und perpetuum mobile kommen im Diskurs nie wieder vor. Spätere Österreichverehrer haben sich geweigert, diese Bezeichnung auf die Menschen der Ersten Republik, geschweige denn jene der Zweiten Republik, anzuwenden. Dennoch ist diese Metapher einer der besten Ausdrücke für das
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schwankende Element, für jene Walpurgisnacht der widerstreitenden Züge, die so viele Essayisten zu beobachten meinten. Das Wort trifft besonders gut auf Robert Musils Begriff eines „Möglichkeitsmenschen" zu, jenes Menschen, der das perpetuum mobile seines unverwirklichten Potenzials täglich erfährt. Ja, der Roman Der Mann ohne Eigenschaften hätte genauso gut Der Mann im Perpetuum mobile heißen können und Hans Prager hätte das Wort auf auf seinen „Tummelplatz aller widerstreitenden Kräfte" anwenden können. Schaukai interpretiert das perpetuum mobile als Symbolist, als Kenner des Vergänglichen. Sein Bild des Österreichers ist durchaus ein dichterisches und kein historisches. Es geht um Nuancen und Schattierungen, nicht um Tatsachen und Daten. Das perpetuum mobile entspricht nach Schaukai dem österreichischen Selbstgefühl „einer Stimmung, von der aus Urteile gar nicht möglich sind, da zu einem Urteil zwei gehören, er [der Österreicher] aber zusammen mit dem, was er meint, in wechselnden Übergängen, jeweils eins ist. Er urteilt nicht über ,Österreich' als österreichischem' [...]" ( S 89) Im Unterschied zu Robert Müller, und vor allem zu Musil, schreibt Schaukai dem Österreicher keinen Anspruch auf Distanz zu. Der Dichter selbst bemüht sich um Distanz, aber seine Landsleute täten das zu wenig. Paradoxerweise scheint sich der symbolistische Dichter mit diesem Mangel an Distanz zu identifizieren, wenn er den Gegenstand, der Österreich heißt, betrachtet. Österreich steht gewissermaßen vor ihm wie ein Objekt, das der Essayist in einem Dinggedicht erfassen soll, aber stumm bleibt. Das zu betrachtende Österreich zeige selbst keine Begabung, die derjenigen des Dichters entspricht, gleichzeitig zu verdauen und sich zu betrachten. In Schaukais Äußerungen wechseln Gemütsergüsse und Beobachtungen einander ab, ähnlich einem Rilke'schen Dinggedicht. Das „Ding" Österreich wird dabei sowohl aus der Distanz betrachtet als auch aus der Nähe im Herzen geschätzt. Schaukai beschreibt eine selbstquälerische Ambivalenz, wenn er berichtet, wie der Österreicher das Beiwort „österreichisch" auf sich selbst verwendet. So „trägt er immer seine Kritik in die Masse hinein wie einen Sauerteig, eine Kritik, die Liebe ist, aber selbstquälerische, auch im Zustand der — vorübergehenden - Verliebtheit." (S 88) Als ob der k.k. Beamte die Schimpftiraden Hermann Bahrs in Austriaca ( 1 9 1 1 ) auf den Eigennutz der Bürokraten widerlegen wollte, schildert Schaukai seinen Beruf wohlwollender, wenn er sagt: „Der österreichische deutsche Beamte zumal hat ein Österreichertum in sich entwickelt, das Glaube und Vernunft zugleich ist, ohne dass es Staatsbewusstsein zu sein braucht, (wenn ihm auch gewiss ein mehr oder weniges dumpfes Staatsgefühl zugrunde liegt)." (S 86—87) Nach Bahrs These diente der Beamte weder
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dem Staat noch dessen Bürgern, sondern bloß dem Fortleben der Bürokratie. Der Bahr'sche Beamte war nur mehr reiner Kurator einer veralteten Staatsidee, die dringend ersetzt zu werden bedürfe. Schaukai sah das anders : der Beamte brauche kein Bewusstsein des Staates zu pflegen, weil er ein Bewusstsein des Österreichertums schlechthin praktizieren musste. Bei aller Verehrung für Hofmannsthal verwarf Schaukai dessen Verwendung der großen Österreicher („Men of Genius") als Vorbilder für das spezifisch Osterreichische. Um den Verzicht auf Kulturhelden zu begründen, fuhrt der Essayist die lebendige Metapher der „Wallung" ein. Er bezeichnet das österreichische Selbstgefühl als eine „Wallung", die der Verwendung aller Schematismen und „Geradhalter" widersteht. Angebliche historische Vorbilder wie Prinz Eugen oder Maria Theresia zeigten ein zu „großes Wallungsreichtum", um durch ihren Schatten hindurch das spezifisch Osterreichische erblicken zu lassen. (S 91) In Gegensatz zu Hofmannsthal und Oskar Benda hielt Schaukai Osterreich nicht in seinen „Men of Genius" verkörpert. Das perpetuum mobile der Gemütswallung entschlüpfe jeder Fixierung in einer einzelnen historischen Gestalt. „Der Sinn Österreichs ist nicht historisch zu erschöpfen [...] sondern nur aus seiner lebendigen Wirklichkeit darzustellen, und wer könnte das besser als das Leben selbst, das sich immer wieder in exemplarischen Erscheinungen symbolisiert!" (S 107) Konsequent kommt der Symbolist in seinem dritten Aufsatz auf seine Vorliebe für die Tücke des „Lebens" zurück. Es ist nur schwer zu glauben, dass der folgende Satz von einem k.k. Bürokraten stammt : „Ziele sind immer etwas Vorläufiges. Der Sinn des Lebens aber ist sich selbst gleich." (S 107) Was hätte Hermann Bahr wohl dazu gesagt? Dieser Ausspruch widerspricht seinem Bild des zielbesessenen k.k. Beamten gänzlich. In einer Art historischem Dinggedicht führt Schaukai eine Ehrenreihe der „exemplarischen Erscheinungen" vor, die „nur in dieser weichen und windigen, grünen und nebeligen Atmosphäre das haben werden können, was sie gewesen sind". (S 109) Im Unterschied zu Hofmannsthal gehe es nicht um nachahmenswerte Gestalten, sondern um Sonderlinge, um Extremfälle, die uns nichts Brauchbares lehren. Das Leben habe diese Gestalten geschaffen, nicht um das Österreichische klarzulegen, sondern um es gleichsam zu verdunkeln. Schaukais Spaziergang durch seinen Ehrenhof der verehrten Sonderlinge wimmelt vor Metaphern und Epitaphen, die jede Art von historischem Mythos untersagen. Im Gegensatz zu Hofmannsthal distanziert er sich desillusioniert von jeder mythisierbaren Gestalt. Die Namen sind vertraut, aber die Epitheta klingen fremd : Maria Theresia zeigt „das strahlende blaue Auge der gebietenden Persönlichkeit, hohe, hehre Mutter in Haus und Staat" und
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Grillparzer, „an der Grenze der Genialität hinübergleitend", verflucht „seinen unmutig zerstampften Standplatz im Mesquinen gemahnende Schatten". (S 108) Durch diesen übervollen Katalog an Details der großen Gestalten wollte der Diagnostiker die „Men of Genius" objektivieren, nicht emporheben. Er verkleinert alle wie „Raimund, den, im Gegensatz zu jenem allzu Wachen [Grillparzer], träumend im Reich der Poesie gekrönten, Stifter, den k.k. Landesschulinspektor aus des seligen Wuz Geschlecht, trotz allen Gnaden der hochwaldfrischesten Gläubigkeit, wie der mit jeder Hexe des Zeitgeistes kokett buhlende Lenau seinem erdichteten Abenteuer, der erlebten Banalität nicht gewachsen [...]" (S 108-09) Anstatt diese Sonderlinge als Vorbilder zu empfehlen, warnt Schaukai vor der Verherrlichung ihres verlorenen Kampfes gegen die erlebte Banalität. Im Gegensatz zu den mythisierenden Essayisten entdeckte der Symbolist in ihnen keine brauchbaren Beispiele eines gesunden österreichischen Menschen. Erstaunlicherweise erwies sich Schaukai als der einzige Essayist, der sich ernsthaft mit dem rätselhaften Albrecht von Wallenstein ( 1 5 8 3 - 1 6 3 4 ) befasste. Als ob er Hofmannsthal herausfordern wollte, scheint er zu fragen, warum man bislang keinen Essay über „Die Wallungen Wallensteins als Paradebeispiel des unbegreiflichen Österreichers" geschrieben habe. Wallenstein sei der „erste und letzte Vertreter eines an todsicherer [...] strauchelnder Genialität unerreichten Imperialismus" gewesen, dem Ferdinands II. misstrauisch-eifersüchtige .Erwägung aller Umstände' sich nicht nachschwingen konnte [...]" (S 108) Dieser Satz nimmt die tragische Perspektive eines Hans Pragers vorweg, der meinte, dass der böhmische Feldherr wie manche andere Österreicher seiner Sache nicht gewachsen war. Die Besichtigung des Ehrenhofs der „symbolischen Beispiele" leitet zu Schaukais Liste der „österreichischen Züge" über. Seine Liste ist knapper als Hofmannsthals Schema, ja knapper als sein Begriff vom „Wallungsreichtum" erwarten lässt. Mit dem Stemmeisen eines Aphoristikers reduziert der Dichter den Diskurs über den österreichischen Menschen auf einen Katalog von sechs Paaren entgegengesetzter Substantiva. Im Unterschied zu Hofmannsthal und Wildgans kontrastiert Schaukai jede Tugend mit einem entsprechenden Mangel, oder besser gesagt, stellte er jede Stärke einer zweiten ihr widersprechenden Stärke gegenüber. Diese Dialektik der entgegengesetzten Tugenden drückt den unversöhnlichen Wallungsreichtum, das unbezähmbare perpetuum mobile des Österreichers aus: „Mehr Phantasie als Lebensklugheit [...] mehr Gewissen als Gewissheit, mehr Sehnsucht als Zuversicht, mehr Herz als Ziel, mehr Takt als Folgerichtigkeit, mehr Noblesse als Berechnung [...]" (S 109)
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Daran anschließend veranschaulicht der Dichter seine zwölf Charakteristika durch eine Identifizierung des Österreichers mit Hamlet, „der kein Träumer, kein Entgleister, sondern ein zu fein empfindender, zu leicht angeekelter Mensch ist [...]" 4 5 Schaukai hält sich damit weit entfernt vom Ideal des sich allem anpassenden theresianischen Menschen. Der wallungsreiche Mensch Schaukais gehört in das nebelige Elsinore, nicht in das neu belebte Habsburgerreich Hofmannsthals. Bis zu einem gewissen Grad ähnelte dieser leicht angeekelte Österreicher auch Musils „Möglichkeitsmenschen". Wie Schaukais hamletartiger Wallungsmensch ist auch Ulrich unfähig, Entscheidungen zu treffen, Möglichkeiten zu verwirklichen oder Dauerndes zu stiften. Brauchte Musil zahllose Essays, um seine Skepsis zu begründen, so drückte Schaukai seine Desillusionierung in diesen zwölf Substantiva aus. Zweifellos war er der bündigste der Essayisten und mit Josef Leb der prägnanteste Zeichner der Charakterzüge des Österreichers. Zugleich aber bleibt er der bitterste Kritiker aller Versuche, „österreichische Schattenumrisse" herzustellen. (S 91) Es ist, als ob er in die Abstraktheit eines Bahr'schen Hofrats Zuflucht nahm, um die Züge des wallungsreichen Österreichers tunlichst bündig zu schildern. Das Österreichertum sei etwas Unfassbares, das nun im Weltkrieg endlich erfasst werden müsste, aber das trotzdem allen beamtlichen sowie dichterischen Formulierungen entschlüpfen würde. Schaukais Skepsis jeder Typologie gegenüber stand im starken Gegensatz zur Mentalität eines zweiten Dichters aus Südmähren, Rudolf Kassner. Ebenfalls Schüler des Brünner Gymnasiums widmete er sein Lebenswerk der Suche nach einer Methodologie des Typologisierens. Das Fach, das Kassner die Physiognomik nannte, beschäftigt sich ganz ernsthaft mit den Vorteilen und Nachteilen von Idealtypen. Für das Österreichische hat Kassner eine Antwort auf Schaukais Skepsis gefunden, indem er es durch die Beschreibung des Nichtösterreichischen an Rainer Maria Rilke erfasst. Der Wallungsreichtum sei am leichtesten durch die via negativa des AfcAfösterreichischen zu umschreiben. Es ist vorstellbar, dass sich der verzweifelte Schaukai über die Lösung seines Landsmanns gefreut hätte, aber freilich nur mit Ambivalenz. Trotzdem trifft seine 45 Der Berufsübersetzer Schaukai tadelt August Wilhelm Schlegels Ubersetzung Shakespeares „als schlecht übersetzt, weil nicht verstanden" und behauptet : „Hamlet ist, wie sein großer Schöpfer, ein tief sittlicher und ein religiöser Mensch [...]", in: Karl Kraus. Versuch eines geistigen Bildnisses (Wien/Leipzig: Reinhold 1933), S 96-97. Schaukai bemerkt auch eine Ähnlichkeit zwischen der „angespannten Sprache" des Dichters Karl Kraus und der „nicht so sehr Tönenden wie Verlautenden" des Übersetzers August Wilhelm Schlegel, S 55-56.
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Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Österreichertum
Liste unheimlich auf die Geistesart Rudolf Kassners zu. Denn sie ist zugleich ein Abbild des bedeutenden Physiognomikers. Lebenslang zeigte er „mehr Phantasie als Lebensklugheit [...] mehr Gewissen als Gewissheit, mehr Sehnsucht als Zuversicht, mehr Herz als Ziel, mehr Takt als Folgerichtigkeit, mehr Noblesse als Berechnung." (S 109) Alles andere als ein Hamlet, erhob aber Kassner diese Talente ins Geniale, ohne je in der Ambivalenz zu ersticken. So ist nicht Kassner, sondern Schaukai der wahre Hamlet unter unseren Essayisten. Verblüffender Weise entstand diese Liste ein paar Monate vor Hofmannsthals Schema „Preuße und Österreicher" (Dezember 1917). Schaukais Formeln unterscheiden sich davon vor allem durch ihren Verzicht auf das Einbeziehen Deutschlands. Unverhofft erweist sich der Brünner als kein „nationalistischer Kosmopolit" und bleibt damit eine große Ausnahme unter den Kriegszeitessayisten. In seinen Augen lässt sich der Österreicher nur als Vertreter von sich selbst und nicht als ein Anhängsel der „reichsdeutschen" Kultur verstehen. In dieser ohne Deutschland erreichten Perspektive seiner Charakterzüge steht der Österreicher vereinsamt da: phantasievoll, gewissensvoll, sehnsuchtsvoll, herzlich, taktvoll und nobel, bleibt er bodenlos gegenüber der Tragweite seiner historischen Aufgabe, denn eine Heimat blieb ihm versagt. In Schaukais Dinggedicht spielt der Österreicher einen Hamlet ohne Königreich, einen Wallenstein ohne Imperium, einen Adalbert Stifter ohne Hochwald, immer bereit wie jene „böse große Vögel" mit „weithinschattenden und stummen Flügeln" in „Nebel-Ferne" zu fliegen. Man denkt an Oskar Bendas Begriff des k.k. Beamten als eines Dienstaristokraten, der zu einem ewigen Vagantentum verurteilt sei, oder an Hans Pragers tragische Vision von Österreich als „einer schattenhaften, spukhaften Synthese, einer Dämmererscheinung". 46 Im Jahre 1936 sah Franz Werfel die nationale Selbstverleugnung (sacrificium nationis) als das Verhängnis der k.k. Beamten, aber Schaukais Vision war indessen noch düsterer. Er stellte sich sozusagen ein sacrificium theatri vor, denn trotz aller theatralischen Begabung fehle dem Hamlet-Österreicher ein geziemendes Theater, in dem er seine Talente ausspielen konnte. Der „zu fein empfindende, zu leicht angeekelte" Hamlet fühle sich nirgends zu Hause, am allerwenigsten im Habsburgerreich während des Krieges. Hat der Krieg Bahr, Hofmannsthal und Müller angestachelt, das Österreichische endlich zu bejahen, so hat er Schaukai tief erschüttert. Weder historische Vorbilder noch mythisierte Ideale konnten
46 Hans PRAGER, „Der Österreicher", in: Erwin RIEGER (Hg.), Ewiges Österreich. Ein Spiegel seiner Kultur (Wien : Manz 1928), S 217.
R i c h a r d von Kraliks Feier des österreichischen Kulturstils
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angesichts dessen die Skepsis des „Hamlet" im Ministerratspräsidium mildern. Man begreift, warum Schaukai nie wieder zur Diskussion der österreichischen Züge zurückkehrte. In den folgenden vierundzwanzig Jahren lebte er in Wien in einer Art innerer Emigration und schrieb Gedichte, Ubersetzungen und Aphorismen. Da sein Büchlein von 1918 wenig zur Ermunterung der Staatsbürger der Ersten Republik beitragen konnte, ist es vielleicht ein Segen, dass sich der Dichter über das Thema der österreichischen Eigenart ausschwieg. In Der Mann ohne Eigenschaften hat Musil den Begriff eines Wallungsreichtums bzw. eines Möglichkeitsreichtums bei den Österreichern glänzend entwickelt, und der Erfolg des Romanschreibers zeigt, dass solche Skepsis in der Satire besser gedeiht als in vom eigenen Selbst distanzierten Gedichten oder selbstquälerischen autobiographischen Fragmenten. Jenseits von Schaukais Verzweiflung kann man bereits Ansätze zu einem Programm für den Diskurs des Österreichertums der Nachkriegszeit erkennen. Der bislang vom preußischen Menschen überschattete österreichische Mensch würde nach dem Krieg allmählich beginnen, weit über die Landschaft Österreichs hinauszuragen. Durch die Bemühungen der beiden Deutschen Oskar Schmitz und Ernst Lissauer in den zwanziger Jahren sowie der begeisterten Österreicher Anton Wildgans, Josef Leb und Oskar Benda in den dreißiger Jahren sollte endlich die wahre Berufung der Österreicher zu den Kustoden der Erbschaft Europas proklamiert werden. Im Zeichen einer neuen Mythenbildung wurden aus dem Sauerteig des Österreichertums unerwartete Süßwaren gebacken. Letzten Endes wies Schaukais Verzweiflung auf eine Sackgasse im Diskurs zum Österreichertum hin. Trotz seiner großen Sprachbegabung war der Dichter zu sehr von der Ungreifbarkeit des perpetuum mobile beeindruckt, um ein brauchbares Bild davon zu entwerfen. Selbst der tief frustrierte Philosoph Hans Prager hat ein kohärenteres Bildnis der gespaltenen Seele des Österreichers gezeichnet.
R I C H A R D VON K R A L I K S F E I E R DES ÖSTERREICHISCHEN
KULTURSTILS
Richard von K R A L I K - M E Y R S W A L D E N ( 1 8 5 2 - 1 9 3 4 ) , Das unbekannte Österreich. Eine Entdeckungsfahrt (Wien: Wiener Urania 1917).
Gewiss hätte die Ambivalenz Schaukais den deutschnationalen Privatgelehrten Richard von Kralik angeekelt. Dieser Erzkatholik war gemeinsam mit zwei
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Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Österreichertum
anderen Adligen, Paul Graf Thun-Hohenstein und Leopold von Andrian-Werburg, wohl der katholischste unserer Essayisten. 1905 gründete er sowohl den Gralsbund als auch dessen Monatsschrift Der Gral (1905—1937), die gegen die progressive Münchner Zeitschrift Hochland ( 1 9 0 3 - 1 9 4 1 , 1 9 4 6 - 1 9 7 1 ) polemisierte. 1 9 I i musste der Papst diese peinliche Kontroverse mittels seiner Autorität beenden. Bekannt für Flugschriften wie Das katholische Kulturprogramm (1908) oder Katholizismus und Nationalität (1909) hatte Kralik 1 9 1 3 eine erzählende Österreichische Geschichte veröffentlicht. Der überhebliche Stil seiner Schriften lässt an sich wenig Hoffnung, dass der Schwärmer etwas Wertvolles zum Diskurs über den österreichischen Menschen beigetragen hat. Jedoch erweist sich diese negative Erwartung als unberechtigt. Im Essayband Das unbekannte Österreich. Eine Entdeckungsfahrt (1917) hat er äußerst Fesselndes über die „österreichische Weltanschauung" und den „österreichischen Kulturstil" formuliert. Im Licht der dort gezeigten Geistesfrische und Prägnanz sieht man, warum ein zweiter Patriot, nämlich Hermann Bahr, sein Kriegsessaybuch Schwarzgelb (1917) „Dem großen Österreicher Richard von Kralik" widmete. Es ist typisch für Kraliks feierlichen Stil, dass er lieber von der österreichischen „Weltanschauung" als vom österreichischen „Menschen" sprach. Allerdings leistete er als Historiker Pionierarbeit bezüglich der zweitausend Jahre Kultur des „unbekannten" Osterreich. Er schätzte das Symbolhafte ebenso hoch wie Richard Schaukai und das Herkömmliche ebenso hoch wie Hugo von Hofmannsthal. Heutzutage ist er als Entdecker der Erbschaften Österreichs weitgehend unbekannt. Interessanterweise spielt die Beschäftigung mit Gedächtnisorten bei seiner „Entdeckungsfahrt" kaum eine Rolle. Es geht um historische Erscheinungen, nicht um ihre spezifische geografische Verortung. Jene Praxis der Quellenauffrischung (ressourcement), die Robert Müller einsetzt, führt der deutschnationale Kralik ganz bewusst durch. Von der langen Dauer Österreichs angetan wie fast kein anderer vor ihm, geht er auf die Jagd nach vernachlässigten Quellen zur österreichischen „Besonderheit". Uberraschenderweise war der von seiner Aufgabe Besessene zugleich ein geografischer Determinist, dessen Betonung der Kultur schaffenden Rolle der Landschaft an den französischen Historiker Hippolyte Taine (1828-1893) erinnert: „Österreichs Standpunkt ist aber kein anderer als der geografisch und ethnografisch schärfer bestimmte des gemeinsamen deutschen Wesens." (S 34) Er fragt sich, wieso sich die „hedonische" Weltanschauung der Österreicher, das berühmte Phäakentum, in einem so sehr von Eroberern umstrittenen Gebiet entwickeln
Richard von Kraliks Feier des österreichischen Kulturstils
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habe können? 47 Diesen Hang zum Behagen und Genuss stellte Kralik durch ein fesselndes Beispiel zur Schau, das auch Robert Müller gefallen hätte. Schon im Wien des 1 3 . Jahrhunderts, zur Zeit Walthers von der Vogelweide, hätten Studenten unbeschwert „von ovidianisch minnigen und holden sinnigen" Männern und Frauen gesungen. (S 3 5) Übrigens meint er, dass das österreichische „Phäakentum" nicht als Genusssucht aufzufassen sei, sondern vielmehr als „Zufriedenheit, Genügsamkeit f...] als Lebensregel". (S 3 6) Er beruft sich dabei auf die beiden „Klassiker des Osterreichertums", Grillparzer und Raimund. Ebenso begeistert wie Hofmannsthal führt er die „Men of Genius" Österreichs als Ebenbilder seiner Kultur an. Der Wallungsreichtum des Österreichers, der Richard Schaukai so beunruhigt hat, stört Kralik wenig. Wie Rudolf Kassner sah er den österreichischen Menschen in Charakteren der Wiener Bühne personifiziert. Er nimmt Raimunds „Mirakelspiel" Das Mädchen aus der Feenwelt (1826) als einen Ausdruck „der österreichischen Zufriedenheit" und wählt aus Der Barometermacher auf der Zauberinsel (1823) als Beispiel des „großartigen Optimismus" die Zeile: „Diese Welt ist das Beste auf der Welt."(S 37) Raimund sang „allem Hochmut das Aschenlied und lässt die Zufriedenheit in Person auftreten ; sie ist, wie sie selbst sagt, vom Land, aus dem Salzburgischen und entwaffnet den personifizierten Hass". (S 37) Offenbar besaß Kralik keinen Sinn für Ironie, aber trotz der Naivität seiner Interpretation mag es verwundern, dass so wenige andere Essayisten Beispiele aus „jenem Nirwana des menschlichen Witzes", der Wiener Posse, zitierten. (S 39) Aus Grillparzers Gedicht zur Mozartfeier von 1842 zitiert Kralik die Maxime, „Und lieber schien er [der Österreicher] kleiner, als er war, Ais sich zum Ungetümen anzuschwellen" mit dem Wunsch, dass jemand die Auswirkungen dieser Ablehnung des Ruhmes „durch die ganze österreichische Kulturgeschichte" verfolge. (S 39) Es sei nunmehr höchste Zeit, den alten Hang zur Bescheidenheit durch eine umfassende Darstellung einer glorreichen Geschichte abzuschaffen. Es ist typisch für Kralik, wie später für Friedrich Heer, dass er 47 Siehe Peter MELICHAR, „Phäakisch-Intellektuell : Zum Verhältnis von sinnlichem Genuss und Kopfarbeit", in: Ernst BRUCKMÜLLER und Peter URBANITSCH (Hg.), ostarrichi
Österreich 996—1996. Menschen,
Mythen,
Meilensteine.
[Osterreichische Länderausstellung
1996] (Horn: Verlag Berger 1996), S 5 4 5 - 5 5 5 . Anton Wildgans endet seine Rede über Österreich (1930) mit einer Widerlegung des Rufs vom Phäakentum als Nichtstun und rechtfertigt es als ein Sinnbild fur Osterreich als ein „Eiland des Gesangs". Vgl. WILDGANS, Gesammelte Werke, (Leipzig: Staackmann 1930) 5: S 208.
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Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Österreichertum
die ganze Geschichte Österreichs gern nach erhabenen Begebenheiten durchforstete. (S 3 9) Noch schamloser als der monumentalisierende Anton Wildgans selbst verstand es Kralik, Klischees zu Symbolen zu erheben. Trotz des Mangels an sozialwissenschaftlicher Analyse entdeckte der Publizist ungewöhnliche Texte zur Bejahung Österreichs. In seiner Charakterisierung des österreichischen Menschen ist er jedenfalls kein blinder Ideologe. Die Gestalt des Hanswurst aus dem Volksschauspiel Doktor Faust \on 1700 verkörpert für ihn den „genialsten Ausdruck" der österreichischen Weltanschauung und ihrer polaren Gegensätze. Der Hanswurst sei „die naive, naturwüchsige, überlegene Kontrastfigur zum Ubermenschen, zum ziellosen Streber, zum Überschreiter der Schranken des Menschentums". (S 38) In Vorwegnahme von Friedrich Heer folgt ein langer Absatz über „diese das Komische mit dem Tragischen tiefsinnig verbindende österreichische Weltanschauung: Du bist Staub, du bist Fleisch, du bist Bedürftigkeit, und je mehr du deine Blößen, Nöte und Dürftigkeiten zu verdecken suchst, um so lächerlicher machst du dich." (S 38) Man denkt sowohl an Hofmannsthals Porträt Maria Theresias aus demselben Jahr als auch an Friedrich Heers Lob des spätbarocken Weltbildes in seinem kosmischen Gleichgewicht vierzig Jahre später. Noch eindeutiger hat Paul Graf Thun-Hohenstein im Jahr 1937 eine derartige Weltanschauung den Österreichern nicht nur des Barocks, sondern aller Zeitepochen zugeschrieben. Alle diese katholischen Essayisten haben die lange Dauer des spezifisch Österreichischen betont, ohne jedoch auf die konkrete gesellschaftliche Funktion dieser Gewohnheiten hinzuweisen. Auf rund einem halben Dutzend Seiten skizziert Kralik im Anschluss daran eine kurze Kulturgeschichte der fatalen „Selbstbescheidung" der Österreicher. Aus dieser Lebenshaltung „geht jener bestimmte österreichische Kulturstil des Schlichten, Echten, Biedern, Anmutigen hervor". (S 39) Als Musterbeispiele dieses Stils nannte er neben Mozart das „Wiener Josephinum mit den fein abgewogenen Verhältnissen der Seitenteile".48 (S 39) Bezüglich der Beweise für die praktische Lebensweisheit in der Politik beruft er sich auf die Kirchengeschichte als Kronzeuge. Vierzig Jahre vor Friedrich Heer freut er sich darüber, dass „Toleranz, Ausgleichung, Allesverstehen, Gerechtig-
48 In Gegensatz dazu hat der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr das Josephinum als ein Musterbeispiel eines sachlichen Übergangsstils interpretiert, der „über die französische Revolution hinaus[greift] und bereitet auf die nächste vor [...] Sie [die josephinische Reform der Architektur] ist ein Phänomen sui generis und von europäischem Interesse." Hans SEDLMAYR, „Charaktere der bildenden Kunst", in: O t t o S C H U L M E I S T E R (Hg.), Spectrum Austriae (Wien: Verlag Herder 1957), S 757.
Richard von Kraliks Feier des österreichischen Kulturstils
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keit gegen alle [...] zum Wesen österreichischer Weltanschauung" gehörten. (S 45) Noch erstaunlicher ist sein Beweisstück dafür, dass Osterreich „bis gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts das einzige tolerante Gebiet in ganz Europa [war]". Angesichts der Intoleranz des Kaisers Ferdinand II. ( 1 6 1 9 - 1 6 3 7 ) erscheint Folgendes nur schwer glaublich: „Lange Zeit reichten die Geistlichen in der Stephanskirche den Leuten je nach Wunsch das Sakrament sowohl unter einer Gestalt nach katholischer Weise, wie unter den beiden Gestalten nach protestantischem Gebrauch." (S 4 3 - 4 4 ) Ein treffenderes Beispiel für die Toleranz der Christen untereinander hätte Friedrich Heer selbst nicht finden können. 4 9 Die Affinität zu den Ansichten des Philosemiten Heer lässt den Antisemitismus Kraliks umso beschämender erscheinen. Kraliks Büchlein erfüllt einen pädagogischen Zweck, indem das letzte Kapitel vierzig „Besonderheiten des unbekannten Österreichs" in chronologischer Reihenfolge aufzählte. (S 46—88) Die Mehrzahl der Anekdoten betrifft Mitglieder des Kaiserhauses, darunter Goethes Bekannte Maria Ludowika ( 1 7 8 7 - 1 8 1 6 ) , die als dritte Gemahlin von Kaiser Franz I. 1809 die altdeutsche Tracht der Frauen einführte. (S 7 7 - 7 8 ) Ebenfalls betont werden die politischen und künstlerischen Errungenschaften der Wiener Romantik. (S 79-84) Wer außer Kralik hätte mitten im Ersten Weltkrieg das Gedicht „Der glorreiche Augenblick" für zeitgemäß gehalten, das der Salzburger Alois Weißenbach ( 1 7 6 6 - 1 8 2 1 ) zur Feier des Wiener Kongresses verfasste ? Uber Jahrhunderte der Kulturgeschichte hinweg spürte der Historiker vergessene Niederschläge des österreichischen Kulturstils auf, jener Vorliebe für das „Schlichte, Echte, Biedere, Anmutige". Fast unbewusst sammelte der Gralsbundgründer anhand dieser „Besonderheiten" etwas wie Ansätze zu einer Kulturgeschichte des österreichischen Menschen. Durch seine Hervorhebung der kulturellen Kontinuität grenzt Kraliks Darstellung an eine Mythisierung der „immerwährenden Charakterzüge des Österreichers", blieb aber Historiker genug, um die Schattierungen zu differenzieren. Zumindest in diesem Text hat der Erzkatholik die Radikalität seiner Ideologie durch sein Bekenntnis zum historischen Österreichertum abgeschwächt. Trotz aller Treue zur katholischen Romantik wollte er die Selbstbescheidung der Österreicher sowohl würdigen als auch überwinden. Den Übertreibungen
49 Siehe Friedrich HEER, Land im Strom der Zeit. Österreich gestern, heute, morgen (Wien: Herold 1958). „Es gab gerade in den von Konfessionshass verdüsterten Jahrhunderten in den österreichischen Landen sehr oft ein friedsames, breites Zusammenleben von Katholiken und Protestanten, welches das Erstaunen von ausländischen Reisenden hervorruft [...]." S 21.
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Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Österreichertum
der Kriegspropaganda zum Trotz schwärmte dieser religiöse Kämpfer über den Mangel an Schwärmerei beim österreichischen Menschen.
D I E GEOPOLITISCHE MEGALOMANIE ERWIN
HANSLIKS
Erwin HANSLIK, Österreich Erde und Geist (Wien: Verlag für Kulturforschung 1917). Der ideologische Geograf Erwin Hanslik erscheint in diesem Buch als ein Sonderling, ja als ein Inbegriff der Taktlosigkeit. Er wird hier nicht wegen seiner Leistungen angeführt, sondern wegen seiner Unzulänglichkeiten. Die Phantasien dieses Megalomanen über die Eigenart Österreichs bilden einen krassen Kontrast zu den begrifflichen Entwürfen bei Hofmannsthal, Müller und Bahr, die im Vergleich zu seinen Grübeleien kristallklar zu argumentieren scheinen. Hanslik liefert ein Zerrbild jenes Diskurses des Österreichertums der Kriegszeit. Er spricht aber wiederum für alle anderen, wenn er klagt : „Man kann mit jedem Österreicher über alle Dinge der Welt ruhig und vernünftig sprechen, nur über Österreich nicht." (S 68) Dieser Satz könnte als ein Motto für jene Essayisten stehen, die sich verpflichtet haben, die Österreicher zu Wortmeldungen über Österreich endlich anzuspornen. Der schwärmerische Hanslik stammt aus der Stadt Bilietz (Bielsko-Biala) im österreichischen Schlesien an der westlichen Grenze Galiziens, einer Stadt, die heute in Polen liegt. Er lehrte dort im Gymnasium, ehe er 1 9 1 5 in Wien das Institut für Kulturforschung gründete. Es ist typisch für seine Übertreibungen, dass er seine Geburtsstadt zu einem Kernpunkt an der Kulturgrenze zwischen dem Westen und dem Osten Europas aufwertete. 50 Der Krieg aber habe alle Europäer „mit einem Schlage [zu] Grenzmenschen" gemacht. (S 152) Im Unterschied zu heutigen Erforschern der Gedächtnisorte hat sich Hanslik hauptsächlich für Grenzorte interessiert. Nach seiner Ansicht verdankte Österreich seine Wichtigkeit der Stellung zu beiden Seiten der Grenze zwischen den Kulturräumen des Westens und des Ostens. Hansliks geopolitische Visionen bieten eine verzerrte Variation der Hauptthemen, die Bahr, Müller und auch Hofmannsthal entwickelt hatten. Das Buch Osterreich Erde und Geist ( 1 9 1 7 ) gehört zu den markantesten Propagandawer-
50 Rudolf Kassner bemerkte, dass Nestroys Vater aus einer Familie von polnischen Bauern in dieser Grenzgegend stammte. Vgl. „Etwas zum alten Osterreich" [1954], in: Sämtliche Werke, 10 (1991), S 365.
Die geopolitische Megalomanie Erwin Hansliks
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ken der Kriegszeit. Ohne Seitenblicke auf andere Essayisten versucht der Autor, seine Mitbürger aufzumuntern, „darnach zu ringen, ein Österreicher zu werden. Kein leichtes Beginnen [...] Wahrhaft Weltbürger muss werden, wer Österreicher sein will. Üblen Wust verstaubter Schulweisheit über Österreich gilt es, ins Feuer zu werfen." (S 8) Leider hat Hanslik diese üble Schulweisheit durch eine noch üblere geopolitische Weisheit ersetzt. Noch drastischer als Bahr und Müller sah dieser Autor im Krieg nichts Geringeres als Österreichs Gelegenheit, sich eigenständig durchzusetzen: „Die Jungen sollen zu Österreichern werden, zu friedlichen, frohen Menschen [...] Aus Österreich bauen wir unser Wesen, und indem wir größer und glücklicher werden, schreitet Österreich fort." (S 8—9) Der Krieg lädt die Deutschen in Österreich ein, „dem Reichsdeutschtum [zu] entsagen. [...] Er muss ein Östling werden, ein Deutscher einer größeren Welt". (S r 3) Obwohl Hanslik ab und zu den Ausdruck „der österreichische Mensch" als ein Synonym für „den Österreicher" verwendet (S 8, 68), beschreibt er keinen Entwurf desselben, denn er war weder Psychologe noch Soziologe, sondern Geograf. Seinen deterministischen Anschauungen zufolge spiegeln die Menschen die ihnen von ihrer geopolitischen Lage aufgezwungenen Eigenschaften wider. Etwas umständlich bemühte sich der fanatisierte Autor darum, die österreichische Kultur von der reichsdeutschen abzugrenzen. Er wandelte den nationalistischen Kosmopolitismus kurzerhand in einen österreichischen Kulturpatriotismus u m : „Kein echter Bürger Wiens war je nur Deutscher; alle waren mehr als das : sie waren Österreicher. Damit gehörten sie einer höheren Geistes- und Staatsgemeinschaft an, deren Bedeutung allen erst heute so recht klar wird. In diesem Geiste schufen als Österreicher die deutschen Haydn, Mozart, Beethoven und Franz Schubert. [...] Diese [Musik] hat ihre Wurzel nicht im deutschen Geiste Wiens, sondern im österreichischen übervolklichen." (S 12) Dieses Zitat zeigt, wie unbeholfen ein Nichtfachmann die Kulturgeschichte des Habsburgerreichs zu deuten wusste, bevor sich ein Diskurs über die österreichische Eigenart entwickelt hatte. Hansliks Vereinfachungen zeigen uns, wie wirksam die Essayisten der Nachkriegszeit das Niveau dieses Diskurses allmählich auf ein höheres Niveau brachten. Hansliks „verstaubte Schulweisheit" veranschaulicht den großen Bedarf nach tüchtig verdauten Gemeinplätzen der Kulturgeschichte, ein Bedürfnis, das trotz aller Bemühungen dieser Essayisten bis in die Mitte der fünfziger Jahre angedauert hat. Hanslik unterscheidet sich von den anderen Schriftstellern, indem er Ungarn ausführlich behandelte. Mit Ausnahme von Bahr kamen die Magyaren bei
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Die Essayisten der Kriegszeit bejahen das Österreichertum
anderen Essayisten, bis auf Lhotsky im Jahr 1967, kaum in Betracht. Hanslik bedauert, dass trotz der Stellung Budapests „in der Mitte der österreichischen Erde" die ungarische Sprache nie eine Weltsprache werden könne. Obwohl Budapest der „Mittelpunkt eines Volksgeistes" sei, könne Budapest nicht als „das Zentrum Weltösterreichs" fungieren. (S 1 1 ) Ganz im Gegenteil: die Ungarn wohnen jenseits einer Geistesgrenze in einer Welt für sich : „Der Ungar ist eine Prachtnatur [...]. Ein pazifischer Ozean des Geistes trennt Ungarn von der westlichen Welt." (S 68-69) Trotz ihrer eigenen Selbstfindung als zum Westen gehörig, wohnten die Ungarn jenseits der durch Wien und Bielsko-Biala laufenden Kulturgrenze, die den Westen vom Osten trennt. 51 Hansliks Phantastereien machen den Leser auf die Abwesenheit der Ungarn im gesamten Diskurs über die Eigenart Österreichs aufmerksam. Diese Abwesenheit spricht Bände über den gemeinsamen „Kampfgeist", den Hanslik zwischen Magyaren und Deutschösterreichern beschwört. Obwohl die Essayisten davon ausgingen, dass die Konzilianz des theresianischen Menschen in Ungarn nie vorhanden gewesen sei, ist meines Wissens niemals ein Wissenschaftler dieser Frage nachgegangen. In Kontext des Diskurses zum Österreichertum bleiben die Magyaren ein großes Rätsel. 52 Es lohnt sich nicht, bei Hansliks Schwärmereien länger zu verweilen : Im Jahr 1958 sprach Friedrich Heer von „den Untergangs- und Aufgangsschwärmern" im Europa der Zwischenkriegszeit. 53 Mit seiner Vision eines Weltösterreich war Erwin Hanslik einer der überschwänglichsten aller „Aufgangsschwärmer", aber der Phantast hat glücklicherweise nur wenig Einfluss auf die Fürsprecher der Ersten Republik ausgeübt. Seine Rolle in diesem Buch ist es, einige der Konsequenzen des Mangels an einem gemeinsamen Verständnis der Eigenart Österreichs sichtbar zu machen. Ohne die Bemühungen der anderen Essayisten wären so geartete Denker wohl häufiger zu Wort gekommen. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Erste Republik bis 1 9 3 3 vor einer Flut von geopolitischen Schwärmern im Stile Hansliks weitgehend verschont geblieben ist.
51 Siehe R. J. W. EVANS, „Austrian Identity in Hungarian Perspective. The Nineteenth Century", in: Ritchie ROBERTSON and Edward T I M M S (Hg.), The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective (Edinburgh: Edinburgh University Press 1994), S 27-36. 52 Siehe Otto BASIL, „Panorama vom Untergang Kakaniens", in: Das Große Erbe (Graz/Wien: Stiasny 1962), S 71 und 92, Anm. 10. 53 Friedrich HEER, „Josef Weinheber aus Wien", in: Land im Strom der Zeit. Österreich gestern, heute, morgen (Wien/München 1958), S 274.
IV. Neubewertungen des „kakanischen Menschen" 1919-1930
D R E I TYPEN VON
NACHKRIEGSESSAYS
Es versteht sich von selbst, dass der Ausgang des Ersten Weltkriegs den Diskurs über den österreichischen Menschen tiefgreifend veränderte. Jene, die wie Müller und Bahr mit einem Sieg der Mittelmächte gerechnet hatten, verstummten ebenso wie andere, die wie der Beamte Schaukai mit dem alten Reich beruflich eng verbunden waren. Autoren wie Hofmannsthal und Kralik, die die lange Dauer der österreichischen Kultur gepredigt hatten, führten ihre Huldigung an diese weiter. Durch ihre Bemühungen entstanden die Salzburger Festspiele und eine Kulturpolitik, die die kulturelle Kontinuität der Ersten Republik mit Hinweis auf die barocke Erbschaft des Habsburgerreichs beteuerte. Der Wahlsalzburger Hermann Bahr pries das Barock weiter als jenen Stil, der mit Österreich unmittelbar verbunden sei. 54 Dieses Kapitel befasst sich mit dem Diskurs zum Österreichertum in den ersten Jahrzehnten der Republik. Zu Beginn wagte es keiner, die Selbstständigkeit des neuen Staates gutzuheißen ; stattdessen betrachteten einige Schriftsteller die Charakterzüge der Deutschösterreicher der untergegangenen Monarchie, d.h. der Müller'schen „Reichsmenschen". Um den Wandel dieses Diskurses während der zwanziger Jahre zu schildern, werde ich drei Typen Essays unterscheiden, erstens einen pädagogischen oder erbaulichen Diskurs, zweitens einen deskriptiven oder historisierenden Diskurs und drittens einen satirischen oder distanzierten Diskurs. Der erste will den Typus des Österreichers legitimieren, der zweite konstruieren und der dritte schließlich satirisch darstellen. Ein Musterbeispiel des pädagogischen Diskurses ist Anton Wildgans' Rede über Osterreich (1930), in welcher der Autor seine Mitbürger zu inspirieren trachtete. Der „eingewurzelten Selbstbescheidung" zum Trotz wollte der Wiener Dichter die Österreicher zum Stolz auf ihr Vaterland bekehren. Sein Ton war durchaus gehoben, ja manchmal erhaben, und er erlaubte sich keine Spur 54 Hermann Bahr, „Barock", in: Summula (Leipzig: Insel 1921), S 172-177.
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Neubewertungen des „kakanischen Menschen" 1 9 1 9 - 1 9 3 0
von Humor. Dieser Ton war typisch auch für Hofmannsthals Kriegsessays, und in mancher Hinsicht gilt Wildgans' Rede als eine Monumentalisierung der Ansichten seines Freundes Hugo von Hofmannsthal. Ein weiteres Beispiel dafür ist der katholisierende Kulturkritiker Richard von Kralik. Der zweite Typ ist neutraler in Ton und Zielsetzung, denn diese Schriftsteller beschränken sich darauf, das Kulturerbe Österreichs zu beschreiben. Es mag erstaunen, dass gerade diese neutrale historisierend Betrachtung in der Ersten Republik eher selten vorkommt. Ein Musterbeispiel dafür ist der wenig bekannte Sammelband Ewiges Osterreich. Ein Spiegel seiner Kultur (Wien: Manz 1928), den Erwin Rieger, ein Freund Stefan Zweigs, herausgegeben hat. Die Mehrzahl der acht Beiträge, insbesondere ein poetisches Stück über die Landschaft von Felix Braun, unternahm es, die österreichische Eigenart anschaulich zu machen, ohne allzu laut den Patriotismus zu predigen. Ausnahmsweise schlug der Philosoph Hans Prager, der Schwager Felix Brauns, in demselben Band einen pathetischen Ton an, um ein tragisches Bild des gespaltenen Österreichers zu entwerfen, und will daher nicht so recht zu den übrigen Essays im Band passen. Der dritte Typ des Diskurses ist der satirische und floriert in der Zwischenkriegszeit im dichterischen Werk von Feuilletonisten wie Anton Kuh, Egon Friedeil und Hanns Sassmann. Diese Satiriker finden einen würdigen Nachwuchs nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in den Kabarettisten Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner. Eigentlich gehörte beinahe das ganze Kabarett zwischen 1945 und 1975 zum dritten Typus der satirischen Äußerungen. Ebenso könnte man die Graf-Bobby-Witze als Beispiele eines humorvollen Diskurses über die Zwiespälte Altösterreichs zitieren. Hier meine ich jedoch etwas Spezifischeres, jenen Diskurs, der bestrebt ist, die österreichische Eigenart tief zu verstehen, aber auf distanzierte Art und Weise. Im Gegensatz zum erbaulichen, fast feierlichen Duktus eines Hofmannsthal oder eines Wildgans steht der spitze, manchmal spaßige Ton eines Robert Musil. Das urenglische Wort „to tease" trifft auf ihn ausgezeichnet zu. In manchen der Essays, die sich im Roman Der Mann ohne Eigenschaften verbergen, hat Musil seine Leser geradezu geneckt. Ihm zufolge versteht man die Österreicher am ehesten durch eine neckische Untersuchung ihrer fast unzählbaren Gegensätze. Ein Vorgänger in dieser Sichtweise war kein anderer als Musils Freund Robert Müller (1887—1924), dessen vergessenes Meisterwerk Österreich und der Mensch (1916) ein Füllhorn von fesselnden Satiren darbietet.
Hofmannsthal und die Dauer des Bäuerlichen in der österreichischen Kultur H O F M A N N S T H A L U N D DIE D A U E R DES IN DER Ö S T E R R E I C H I S C H E N
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BÄUERLICHEN
KULTUR
Hugo von H O F M A N N S T H A L , „Die Bedeutung unseres Kunstgewerbes für den Wiederaufbau", Neue Freie Presse am 3. und 4. Dezember 1 9 1 9 , in: Reden und Aufsätze, 2 (1979), S 55-68.
Um Hofmannsthals Beitrag zum Nachkriegsdiskurs zu verstehen, lohnt es sich, seine ganze Karriere kurz zu überblicken. Hugo von Hofmannsthal zählt gemeinsam mit Rilke, Kafka und Musil zu den bedeutendsten österreichischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Lyrik begründete seinen Ruhm im zarten Alter von siebzehn Jahren, und von Beginn weg hat er sich in die Literaturen ganz Europas vertieft, sowohl der französischen und italienischen wie auch der spanischen und englischen. Jeder Musikliebhaber kennt Hofmannsthals Leistungen als Librettist von Der Rosenkavalier {1911)
und einiger anderer
Opern von Richard Strauss. Seit dem Anfang der Zweiten Republik wird das Lustspiel Der Schwierige ( 1 9 2 1 ) als eine der subtilsten Komödien der deutschen Literatur hoch geschätzt. Der Brief an Lord Chandos (1902) gilt im geistesgeschichtlichen Rückblick als einer der zentralen Hinweise auf jene Sprachkrise, die österreichische Zeitgenossen wie Ludwig Wittgenstein, Fritz Mauthner and Karl Kraus analysierten. Darüber hinaus verfasste der Dichter in dem Buch der Freunde (1922) Aphorismen, die mit jenen von Feuchtersieben und EbnerEschenbach um die Stellung der tiefsten moralischen Sinnsprüche, die in Osterreich je entstanden sind, konkurrieren. Als Publizist veranschaulicht Hofmannsthal Wildgans' Begriff vom „Dienen an einer Idee". Von Ausbruch des Ersten Weltkriegs an befasst sich der Dichter mit der historischen Sendung des Habsburgerreichs. Er ruft mit Hilfe Felix Brauns die Bücherreihe „Die österreichische Bibliothek" (1915—1917) ins Leben, um die Eigenart Österreichs innerhalb der gesamtdeutschen Kultur zu glorifizieren. 55 Während des Krieges schreibt Hofmannsthal eine Reihe bahnbrechender Aufsätze über die lange Fortdauer einer besonderen Form der deutschen Kultur im Donauraum, und steht damit neben dem so unterschiedlichen
55 Über die Entstehung der „Österreichischen Bibliothek", die ursprünglich „A.E.I.O.U. hätte heißen sollen, siehe Felix BRAUN, „Begegnungen mit Hofmannsthal", in: Helmut Α. FIECHTNER (Hg.), Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter im Spiegel der Freunde, 2. Auflage (Bern/München, Francke 1963), S 172-173.
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Hermann Bahr als der einflussreichste Essayist der Donaumonarchie während des Weltkrieges. In einem Essay von 1906, „Der Dichter und diese Zeit", nimmt Hofmannsthal seine künftige Rolle vorweg, indem er den Begriff des Dichters als „des beredten, des bewussten Herolds seiner Epoche" prägte. (1 : S 74) In den Kriegsessays hat sich dieser „Herold der Zeit" darum bemüht, die Eigenart des Österreichertums zu begründen, und im Dezember 1 9 1 7 fasst er die Ergebnisse eines Halbdutzends bisheriger Aufsätze in dem berühmten Text „Preuße und Österreicher. Ein Schema" zusammen. Der „nationalistische Kosmopolitismus" der Österreicher als Träger der deutschen Kultur in Südosteuropa durchdringt die Kriegszeitessayistik des Habsburgerreichs und gibt eine Erklärung, warum die Publizisten der Ersten Republik es so schwer hatten, einen österreichischen Patriotismus zu erwecken. Die Exponenten der Selbstständigkeit der Republik standen also vor einem Paradox. Die meisten Bürger der neuen Republik fühlten sich als Angehörige der gesamten deutschen Kultur und nicht als die Erben einer bodenständigen Tradition nichtdeutscher Herkunft. Um mit Anton Wildgans, dem Hauptvertreter der pädagogischen Richtung dieses Diskurs, zu sprechen, mussten die Essayisten nun fragen, welche Eigenschaften den so genannten „österreichischen Menschen" differenzierten, sowohl von den Reichsdeutschen und Schweizerdeutschen, als auch von den Slawen und von den romanischen Völkern. Im Diskurs über ein neues österreichisches Selbstverständnis nach 1 9 1 8 spielte Hofmannsthal seine bekannte konstruktive Rolle. Mit Hermann Bahr, Richard von Kralik und Richard Strauss gilt er als ein Mitgründer der Salzburger Festspiele im Jahr 1920, und schon 1 9 1 9 setzte er seine Essays über die Eigenart der deutschösterreichischen Kultur genial fort. Er eröffnete die Nachkriegsreihe im November 1 9 1 9 mit einer wenig bekannten Rede an die Mitglieder des Österreichischen Werkbunds, einer Vereinigung von Künstlern, Industriellen und Handwerkern, die Josef Hoffmann ( 1 8 7 0 - 1 9 5 6 ) sieben Jahre zuvor mitgegründet hatte. Die Neue Freie Presse veröffentlichte fünf Tage später die Ansprache unter dem Titel „Die Bedeutung unseres Kunstgewerbes für den Wiederaufbau". Hofmannsthal setzte darin das Wohl des neuen Staates mit jenem des Kunstgewerbes gleich, d.h. der Kleinindustrie von selbstständigen Artisanen. Dem zufolge sei es den Bauern und Künstlern gemein, dass sie ihre Betriebe nie kommerzialisiert hätten. Die offizielle Vereinigung der Produzenten des Kunstgewerbes verkörperte dem Dichter die besten schöpferischen Traditionen Österreichs. Die Produkte der Wiener Werkstätte wurden in ganz Europa als
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„Ausstrahlungen eines ganz bestimmten Kulturmediums, eben des österreichischen" empfunden. (2: S 57) Das Erinnerungsbild an diese kunstgewerblichen Produkte verbinde sich mit „einer Suggestion von einem Osterreich, wie es etwa sei, einer sehr scharfen, deutlichen und erfreulichen" Suggestion. ( 2 : 8 5 7 ) Es lohnt sich, bei diesem Essay zu verweilen, nicht zuletzt weil er verblüffende Parallelen zur gleichzeitigen Kulturkritik des sonst völlig anders gesinnten Philosophen und Sozialwissenschaftlers Otto Neuraths aufweist. Der Dichter stellte eine nichtliterarische Definition des Wortes „Kultur" auf, eines Schlüsselwortes, das „in der letzten Zeit [...] überspannt und überanstrengt" geworden sei. (2: S 58) Die Kultur sei viel mehr ,,[e]ine viele Jahrhunderte alte Volksart, sich auswirkend in Gliederungen und Stufungen, in Sitten, Gebräuchen, Geschmack, Sprechweise, im Lebensrhythmus, wie es eben die deutsch-österreichische ist [...]." (2: S 59) Auf dieser von den Sozialanthropologen entlehnten Definition von Volkskultur führt Hofmannsthal jene Kritik der alten Monarchie weiter, die er erstmals im Vortrag „Österreich im Spiegel seiner Dichtung" ( 1 9 1 6 ) geäußert hatte: „Es war eine große und gefährliche Gedankenlosigkeit, dass man [damals] Verwaltung und Kultur getrennt behandeln zu können geglaubt hat. Infolgedessen wurde die Kultur, statt dass sie ein starkes Bindendes geworden wäre, eigentlich zum Sprengstoff." (2: S 59) Gewissenhaft bemühte sich der Dichter darum, dass die Kultur in der neuen Republik nie wieder zum Sprengstoff werde. Diese Gefahr scheint ihm umso unwahrscheinlicher, da das Kunstgewerbe „auf unerschöpflichen, völlig volkstümlichen Elementen" stehe und sein Prinzip „der historischen, geografischen und wirtschaftlichen Kontinua" verkörpere. (2 : S 60) Er spricht sogar von einem „Element des emporkultivierten Bäuerlichen, das in unserem Kunstgewerbe eine so große Rolle spielt [...]". (2: S 58) Auch die Deutschen hätten - und hier taucht ein Hauptthema seiner Kulturpolitik auf — „den unzerreißbaren Konnex zwischen [dem Kunstgewerbe ...] und der aus der Scholle sich erneuernden bäuerlichen Hauskultur und Hauskunst" erkannt. (2: S 59) Die Künstler des österreichischen Werkbunds teilten demnach mit den Bauern ein gemeinsames Ethos, mit jener Sozialklasse also, die eine wachsende Rolle in der Alpenrepublik spielen sollte. Wenn der Sozialist Otto Neurath vor dem österreichischen Werkbund geredet hätte, so hätte er nicht eine gemeinsame Gesinnung zwischen Künstlern und Bauern festgestellt, sondern eine zwischen sozialistischen Künstlern und Arbeitern. Die Erwähnung der „deutschen Brüder" regt Hofmannsthal dazu an, einen Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern hervorzuheben. In Anleh-
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nung an sein eigenes Schema sagt er über die Fähigkeiten, die seine Landsleute von der deutschen „Brudergenossenschaft" lernen sollen, „die Schärfe der Formulierung, das, was in der begrifflichen Umreißung der Ausdruckskultur, in dem Sichklarwerden, in dem Begriff durchgeistigter Arbeit festgelegt ist". (2: S 60) Wie im Schema von 1 9 1 7 bereits gesagt worden war, blieben die Österreicher auf dem Gebiet des „Sichklarwerdens" und der „durchgeistigten Arbeit" hinter den Deutschen zurück. In diesen Kontext fällt die unerwartete Ähnlichkeit zwischen Hofmannsthal und dem Philosophen Otto Neurath ( 1 8 8 2 - 1 9 4 5 ) . Wer kann bestreiten, dass ein wichtiger Anreger solchen „Sichklarwerdens" innerhalb der Ersten Republik kein anderer als Otto Neurath war? 1925 gründete er im Wiener Rathaus den Vorgänger des heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums. 56 Dieses der Volkspädagogik gewidmete Museum verkörperte jenes Ideal der „durchgeistigten Arbeit". Obwohl politisch völlig anders gesinnt teilen Hofmannsthal und Neurath hier dieselben Zielsetzungen. Beide waren bestrebt, das Niveau des „begrifflichen Verstehens" der gesellschaftlichen Grundlagen sowie der Kultur in der Ersten Republik zu heben. Auf diesem Bereich hat Neurath Grundlegendes geschaffen durch die Erfindung der Isotype-Technik der Bildstatistik, die die Darstellungskunst in den Museen nach 1950 weltweit revolutioniert hat. Wie der Internationalist Neurath empfahl auch Hofmannsthal die Beziehungen zu anderen kleineren Staaten Europas, wie der Schweiz, Holland, Schweden and Finnland zu kultivieren. (2: S 61) Diese Länder würden eine bessere Zukunft für das österreichische Kunstgewerbe fördern, denn sie wüssten, dass das frühere „österreichische Ganze" die Heimatkunst besser bewahrt hatte als Deutschland : „Bei uns war in den Alpenländern diese Bewegung [der Heimatkunst] immer dem Boden sehr nahe. Sie hat sich beständig von Generation zu Generation aus Individuen ergänzt, die aus einer kräftigen bäuerlichen Tradition, aus der einer Landschaft oder einem Tale angehörigen Hauskunst hervorgegangen waren." (2: S 60) Infolge seiner Bodennähe könne das Kunstgewerbe Österreichs vermutlich sogar Frankreich zu einer längst nötigen Neuerung seines Kunstgewerbes jenseits der Stilprinzipien von der Periode 1 7 5 0 bis 1780 anregen. (2: S 61) Eine der bestechendsten Thesen des Dichters betrifft die Gemeinsamkeiten zwischen Künstlern und Bauern. In den beiden Gruppen walte ein Element „der
56 In einer neuen Form besteht Neuraths Museum seit 1947 noch immer als das Österreichische Gesellschafts- und Wirtschaftmuseum, Vogelsanggasse 36, 1050 Wien. Siehe Hadwig KRAEUTLER, Otto Neurath. Museum und Exhibition Work. Spaces (Designed) for Communication (Frankfurt/M. : Peter Lang 2008). Neurath war Mitglied des Osterreichischen Werkbundes.
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Freude an der Arbeit, der unzerteilten Arbeitsweise, der unmittelbaren Vereinigung von Arbeit und Genuß der Arbeit". (2: S 6z) Wer sonst hätte wohl daran gedacht, dass die Bauern und die Kunstgewerblichen „dieses unüberwindliche und heilige Stück Mittelalter" gemeinsam bewahrt haben ? Freilich mythisierte der Dichter die Arbeitsfreude der Bauern, betonte aber dadurch zugleich die lange Dauer der österreichischen Eigenart. Allerdings möchte man fragen, wie viele Bauern Hofmannsthal persönlich je gekannt hat? 57 Fünf Jahre später widerlegt der Osterreich verehrende Publizist Oskar Schmitz Hofmannsthals Optimismus: „Bauern, deren Wohlstand nicht mehr stündlich von ihrer Hände Arbeit abhängt, verkommen mit einer verblüffenden Schnelligkeit." 58 Hofmannsthal wagt die These, dass die Verkleinerung des Staates Vorteile fur das Kunstgewerbe haben konnte. Der Staat müsse sich nicht mehr „das beständige Ausbalancieren nationaler Interessen" in einem diplomatischen Schachspiel widmen, das dem Kunstgewerbe entgegenwirke. (2 : S 62) Daraus zog der Verehrer Altösterreichs einen erstaunlichen Schluss, der eine Hauptthese seiner Kriegzeitessays widerlegt: „Kleinere Einheiten sind es ja von jeher gewesen, die im höchsten Sinne kulturschaffend gewesen sind", mit dem obligatorischen Hinweis eines Verehrers des klassischen Altertums auf einen großen Vorgänger, „und kleinere Einheiten als unsere kleine Republik ist, waren als Republik Athen Träger der Weltkultur [...]". (2: S 62) Ist es nicht rührend, obgleich naiv, dass der Dichter sein Vertrauen auf die Zukunft Österreichs durch seinen Glauben an die schöpferische Kraft seiner Künstler befestigte ? Auf dieser Grundlage formuliert der Redner seine Kritik an der österreichischen Neigung, jeden Gegner zu überschätzen: „In Gegnerschaften verquickt sich gewöhnlich Persönliches und Prinzipielles." (2: S 63) Andere Deuter der österreichischen Eigenart wie Müller und Bahr schrieben diese Pflege von Rivalitäten einer Vorliebe für das Theatralische zu. In einer für ihn ungewöhnlichen Geste der Gegnerschaft kritisiert Hofmannsthal einige Architekten der Wiener Ringstraße fur ihre Entstellung des „Begriffes des Historischen, der Tradition und der Pietät". (2: S 63) Er hält das neue Burgtheater für ein „unglückliches
57 Max Meli berichtet, dass er dem Dichter ein „vor wenigen Stunden ausgekrochenes Küchlein" im Jahr 1929 überreichte. Darauf rief er aus: „Ich habe nie so etwas in der Hand gehabt!" Max MELL, „Letztes Gespräch in Rodaun 1929", in: Helmut. A. FIECHTNER (Hg.), Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter im Spiegel der Freunde, 2. Aufl. (Bern/München: Francke 1963), S 280-281. 58 Oskar A.H. SCHMITZ, Der österreichische Mensch. Zum Anschuungsunterricht für Europäer, insbesondere fur Reichsdeutsche (Wien/Leipzig: Wiener Literarische Anstalt 1924), S 48.
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Gebäude" und das ehemalige Kriegsministerium (das heutige Regierungsgebäude am Stubenring) für so hässlich, dass nur ein Staat es hätte bauen können. (2 : S 63) N a c h Hofmannsthal verkörpert die Wiener Ringstraße nicht jene Art von Geschichtspietät, die wir ihr heute gern zuweisen, diese w o h n e vielmehr dem Kunstgewerbe und der Bauernkunst inne. Hofmannsthal greift A d o l f Loos' Feindlichkeit gegen das Ornament an, ohne dessen N a m e n zu nennen, und verteidigt Josef H o f f m a n n . Die Künstler sollen dem Kunstbesitz des Barocks „das Struktive und Geistige ablernen", denn das Ornament sei das Ranggebende in der Gesellschaft „am Tempel, an der Waffe, an der Kleidung", sodass der soziale Sinn des österreichischen Volksganzen am O r n a m e n t hänge. (2: S 64) Aus solchen Überlegungen zieht Hofmannsthal einen für die Z u k u n f t der Mitglieder des österreichischen Kunstgewerbes erfreulichen Schluss : „Sie dürfen sich als ein wertvoller Exponent der österreichischen Allgemeinheit fühlen [...]" (2: S 65) Die Kunstgewerbler zeichnen sich umso ehrenvoller aus, weil sie „die einzige weltliche Gemeinschaft [bilden], die auf einem Glauben ruht", und zwar auf dem Glauben an Qualitätsarbeit. (2 : S 65) Daran knüpft der Dichter eine seiner kühnsten Thesen über die Z u k u n f t der Ersten Republik. A u f der Suche nach einer Selbstfindung werde der neue Staat erst in Einklang mit den Hauptzielen des österreichischen Kunstgewerbes Erfolg haben. Die Erste Republik werde sich in den „inneren Ubereinstimmungen des Ästhetischen und Ethischen genau in diesen Dingen finden", die die Arbeit des Kunstgewerbes beseelen. ( 2 : 8 6 5 ) Eine bedeutende Rolle vermöge dabei die W i e ner Kunstgewerbeschule unter der Direktion Alfred Rollers (1864-193 5) bei der Schulreform im ganzen deutschen Sprachgebiet zu spielen. Dadurch könnten die „deutschen Österreicher" zum ersten Male seit Jahrhunderten etwas Bedeutendes zur Lösung einer gesamtdeutschen Krise beisteuern. (2 : S 67) Der österreichische Werkbund soll die Durchführung der Schulreform nicht nur in der Ersten Republik Osterreich unterstützen, sondern auch in der Weimarer Republik. Der während des Kriegs erwünschte kulturelle Austausch zwischen Osterreich und Deutschland soll weitergehen. Hier zeigt Hofmannsthal sein Unvermögen, selbst nach dem verlorenen Krieg seine Treue zur deutschen Ganzheit aufzugeben. O b w o h l Neurath selbst keinen Essay über die Eigenart Österreichs schrieb, hat er um 1921 ein wichtiges Thema im Diskurs zum Österreichertums gespürt, und zwar den Begriff des Vollmenschen : „Der Vollmensch wird wieder unser Ideal,
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Teilmenschen, Spezialisten, empfindet man immer mehr als notwendige Übel." 59 Neurath selbst befürwortet „Schritt für Schritt [...] eine Gesamtanschauung von Welt und Menschheit", eine Anschauungsweise, die diejenige der späteren Fürsprecher des „österreichischen Menschen" vorwegnimmt. Schmitz, Wildgans und vor allem Thun-Hohenstein huldigten in der Gestalt des „österreichischen Menschen" einer Verkörperung des Vollmenschen, d.h. eines Menschen, der Gehirn und Gefühl, Geist und Gemüt mühelos verbindet. Nach diesem Konstrukt sei der „österreichische Mensch" ein vielseitig Begabter, der sein ungeheueres Potenzial in der Ersten Republik auswerten soll. Ein Satz von Neurath trifft auf Hofmannsthals und Wildgans' Konzipierung dieses Potenzials besonders gut zu : „Der Vollmensch mit all seinen Fähigkeiten, mit seinen reichen Anlagen wird heute breitesten Kreisen ein mehr oder weniger klar erstrebtes Ziel." 60
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UNENTSCHLOSSENHEIT
NACHKRIEGSÖSTERREICHER
Robert M U S I L , „Buridans Österreicher" ( 1 9 1 9 ) , in: Werke 2 (1978), S 8 3 5 - 8 3 7 .
Es lohnt sich, den Optimismus Hofmannsthals und Neuraths mit einem ernüchternden Text Robert Musils aus dem Scheidejahr 1 9 1 9 zu kontrastieren, das bekanntlich für die Österreicher höchst traumatisch war. Sie mussten sich mit dem Verlust riesiger Gebiete abfinden, einen neuen Staat gründen und das allierte Verbot eines Anschlusses mit Deutschland schlucken. Die Aussicht eines Anschlusses bildet das Hauptthema von Robert Musils satirischem Essay „Buridans Österreicher", der als ein Hauptmerkmal des Österreichers die Unfähigkeit sich zu entscheiden darstellte. Bei Musil bedeutet der Begriff „Vollmensch" so etwas wie einen von Potenzial übersättigten Menschen, der unter dem Uberfluss seiner Möglichkeiten ununterbrochen schwankt. Damit wird Neuraths Ideal des Vollmenschen zu keinem „klar erstrebten Ziel" mehr, sondern zu einem Verhängnis. Erst in der Gestalt Ulrichs in Der Mann ohne Eigenschaften (1930-1943) hat Musil einen Weg gefunden, eine derartige Überfülle
59 Otto NEURATH, „Menschheit" [Die Wage, 20. August 1921], in: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Rudolf HALLER und Heiner RÜTTE (Hg.) (Wien: HölderPichler-Tempsky 1981), 1: S 197-201. 60 NEURATH, ebenda, 1 : S 198.
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an menschlichem Potenzial in die Basis eines gültigen Lebensstils umzuwandeln. Der so genannte „Möglichkeitsmensch" Ulrich erhebt die Paralyse von „Buridans Österreicher" zur Bejahung des Sich-nicht-Entscheiden-Müssens. Im schroffen Gegensatz zu den konstruktiven Geistern Hofmannsthal und Neurath steht die Skepsis Robert Musils. Sein Essay wirkt bündiger und amüsanter, doch zugleich spöttischer und pessimistischer, aber nur wenige Autoren haben so viel Unvergessliches über das Osterreichertum auf knapp zweieinhalb Druckseiten formuliert. Der Titel referiert auf eine Hypothese, die irrtümlicherweise dem Pariser Nominalisten Johannes Buridan (ca. 1 3 0 0 - 1 3 59) zugeschrieben wurde, den unter Logikern beliebten Fall von „Buridans Esel". Das arme Tier steht verzweifelt zwischen zwei Heubündeln, die bezüglich Qualität und Quantität völlig gleich sind. Ohne Impuls von außen hat es keinen Beweggrund, das eine oder das andere Bündel zu wählen und an Unentschlossenheit stirbt das ratlose Tier schließlich, dessen Namen Musil aus seinem Titel taktvoll wegließ. Erstaunlicherweise fiel es dem Meister der Wortprägungen nicht ein, von einem „Buridansmenschen" zu reden. Musil bezog den berühmten Fall der tödlichen Unentschlossenheit auf die bevorstehende Wahl Österreichs zwischen den zwei Heubündeln Donauföderation und Großdeutschland, und er nutzte den Anlass, den Anschluss an Deutschland als die bessere Lösung zu empfehlen, denn sonst werde Österreich als ein „europäischer Naturschutzpark für vornehmen Verfall" fortwursteln. Was uns bei dieser Warnung besonders interessieren soll, ist in erster Linie die Berufung auf Österreichs Entdeckung der „Kultur" als sein Lebensziel. Ohne irgendeinen Kriegsessay zu nennen, bemerkte der Satiriker, dass Buridans ratloser Österreicher die „österreichische Kultur" entdeckt habe : „Österreich hat Grillparzer und Karl Kraus. Es hat Bahr und Hugo v. Hofmannsthal. Für alle Fälle auch die Neue Freie Presse und den esprit de finesse." (2: S 835) Jedoch hebt der Skeptiker diese Namen nur hervor, um den Anspruch auf eine „österreichischen Kultur" sofort wieder niederzuschmettern. Österreich sei keine Kultur, sondern „ein begabtes Land, das einen Überschuss an Denkern, Dichtern, Schauspielern, Kellners und Friseuren erzeugt". (2: S 835) Unbestreitbar wiesen diese Talente „geistigen und persönlichen Geschmack" auf, aber es mangele ihnen an einer gemeinsamen Klammer, mit einem Wort an einer ernst zu nehmenden Kultur. Musil besteht darauf, dass die Kultur nicht auf den Begabungen der „Men of Genius" beruhe, sondern auf „der darunter liegenden Schicht des gesellschaftlichen Gewebes". (2: S 836) Leider fehle es Restösterreich an einer genügenden
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Infrastruktur an Schulen und Forschungsstätten. Es ist bemerkenswert, dass die Zweite Republik gerade die Herausforderung, eine kulturelle Infrastruktur einzurichten, so erfolgreich aufgenommen hat. Musil belegt seine Klage mit einem kecken Beispiel: Osterreich sei ein Land, in dem „man gescheit ist und sich gut kleidet, das aber nicht einmal imstande ist, eine Kleidermode hervorzubringen". (2: S 836.) Dieser Satz klingt ähnlich wie die Bemerkung eines Engländers der 1920er Jahre über die Menschen in den Kolonien. Nach dieser Analogie sei die Erste Republik zu nichts Besserem berufen als zu einer Kolonie Deutschlands. Im Einklang mit den meisten Kriegszeitessayisten spricht Musil häufig von „Wir Österreicher", aber auf eine ironische Art und Weise. Mit simuliertem Stolz listet er die Gemeinplätze auf: „Wir sind so begabt, Orient und Okzident vermählen sich in uns, Süden und Norden ; eine zauberhafte Vielfalt, eine wunderbare Kreuzung von Rassen und Nationen, ein märchenschönes Mit- und Ineinander aller Kulturen, das sind wir." (2: S 835) Dieser ironische Ausbruch liest sich sowohl wie eine Paraphrase von Bahr und Kralik als auch wie ein Vorspiel zu Der Mann ohne Eigenschaften. Der nächste Satz hätte wohl in diesem Roman stehen können : ,„Wir' schreiben uns nämlich bis aufs Barock zurück, welch ein Emporkömmling ist daneben das Berliner Reich!" Unentwegt ironisiert Musil jene Züge, die seine vom Krieg begeisterten Vorgänger überhöht hatten. Mit Schadenfreude ging er daran, diesen neuen Entwurf des österreichischen Menschen zu entmonumentalisieren. Ahnlich wie Hans Prager sieben Jahre später beklagt Musil, dass das alte Reich sein Potenzial nie erfüllt habe: „Wir hätten theoretisch mit unserer Völkerdurchdringung der vorbildliche Staat der Welt sein müssen." Selbst Hans Pragers Pessimismus ging nicht so weit wie Musils Urteil : die Österreicher seien „ein europäisches Ärgernis [...] gleich hinter der Türkei". (2: S 835) Weil der Vielvölkerstaat seine Möglichkeiten nicht ausgenützt habe, sei er nur zu bemitleiden, ja zu verachten. Zur Bestätigung dieses Status zitierte der Satiriker in bester Kraus'scher Manier eine Äußerung Erwin Hansliks aus dem Jahr 1 9 1 6 : „Österreich hat die größte Zukunft, weil — es in der Vergangenheit noch so wenig zu leisten vermocht hat." (2: S 835) Nebenbei listet Musil eine Reihe von Charakterzügen auf, die jenen von Hofmannsthal und Schaukai ähneln. Die unentschlossenen Staatsbürger der Ersten Republik leiden an „Gespaltenheit", „nobler Subtilität" und „Spiritualität". (2: S 837) Die „begabten und kultivierten" Landsleute haben es nicht gewusst, die „leichte österreichische Verwesung" zu verhindern. (2: S 836) Sie
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seien zu kompliziert, um das Einfache zu tun, sodass Musil beinahe behauptet, Altösterreich sei an seiner Kompliziertheit zugrunde gegangen. Was ist das Fazit dieser unerfreulichen Beobachtungen ? Um 1 9 1 9 wünscht Musil wie viele andere, dass die Erste Republik in Deutschland aufginge. Als dies nicht geschieht, bleibt er trotzdem bis 1 9 3 1 in Wien, statt nach Berlin zurückzukehren. In „Buridans Österreicher" experimentiert der Autor ein erstes Mal mit mehreren Hauptthemen seines großen Romans. Der unentschlossene Esel-Österreicher scheint eine frühe Version des „Möglichkeitsmenschen" Ulrichs zu sein, der sich entschließt, keine Lebensentscheidungen mehr zu treffen. Ulrich, der Inbegriff eines gewissen Typs von Österreicher, erhebt die Unfähigkeit des Buridan'schen Esels zu einem Lebensstil. Dieses Konzept des Nachkriegsösterreichers erlaubt mir den Begriff „Buridansmensch" zu prägen. Ulrich, der als ein „Buridansmensch" konzipiert wurde, findet die Lösung zum unlösbaren Problem, einen Beruf zu wählen, indem er prinzipiell keinen wählen will. Er bleibt unentschieden zwischen allen Heubündeln der Welt oder wenigstens der österreichischen Welt. Aber statt zu verhungern, knabbert Buridans Ulrich an möglichst vielen Bündeln. Diese neue Art Kulturkostier nährt sich an Imbissen aus allen Himmelsrichtungen. Dadurch steigert Ulrich die „Gespaltenheit, noble Subtilität und Spiritualität" des Buridansmenschen zu einem Vorteil. A m Ende eines Selbsterziehungsprozesses übertrifft der vermeintliche Esel die Logiker Deutschlands an Lebensweisheit. Musils Roman richtet einen fiktiven Naturschutzpark für vornehme Kulturschmecker her. Dort weiden die gescheitesten Überlebenden des märchenschönen alten Reiches, ohne sich je auf einen politischen Konsens zu einigen. Musils Bild von Buridans Österreicher hat zumindest einen späteren Deuter der Eigenart Österreichs gefesselt. Im Jahr 1 9 5 7 pflichtet Friedrich Torberg Musils These bei, dass der österreichische Mensch zu kompliziert und zu innerlich gespalten sei, um zu wissen, wer er ist. Torberg ließ seinen Aufsatz von 1 9 5 7 in Paraphrasen aus Musils Text gipfeln, weil dieser das Grundproblem am besten dargelegt habe: „Allein der Österreicher weiß nicht, wer er ist, ja ob er ist. Und es dünkt ihn bereits eine gewisse Leistung, wenigstens das zu wissen." 6 1 Ohne von Musils Buridansmenschen zu wissen, hat im Jahr 1928 der Philosoph Hans Prager ähnliche Thesen über den Gemütszustand des reizbaren und „ewig schwankenden" Deutschösterreichers veröffentlicht. Musils
61 Friedrich TORBERG, „Selbstgericht in der Literatur: Versuche von Grillparzer bis Karl Kraus", in: Otto SCHULMEISTER (Hg.), Spectrum Austriae (Wien: Herder 1957), S 617.
Musils Prägung des Begriffs „Kakanien"
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Skepsis gegenüber dem österreichischen Menschen hat dazu beigetragen, die Kreativität des Autors in neue Höhen zu erheben. Welcher Leser von Der Mann ohne Eigenschaften würde heute leugnen, dass die Gedankenspiele des Romans die Gemütswunden des Buridan-Essays gegen den Kulturstolz Österreichs mehr als ausgeglichen haben ?
M U S I L S P R Ä G U N G DES B E G R I F F S
„KAKANIEN"
Robert MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften (Berlin: Rowohlt 1 9 3 0 - 1 9 4 3 ) , in: Gesammelte Werke 1 (1978), Kapitel 4, 5 und 8
Robert Musil hat mehrfach Essays über die Eigenart Österreichs geschrieben, und darin den österreichischen Menschen skizziert, ohne zu einem endgültigen Bild zu kommen. Blieb der Autor selbst eine Art Buridans Essayist, der keine Wahl zwischen seinen eigenen Thesen zu treffen wusste ? Die Hauptcharaktere des Romans Der Mann ohne Eigenschaften verkörpern verschiedene Typen von Österreichern, aber als der Österreicher schlechthin ist sein Protagonist Ulrich anzusehen. Der Satiriker sieht die Eigenart der Österreicher gerade in der Unfähigkeit, Existenzfragen zu entscheiden. Musils Haltung zur Definition eines „österreichischen Menschen" war satirisch und daraus entstand der Begriff des so genannten „Möglichkeitsmenschen" im Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930). Musil relativierte jeden Aspekt der Thematik der österreichischen Eigenart. Er ging so weit zu behaupten, dass gerade die Fähigkeit zur Relativierung der Lebensfragen für Österreich typisch sei. Mit allem nötigen Vorbehalt darf man aber annehmen, dass der „Möglichkeitsmensch" Ulrich in den Augen Musils den reinsten Typus des Österreichers bildete. Der Möglichkeitsmensch ist ein universaler Mensch, der es versteht, andere Menschen richtig zu klassifizieren. Diese Formulierung gemahnt an die Ambitionen Rudolf Kassners, eine universale Methode der Typologie zu entwickeln. Kassners Physiognomik läuft gewissermaßen parallel zu Ulrichs Versuch, alle österreichischen Typen in einem einzigen Uberblick zu konzentrieren. Will der Möglichkeitsmensch die Eigenschaften aller menschlichen Typen in Gedanken erleben, so will Kassner alle menschlichen Typen in Essays erfassen. In Musils Essays über Österreich, vor allem jenen in Der Mann ohne Eigenschaften, kommt es darauf an, den Begriff „Möglichkeitsmensch" zu verstehen.
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Der Autor vergleicht darin einen „Wirklichkeitssinn" mit einem „Möglichkeitssinn" (S 17), aber er spricht nicht explizit von einem „Möglichkeitsmenschen" und dieses Versäumnis möchte ich hier wettmachen. Der Autor analysiert den Typus in dem Essay über den „Möglichkeitssinn" im Kapitel 4 des großen Romans, und im Kapitel 5 schildert er Ulrich als ein konkretes Beispiel des Typus. Einige Seiten später im Kapitel 8 folgt der berühmte Essay „Kakanien". Diese drei Kapitel gehören zu den eigentümlichsten Essays, die es überhaupt über die österreichische Eigenart gibt. Der Zusammenhang zeigt sich, sobald man sieht, dass Musil den Fall von „Buridans Österreicher" durch den „Möglichkeitsmenschen" weiter gesteigert hat. Der Österreicher von 1 9 1 9 bleibt wie der Esel unentschieden vor zwei bestimmten Heubündeln stehen, während der Möglichkeitsmensch unentschieden vor allen Heubündeln der Welt verharrt. Aus Prinzip zieht der Möglichkeitsmensch einen Zustand der Unentschlossenheit vor. Er will keine endgültige Wahl treffen, damit er die Wirklichkeit gegen eine Folie der ««verwirklichten Möglichkeiten betrachten kann. Der Essay des Kapitels 4 beschreibt den Möglichkeitsmenschen ohne Bezug auf ein bestimmtes Land. Er wird sozusagen mathematisch vorgestellt, als ein abstrakter Typus, der existieren könnte, aber nicht muss. Unwillkürlich sind die Modalverben seine Lieblingswörter, und insoweit könnte der österreichische Mensch Modalverbenmensch heißen, oder auch Konjuntivmensch. Ein solcher denke gern „was ebensogut sein könnte" und halte das, was ist, für nicht wichtiger als das, was nicht ist. (S 16) Mit tückischer Freude tastet Musil nach Ausdrücken für „Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler", die in „einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven" leben. (S 16) Ihr Anliegen führe noch weiter in den Himmel hinan, denn ,,[d]as Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes". (S 16) Derart erhabene Gedanken tragen unverwirklichte Möglichkeiten in sich, wie „ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus [...]". Diese ermunternden Worte erinnern an die Feurigkeit von Musils Freund Robert Müller, dessen Bild des Reichsmenschen einige Züge des Möglichkeitsmenschen vorwegnahm. Denn was sind Müllers Begriffe der „problematischen Naturen", „interessanten Menschen" und „verzwickten Charaktere" anderes als Reisekarten für einen Flug in die Utopie ? Natürlich ist beim Möglichkeitsmenschen alles nicht so einfach. Nach Musil fehlt ihm die eine Fähigkeit, sicher und rasch die realisierbaren Möglichkeiten von den unrealisierbaren im Voraus abzugrenzen. Manchmal nimmt er sich
Musils Prägung des Begriffs „Kakanien"
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zuviel Zeit, das Offenkundige wahrzunehmen. Unentwegt wird dieser unpraktische Mensch, dieser Intellektuelle „Handlungen begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als anderen, aber [er] beruhigt sich über alles, sobald es sich in einer außerordentlichen Idee zusammenfassen läßt". (S 17) Die Schilderung einer Jagd nach beruhigenden Ideen passt hervorragend zu den meisten Kriegszeitessayisten, vor allem Bahr und Müller, die sich allzu gerne an ihren eigenen Ideen ergötzten. Der Möglichkeitsmensch verschlingt Theorien, und in diesem Sinn sind die meisten unserer Essayisten Möglichkeitsmenschen gewesen. Auch die Eifrigsten unter ihnen unternahmen es bloß, den Österreicher zu verstehen und nicht in eine andere Art Menschen zu verwandeln. Mit Ausnahme etwa von Wildgans und Benda bemühten sie sich kaum um eine Pädagogik für die Ausbildung der gelernten Österreicher als Staatsbürger. Musils Gedankengänge suggerieren, warum die Österreicher vor 1 9 1 4 kein Selbstporträt von sich herzustellen wussten. Es fehlte ihnen gerade an „Wirklichkeitssinn sich selber gegenüber". Mit andern Worten lebten sie in einem Gespinst von Konjunktiven sich selbst gegenüber, oder, wie es in „Buridans Österreicher" heißt, haben die „Gespaltenheit und noble Subtilität" ihrer Seele sie der Selbstsicherheit beraubt. Ohne sich darüber im Klaren zu sein, errichteten die Bewohner Altösterreichs so einen Naturschutzpark für „Möglichkeitsmenschen", d.h. für Menschen, die alles Mögliche auf der Welt zu tun verstanden, außer sich selbst kennenzulernen. Erst in der Beschreibung Ulrichs im Kapitel 5 wendet Musil diesen Diskurs auf Österreich an. In diesem Land mussten sich die einheimischen Patrioten mit einer seltenen Ungereimtheit abfinden, und zwar mit der rätselhaften Tatsache, dass „die Österreicher [...] in allen Kriegen ihrer Geschichte zwar auch gesiegt [hatten], aber nach den meisten dieser Kriege [...] irgend etwas abtreten [mussten]". (S 18) Grübeleien über „diesen verdächtigen Satz" machen Ulrich darauf aufmerksam, dass „wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche [...] denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebenso gut anders sein". (S 19) Als ein Besessener des Conjunctivus potentialis, d.h. der Verbform des „ebenso gut anders sein Könnens", näherte sich Ulrich Buridans Esel in mancher Hinsicht an. Als Möglichkeitsmensch verstand er es nicht, der Ausstattung seines Hauses eine Stileinheit zu verleihen. Nach allerlei Vorstudien wurde er sich nur der „bekannten Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihrer Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist" bewusst. (S 20) Wie ein erschöpfter Esel überließ Ulrich die „Einrichtung seines Hauses dem Ge-
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nie seiner Lieferanten". (S 2 1 ) Ähnlich überließen die Österreicher in der Ersten Republik die Einrichtung ihrer Identität dem Genie ihrer Essayisten und Parteiführer. Denn ohne Richtlinien von außen weiß ein Möglichkeitsmensch nur zu gut, dass die Grundprinzipien seiner Identität „ebenso gut anders" sein können. Er lebt in permanenter Liminalität, einen Begriff, den wir Postmodernen im erweiterten Kontext des Musil'schen Diskurses aufnehmen können. Erst in den sechziger Jahren kam der schottische Kulturanthropologe Victor Turner (1920—1983) auf die Idee, dass das Erlebnis eines Zustande der Suspension, der Ungelöstheit zwischen möglichen Auswegen, eine besondere Rolle im Leben von Individuen und Gesellschaften spielt. Nach Turner gibt es gibt zwei Arten liminaler Erlebnisse, die unerwünschten und die erwünschten. Bei ersteren wird der Zustand der Liminalität den Teilnehmern aufgezwungen werden, etwa durch einen Verkehrsunfall oder eine andere Katastrophe. In diesen Fällen sehnen sich die Teilnehmer nach einer möglichst raschen Schließung, denn diese Art Liminalität ist auf der Dauer unerträglich Bei der zweiten erwünschten Art erlebt man eine erfrischende Liminalität etwa durch Pilgerfahrten, gemeinsame Reisen oder Festlichkeiten wie Weihnachtsmärkte. Für eine kurze Frist werden die Normen des Alltags außer Kraft gesetzt, damit die Beteiligten Stunden oder Tage der Mitmenschlichkeit („Communitas") genießen können. Turner sieht den Gipfelpunkt solcher Festlichkeiten mit ihrer Umkehrung aller Lebensregeln im Narrenfest („Feast of Fools" bzw. Mardi Gras), das am Vorabend der kirchlichen Fastenzeit stattfindet. Solche Durchbrüche der Ursprünglichkeit befriedigen die Teilnehmer zutiefst. Sie ähneln dem Zustand der „Gemüthaftigkeit", den auch der deutsche Lyriker Ernst Lissauer überall in der „musischen Gemeinschaft" der Ersten Republik vorfand. 6 2 Was hat die Liminalität Turners mit Musils Möglichkeitsmenschen zu tun ? Sehr viel, denn dieser will eine Art unbegrenzte Gedankenfreiheit erleben, denn nach Musil tritt die Liminalität ausschließlich im Geiste des Suchenden hervor. Durch eine Vorliebe für das Unverwirklichte werden die Regeln der Wirklichkeit ständig suspendiert. Nach Turner ist die Liminalität ein Erlebnis, das man mit anderen Menschen teilt, aber nach Musil ist sie eine Denkmodalität, eine Flucht in die eingebildete Einsamkeit. Die Liminalität Turners bezieht sich auf Umstände ; im Kontrast dazu bezieht sich die Musil'sche Liminalität auf Gedanken, auf das „seelisch 62 Ernst LISSAUER, Glück in Österreich (Frankfurt/M.: Frankfurter Societäts-Druckerei 1925), S 211.
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Stofflose". (S 672) Vermutlich hat Turner eine derart solipsistische Variante seines Begriffes nie in Betracht gezogen. Der Möglichkeitsmensch Ulrich verweilt gerne in der Liminalität der eingebildeten Möglichkeiten. Diese einzigartige Liminalität zieht eine eingebildete Suspendierung der normalen Regeln nach sich, jedoch ohne das kompensierende Erlebnis der Communitas. Erst später im Roman entdeckt er eine unverhoffte Art Communitas in den Zwiegesprächen mit seiner Schwester Agathe. Bei der ersten Begegnung der Geschwister nach vielen Jahren zeigt es sich, dass die beiden in einer Stadt aufgewachsen sind, die Brünn zum Verwechseln ähnlich ist. 63 Soll man — der Definition der Liminalität zufolge - daraus schließen, dass Musils Diagnose auf den österreichischen Menschen schlechthin zutrifft? Ja, wahrscheinlich ist es so, aber freilich nur möglicherweise. Denn es gehört zu Musils Relativierung aller Fragen, dass auch diese Frage dahingestellt bleiben muss. Musil selbst hat übrigens den „Essayismus" als ein ständiges Genießen der Denkalternativen aufgefasst, und in diesem Sinn gelten Bahr, Müller, Hofmannsthal, Schaukai, Schmitz, Prager, Benda und Kassner als Meister der Liminalität des Essayismus. Dementsprechend muss ein Hang zu jener Liminalitätskunst, die der Essayismus bezeichnet, als eine Neigung der Österreicher schlechthin gelten. Laut Musil war es auch zu erwarten, dass seine begabten Landsleute über ihren eigenen essayartigen Charakter aufschlussreiche Essays schreiben sollten. Die praktizierenden Essayisten reihten sich aber ungern in eine Kette gleich gesinnter Denker, den jeder Möglichkeitsmensch will der Einzige seiner Art sein. Unbewusst verstößt man daher gegen die Intentionen Musils, wenn man seine Ansichten mit denjenigen von Rivalen wie Schaukai und Prager gleichsetzt. Eine berühmt gewordene Leistung dieses Virtuosen der Liminalität verblieb aber nicht in der Isolation seines Denkens. Ganz im Gegenteil: Der fiktive Landesname „Kakanien" ist so geläufig geworden, dass selbst nicht alle Sachkundi6 3 MUSIL, Der Mann ohne Eigenschaften (1955), S 6 7 1 - 6 7 2 . Musil, der ab und zu zwischen 1 8 9 0 und 1 9 0 2 in Brünn wohnte, beschrieb „die große Provinzstadt" folgendermaßen: „In ihrem Wesen lag [...] etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums, die vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert [...] so dass schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten [...]." S 6 7 1 - 6 7 2 . Richard S C H A U K A L beschrieb ein ähnliches Bild der bereits stark industrialisierten Stadt in „Ausklang: Mein Brünn", in: österreichische Züge (München: Georg Müller 1 9 1 8 ) , S 1 5 1 - 1 5 8 . MUSILS Wort „Heimatlos-Koloniales" nimmt Oskar BENDAS Begriff der Heimatlosigkeit jener k.k. Beamten vorweg, die in Städten wie Brünn ihre heimatlose Heimat finden mussten.
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gen um seine Entstehung im Kapitel 8 des Musil'schen Romans wissen. Dort betreibt der Autor ein Silbenspiel mit der Abkürzung „k.k.", d.h. „königlichkaiserlich", einer Abkürzung, die in der alten Monarchie vor der Bezeichnung der meisten Behörden stand. Die Buchstaben „k.k." unterscheiden sich allerdings von denjenigen des „k. und k.", d.h. „kaiserlich-und-königlich", die seit 1867 die gemeinsamen Ämter Österreichs und Ungarns bezeichneten, namentlich das k.u.k. Ministerium des Äußeren, das k.u.k. Kriegsministerium und die k.u.k. Kriegsmarine. Musil amüsierte sich über die Tatsache, dass der nichtungarische Teil des Reiches keinen eigenen Namen besaß, und hat als Ersatz für den unhandlichen geografischen Terminus „Cisleithanien" das Wort „Kakanien" geprägt. Es versteht sich, dass es ausschließlich um Cisleithanien geht, weil der Name für Österreich-Ungarn als ein Ganzes Kaundkanien lauten hätte müssen. Zu einer so hässlichen Variante ist es nie gekommen und noch weniger hat jemand je von dem k. (königlichen) Ungarn als „Kamen" gesprochen. Dies alles geschah einige Jahre, bevor der Romanautor Fritz von Herzmanovsky-Orlando ( 1 8 7 7 - 1 9 5 4 ) einen zweiten fiktiven Ortsnamen „Tarockanien" einführte, für ein Österreich ähnelndes „Reich der Tarocke", das im nördlichen Balkan verortet ist. Da Herzmanovskys Wort im unveröffentlichten Roman Maskenspiel der Genien (erster Druck um i960) vorkam, hat es keinen Einfluss auf Musil ausüben können. Obwohl das Wort Tarockanien noch fantasievoller als „Kakanien" klingt, hat das letztere sich zum Schlagwort entwickelt. Seit 1930 ist es gebräuchlich geworden, den nichtungarischen Teil der Doppelmonarchie Kakanien zu nennen. Robert Musils Verehrer nehmen gerne an, dass er seine außergewöhnliche Erfindungsgabe gebrauchte, um aus den Buchstaben k.k. ein neues klingendes Wort zu schöpfen. Es gibt aber in der Tat noch ein zweites Beispiel für eine ähnliche Wortprägung, und zwar aus der Zeit vor 1 9 1 4 . Zwischen 1880 und 1 9 1 4 hat die österreichische Verwaltung ein Braunkohlerevier in Bosnien-Herzegowina nordwestlich von Sarajevo bewirtschaftet. Als eine regelrechte Stadt daraus erwuchs, hat das k.k. Finanzamt, das seit 1878 Bosnien-Herzegowina verwaltete, diese um 1902 Kakan benannt (heute Kakanj). Ob Musil je von der bosnischen Braunkohlestadt Kakan gehört hat, bleibt unbewiesen, aber auf alle Fälle kann man nicht mehr behaupten, dass er der Erste war, der aus der Abkürzung k.k. einen Ortsnamen prägte.64
64 Dr. Jörg Hofreiter, Honorarkonsul von Bosnien-Herzegowina in Graz, hat mir auf Grundlage seiner persönlichen Kontakte in der Stadt Kakanj diese Information übermittelt.
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Der gewitzte Autor, der die Taktlosigkeit seines Freundes Robert Müller ablehnte, war nicht so taktlos zu erwähnen, dass der Name Kakanien eine zweite Wurzel besitzt. Bekanntlich haben die Deutschösterreicher den italienischen Ausdruck „caca" als „kaka" übernommen, um ihn bei der Erziehung zur Sauberkeit bei den Kindern zu verwenden. Diesem Wortgebrauch zufolge bedeutet Kakanien nicht nur „k.k. Land", sondern auch „Scheißland". Einige englische Literaturkritiker Musils sprechen sogar von „Shitland". Dieses Wortspiel hätte vielleicht eine noch skurrilere Namensschöpfung hervorgebracht, denn Musil hätte wohl von „Kakaland" sprechen können, aber vermutlich hätte dies zu offensichtlich auf das verpönte Kinderwort angespielt. Diese Überlegungen werfen die Frage auf, ob man es im Licht des gesamten Diskurses zum Osterreichertum überhaupt unternehmen solle, neue Ländernamen zu erfinden. Nach Oskar Bendas Wortgebrauch könnte man Altösterreich als „Vagantenland" bezeichnen, und um mit Hans Prager zu sprechen, könnte man Osterreich auch „Zwiespaltsland" nennen. Otto Basils Ausführungen suggerieren einen Namen für Wien als die „Feuilletonismusstadt". Diese Einfälle zeigen aber, dass die Österreicher neue Benennungen ihres Landes nicht gerade begeistert annehmen, sodass Musil ein unverhofftes Glück beim Erfolg des Namens „Kakanien" hatte. Wahrscheinlich hat er die spätere Geläufigkeit seiner Erfindung nicht vorausgeahnt. In Bezug auf Altösterreich gab es keinen zweiten Fall eines derartigen Erfolgs, sodass man sich mit Musils Wortprägung zufrieden geben muss. In Anlehnung daran sprachen aber die wenigsten von einem „kakanischen Menschen", und fast niemand von einem „habsburgischen Menschen". Nur Robert Müller behauptet, dass die Deutschösterreicher die Mitglieder der habsburgischen Dynastie bewusst nachahmten. Mit seiner Theorie der drei Rudolfs - Rudolf I., Rudolf II. und Kronprinz Rudolf - als „problematische Naturen, als verzwickte Charaktere" deutet Müller an, dass einige Mitglieder des Herrscherhauses auch „Reichsmenschen" waren. 65 Da Musil die Dynastie im Roman kaum erwähnt, berührte ihn diese Auffassung seines Freundes jedoch nicht weiter. Es spricht für sich, dass Musils Vision Kakaniens ebenso ein literarisches Konstrukt ist wie Müllers Wortprägung „Reichsmensch" oder Wildgans' „österreichischer Mensch". Dieses „Kakanien" spiegelt das historische Cisleithanien durch die Augen des Möglichkeitsmenschen Ulrich und zugleich des Limina65 Robert MÜLLER, Österreich und der Mensch (Berlin: Fischer 1916), S 29.
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litätsgenießers Musil wider. Seine Absicht war es, einige unverwirklichlichte Möglichkeiten des Reiches zu schildern. Dementsprechend widmete der Autor ein Drittel des Kapitels 8, „Kakanien", einem Essay über eine Antiutopie, dem „Ameisenbau",
„eine Art überamerikanische Stadt", die als ein hypothetisches
Gegenstück zu Kakanien fungiert. Dort „führt jeder Weg an ein gutes Ziel" und „aus einer Summe von reduzierten Individuen [kann] sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen". (S 3 1 , 32) Bekanntlich bestand Kakanien aus keinen reduzierten Individuen und um mit Otto Neurath zu sprechen, bestand es vielmehr aus „Vollmenschen", die zu voll von unrealisierbaren Möglichkeiten waren. Musils Passage über die von einer Stoppuhr regulierten Massenmenschen mündet in einen Diskurs über den „Zug der Zeit", dessen rastlose Bewegung die Reisenden nie aussteigen lässt. Als ein Mitreisender auf diesem nie anhaltenden Z u g bekomme man ein Heimweh nach „Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben [...]", und gerade für dieses Verlangen existierte das Kaisertum Osterreich. (S 32) Dort gab es „auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo". Man denkt an Müllers Formulierung über „das katastrophierende Halbtempo des Österreichers". 66 Dort gebe es „weiße, breite, wohlhabende" Straßen, die wie „Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen". (S 32) Dort fuhr man mit dem Automobil, man eroberte die Luft, man ließ Schiffe nach Südamerika fahren, aber nicht zu oft und nicht zu intensiv. Alles verlief gemäßigt in diesem Ruhepol inmitten eines hektischen Europa. Als ob er die Kriegszeitphantasien Bahrs und Hansliks verspotten wollte, behauptet der Satiriker, „ [ . . . ] man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz [...] die Worte Kolonie und Ubersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes". (S 33) In diesem ausgewogenen Ton ließ Musil die Merkmale des Staates Revue passieren : Das Heer war dem Status des Landes als der zweitschwächsten der Großmächte angemessen, und die Hauptstadt war um einiges kleiner als andere Großstädte der Welt. Das Land wurde in einer „aufgeklärten, wenig fühlbaren Weise [...] von der besten Bürokratie Europas" verwaltet, aber plötzlich bricht Kritik am Systems durch : Diese Bürokratie hatte nämlich nur den Fehler, dass sie „Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen [...] als Anmaßung" empfand. (S 33) Beschwerden wie jene Bahrs gegen die Untaten der Bezirkshauptmänner kom66 Robert MÜLLER, Österreich und der Mensch (Berlin: Fischer 1916), S 38.
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men bei Musil nicht auf, aber er konnte sich kaum damit abfinden, dass die Beamten immer „ein Genie für einen Lümmel" hielten, aber nie einen Lümmel fiir ein Genie. (S 33) Zweieinhalb Seiten darauf folgt der epochale Absatz über den Unterschied zwischen „kaiserlich-königlich" und „kaiserlich-und-königlich", der die Wortprägung Kakanien erst inspirierte. Eine ganze Reihe der Paradoxa wird aufgelistet : bei „allen Gefiihlsangelegenheiten" wurde das Reich mündlich nach dem Namen „Osterreich" gerufen, den die Regierung 1 8 6 7 jedoch „mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte". (S 33) Das Land war „nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger." (S 33) Ähnlichkeiten an jenes Essay von 1 9 1 3 klingen hier an, worin der beginnende Satiriker das Regieren durch den Notstandsparagrafen tadelt. Der Autor kündigt ein Hauptthema des Romans an, als er Kakanien zum vorzeitigen Vorbild der Bestrebungen eines jeden Menschen gegen jeden anderen in der Nachkriegszeit abstempelt. Wiederum denkt man hier unwillkürlich an eine These von Robert Müller, ,,[d]ie Hassliebe von persönlichen Gegnern [...] ist tiefste österreichische Seele". 67 Nach Musil wurde dieser Hobbes'sche Kampf aller gegen alle zu einem „sublimierten Zeremoniell" abgemildert, „das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre". (S 34) Wir werden dieses Beklagen der versäumten Möglichkeiten bei den Elegikern der dreißiger Jahre wieder antreffen, ebenso wie später bei den Diagnostikern der Zweiten Republik wie Friedrich Heer und Otto Basil. Wie Musil haben sie alle den Reichtum Kakaniens an versäumten Aufgaben erkannt. Hierauf folgt eine These, die an die tragische Vision Hans Pragers erinnert. Das „Misstrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal" habe in Kakanien eine Selbstungewissheit erzeugt, einen selbstverständlichen Zwiespalt in der Seele: „Man handelte in diesem Land [...] immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte." Diese Gewohnheit hatte aber nichts mit Liebenswürdigkeit zu tun, wie einige „unkundige Beobachter" meinen mochten. Auf diese herabsetzende Bemerkung baute Musil seine Kritik des Unternehmens auf, so etwas wie einen Volkscharakter schildern zu wollen, denn man könne den Charakter der Bewohner eines Landes überhaupt nicht kennzeichnen, weil jeder Mensch „mindestens neun Charaktere [hat], einen Berufs-, 67 Robert MÜLLER, Österreich und der Mensch (Berlin: Fischer 1916), S 36.
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einen National-, eines Staats-, einen Klassen-, einen geografischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter [...]". (S 34) Anstatt seiner Skepsis beizupflichten, stelle ich lieber eine durch seinen Vorschlag angeregte Frage, und zwar: Inwieweit fügen sich die Charakterzüge, die andere Essayisten den Österreichern zuwiesen, in Musils Auflistung ein? Ausgerechnet in der späten Monarchie wurde der Unterschied zwischen einem •Atoí'owtí/charakter und einem Sft&zöcharakter entscheidend. Müller billigte dem „Ohnstaat" keinen Charakter zu, und Bahr hat den Staatscharakter gern mit dem Stadtcharakter verwechselt. Der Ä7 329. 344. 354 Nibelungenlied noi., 116, 162, 212 Nörglertum 234 O Odysseus 2i8f. Offizierskorps 20, 40, 85, 93, 98, 101, 171, 199, 202, 221, 232fr., 243, 249, 288, 291, 294fr., 299, 325, 331 Optimismus 80, 82, 98, 117, 128, 139, 151, 153, 213, 225, 234, 243, 262Í, 336 Organische, das 87, 131, 2o6f., 332 Orientalismus 4 1 , 1 7 2 , 307, 313F. Ornament 152, 309 Österreicher, gelernter, def. 40, 297; - Bahr 122;
389
- Hofmannsthal 68; - Torberg 297f.; - Musil 159; - Werfel 246 Österreichertum; siehe Eigenart Österreichs .Österreichische Bibliothek" 66, 7if., 119, 147, 258, 345, 349, 351, 357, 363 .Österreichische Bücherei" 250 Österreichischer Mensch, def. i6f., 22 Österreichischer Werkbund i48fF. Osteuropa 200 Ρ Panama, psychologisches 113 Paneuropa, i9of., 194, 2oof., 244, 314, 361 Panslawismus 312 Paradigma von Hassinger-Lhotsky 20, 24, 34, 40, 54, 78f., 85, 93, 97, 109, 171, i98ff., 241, 256, 281, 29off., 299Í., 3i4f., 317. 3 " , 331, 335. 347. 355 Parallelaktion 71, 80, 89, 168 Parlamentarismus 60, 289 Partikularismus 93f. Pathos 36, 38, 70, 84, 94, 129, 176, 220, 252, 254, 285f„ 300, 342, 360 Patriotismus i2of., 146, 159, 169, 179, 214 Perpetuum mobile 131, i34f., 137, 175, 186, 219 Pessimismus 155, 204, 243, 277, 291; siehe auch Tragik Phäaken, def. i38f., 227; - K r a l i k i 3 8f.; - Wildgans, 2i8f. Phänomenologie, 23if., 273, 285Í, 317, 319, 33of.
Phantasie, passive 59 Philosophie 181, 253, 285, 312, 317 Physiognomik 38, 100, 135, 157, 265, 326 Pointiiiismus politischer, 309f. Polen 142, 171, 193, 288ff.
390
Sachregister
Politik, österreichische - Eisenreich, 316Í;
Q Quellenauffrischung, def. 17, 282; passim,
- Musil, 58ff., 333E;
44, 49f., 68;
- Kassner, 268f., 271
- Bahr 83,125;
Polizei 81
- Heer 282, 309;
Postmoderne 49, 77F., 90, 123, 129,160,
- Müller 110;
170, 204, 250, 282, 318, 323, 326, 336 Prag
- Kralik i 3 8f. Quietismus 234
- Kafka 313Í;; - Prager 175, 177, 179Í, 302;
R
- Rilke 238fr.;
Radetzkymarsch 233, 270, 291, 299^
- Werfel 243, 248
Rassentheorien 29, i02f., 104fr., H5Í., 118,
Pragmatische Sanktion 83 Preßburger Schwur 83F., 86, 248, 289
193. 231 Raunzen 257, 266
Preußen
Reformation 104, 256, 271, 279
- Bahr 80; - Benda 236f.; - Hassinger 201; - Hofmannsthal 75, iooff., 136,148, 298, 325; - Müller 103fr., 115; - Schmitz 193; siehe auch Schema Primitive, das 228 Problematische Naturen
Reichsmensch 20, 100, io6f., i n , 117, 145, 158, 163,168, 175, 189, 336, 357 Relativierung i57f., 161, 180; siehe auch Essayismus Relativismus, seelischer 179, 229, 232, 234, 237, 240, 248, 337 Renaissance 104, 231 Republik, Erste 17, 43,128, i3of., 137, i45f., 156, i68f., 173,187,189,191fr.,
- Benda 237;
i99f., 204, 213fr., 235, 255, 26off.,
- Müller 75, 93, 108, 158, 163, 185;
302fr., 321, 329, 337
- Prager 178 Proletariat 232, 312 Propaganda 89, 91, 95, 98, 142, 221, 321
Republik, Zweite 15Í, 131,155, 216, 254, 276, 312, 322, 327, 333fr. Resignation 193, 234, 291, 302
Prophetentum 48f., 57, 69, 71,192, 310
Ressentiment 257, 362
Prosopographie 293ÍF., 331
Ressourcement; siehe Quellenauffrischung
Protestantismus I9if., 279
Restösterreich 154, 292
Proteusfiguren 54, 307, 342
Revolution, Französische 140
Provinz 54, 161, i9if., 211, 216, 253, 256,
Revolutionsjahr 1848 74
307, 316 Psychologie - Müller n o , 117F.; - W i l d g a n s 217fr., 316
Risorgimento 26 Romantik 25, 87^,170, 210, 229, 311 Russland - Kassner 269; - Prager 176fr.; - Schmitz 193
Sachregister
391
Selbstbescheidung, österreichische i4of.,
S Sacrificium nationis, def. 40; 167,
145, 187, 285, 293
246;
Selbstenttäuschung 298
- Bahr 83, 85, 121;
Selbstgericht, def. 297f.;
- Benda 229;
- Basil 306, 311;
- Prager 179;
- Broch 3 n f . ;
- Roth 299;
- d i e Juden 298fr.;
- Schaukai 136;
- Kafka 3I3Í.;
- W e r f e l 246fr., 280, 335
- T o r b e r g , 223, 227, 296fr., 320
St. Germain, Vertrag von 292
Selbstironie 68, 1 0 0 , 280
Salzburg; siehe Festspiele
Selbstlosigkeit 253
Samtmaske, def. 56f., 88;
Selbstporträts 7 3 , 1 1 2 , 1 1 7 , i3of., 319
- Andrian 258, 264; - Bahr 8 8 f „ 217, 233, 280; - Benda 233; - Heer 280; - Hofmannsthal 91, 94, 99 Satire, def. 36f., 4 5 , 1 4 6 ;
Selbstverleugnung, 83, 85, 248, 335; siehe auch sacrificium nationis. Slawen 16, 7 2 , 76, 83, 8 5 , 1 9 9 , 20if., 216, 310; - Bahr 85, I20ff., 1 2 7 ; - Benda 241;
- Eisenreich 316;
- Hofmannsthal 7 2 , 7 6 , 93, 99, 172;
- Musil 4 5 , 1 4 6 , 304, 324;
- Prager i8off.
- Kraus 303; - Müller 1 0 2 , 1 1 3 Schauwand 86f. Schema, Hofmannsthals iooff., 148, 150, 1 7 0 , 173, 2 0 1 , 205Í., 225, 236, 280,
- Schmitz 193 Sonderlinge 92, 1 0 7 , 133Γ. Sozialismus 115, 302 Sozialgeschichte 1 7 , 281, 283f., 293f. Sozialkapital, def. 19; passim 291, 296, 312,
298, 307, 316, 325Í., 349; siehe auch
322, 326, 331, 335;
Preussen
- Bahr 85, 121, 123;
Schlagwort, def. 33f.; passim 16, 22, 31, 66, 88, 9 1 , 1 0 7 , 1 1 3 , 1 6 2 , 1 8 9 f r . , 208, 215, 225, 272, 276, 287fr.
- Hassinger 85, 193, 196fr., 241, 244, 2 6 o f „ 281, 314, 324, 347; - Heer 2 7 7 , 2 8 4 Í ;
Schlamperei ii3ff., 118
- Hofmannsthal 97f.;
Schlesien 142, 266
- Prager i76f., 179, 309;
Schulwesen 1 2 4 , 1 5 4 , 266f. Schwärmer 63, 79, 144, 173, 2 0 7 , 212, 283, 298, 319, 324, 346
- Wildgans 213 Sozialwissenschaften 19, 7 7 , 7 9 , 8 6 , 1 2 9 , 175, 203, 217, 2 5 4 f „ 294, 311, 326, 337
Schweden 214
Soziologie 225-242, 312
Schweiz 98, 148, 150, 1 7 1 , 225, 326
Spanien 44, 7 6 , 1 7 1 , 184^, 271
Schwierige, Der 75, 7 8 , 1 4 7 , 1 7 0 , i 7 2 f . ,
Spiritualität 204fr., 246, 248
175. 247 Seele 75, 81, 1 0 9 , 1 7 2 , 183, 188, 207f., 229, 234, 245, 254, 2 7 l f .
Sprache, österreichische 239, 313F. Sprachkrise 147, 317 Sprachphilosophie 118, 317
392
Sachregister
Staatsgedanke bzw. -idee, österreichische, def. 23, 56f.; -Andrian 88, 258fr., 341; - Bahr 56Í, 63, 88; - Benda 233; - Leb 22if.;
- Lhotsky 287; - Musil 5 9 f.; - Prager 178; - Wildgans 147, 200, 217, 287 Staatsmänner 74, 125 Ständestaat 24, 88f., 169, 223, 243, 258f., 262, 321
Steiermark 27, 92, 210 Stockösterreicher 22, I2if., 189 Südosteuropa 22, 58, 69, 148, 200 Surrealismus 116
- die Juden 302; - Müller inf., H4f.; - Prager 184; - Werfel 302; -Wildgans 215, 2i8f. Tirol 75, 92, 127, 206, 2iof., 219 Toleranz 140, 279 Totalitarismus 114,118 Totalösterreicher 128 Tragik Österreichs 22, 39Í., 4 4 Í , 90, 134, 136, 1 4 0 , 155, 165, 175fr., 237, 245, 253, 308, 329, 335f.
Trauer 168, i83f., 245, 257, 302, 336 Tschechen 120, I22Í., 125, 178, 193, 199, 249, 279, 293, 326; siehe auch Böhmen. Tugenden des Österreichers 302;
Symbolismus, 130, 132, 138, 231, 317
- Bahr 125; - Basil 314; - Hofmannsthal 4of., 44fr.;
Τ
- L e b 222f., 310;
Tarockanien 162, 169 Terminologie 19fr., 207, 282, 327, 336
- Lhotsky 292; - Müller 1 0 3 , 1 1 2 , 1 1 4 ;
Theater, österreichisches 55, 91,195, 209,
- Prager 182, 184, 188;
- Basil 309fr., 3i3f., 343
2
35> 237; - Bahr 90; - Hofmannsthal 73, 92, i7off.; - Kralik 139; - Kassner 266, 268, 27if.; - Rilke 268Í; - Schaukai 136 Theresianischer Mensch, def. 16, 95Í.;
- Schaukai I34Í.; - Thun-Hohenstein 251 Triest 6 8 , 1 1 6 , 1 9 0 , 273 Türkei 82, 99,155, 200 Türken 66, 216, 256 Typenreichtum 101, i n , 250, 265^, 314 Typologien, def. 38, 325^ - Benda 226-241, 255, 285;
1 8 1 , 1 9 4 , 243, 2 6 1 , 281, 2 9 0 , 3 0 2 , 319,
- Kassner 38, 265fr., 3i8f., 352, 362; - Musil 157;
322, 324fr., 328, 3 3 i £ , 335;
- Schaukai 135
passim 17, 40, 67, 69, 76f., 167,169F.,
- Bahr 126; -
Basil 312fr.; Braun 30if.; Hassinger 200ff., 241; Heer 40, 277, 300; Hofmannsthal 95F., 292, 310;
U Überlegenheit Österreichs 65; siehe Bejahung Österreichs Ukraine 172 Understatement 280, 284
Sachregister
393
Unentschlossenheit 153fr., 158
Weimarer Republik 152, 173, 191, 208
Ungarn 23, 26, 162, 199, 216, 249, 326;
Weltexperiment 59f., 82, 129
- Bahr, 8if.;
Weltinnenraum 248, 272f.
- Basil, 312;
Weltkrieg, Erster 27, 48, 55, 63, 8of., 125,
- Hanslik i43f.; - Lhotsky 289fr., 312; siehe auch Magyaren Universalismus 95, 172
135,141fr., 170fr., 275, 303, 321, 328 Weltkrieg, Zweiter 209, 213, 256, 275, 303 Weltösterreich 144, 346 Werkbund, österreichischer I48f., 152 Wertvakuum 303f.
V
Wesen Österreichs 23, 52, 74, 78, 138, 140, 209, 312; siehe auch Ewiges Österreich.
Vagant, Vagantentum, def. 232F., 336; - Bahr 80, 82;
Wien 26, 64, 110, 117, 168, 173, 211 f., 216,
227, 259, 278, 3 0 2 f r .
- Benda 163, 172, 179fr., 234ff., 291, z
93> 295;
Wiener und - Bahr 54, 86, i24f., 252;
- Rilke 24of., 268, 271, 295; - Roth 291, 300, 305;
- Basil 307;
- Schmitz 197;
- Broch 303Í, 3iif.;
-Werfel 2 4 5 f r .
- Kassner 266; - Müller 117;
Verdrängung 126, 128 Verfassung Österreichs 80, 86f., 165
- Prager 180;
Verhältnismensch, def. 107; passim 60,
- Schmitz 191;
93, I03f., i07f., i n , 168, 171, 268, 27if.,
- Thun-Hohenstein 254;
285
- Torberg 298; - Wildgans 216
Vermittlungsarbeit, def. 200ff.; passim 20, 93, 97, 101, 121, 170, 198, 241, 244,
Wiener Kongress 141
272f., 285, 287, 292Í., 314, 332, 335
Wiener Ringstrasse 152
Versailles, Vertrag von 292
Wiener Werkstätte i48f.
Versäumte Gelegenheiten, 15, 165
Wirklichkeitssinn 114, I58f., 186
Via negativa 135, 238, 240, 2 6 7 f r , 286, 302, 329fr., 340, 352 Völkerehe 8if.
Witz, jüdischer 304Í. Wunder Österreichs 79fr. Wurzelmenschen 181
Volk, österreichisches 149, 177, 288 Volkhafte, das, und Hofmannsthal 92,
Ζ
96;
Zauberflöte 91
- Werfel 245f.; siehe auch Bauern
Zentralismus 92,192, 313
Vollmensch I52Í., 164
Zivilisatorischer Prozess 282f. Zucht, 20, I03f., H2f., 179, 335; siehe auch
W Wallungsmensch 133fr., 137, 249
Erziehungspolitik Zukunftsvisionen Österreichs 70, 82f.,
Warschau 91
106, I22f., 128, 143Í, I5if., 194, 201,
Weg ins Freie, Der 301, 305
2
93> 314
394
Sachregister
Zuspätkommen Österreichs 129, 252, 255E, 286, 293 Zwiespalt des Österreichers 60, 88, 94, 101, 108, 118, 122,128, 137, 146, 156, 159,163, 166, 176ÍF., 227, 237, 263f., 298, 300, 302, 309, 328, 33jf.
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W I L L I A M M.
JOHNSTON
Ö S T E R R E I C H I S C H E KULTUR- U N D GEISTESGESCHICHTE G E S E L L S C H A F T U N D I D E E N IM DONAURAUM 1 8 4 8 BIS 1 9 3 8
Wer erinnert sich heute noch daran, dass etwa die moderne Sprachphilosophie, die Psychoanalyse, die Soziologie des Wissens, der Feuilletonismus, der Ästhetizismus Hofmannsthalscher Prägung, die Reine Rechtslehre, die Zwölftonmusik von Osterreich aus ihren Weg angetreten haben? Viele der Persönlichkeiten, die dieses Buch behandelt, sind weltbekannt geworden und geblieben, andere wieder sind so gut wie vergessen, aber ihr Beitrag zu einem neuen Weltbild verdient es sehr wohl, sich mit ihnen auseinander zu setzen.
DER
AUTOR:
William M. Johnston, geb. 1936; war Professor für Geschichte an
der University of Massachusetts, seit 2001 lehrt er am College of Divinity in Melbourne. Sein Klassiker „The Austrian Mind" erschien in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte" 1974 im Böhlau Verlag und erhielt dafür den Austrian History Award. 2 0 0 6 . 4 E R G . A U F L . X X X V , 5 0 6 S . S B . M. S U . 1 7 0 Χ 2 4 0 M M . ISBN 978-3-205-77498-3
BÖHLAU V E R L A G , W I E S I N G E R S T R A S S E I , I O I O WIEN. T : + 4 3 ( 0 ) 1 3 3 0 2 4 27-O B O E H L A U @ B O E H L A U . A T , WWW.BOEHLAU.AT | WIEN KÖLN WEIMAR
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Manfried Welan 1 Korruption und Kontrolle. Hg. v. Christian ßrünner. 1981. 726 S. mit 8 Tab. i. Text. Brosch. ISBN 3-205-08457-8 (vergriffen) 2 Unbehagen im Parteienstaat. Jugend und Politik in Österreich. Von Fritz Plasser und Peter A. Ulram. 1982. 208 S., Tab. u. Graph, i. Text. Brosch. ISBN 3-205-08458-6 (vergriffen) 3 Landesverfassungsreform. Hg. v. Reinhard Rack. 1982. 255 S. Brosch. ISBN 3-205-08459-4 (vergriffen) 4 Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse. Von Ernst Bruckmüller. 2. erweiterte Aufl. 1996. 472 S., zahlr. Graph, i. Text. Brosch. ISBN 3-205-98000-X 5 Krise des Fortschritts. Hg. v. Grete Klingenstein. 1984. 172 S„ Graph, i. Text. Brosch. ISBN 3-205-08461-6 (vergriffen) 6 Parteiengesellschaft im Umbruch. Partizipationsprobleme v. Großparteien. Von Anton Kofier. 1985. 132 S„ 58 Tab. Brosch. ISBN 3-205-08463-2 (vergriffen) 7 Grundrechtsreform. Hg. v. Reinhard Rack. 1985. 302 S. Brosch. ISBN 3-205-08462-4 (vergriffen) 8 Aufgabenplanung. Ansätze für rationale Verwaltungsreform. Von Helmut Schattovits. 1988. 220 S. Brosch. ISBN 3-205-08464-0 (vergriffen) 9 Demokratierituale. Zur politischen Kultur der Informationsgesellschaft. Hg. v. Fritz Plasser, Peter A. Ulram u. Manfried Welan. 1985. 291 S., 91 Tab. i. Text. Brosch. ISBN 3-205-08467-5 10 Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel. Hg. v. Wolfgang Manti. 1992. XV, 1084 S. Geb. ISBN 3-205-05379-6 (vergriffen) 11 Flexible Arbeitszeiten. Eine fixe Idee. Von Rudolf Bretschneider, Rupert Dollinger, Joachim Lamel u. Peter A. Ulram. 1985. 133 S., 33 Tab. i. Text. Brosch. ISBN 3-205-08469-1 (vergriffen) 12 Verfassungspolitik. Dokumentation Steiermark. Von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Dietmar Pauger und Reinhard Rack. 1985. 294 S. Brosch. ISBN 3-205-08465-9 (vergriffen) 13 Krisen. Eine soziologische Untersuchung. Von Manfred Prisching. 1986. 730 S„ zahlr. Tab. u. Graph, i. Text. Brosch. ISBN 3-205-08468-3 14 Schweiz - Österreich. Ähnlichkeiten und Kontraste. Hg. v. Friedrich Koja u. Gerald Stourzh. 1986. 279 S. Brosch. ISBN 3-205-08902-2 (vergriffen) 15 Was die Kanzler sagten. Regierungserklärungen der Zweiten Republik 19451987. Von Maximilian Gottschlich, Oswald Panagl u. Manfried Welan. 1989. VI, 325 S. Brosch. ISBN 3-205-08900-6 (vergriffen) 16 Technikskepsis und neue Parteien. Politische Folgen eines „alternativen" Technikbildes. Von Erich Reiter. 1987. 167 S. Brosch. ISBN 3-205-08904-9 (vergriffen) 17 Demokratie und Wirtschaft. Hg. v. Joseph Marko u. Armin Stolz. 1987. 367 S. Brosch. ISBN 3-205-08905-7 (vergriffen) 18 Society, Politics and Constitutions. Western and East European Views. Von Antal Adam u. Hans G. Heinrich. 1987. 212 S. Brosch. ISBN 3-205-08907-3 (vergriffen)
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Manfried Welan
19 USA: Verfassung und Politik. Von Francis H. Heller. 1987. 120 S. Brosch. ISBN 3-205-08906-5 (vergriffen) 20 Umweltschutzrecht. Von Bernhard Raschauer. 2. Aufl. 1988. 304 S. Brosch. ISBN 3-205-05143-2 (vergriffen) 21 Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit. Studien zum Zeitgefühl und Geschichtsbewußtsein des Jahrhunderts nach Augustus. Von Karl Dietrich Bracher. 1987. 348 S. Brosch. ISBN 3-205-08909-X (vergriffen) 22 Das österreichische Parteiensystem. Hg. v. Anton Pelinka u. Fritz Plasser. 1988. 800 S. Brosch. ISBN 3-205-08910-3 (vergriffen) 23 Parteien unter Streß. Zur Dynamik der Parteiensysteme in Österreich, der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten. Von Fritz Plasser. 1987. 344 S. Brosch. ISBN 3-205-08911-1 (vergriffen) 24 Ideologie und Aufklärung. Weltanschauungstheorie und Politik. Von Kurt Salamun. 1988. 142 S. Brosch. ISBN 3-205-05126-2 (vergriffen) 25 Die neue Architektur Europas. Reflexionen in einer bedrohten Welt. Hg. v. Wolfgang Manti. 1991. 332 S. Ln. m. SU. ISBN 3-205-05412-1 26 Die große Krise in einem kleinen Land. Österreichische Finanz- und Wirtschaftspolitik 1929-1938. Von Dieter Stiefel. 1989. X, 428 S. Brosch. ISBN 3-205-05132-7 (vergriffen) 27 Das Recht der Massenmedien. Ein Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Von Walter Berka. 1989. II, 356 S. Brosch. ISBN 3-205-05194-7 (vergriffen) 28 Staat und Wirtschaft. Am Beispiel der österreichischen Forstgesetzgebung von 1950-1987. Von Werner Pleschberger. 1989. 579 S. Brosch. ISBN 3-205-05204-8 (vergriffen) 29 Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates. Von Gerald Stourzh. 1989. XXII, 427 S. Brosch. ISBN 3-205-05218-8 (vergriffen) 30 Geist und Wissenschaft im politischen Aufbruch Mitteleuropas. Beiträge zum Österreichischen Wissenschaftstag 1990. Hg. v. Meinrad Peterlik und Werner Waldhäusl. 1991. 268 S. Brosch. ISBN 3-205-05464-4 31 Finanzkraft und Finanzbedarf von Gebietskörperschaften. Analysen und Vorschläge zum Gemeindefinanzausgleich in Österreich. Hg. v. Christian Smekal u. Engelbert Theurl. 1990. 307 S. Brosch. ISBN 3-205-05237-4 (vergriffen) 32 Regionale Ungleichheit. Von Michael Steiner. 1990. 258 S. Brosch. ISBN 3-205-05281-1 33 Bürokratische Anarchie. Der Niedergang des polnischen „Realsozialismus". Von August Pradetto. 1992. 156 S. Brosch. ISBN 3-205-05421-0 34 Vor der Wende. Politisches System, Gesellschaft und politische Reformen im Ungarn der achtziger Jahre. Hg. v. Sándor Kurtán. Aus d. Ungar. v. Alexander Klemm. 1993. 272 S. Brosch. ISBN 3-205-05381-8
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Manfried Welan
35 Hegemonie und Erosion. Politische Kultur und politischer Wandel in Österreich. Von Peter A. Ulram. 1990. 366 S. Brosch. ISBN 3-205-05346-X (vergriffen) 36 Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780-1848. Von Waltraud Heindl. 1991. 388 S„ 12 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-05370-2 37 Kultur und Politik - Politik und Kunst. Von Manfred Wagner. 1991. 367 S. Brosch. ISBN 3-205-05396-6 38 Revolution und Völkerrecht. Völkerrechtsdogmatische Grundlegung der Voraussetzungen und des Inhalts eines Wahlrechts in bezug auf vorrevolutionäre völkerrechtliche Rechte und Pflichten. Von Michael Geistlinger. 1991. 554 S. Brosch. ISBN 3-205-05414-8 (vergriffen) 39 Slowenien - Kroatien - Serbien. Die neuen Verfassungen. Hg. v. Joseph Marko und Tomislav Boric. 1994. 467 S. Brosch. ISBN 3-205-98283-5 (vergriffen) 40 Der Bundespräsident. Kein Kaiser in der Republik. Von Manfried Welan. 1992. 119 S. Brosch. ISBN 3-205-05529-2 41 Wege zur besseren Finanzkontrolle. Von Herbert Kraus und Walter Schwab. 1992. 167 S. Brosch. ISBN 3-205-05530-6 42 Bruchlinie Eiserner Vorhang. Regionalentwicklung im österreichischungarischen Grenzraum. Von Martin Seger u. Pal Beluszky. 1993. XII, 304 S., 16 S. Farbabb. Geb. ISBN 3-205-98048-4 43 Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich. Von Helmut Wohnout. 1993. 473 S. Brosch. ISBN 3-205-05547-0 44 Die österreichische Handelspolitik der Nachkriegszeit 1918 bis 1923. Die Handelsvertragsbeziehungen zu den Nachfolgestaaten. Von Jürgen Nautz. 1994. 601 S. Brosch. ISBN 3-205-98118-9 (vergriffen) 45 Regimewechsel. Demokratisierung u. politische Kultur in Ost-Mitteleuropa. Hg. v. Peter Gerlich, Fritz Plasser u. Peter A. Ulram. 1992. 483 S., zahlr. Tab. u. Graph. Brosch. ISBN 3-205-98014-X 46 Die Wiener Jahrhundertwende. Hg. v. Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp. 2. Aufl. 1996. 968 S„ 32 S. SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-98536-2 47 Ausweg EG? Innenpolitische Motive einer außenpolitischen Umorientierung. Von Anton Pelinka, Christian Schaller und Paul Luif. 1994. 309 S. Brosch. ISBN 3-205-98051-4 48 Die kleine Koalition in Österreich: SPÖ - FPÖ (1983-1986). Von Anton Pelinka. 1993. 129 S. Brosch. ISBN 3-205-98052-2 (vergriffen) 49 Management vernetzter Umweltforschung. Wissenschaftspolitisches Lehrstück Waldsterben. Von Max Krott. 1994. 325 S. Brosch. ISBN 3-205-98129-4 50 Politikanalysen. Untersuchungen zur pluralistischen Demokratie. Von Wolfgang Manti. 2007. 345 S. Brosch. ISBN 978-3-205-98459-7 51 Autonomie und Integration. Rechtsinstitute des Nationalitätenrechts im funktionalen Vergleich. Von Joseph Marko. 1995. XIV, 550 S. + LXVIII. Brosch. ISBN 3-205-98274-6
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Manfried Welan
52 Grundzüge fremder Privatrechtssysteme. Ein Studienbuch. Von Willibald Posch. 1995. XXVIII, 205 S. Brosch. ISBN 32-205-98387-4 53 Identität und Nachbarschaft. Die Vielfalt der Alpen-Adria-Länder. Hg. v. Manfred Prisching. 1994. 424 S. Brosch. ISBN 3-205-98307-6 54 Parlamentarische Kontrolle. Das Interpellations-, Resolutions- u. Untersuchungsrecht. Eine rechtsdogmatische Darstellung mit historischem Abriß u. empirischer Analyse. Von Andreas Nodi. 1995. 198 S. Brosch. ISBN 3-205-98161-8 55 Alfred Missong. Christentum und Politik in Österreich. Ausgewählte Schriften 1924-1950. Hg. Alfred Missong jr. in Verbindung mit Cornelia Hoffmann und Gerald Stourzh. 2006. 476 S. Geb. ISBN 3-205-77385-3 56 Staat und Gesundheitswesen. Analysen historischer Fallbeispiele aus der Sicht der Neuen Institutionellen Ökonomik. Von Engelbert Theurl. 1996. 302 S. Brosch. ISBN 3-205-98461-7 57 Eliten in Österreich. 1848-1970. Von Gernot Stimmer. 1997. 2 Bde., zus. 1140 S. 38 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-98587-7 58 Frankreich - Österreich. Wechselseitige Wahrnehmung und wechselseitiger Einfluß seit 1918. Hg. v. Friedrich Koja u. Otto Pfersmann. 1994. 307 S., 19 SWAbb. Brosch. ISBN 3-205-98295-9 59 Fahnenwörter der Politik. Kontinuitäten und Brüche. Hg. v. Oswald Panagl. 1998. 351 S. Brosch. m. SU. ISBN 3-205-98867-1 60 Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Auflehnung in Ostmittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Von Richard G. Plaschka. 1999. 2 Bde., 630 + 432 S. 32 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-98390-4 61 Bernard Bolzano. Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frühnationalismus und Restauration. Hg. v. Helmut Rumpler.2000. 423 S. Brosch. ISBN 3-205-99327-6 62 Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der OstWest-Besetzung Österreichs 1945-1955. Von Gerald Stourzh. 5., durchgesehene Aufl. 2005. II, 848 S„ 19 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-77333-0 63 Österreich unter alliierter Besatzung 1945-1955. Hg. v. Alfred Ableitinger, Siegfried Beer und Eduard G. Staudinger. 1998. 600 S. ISBN 3-205-98588-5 64 Evaluation im öffentlichen Sektor. Von Evert Vedung. 1999. XVIII, 274 S. 47 Graphiken u. Tabellen. Brosch. ISBN 3-205-98448-X. 65 Liberalismus. Interpretationen und Perspektiven. Hg. v. Emil Brix u. Wolfgang Manti. 1996. 320 S. Geb. ISBN 3-205-98447-1 (vergriffen) 66 Herbert Stourzh - Gegen den Strom. Ausgwählte Schriften gegen Rassismus, Faschismus und Nationalsozialismus 1924-1938. Hg. Gerald Stourzh. 2008. 186 S. Br. ISBN 978-3-205-77875-2 67 Die Universität als Organisation. Die Kunst, Experten zu managen. Von Ada Pellert. 1999. 346 S. m. 5 S. SW-Abb. Brosch. ISBN 3-205-99080-3 68 Gemeinden in Österreich im Spannungsfeld von staatlichem System und lokaler Lebenswelt. Hg. v. Doris Wastl-Walter. 2000. 248 S. 18 Graph. 17 Karten. 71 Tab. 1 Faltk. Brosch. ISBN 3-205-99212-1
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Manfried Welan
69 Noch einmal Dichtung und Politik. Vom Text zum politisch-sozialen Kontext, und zurück. Hg. v. Oswald Panagl und Walter Weiss. 2000. 462 S. Brosch. ISBN 3-205-99289-X 70 Politik, Staat und Recht im Zeitenbruch. Symposion aus Anlaß des 60. Geburtstags von Wolfgang Manti. Hg. v. Joseph Marko und Klaus Poier. 2001. 197 S. mit 3 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-99259-8 71 Qualitätssicherung und Rechenschaftslegung an Universitäten. Evaluierung universitärer Leistungen aus rechts- und sozialwissenschaftlicher Sicht. Von Eva Patricia Stifter. 2002. 410 S. Brosch. ISBN 3-205-99317-9 72 Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur. Von Peter Claus Hartmann. 2001. 510 S. mit zahlr. SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-99308-X 73 Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht. Rechts- und politikwissenschaftliche Überlegungen zu Fragen des Wahlrechts und der Wahlsystematik. Von Klaus Poier. 2001. 379 S. 18 Tab. 8 Graph. Brosch. ISBN 3-205-99338-1 74 Rechtsentwicklung im Bannkreis der europäischen Integration. Von Hubert Isak. Brosch. ISBN 3-205-99326-8. In Vorbereitung. 75 Gigatrends. Erkundungen der Zukunft unserer Lebenswelt. Hg. v. Franz Kreuzer, Wolfgang Manti und Maria Schaumayer. 2003. XII + 339 S. m. 13 SW-Abb. und 2 Tab. Geb. ISBN 3-205-98962-7 76 Autonomie im Bildungswesen. Zur Topographie eines bildungspolitischen Schlüsselbegriffs. Von Walter Berka. 2002. 213 S. Brosch. ISBN 3-205-99309-8 77 Hochschulzugang in Europa. Ein Ländervergleich zwischen Österreich, Deutschland, England und der Schweiz. Von Elisabeth Hödl. 2002. 227 S. Brosch. ISBN 3-205-99421-3 78 Forschung und Lehre. Die Idee der Universität bei Humboldt, Jaspers, Schelsky und Mittelstraß. Von Hedwig Kopetz. 2002. 137 S. m. 4 SW-Abb. Brosch. ISBN 3-205-99422-1 79 Europäische Kulturgeschichte: gelebt, gedacht, vermittelt. Von Manfred Wagner. 2009. Ca. 690 S. Geb. ISBN 978-3-205-77754-0 80 Kultur der Demokratie. Festschrift für Manfried Welan zum 65. Geburtstag. Hg. von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Alfred J. Noll und Werner Pleschberger. 2002. 383 S. m. zahlr. Tab. und 1 SW-Abb. Geb. ISBN 3-205-77005-6 81 Okkupation und Revolution in Slowenien (1941-1946). Eine völkerrechtliche Untersuchung. Von Dieter Blumenwitz. 2005. 162 S. Brosch. ISBN 3-205-77250-4 82 Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union. Hg. von Wolfgang Manti, Sonja Puntscher Riekmann und Michael Schweitzer. 2005. 185 S. Brosch. ISBN 3-205-77127-3 83 Art goes law. Dialoge zum Wechselspiel zwischen Kunst und Recht. Hg. von Dietmar Pauger. 2005. 269 S. mit 9 SW-Abb. Brosch. ISBN 3-205-77128-1 84 Direkte Demokratie. Von Klaus Poier. In Vorbereitung
Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner, Wolfgang Manti, Manfried Welan
85 Hochschulrecht - Hochschulmanagement - Hochschulpolitik. Symposion aus Anlass des 60. Geburtstages von Christian Brünner. Hg. von Gerhard Schnedl und Silvia Ulrich. 2003. 258 S. m. 7 Graph, und 5 Tab. Geb. ISBN 3-205-99468-X 86 Das zerrissene Volk. Slowenien 1941-1946. Okkupation, Kollaboration, Bürgerkrieg, Revolution. Von Tamara Griesser-Pecar. 2003. 583 S. Geb. ISBN 3-205-77062-5 87 Zur Qualität der britischen und österreichischen Demokratie. Empirische Befunde und Anregungen für Demokratiereform. Von E. Robert A. Beck und Christian Schaller. 2003. XXII + 620 S. mit zahlr. Tab. Brosch. ISBN 3-205-77071-4 88 Die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Aufgaben, Rechtsstellung, Organisation. Von Hedwig Kopetz. 2006. XX + 457 S. mit 8 SW-Abb. Brosch. ISBN 3-205-77534-1 89 Raumfahrt und Recht. Faszination Weltraum. Regeln zwischen Himmel und Erde. Hg. von Christian Brünner, Alexander Soucek und Edith Walter. 2007. 200 S. mit zahrleichen Abb. in SW und Farbe. Brosch. ISBN 978-3-205-77627-7 90 Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Manti zum 65. Geburtstag. Hg. von Hedwig Kopetz, Joseph Marko und Klaus Poier. 2004. XXIV + 700 S., X + 1000 S. mit zahlr. Tab., Graph, und Abb. 2 Bde. Geb. im Schuber. ISBN 3-205-77211 -3 91 Nationales Weltraumrecht. National Space Law. Development in Europe - Challenges for Small Countries. Hg. von Christian Brünner und Edith Walter. 2008. 231 S. mit zahlreichen Abb. Brosch. ISBN 978-3-205-77760-1 93 Karl Lueger (1884-1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Von John W. Boyer. Aus dem Englischen übersetzt von Otmar Binder. 2009. 595 S. mit 19 SWAbb. Geb. ISBN 978-3-205-78366-4 94 Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs. Von William M. Johnston. Bearbeitet von Josef Schiffer. 2009. 384 S. Geb. ISBN 978-3-205-78298-8 95 Funktionen des Rechts in der pluralistischen Wissensgesellschaft. Festschrift für Christian Brünner zum 65. Geburtstag. Hg. von Silvia Ulrich, Gerhard Schnedl und Renate Pirstner-Ebner. Gesamtredaktion: Andrea Lauer. 2007. XXIV + 696 S. Geb. ISBN 3-205-77513-9 97 Demokratie im Umbruch. Perspektiven einer Wahlrechtsreform. Hg. von Klaus Poier. 2009. 329 S. mit zahlreichen Tab. Brosch. ISBN 978-3-205-78434-0
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2003, 170 χ 240 mm. 456 S. Franz. Br. ISBN 978-3-205-77124-1 2 I FRIEDRICH HEER EUROPA: REBELLEN, HÄRETIKER U N D REVOLUTIONÄRE. AUSGEWÄHLTE
ESSAYS
Hg. von Johanna Heer. 2003, 170 χ 240 mm. 184 S. Franz. Br. ISBN 978-3-205-77123-4 3 I FRIEDRICH HEER EUROPÄISCHE
GEISTESGESCHICHTE
Hg. von Sigurd Paul Scheichl und Johanna Heer. 2004, 170 χ 240 mm. 750 S. Franz. Br. ISBN 978-3-205-77266-8 4 I FRIEDRICH HEER EUROPA - MUTTER DER REVOLUTIONEN Hg. von Alfred Pfablgan. 2004, 170 χ 240 mm. 2004, 1048 S. Franz. Br. ISBN 978-3-205-77264-4
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FRIEDRICH H E E R
D E R K A M P F UM DIE Ö S T E R R E I C H I S C H E IDENTITÄT „Verglichen mit dem, was Österreich war, sind wir jetzt provinziell. Wittgenstein, Freud, alles Produkte der Kaiserzeit. Danach kam nur noch Friedrich Heer." (Bruno Bettelheim in den Salzburger Nachrichten vom 10.9.1991) „Der geniale Friedrich Heer, ein rückwärts gewandter Prophet, der im eigenen Land nichts galt; mit diesem Buch schrieb er einen Ariadnefaden durch das Labyrinth der verhängnisvollen österreichischen Geschichte: der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts." (Gerhard Roth, 2000) Lange bevor die Diskussion um „kulturelle Identitäten" eingeläutet wurde, hat einer der bedeutendsten österreichischen Kulturhistoriker, Friedrich Heer, die Frage nach einem „Österreichbewusstsein" gestellt. Entstanden ist dabei ein Opus magnum, das 1000Jahre österreichische Geschichte, von der Begründung der Mark bis zur Zweiten Republik, unter spezifisch geistes- und kulturgeschichtlichen Aspekten vor uns abrollen lässt. Friedrich Heer leistet dabei Pionierarbeit zu politischen Psychologie ebenso wie zur Erkundung der „österreichischen Krankheit", die ein einer prolongierten Identitätskrise besteht. Der Verfasser der „Europäischen Geistesgeschichte" fuhrt die die „österreichische Idee" auf den Prüfstand der Geschichte. 3. AUFLAGE 2001, 17 X 24 CM. 564 S. BR. ISBN 978-3-205-99333-9
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MARGARET STONBOROUGHWITTGENSTEIN B A U H E R R I N , INTELLEKTUELLE, MÄZENIN
Margaret Stonborough, die Schwester des Philosophen Ludwig Wittgenstein, hatte bereits seit ihrer Jugend einen großen intellektuellen Einfluss auf ihren Bruder ausgeübt. Als gefeierte Fin-de-Siècle-Schônheit von Gustav Klimt anlässlich ihrer Verlobung 1904/05 porträtiert, macht sie sich selbst als Sammlerin und Mäzenin um die österreichische Moderne verdient. Sie vergab zahlreiche Aufträge an die Wiener Werkstätte, veranlasste den Ausbau der Villa Toscana in Gmunden und initiierte den Bau des Palais Wittgenstein in Wien, wo ihr Salon zu einem der Zentralisationspunkte österreichischen Geisteslebens wurde. Bedeutend ist auch ihr soziales Engagement, insbesondere ihre Organisation einer amerikanischen Hilfsmission zugunsten hungerleidender Wiener Kinder. In der NS-Zeit verhalf sie zahlreichen Wiener Juden, unter anderen Sigmund Freud, zur Flucht, bis sie schließlich selbst zur Emigration gezwungen wurde. Nach Kriegsende wieder nach Osterreich zurückgekehrt, konnte sie während der Ungarnkrise 1956 zum letzten Mal ihr soziales Engagement einbringen und starb 1958 in Wien. 2005. 284 S. GB. 155 X 235 MM. 2. VERB. U. ERG. AUFL. 20 S / W - A B B . , 4 S. FÄRB. ABB. [ ISBN 978-3-205-77069-5
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KARLHEINZ R O S S B A C H E R
LITERATUR U N D B Ü R G E R T U M FÜNF WIENER JÜDISCHE FAMILIEN VON DER LIBERALEN ÄRA ZUM FIN DE SIÈCLE LITERATUR UND LEBEN, NEUE FOLGE 64
Das Buch verbindet Literatur- und Kulturgeschichte mit Biographien aus fünf Wiener Familien: Wertheimstein, Gomperz, Todesco, Auspitz und Lieben. Ihr Großbürgerstatus war in Wirtschaft, Bankwesen, Wissenschaft und parlamentarischer Politik verankert. Ihnen entstammten wichtige Träger der Modernisierungsprozesse in Osterreich, vor allem aber auch des zeitgenössischen Literatur- und Kulturlebens in Wien. Aufklärung und ästhetische Bildung waren lebensprägend und sicherten die Assimilation. Am Beispiel dieser Familien werden, gleichsam in einer Nussschale, wesentliche ideen- und sozialgeschichtliche Strömungen und Phänomene nach 1848 dargestellt. 2003, 17 X 24 CM. 6 6 4 S. 44 S / W - A B B . , 8 FARBTAF., GB. ISBN 978-3-205-99497-8
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