Der Sprechchor in der Schule [Reprint 2019 ed.] 9783486764642, 9783486764635


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German Pages 140 [148] Year 1932

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Table of contents :
Inhalt.
I. Kapitel: Zur Geschichte des Sprechchors
II. Kapitel: Das Problem des Sprechchors in Gegenwart und Schule
III. Kapitel: Zur Praxis des Sprechchors in der Schule
IV. Kapitel: Sammlung chorischer Dichtungen für die Schule
Verzeichnis der Dichtungen
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Der Sprechchor in der Schule [Reprint 2019 ed.]
 9783486764642, 9783486764635

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Hans Belstler - Dr. Paula Stolz

Der Sprechchor in der Schule

KE

19 3 2 Verlag R.Oldenbourg, München und Berlin

Inhalt. Seite

I. Kapitel:

Zur Geschichte des Sprechchors

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II. Kapitel: Das Problem des Sprechchors in Gegenwart und Schule........................................................................ 19 Literaturverzeichnis..................................................36 III. Kapitel: Zur Praxis des Sprechchors in der Schule

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IV. Kapitel: Sammlung chorischer Dichtungen für die Schule

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Zur Geschichte des Sprechchors. Ist der Sprechchor nur eine vorübergehende Zeiterscheinung, eine flüchtige Modelaune? In diesem Fall hätte seine Pflege in der Schule geringe Berechtigung, da diese — an der andrängen­ den überfülle des Stoffes wie der Methoden gleicherweise lei­ dend — sich in ihrem Bildungsgut streng auf das wahrhaft und lebendig Bildende beschränken muß. Weil aber solch gestaltende Kraft nur einer einwandfreien, hochwertigen Materie oder Me­ thode möglich ist, werden wir, von der pädagogischen Zielsetzung her, zunächst zurückgewiesen auf die Frage der historischen und künstlerischen Berechtigung des Sprechchors, weiterhin vielleicht auf das Wesen der Chordichtung überhaupt. Diese erweiterte, aber sachlich notwendige Problemstellung soll in einem gedrängten historischen Überblick einigermaßen eine Beantwortung finden, dergestalt, daß wir — in solcher Rückschau das Wesen chorischer Dichtung erkennend — uns vor Entgleisungen bewahren, die heute besonders bei der Auswahl „sprechchorischer" Dichtungen gemacht werden und die, weil sie künstlerisch unberechtigt sind, notwendig auch pädagogisch wirkungslos oder sogar von negativer Wirkung sein müssen. Chorische Dichtung ist uralt und in den Anfangszeiten eines Volkes von besonderer Bedeutung, weil ihr hier eine tief ins Leben wirkende kultische Aufgabe zufiel. Leider ist uns von dieser Dichtung aus der althochdeutschen Zeit nichts erhalten geblieben als das Zeugnis der lateinischen Schriftsteller über ihr Vorhanden­ sein. Der Mangel an schriftlicher Überlieferung aber ist begreif­ lich, da gerade die chorische Dichtung — im Gegensatz zur epischen — Volksdichtung im wahrsten Sinne des Wortes war, die sich mündlich von Geschlecht zu Geschlecht lebendig fortpflanzte. Und so allerdings haben wir heute letzte Überreste von ihr dennoch er­ halten in alten Volksbräuchen und »liebem bei Frühlings- und

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Sonnwendfesten, beim Hochzeitsreigen und ähnlichem. Wie aber war ihre ursprüngliche Gestalt? Mit Ausnahme einiger Schlachtund Preislieder episch-historischen Inhalts, in denen die Ger­ manen ihre Sieger feierten, ohne Zweifel lyrisch. Dies nach­ drücklich festzustellen, ist wichtig, da man heute vielfach in einer völlig einseitigen und falschen Auffassung in der Lyrik nur die subjektive Gefühlsäußerung sieht. Es gab aber von jeher eine Gemeinschaftslyrik, eine Lyrik des öffentlichen Lebens könnte man sagen, die sich vor allem an sakrale Handlungen knüpfte. Für die Gottesdienste und für feierliche Umzüge zu Ehren einer Gottheit (wie es die Fahrt des Nerthuswagens z. B. war), gab es ebenso Chorgesänge, wie für Leichenfeiern und Hochzeitsfeste. Anrufungen der Gottheit, Ausbrüche der Trauer oder des Jubels waren diese Dichtungen im wesentlichen eine hymnische Lyrik, strophisch gegliedert, im Gegensatz zur stichischen Form des Epos und eng noch mit Musik verbunden. Wieder auf indirektem Wege, durch die noch erhaltenen Verbote der Geistlichkeit nämlich, er­ fahren wir, mit welcher Zähigkeit das Volk an dieser Dichtung festhielt. In seltsamer Mischung christlichen und heidnischen Glau­ bens sang es noch lange beim und selbst im Gotteshause diese Chorlieder und tanzte die Reihen. Der offizielle Kult der neuen Kirche aber brach bewußt und notwendigerweise mit der volks­ tümlichen Überlieferung und schuf seine Chöre nach dem Vorbild der Antike. Diesen Zusammenhang zwischen dem antiken Drama und dem kirchlichen Meßopfer haben nicht bloß Max Burkhardt und Du Msrilnachgewiesenem einem Aufsatz der Ecclesia Orans, deren Herausgeber der Abt von Maria Laach ist, findet man ihn aufs neue bestätigt? Man ersieht daraus, welche wichtige Stel­ lung die chorische Dichtung im religiösen Kult von jeher einnahm und erkennt ihren im letzten Grund sakralen Charakter. In den Chören der Dionysosmysterien sah Nietzsche den Ursprung der griechischen Tragödieb, unfo wiederum entwickelt sich auch das deutsche Drama des Mittelalters aus chorischen Elementen: Aus den kirchlichen Wechselgesängen des Geistlichen und der Gemeinde. Der Urkeim der Osterspiele war eine Wechselrede zwischen den drei Marien und den Engeln am Grabe, die ursprünglich von zwei Halbchören in lateinischer Sprache gesungen wurde? Langsam erweitert sich durch Einfügung von Einzelreden das Chorspiel zum Drama, doch ist ohne Chöre das ganze Mttelalter hindurch ein Schauspiel nicht denkbar. Ihrem ritualen Cha-

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tastet entsprechend erhält sich in ihnen die lateinische Sprache am längsten, trotzdem bricht sich das Deutsche auch hier mehr und mehr Bahn, bis wir in der „Susanna" von Sixt 99ir!5 und dem gleichnamigen Stück von Rebhuhn, ebenso in einem Drama von Kolros, von Joachim ©reff und einigen andern nur mehr deutsche Chöre haben. Die letztgenannten Dichtungen gehören bereits dem Humanismus an. Aber auch im Ordensdrama der Jesuiten und der Benediktiner, das als ausgesprochenes Schul­ drama für uns von besonderem Interesse ist, gleiten, soweit diese Stücke überhaupt deutsch geschrieben sind, die Chöre aus den lateinischen Anfangszeilen sogleich ins Deutsche hinüber. Maß­ gebend für ihre Stellung innerhalb des Dramas war hier, wie natürlich noch mehr im Humanistendrama, das Beispiel, das Reuchlin in feinem Henno gab, in welchem Drama er die Chöre an die Aktschlüsse setzte. Diese neue Art ihrer Verwendung reicht dann bis zu Andreas Gryphius und dem schlesischen Kunstdrama, bei dem die „Rehen", wie hier die Chöre genannt werden, „das spirituelle Gerüst für die materiellen Vorgänge im ©tüd" bilden und „den Sinn des Geschehenen enthüllen"/ Es ist aber zu spüren, wie hier das Chorische aus seiner zen­ tralen Stellung bereits verdrängt und aus dem Kernpunkt der Handlung gerückt zu einem formalen Prinzip geworden ist, das dem Aufbau des Stückes, seiner Einteilung in Akte eben, dient. Im großen und ganzen kann man sagen: Das chorische Element in der Dichtung verschwindet zunächst mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Kultur. Ja, mit Notwendigkeit, darf weiter behauptet werden, muß es in dem jetzt folgenden Jahrhundert, der ersten entscheidenden Epoche des beginnenden Individualis­ mus, ausgelöscht werden. Tendenz und Satire — Kräfte, die im Kernpunkt ihres Wesens isolierend, achorisch sind — beherr­ schen vollständig die dramatische Kunst. Und schärfer könnte nichts den nun einsetzenden Subjektivismus beleuchten als die Entwick­ lung, die jetzt selbst die religiöse Lyrik auf dem Gebiet des pro­ testantischen Kirchenliedes nimmt. Luthers Lieder noch sind chorisch, fast durchweg im Wir-Ton gehalten: „Nun bitten wir den heiligen Geist..." „Ein feste Burg ist unser Gott..." „Jesus Christus unser Heiland ..." „Wir glauben all an einen Gott..." Paul Gerhards Lieder daneben gestellt, zeigen die Einzelseele einsam vor ihrem Schöpfer: „Sollt ich meinem Herrn nicht fingen ..." „Wie soll ich Dich empfangen ..." l*

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„Befiehl du deine Wege..." „Ich will hier bei dir stehen." Die Frage drängt sich auf, ob von da an, seit dem Beginn der Neuzeit, chorische Dichtung überhaupt noch entstehen konnte. Mehr und mehr fehlt ihr der Nährboden einer einheitlichen Kul­ tur und gemeinsamen Weltanschauung, mehr und mehr auch die Lebenslust, jene Atmosphäre der Öffentlichkeit, der Gemein­ schaftlichkeit der Straße und des Marktes könnte man sagen, wie wie sie die mittelalterliche Stadt mit ihren Feiern, Festen und Aufzügen in noch ganz anderem Maße besaß wie die heutige. Denn daraus vor allem, aus der „geselligen Festlichkeit des Han­ delns und Leidens", wie August Wilhelm Schlegel es schön sogt7, war einmal auch die gewaltige Chordichtung der Griechen er­ wachsen. Erstaunlich ist es und das Zeichen vielleicht eines tief ge­ gründeten Verlangens, wenn trotz dieser fehlenden Voraussetzun­ gen der Gedanke einer chorischen Dichtung innerhalb der deut­ schen Literatur nicht verloren ging. Und nicht einmal die Tat­ sache einer neuen Einheit unseres Volkes erweckte ihn wieder. Lediglich die Sehnsucht danach und das erste aufkeimende Hoffen auf ihre endliche Erfüllung im Zeitalter Friedrichs des Großen zeitigten in Klopstocks Hermannsschlacht^ ein Chordrama im wahrsten Sinne dieses Wortes. Als solches stellt es einen uner­ hört neuen und groß gedachten Versuch dar, da es völlig aus lyrischem Chorgesang erwächst und seine ganze Handlung auf den Chor gründet, den Bardenchor nämlich, der mithandelnd in den Dialog einbezogen wird und sich gelegentlich auch in eine bewegte Vielheit auflöst. So innig teilnehmend, ist er über Re­ flexion und Betrachtung hinaus leidenschaftlich erschüttert, seine Form ist dithyrambisch nach Klopstocks eigenem Ausdruck. Tief bedauerlich, daß dieses Drama das Schicksal seiner übrigen Werke teilt und durch teilweise Breite und Überschwänglichkeit uns un­ zugänglich geworden ist. Denn mit dieser Dichtung, in welcher er im letzten Grunde „das deutsche Volk symbolisch im Chor er­ scheinend als Held anführt", war Klopstock seinem nicht niedrig gesteckten Ziel nahegekommen: Nationale Schauspiele zu schaf­ fen, „welche sich an alle Deutschen wenden sollten"? Von da an sind Versuche in chorischer Dichtung sehr häufig, aber keiner reicht zunächst an Klopstock mit einer ähnlich lebendigen Zielsetzung heran. Was Herder, Wieland und Maler Müller an-

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streben, gehört ohnedies zur Hälfte in das Gebiet des Singspiels und der Oper. Interessanter ist die Behandlung der Chöre in zwei späten Dramen Klingers, die rein sprechchorisch gedacht sind und zudem — ein fesselndes, schon in die Gegenwart weisendes Moment — die Verwandlung der bloßen „Masse" des Sturm­ und Drangdramas zum einheitlichen, geschlossenen Volk zeigen?" Unter den „Schauspielen mit Chören" der Brüder Stolberg ist der „Theseus" des Friedrich Leopold von Stolberg mit (einem gegeneinander wogenden Doppelchor von Männern und Frauen das weitaus bedeutendste. Im wirkungsvollen dramatischen Auf­ bau ist dieses Schauspiel der unmittelbare Borläufer von Schillers Staut von Messina, am nächsten ihm verwandt durch die enge Anlehnung an die antike Chordichtung. Denn darüber besteht kein Zweifel: Trotz der als unantik getadelten Teilung des Chors in zwn sich befehdende Halbchöre bei Schiller, ist doch seine und Goettes gesamte Bemühung um eine große chorische Dichtung auf das gewaltige, noch immer unerreichte Vorbild der Antike zurüchuführen. Wieder — wie schon einmal in der Renaissance — irrte He nie ruhende Sehnsucht des Deutschen in eine ferne Zeit und za einem fremden Volk, um dort das zu finden, was seiner eigenm Natur je und je so traurig schwer fiel: Den schön ge­ stalteten Ausdruck, die darstellbare Form eines gemeinsamen Denkms und Fühlens. Es ist keine Untreue gegen das eigene Volk, was dem zugrunde liegt, sondern ein ergreifendes Ringen um ear fast Versagtes und doch schmerzlich als notwendig Erkanntcs. Welcher Franzose oder Italiener hat sich in gleichem Maße bemüht, das Wesen des griechischen Chors zu ergründen, wie damals August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen! Und welcher Dichter einer anderen Nation hat so mit dem Genirs der eigenen wie der fremden Sprache um möglichste Annäierung und doch Wahrung des eigenen Wesens gerungen wie Hölderlin in seinen Sophokles-Übersetzungen, in denen er uns tine Ahnung von der Wucht und Großartigkeit antiker Chöre schenkte. Auch Schillers und Goethes Versuche bedeuten ein langes und hngegebenes Ringen mit der gestellten Aufgabe. Der Braut von Nessina geht bei Schiller das Malteser Fragment voraus, das dm Chor in der gleichen Weise verwendet hätte, wie das späte« Drama es tatsächlich tat und seine berühmte Abhandlung über len Chor es theoretisch oerlangte.11

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Ebenso führt eine ganze Reihe nicht verwirklichter Pläne (Elpenor, Prometheusdrama, Zwischenaktchöre zur Tankredüberfetzung) bei Goethe schließlich zu den Chören der Helena­ tragödie im Faust. Chorisch zu einem großen Teil gestaltet er dann auch die Festspiele: Pandora, Des Epimenides Erwachen: An sich ein überaus glücklicher Gedanke; denn wo hätte der Chor, der — wie wir sahen — aus der Gemeinsamkeit des Feiems entspmngen war, eine bessere Berechtigung als im Festspiel! Leider aber öffnet sich hier die schmerzliche, nie überbrückte Kluft: Gerade das Schauspiel, welches das endlich zur Einheit erwachte deutsche Volk der Befreiungskriege feiern sollte, war diesem selben Volk fremd und unzugänglich von Anfang an. Wie der Epimenides nicht von des Dichters eigenstem Erleben durchflutet war, blieb er — einer naturhaft unbetrügbaren Gerechtigkeit folgend — blasse Allegorie, unfähig zum gläubig aufgenommenen, leben­ dig wirkenden Symbol sich zu entwickeln. In ganz anderem Maße, innerlichst verbunden, wäre Goethe einem Feierspiel ge­ wesen, das seinem größten, damals schon gestorbenen Freund ge­ golten hätte. Die kurzen Entwürfe, wie die uns erhaltene graphi­ sche Skizze zu „Schillers Totenfeier" zeigen, welch großen Anteil das chorische Element an dem Stück gehabt hätte. Das Magnifikat, der geplante Endchor als Krönung der zu ihm hindrängen­ den Wechselchöre wäre vielleicht in diesem leider nie ausgeführten Werk von ähnlich ergreifender Wirkung gewesen, wie die Schluß­ chöre im Faust. Diese aber und die verstreuten Chöre im ersten Teil des Faust sind es, die heute von Goethes gesamter chorischer Dichtung unstreitig die größte Wirkung auf uns ausüben. Es sind bezeich­ nenderweise alle jene Stellen, die unabhängig vom antiken Vor­ bild und Versmaß gehalten, in einem häufig sogar stark bewegten Rhythmus eine Stimmung hervorzaubern, Stimmen erklingen lassen aus dem ober- und unterirdischen Bereiche, sprachgewordene Töne der großen kosmischen Welt, die hier ins menschliche Dasein einfluten. Diese Chöre, die ohne fremden Einfluß zutiefst aus dem rhythmischen Gesetz und Sprachmelos der eigenen Sprache erwachsen sind, sind wohl gerade deshalb von solch starker Wirkung: Eine neue fruchtbare Möglichkeit zu chorischer Gestal­ tung, die freilich nur ein großer Dichter wird meistern können. Gleichfalls unabhängig von der antiken Überlieferung aber sind noch zwei andere Versuche zur Verwendung des Chores im

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Drama: Zunächst im Robert Guiskard von Kleist ein ganz neu­ artig gestalteter, jedenfalls vielstimmig gedachter, erregt durch­ einander wogender Chor. „Volk jeden Alters und Geschlechts", „Bott in unruhiger Bewegung" heißen die sehr bezeichnenden szenischen Anweisungen. Liegt hier die Bedeutung auf der dra­ matischen Bewegtheit und — wie Roedemeyers Abhandlung erkennen läßt12 — fast symphonischen Anordnung des Chors, so wird dieser noch einmal völlig anders verwendet in Brentanos heute fast vergessenem Schauspiel: Libussa oder die Gründung Prags. Daß das chorische Element bei Clemens Brentano bisher völlig übersehen wurde, ist verwunderlich, da es bei ihm nicht nur verhältnismäßig häufig, sondern mit ebensoviel Ursprüng­ lichkeit wie Eigenart auftritt. Kaum ein Dichter sonst war so sehr auf den Klang der Sprache eingestellt und in gleichem Maße dafür begabt wie er. Freude, am Klang und Widerklang lassen ihn in sehr vielen seiner Gedichte den Refrain benützen. Sobald nun die wiederkehrende Berszeile sich zur Strophe ausweitet und diese sich dann als gleichbleibende Zwischenstrophe zwischen die andern schiebt, drängt sie von selbst zu chorischer Wiedergabe und ist vielfach vom Dichter auch chorisch gewollt, wie in der klangschönen, stimmungshaften Chorstrophe des Gedichtes: An den Mond. In ähnlicher Weise auf Lautwirkung gestimmt sind nun auch viele Stellen in dem oben erwähnten Drama, das von zahlreichen Chören durchsetzt ist. Dazu aber kommt noch ein anderes. Aus seiner genauen Kenntnis und nahen Beziehung zur Volks­ dichtung heraus war Brentano der Zugang zum innersten Wesen des Chorischen ganz ohne Umweg über die Antike möglich. Pro­ grammlos, unbewußt läßt er in seinem Drama jene uralten Ele­ mente wieder aufleben in den Chören beim Opferfest und beim Brautfest und dann vor allem in dem auf einen sehr bekannten Bottsbrauch sich beziehenden, auf das Todaustreiben im Früh­ ling nämlich: „Marzana, Marzana! Wir treiben dich aus. Der Tod ist versunken Im Wogengebraus! Wir trieben den Winter, Den Tod aus dem Haus. Nun reicht uns der Frühling Den blühenden Strauß."

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Brentanos Beispiel fand so wenig eine Nachahmung und Fort­ setzung wie die von Schiller, Goethe und Kleist gegebenen. Alle diese Keime, jeder für sich schon fruchtbar und dann doppelt durch die Verschiedenheit vom anderen, erstarrten in der folgenden Epoche des Individualismus, der jetzt erst mit der Wucht der völligen Einseitigkeit und Ausschließlichkeit einsetzt. Denn es ist doch nicht so, daß von der Renaissance bis heute dieser Prozeß sich in einer geradlaufenden Linie vollzogen hätte. Ganz im Gegenteil stellen die damalige Jahrhundertwende und die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts noch einmal einen großen und wunderbaren Versuch dar, aus der Vereinzelung zur Gemeinschaft zurückzufinden, mag dieser Versuch nun im Sinn unserer klas­ sischen Dichter aus dem Humanitätsideal entsprungen sein oder mit den Romantikern an die Wiederherstellung einer einheitlichen Religion und eines einheitlichen Volkstums geglaubt haben. Beide Ideenwelten zusammen: Welcher Reichtum! Unerschöpft bis heute und — wie wir glauben — noch immer Zukunft wei­ send, damals aber trotz allem in dem einen Punkt nicht stark genug: Die fortschreitende Jndividualisation aufzuhalten. Diese Entwicklung, oft genug und nach allen Richtungen hin geschildert, kann hier nur auf dem Gebiet der Dichtung und auch hier bloß in einigen wenigen Schlaglichtem beleuchtet werden. Man vergleiche aber einmal Grillparzers Libussadrama mit demjenigen Brentanos, um zu erkennen, daß das, was hier noch einen Volksmythos darstellt, dort zu einem bloßen psychologi­ schen Problem geworden ist, in seiner Anlage kreisend um die Pole von Mann und Frau, von Gerechtigkeit — Ordnung und Liebe — Freiheit, aber eben doch fast ohne Beziehung und Ziel­ setzung mehr zum Wesen der großen Gemeinschaft Volk. Und so wenig wie bei Grillparzer bleibt ein Platz für das chorische Element in den Dramen Hebbels, Grabbes und Büchners und ebensowenig int Gebiet der reinen Lyrik. Auf der Suche nach chorisch gestaltbaren Stoffen aus dem vorigen Jahrhundert bietet sich uns heute am ersten immer Konrad Ferdinand Meyer dar. Grund dafür aber ist seine rückwärts in die Renaissance ge­ wendete Geistesrichtung und seine von hier aus bestimmte Formgebung13, während dagegen Gottfried Keller, der lebendiger in seiner eigenen Zeit Haftende, sich solchem Suchen und Versuch durchaus entzieht. Und Nietzsche schließlich konnte wohl in einer großartigen Vision den chorisckien Kult der alten Griechen er-

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kennen und deuten, indes seine eigene Lyrik den Gipfelpunkt des seine Einsamkeit sogar deutlich betonenden Individualismus darstellt, wie übrigens in gleichem Maße seine Lehre vom Über­ menschen. Der Gedanke gerade an die an diese Lehre anknüpfende Richtung unserer Literatur ruft den Naturalismus als Gegenpol ins Bewußtsein und damit die Frage, ob hier nicht schon die er­ sten Ansätze einer Gemeinschaftsdichtung (wenn auch noch nicht chorischen Dichtung) zu suchen seien. Was aber bedeutete der Naturalismus? Menschlich sicherlich mehr als künstlerisch: Er­ wachendes Erkennen und Gewissen. Dies Erkennen aber geschah doch von außen, vom Bürgertum her, war kein Aufstöhnen aus eigener Not, kein Schrei nach etwas einem selbst Versagten. Es war mehr Betrachtung als Erleben, und es wurde: Beschreibung — als solche noch dazu behaftet mit dem Streben nach peinlicher Genauigkeit der Darstellung — ins Einzelne sich verlierende Milieuschilderung, recht eigentlich Kammerspielkunst, weit ab vom großen kultischen Drama liegend. Ws einzige Ausnahme wird man Gerhard Hauptmanns Weber gelten lassen können, bis zu einem gewissen Grade; denn formal bewegen sie sich durch­ aus im vorhergehenden Dramenstil. So taucht, ohne unmittelbar vorausgegangene Entwicklung, nach dem Weltkrieg plötzlich der Sprechchor auf: eine scheinbar völlig neuartige, im Grunde uralte künstlerische Ausdrucksform. Seine neuen Anfänge sind heute noch unübersichtlich und schwer festzustellen. Doch zeigt die erste Literatur darüber, größten­ teils aus den Jahren 1924/25 stammend, bereits zwei Rich­ tungen der Bewegung, die ästhetisch-tendenzlose auf der einen, die politisch-tendenziöse auf der anderen Seite. Die Namen Mönckeberg und Leyhausen kennzeichnen am klarsten die erste Gruppe und widerlegen die Anschauung, nach welcher der Sprech­ chor eine völlige Neugeburt und einzig das Kind unserer modern­ sten Zeit sei, indem Vilma Mönckeberg häufig antike Chöre und ehemals lateinische Responsorien benützt, während Leyhausen sich um die Wiederbelebung der Dramen des Aischylos auf Ber­ liner Bühnen bemüht. Freilich wird man sofort fragen: Ist ihre Arbeit am Sprechchor die für unsere Zeit letztlich charakte­ ristische und entscheidende? — Und man wird zugeben müssen, daß die größere Wirkungskraft durchaus auf seiten der proletari­ schen Sprechchöre liegt. In den proletarischen Morgenfeiern in Berlin, auf Tagungen wie dem Jugendtag der sozialistischen

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Arbeiterjugend in Hamburg oder der Arbeiterkulturwoche in Leip­ zig im August 1926, auf der Schönlanks Sprechchorspiel „Groß­ stadt" zur Aufführung gelangte: bei all diesen und ähnlichen Ge­ legenheiten ertönte und ertönt chorifch gesprochenes Wort: an­ feuernd, aufrüttelnd, politisch werbend. Johannesson ist der markanteste Vertreter dieser Bewegung." Ihm ist der Sprech­ chor nichts anderes als ein Teil der sozialistischen Kulturbewegung „und jeder Versuch, ihn auf neutrales Gebiet hinüberzuziehen, ist eine absolute Verkennung der ihm zugrunde liegenden Idee". Die Gnseitigkeit und der Irrtum dieser Behauptungen liegt darin, daß hier die Sache eines ganzen, großen, geistig vielgestal­ teten Standes für eine politische Partei in Anspruch genommen wird. Das freilich steht außer allem Zweifel: der Sprechchor von heute, der lebendige, den Stempel seiner Zeit tragende, er­ wuchs — ganz im Gegensatz zur naturalistischen Dichtung — aus dem Proletariat, mindestens aus der breitesten Masse des ar­ beitenden Volkes, insofern dieses heute in ganz anderem Maße wie noch um die Jahrhundertwende das Gesicht unseres Volkes und der Welt überhaupt, auch und gerade ihr geistiges Gesicht, mitbestimmt. Es verkörpert diese Zeit am wahrsten und tiefsten, nicht als ihr Beherrscher, sondern als der mit ihrem Schicksal am schwersten belastete Träger. Aus solchem Schicksalgebeugtsein wird in der Masse, so ungeformt chaotisch sie in anderer Hinsicht sein mag, da und dort, immer wieder, immer stärker das Erlebnis der Gemeinschaft wach und bewußt: Gemeinschaft der Fron, der Not, der Sehnsucht, höher steigend der Arbeit und des Dien­ stes im Ganzen. In den Namen dreier Arbeiterdichter kristalli­ siert sich dieser Vorgang: Lersch, Bröger, Engelke. Sie schaffen Gedichte, die gar nicht mehr anders als chorifch wiederzugeben sind, da die Einzelstimme vor der Wucht ihres „Wir" klanglos verweht. Ihr aber ist darum so überwältigend stark, weil es bis zum Rand mit Lebenswirklichkeit gefüllt ist. Rhythmus der Arbeit pulst darin im Klopfen der Hämmer und im Sausen der Räder, Rhythmus des alltäglichen Daseins von äußerster Er­ schöpfung, Anklage, Resignation, sich wieder aufraffend zu Trotz, Kraft, neuer Hingabe. Dieses blutvolle und ganze Leben aber entzieht sich jeder tendenziös einseitigen Auswertung, gleichviel, von welcher Richtung her sie auch unternommen würde. Der früh gestorbene Engelke ist der reinste Ausdruck einer solchen um­ fassenden Weite des Gefühls, da er im Hymnus „Mensch zu

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Mensch" betn großen ewigen Glauben an eine endlich vereinigte Menschheit Worte verleiht und zugleich das tiefe Bekenntnis zu seinem Baterlande ablegt in dem letzten Brief an den Freund, wenige Tage vor seinem Tod im Schützengraben.^ Während aus solcher Ganzheit und Tiefe der Lebens­ anschauung reine und große Dichtung geboren wird, krankt um­ gekehrt die bloß politische Sprechchordichtung mehr und mehr an der Blässe und Schemenhaftigkeit ihrer Gedanken und Bilder und an dem schnellen Abgegriffensein parteilicher Worte. So bedeutet es wohl doch keine „Verkennung ihrer Idee", wenn man die heutige Sprechchorbewegung aus dem zu engen Rahmen irgendwelcher Partei herauslöst. Auch keine Verkennung der Wirklichkeit ist dies; denn tatsächlich hat der Sprechchor seine Wurzeln in vielen Lagem oder vielmehr wurzelt er int letzten Grunde in dem nur einen aber umfassenden Gefühl der Sehn­ sucht nach Gemeinschaft. Die breit flutende Welle dieser Sehn­ sucht und — mehr noch — dieses neuen Willens, die große Gegen­ strömung gegen den überspitzten Individualismus der letztver­ gangenen Zeit verlangt nach Ausdruck in einer chorischen Form. Bezeichnend dafür ist, daß auch in demjenigen Bezirk der menschlichen Gesellschaft, der im Kem seines Wesetts Gemein­ schaft je und je darstellte und blieb, im kirchlichen nämlich, daß neuerdings auch hier das chorische Element eine verstärkte Beach­ tung und Pflege empfängt. Hier freilich bedurfte es keiner Neu­ schöpfung. Die katholische Kirche vor allem, die treueste Bewah­ rerin alter Kultformen, brauchte nur zurückzugreifen auf diesen wohlbehüteten und reichen Schatz. Romano Guardinis fein­ sinnige Schrift: „Vom Geist der Situtgie"16 kennzeichnet uns diese als die Form des Gebets, die nicht „ich" sagt, sondern „wir", die „nicht vom einzelnen, sondern von der Gesamtheit der Gläu­ bigen getragen wird", die „Ausdruck des überindividuell-objektiven Charakters der Kirche" der Seele „den großen Stil des religiösen Lebens" gewinnen läßt. Es bedeutet aber vielleicht noch mehr für den mächtigen Drang unserer Zeit nach Verbundenheit, wenn auch die prote­ stantische Kirche, die ihrer innersten Natur und Sendung nach sich dem Individualismus weiter öffnen mußte, wenn auch sie heute den oben beschriebenen Weg verfolgt in der stärkeren Be­ tonung des gemeinsamen Gebets. Innerhalb dieser „litur­ gischen Bewegung in der evangelischen Kirche" ^ haben Gustav

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Mensching und Rudolf Otto Chorgebete zusammengestellt, die teilweise psalmodierend gesungen werden tonnen.18 Aber, heißt es sehr bezeichnend, „das gesprochene Chorgebet ist feier­ licher als das gesungene". Der ganzen Richtung entspricht es, daß sie das Streben nach künstlerischer Wirkung von sich weist. Es gälte, so heißt es, „in Ernst und Strenge zu beten", also „so einfach, so schlicht-kunstlos" wie möglich zu sein. Vielleicht freilich dient gerade diese Innerlichkeit, die „alle Einlegung einer privaten Auffassung des Wortes meiden" soll, dazu, auch einer neuen wahr­ haftigeren Kunst die Wege mit zu bereiten. Im Anschluß an die kirchlichen Bewegungen sei noch eine Richtung erwähnt, die ebenfalls ohne Nachahmung, aus eigener Initiative den Sprechchor seit Jahren pflegt. Es ist der, der anthroposophischen Weltanschauung angehörige Dornacher Chor. Seine Darbietungen stellen in bezug auf Schulung und sprech­ technische Feilung, auf den beseelten Zusammenklang der Stim­ men eine Höchstleistung dar. Bon manchen derselben empfängt man einen tiefen und nachhaltigen Eindruck. Dort allerdings, wo diese Sprecher in Befolgung einer nur ihnen eigenen Kunst­ theorie halb musikalisch, in oft deutlich fixierten Intervallen sprechen, wird dem Nichtanthroposophen mit dem fehlenden Ver­ ständnis eine volle Zustimmung schwer, wenn nicht unmöglich, indem seinem Ohr die natürliche Sprach- und Versmelodie doch des öfteren vergewaltigt zu sein scheint. Betrachtet man den Sprechchor noch einmal außerhalb po­ litischer und weltanschaulicher Richtungen in seiner Gesamterschei­ nung, so bleibt er zuletzt, auf neutralem Gebiet, ohne Zweifel doch eine Angelegenheit, bei der der Künstler ein Wort mitzu­ reden hat. Die vielgescholtene ästhetische Richtung: gewiß, sie kann unfruchtbar werden, eine bloße Spielerei mit Wort und Klang, eine blasierte und volksfremde l’art pour I'art-Bewegung. Muß sie dies aber sein? Mir scheint Leyhausen mit seiner schein­ bar unzeitgemäßen Bemühung um die antiken Chöre doch mitten in den Hoffnungen und Forderungen unserer Zeit zu stehen, da er selbst die Wiederbelebung der antiken Tragödie als Ziel durch­ aus ablehnt, dagegen eine Belebung monumentaler dramatischer Poesie mit seinen Versuchen erreichen will. „Dieser Monumen­ talität", sagt er, „entspricht die poetische Form. Der Ausdruck des einzelnen Menschen genügt nicht mehr. Wo daher das dich­ terische Genie zu der gereinigten und umfassenden Idee der

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Menschheit vordrang — ob es nun Aischylos oder Goethe oder Byron war — trat der sprechende Chor auf."18 Auch über die Art, wie dies chorische Wort nun erarbeitet und in der Arbeit erlebt wird, berichtet der Aufsatz an späterer Stelle: „Nur betn, der sich demütig, mit dem ganzen körperlichen Fühlen das von dem Dichter hingestellte hohe Spiel des sprachlichen Wortes zu eigen macht — keineswegs aber dem, der anmaßend mit eigener origineller Auffassung oder sogenannten Ideen an das Werk tritt — offenbart sich die wahre Poesie: das Urgeheimnis der Poesie, der freie tanzende Rhythmus tritt hervor, und bald auch die Melodien der Verse. Das ist der Augenblick, wo eine tiefe Freude gleichsam aus der Schar der Arbeitenden hervortritt... Eine unbeschreibliche Begeisterung ergreift den Sprechenden." Zweierlei ist wichtig, ist richtunggebend in Leyhausens Aus­ führungen: das eine die Auffassung seiner Arbeit: demütiger Dienst am dichterischen Wort. Seltsam nah berührt sich seine Ab­ weisung der „eigenen originellen Auffassung" mit Mensching und Otto, die gleichfalls „die private Auffassung des Wortes" nicht wollen. Liegt hier nicht die Andeutung eines neuen, von psycho­ logischer Überspitzung sich abkehrenden einfachen Stils, der durch die chorische Sprache eben in hohem Maße bedingt werden wird, weil sie Gebundenheit aneinander statt persönlicher Willkür ver­ langt. Das andere aber bei Leyhausen ist das Drängen zu einer monumentalen Kunst, die wiederum, wie er sagt, „die Gestalten des Menschen von einzelnen psychologischen Zufälligkeiten" rei­ nigt. Es ist der Gedanke der großen Feier, des kultischen Dra­ mas, der ohne Zweifel hier wieder lebendig wird, den in gleicher Weise Hans Brandenburg mit seiner Forderung der chorischen Bühne seit Jahren vertritt, auf dessen Verwirklichung durch das Werk eines großen Dichters wir heute warten. Einen Ansatz dazu haben wir ja erlebt in Talhoffs Totenmal. Aber dieses un­ erhört großgewollte Werk war in seiner Wirkung dann doch zwie­ spältig, auch auf dem Gebiet der Sprache, die hier — ein Letztes, Furchtbarstes und Höchstes des Menschlichen beschwörend —, von einer magischen Kraft hätte sein müssen, der ähnlich, die aus Höl­ derlins Oden oder Rilkes Elegien etwa seelenerschütternd uns anrührt. Man wird aber zugeben müssen, daß trotz dieses Ver­ sagens sprachschöpferischer Gewalt alle jene Stellen, die chorisch geboten wurden, dennoch von einer tiefen Wirkung gewesen sind.

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überdies war die orchestrische Gestaltung dieses Sprechchors ein interessanter Versuch, der reiche neue Möglichkeiten für die chorische Formung der Sprache eröffnet. Und er geschah ohne Vergewalti­ gung und Stilverletzung. Im Gegenteil fand hier einmal wieder der Chor den ihm einzig zukommenden Raum im großen Feierspiel. Das chorische Spiel, wie es auch Schönlanks Dichtungen teil­ weise schon verwirklichen2", wäre Krönung und Ziel der sprechchorischen Bewegung. Es hat mit der Epik nicht das allermindeste mehr zu tun, es bedeutet selbst innerhalb des Dramas eine neue oder wieder erneute Stilform, indem es weder der bis in alle Feinheiten gezeichneten Nnzelcharaktere, noch einer stark beweg­ ten Handlung bedarf. Dieses Spiel ist eher, nach Walter Becks sehr treffender Definition, „chorische Lyrik, gesprochene Musik", die — wie es bei Schönlank der Fall ist, in Einzelsprecher, Teilund Ganzchöre gegliedert — „in harmonischer Polyphonie die mannigfaltigen Akkorde eines großen Gefühls" erklingen läßt.21 Daneben kann das Spiel aber auch bloß auf die Spannung von Chor und Gegenchor aufgebaut sein, wie Guardini es als „die dramatische Grundgestalt des Betens" in der Liturgie im Gegen­ satz zur Litanei aufzeigt. Indem sich der Ring der historischen Betrachtung hier schließt — denn sie war ausgegangen vom kultischen Ursprung des Chors und der Erkenntnis seines hymnisch-lyrischen, unepischen Charak­ ters — bleibt nur noch die Abgrenzung des Sprechchors gegen das Schwestergebiet der Musik zu erörtern. Die Tatsache, daß in langen Zeitläuften alle chorische Dichtung, vorwiegend die vaterländische und religiöse, ihre Heimstätte im Schoß der Musik besaß, macht die Frage nach betn Sinn eines eigenen Sprechchors neben dem Gesangschor notwendig. Aufschluß darüber gibt die Entwicklung unserer dichterischen Sprache, wenn sie hier auch nur in kurzen Streiflichtern gezeigt werden kann. Unbestritten fest steht heute die Verbindung von Gesang und Dichtung in den Urzeiten der Sprache.22 Diese Verbindung löst sich am frühesten in der Epik, welche sehr bald vom taktmäßigen Gesang zur rhythmischen Rezitation hinübergleitet, während sie sich am längsten in der chorischen Dichtung erhält, für die Sievers im Althochdeutschen einen „in gleichem Takte fortschreitenden Sangesvortrag" annimmt.22 Daß diese Chorlieder auch von tänzerischen Bewegungen begleitet waren, ist fast sicher. Das

- 15 germanische Wort „laikas“ weist deutlich darauf hin mit den vielen Sonderbedeutungen, die es in den Einzelsprachen ge­ wonnen hat und wonach es Tanz, Spiel, Opfer, Musikwerk und Chorlied ausdrücken kann. Der Tanz nun war für die ersten Formen der Dichtung von Grund aus entscheidend. Er bestimmte den Urrhythmus als einen streng gebauten, orchestrischen, was nach «Saran24 einen marsch- und tanz-, darum auch streng taktmäßigen Rhythmus be­ deutet, der sich in einem einfachen und einförmigen Zweitakt be­ wegt. Der Übergang vom musikalischen zum Sprechmetrum vollzieht sich durch Auflockerung und Variation der strengen Form, wodurch von Anfang an der Sprechvers eine größere Ausdrucks­ fähigkeit erlangt, sich nach Sievers „von den Fesseln der Gesangs­ melodie befreit." Diesen Vorgang zeitlich in allen Einzelheiten fest­ zulegen, ist heut nicht mehr möglich, zumal Stilperioden mit bald stärkerer, bald schwächerer Betonung des Musikalischen Herein­ spielen und starke «Schwankungen verursachen. Lachmanns Schrift: „ über Singen und Sagen" zeigt die fast unlösliche Verflechtung beider Begriffe noch das ganze Mittelalter hindurch.24 Bezeichnend für eine der Übergangszeiten sind die Zeilen, die Michael Behaim seiner Dichtung „Bon den Wienern" Ende des 15. Jahrhunderts voransetzt: „Dieses sagt von den wienern und stet, das man es lesen mag als einen sprach, oder fingen als ein liet."26 Jedenfalls geht die Entwicklung im ganzen so, daß Sprache und Gesang sich mehr und mehr voneinander emanzipieren. Da­ für zeugt neben den Tatsachen auf sprachlichem Gebiet auch das Auftreten der Instrumentalmusik neben der Vokalmusik im aus­ gehenden Mittelalter. Im mittelalterlichen Drama werden die Dialogstellen sehr bald gesprochen, die Chöre sehr lange und selbst in deutschen Texten noch (bei Rebhuhn z. B.) gesungen, min­ destens noch zur Musikbegleitung rezitiert. Andrerseits jedoch werden selbst lateinische Chöre (entgegen der Ansicht Roedemeyers) allmählich in einzelnen Fällen gesprochen. In einem Nebukadnezardrama aus dem Jahre 1615 wird bereits ein „Chorus Israelitarum loquens“ ausdrücklich unterschieden von dem „Chorus Israelitarum canens“.27 Für eine längere Zeit gewinnt das gesprochene Wort das Übergewicht über das ge­ sungene, bis im Barockdrama (sowohl dem der Jesuiten wie der Schlesier) dem ganzen Stilgefühl dieser Zeit entsprechend die Chöre wieder gesungen und mehr und mehr opernhafte Elemente werden.

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Mit diesem tiefgründenden Stilwechsel haben wir von da an zu rechnen. Im ganzen zwar verselbständigt sich seit der beginnen­ den Neuzeit die Sprache mehr und mehr, doch bleibt — manchmal fast verschwindend, dann wieder stärker betont — eine Hin­ neigung zur Musik, eine fast mystisch anmutende Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit dieser Schwesterkunst bestehen, die durch zwei Momente noch verstärkt wird. Das eine ist die Idee eines alle Einzelkünste umfassenden dramatischen Gesamtkunst­ werkes, eine Idee, deren ewige Wiederkehr sich dann über Richard Wagner bis herauf in unsere allerjüngste Zeit, bis zu Talhoffs Totenmal, verfolgen läßt und die sich wohl auch noch in die Zukunft fortsetzen wird. Damals wurde sie zuerst von I. G. Sulzer in seiner „Mlgemeinen Theorie der schönen Künste" vertreten und von Herder und Wieland vor allem aufgenommen. Das zweite Moment liegt in der Anlehnung an die Antike und dem Verlangen, ihre Chöre ins moderne Drama wieder ein­ zuführen. Nun aber ist es bis heute nicht gelungen, festzustellen, wie der griechische Chor eigentlich geklungen hat. Wir haben die Worte und wir haben Andeutungen von tänzerischen und musika­ lischen Begleitelementen. Wie aber ertönte der Chor wirklich? War er reiner Gesang oder Sprechgesang, bloße Rezitation zur begleitenden Musik? Das bis heute nicht gelöste Rätsel gab mit den andern oben geschilderten Umständen zusammen damals zu steten Grenzverschiebungen zwischen Musik und Dichtung Anlaß, so daß bei allen Dichtern der Jahrhundertwende, vor allem und vorzüglich bei den an chorischer Dichtung beteiligten, zwei Rich­ tungen nebeneinanderlausen: Theoretisch die Auseinander­ setzung mit der Musik, die sehr oft eine weitgehende Hinneigung zu ihr bedeutet, seltsamer- oder vielleicht auch bezeichnender­ weise aber niemals selbstschaffende Tätigkeit auf diesem Gebiet; daneben praktisch die ungeheure Bereicherung und damit Ver­ selbständigung des teilten dichterischen Wortes durch wahrhaft sprachschöpferisches Wirken. Dies gilt zuerst von Klopstock, der noch an die Vertonung der Chöre seiner Hermannschlacht durch Gluck denkt, während er seine Oden (wie übrigens auch die Bardengesänge des Dramas) in einem völlig neuen, ganz unmusikalisch freien, rein auf den Sprechton gestellten Rhythmus dichtet und zudem in seinen zahlreichen theoretischen Schriften das untaktmäßige Sinn­ betonungsgesetz der deutschen Sprache im Gegensatz zum quan-

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titierenden Prinzip des Griechischen als erster klar erkennt und ausspricht.22 Wieland und Herder bemühen sich um Singspiel und Oper, beide aber tun es im Sinn einer Reform der Oper, nach welcher der Dichtung das Hauptgewicht zufallen soll. Die Töne sollen, nach Herder, „den Worten der Empfindung, der Hand­ lung selbst nur bienen".29 Gleicherweise findet Goethe nur die Oper für gut, deren „Süjet so vollkommen" sei, „daß man es ohne Musik als ein bloßes Stück geben könnte."29 Von diesem, im Grund auf das dichterische Wort gestellten Standpunkt aus hatte Goethe im übrigen manche Neigung zur musikalischen Poesie. Der Epimenides, von Anfang an zur Komposition be­ stimmt, wurde vertont. Ebenso war für die Chöre der Helena­ tragödie im zweiten romantischen Teil Gesangsvortrag vorge­ sehen, während dagegen diejenigen des ersten antikisierenden Teils wie auch die übrigen Chöre des Faust und der Pandora ge­ sprochen gedacht waren. Selbst Schillers Theorie ist noch zwie­ spältig. „Nur die Worte gibt der Dichter, Musik und Tanz müssen hinzukommen, sie zu beleben" sagt er zu Anfang seiner Abhandlung über den Chor, am Schluß freilich nennt er den seinen „von jenen opernhaften Chören wesentlich verschieden" und in der Praxis vollzieht er entschieden den Schritt zum rein gesprochenen chorischen Wort, das wir dann wieder im Robert Guiskard finden und überwiegend auch bei Brentano. In derfolgenden Entwicklung,soweitsiesichaufunser Problem bezieht, ist zunächst die Mannigfaltigkeit der lyrischen Erzeugnisse von Bedeutung. Wichtiger als die Tatsache auch reiner Sprech­ chöre neben andern ist bei Goethe zuletzt der Reichtum seiner Lyrik an sich, ist die Schaffung von Gedichten mit einer Melodie der Sprache, die von solcher Vollendung ist, daß jeder musikalische Ton als überflüssige Zugabe erscheint. Musik der Sprache: Wir erleben sie wieder, ganz anders, aber gleich beglückend in Gchendorffs Ge­ dichten etwa und noch einmal, um nur die Gipfelpunkte zu nennen, in allerneuester Zeit bei Rilke.—Ein bis dahin nie gekannter Reich­ tum lyrischer Formen wird jetzt geschaffen, zunächst aus dem Ge­ nius der eigenen Sprache, deren Rhythmik am genialsten vielleicht von Klopstockund Kleist gehandhabt wird, während die Romantiker vor allem neue Möglichkeiten und Schönheiten des Reimes ent­ deckten und anwendeten. Weiterhin geschiehtdie Bereicherung aber auch durch Anleihen bei fremden Völkern und fernen Zeiten. An die Namen Goethe, Hölderlin, Rückert, Platen z. B. knüpft sich Belstler-Stolz, Sprechchor.

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vor allem die Verwendung antiker und östlicher Vers- und Strophenformen, die nun alle—dies ist das Bedeutsame — rein sprachliche, keine musikalischen Gebilde mehr sind. Daneben geht eine völlig andere Linie. Die Sprache an sich, auch die Dichtersprache, fällt in den vergangenen hundert Jahren mit einem Teil ihres Wesens dem Allbeherrscher In­ tellekt anheim, in dessen Dienst sie vor allem nach Klarheit und Schärfe des Ausdrucks strebt und mehr und mehr zur Prosaform des Romans drängt. Zolas Begriff des „Roman experimental“, von Deutschland aufgenommen, charakterisiert wie kaum sonst etwas die Verwissenschaftlichung der Kunst. Gleichzeitig aber mit ihrem Herrschertum stellt die Wissenschaft sich nun in den Dienst der Dichtung. Indem sie nach Ursprung und Wesen der Dichter­ sprache forscht, hilft sie dieser gleichsam zum Bewutztsein ihrer selbst und erlaubt endlich ihre reinliche Abgrenzung gegen die Musik. Vor allen andern erkennen Sievers und Saran ihr Andersgeartetsein gegenüber der Schwesterkunst und die Eigen­ gesetzlichkeit ihres Rhythmus. Was Sievers mit Recht als grund­ legend immer wieder hervorhebt ist dies, daß der deutsche Sprechvers ohne meßbare Takteinteilung freier und mannigfaltiger als der Gesangsvers ist und sich nur an den natürlichen Satz- und Sinnesakzent stärker bindet, die tiefere Vermählung von Ge­ danke und Form dadurch mehr begünstigend als der Gesang. — Gleichzeitig mit dem Philologen dringt jetzt auch der Literar­ historiker in die innere Wesenheit des dichterischen Ausdrucks ein. Mit seinem Grundbegriffspaar „Klassik und Romantik" erhellt ©tritt)31 die zeit- und geistesgeschichtliche Bedingtheit jedes Dicht­ werkes bis in die kleinsten Elemente von Rhythmus und Reim, zeigt Einheit und Wandel des Stils und leistet so Grundlegendes zum formalen Verständnis des dichterischen Wortes. So stellt uns die jüngstvergangene Zeit große Vorbilder und reiche Formen auf dem Gebiet lyrischer Dichtung und tiefschür­ fende Erkenntnisse in bezug auf das Wesen poetischer Sprache als Grundlage und Gefäß für einen neuen Inhalt bereit. Daß Gemeinschaft als Sehnsucht, Glaube und erstrebtes Ziel zum geistigen Gehalt der kommenden Jahre gehören wird, steht wohl außer Zweifel, ist neben anderm auch aus den Dichtungen zu erkennen, in denen dieser Gedanke bereits Form geworden ist. Außer den schon angeführten Dichtern wäre hier noch besonders Werfel zu nennen, aus dessen so bezeichnet betitelten Gedicht-

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sammlungen: „Einander" und „Wir sind" ich das schöne „Veni creator Spiritus“ vor allem erwähnen möchte. Mit aller Vorsicht läßt sich, meine ich, einiges über den Stil dieser kommenden Gemeinschaftsdichtung heut schon sagen. Das Verlangen nach klaren, sauber geführten Linien auf verschiedenen Gebieten der Kunst — man denke an den neuen Baustil ebenso wie an die Wiedererweckung des polyphonen Musikstils — läßt erkennen, daß auch die Wortkunst, dort vor allem wo sie sich chorisch gestaltet, dasselbe anstreben wird: Klarheit und Deutlich­ keit, Eindringlichkeit des Gedankens und Verständlichkeit selbst im akustischen Sinn. Hier fordert der Intellekt sein Recht, den wir aus unserer Entwicklung ohne schädliche Widernatürlichkeit nicht ausmerzen, den wir nur mit seinen Gegenkräften fruchtbar verbinden können. Es wird also nicht die Zukunft überhaupt, aber sicher die unmittelbar kommende Epoche dem klar und rein gesprochenen, nicht mehr von Musik überschwemmten Wort eine stärkere Pflege und Vorliebe zuwenden, zudem sie weiß und fühlt, welch vielfältiger Reichtum an eigengesetzlicher Melodik und Rhythmik ihr eignen kann und es wird im Feierspiel die Berschwisterung von Sprache und Musik mehr in einem Nach- und Nebeneinander wie in einem gleichzeitigen Ineinander erfolgen. Diese chorische Lyrik wird sich von den überverfeinerten Formen der subjektiven Lyrik wahrscheinlich abwenden zu grö­ ßerer Einfachheit, in solcher Einfachheit aber dann wiederum Größe und Kraft anstreben, Monumentalität der Sprache, ein neues Pathos vielleicht, wie es das in schwerster Zeit wieder er­ wachte Interesse an Hölderlins Werken vermuten läßt. Me diese Momente zusammen lassen uns den Sprechchor als einen wahrhaften und lebendigen Ausdruck unserer Zeit sehen und geben uns so das Recht, ihm in seinen Anfängen einen Platz in der Schule einzuräumen.

Das Problem des Sprechchors in Gegenwart und Schule. i.

Im Problem des Sprechchors spiegelt sich das Problem des neuen Menschen. Beide stehen heute noch im Zeichen unerfüllter Sehnsucht, ungelöster Formnot und die Wellen des neuen Willens treiben

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noch wirr durcheinander. Dennoch leuchtet über der Buntheit vieler Bewegungen schon ein Licht: die M»ee einer neuen, leben­ digen Gemeinschaft, eines Lebens tätig mitwirkender, dienender Verbundenheit. Aus Menge will Volk, aus Masse Gemeinschaft werden; das dumpfe Getriebensein drängt nach gerichtetem Willen, das Verlorensein im sinnlosen Betrieb nach der Gehobenheit eines wesenhaften Lebens. Langsam erhebt sich gegen die Unkultur betäubender Vergnügungen und zerstreuender Unter­ haltungen der gesunde Lebenstrieb eines neuen Festwillens, die Sehnsucht nach echter Feier. Ein Bau, gründend in dem aus Not und Sehnsucht gebomem Gemeinschaftsgefühle, beginnt sich über das Wirrsal unserer geistverlorenen Zeit aufzurichten. „Wir bauen an dir mit zitternden Händen und wir türmen Atom auf Atom. Wer wer kann dich vollenden du Dom?" R. M. Rilke. Unser Bauen geschieht heute noch in Gruppen an getrennten Plätzen, weil Mauern und Schutt des Mten aus dem Baugrund ragen und uns am gemeinsamen Werk hindern. Aber dort, wo „die Jugend als marschierender Bund, als lagernde Freund­ schaft"*), als singende und tanzende Spielschar dem Erlebnis ihrer Zueinandergeneigtheit Gestalt gibt im Tanz oder Spiel, im Gesang oder chorischen Wort — und dort, wo eine gläubige Gemeinde, im gemeinsamen Bekenntnis und Gebet, gemeinsamer Klage, Lobpreisung und Danksagung sich eint vor und mit Gott—, und dort wo werktätige Menschen sich nach der Last mühevollen Tagewerks zusammenfinden zu Feierstunden solidarischer Zu­ sammengehörigkeit, in denen sie der Freude und Trauer, dem Notschrei und Kampfruf Millionen Gleichgestellter und Gleich­ gesinnter chorische Sprache geben — überall dort schaffen bauende Kräfte an einem neuen geistigen Lebensraum, spüren wir das Wehen des Geistes neuen Menschentums, dessen äußerliches, doch lebendiges Symbol die festliche, chorische Gemeinschaft ist. Im Worte dieser Gemeinschaft, im Chor, dokumentiert sich ihr Leben und Erlebnis, schwingt ihr Rhythmus und spricht ihr Geist. Immer steht am Anfang das sinngebende Wort. Für den neuen Men­ schen heißt es „Wir". Noch ist heute dieses „Wir" nicht das große, majestätische Wort einer wirklichen Volksgemeinschaft, sondern *) Walther Eckart „Das Laienspiel als Spiel der Gemeinschaft".

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politischer Willensausdruck oder kultische Gebärde getrennter Volksgruppen und -Hassen, noch ist es nur summiertes Sprechen, Massenäußerung oder artistisches Spiel, nicht die klare, symbol­ starke Sprache einer Gemeinschaft, chorisches Wort. Man be­ gnügte sich bisher noch zu sehr mit äußerlichen Wirkungen: po­ litischer Demonstration oder ästhetischem Effekt und überging dabei das innere Formgesetz. Der tiefere Sinn chorischer Sprache blieb zumeist unverstanden und angedeutet. Nur wo der Sprech­ chor aus seinem Wesen, seiner eigenen Formgesetzlichkeit heraus gestaltet und so in den Zusammenhang menschlichen Geist­ geschehens einbezogen wird, kann er lebendig, kulturwertig und damit zukunftsvoll sein. Nur so gewinnt er jenen Reinheits- und Lebendigkeitsgrad, ohne den er ins bedeutungslos Kitschige, überflüssige und Banale absinkt. Deshalb müssen wir ihn aus seinen zweckhaften Verflechtungen herausheben und ihn seinem geistigen Orte zuordnen. Dieser Ort ist weder die politische, noch die literarische Sprechbühne, sondern der geistersüllte Raum fest­ licher Gemeinsamkeit und seine Form die einer kultischen Feier. Die Griechen, die Germanen und noch der mittelalterliche Mensch erlebten so das chorische Wort und Spiel. Dem Menschen der Gegenwart ist Sinn und Form des chorischen Worts im Grunde noch fremd und unverständlich, wie ihm überhaupt das tiefere Erlebnis eines echten Festes fehlt. Es gibt kaum etwas Abstoßenderes und Kulturloseres als die „Feste" und „Feiern" un­ serer Zeit: die sogenannten „Volksfeste", die „vaterländischen" Feste der verschiedenen Vereine, die Feste und Maifeiern politi­ scher Parteien: nirgends wird der wirkliche Festtrieb und Fest­ gedanke mehr verfälscht und geschändet als dort. Das sind nur Veranstaltungen, die der Wlenkung, der Zerstreuung, der Ge­ nußlust und dem Ehrgeiz dienen; das ist seelenloser Bergnügungsrummel, formloser Überschwang, sentimentaler Rausch. Die Feste des Volkes sind Scheinfeste geworden, ohne Sinn und Geist, ohne Form und Haltung. Echte Feier zielt nicht nach Sensation und nicht nach Illusion, sondern will Erlebnis gesteigerter Wirk­ lichkeit, Offenbarung und Bekenntnis, Spiegel der Gesinnung und inneren Haltung einer lebendigen Gemeinschaft sein. Feste und Feiem dienen nicht rationalen Zwecken, sondern sind „reine" Bewegung, höheres Spiel, Ausdruck überpersönlicher Ver­ bundenheit, im tiefsten Grunde metaphysischer Akt. Der Fest­ trieb ist zu tiefst der Volksseele eingeboren, ein Naturtrieb, allem

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Lebendigen zu eigen, eine bindende, bauende Kraft, die das Leben aus den Niederungen des MItags in ein höheres Sein er­ hebt und befreit. „Die Rhythmisierung des Lebens durch das Fest in irgendeiner Gestalt ist eine Notwendigkeit, ohne die das Leben von vielen, vielleicht den meisten Menschen nicht ertragen werden könnte" (Emst Krieck; „Musische Erziehung"). Der Dienst am feiertäglichen Spiel, am emstheiteren Fest soll uns zum schwe­ reren Dienst der werktäglichen Arbeit beleben und beschwingen. Feste und Feiem in diesem Sinne sind unserem Volk nötiger denn je, aber sie erfordem Kultur, d. h. Gestaltung des Gmndtriebes, sein Emporheben aus Dunkelheiten, seine klare Fassung und Formung. Gemeinschaftsspiel (Laienspiel) und Sprechchor kön­ nen Kristallisationspunkte des neuen Festwillens werden, an denen er sinnerfüllte Form gewinnt. Die Erweckung neuer volk­ verwurzelter Festkultur durch Laienspiel und Sprechchor kann aber nicht vom heutigen Theater erwartet werden; Form und Geist des Theaters der Gegenwart sprächen dagegen. Wir wollen Fest und Feier nicht als etwas Fertiges von der Bühne ent­ gegennehmen, sondem sie aus uns selbst heraus gestalten. Fest­ kultur ist kein ästhetisches Bedürfnis, sondem eine Lebensnot­ wendigkeit, eine wahrhaft schöpferische Aufgabe wirklicher Volks­ bildung, eine Aufgabe, um deren Lösung sich alle Gemeinschaften und Bünde, namentlich aber alle Schulen bemühen müßten.

II. Die Schule kannte schon immer Feste und Feiem: das Weih­ nachtsfest, die Schulentlassungsfeier, Gedenkfeiem großer Men­ schen und historischer Ereignisse. Diese Feiem erschöpften sich aber meist in deklamatorischen und theatralischen Borfühmngen, boten Belehrung und Ermahnung in den Festreden, Muster­ leistungen in den Schülervorträgen, Unterhaltung in den Theater­ spielen, alles nur ein Darbieten Einzelner und ein mehr oder weni­ ger teilnehmendes Zuhören und Zuschauen der Masse. Solche Ver­ anstaltungen sind im Gmnde keine Feste und Feiem; es fehlt ihnen jene innere Gleichgerichtetheit und festliche Beschwingtheit, jene gemeinsame Seelenstimmung und jener verbindende geistige Lebensinhalt, aus denen einzig das wahre Fest, die echte Feier entspringen kann. Die Feier kennt nicht Darsteller und Zu­ schauer, sondem nur den feiemden Kreis; sie darf nicht trennen,

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sondem muß verbinden, einigen, erheben. Feier soll Ausdruck und Wbild einer überpersönlichen inneren Bewegtheit und Le­ bendigkeit, Sinnbild geistiger Verbundenheit sein. Fest und Feier müssen aus der Ganzheit des Schullebens erwachsen und dürfen nicht als etwas im Grunde doch Schulfremdes, über­ flüssiges, Peripheres betrachtet werden, sie sind in gewissem Sinne Höhepunkte. Wie das Leben, so soll auch die Schule zwei Sei­ ten besitzen: eine der Arbeit und dem zwecktätigen Alltag zu­ gewandte und eine der festlichen Freude, der Erhebung in der Feier. Die „arbeitende" und die „feiernde" Schule gehören zusammen wie Werktag und Sonntag und nur dort, wo sich beide gegenseitig ergänzen, beleben und beseelen, nur dort ist die Schule vom wahren Sinn des Lebens erfüllt. Die elementaren Ausdrucksmittel, deren sich die Schulfeier bedient, liegen bereits in der schulischen Wltagsarbeit. Es sind: Wort, Ton, Bewegung. Bisher erfolgte die Schulung und Pflege dieser Bildungselemente innerhalb der Schularbeit vorwiegend nach rationalistisch-technischen Gesichtspunkten; maßgebend für die Methode war ihr Nützlichkeitswert fürs Leben. Im höheren Dienste der Feier genügt die bloß nutzhafte Funktion dieser Mittel nicht mehr, hier steigern sie sich zum Ausdruck innerer Bewegun­ gen, seelischer Vorgänge, werden Sinnbild und gewinnen Stil. Das lebendigste, gehaltvollste und wirkmächtigste Ausdrucks­ mittel und zugleich Grundelement aller Erziehung und Gemein­ schaft ist die Sprache. Sprache steht über Ton und Bewegung und ist mehr als nur ein Mittel der Verständigung und des Um­ gangs, Sprache ist schöpferisches Leben, die im Geiste gründet und auf ihrem Wege durch die Materie wieder nach ihrem Ur­ sprünge zurücksucht: nach dem Geiste. Auf diesem Wege der Sprache verschwistert sich der erwachende, wachsende Mensch allem Lebendigen, findet Heimat und Gemeinschaft, wird geistiges Wesen. Das Sprachsinden und Sprachgestalten ist gleichbedeu­ tend mit der Bildung des Menschen selber. Jugend- und Volks­ bildung wurzelt denn auch in richtiger Spracherziehung; sie spiegelt den Geist einer Schule, offenbart Fortschritt oder Nieder­ gang einer Bolkskultur. „Darum ist Lebensnot überall dort, wo Sprachnot ist, und Sprachnot begegnen wir dort, wo Lebensnot ist."82 Kaum je war diese Lebens- und Kulturnot unseres Volkes größer als heute, kaum je seine Spracharmut und -ohnmacht offen­ kundiger als in diesen Tagen des hohlen Geschwätzes und Phrasen-

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lärmes. „Wo die Fragen und Nöte des Lebens heute liegen, des Kindes, des Erwachsenen, zwischen Mutter und Kind, zwischen begehrendem Manne und bräutlicher Gestalt, zwischen Priester und Gemeinde, zwischen Bolksführer und Volk, liegen die Stein­ wüsten der Sprachohnmacht und die Felsenklippen der Sprach­ klischees, die tönen, aber nichts sagen, — die wir einander zu­ werfen wie Brot, aber es sind (Steine."33 Einsam, freudlos, feindselig ist der Mensch in seiner Sprachnot geworden, geist­ feindlich und kunstfremd. Tot sind ihm die Rhythmen und Melo­ dien, der dionysische Schwung und die apollinische Formkraft, Klang und Plastik lebendiger Sprache, erstorben die Fähigkeit, dichterisches Wort zu erleben. Sprache wurde Hülle intellektueller Inhalte, toter Substanz. Erloschen ist die geheimnisvolle Kraft, die einst aus den Eingangsworten des Johannes-Evangeliums geistmächtig strahlte: „Im Anfang war das Wort." Mit der Ent­ wicklung der abendländischen Zivilisation läuft parallel die fort­ schreitende Entgeistung des Wortes, die Entfremdung und Ab­ kehr vom lebendigen Worte. An die Stelle des klingenden, lebens­ starken Lautwortes trat mehr und mehr das schwache, tote Buch­ stabenwort. Die Sprache wurde die Sklavin des Intellekts, Sprachbildung verengte sich zu Verstandesbildung und erstarrte in intellektueller Belehrung und technischer Formalschulung. Sprache wurde erlernt und nicht erlebt, gemacht und nicht geschöpft, erschrieben und er-lesen und nicht erlauscht und erhört. Die Sprache verlor — so weist es Fritz Gerathewohl in seinem „Deutschen Vortragsbuch" nach3* — als Sache des Könnens und Wissens den tieferen Bezug zu Leben und Geist, zur Gesamtheit der Schöpfung. Die Schule hat die Notwendigkeit einer grundsätz­ lichen Umformung und Erneuerung des gesamten Sprachunter­ richts im Sinne einer Erziehung zu lebendigem Sprachtum in der Theorie wohl erkannt und gefordert, aber in der Praxis doch nur teilweise und vereinzelt verwirklicht. Es sei erinnert an die Ver­ suche, die von Hildebrand über Jensen-Lamszus zu den neueren Reformern (Eugen Mahr, Fritz Rahn, Karl Vaupel u. a.) füh­ ren. Lebendige Sprachpflege greift aber über das engbegrenzte Lehrfach hinaus und ist Angelegenheit eines Gesamtunterrichts, einer Gesamtgeistespflege, in der das Leben selber Sprache wird, das Leben zwischen den Kindern, zwischen Kind und Erwach­ senen, zwischen Kind und Welt. Sprachunterricht wandelt sich hier zum Sprachleben, das kindliche Seele und jugendlichen Geist

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spiegelt und Sprache aus wirklichem Leben schöpft. Grundlage einer solch wahrhaft schöpferischen Sprachpflege ist das Spre­ chen, die richtige Sprecherziehung. Man verstehe darunter aber nicht nur eine technische Schulung der Stimm- und Sprech­ werkzeuge zur Erzielung einer geläufigen Redefähigkeit; nicht die „schöne" Aussprache und die kunstvolle Rede sind das Ziel, sondern der wahre, lebendige Ausdruck, die natürliche Sprache, die Leben und Geist atmet. Sprecherziehung ist Erziehung zur Sprache, „Durchbruch zur Sprache"*), deren Wesenheit Klang und Geist ist. Der Erziehungsweg dahin führt durch das Er­ lebnis, über Stufen des Spracherlebnisses. Erlebnis ist die Quelle der Sprache, aber auch die Brücke zu ihr hin. „Sprecherziehung ist keine abgegrenzte Teillinie innerhalb des deutschen Sprachunterrichtes, neben andern Teillinien, son­ dern schlechthin der methodische Leitgedanke jedes auf Persön­ lichkeitsbildung bedachten Deutschunterrichtes — und darüber hinaus ein wesentliches Hilfsmittel aller praktischen Erzieher­ tätigkeit überhaupt." Diese pädagogische Einordnung und Sinn­ gebung der Sprecherziehung durch einen unserer ersten Führer auf diesem Gebiete, Universitätslekwr Dr. Erich Drach, erfordert aber auch besondere sprecherzieherische und sprachunterrichtliche übungsweisen und lehnt alle jene Gnzelverfahren ab, die mit einem Teilablauf des Sprechens, etwa der Artikulation, beginnen, „anstatt von der Ganzheit des Redeaktes den Einblick in die Teile zu getotnnen".35 Ausgang und Mittelpunkt ist somit immer ein sinnerfülltes Erlebnisganzes, „der sinnfassende, sinnzeu­ gende Ablauf der Menschenrede". Die inneren Sprachkräfte des Kindes müssen an wirklichen Erlebnissituationen geweckt und gesteigert werden. Alltag und Schule bieten ihrer genug, wesent­ lich ist nur, daß auch die Formen der Übung die Lebensbezogenheit der Sprache, ihre Klang—Sinn-Einheit nicht zerreißen. Die einfachste und natürlichste Form für das Kind ist auch hier das Spiel, das sinnvolle Spiel, das neben der sprachschöpfenden und fpracherzieherischen auch noch eine gemeinschaftsbildende Auf­ gabe zu erfüllen hat. Zwei Spielformen müssen da von Anfang an voneinander unterschieden werden: das szenische Drama­ tische) und das chorische Spiel; denn jedes hat seine besonderen Gestalteigenheiten, seine Inhalte, seinen eigenen Stil. Die Bermischung und Verwischung beider Formen führt zu Unklarheiten *) Bilma Mönckeberg.

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in der methodischen Behandlung, zu Halbheiten und Stillosigkeiten, wie wir sie heute bereits innerhalb der schulischen Sprech­ chorbewegung beobachten können. Das szenische Spiel beruht auf der Wechselrede, ist Aus­ sprache und Darstellung in verteilten Rollen, dialogisiert und dra­ matisiert kleine Szenen und Geschehnisse aus dem Alltagsleben, aus der Welt des Märchens, der Fabel, der Sage und Legende und auf den oberen Schulstufen auch aus der Geschichte. Eine gute Sammlung solch kleiner Dialoge und szenischer Spiele, in der Auswahl für deren planmäßigen Einbau in die Unterrichts­ arbeit bedacht, in der Gestaltung kindertümlich und stilvoll, bietet Karl Jörger in „Kleine Schulbühnenspiele".33 Solche Spiele können und sollen aber auch von den Kindern selbst entweder als Stegreifspiel oder als textlich gemeinsam geformte Szene oder Spiel geschaffen werden. Dazu eignen sich besonders spannende Handlungen mit einfachen Rollen aus Erzählungen und Be­ richten. „Man lasse die Kinder dramatisieren, was sie in Form .epischer' Berichte noch nicht mitteilen tonnten."73 Hierher ge­ hören auch das Darstellen geeigneter Balladen und Dialoggedichte in verteilten Rollen, wie z. B. „das Schloß am Meere" von Lud­ wig Uhland, „Der Lotse" von Ludwig Giesebrecht, „Der Hallig­ matrose" von Hermann Allmers, „Der Wanderer und der Wind" von Nikolaus Lenau, „Des alten Fritzen Grenadier" von Theo­ dor Fontane u. a. Doch sei hier vor der ehrfurchtslosen Zer­ trümmerung und kritiklosen Dramatisierung aller möglichen Bal­ laden, nur einer billigen Wirkung wegen, gewarnt; völlig ab­ wegig ist gar die chorische Verarbeitung von Balladen, wenn nicht die Ballade selbst schon ausgesprochen chorische Teile in sich schließt. Die Entwicklungslinie des szenischen Spieles, ausgehend von kleinen Wechselreden, Frag- und Antwortspielen, über Dialog­ gedichte, Balladen und dramatisierte Sprechszenen führend, mündet schließlich ins Schulbühnenspiel als Vorstufe des Laien­ spieles. Das chorische Spiel ist zum Unterschiede vom szenischen Spiel, das im Dialog wurzelt, Massen- und Gemeinschaftsaus­ druck. Das szenische Spiel stellt Leben dar, gibt Tat-Sache und Wirklichkeit, will „augenscheinlich" machen, das chorische Spiel gründet im Rhythmus, in der hörbar-sichtbaren Bewegung, ist anfänglich immer Tanz und Gesang. Wir können hier eine Pa­ rallelität zwischen der Kindheitsstufe des einzelnen Menschen

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und der der Menschheit beobachten, die Verbindung von Poesie, Gesang und Tanz im (chorischen) Spiel. Man denke an die Singund Reigenspiele der Kinder, die Ringelreihen und Ringeltänze über alte Tanzlieder und Märchen, wie z. B. „Der Goldfisch", „Schäferin und Edelmann", „Mariechen saß auf einem Stein" u. a. Durch das Epische, Inhaltliche hindurch kommen hier tiefere, ältere Darstellungselemente, Urphänomene zutage, die des Kults, der rhythmischen Bewegung, des Tanzes, der Be­ schwörung. Erreger und Träger dieser Bewegungen und Span­ nungen ist immer der Chor. Im Chorischen müssen wir einen Grundbestandteil dieser Spiele erkennen, in ihm ruht die Kraft seiner Wirkung. Dieses Chorische wird für uns der Ausgangs­ punkt des anderen sprecherzieherischen Weges, der uns noch näher an das Heiligtum der Sprache heranführt. Der Chor ist auf allen seinen Gradstufen vom chorischen Kinderspiel bis zum Chorgesang und Sprechchor tönende Form, Klanggestalt; sein innerstes Wesen ist der Rhythmus. So ist schon in der Spielgestaltung der Singtänze und Tanzspiele der Kinder der Bewegungsrhythmus das Ausschlaggebende; balladeske und mythische Erzählstoffe werden in rhythmisierten Spiel- und Tanz­ bewegungen abgehandelt. Das melodische Moment tritt ganz hinter das rhythmische. Viele der Spiele werden nur in einem figurierten Tonrhythmus vorgetragen, viele weisen die gleiche Melodie auf. Der aus Körperbewegungen (Wiegen, Schaukeln, Schreiten, Hüpfen) entsprungene gleichförmige, meist zwei­ taktische Rhythmus wirkt sich auch in den Sprech- und Gesangs­ ausdruck hinein und erzeugt den bekannten „Leierton". Auf der Kindergartenstufe hat dieser „Leierton" noch einen lebendigen, naturwüchsigen Ausdruck, ist noch von einem elementaren Rhyth­ mus durchpulst, im Schulleben verödet er im bewegungslosen, taktstarren „Chorsprechen" zum mechanischen, sinn- und seelen­ losen Massengeschrei. Dieses „Chorsprechen" mag als brauchbares methodisches Hilfsmittel zur Gnprägung und Sicherung von Memorierstoffen gelten, aber es darf auch als solches sich nie zum Schreiton und gedankenlosen Taktleiern verzerren. Das Chor­ sprechen wahre immer den natürlichen Sprechton mäßiger Stärke und frischer Bewegtheit und vor allem schone und verschone es dichterische Stoffe. Solche Stoffe verlangen ein „Ausdruck­ sprechen", ein sinnbezogenes, klanggestaltetes Sprechen; Chor­ sprechen aber ist nur summiertes, taktiertes Sprechen. „Die

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Rede ist Ausdruck der Seele, ein darstellendes Bild all unserer Gedanken und Empfindungen; sie muß also Charakter haben und nicht den Tönen gleich sein, die man hinter dem Stege hervor­ geigt." Was hier Herder in seiner Schulrede „von der Ausbildung der Schüler in der Rede und Sprache" fordert, gilt auch heute noch für die Sprecherziehung. Das Sprechen muß Charakter haben, d. h. es muß seelisch echt und wahr sein, aus innerer Le­ bendigkeit und Überzeugtheit kommen, aus der Ganzheit des Lebenszusammenhanges geboren werden. Solche Sprech—Er­ lebnis- und Sprech—Denkschulung ist auf den Anfangsstufen nur in Verbindung mit Körperbewegung möglich. Am natürlichsten und ursprünglichsten ist dies im Kinderspiel (Reigen- und Tanz­ spiel) gegeben. Auch das Sprechen von Kinderreimen und -Versen soll von ausdruckgebenden Bewegungen begleitet sein, sie be­ leben Klang und Sinn der Worte; doch sollen diese Bewegungen nicht so sehr bewußt und bloß illustrativ dazugemacht werden — die bewußte Gebärde und Bewegung verlangt eigene, strenge Schulung — sondern aus einem mehr unbewußt aufdrängenden Bewegungsimpuls, aus dem Körpergefühl, geweckt von Seele und Geist der Sprache, entspringen. Einen natürlichen Zu­ sammenhang zwischen Körperbewegung und Wort finden wir in den chorischen Arbeitsgesängen und -sprächen.33 Sie eignen sich durch ihre ausgeprägte Sprechmelodie und ihren taktunter­ bauten Rhythmus besonders zu sprechchorischer Vorarbeit. Hier­ her gehören auch Handwerkerverse und Berufsreime mit Nach­ ahmungsbewegungen, z. B. Böttcherlied. Böttcher, Böttcher, bum, bum, bum, schlägt dem Faß den Buckel krumm, schlägt den Reifen auf den Kopf: Füg dich, füg dich, fauler Tropf! Böttcher, Böttcher, bum, bum, bum, hat ein Fell von Leder um. Bum, bum, turnt!38 Der lebensnahe Heimatkundeunterricht gibt auch Gelegen­ heit, Erlebnisstoffe berufständischen und sozialen Inhalts zu kleinen Sprechchorspielen zu verarbeiten. Gute kindertümliche Spieltexte dieser Art bietet die Sammlung „Wir spielen. Kinder­ sprechchorspiele" v. Walther Teich.33

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Die Mittelstufe baut unmittelbar auf solchen Spielen weiter und schreitet von den sprechmelodisch und rhythmisch einfach gebauten Kinderversen zu Gedichten mit melodie- und rhythmus­ begabteren, gesteigerten Formen fort. Das entwickeltere Sprachempfinden — bei den Mädchen zwischen 10 und 11 Jahren stärker ausgeprägt als bei den Knaben — wendet sich von vielen der bekannten anspruchslosen „Klischeegedichte" der alten Mittelstufen-Lesebücher ab und bevorzugt bereits das Besondere, Eigene im Stimmungsgehalt, wie im Klanggefüge, stärkere Bildhaftigkeit und Musikalität. Das Kind verläßt in diesem Alter den „magischen Lebens­ raum des Märchens"*) und mit ihm die Sprachformen frühkind­ licher Naivität. „Hier liegt die erste Stufe des Lebens, an der eine sprachliche Schöpfung alles Lebens nötig wird"*), eine Umprägung des kindlichen Sprachgutes, eine Fahrt in neues Sprachland. Zwei Gefahren gilt es an dieser wie jeder Lebens­ alterswende zu begegnen: der Berfrühung und der Verschlep­ pung. Gedichte zu hohen ästhetischen Gehalts bleiben ebenso wirkungslos, wie das bereits überwundene Sprachgut des naiven Kinderreimes; im besonderen gilt dies für die kindertümelnde Pseudopoesie. Alle Erziehung ist ein Hinauf und Empor; auch im Sprachleben soll das Kind aufschauen, emporlauschen. Auf dieser Stufe ist es denn auch keine Vergewaltigung mehr, wenn man das Kind näher an die Sprache, tiefer ins Erlebnis des Wor­ tes führt. Mit der Entwicklung des kindlichen Innenlebens wächst die differenziertere Erlebnisfähigkeit und damit auch eine vertieftere Sprachbeziehung. Bisher war die Sprache ganz dem Spiele ein- und untergeordnet, selber eine Spielfunktion, nur der Be­ lebung und Verdeutlichung der Spielhandlung dienend, jetzt steigt das Wort aus dem Erlebnis auf, verdichtet zu eigener Ge­ stalt mit eigenem Leben und eigener Schönheit. Wir können zu diesem Worte, geboren aus dem Erlebnis, nur wieder durch das Erlebnis lebendige Beziehung finden. Starke Erlebniskraft wohnt dem Sprechchor nute; er weckt Ohr und Sinn für das Lebendige, Tönende im Wort, „— steigt immer zur Quelle der Sprache"." Er vermag viel wirksamer, plastischer als der Einzelvortrag die Wesenheit eines Sprachstückes, dessen Lebens- und Sinngehalt und in engster Verknüpfung mit diesem seine Klanggestalt hervorzuheben, hörbar zu machen. Die Chorsprache entfleibet sich der *) Leo Weismantel.

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äußerlichen Spielbewegung, erhebt sich über die alltagsnahe, augenblicksgeborne Sprechweise und steigert sich zum stilisierten, typisierten Sprechausdruck. Das Sprechen im Chor unterscheidet sich wesentlich vom Sprechen im Spiel; hier der leichtere, regel­ lose, von der Spielbewegung gelenkte und bestimmte Ausdruck, dort eine strengere, klanggefaßte, sinngebundene Sprechform. Im Spiel sprechen immer einzelne, da gilt „möglichste Ungebunden­ heit und Freiheit im Entfalten des Allerpersönlichsten"*); das Individuelle, Subjektive findet hier Ausdruck und Gebärde. Beim Sprechchor tritt das Persönliche, Charakteristische vor dem Typischen, Allgemeinen zurück; die Nnzelstimme taucht in der Gesamtheit unter, wird aufgesogen vom chorischen Wort; der Vortrag wird abgewogen, gemessen, gebunden. Die differen­ zierte, nuancierte Sprechweise des Einzelvortrags wandelt sich im Chor ins Elementare, Überpersönlich-Objektive. Die beweg­ liche Sprache des Spiels spiegelt Wirklichkeit, die geläuterte Sprache des Chors offenbart Geistigkeit. So kann der Sprech­ stil des Chores auch nicht der naturalistische des Schauspielers sein und darf nicht nach realistischen, psychologischen und theatra­ lischen Gesichtspunkten gestaltet werden, sondern wird einzig vom Wesen des Wortes, seiner Sinn- und Klangform aus bestimmt. „Der Sprechchor bleibt eine vereinzelte, gelegentliche, vorüber­ gehende Erscheinung, wenn er nur Stimmungsfaktor, Wirkungs­ mittel, Mittel zum Zweck ist, anstatt Selbstzweck zu sein, Durch­ bruch zur Sprache, Bekenntnis einer neuen Sprachgestaltung .. ."**) Diese grundsätzliche Stellungnahme zum Sprech­ chor ist notwendig, wollen wir uns in Fragen der Methode und Stilformung nicht in Halbheiten und Stillosigkeiten verlieren. Namentlich auf der Mittelstufe, am entscheidenden Wendepunkt zur eigentlichen Dichtung hin, ist eine wegsichere, stilbewußte Haltung in allen sprechchorischen Übungen wichtig; denn was im Keime verdorben wird, bleibt meist für alle Zeiten verdorben Zwischen dem Sprechchor der Kinder (der Mittel- und Oberstufe) und dem der Erwachsenen soll kein Wesens-, sondern nur ein Gradunterschied bestehen. Vielfach begegnet man gerade beim Kindersprechchor Formen und Abarten, die man weder mit pä­ dagogischen noch mit ästhetischen Maßstäben bewerten kann. *) Dr. Alfred Simon. **) Bilma Mönckeberg.

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Mit besonderer Vorliebe wird in der Schule die erzählende Poesie, namentlich die Ballade, für Sprechchorversuche ver­ wendet; jene Dichtungsgattung, die sich am wenigsten dazu eignet. Man mag geeignete Balladen von den Kindern zu klei­ nen Sprechszenen umarbeiten lassen, aber man sei sich dabei bewußt, daß dies nur ein Verarbeiten des Stoffs, nicht ein Er­ arbeiten der Dichtung ist. Die Dramatisierung von Balladen durch Kinder bedeutet die Auflösung einer gestalteten Einheit in eine szenische Vielheit, die Umwandlung gedichteter Sprache in spielmäßige Handlung, wobei sich das formale Gefüge von Reim und Rhythmus ändert. Es entsteht etwas Neues, Eigenes; aus dem Gedicht wird ein Spiel. Diese Form pädagogischer Ar­ beit, die ihren Sinn und Wert hat, erzieht aber nicht so eindeutig und bestimmt zum Worte hin, wie der Sprechchor. Bei diesem steht das Sprachlich-Klanghafte im Mittelpunkt der Aufmerk­ samkeit und Übung, beim Spiel dominiert das Szenisch-Bild­ hafte, Bewegungsausdruck und Mimik. Die Darstellung einer Ballade durch den Sprechchor, die nicht verwechselt werden darf mit der Dramatisierung einer Ballade durch Gnzelsprecher — widerspricht betn innersten Stilgesetz dieser Dichtungsart. Be­ trachten wir die zumeist sprechchorisch vorgetragenen Balladen, „Die wandelnde Glocke", „Der Schneiderjunge von Krippstedt", „Ms Randers", „Belsazar", „John Maynard", „Archibald Dou­ glas"; jede dieser Balladen erzählt ein einmaliges @teigni3, ge­ staltet das düstere Erlebnis oder die lichte, befreiende Tat einer Einzelpersönlichkeit und bedarf auch der charakterisierenden Sondergestaltung und persönlichsten Ausdruckgebung durch den Einzelsprecher. Es ist sinn- und stillos, die innere Geschlossen­ heit und formgewaltige Ganzheit unserer großen Balladen wie „Belsazar", „Erlkönig", „Fischer" u. a. in willkürliche Chorpartien zu zerstücken und mit äußeren Mitteln die innere Größe dieser Dichtungen fassen und darstellen zu wollen. Da werden aus den Balladen förmliche Sprechchorpartituren gemacht, naturalistische Melodramen sprechchorisch orchestriert. Man lese nur das dargestellte Beispiel einer solchen „Chor­ ballade" (Belsazar von Heine) in E. H. Bethges Sprechchor­ büchlein „Wir! — Ihr!" „Der Text wird aufgelöst in Stim­ mungsgruppen -------" und es entstehen nun Szenen wie etwa folgende: „Hohe, helle Stimmen (warum genügt nicht eine Stimme?) schildern den Spuk:

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Und sieh------------ (sehr gedehnt) Und sieh------- an weißer Wand-------------Da kam's hervor wie Menschrnhand-----------Und schrieb-----------Und schrieb —------an weißer Wand-----------Buchstaben von Feuer — Und schrieb — und------------ schwand------------- . Das ist der Höhepunkt der Ballade. Hier müßte eine hohe Geige flimmern zu den Worten des Chores. Pause. Drei dumpfe Schläge auf dumpfem Fell."

Man ist versucht, die Bemerkungen zu ergänzen: „Das ist der Höhepunkt an kitschiger Stimmungsmache." Oder gar der Schluß: „Belsazar ward aber in selbiger Nacht von seinen Knechten umgebracht." Schreiend und tobend, mächtig anschwellend bis zum „umgebracht".

(Welch abstoßende Naturalistik! I) „Vorhang zu. Oder Licht vom Chor weg. Möglichst kein Beifallgeklatsche, sonst ist alles wieder zerschlagen."

Die Angst kommt zu spät; der Sprechchor selbst hat die Bal­ lade schon zerschlagen. Auch in anderen Sprechchorbüchern können wir ähnliche Verzerrungen und Stilverfälschungen be­ gegnen. So schreibt K. Sprang („Der Sprechchor und seine Be­ deutung für die Gedichtbehandlung") in der Vorbemerkung zur Droste-Hülshoffschen Ballade „Der Knabe im Moor"; „Die Wiedergabe kann nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn sie jene wunderbare Lautmalerei restlos zum Ausdruck bringt." In seiner sprechchorischen Bearbeitung der Ballade wird die Übertonung der Stimmungselemente dieser Dichtung deutlich; die Ballade wird zu einem „Tongemälde" arrangiert; das Hinter­ gründige überwuchert den Wesenskern. Im Mittelpunkt des Gedichts steht doch, dem Titel wie der balladenmäßigen Epik entsprechend, das Erlebnis des Knaben, seine angstgepeitschte Jagd durch das spukhafte Moor zur heimatlichen Hütte. Die als Geisterlaute gedeuteten Naturstimmen sind nur Mittel zur letzt­ möglichen Herausarbeitung dieses seelischen Vorgangs einer sich steigernden Furcht. In der Sprangschen Bearbeitung über­ tönen aber diese Stimmen das eigentlich seelische Begebnis der Ballade; die einheitliche, künstlerische Wirklichkeit des Gedichtes wird dadurch verfälscht; sein Eigenwesen verborgen. Fast alle

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sprechchorischen Darstellungen von Balladen vergehen sich in irgendeiner Form an der Wahrheit der Dichtung, die zugleich die Grenze der Freiheit ist. Falsche Kunsterlebnisse können sehr wohl auch schön und hinreißend sein, aber sie verbilden, führen zu subjektiver Willkür und Unkunst. Es gibt auch für die Vortrags­ weise einer Dichtung bestimmte, aus der formalen Sprachstruktur hervorgehende Sprechgesetze und -normen; diese aber stehen hier gegen die sprechchorische Behandlung einer Bal­ lade. Ebenso unmotiviert und unrichtig wie das chorische Sprechen erzählender und schildernder Teile in Balladen ist der chorische Vortrag rein schildernder Poesie, wie etwa „Das Dorf" von R. Reinick; „Die Kapelle" von L. Uhland, „Der Bohrturm" von H. Löns oder gar „Abseits" von Th. Storm. Solche Gedichte verführen namentlich im Chorvortrag zu übersteigerter schön­ rednerischer Sprachbehandlung, zu Illustration mit Sentimen­ talität und Naturalistik, zu Interpretation mit erklärendem Tonund Bewegungsausdruck. Bezeichnend für solch illustrativen und ausdeutenden Bortragsstil sind Anweisungen wie folgende: „Es wird die Aufgabe des Chores sein, hier möglichst naturgetreu mit dem Wort zu malen", oder „gleichsam in lichten Farben die Naturschönheiten malend". ®eme werden bei solcher Sprech­ weise einzelne Sätze und Wörter, wie „Trauer", „Sehnsucht", „Wonne", „Nacht", „Dunkel" besonders hervorgehoben und mit Stimmung und Gefühl drapiert. Gerade die schildernde Poesie verlockt nur allzuleicht aus einem Gedicht etwas zu machen und im chorischen Bortrag deren feinere Gefühlsmomente zu ver­ äußerlichen und zu vergröbern, das Stofflich-Inhaltliche zu stark in den Vordergrund zu stellen und ihre individualisierende, bild­ hafte Charakteristik in plakatmäßige Typik umzusetzen. Es gibt allerdings in der modemen Lyrik Gedichte, ganz entpersönlicht, nur vom Kollektiv der Sachen erfüllt, Photomontagen der Wirk­ lichkeit, in denen die Dinge selber sprechend etwas Chorisches auf­ rauschen lassen, z. B. Herbert Eulenbergs „Chikago" (Ausschnitt): „Stadt, gequadert am See! Hafengetöse. Hohe Speicher. — Krane flattern und schottern. Autos vier Reihen, nebeneinander wie Wogen. Belstler-Stolz, Sprechchor.

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- 34 Hochbahnen stürzen vorbei —. Wolkenkratzer rundum wühlendes Völkergemenge, Stadt einer künftigen Welt, die uns verlockt und schaudert." Solche Gedichte ertragen auch eine mehr demonstrative Dar­ stellung durch den Chor. Im allgemeinen aber eignet sich die er­ zählende, beschreibende und schildemde Poesie und insbesondere die rein subjektive Gefühlslyrik ihres individuellen Erlebnis­ gehaltes, ihres individualisierenden Stiles und formalen Sprachgefüges wegen nicht für den Sprechchor. Man wird sich bei der sprechchorischen Darstellung solcher Gedichte immer fragen: Warum ein Massensprechen, wo doch der Einzelvortrag abgetön­ ter, beweglicher und ausdrucksreicher gestalten könnte? Eigen­ wert und Eigenform des Sprechchors, dieses kollektiven Instru­ ments, bestimmen auch die Inhalte seiner Darstellungen: Be­ kenntnis und Erlebnis einer Gemeinschaft, deren Glauben und Willen, Sehnsucht und Erfüllung, Traum und Wirklichkeit im gestalteten Wort geoffenbart wird. Chor ist Sprache der Vielen, Mund eines Kollektivs, Stimme des Volks. Der Dichter ist der Übersetzer und Vorsprecher des Willens und der Wünsche einer Gemeinschaft, ihr Organ und Geistträger. Nur jene Dichtung, die aus innerer Ruhe und Verbundenheit des Dichters mit dem Volke gewachsen, die gleichsam Schöpfung der Gemeinschaft selber ist, gestaltet von der künstlerischen Kraft eines Einzelnen, Berufenen, eine Dichtung, die die unsterbliche, große, unermeßbar tiefe und doch kindlich naive Seele des Volkes spiegelt, die aus dem Schatz gemeinschaftlichen Lebens geschöpft ist, eignet sich stilecht und wesenhaft für den Sprechchor. Unter Verzicht auf die sprachliche Feinnervigkeit und seelische Differenziertheit der subjektiven Lyrik des 19. Jahrhunderts wird sich diese Dichtung auf die ganz einfachen, elementaren Urformen aller Lyrik zurück­ ziehen. In der schlichten Form des Liedes kündet sie von ge­ meinsamer Mühe und Not, Arbeitsleistung und Standesehre („Sieb der Kohlenhäuer" von G. Engelke; „Lied der Holzhäuer" von Goethe, „Bauernlied" von M. Claudius; „Schnitterlied" von C. F. Meyer; „Gesang der Armen" von F. v. Saar), als Gebet und Bekenntnis offenbart sie Glaubenshaltung und Gesinnung („Wir Sauern" von Billinger; „Werkleute sind wir" von Rilke; „Wir Werkleute all" von Lersch; „Gebet der Arbeits-

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losen" von Prestel). In der Gedankenglut und Sprachpracht der Hymnen, Psalmen und Dithyramben steigert sie das Gemeinschaftswort zur erhebenden, begeisternden und beseelenden Feier. Der innere Gehalt solcher Gemeinschaftsdichtung gibt ihr auch ihre besondere Gestalt und Ausdrucksform und damit ihren eigenen Sprechstil, wie wir diesen schon weiter oben gekennzeich­ net haben. „Aus inneren Gründen, aus seiner Verankerung im Gefühl der Gemeinschaft... wird der Sprechchor notwendig zu einer kultischen Gestaltung drängen, die lebendig aus der Zeit erwächst und ihrem eigenen Stil zustrebt." Was hier K. Vogt vom Sprechchor als einer Form der Laienspielkunst sagt, gilt m»ch für den Sprechchor der Schule. Er ist mehr als bloß spielerischer Stimmungs- und Effektmacher, mehr als nur rein sprechtech­ nisches Schulungsmittel; er drängt auch hier zur Kultform der Feier, sei es als frohbewegtes Sprechchorspiel der Kleinen inner­ halb der Werktagsarbeit, oder als hymnischer Ausklang und ver­ klärendes Erlebnis einer unterrichtlichen Arbeitseinheit, als er­ bauender Werkspruch am Beginn oder Abschluß eines Arbeits­ tages, einer Arbeitswoche oder eines größeren Zeitabschnittes und schließlich als großer feierlicher Festakkord jugendlicher Lebensfreude und Gemeinschaft in der Form der Schulfeier und des festlichen Chorspieles. Immer geben Inhalt und Form des Sprechchores solchen kleinen und großen Feiern schulischen Le­ bens das Gepräge einer gehobenen Gemeinsamkeit und geistigen Verbundenheit, musischen Stil. Sprechchor in diesem Sinn und Stil verpflichtet, verpflichtet zur Gemeinschaft, die ihn trägt und über diese hinaus zu jener größeren Gemeinschaft, deren Mund er ist—so wird er Bekenntnis und Erlebnis neuen Menschentums — zudem verpflichtet er zur Sprache, die Kunst ist, zum Kult der Dichtung, in der Anerken­ nung ihrer einmaligen künstlerischen Gestalt und in der Unter­ stellung unter ihr Gesetz und wird so Bekenntnis und Erlebnis neuer Sprach- und Sprechgesinnung. Damit ordnet sich der Sprechchor in den Dienst lebendiger Erziehung ein, einer Er­ ziehung vom Spiel zur Gemeinschaft, durch Gemeinschaft zur Sprache, durch Sprache zum Geist.

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Literaturarrgaven. 1. Roedemeyer: Vom Wesen des Sprechchors. (Er faßt die Ergebnisse Burkhardts und Du Msrils knapp und klar zusammen und ist auch im übrigen die gründlichste theoretische Schrift über den Sprechchor.) 2. Odo Casel O.S.B.: Das Gedächtnis des Herrn in der altchristlichen Liturgie. 3. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. 4. Froning: Das Drama des Mittelalters. 1. Band. 5. Schweizerische Schauspiele. Band 2. 6. Willi Fleming: „Das schlesische Kunstdrama" und „Das Ordens­ drama". In „Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen". Band 1 und 2 der Reihe: Barockdramen. 7. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. 8. Klopstocks Werke, herausgegeben von R. Hamel. 4. Band. 9. Klopstocks Brief an Gleim vom 19. XII. 1767. 10. Angeführt bei Rudolf Fischer: „Der Chor im deutschen Drama von Klopstocks Hermannsschlacht bis Goethes Faust II." 11. Vorwort zur Braut von Messina: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie." 12. Roedemeyer: Kleist's Robert Guiskard. (Aufsatz im Jahrbuch der Kleistgesellschaft 1923/24.) 13. Zu vergleichen: Kalischer: K. F. Meyer in seinem Verhältnis zur italienischen Renaissance. — Baumgarten: Das Werk K. F. Meyers. Renaisseempfinden und Stilkunst. 14. Johannesson Adolf: Leitfaden für Sprechchöre. 15. Engelke: Rhythmus des neuen Europa. 16. Romano Guardini: Vom Geist der Liturgie. Erschienen in der Sammlung Ecclesia Orans. I. Band. 17. Mensching Gustav: Die liturgische Bewegung in der evangelischen Kirche. 18. Rudolf Otto und Gustav Mensching: Chorgebete für Kirche, Schule und Haus, insonderheit auch für Jugendfeiern. 19. Wilhelm Leyhausen: Der Sprechchor. (Artikel im Berliner Tage­ blatt, 7. Mai 1926.) 20. Bon Bruno Schönlanks Chorwerken käme für Jugendliche vor allem sein „Jugendtag" in Betracht. (Berlin 1926, ArbeiterjugendVerlag.) Das Stück ist chorstilistisch sehr gut und wirkungsvoll im Aufbau. Geschrieben ist es vor allem für die sozialistische Jugend.

21. Walter Beck: Der Sprechchor. Artikel in der Zeitschrift „Die Tat" (1925). 22. Darüber zu vergleichen: Sievers Eduard: „Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen Sprechverses." — Saran Franz: „Deutsche Verslehre." — Nietzsche: „Geburt der Tragödie" (Ent-

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Wicklung des Volksliedes aus der Melodie). — Peters: „Die Auf­ fassung der Sprechmelodie." Sievers: Altgermanische Metrik. Saran: Deutsche Verslehre. Karl Lachmann: „Uber Singen und Sagen." In: „Kleinere Schriften zur deutschen Philologie." Angeführt in Nagl und Zeidler: „Deutsch-Österreichische Literatur­ geschichte." Darüber eine eingehende Arbeit von R. v. Liliencron: „Die Chor­ gesänge des lateinisch-deutschen Schuldramas im 16. Jahrhundert." Klopstock: „Grammatische Gespräche" 1794. — „über Sprache und Dichtkunst" 1779. Herder: „Adrastea." (Ausgabe von Suphan. Band 23.) Eckermann: Gespräche mit Goethe (9. X. 1828). Fritz Strich: „Deutsche Klassik und Romantik." Leo Weismantel: „Die sprachschöpferischen Kräfte im Menschen und ihre Schulung." (Bericht über den Kongreß Berlin 1928. Comenius-Verlag, Berlin.) Leo Weismantel: Ebenda. Fritz Gerathewohl: Das deutsche Bortragsbuch. München, Verlag Callwey. Erich Drach: „Was ist Sprecherziehung?" (In Bayrische Lehrer­ zeitung, 65. Jahrgang, Nr. 21/22.) — Ebenso zu vergleichen: Erich Drach: Grundlagen der Sprecherziehung. Karl Jörger: „Kleine Schulbühnenspiele." Verlag der Konkordia A.-G., Bühl (Baden). Hans Lebede: „Sprecherziehung ist not." Sprecherziehung, Rede, Vortragskunst. Audio-Vox-Sprachinstitut, Berlin. Karl Bücher: „Arbeit und Rhythmus." Verlag E. Reinicke, Leipzig. Paul Faulbaum: „Sonniges Jugendland." Gedichte und Reime für Grundschulkinder. Verlag A. W. Zickfeldt, Osterwieck. Walther Teich: „Wir spielen." Kindersprechchorspiele. Christian Kaiser-Verlag, München. Karl Bogt: „Praxis des Sprechchors." Verlag „Der Sturm", Berlin.

Zur Praxis des Sprechchors in der Schule. Innerstes Wesen des Chorischen ist der Rhythmus. An den dem Kinde mtgebomen Sinn dafür hat die Schule anzuknüpfen, nicht selbstherrlich, sondem zunächst dem unterworfen, was bis zum Alter des Schuleintritts natürlich gewachsen ist. Gute Auf­ schlüsse darüber gaben uns Untersuchungen an Kindergärten, aus denen hervorging, daß die besondere Liebe der Kinder meist

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nicht den neu gelernten Gedichtlein gilt, sondern solch alten und allbekannten Reimversen, wie es die folgenden sind: „Nikolaus, komm ins Haus." „Butter, butter, brutzelblasen, morgen back ich Osterhasen." „Tritsch, tratsch, tralleratsch, morgen gibt's Kartoffeldatsch." Neben solchen Versen treten Silben- und Wortreihen auf, von den Kindern selbst erfunden und in endloser Wiederholung mit stark rhythmischer Betonung im Chor gesprochen; z. B.: „Tiki, taki, tiki, taki............!" (Die Arme sind gegenseitig untergefaßt, bei leisem Hin- und Herwiegen des Oberkörpers.) Auch Namenreihungen, oft lustig schalkhaften Charakters, gehören hierher: Lieserl — Zieserl! Weitn — Schwaibi! Auf einem Spaziergang ertönt, von den Fünf- und Sechs­ jährigen angefangen, von allen Kleineren aufgenommen und im Chor mitgeleiert, mit stark betonter zweiter Silbe: „Kastanienbaum, Kastanienbaum...!" Nach einer Weile erfolgt die Ablösung durch ein zweites Leierwort mit dem Akzent auf der ersten Silbe: „Nasenzwickerbaum, Nasenzwickerbaum...!" Das Beispiel läßt den Sinn für rhythmische Gliederung un­ zweideutig erkennen. Die Reihe wurde gelegentlich fortgesetzt zum Birkenbaum, schritt aber niemals bis zu zweisilbigen Worten (Birke, Weide) fort, die in ihrer Kürze keinen so klaren rhyth­ mischen Einschnitt mehr ergeben hätten. Die Rhythmik des Kindergartenkindes ist noch ganz takt­ gebunden (metrisch) und daher (überdies noch vom Singeton beeinflußt) stark leiermäßig. Die Aufgabe der schulischen Sprach­ erziehung, von diesem leierhaft taktbetonten Rhythmus wegzu­ führen zum sinnbetonten, werden wir dann am natürlichsten erfüllen, wenn wir niemals auf die unzweifelhafte Tatsache ver­ gessen, daß der kindlichen Ausdruckskraft die körperliche Bewegung (wie übrigens auch das Zeichnen) nähersteht als die Sprache.

- 39 Also zuerst nicht ein Sprachgebilde, zu dem dann Bewegun­ gen erfunden werden, sondern zuerst Bewegungen, zu denen Lauthaftes, Sprachliches sich einstellt. Seit die rhythmische Gym­ nastik, in ihren Grundelementen auch ins Schulturnen einge­ drungen, dieses freier und natürlicher gestaltete, vermag sich hier tatsächlich Sprachliches aus Körperlichem zu entfalten. So entstanden folgende Verse überwiegend aus den Kin­ dern selbst als sprachliche Begleitung zu Turnbewegungen. 1. „Der Wind weht, die Mühle geht." Die erste Zeile begleitet ein Armschwingen bis zur Schulter­ höhe, die zweite ein Armkreisen vor dem Körper. Sprachrhythmisch eine gute Übung, da der Bersauftakt auch bewegungsrhyth­ misch durch leichtes Aufwärtsheben der Arme angedeutet wird und erst bei den akzentbeschwerten Silben „Wind..." und „Müh ..." der Abwärtsschwung erfolgt. 2. Hoch wie ein Berg, klein wie ein Zwerg. Groß wie ein Haus, winzig wie 'ne Maus. Hoch wie ein Turm, klein wie ein Wurm. Bei der jeweils ersten Zeile der drei Reimpaare Strecken des ganzen Körpers mit hochgehobenen Armen, bei den zweiten Zeilen blitzschnelles Jn-sich-zusammensinken in die Hockstellung. Die ersten Zeilen werden langgedehnt, die zweiten sehr rasch ge­ sprochen. Dies führt die Kinder unmerklich vom taktgebundenen Rhythmus weg. 3. Englein fliegen, Christkind wiegen. Gesprochen zu einem leichten seitlichen Schleudern des Unterarms nach auswärts und wieder einwärts zur Schulter. 4. Der Stein ist schwer, so schwer, so schwer-------! Ich — kann nicht mehr! Stemmübung aufwärts mit geballter Faust, bei „ich" noch einmal Aufrecken, dann rasches Fallenlassen des Arms. Sinn-

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gemäß den Ansang langsam, dann nach dem „ich" sehr rasch, plötzlich erschöpft und nachgebend sprechen. Dies sind nur wenige Beispiele, die sich mannigfach ver­ mehren lassen, und zwar in einer jeden Klasse, die ein freieres Turnen Pflegt. Wir können von solchen kurzen Sätzen unge­ zwungen übergehen zu längeren Versen. In den alten, wertvollen Sammlungen von Kinderreimen („Des Knaben Wunderhorn" und „Böhmes Kinderlieb und Kinderspiel") ist zwar nur ein klei­ ner Bestandteil der Gedichte in Sinn und Form chorisch, doch läßt sich bei vorsichtiger Auswahl mancherlei Brauchbares finden. Ein Beispiel gibt das allbekannte: „Ri, ra, rutsch!", von den Kin­ dern erweitert und unsrer Zeit angepaßt: Ri, ra, rutsch! Wir fahren in der Kutsch'. Wir fahren in der Schneckenpost, wo es keinen Pfennig kost'. Wir fahren in der Eisenbahn, weil sie viel schneller fahren kann. Wir fahren mit dem Zeppelin, der saust am schnellsten her und hin. Ri, ra, rutsch! Wer fährt noch in der Kutsch'? Die Hochzeitsleut', die Hochzeitsleut', die fahren in der Kutsch'. Sie zieh'n die schönsten Kleider an, die unser Schneider machen kann und fahren: Ri, ra, rutsch! Das Gedicht, im Chor gesprochen, gehört in den offenen, freien Raum, also mehr in Schulhof und Turnsaal wie ins Schul­ zimmer. Erstes Gebot: Man lasse solche Verse und Verse über­ haupt niemals von den Kindern sprechen, während sie still in den Bänken sitzen. Chorsprechen dieser Art ist nur erlaubt als Memoriermittel und geschehe mit halblauter, lieber noch mit leiser, mindestens gedämpfter Stimme, in einem raschen, streng zusammengefaßten Takt, scharf (nicht laut) betont und akzentuiert. In bezug auf jede Art von Dichtung aber wirkt solches „Bank­ sprechen" im Chor hoffnungslos verheerend für die ganze Schul­ zeit. Es ist, als ob alle, durch das starre Stillsitzen gefesselten Kräfte sich dann revolutionär Luft machten in dem bekannten

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Schulschreiten: Ein Plärren, zu welchem, wenn es immer ge­ dehnter und mühsamer sich hinzieht, die gedankenloseste Lange­ weile gähnend den Takt schlägt. — Wenn schon gegenüber den Turnverslein in dem „Ri, ra, rutsch!" das Wort bereits vor der Bewegung auftritt, so hemme man wenigstens den durch den Inhalt angerufenen Bewegungsimpuls der Kinder nicht, son­ dern gebe ihm freien Raum. Zum gemeinsamen Einlernen versammle man die Kinder auch späterhin lieber ums Pult und unterdrücke es nicht, viel­ mehr dulde, ja begrüße es, wenn leise Bewegung wach wird. Die Bewegungen, das Spiel, lasse man möglichst von den Kindern selbst gestalten oder gestalte es mit ihnen, gebe Impulse und Anregungen, dränge aber nichts endgültig schon vorher Fertiges auf. Alles Lebendige und Lebenerweckende, auch in Unterricht und Erziehung, entspringt nur aus einem Werden. Bei den Versen des „Ri, ra, rutsch!" kann man schon im ersten Abschnitt Teilchöre einführen, je nach dem Fahrzeug, das benützt wird. Mindestens aber ist ein Gegenchor notwendig für den zweiten Teil, der ja auch rhythmisch anders einsetzt. Er hat fallenden Rhythmus im Gegensatz zum steigenden der An­ fangszeilen, deren Akzent auf den Schlußworten „rutsch" und „Kutsch" liegt. Unbewußt arbeiten die Kinder diesen Wechsel klar heraus. Dem Zusammenhang von Körperbewegung und Sprache, den man als einen unserer Zeit so notwendigen und leider so häufig und früh verschütteten Quell lebensstarker, ursprünglicher Gnheitlichkeit des Menschlichen so lang als nur irgend möglich in der Schule wahren sollte, diesem Zusammenhang dienen dann auch Spielverse, die einen Arbeitsvorgang chorrhythmisch nach­ ahmen. Das oben grundlegend und ausführlich Gesagte gilt auch für sie. Die Drescher.

Die Knechte dreschen klipp und klapp, so munter und so froh; die Kömlein springen auf und ab, da liegt das leere Stroh. Den Weizen nur hereingebracht, schlagt mit dem Flegel drein.

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Und auch das Korn soll bis zur Nacht noch heut gedroschen sein. (Aus der Sammlung von Joseph Lipp: „Der Kleinen Sang und Spiel." Verlag Schnell, München.)

Die Schneider. Schneider: Wir sind geschickte Schneider. Wir nähen, nähen, näh'n. Röcke, Blusen, Kleider könnt ihr bei uns seh'n. Tretet ein! Kommt herein! Ei, wie sind die Stoffe fein! Kinder: Und nun gar die Kleider! Schneider: Unsre Scheren schneiden: Schnipp, schnapp, schnapp! Von den bunten Seiden fällt gewiß was ab. Schnipp, schnapp, schnapp, hier ein Stück! Schnipp, schnapp, schnapp, dort ein Stück! Welch ein Glück! Kinder: Gibt's ein Kleid fürs Puppenkind, näh ich selber mir's geschwind. Schnipp, schnapp, schnipp. Schneider: Nadel her und Faden! Stich, stich, stich! Seid ihr eingeladen kriegt ihr sicherlich reichlich noch zur rechten Zeit morgen nachmittag das Kleid: Stich und stich und stich! Kinder: Schau, das Blaue ist für mich! Und das Rote da für dich! Stich, stich, stich, sicherlich: Herrlich wird's uns stehen, was die Schneider nähen. Stich und stich und stich!

- 43 Gedichte, wie die eben angeführten, aus einem rhythmischen Arbeitsvorgang entspringend, haben naturgemäß noch einen stark taktgebundenen Rhythmus, der trotzdem schon sinnbetonter ist als das „Ri, ra, rutsch", gelegentlich bereits ein Hinüber­ sprechen über das Zeilenende, einen hervorhebenden Ausdruck der Überraschung oder der Freude verlangt. Langsam (Ende des 2., Anfang des 3. Schuljahrs) kann der Übergang zu feineren sprachlichen Gebilden erfolgen. Einige hübsche Spielgedichte bieten sich dar: Spielgedichte, die jetzt etwas ganz anderes be­ deuten, als das Spiellied des Kindergartenalters, bei dem — wie es schon im theoretischen Teil ausgeführt wurde — das Primäre der Tanz, das Spiel, der Bewegungsrhythmus ist, dessen lust­ betonter Wiederholung eine Unzahl von Textstrophen gänzlich untergeordnet dient. Allmählich aber kommt das Kind so weit, Sprachrhythmen an sich zu empfinden, d. h. ästhetische Freude am teilten (vorgelesenen, besser noch vorgesprochenen) Vers zu haben. Das setzt voraus, daß es sich jetzt auch mehr um den In­ halt, d. h. um das Gedankliche und Sinnhafte kümmert und die glückliche Verkörperung dieses Sinnhaften in der angemessenen Form unbewußt empfindet. Der Lehrer vergesse dieses Unbe­ wußte nie, hüte sich vor verfrühtem und übermäßigem gedank­ lichen und formalen Zerpflücken der Gedichte, sehe dagegen sehr auf ihre gute Darbietung und auf ihre frohe gemeinschaftliche Aneignung. Die kleinen Mädchen tanzen und singen.

Ich und du und du und du, zweimal zwei ist viere, tragen Kränze auf dem Kopf, Kränze aus Papiere. Rechts herum und links herum, Rock' und Haare fliegen. Wenn wir alle schwindlig sind, fall'n wir um und liegen. Purzelpatsch, wir liegen da, patschelpurz im Grase. Wer die längste Nase hat, der fällt auf die Nase. Otto Julius Bierbaum.

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Vorherrschaft des Wortes über die bloße äußere Bewe­ gung: dies wird jetzt bewußt, methodisch angestrebt. An und für sich legt das Gedicht eine ausgelassene Bewegung recht nahe, einen Tumult, der das Sprachliche unter sich begräbt. Anweisung des Lehrers also: Spielt es, aber spielt es so, daß ihr es noch schön und deutlich sprechen könnt, nicht außer Atem kommt usw. Und nun ein Spielgedicht ganz anderen Charakters! Ausflug mit der Eisenbahn. Ganzchor: „Puff puff Eisenbahn — jetzt fahren wir nach Wiesenplan!" 1. Halbchor: „Wiesenplan, das ist die Stadt, die den Kohlweißling zum Bürger hat. Der Kohlweißling bewohnt ein Haus, das sieht wie eine Glocke aus —" 2. Halbchor: „wie eine Glockenblume blau! Da wohnt der Kohlweißling und seine Frau. Und weht der Wind, macht die Glocke kling kling, und da freuen sich Herr und Frau Schmetterling." Ganzchor: „Puff puff Eisenbahn! Jetzt fahren wir aus Wiesenplan hinaus, hinaus, dem Walde zu ..." 1. Halbchor: „wohin? wohin? ... 2. Halbchor: Nach — Quellwaldruh! Der Bahnwärter von Quellwaldruh, das ist ein Frosch und quakt dazu."

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Einzelsprecher: „Quak, quak, quak, aussteigen, quak!! In Quellwaldruh ist heut Ostertag! In Quellwaldruh ist heut Osterfeier, da versteckt der Osterhas bunte Euer! Rote und gelbe und allerlei, und das Suchen steht allen Fahrgästen frei. Quak, quak, quak! Guten Tag!" Ganzchor: „Guten Tag! Schönen Dank! Herr Bahnwärter Quak. Und jetzt wollen wir unter Eichen und Buchen und Tannen und Birken die Ostereier suchen! Und im Moos und unter den großen Wurzeln, darüber die kleinen Kinder purzeln. Mcht wahr? Und haben wir alle gefunden und in unsre Sacktücher eingebunden, dann fah'rn wir am Wend wieder nach Haus und packen das Wunder vor Großmutter aus." Christian Morgenstern.

Ist dieses Gedicht noch chorisch? Es steht mit mancherlei er­ zählenden Elementen an der Grenze, obwohl es im „Wir"ton geschrieben ist. Sein chorisches Grundmotiv jedoch ist das Fahren mit der Eisenbahn, jeweils durch Einsetzen des Ganzchors heraus­ gehoben. Wertvoll erscheint es mir einmal wegen seines Hu­ mors — ein ganz unschätzbarer Faktor im Kinder- und Schul­ leben, dann aber auch deshalb, weil es durch Teilung in Ganz­ chor, Halbchor und Einzelsprecher sich schon der Gattung „Spiel" nähert, welches unsere Schulkinder sich jetzt heimlich wünschen. Sie meinen und nennen es „Theaterspielen" und träumen — hier dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben, können es ange­ sichts der heutigen Lage auch nicht — sie träumen also von schö­ nen Kostümen, feinen Rollen und verschwenden, besonders die Knaben, ihre Phantasie an die unmöglichsten szenischen Kunst­ stückchen. Dies sind lauter Dinge, von denen wir sie, auf der Suche nach neuen sinnvolleren Festen und Feiern, allmählich mit sanfter Gewalt wegführen wollen, der Tatsache uns bewußt, daß wahre Erziehung ebensowenig ein stetes Aufnötigen wie ein ständiges

- 46 Gewährenlassen sein kann, sondern immer den nicht goldenen, sondern schwierig schmalen Weg zwischen beiden bedeutet. Der Weg solcher Führung bestand einmal auch in dem Ver­ such, den Kindern selbst ein Spiel schreiben zu lassen, dessen Form unmerklich mitgestaltet werden konnte. Die Erzählung von Sophie Reinheimer: „Der Herbstwind geht auf die Reise" (im Lesebuch für den 2. und 3. Schülerjahrgang der Gemeinschafts­ schulen Bayerns) bildete die Grundlage, so daß Anlage und Auf­ bau des Spieles sowohl durch dieses Lesestück wie durch die Lehr­ kraft bestimmt wurden. Aus vielen einzelnen Entwürfen der Kinder wurden jeweils die besten Stellen in gemeinsamer Kritik und Arbeit herausgesucht und zusammengefügt. Außer den Mit­ schülern griff auch die Lehrkraft helfend und glättend ein. Nicht um die völlig selbständige Kinderleistung ging es, sondern darum, daß das Stück — in der Hauptsache von Kindern geschaffen — ihrer Reifestufe (3. Schülerjahrgang) auch was Sinn für Reim und Rhythmus betrifft, genau angepaßt ist. Bei der hübschen Stelle: „Ach, wenn ich das könnte, wie mein Drache es macht!" ist das beliebte Gedicht von Blüthgen: „Gemäht sind die Felder!" Pate gestanden. Die Stelle überrascht trotzdem durch die sichere Verwendung daktylischer Versfüße, die zeigt, daß die Kinder jetzt auch für andere als nur zweitaktige Verse empfänglich sind. Spiel vom Herbstwind.

Der Wind: Ww! Ww! Muh! Macht die Fenster zu! Ich bin der Wind. Ich sause geschwind durch die ganze Welt bis ans Ende der Welt. Saust mit, wem's gefällt! Ww...! Ww...! Wuh! Chor der Blätter: Hui, ist das ein lust'ger Reigen, wenn es ringsum stürmt und braust! Wer wird uns zum Tanze geigen? Hei, der Wind kommt angesaust!

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Wind, du mußt noch stärker blasen, mußt uns immer höher treiben, bis wir endlich auf dem Rasen müd vom Tanze liegen bleiben. Chor der Drachen: Wir sind die Drachen, schaut uns an! Wir haben bunte Joppen an. Zwei Augen stehen im Gesicht und auch die Schwänze fehlen nicht. Ach! — Aber! — Was helfen die Kleider? Wir können nicht weiter! Wir können nicht fliegen! Wir bleiben hier liegen und warten auf Wind. O komm doch geschwind! Der Wind: O weh! Ihr armen Drachen! Da muß ich aber lachen. Ihr könnt' ja gar nicht steigen. Na wart': Ich will's euch zeigen. Huiii...! Kommt ihr denn noch nicht hinauf? Hebt doch die Schwänze besser auf. Es kommt jetzt noch ein neuer Stoß. Seht, meine Herr'n, es geht famos. Die Knaben: Erster: Hei, wie mein Drache so schön fliegt! Zweiter: Und meiner sich in Lüften wiegt! Dritter: Und meiner nett sein Schwänzchen biegt! Chor: Wickelt die Schnur ab, der fliegt zu tief! Wickelt noch weiter ab, der hängt ganz schief. Einzelner: Ach, wenn ich das könnte, wie mein Drache es macht! Er schwebt über die Bäume, so über das Dach und lacht und lacht über sein breites Gesicht!

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Der Wind: Hui! Huii...! Jetzt seht ihr, was ich kann. Jetzt geht die Gaudi erst recht an. Ihr Kinder, soll ich Unfug treiben? Chor der Kinder: Ja! Ja! Ein Mann: Nein! Laß das lieber bleiben! Du wehst mir ja den Hut vom Kopf! Eine Frau: Du zerbrichst mir meinen Blumentopf. Jetzt hast du ihn auf die Straße geschmissen! Zweite Frau: Und mir die Wäsche davon gerissen! Chor der Kinder: O weh, wie wild der Wind jetzt tut. Er macht uns unsere Drachen kaput. Geh zu, du böser Wind, geh zu! Und laß uns endlich unsere Ruh! Wir mögen dich nimmer, wenn du so wehst. Es ist jetzt Zeit, daß du endlich gehst. Und wenn du nicht magst: Wir gehen nach Haus und schließen fest zu und lachen dich aus. Da kannst du stürmen immerzu und wehen und blasen: Ww ..., ww ...! Wuh! Nach dem selbstverfaßten Spiel sind die Kinder auch für ein schon gestaltetes reif mit etwas höheren Anforderungen an Ver­ ständnis und Sprache. Gedacht ist an das im Anhang angeführte Sprechchorspiel von Walther Teich: Ernte. Sehr anmutig und wegen seiner Einfachheit schon auf einer der ersten Klaßstufen verwendbar ist Trojans Gedicht von den Schneeglöckchen. — Nach dem Erntespiel gibt dann Görres

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„Flucht des Winters" Gelegenheit, an vokalreichen Reimen die Klangkraft der jungen Stimmen zu erproben und Morgen­ sterns „Weidenkätzchen" (aufgeteilt zwischen Einzelsprecher und Chor) zeigen bereits sehr feine rhythmische Schwingungen. Dte Schneeglöckchen sagen.

Wir sind die ersten im Garten, woll'n auf die andern warten, noch kahl ist Baum und Strauch. Ach, liebe Sonne, scheine herunter auf uns Kleine! Es frieren uns die Füßchen und Kopf und Hände auch. Flucht des Winters.

Nun treiben wir den Winter aus, den alten, kalten Krächzer. Wir jagen ihn zum Land hinaus den Griesgram, Brummbär, Ächzer, und laden uns den Frühling ein mit Blumen und mit Sonnenschein. Juchhei, juchhei! O komm herbei, o Mai, o Mai! Das faule Stroh, das dürre Reis und alles, was vermodert, das geben wir dem Feuer preis, daß hoch die Flamme lodert, und laden uns den Frühling ein mit Blumen und mit Sonnenschein. Juchhei, juchhei! O komm herbei, o Mai, o Mai! Das Lied ist aus, Viktoria! Der Winter ist vergangen. Wir fingen froh ein Gloria dem Lenz, der angefangen, und laden uns den Frühling ein mit Blumen und mit Sonnenschein. Belstler-Stolz, Sprechchor.

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Juchhei, juchhei l O komm herbei, o Mai, 0 Mai!

Die Weidenkätzchen.

Kätzchen ihr der Weide, wie aus grauer Seide, wie aus grauem Samt! O ihr Silberkätzchen, sagt mir doch, ihr Schätzchen, sagt, woher ihr stammt. ,Wollen's gern dir sagen: Wir sind ausgeschlagen aus dem Weidenbaum, haben winterüber drin geschlafen, Lieber, in tieftiefem Traum., In dem dürren Baume in tieftiefem Traume habt geschlafen ihr? In dem Holz, dem harten, war, ihr weichen, zarten, euer Nachtquartier? Mußt dich recht besinnen: Was da träumte drinnen, waren wir noch nicht, wie wir jetzt im Kleide blühn von Samt und Seide hell im Sonnenlicht. Nur als wie Gedanken lagen wir im schlanken grauen Baumgeäst; unsichtbare Geister, die der Weltbaumeister dort verweilen läßt? Kätzchen ihr der Weide, wie aus grauer Seide, wie aus grauem Samt!

Guido Görres.

- 51 O ihr Silberkätzchen, ja, nun weiß, ihr Schätzchen, ich, woher ihr stammt. Christian Morgenstern. Morgensterns Gedicht, das schon etwas höhere Anforderun­ gen an die rhythmische Feinfühligkeit der Kinder stellt, bildet eine gute Vorübung für die nun folgenden Sprachwerke, die kaum vor dem 5. Schuljahr an die Kinder herangebracht werden können. Denn Paula Dehmels „Elfenreigen" geht über die Welt des Märchens schon hinaus in den Bereich der Bolkssage, deren Behandlung nach der neuen bayrischen Lehrordnung eben ins 5. Schuljahr fällt. Der hier folgenden Wiedergabe dieses Gedichtes ist stellenweise durch lateinische Buchstaben das Reim­ schema beigegeben. Elfenreigen. Eia, wir Elfen, wir kommen und helfen, eh du's gedacht, Kind, eh du's gedacht. Wir kommen b im frommen b Geleuchte der Nacht, a Gewänder c und Bänder c vom Monde erdacht; a wir schweben d und heben cl im Reigenspiel sacht a die Schleier e zur Feier e der freundlichen Nacht. a Eia, wir reichen uns schmeichelnd die weichen Hände im gleichen lieblichen Takt, im lieblichen Takt. Wir gleiten b durch Weiten b der wandernden Welt, a wir ziehende c fliehende c Nebel im Feld; a

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d wir lauschen d dem Rauschen a der Quellen gesellt, e und schauen e die blauen a Gefilde bestellt. Eia, wir zeigen im silbemen Reigen mit Nicken und Neigen die Zauber der Welt, die Zauber der Welt. Dies ist nicht Märchen mehr, wenn vom „Zauber der Welt" bewußt gesprochen und die Zaubergestalt in ihrem naturentsprung'nen Werden aus Mondgeleucht und ziehenden Nebeln aufgezeigt wird. Aber zauberhaft vollzieht sich dies Weben zwischen Stimmung und Gestalt, ein hauchzartes Spiel. Das Spiel klingend und schwingend zu machen, ist Sache des Chors — auch schwingend, bewegt jetzt nur mehr mit dem Mittel der Sprache; denn unmöglich erscheint mir hier die Verbindung von Sprech- und Bewegungschor, welche wahrscheinlich den Sprechausdruck unliebsam vergröbem würde. Zu denken wäre höchstens an einen von einzelnen, nicht mit Sprechen beschäftigten Kindern ausgeführten Tanz. Die Sprechenden selbst blieben dann unsichtbar im Hintergrund, eine Maßregel, die für Chor­ vorträge überhaupt oft sehr vorteilhaft ist. Lockend setzen einzelne helle Stimmen mit dem „Eia" der ersten drei Langzeilen ein und beschließen diese mit der Wieder­ holung des „Eh du's gedacht", die leiser, verhallend wie ein Echo gesprochen wird. Dies müßte überhaupt durch das ganze Gedicht fühlbar werden: Im Wechsel der lang- und kurzzeiligen Stellen ein Gleiten und Schweben zwischen Näherkommen und wieder Entweichen. Bezeichnend dafür die erste Kurzzeile: „Wir kommen", bei der vielleicht der Ganzchor einsetzt. Das schon angegebene Reimschema dieser Kurzzeilen, teil­ weise ins Horizontale übersetzt, gibt folgendes Bild: b b a Es wird deutlich, daß viermal je zwei klingende c c a Reime gegen den stets gleichbleibenden stumpfen d d a Reim a anwogen. e e a

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Der Umstand, daß ihm zwei Senkungssilben vorausgehe,» (vor ihm steht ein Daktylus), verleiht ihm einen stärkeren dynami­ schen Akzent. Auch liegt hinter ihm die Atempause, da selbst­ verständlich jedesmal die drei zusammengehörigen Kurzzeilen in einem Atem gesprochen werden müssen. So auch rhythmisch hervorgehoben, sind die vier stumpfen Endreime vor allem aber Träger der feinen Versmelodie, die sofort zerstört wird, wenn die Stimme hier fällt, anstatt sich (trotz der folgenden Pause) schwebend in der gleichen Höhe zu halten. Nur durch dies Halten der Stimme in derselben Höhe werden die kürzeren Schwingungen durch einen weiter angelegten rhythmischen Bewegungsbogen überbrückt und der Eindruck des luftig Schwebenden wird glücklich gewahrt. Wieder setzt weich, schmeichelnd mit dem „Eia" die nun ganz auf den „Ei"-Ton gestimmte Langzeilenstrophe ein. Die zweite Kurzzeilengruppe wird im Gleiten und Ziehen bewegter, führt tiefer hinein in den süßen Schauer der Nacht, erlaubt den Stimmen, etwas lauter zu werden. Beruhigend fast das letzte „Eia", die „Nicken und Neigen" ganz ins Graziöse, Spielerische zurückfallend; denn nichts als ein leichtes, lockendes Spiel, anschwebend und silbern verklingend, ist das Ganze. Methodisch wäre noch anzufügen, daß das Gedicht sich wohl nur für Mädchenstimmen eignet und daß auch sie niemals ins Laute verfallen dürfen. Eine gute Übung wäre, es beim Ein­ studieren einmal als Flüsterchor sprechen zu lassen. — Zweite Hauptsache ist das leichte Herüberschwingen der Stimme über das Zeilenende. Hier sind vorteilhaft Atemübungen einzuschalten. — Endlich ist Paula Dehmels feines kleines Werk ein Muster­ beispiel für alle jene Gedichte, die durch willkürlich hervorge­ hobene Worte, durch gewolltes Betonen und „originelle" Auf­ fassung hoffnungslos in ihrem feinsten Reiz zerstört werden. Fern verwandt dem Elfenreigen ist Mörikes Lied vom Winde, das gleichfalls eine Naturerschein»ing im magischen Spiegel des Dichters bannt. Lied vom Winde.

Sausewind, Brausewind! Dort und hier! Deine Heimat sage mir!

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Kindlein, wir fahren seit viel vielen Jahren durch die weit, weite Welt, und möchten's erfragen, die Antwort erjagen, bei den Bergen, den Meeren, bei des Himmels klingenden Heeren, die wissen es nie. Bist du klüger als sie, magst du es sagen? — Fort, wohlauf! Halt uns nicht auf! Kommen andre nach, unsre Brüder, da frag wieder! Das Gedicht, nur ein Fragment, paßt als solches gut in die Welt des Kindes. Wind- und Wetterbeobachtungen werden auf fast allen Klaßstufen veranstaltet. Lasse man daneben aber den Schüler auch einmal auf Wanderungen den Wind erleben, den leisen Wind überm Ährenfeld und den vollen, weiten, der den Wald rauschen macht und die Wolken über die Hügel treibt. Aus solchem Erleben steigt, ohne daß es noch vieler erklärender Worte bedarf, die glückliche Wiedergabe des Gedichtes. Heiter und neckend der Anfang, frisch und keck von einem Einzelsprecher die Frage hingeworfen. Darauf setzt der Chor breit und mächtig ein, mit wohl­ wollender Überlegenheit dem kleinen Frager gegenüber, so wie im Märchen ein Riese einmal in guter Laune einem Zwerglein antworten mag. Dann springt Ungeduld auf bei den Worten: „Die Antwort erjagen" und steigert sich bis zu der Stelle „bei des Himmels klingenden Heeren", wobei mit der Beschleunigung des Tempos sich auch die Stimme etwas erhöht (man achte hier auf den Übergang vom volleren, dunkleren „A"-Vokal in fahren, Jahren usw. zum helleren „E" und „I"!).—Ein Stocken kommt in die Bewegung Leises Staunen („Die wissen es nie") und schalkhaft gutmütige Neckerei der hoch und gewaltig Wandernden („Bist du klüger als sie?"). — Neue Bewegung überbraust das kurze Stillehalten. Flüchtig, im Weiterwandern schon der Hin­ weis auf die nachfolgenden Brüder, denen die Frage erneut gestellt werden kann.

- 55 Auf der Stufe, auf der wir die eben angeführten Gedichte an das Kind heranbringen (5. und 6. Schuljahr), sind die Schüler zum großen Teil in einer Periode innerer Gärung, einer Art Borreife mit starken Gemütserregungen, aber noch mit wenig klarer Bewußtheit und sachlicher Beziehung zu menschlichen Gemeinschaftsformen, die über den engen Kreis der Familie Hinausweisen würden. Von Arbeits- und Schicksalsgemein­ schaften im Bereich des Menschlichen begreifen sie wenig, leben aber dafür noch in starker Naturverbundenheit und die romantische Naturbeseelung kommt dem Überschwang ihres Gefühls wie nicht leicht sonst etwas als ein Tiefverwandtes nahe und entgegen. Wir müssen dieser geistigen Verfassung über die obengenannten Jahre hinaus weit in die Pubertätszeit hinein Rechnung tragen, tun dies auch auf einer höheren Klaßstufe noch gelegentlich, mit Röttgers Lied der Ähren z. B. Merdings tritt menschliches Schicksal, nicht nur als Einzel-, sondern vorwiegend als Gemeinschaftserlebnis den Schülern jetzt im Geschichtsunterricht vor die Seele. Aber das eigentlich und im engeren Sinn Historische hat keine Beziehung zur chorischen Dichtung. Denn alle Geschichte: Einmal geschehene, einzelne Tat findet ihre dichterische Verklärung innerhalb der Epik, mag es die kleinere Form der Ballade oder die des großen Epos sein. Nur ein Menschliches von allgemein gültiger, typischer Prägung, das — im Lauf der Zeit sich immer und stetig wieder­ holend — überzeitlich oder zeitlos wird wie die Natur selbst, nur dies vermag zu chorischem Ausdruck zu kommen. Einmal gelang einem Dichter dieser Ausdruck überaus glücklich: Als vollendeter Zusammenklang des zeitlos ewigen Geschicks in Natur- und Menschenleben vollzog er sich in Konrad Ferdinand Meyers Säerspruch: Säerspruch. Bemeßt den Schritt! Bemeßt den Schwung! Die Erde bleibt noch lange jung! Dort fällt ein Kom, das stirbt und ruht. Die Ruh ist süß. Es hat es gut. Hier eins, das durch die Scholle bricht. Es hat es gut. Süß ist das Licht. Und keines fällt aus dieser Welt — und jedes fällt, wie's Gott gefällt.

- 56 Das Gedicht ist nicht auf den „Wir"-Ton gestimmt, ist ein Auf­ ruf, aber ein Aufruf an die Vielzahl aller Saatstreuenden der Erde, schließlich Verheißung und Trost allen Menschen, also im tiefsten Wesen ein chorischer Spruch — auch in formaler Beziehung; denn hier ist ein Rhythmus, der aus einer — möchte man sagen — kultischen Gebärde entsprang. Vielleicht ist dies der Punkt, von dem aus man den Schüler diesmal auch zu einem einigermaßen bewußten Formerlebnis des Gedichtes bringen kann. K. F. Meyer selbst gibt den Schlüssel dazu mit einer Stelle aus Huttens letzten Tagen: Ein Knabe aus dem Bergland sieht, in die Ebene gekommen, zum erstenmal einige Sauern säen. „Fromm" erscheint ihm das Tun der Män­ ner, das ihm der Vater deutet: „Sie streuen das Brot des lieben Gottes aus." Bor Ergriffenheit kommen dem Knaben die Tränen. „Was ist dir, Uli? Weinst du? Schäme dich!" „Ei, Vater, es ist gar so feierlich." Die Feierlichkeit der Gebärden: Sie muß beim Sprechen des Gedichtes zum Ausdruck kommen. Aus dem gehaltenen Schritt und dem weiten Armschwung des Säers erwächst der Rhythmus dieser streng gemessenen, taktmäßigen Verse. Streng und klar im Aufbau, deutlich gegliedert ist das ganze Gedicht, ein reines Beispiel des klassischen Dichtstils. Denn ebenso wie zwischen den einzelnen Versfüßen kein Ineinanderfließen statt­ findet, bleibt im weiteren Aufbau jede Berszeile durch das jeweilige Zusammenfallen des Satzendes mit dem Zeilenschluß für sich abgeschlossen. Eine weitere Gliederung ergibt die Zäsur genau in der Zeilenmitte, sehr stark in Zeile 1, 4, 6, schwächer aber noch deutlich genug in Zeile 3 und 8. Schließlich ist das Gedicht im ganzen architektonisch aufgebaut: Je zwei zusammen­ gehörige Zeilen ergeben vier völlig gleichwertige Gruppen, wie vier nebeneinander aufgerichtete Säulen. Die Aneinander­ fesselung der beiden Mittelgruppen (2 und 3) durch Kontrast­ wirkung verhütet das Auseinanderfallen des Gedichtes, bedeutet gleichsam eine übergiebelung der Säulen. So beruhen Stimmung und Wirkung des Gedichtes im wesentlichen auf drei Momenten: Zunächst auf dem strengen Rhythmus des Anfangs: Zäsur bei „Schritt" gut einhalten, deutliche, fast scharfe Aussprache der „S"- und „T"-Laute in „bemeßt" und „Schritt".

-bl­ utarm ist die klare Herausarbeitung der Kontrastwirkung in den Mittelgruppen notwendig. Gruppe 2 hat Zäsur in jeder Zeile. Die Tonlage ist abwärts bewegt, d.h. sie wird jeweils gegen die Zäsur hin tiefer (beachte die dunklen Laute in ruht, süß, gut!). Bei Gruppe 3 wird gegen das Zeilenende die Tonlage auf­ wärts bewegt zu dem Hellen „J"-Bokal in bricht, Licht. In der ersten Zeile dieser Gruppe ist überaus glücklich eine an sich schwache Zäsur von der Mitte nach vorne verlegt: (Hier eins,/das durchdie Schollebricht.)Dieserlaubt,die Zeile etwas schneller, aufdrängend, aufbrechend gleichsam zu sprechen. Zuletzt muß der Schluß langsam, in feierlicher Gelassenheit, aber ganz einfach und unpathetisch wiedergegeben werden.

DaS Lied der Ähren. Von Karl Röttger. Nun das Blau über den Dörfern in den Wend steigt, und das Grillenheer am Feldrain geigt, wo zwei Streifen Gras den weißen Staub geleiten und die gelben Felder tief und weit sich breiten in das Grau der Ferne, in das Wendblau — (schon schmeckt kühl die Luft nach Wendtau) — auf der hohen Flut, die mir zur Seite steht — kommt es gelaufen aus der Weite: Welle, Welle, — und ein Singeton, und verflossen und verklungen schon ... Wo im Gras am Rand die Grillen geigen, will ich sitzen und mein Haupt hinneigen. In die Ähren, in den roten Mohn, in Kornblumenblau und leisen Singeton ... Was die Halme schwingen, Ähren läuten, will ich hören und ihr Lied mir deuten: „Aus der großen, großen Gotteshand sind wir hingeflossen übers Land, eine goldene Erfüllungsflut, und dazwischen Tropfen rotes Blut —

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und dazwischen Tropfen Sehnsuchtsblau ... Wenn der Abend sinkt mit kühlem Tau, Namenloses in den Lüften hängt — und die frühe Sommemacht anfängt: Sind wir schön wie nie; und leise singen wir das Lied der Fülle, die wir bringen; wir das leise Lied der reifen Samen, Lied der Stillung, Lied des Ja und Amen; Lied des Abends und der reifen Blicke, und des Endes und des Rühens aller Geschicke." Schon beim ersten Durchlesen des Gedichts erkennen wir seine Zweiteilung, nicht bloß inhaltlich, sondem auch formal, indem nach einem sehr freien Rhythmus der ersten sieben Stro­ phen plötzlich der streng und gleichmäßig gebaute des eigentlichen Liedes einsetzt. Der erste Teil umfaßt die Strophen 1—8 und gestaltet die Erlebnissituation. Der Dichter führt uns hinaus in das abendliche Ährenfeld, zeigt uns hier aber mehr als nur ein optisches Abbild; er verwandelt ein Stück Natur in Stim­ mung, Schwingung, Klang. Landschaft wird schwingende Sprache; etwas wie Musik rauscht auf. Das Lied, das in allen Dingen schläft, wie Eichendorff sagt, erweckt der Dichter aus dem Ahrenfeld. Als hätte er auf den magischen Augenblick, auf die seltene Stunde der Geist-Erweckung, der Entrückung und Verwandlung dieser Landschaft gewartet, so klingt schon der Anfang des Gedichtes: „Nun das Blau über den Dörfem in den Abend steigt —." Nun gewinnt auch alles da draußen seine eigene Bewegung, sein eigenes Leben. Der Dichter braucht nur mit dem wunder­ samen Zeichen seiner Sprache hinzuweisen, zu deuten: „Nun" das Grillenheer am Feldrain geigt, die gelben Felder weit ins Abendblau sich breiten, die Halme schwingen, die Ähren läuten, ein leiser Singeton aufklingt: nun ist ein Stückchen Welt ver­ wandelt, verklärt in ein höheres Sein, und nun erst können wir (int zweiten Teil) das Tiefere, das Geheimnis, den Geist des Ährenfeldes erfassen, können es im Liede seiner selbst erlauschen. Der erste Teil vermittelt uns die dichterisch verwandelte Ge­ stalt, der zweite Teil läßt diese, selbstsprechend, ihren Sinn offenbaren.

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Diese sinnhafte Zweiteilung muß auch in der Sprechgestal­ tung gewahrt und deutlich gemacht werden. Der erste Teil kann nur von einer Einzelstimme, am besten vom Lehrer selbst, gesprochen werden. Hier spricht der Dichter, der Magier; sein Sprechen ist ein entführendes Schreiten in den Mend, in das verklärte Ahrenfeld. Wesentliche Gehaltträger dieses Teiles sind die Bewegungswörter; sie beherrschen die Strophen: das Auf­ steigen, Geigen, Geleiten, Sichbreiten, Laufen und Fließen. Ausmalende Beiwörter treten zurück. Wichtiger als das ruhende Bild ist die Bewegung, die sich in Schwingung und schließlich in Klang und Lied wandelt. In den ersten zwei Strophen stehen die gehalttragenden Verben als Reimworte jeweils am Ende der Berszeile; das erhöht die Klangwirkung eines echoartigen Jneinanderschwingens, gesteigert durch die Assonanzen des „Ei", die in der dritten und vierten Berszeile verstärkt erklingen: zwei Streifen — weißen — geleiten — weit — breiten. In diesen „Ei"-Assonanzen, in weicher, abgedunkelter Tönung ge­ sprochen, schwingt etwas von der Abendweite; auch die Rhythmus­ kurve spannt sich von der dritten bis zur fünften Verszeile weit aus. Zwischen diesen Zeilen darf keine Zäsur, keine Atempause gesetzt werden. In der fünften Verszeile verlangsamt und be­ ruhigt sich der Rhythmus mehr und mehr, auch die Sprechmelodie sinkt ins Dunkel der „Au"-Vokale ab. Im Worte „Grau" erfährt das U des Doppellautes (nicht o sprechen) besondere Betonung. Im Worte „Abendblau" soll das ausklingende „Au" durch die vorausgehenden Doppellaute „bl" ins Schwebende, Milde ge­ hoben werden. Nach kleiner Pause folgt wie eine sachliche Er­ gänzung, kühler und noch dunkler gesprochen: „Schon schmeckt kühl die Luft nach Abendtau —" Die Atmosphäre des Abends hat uns nun umfangen, wir sind in seinem Bann. Da schauen wir plötzlich „Auf der hohen Flut, die mir zur Seite steht" (dies beobachtend, erzählend gesprochen; dann wie erschrocken eine plötzliche Pause) eine seltsame Bewegung: „— kommt es gelaufen aus der Weite:" (etwas geheimnisvoll, hastig und heimlich zu sprechen) und jetzt klingt ein feiner, ferner Schwebeton an, zweimal: „Welle, Welle, —"

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(von Hellen Mädchenstimmen wiegend, weich mit klingenden ,,ll"-Lauten). Eine Pause tiefen Lauschens; dann in staunender Berührtheit „— und ein Singeton, und verflossen und verklungen schon ..." (Die zweite Zeile wieder ruhiger, mehr erzählend.) Jetzt hat der Abend den Dichter ganz in seinen Zauber ein­ gefangen. In stillem Bezwungensein gibt sich der Dichter nun dem Abend hin: „Wo im Gras am Rand die Grillen geigen, will ich sitzen und mein Haupt hinneigen in die Ähren," und jetzt wie schon vom Traum berührt, immer stiller und leiser: „in den roten Mohn, in Kornblumenblau und leisen Singeton ..." (Weich flüsternde „S"-Laute in den beiden letzten Worten.) Hier schließt im Grunde der erste Teil. Es folgt eine überleitende Strophe von geringerer dichterischer Kraft und Bedeutung, die ruhig und einfach im Sprechausdruck gegeben wird. Der zweite, der chorische Teil, das „Lied der Ähren" be­ ginnt. Er wird am besten von Mädchenstimmen gesprochen. Rhythmus und Wortwahl haben sich gewandelt. Der Rhythmus atmet Ruhe, Stille und Seligkeit. Die Wortwahl bevorzugt Hauptwörter, Sinnwörter: Gotteshand, Erfüllungsslut, Sehn­ suchtsblau, Namenloses. Die letzten Strophen weisen überhaupt keine Verben mehr auf, dafür gedrängt substantive Formen: Lied der Fülle — Lied der Stillung — Lied des Ja und Amen — Lied des Endes und des Rühens. Alles wird hier ins Bedeut­ same, Sinnhafte gehoben und gesteigert. Der erste Teil der Dichtung ist ganz von Schwingung, Klang, Musik erfüllt; der zweite Teil gibt Anschauung, Deutung, Name und Sinn. Dieser Gegensatz soll in der Sprechdarstellung spürbar werden. Wie aus unendlicher Geborgenheit erwachen die Stimmen, durchpulst von Ruhe, Fülle und Reife, getragen von einem weitgespannten Rhythmusbogen, durchklungen von vollen, satten „O"-Vokalen: „Aus der großen, großen Gotteshand sind wir hingeflossen übers Land, eine goldene Erfüllungsflut."

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Wichtig ist hier und in der Folge die Klarheit und sichere Gesetztheit in der Aussprache der Zusammensetzungen, aller sinn- und gehalttragenden Hauptwörter. Im Gesamtausdruck keine aufgeblasene Pathetik. Wesen spricht sich aus und das heißt: Reinheit, Klarheit, Geist. Verhaltener und gedämpfter wird die folgende Zeile ge­ sprochen: „Und dazwischen Tropfen rotes Blut —" Die letzten drei Worte gleichmäßig und in gleicher Tonhöhe, wie schwere Tropfen fallen. Nach kleiner Pause mit heimlicher, innerer Bewegtheit, leicht von Sehnsucht durchhaucht, fast leise: „Und dazwischen Sehnsuchtsblau ..." Nun wieder in kaum bewegter, kühler Ruhe: „Wenn der Abend sinkt mit kühlem Tau, Namenloses in den Lüften hängt." Geheimnisgroß schwebe das Wort „Namenloses" über dem Satze. Nach der folgenden Zeile kommt die große Steigerung, nicht im Sinne einer Tonverstärkung, sondern int Sinne tiefer Offenbarung. Selig, fast lächelnd beginnts (ja nicht sentimental): „Sind wir schön wie nie;" und nun aus leiser Zartheit leicht anschwellend zu schenkender Freude im Worte „Fülle": „----------- und leise singen wir das Lied der Fülle, die wir bringen, wir das leise Lied der reifen Samen," Jetzt teilen sich die Stimmen in Gruppen, als sängen sie sich gegenseitig die großen Sinnworte zu, ein Auf- und Nieder­ wogen der Gedanken. Helle, milde Stimmen beginnen, klingend int „J"-Bokal (kein grelles spitzes „I"): „Lied der Stillung" dunkle, satte Altstitnmen antworten: „Lied des Ja und Amen" etwas ferner, stiller, voll Güte und innerer Ruhe eine dritte Gruppe: „Lied des Abends und der reifen Blicke",

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und nun finden sich wieder alle Stimmen zusammen und ver­ klingen in ein unendlich ruhiges (durchaus nicht trauriges, leid­ volles), dunkel leises Unisono: „Und des Endes und des Rühens aller Geschicke."

Wir Bauern.

Von Richard Billinger. Wir Bauern dulden keinen Spott an unserm Herrn und Helfer Gott! Was wären wir wohl ohne ihn? Eine Ehschast ohne Gatten. Ein Bienstock ohne Königin. Ein Baum ohne Frucht und Schatten. Wir brauchen ihn wie's lötig Gold. Der Bettler und der Eigenhold kann nur „Vergeltsgott" sagen. Dem Blinden scheinet hell sein Licht. Er ists, der mit dem Kranken spricht. Er hört des Stummen Klagen. Er warf die Lerche in die Luft. Er gab der Blume Färb und Duft. Er gab dem Korn die halmende Kraft, dem Apfel allen süßen Saft, dem Sauern Macht und Leidenschaft zum Werk, dem menschenguten. Er hat die Ewigkeit verliehn. Wir alle müßten ohne ihn am Acker Zeit verbluten. Das Gedicht gestaltet ein Bekenntnis, das schlichte, tief­ gläubige Bekenntnis der Bauern, das sich in die leitmotivischen Sätze verdichtet: I. „Was wären wir wohl ohne ihn?" II. „Wir brauchen ihn wie's lötig Gold." III. „Wir alle müßten ohne ihn am Acker Zeit verbluten."

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Hat auch jeder dieser drei Sätze seinen besonderen Ausdrucks­ charakter, so geben sie doch alle drei den Grundgehalt, die Grund­ stimmung des Gedichtes: Glaubensunbedingtheit, Glaubens­ überzeugtheit, Glaubensnotwendigkeit. Nur aus der Echtheit nachlebenden Empfindens kann dieses Bekenntnis im Chorworte nachgestaltet werden. In diesen drei Sätzen steigert sich Gemein­ schaftsgefühl und -glaube zu lapidarer Eindringlichkeit. Sie sind die Sinngipfel des Gedichts, getragen und gehoben von den wuchtigen Blöcken natur- und lebenskräftiger Einzelgedanken. Der Vortrag soll denn auch wie ein geistiges Aufbauen jener drei Leitgedanken wirken. Die Einleitungszeilen: „Wir Bauern dulden keinen Spott an unserm Herrn und Helfer Gott!" spiegeln die trotzig drohende Abwehrhaltung der glaubensstarken Bauern, sind wehrhafter Glaubensruf und klären von vornherein eindeutig die innere Situation und damit auch die Sprech­ situation. Sie müssen wie aus innerer Erregung in einem Atem­ zuge mit großer Entschiedenheit hinausgerufen werden. Das Wort „Gott" mächtig, voll Größe und tiefer Ehrfurcht, aber nicht im Schreiton. Nach kurzer Pause ernst und streng die be­ deutsame, schon bekenntnistragende Frage: „Was wären wir wohl ohne ihn?" Pause. Aus tiefem Schweigen lösen sich nun einzelne, besinnlich ernste, herb innerliche Antwortstimmen, voll Schlichtheit im Ausdruck: „Eine Ehschaft ohne Gatten" (erster Teilchor; Mädchen). „Ein Bienstock ohne Königin" (zweiter Teilchor; Mädchen). „Ein Baum ohne Frucht und Schatten" (dritter Teilchor; Knaben). Nun erhebt sich wieder glaubensstark und überzeugt der Ganzchor: „Wir brauchen ihn wie's lötig Gold." Was jetzt folgt, ist ein Stück Schöpfung, holzschnittartig ge­ sehen und gestaltet. Zehn einfache, schlichte Sätze lobsagen nun Gottes unendliche Allgüte, Allmacht und Allgegenwart und klingen in den beseligenden Freudenruf aus: „Er hat die Ewigkeit verliehn."

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Jene gewichtigen Einzelsätze werden auch von Einzelstimmen vorgetragen, inbrünstig und gläubig wie Gebetssätze. Vier ein­ zelne Knabenstimmen sprechen die Sätze vom Bettler, Blinden, Kranken und Stummen; Heimgesuchte richten sich auf in Gottes Erbarmung. Es leuchtet wie wundertätige Gnade in den schicksals­ düsteren Sätzen auf: „Dem Blinden scheinet hell sein Licht." „Er hört des Stummen Klagen." Hinter aller Herbheit und Leidschwere klingt Erhörung und Erlösung. Das soll im Sprechton in schlichter, ungekünstelter Weise zum Ausdruck kommen. Jetzt heben die Hellen, schöpfungsingenden Stimmen ein­ zelner Mädchen an. Das muß aufjauchzen voll schenkender Beglückung; wie ein Reigen sollen sich die klingenden Sätze reihen: (Aufjubelnd der erste mit seinen jauchzenden ,,L"-Lauten) (Schönheitschenkend der zweite, schwingend in den Vokalen „a" und „u") (Voll wüchsiger Kraft der dritte mit seinen betonten „k" und „r"Lauten) (Voll Saftfrische der vierte mit stimmhaften „©"«Sauten)

„Er warf die Lerche in die Lust." „Er gab der Blume Färb und Duft."

„Er gab dem Korn die halmende Kraft." „Dem Apfel seinen süßen Saft."

Jetzt finden sich die Knabenstimmen zum Halbchor zusammen, getragen von Bewußtheit und Werkstolz: „Dem Bauern Macht und Leidenschaft zum Werk, dem menschenguten." Der Ausdruck steigert sich bis zum Wort „Werk" (keine Zäsur nach „Leidenschaft") und beruhigt sich im Nachwort „menschenguten". Dann hebt der Ganzchor ein mächtiges Unisono an, gläubig, hoffend, verkündigend: „Er hat die Ewigkeit verliehn." Groß und selig töne das Wort „Ewigkeit", das „E" gedehnt, doch klingend. Im Schlußsatz: „Wir alle müßten ohne ihn am Acker Zeit verbluten"

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klingt noch einmal das Grundthema auf, fromm, gedämpft, in sich gekehrt und dunkel verschwebend im Worte „verbluten". In kurze, stumme Andacht münde der Chor ein. Nie reißt sich im ganzen Gedicht die Sprache zum schwung­ vollen Pathos hoch, strenges, gebändigtes und gebundenes Ethos beherrscht Gestalt und Gehalt des Gedichtes und forme deshalb auch seinen Sprechausdruck. Lied der Kohlenhäuer. Von Gerrit Engelke.

Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, int wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir fallen und fallen auf schwankender Schale ins lampendurchwanderte Erde-Gedärm — die andern, sie schweben auf schwankender Schale steilauf in das Licht! in das Licht! in den Lärm. Wir fallen und fallen auf schwankender Schale. — Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir wühlen und wühlen auf wässernder Sohle, wir lösen vom Flöze mit rinnendem Schweiß und fördem zutage die dampfende Kohle. Uns Häuern im Flöze ist heißer als heiß — wir wühlen und wühlen auf wässernder Sohle. Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir pochen und pochen, wir bohrenden Würmer, im Häuser- und gleisüberwachsenden Rohr, tief unter betn Meere, tief unter dem Türmer, — tief unter dem Sommer. Wir pochen im Rohr, wir pochen, wir pochen, wir bohrenden Würmer. Belstler-Stolz, Sprechchor.

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Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir speisen sie alle mit nährender Wärme: Den pflügenden Lloyd im atlantischen Meer, die erdenumkreisenden Eisenzug-Schwärme, der Straßenlaternen weitflimmerndes Heer, der ragenden Hochöfen glühende Därme; wir nähren sie alle mit Lebensblut-Wärme! Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir können mit unseren schwieligen Händen die Lichter ersticken, die Brände der Welt! Doch — hocken wir fort in den drückenden Wänden: wir klopfen und bohren und klopfen für Geld — doch hocken wir fort in den drückenden Wänden: Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir pochen und pochen durch Wochen und Jahre, wir fahren lichtauf — mit Glück-Auf! dann hinab — wir pochen und pochen von Wochen — zur Bahre — und mancher schürft unten sein eigenes Grab — wir pochen, wir pochen durch Wochen und Jahre. Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht. Das Gedicht steht in der Mitte eines kulturkundlichen Ge­ samtunterrichtes, dessen Stoffpunkte etwa die Kohle — Bergbau, Bergmannsleben und Arbeit — wirtschaftliche Bedeutung des Bergbaues u. a. wären. Es wird nicht als unterrichtliches Dessert und illustrativer Begleitstoff gegeben, sondern bildet Höhepunkt einer geistigen Arbeit, der Stoffliches in Geistiges verklärt,

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Dichtung als ein höheres Sein erleben läßt. Vor allem soll uns hier der zum Gedicht verwandelte und gestaltete Lebensrhythmus des Bergmannes innerlich berühren, bewegen und beseelen, soll sich einschwingen in den Lebensrhythmus des jungen Men­ schen. Auf einer höheren Ebene kann so der Junge für Augen­ blicke ahnender Mitbruder des Arbeiters werden und im geistigen Erlebnis etwas von der Macht und Größe des wahren Arbeits­ ethos verspüren. Notwendig ist eine gemeinsame Erarbeitung des Gedichtes, nicht int Sinne einer verständlichen Zergliederung, sondern der Gewinnung und Verlebendigung seiner Klanggestalt. Der Dichter Bruno Goetz nennt die Klangwerdung eines Gedichtes durch den Bortrag „eine mystische Vermählung des dynamisch­ klanglichen Urbildes einer Dichtung mit der Seele des Sprechers, wodurch der jeweilige sinnliche Klangleib für den gegebenen Augenblick immer neu erzeugt wird". Das Ziel unserer Arbeit ist das Gedicht aus seinen stofflichen und formalen Ummantelungen herauszulösen und seinen reinen Klangleib schwingen zu machen; uns einzutasten, einzufühlen in die innersten Elemente der Dichtung, in ihren Rhythmus, ihr Melos und ihre Dynamik, in ihre spezifisch künstlerische Gestalt und ihren sinnlich-geistigen Gehalt. Wir werden dies Ziel auf der Bolksschulstufe nie ganz erreichen können, aber es weist uns Richtung und Weg. Die Arbeit beginnt sofort mit dem Vortrag des Gedichtes durch den Lehrer ohne vorausgehende weitschweifige Einstim­ mungsnarkose. Aus dem Bortrag soll bereits die innere Gestalt der Dichtung hindurchleuchten, sollen die Lauschenden das Wesentliche schon heraushören, wenngleich der Einzelvortrag noch nicht die Plastizität des Chores erreicht. Nach dem ersten Hörerlebnis räumen wir zunächst alle stofflichen Fragen und Unklarheiten beiseite. Wir befassen uns kurz mit dem Inhalt, der hier keiner weiteren Erklärung bedarf; nur einige auffallend eigenartige Wortzusammensetzungen müssen ausgedeutet werden, z. B. „ins lampendurchwanderte Erde-Gedärm", „im häuserund gleisüberwachsenen Rohr", „die erdumkreisenden EisenzugSchwärme", „mit Lebensblut-Wärme" und noch ein paar ähn­ liche. Diese Sprachklärung und -auflichtung, diese Bilddeutung stößt schon ins Sinnhafte, Bedeutsame der Dichtung vor, läßt geistigen Gehalt empfinden, erfühlen.

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„Wir Pochen und pochen durch Wochen und Jahre — zur Bahre." In diesem Satz verdichtet sich schließlich der ganze Inhalt zum eindeutigen Sinnspruch, zum gehaltlichen Grund­ gedanken, der im Gedicht von der ersten bis zur letzten Zeile abgewandelt ist. Schon in der äußeren Form wird uns die thematische Durchführung dieses Motivs offenbar. Die siebenmal sich kehrreimartig wiederholende Eingangsstrophe: „Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht —" In siebenfacher Wiederholung klingt dunkel und schwer das kontrapunktische Grundthema dieser Sprachfuge auf. Die Strophe gibt dem ganzen Gedichte Ton, Charakter, Rhythmus, von ihr aus ist die Dichtung sprechchorisch zu gestalten. Sie birgt alles in sich, was in den Zwischenstrophen nur enger oder weiter durchkomponiert ist. Der Sprechrhythmus ist im Vers schon objektiv gegeben, ist ihm eingeboren; es gilt nur in den Vers hineinzuhorchen und seinen Rhythmus aus lauschendem Schweigen heraus erst nur atmend, dann flüsternd und end­ lich sprechend lebendig und schwingend werden zu lassen. In allen sieben Wiederholungen bleibt sich der schwere, etwas schleppende gleichförmige Rhythmus gleich; auch der Sprechton behält im allgemeinen in den sieben Strophen dieselbe dumpfe, dunkle, eintönige Farbe, wie sie in den acht gleich­ lautenden „A"-Vokalen angelegt ist. Die Sprechmelodie fällt am Ende der Strophe nicht; denn sie ist hier nicht zu Ende; der Dichter hat auch keinen Punkt gesetzt. Die Melodie ginge eigent­ lich in ewiger Gleichförmigkeit und Wiederholung weiter, wird nur wie in einem Aufschrei sechsmal durch Zwischenstrophen unter­ brochen, in denen sich die beengte und bedrängte Seele vom Drucke zu befreien sucht, zu sagen, zu klagen und zu drohen be­ ginnt. In diesen Zwischenstrophen liegt das modulierende und sprechdramatische Moment. Jede dieser sechs langzeiligen Zwischenstrophen wächst aus dem Rhythmus der leitmotivischen Vierzeiler heraus und fällt auch immer wieder in denselben zurück. Die erste Zwischenstrophe klingt sogar lautlich mit ihren sich wiederholenden „A"-Bokalen an die Eingangsstrophe^an: „Wir fallen und fallen auf schwankender Schale." Diese erste Zeile

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wird auch in Rhythmus und Ton genau wie der Eingangsvers gesprochen, erfährt nur in der zweiten Zeile „ins lampendurch­ wanderte Erde-Gedärm" eine kleine Veränderung in der Farbe und Verbreiterung des Tempos. Die folgenden zwei Zeilen er­ fordern ein langsames Heben der Stimme, das in der Wieder­ holung des Wortes „Licht" seinen Höhepunkt findet. Das drei­ mal anlautende „L" in Licht — Licht — Lärm muß stark betont und jedesmal gesteigert gesprochen werden. Dann sinkt der Chor wieder in den Anfangsrhythmus zurück. Die zweite Langzeilenstrophe ist klanglich auf die Umlaute ü — ö — ä gestellt; auch sie steigt nach kurzer Sprechpause aus der Klangform des vorausgehenden Vierzeilers auf. Sie ist drängender im Ausdruck und steigert sich im Satze: „Uns Häuern int Flöze ist heißer als heiß" zu nachdrücklicher Betontheit. In dem „heißer als heiß" klingt die Schärfe eines an Verzweiflung grenzenden Unwillens, ausdrückbar durch die hart hervorgestoße­ nen „S"-Laute. Nach einer fast bedrohlichen Panse fällt der Chor wieder in den gleichmäßigen Ton des Anfangs zurück. Dunkel und hohl hebt die dritte Zwischenstrophe an, die der Dichter lautsymbolisch auf den Vokal „o" stellt. Diese Strophe bedarf besonderer Sprechübung. Das Unterminierende, Unheimliche, Drohende, das durch sie geistert, gilt es aus dem Klanglichen der sich wiederholenden „O"-Wörter: pochen,bohrend, Rohr, Sommer herauszugestalten. Gehaltlich bedeutsam sind die drei sequenzartig sich folgenden Sätze: „tief unter dem Meere, tief unter dem Türmer, — tief unter dem Sommer." Der dritte Satz taucht ins Melancholische unter, das sich im dnukel drohenden, pochenden Rhythmus der letzten Zeile verliert. Nun bricht in der vierten Zwischenstrophe mit großer Leiden­ schaft, Ausbruch eines niedergehaltenen Wissens die Erkenntnis durch: „Wir speisen sie alle mit nährender Wärme. — Wir nähren sie alle mit Lebensblut-Wärme!" Die Strophe schwingt int Pathos, sie muß mit Größe, Be­ deutsamkeit und Überzeugung gesprochen werden und verlangt, namentlich in den Wortzusammensetzungen klare, strenge Sprech­ weise. Man kann bei genügend starkem Chor die Sätze: „Den pflügenden Lloyd im atlantischen Meer, die erdenumkreisenden Eisenzug-Schwärme,

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der Straßenlaternen weitflimmerndes Heer, der ragenden Hochöfen glühende Därme —" von vier Teilchören sprechen lassen, wodurch das Sequenzartige der Gedankenführung stärker zum Ausdruck kommt. Die Einleitungs- und Schlußzeile spricht aber jeweils der Gesamtchor. Diese Strophe steigt nicht aus dem Klanglichen des voraus­ gehenden Vierzeilers empor und sinkt auch nicht in dieses zurück; sie bleibt im bedeutsam Gedanklichen, sieghaft Wissenden, auch im Sprechausdruck. Um so erschütternder klingt der jähe Abfall in den dumpfen und schweren, ewig gleichen Rhythmus des Eingangsverses. Schicksalergebenheit hart neben kraftbewußter Erkenntnis: Hier stehen wir am Höhepunkt der Dichtung, hier wird Tragik offenbar. Ob das Jugendliche noch verstehen und fassen können? Nein! — Aber im Tiefsten werden sie ahnend erschauern vor dem hier aufklaffenden tragischen Lebensurgrund. Der geistige Höhepunkt dieser vierten Zwischenstrophe greift noch über in die fünfte und steigert sich hier noch zur fast prometheischen Drohung: „Wir können mit unsern schwieligen Händen die Lichter ersticken, die Brände der Welt!" Das muß mit starkem Crescendo hingedonnert, „die Brände der Welt" groß und breit hinausgerufen werden. Und jetzt folgt das menschlich tiefste, das gewaltigste Wort der Dichtung, das „Doch", gesetzt wie ein hartes, bitteres Trotzdem. In ihm muß das große Ethos des Arbeiters, seine Schicksalsbejahung aufrauschen; jeden Laut gilt es, klanglich durchzugestalten, denn jeder muß hier geistigen Gehalt tragen. Eine dumpfe Pause und — „wir pochen und klopfen und bohren" ringt sich im alten Rhythmus fort, der in der sechsten und letzten Zwischenstrophe immer gedehnter, schwerer, schleppender wird und schließlich in dunkler Resignation endet: „Wir pochen und pochen von Wochen — zur Bahre — Und mancher schürst unten sein eigenes Grab — Wir pochen und pochen durch Wochen und Jahre." Schwer gesetzt,breit,und hart stehen die Wortblöcke: „ Wir po chen — wir pochen — durch Wochen—und Jahre" dieser letzten Zeile. Der Abschlußvers: Wir wracken, wir hacken ... verliert sich im Tone mehr und mehr ins Graue, Feme, Unwirkliche, Schatten­ hafte, doch wahrt er seinen ursprünglichen Rhythmus.

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Die sprechchorische Darstellung der Dichtung erfolgt durch zwei Chorgruppen. Gruppe A spricht die siebenmal sich wieder­ holende Eingangsstrophe; sie müßte rückwärts, am besten un­ sichtbar aufgestellt sein. Sie spricht die Schicksalsweise, ein Stück ewiger Melodie. Gngangs- und Schlußvers könnten auch von beiden Chorgruppen im Halbton gesprochen werden. Gruppe B bringt die Zwischenstrophen; sie steht sichtbar, steht für die Realität, für das Leben, für den Arbeiter. In der vierten Zwischenstrophe kann sie durch den Chor A verstärkt werden, nicht des Sinnes, sondern der größeren Klangwirkung wegen. Bei der Erarbeitung mutz auf größte Genauigkeit, Sauber­ keit und Klarheit in Ausdruck, Sprechton und Sprechrhythmus gesehen werden. Ein exaktes scharfes Einsetzen der „W"-Laute jedesmal bei: „Wir wracken, wir hacken" ist nötig. Es ist kein sehr stimmhaftes, sondern ein hart mit den Zähnen aufgesetztes W. —Die große Zwischenstrophe: „Wir speisen sie alle mit nährender Wärme" braucht breite, klanggefüllte, aber nicht grelle „A"-Laute und eine peinlich saubere Aussprache der vielen Mittelwörter, was erreicht wird, wenn man die Strophe anfangs sehr langsam, überlangsam sprechen läßt. — Im späteren Verlauf der Übung stellen sich leicht Zäsuren vor „und" ein: „Wir wühlen und wühlen" und „Wir pochen und pochen": Eine grobe Störung von Rhythmus und Sinn, die wieder ausgemerzt werden muß. Dies sind nur noch einige kleine Mühsamkeiten innerhalb der ganzen Arbeit. Wer ein Sprechchor kostet immer viel Mühe, viel Geduld und strenge geistige Zucht.

Licht mutz wieder werden ... Bon Hermann Claudius.

Licht muß wieder werden nach diesen dunkelen Tagen. Laßt uns nicht fragen, ob wir es sehen. Es wird geschehen: Auferstehen wird ein neues Licht. Waren unsre Besten nicht ein wanderndes Sehnen, unerfüllt nach Licht, das da quillt, von ihnen noch ungesehen?



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Es wird geschehen. Laßt uns nicht zagen. Licht muß wieder werden nach diesen dunkelen Tagen. Dieses Gedicht ist Ausdruck einer allmenschlichen Sehnsucht. Es ist lichte Zuversicht und vertrauender Glaube in eine bessere Zukunft. Das gibt ihm die Grundstimmung, aus der heraus es gesprochen werden muß. Die sprechchorische Gestaltung ist immer Gemeinschaftsarbeit am Wortkunstwerk, gemeinsames Suchen und Untersuchen, Klären und Erklären, Finden und Erfassen, Erleben und Verlebendigen. Jedes Kunstwerk ist uns Aufruf und Lockung zu geistiger Entdeckungs- und Eroberer­ fahrt, zum Abenteuer ins Wunderland der Sprache und Dichtung. „Da gilt es, Ausschau zu halten nach Gipfel- und Höhepunkten, nach Stufen des Aufbaues, nach den Leuchtfeuern wegweisender Gedanken, nach verborgenen Schätzen und Schönheiten." So ein Gedicht ist wie eine Landschaft und wirkt durch seine Gestalt und Seele wie jene. Die Erarbeitung des Gedichts ist ein ehr­ fürchtiges Zu-streben, Einfühlen in seine Wesenheit, ein Schauen und Lauschen, ein mehr erlebendes als erkennendes, mehr ahnendes als wissendes Erfassen. Immer wird und muß am Ende noch ein letztes ungelöstes Schweigen über der Dichtung schweben und dieses Schweigen ist's, das uns immer wieder zu ihr hinzieht, znrücklockt. „Darum bringt uns das Kunstwerk die Ahnung, den Glauben an ein höheres Dasein, da es wie Ewig­ keit, wie Gott ein Sein hat, betn wir nur zustreben können, da wir Werdende sind" (Bilma Mönckeberg). Im Sprechen, im Bortrag des Gedichts soll nie eine deklamatorische Leistung er­ strebt, ein Ergebnis erzielt werden wollen; das Sprechen, gerade das Chorsprechen ist nichts als gemeinsamer Weg zum Werk, gemeinsames Fassen und Tragen des Werkes, ein Halten, das uns Halkung schenkt. „Das richtige Sprechen ist ein Erfassen des Gedichtes von seinem geistigen Mittelpunkt aus" (Drach). Langatmige, „erschöpfende" Vorerklärungen und Erläuterungen erübrigen sich; meist wächst ein Gedicht aus dem Gesamtunterricht heraus, der den sachlichen Unterbau schon vorhergehend bewerk­ stelligt und dort, wo es reiner Ausdruck eines Gemeinschaftsempfin­ dens oder -wollens ist, wie im vorliegenden Fall, werden die „feinen Abtönungen des Denkens, Fühlens und Wollens" (Drach) im Einüben und durch das Sprechen erfaßt und verlebendigt.

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Beim ersten Hören des Gedichtes von Claudius fallen uns die Wiederholungen und Parallelismen auf. Am Anfang und Ende: „Licht muß wieder werden nach diesen dunkelen Tagen" —, dann die Parallelzeilen: „Laßt uns nicht fragen!" „Laßt uns nicht zagen!" Und schließlich das zweimalige: „Es wird geschehen." Wir spüren sofort, daß durch diese Wiederholungen dem Willensausdruck und der inneren Forderung besonderer Nach­ druck, gesteigerte Betontheit und Bedeutsamkeit gegeben werden soll, ähnlich wie solches auch beim Sprechen im Mltag zu beobach­ ten ist. Hier sehen wir nur die künstlerische Formung einer all­ gemeinen psychischen Tatsache. Die besondere Form zwingt auch zum besonderen Ausdruck. Zunächst die Doppelzeile: „Licht muß wieder werden nach diesen dunkelen Tagen!" Das Wort „Licht" schafft die „Sprechsituation" (Drach). Es füllt mit einer einzigen Silbe den ganzen Versfuß, wodurch es allein schon eine Uberbetonung erfährt. Dazu kommt ein stark anlautendes „L", das das ganze Wort und mit ihm den nach­ folgenden Satz wie eine Fahne mit Schwung hochflattern läßt, doch ohne Lärm und Geschrei, nur mit der Kraft eines hellen Glaubens. Nach „werden" keine Zäsur setzen, auch nicht illu­ strieren und Gegensätze malen wollen, etwa so: „Erste Zeile hell, zweite Zeile dunkel sprechen!" Die Melodie sinkt ganz natürlich in „dunklen Tagen" ab und färbt sich tonlich durch die „U-" und „A"-Vokale etwas dunkler. Das Lichtverlangen gibt dem ganzen Satz seinen Sprechcharakter. Es steigert sich in der dritten Zeile zum auffordernden Willensentschluß: „Laßt uns nicht fragen, ob wir es sehen." Der Imperativ beherrscht den Satz, gibt dem Befehlswort „Laßt" schärfere Betonung, im besonderen den Konsonanten

- 74 „l", „ßt" und „ft" in „fragen". Das Wort „wir" fordert stärkere Hervorhebung. Im folgenden „Es wird geschehen" haben wir den Sinngipfel erreicht, voll sieghafter Zuversicht und Gewißheit erklingt dieser Ruf. Die an sich kurze Zeile von nur drei Wörtem erhält Gewicht durch zwei betonte Silben am Anfang; denn ihr metrisches Schema ist so zu denken: Es I wird geschehen nicht so:

u | -^ u | — u |

Es wird ge sche hen Das „Es" ist Nebenhebung, nicht Auftakt; selbst also schon betont, gibt es dem folgenden „wird" einen gesteigerten Akzent. Nun rauscht es wie aus den Untergründen dieses glaubens­ sicheren Willens auf. Stimmungsweiser sind uns die Worte „auferstehen" und „wanderndes Sehnen". Prophetie und Bision schwingen in der 6. Berszeile, die als einzige fünffüßige die längste des ganzen Gedichtes ist: „Auferstehen wird ein neues Licht." Der Sprechton ist geheimnisvoll wissend. Die folgenden Zeilen (7.—10.) sind auf den Stimmungs- und Sinngehalt der Worte: „wanderndes Sehnen", „unerfüllt", „ungesehen" abge­ stimmt. Dieser Mittelpunkt des Gedichtes, der in einer großen, schon von innerer Gewißheit getragenen Frage schwingt, ist dreigliedrig aufgebaut: Weit ausschwingend, mit retardierender Verbreiterung in den Worten „wanderndes Sehnen" der 1. Rhythmusbogen: „Waren unsre Besten nicht ein wanderndes Sehnen ..."; gedrängter und gesteigerter im Ausdruck der 2. Bogen mit kurzem Atemeinschnitt nach „Licht": „unerfüllt nach Licht, das da quillt...”; Das Lautgefüge dieses Satzes bekommt Klang und Farbe von den „L"-Lauten. Der 3. Bogen steigt auf in sehnsüchtige Spannung: „von ihnen noch ungesehen."

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Nun straffen sich wieder die Stimmen zur sieghaften Ver­ heißung: „Es wird geschehen." Wie auf breitgestufter Treppe steigen wir wieder ab; voll Kraft und Entschluß die Aufforderung: „Laßt uns nicht zagen!" Dann sicher, voll Vertrauen, beruhigend abschließend: „Licht muß wieder werden nach diesen dunklen Tagen."

Te Deum Großer Gott meines Lebens, ich will dir lobsingen an allen drei Ufern deines einigen Lichts! Ich will mit meinem Lied ins Meer deiner Herrlichkeit springen: unterjauchzen will ich in den Wogen deiner Kraft! Du goldener Gott deiner Sterne, du rauschender Gott deiner Stürme, du flammender Gott deiner feuerspeienden Berge, Du Gott deiner Ströme und deiner Meere, du Gott aller deiner Tiere, du Gott deiner Ähren und deiner wilden Rosen; Ich danke dir, daß du uns erweckt hast, Herr, ich danke dir bis an die Chöre deiner Engel, Sei gelobt für alles, was da lebt! Du Gott deines Sohnes, großer Gott deines ewigen Erbarmens, großer Gott deiner verirrten Menschen, Du Gott aller, die da leiden, du Gott aller, die da sterben, brüder­ licher Gott auf unsrer dunklen Spur: Ich danke dir, daß du uns erlöst hast, Herr, ich danke dir bis an die Chöre deiner Engel, Sei gelobt für unsre Seligkeit! Du Gott deines Geistes, flutender Gott in deinen Tiefen von Liebe zu Liebe, Brausender bis hinab in meine Seele, Wehender durch alle meine Räume, Zündender durch alle meine Herzen, Heil'ger Schöpfer deiner neuen Erde: Ich danke dir, daß ich dir danke, Herr, ich danke dir bis an die Chöre deiner Engel: Gott meiner Psalmen, Gott meiner Harfen, großer Gott meiner Orgeln und Posaunen,

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Ich will dir lobsingen an allen drei Ufern deines einigen Lichtes! Ich will mit meinem Lied ins Meer deiner Herrlichkeit springen: unterjauchzen will ich in den Wogen deiner Kraft! In der Darstellung religiöser Dichtungen gewinnt der Sprechchor liturgischen Stil. Der Ausdruck bekommt Gebet­ charakter, sei es als schlichte Bitte und vertrauensvolle Hingabe, oder als hymnische Lobpreisung und Danksagung. Es geht hier nicht um Gestaltung künstlerischer Wesenheiten, sondern um Offenbarung religiöser Gesinnung, um seelische Ergriffenheit und gläubige Erfülltheit. Aus einfachen seelischen Grundhal­ tungen bauen sich solche Sprechchöre innerlich auf und wachsen, sich aller subjektiven Ausdrucksgebärden und jedes individuellen Klanggepräges entkleidend, zu monumentalen Kultformen empor; die Seele gewinnt hier „den großen Stil des religiösen Lebens" (Romano Guardini). In diesem Stil ist auch Gertrud von le Forts „Te Deum“ sprechchorisch zu gestalten. Dieser Lobgesang ist nicht die Stimme einer Gnzelseele, sondern das überpersönliche, weltumspannende Gemeinschaftswort aller Gottgläubigen, der Hymnus der Kirche. Reinheit und Größe strahlt diese von tiefster Erlebtheit und höchster Geistigkeit durchglühte Sprache. Ihr rauschender Rhythmus, ihr Bilderprunk und ihre Gedankenfülle sind nur Geschenk und Gabe. Schönheit und Kühnheit dienen der Fröm­ migkeit. So soll auch im hymnischen Sprechausdruck der Reich­ tum und die Pracht dieser Bildersprache nicht um ihrer selbst willen, nicht ästhetischer Effekte wegen dargeboten, sondern in gottesdienstlicher Ergriffenheit wie ein kostbares liturgisches Gefäß „vor—getragen" werden, erfüllt von der dankseligen Freude einer tiefen Gläubigkeit. In drei innerlich reich ge­ gliederten Sätzen, die göttliche Dreieinigkeit umjubelnd, baut sich der Hymnus auf. Jeder einzelne Satz ist wieder in sich dreiteilig; zwei Parallelstrophen anrufenden, anbetenden Cha­ rakters münden immer in eine dreimalige Lobdanksagung. Auch die Einleitungs- und Schlußstrophen sind ganz in die große künstlerische Form des Parallelismus gekleidet, die dem Fortgang der Rede die Würde eines feierlichen Schreitens verleiht. „Schreiten entführt alles ins Reine, alles ins Allgemeine" (Werfel). Dieser Parallelismus, der den Gedanken eines Satzes, einer Strophe in abgewandelter Form noch einmal bringt, drängt

- 11 auch in der sprechchorischen Darstellung zur Gliederung in zwei Chöre. Es ergibt sich folgender sprechchorisch gefugter Aufbau dieses Tedeums: Zwei Einzelsprecher, eine Helle, starke Knabenstimme und eine weiche klangvolle Mädchenstimme, eröffnen den Lobgesang, aufrufend und breit anllingend: Knabenstimme: „Großer Gott meines Lebens-------" Mädchenstimme: „Ich will mit meinem Lied-------" Nun hebt gebetartig und gehalten, dann in sich verbreitender Steigerung der Knabenchor an: „Du goldener Gott deiner «Sterne —" Weicher schwingend, voll tiefer Bewunderung folgt der Mädchenchor: „Du Gott deiner Ströme und deiner Meere —" Jetzt setzt groß und breit der Gesamtchor ein, in dreifacher Stufung sich steigernd: „Ich danke dir------- “ Den zweiten großen Satz leitet der Mädchenchor ein, erst etwas gedeckt anflehend, dann stärker andrängend und schließ­ lich breit hinschwingend: „Du großer Gott deines Sohnes —" Stärker, schwerer, härter setzt der Knabenchor den An­ ruf fort: „Du Gott aller, die da leiden —“ Nun ein erlöstes, befreites „Ich danke dir, daß du uns erlöst hast----------- “ des Gesamtchores. Den 3. Hauptsatz, die Anrufung des Heiligen Geistes, be­ ginnt der Knabenchor, aufjubelnd voll Feuer und Freude: „Du Gott deines Geistes------- " Selig und ekstatisch erklingen die hellen hohen Mädchen­ stimmen: „Wehender durch alle meine Räume —" Wieder münden alle Stimmen in ein großes, feierliches „Ich danke dir------- " Liturgisch, gleichmäßig fest, majestätisch, wie Posaunenstöße rufen drei Teilchöre:

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Knaben: „Gott meiner Psalmen" Mädchen: „Gott meiner Harfen", Gemischter Halbchor: „großer Gott meiner Orgeln und Posaunen." Nun bricht breit, voll Kraft und Fülle, aufjauchzend in Glaubensseligkeit der Gesamtchor los: „Ich will dir lobsingen —" Der Schlußsatz „Unterjauchzen will ich in den Wogen deiner Kraft!" verklingt in breit ausschwingendem, langsam fallendem Rhythmus, dunkel und ruhig verhallend in beseligter Hingabe. Anhang: Einige methodische Hinweise. Ausgang vom Sinnganzen. Ausgangspunkt der sprechchorischen Arbeit ist stets das Sinnganze, die Sinnform des Ge­ dichtes. In ihr steckt der Lebensgehalt der Dichtung, den die Stimme des Vortragenden lebendig machen soll. Der Erarbeitung dieses Sinnganzen dienen nach Drach folgende sprachpsychologische Momente: Die Sprechsituation, die dominierende Vorstellung, die Wichtigkeitsstufen, die Wort­ blöcke. Diese gilt es in gemeinsamer Arbeit zu erfassen. Die Schallsorm. Erst aus dem Sinnerlebnis können wir dazu gelangen die Schallform der Dichtung zu begreifen, deren Elemente Rhythmus, Melodie und Klangart sind. Es wäre abwegig diese formalen Elemente zu stark und abgelöst vom Sinn zu betonen. Das Sinnerlebnis bleibt die Grundlage. Wenn wir von hier aus die Schüler mit Vorsicht auch in die Schallsorm einführen, dient dies nur dazu, das feinere Gefüge der Dichtung noch mehr aufzulichten, so daß zuletzt auch in kleinsten lautlichen Elementen schon der Gehalt offenbar wird. Der Ausgang von der Sinnsorm, aus der allein die Schallsorm be­ griffen werden kann, führt notwendig zu folgenden Forderungen: 1. Es ist bei der Erarbeitung der Dichtung möglichst von metrischen und stilistischen Unterweisungen abzusehen (keine Aufstellung metrischer Schemata!). 2. Ebensowenig wie bei der Sinnaneignung dürfen bei der Wiedergabe des Dichtwerkes die formalen Elemente überwiegen und das Sinnganze verdunkeln. Me bloßen Klangspielereien und lautsymbolischen Künsteleien sind abzulehnen!

- 79 3. Anschließend wäre noch zu sagen: Atemübungen und phonetische Übungen sind notwendig, ergeben sich aber auch aus der Gesamtarbeit am Chorwerk und werden nicht losgelöst davon behandelt, oder gar in einem eigenen Gang systematisch ge­ geben. Behandlung einzelner Schwierigkeiten.

1. Stimmengewirr und ungenaue Einsätze sind nur zu überwinden durch anhaltendes üben mit strenger Disziplin. 2. Tonlosigkeit und Schreiton. Zwei Klippen, an denen die Anfänge der Sprechchorarbeit häufig scheitern. Den Schülern ist beizubringen, daß beim Vortragen die Stimme klingen und tönen muß, ohne ins Schreien zu verfallen. (Häufige Bokalübungen!) Achtgeben, daß die Kinder in ihrer eigenen Tonlage sprechen, nicht auf das Organ des Lehrers verfallen. — Gegenseitige Schülerkritik ist sehr wirksam. 3. Leierton und falsches Pathos. Leierton ist ein stark skandierendes Sprechen, d. h. ein gleichmäßig starkes, taktmäßiges Betonen aller Hebungen ohne Rücksicht auf den Sinn, mit langen Pausen am Ende der Berszeile. Hilfsmittel. Arbeiten mit Wortblöcken, Übungen im Überspringen des Zeilenendes; gutes Einhalten der Sinnpausen. Falsches Pathos ist das übertriebene Betonen mehrerer sich folgender Wörter, das auch die Nebensilben in die Betonung hineinzieht und den Vortrag langweilig und schleppend macht. Die Umsetzung einer überpathetisch gesprochenen Stelle in die Prosa-Alltagssprache läßt meist rasch den Fehler erkennen. Leiern und falsches Pathos sind Erscheinungen der Er­ müdung, der einsetzenden innern Teilnahmslosigkeit. Das Inter­ esse erlahmt, der Schüler fühlt das Ganze nicht mehr, hat keine Kraft mehr, sich ganz in die Stimmung zu verwandeln, heuchelt sie nur mehr und übertreibt deshalb. In solchen Fällen hilft nur ein Aussetzen, dann die Rückkehr zum Ganzen und noch einmal — erneut, vertieft — das Ein­ tauchen ins Sinnerleben. Echtheit und Tiefe des Erlebens der Dichtung entscheiden alles. Literatur zur Praxis de» Tprechchor». Pleister Werner: Der deutsche Sprechchor. Hanseatische Berlagsanstalt, Hamburg.

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Der guten Sammlung, die vieles wirklich Sprechchorische für die reifere Jugend bringt, geht eine kurze, aber sehr lesenswerte theoretische Einführung voraus. Gentges Ignaz: Das Sprechchor-Buch. Bühnenvolksbundverlag, Berlin. Eine gleichfalls gute, in der Hauptsache wieder für Altere bestimmte Sammlung. Die theoretischen Gmndlagen sind schwierig, aber tiefgründig und durchdacht. Drach Erich: Sprecherziehung. Frankfurt a. M. Wohl das beste, was über die Erziehung zum guten Sprechen ge­ schrieben wurde. Ein Buch, aus dem jeder Lehrer für sich selbst und für seine Schüler Nutzen ziehen kann. Gerathewohl Fritz: Das deutsche Bortragsbuch. München. Verlag Georg Callwey. Vom Verfasser selbst „in erster Linie für die Hand des Pädagogen wie des Laien bestimmt", gibt es ähnlich wie Drachs Buch wertvolle Anregungen zu einer neuen Sprechkultur und einem Vortrag, der Leben­ digkeit und sachliche Gehaltenheit in gleichen: Maße erstrebt. Vogt Karl: Praxis des Sprechchors. Verlag „Der Sturm", Berlin. Das gründliche, aus langjähriger Praxis erwachsene Buch gibt im einleitenden Teil wertvolle Anweisungen zur Methodik des Sprechchors. Der Hauptteil zeigt die Praxis desselben an seiner Sprechchordichtung: „Der Krieg". Für Schulen besonders geeignet. Teich Walther: Wir spielen. Chr. Kaiser Verlag, München. (Münchner Laienspiele.) Aus der Schulpraxis erwachsen und darum wirklich für die Praxis brauchbar, besonders für die Mittelstufe. Sprache und Rhythmus gleich kindertünüich wie der Inhalt der Spiele. Riemann Kurt: Im Lauf des Jahres. Fünf kleine Sprechchöre zur Ausgestaltung von Schulfeiern. Verlag Arwed Strauch, Leipzig. Packt das Problem des Sprechchors in der Schule praktisch und sinn­ voll an, gibt ihm den richtigen Platz in der Schulfeier und erkennt die Festgegebenheiten der Schule. In der Sprache einfach. Sehr gut im Aufbau, der wirkungsvoll wechselnd Chorgesang, Sprechchor und Einzel­ rede vereint. Hahn Karl: Der Kindersprechchor. Verlag Zickfeldt, Osterwieck am Harz. Das Büchlein gibt Anregungen, ganz einverstanden kann man, bei den Balladen z. B., nicht sein. — Neuere Versuche des gleichen Verfassers erscheinen stilreiner und glücklicher. Ein Beispiel im Jugendrotkreuz, Februar 1932: „Wir spielen heute Eisenbahn."

Sammlung chorischer Dichtungen für die Schule. Der Sprechchor ist vor allem und in erster Linie eine An­ gelegenheit der Oberstufe unserer Schule. Die Arbeit an ihm würde sich aber wenig erfolgreich gestalten, nähme man sie erst hier in An­ griff. Der erste Teil der folgenden Sammlung dient also seiner Vorbereitung auf der Unter- und Mittelstufe, auf der er natür­ lich trotzdem auch seinen Eigenzweck besitzt, nur hier noch ebenso­ sehr als Spiel- und Bewegungs- wie als Sprachelement. Erst in den Oberklassen erhält er sein eigenes Wesen, tritt als reine Sprachgestalt vor den Schüler und soll als solche von ihm erarbeitet werden. Hier muß er eine gesteigerte Form der Dichtung sein oder er verfehlt seinen innersten Sinn, nämlich im lebendigen Vortrag zum Erlebnis der Dichtung überhaupt zu führen, indem er, wie Gerathewohl fordert, „die gestaltete Sprache des Künstlers sprechend in ihrem Rhythmus und Klang eingänglich macht". Man stoße sich also nicht an Schwierigkeiten einzelner Stücke dieses Teils. Sie sind keineswegs als von vorneherein dem Kinde leicht lesbar gedacht, sondern erfordern ernste Arbeit des Lehrers und des Schülers. Deshalb sollten im Lauf eines Schuljahrs lieber wenige behandelt werden, diese dann aber Fest- und Höhepunkte innerhalb der Alltagsarbeit darstellen. Die Auswahl dieser Chorgedichte versucht, in großen Themen einen Teil des sachstofflichen Bildungsgutes der Oberstufe zu­ sammenzufassen und wird darum dort, wo dieses Gut in einem erlebnisstarken und gegenwartsnahen Kulturkundeunterricht ge­ wonnen ist, auch in der verklärten Form der Dichtung im Kinde eine geistige Erhebung erzielen.

Belstler-Stolz, Sprechchor.

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Unter- und Mittelstufe. (6.—11. Lebensjahr.)

1. Osterhas. Von Viktor Blüthgen.

Osterhas, Osterhas, leg uns recht viel Eier ins Gras, trag sie in die Hecken, tu sie gut verstecken; leg uns lauter rechte, leg uns keine schlechte, lauter bunte unten und oben, dann wollen wir dich bis Pfingsten loben. 2. Heidelbeeren. Aus: Des Knaben Wunderhorn.

Heidelbeeren, Heidelbeeren steh'» in unserm Garten, Mutter, gib uns auch ein paar, können nicht mehr warten. 3. Böttcherlied. Aus: Faulbaum: Sonniges Jugendland.

Böttcher, Böttcher, bum, bum, bum, schlägt dem Faß den Buckel krumm, schlägt den Reifen auf den Kopf: Füg dich, füg dich, fauler Tropf! Böttcher, Böttcher, bum, bum, bum, hat ein Fell von Leder um. Bum, bum, bum!

4. Ri, ra» rutsch. Ri, ra, rutsch! Wir fahren in der Kutsch'. Wir fahren in der Schneckenpost, wo es keinen Pfennig kost'.

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Wir fahren in der Eisenbahn, weil sie viel schneller fahren kann. Wir fahren mit dem Zeppelin, der saust am schnellsten her und hin. Ri, ra, rutsch! Wer fährt noch in der Kutsch'? Die Hochzeitsleut', die Hochzeitsleut', die fahren in der Kutsch'. Sie zieh'n die schönsten Kleider an, die unser Schneider machen kann und fahren: Ri, ra, rutsch. 5. Die Schneider. Die Schneider: „Wir sind geschickte Schneider Wir nähen, nähen, näh'n. Röcke, Blusen, Kleider könnt ihr bei uns seh'n. Tretet ein! Kommt herein!" Die Kinder: „Ei, wie sind die Stoffe fein! Und nun gar die Kleider!" Die Schneider: „Unsre Scheren schneiden: Schnipp, schnapp, schnapp! Bon den bunten Seiden fällt gewiß was ab. Schnipp, schnapp, schnapp, hier ein Stück! Schnipp, schnapp, schnapp, dort ein Stück! Die Kinder: Welch ein Glück! Gibt's ein Kleid fürs Puppenkind, näh ich selber mir's geschwind. Schnipp, schnapp, schnipp.

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Die Schneider: „Nadel her und Faden! Stich, stich, stich! Seid ihr eingeladen kriegt ihr sicherlich reichlich noch zur rechten Zeit morgen nachmittag das Kleid. Stich und stich und stich!" Die Kinder: „Schau, das Blaue ist für mich! Und das Rote da für dich! Stich, stich, stich, sicherlich: Herrlich wird's uns stehen, was die Schneider nähen. Stich und stich und stich."

6. Ausflug mit der Eisenbah«. Bon Christian Morgenstern.

Ganzchor: „Puff puff Eisenbahn — jetzt fahren wir nach Wiesenplan!" 1. Halbchor: „Wiesenplan, das ist die Stadt, die den Kohlweißling zum Bürger hat. Der Kohlweißling bewohnt ein Haus, das sieht wie eine Glocke aus —" 2. Halbchor: „wie eine Glockenblume blau! Da wohnt der Kohlweißling und seine Frau. Und weht der Wind, macht die Glocke kling kling, und da freuen sich Herr und Frau Schmetterling." Ganzchor: „Puff puff Eisenbahn! Jetzt fahren wir aus Wiesenplan hinaus, hinaus, dem Walde zu..."

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1. Halbchor: „Wohin? wohin?... 2. Halbchor: Nach QuellwaldruhI Der Bahnwärter von Quellwaldruh, das ist ein Frosch und quakt dazu." Einzelsprecher: „Quak, quak, quak, aussteigen, quak!! In Quellwaldruh ist heut Ostertag! In Quellwaldruh ist heut Osterfeier, da versteckt der Osterhas bunte Eier! Rote und gelbe und allerlei, und das Suchen steht allen Fahrgästen frei. Quak, quak, quak! Guten Tag!" Ganzchor: „Guten Tag! Schönen Dank! Herr Bahnwärter Quak. Und jetzt wollen wir unter Eichen und Buchen und Tannen und Birken die Ostereier suchen! Und im Moos und unter den großen Wurzeln, darüber die kleinen Kinder purzeln. Nicht wahr? Und haben wir alle gefunden und in unsre Sacktücher eingebunden, dann fahr'n wir am Abend wieder nach Haus und packen die Wunder vor Großmutter aus."

7. Die Schneeglöckchen sagen: Bon Trojan. Wir sind die ersten im Garten, woll'n auf die andern warten, noch kahl ist Baum und Strauch. Ach, liebe Sonne, scheine herunter auf uns Kleine! Es frieren uns die Füßchen und Kopf und Hände auch.

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8. Die Weidenkätzchen. Bon Christian Morgenstern.

Kind: „Kätzchen ihr der Weide, (Einzelsprecher) wie aus grauer Seide, wie aus grauem Samt! O ihr Silberkätzchen, sagt mir doch, ihr Schätzchen, sagt, woher ihr stammt." Kätzchen: (Chor)

„Wollen's gern dir sagen: Wir sind ausgeschlagen aus dem Weidenbaum, haben winterüber drin geschlafen, Lieber, in tieftiefem Traum."

Kind:

„In dem dürren Baume in tieftiefem Traume habt geschlafen ihr? In betn Holz, dem harten, war, ihr weichen, zarten, euer Nachtquartier?"

Kätzchen:

„Mußt dich recht besinnen: Was da träumte drinnen, waren wir noch nicht, wie wir jetzt im Kleide blühn von Samt und Seide hell im Sonnenlicht. Nur als wie Gedanken lagen wir im schlankeit grauen Baumgeäst; unsichtbare Geister, die der Weltbaumeister dort verweilen läßt."

Kind:

„Kätzchen ihr der Weide, wie aus grauer Seide, wie aus grauem Samt!

- 87 O ihr Silberkätzchen, ja, nun weiß, ihr Schätzchen, ich, woher ihr stammt."

9. Die kleinen Mädchen tanzen «nd singen. Bon Otto Julius Bierbaum. Ich und du und du und du, zweimal zwei ist viere, tragen Kränze auf dem Kopf, Kränze aus Papiere. Rechts herum und links herum, Röck' und Haare fliegen. Wenn wir alle schwindlig sind, fall'n wir um und liegen. Purzelpatsch, wir liegen da, patschelpurz im Grase. Wer die längste Nase hat, der fällt auf die Nase." 10. Wetterwnnsch. Von Paula Dehmel. Scheine, Sonne, scheine, die Wäsch' hängt auf der Seine; unsre Hemden, unsre Socken, mach sie uns bis Sonntag trocken, scheine, Sonne, scheine! Rausche, rausche, Regen, gib uns deinen Segen, wasch die armen Sünder rein, gib uns Brot und gib uns Wein, rausche, Regen, rausche! Zu best ist allerwegen Sonnenschein und Regen; auch der Wind muß pfeifen, soll die Ernte reifen. Regen, Wind und Sonnenschein mögen bei unserm Hause sein.

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11. Flucht des Winters.

Von Guido Görres. Nun treiben wir den Winter aus, den alten, kalten Krächzer. Wir jagen ihn zum Land hinaus, den Griesgram, Brummbär, Ächzer und laden uns den Frühling ein mit Blumen und mit Sonnenschein. Juchhei, juchhei! O komm herbei, o Mai, o Mai! Das faule Stroh, das dürre Reis und alles, was vermodert, das geben wir dem Feuer preis, daß hoch die Flamme lodert, und laden uns den Frühling ein mit Blumen und mit Sonnenschein. Juchhei, juchhei! O komm herbei, o Mai, o Mai! Das Lied ist aus, Viktoria! Der Winter ist vergangen. Wir singen froh ein Gloria dem Lenz, der angefangen, und laden uns den Frühling ein mit Blumen und mit Sonnenschein. Juchhei, juchhei! O komm herbei, o Mai, o Mai!" 12. LenzeSlnst.

Bon Albert Sergel. Halbchor: Nun hebt mit frohem Singen die Lerche wieder an, und ihre Lieder klingen voll Jauchzen himmelan.

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2. Halbchor: Und unten schimmern die Felder int frühlingsfrischen Grün; es sausen und brausen die Wälder; Windröschen und Krokus blühn. Ganzchor:

Uns ist so froh zu Mute, wir breiten die Arme weit: O Sonne, du Liebe, du Gute! O du wonnige Frühlingszeit! 13. Elfenreigen. Von Paula Dehmel.

Eia, wir Elfen, wir kommen und helfen, eh du's gedacht, Kind, eh' du's gedacht. Wir kommen im frommen Geleuchte der Nacht, Gewänder und Bänder vom Monde erdacht; wir schweben und heben im Reigenspiel sacht die Schleier zur Feier der freundlichen Nacht. Eia, wir reichen uns schmeichelnd die weichen Hände im gleichen lieblichen Takt, im lieblichen Takt. Wir gleiten durch Weiten der wandernden Welt, wir ziehende fliehende Nebel im Feld;

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wir lauschen dem Rauschen der Quellen gesellt, und schauen die blauen Gefilde bestellt. Eia, wir zeigen im silbernen Reigen mit Nicken und Neigen die Zauber der Welt, die Zauber der Welt. 14. Elfensang.

Bon Wolfgang Goethe. Um Mittemacht, wenn die Menschen erst schlafen, dann scheinet uns der Mond, dann leuchtet uns der Stern: Wir wandeln und singen, und tanzen erst gern. Um Mittemacht, wenn die Menschen erst schlafen, auf Wiesen an den Erlen, wir suchen unfern Raum, und wandeln und singen und tanzen einen Traum. 15. Lied vom Winde.

Von Moericke. Einzelsprecher: Sausewind, Brausewind! Dort und hier! Deine Heimat sage mir! Chor: Kindlein, wir fahren seit viel vielen Jahren durch die weit, weite Welt, und möchten's erfragen, die Antwort erjagen,

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bei den Bergen, den Meeren, bei des Himmels klingenden Heeren, die wissen es nie. Bist du klüger als sie, magst du es sagen? — Fort, wohlauf! Halt uns nicht auf! Kommen andre nach, unsre Brüder, da frag wieder!

(Gekürzt.)

16. Ähren im Sturm. Bon Hermann Hesse.

O wie der Sturm so dunkel braust! Wir neigen ängstlich und zerzaust uns tief vor seiner schauerlichen Macht und bleiben zitternd wach die ganze Nacht. Wenn wir morgen noch leben werden, O, wie wird dann der Himmel tagen und warme Luft und Geläut von Herden selige Wellen über uns schlagen. 17. Große Wanderschaft. Von Wilhelm Müller.

Wandern, wandern! Gestern dort und heute hier; morgen, wohin ziehen wir? Wandern, wandern! Wißt ihr wohl das Losungswort, das die Welt treibt fort und fort? Wandern, wandern! Sehet Sonne, Mond und Sterne, wie die wandern all so gerne! Wandern, wandern! Auch die Erde macht sich auf alle Jahr zum frischen Lauf. Wandern, wandern! Ei, so laß das Sitzen sein, Mensch, du mußt doch hinterdrein! Wandern. wandern!

(Gekürzt.)

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18. Neujahr. Von Otto Julius Bierbaum.

Und mag in Nacht und Tagen uns böses Schicksal schlagen, wir bleiben doch getrost: Uns ist zu jeder Stunde, uns ist für jede Wunde ein Balsam zugelost. Die Liebe läßt auf Erden nicht müd und irre werden und keinen einsam steh'«. Auf, Jahr, mit Lust und Schmerzen! Wir woll'n mit reinem Herzen durch deine Pforte geh'n! 19. Chor der Monate. Von Paula Dehmel.

Seid friedensstark, seid liebesklar! Das wünscht der Monate bunte Schar. Prosit Neujahr! Nun reicht euch zur Wende des Jahres die Hände und grüßt euch mit Neigen und schlingt einen Reigen! Spiel auf, Musik, begleite sie. Des Jahres Schluß sei Harmonie. < Gedacht als einleitender Chor zu einem Reigen

20. Gebet. Von Frieda Jung.

Herr, gib uns helle Augen, die Schönheit der Welt zu sehn! Herr, gib uns feine Ohren, dein Rufen zu verstehn, und weiche, linde Hände für unserer Brüder Leid

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und klingende Glockenworte für unsere wirre Zeit! Herr, gib uns rasche Füße nach unsrer Arbeitsstatt — und eine stille Seele, die deinen Frieden hat. 21. Gotenzug. Von Felix Dahn.

Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt: wir sind die letzten Goten! Wir tragen keine Schätze mit: — wir tragen einen Toten. Mit Schild an Schild und Speer an Speer wir ziehen nach Nordlands Winden, bis wir im fernsten grauen Meer die Insel Thule finden. Das soll der Treue Insel sein: dort gilt noch Eid und Ehre, dort senken wir den König ein im Sarg der Eichenspeere. Wir kommen her — gebt Raum dem Schritt! Aus Romas falschen Toren: Wir tragen nur den König mit, — die Krone ging verloren. —

Oberstufe. Chorgedichte und Chorspiele für Feierstunde« und Schulfeste. Segen der Erde. Durchführung eines Motivs durch das ganze Schulalter vom 6. bis etwa 16. Lebensjahr.

1. Die Drescher. (Kindervers für das 6.—7. Lebensjahr.)

Die Knechte dreschen klipp und klapp, so munter und so froh; Die Kömlein springen auf und ab, da liegt das leere Stroh. Den Weizen nur hereingebracht, schlagt mit dem Flegel drein. Und auch das Korn soll bis zur Nacht noch heut gedroschen sein. 2. Ernte. Von Walther Teich. (Gedacht für das 10. Lebensjahr.)

Chor der Schnitter: Zug um Zug und Schnitt um Schnitt, die Sonne schwingt in unserm Schritt, die Ähre bebt, die Ähre fällt, Segen der Ernte, Segen der Welt. Der Borschnitter: Halt!



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Die Ahrenleserinnen: Das Feld ist wie ein gelbes Meer, Die Ähren sind vor Reife schwer. Wir lesen auf, wir sammeln ein, kahl werden bald die Felder sein. Der Vorschnitter: Stellt die Garben zusammen! Alle (beim Zusammenstellen der Garben): Eine Ähre hat viel Korn, eine Garbe viele Ähren, Helles Wasser gibt der Vom, weißes Mehl die vollen Ähren. Sonne scheine, wehe Wind, daß sie bald getrocknet sind. Der Borschnitter: Feierabend! Alle (im Fortgehen): Schwer und lang sind unsre Stunden, wir haben vielhundert Garben gebunden, wir haben Vieltausend Ähren gemäht, früh an die Arbeit, heimwärts spät. Bei Kälte und Regen und Sonnenbrand, wir säen und ernten fürs ganze Land. (Mit Erlaubnis des Verlags entnommen der Sammlung: „Wir spielen". Kindersprechchorspiele von W. Teich. — Chr. Kaiser Verlag, München.)

3. Säerspriich. Von K. F. Meyer. (Gedacht für das 11./12. Lebensjahr.)

Bemeßt den Schritt! Bemeßt den Schwung! Die Erde bleibt noch lange jung! Dort fällt ein Korn, das stirbt und ruht. Die Ruh ist süß. Es hat es gut. Hier eins, das durch die Scholle bricht. Es hat es gut. Süß ist das Licht. Und keines fällt aus dieser Welt — und jedes fällt, wie's Gott gefällt.

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Die nun folgenden Gedichte find für die Oberstufe vom 12. bis 16. Lebensjahr vorgesehen.

4. Lied der Ähren. Von Karl Nötiger.

Nun das Blau über den Dörfern in den Abend steigt, und das Grillenheer am Feldrain geigt, Wo zwei Streifen Gras den weißen Staub geleiten und die gelben Felder tief und weit sich breiten: In das Grau der Ferne, in das Abendblau — (schon schmeckt kühl die Luft nach Abendtau) — auf der hohen Flut, die mir zur Seite steht — kommt es gelaufen aus der Weite: Welle, Welle, — und ein Singeton, und verflossen und verklungen schon ... Wo im Gras am Rand die Grillen geigen, will ich sitzen und mein Haupt hiimeigen in die Ähren, in den roten Mohn, in Kornblumenblau und leisen Singeton----Was die Halme schwingen, Ähren läuten, will ich hören und ihr Lied mir deuten: „Aus der großen, großen Gotteshand sind wir hingeflossen übers Land, eine goldene Erfüllungsflut, und dazwischen Tropfen rotes Blut — und dazwischen Tropfen Sehnsuchtsblau----Wenn der Abend sinkt mit kühlem Tau, Namenloses in den Lüften hängt — und die frühe Sommernacht anfängt: Sind wir schön wie nie und leise singen wir das Lied der Fülle, die wir bringen; wir das leise Lied der reifen Samen, Lied der Stillung, Lied des Ja und Amen; Lied des Abends und der reifen Blicke, und des Endes und des Rühens aller Geschicke." (Aus betn Gedichtbuch „Tage bet Fülle.)

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5. Wir Bauern. Von Alfred Huggenberger. Wir Bauern, das lassen wir uns nicht nehmen, wir brauchen uns nicht des Lebens zu schämen. Und sind wir Knechte der Arbeit nur, lvir finden des heimlichen Glückes Spur. Wir wissen, wie's der Frühling meint, wenn seine Sonne den Anger bescheint; wir hören im Wald der Käfer Gesumm, das Herz will singen — der Mund bleibt stumm. Wir atmen den Ruch der Scholle ein und müssen wieder stille sein, wir wischen den Schweiß uns vom Gesicht und blicken ins rote Morgenlicht. Wir Bauern schaffen mit schwerer Hand, wir halten Sturm und Wetter stand. Wir sehn, wie der Hagel die Halme fällt — der Acker wird schweigend neu bestellt. Wir ahnen, was die Tanne klagt, wenn tief im Holz die Säge nagt, wir plaudern mit dem jungen Baum und gönnen ihm den Frühlingstraum. Wir schaun nicht weit nach Ost und West, wir hangen am Heim, wir hangen am Nest; der Hütte Zauber, des Ackers Schweigen, sie sprechen zu dem nur, dem beide eigen. Wir Bauern, das soll uns keiner nehmen, wir brauchen uns nicht des Lebens zu schämen. Das heimliche Glück gibt heimlich nur, doch wandelt es gern auf einsamer Flur. 6. Wir Bauer«. Bon Richard Billinger. Wir Bauern dulden keinen Spott an unserm Herrn und Helfer Gott! Belstler-Stol-, Sprechchor.

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- 98 Was wären wir wohl ohne ihn? Eine Ehschaft ohne Gatten. Ein Bienstock ohne Königin. Ein Baum ohne Frucht und Schatten. Wir brauchen ihn wie's lötig Gold. Der Bettler und der Eigenhold kann nur „Bergeltsgott" sagen. Dem Blinden scheinet hell sein Licht. Er ist's, der mit dem Kranken spricht. Er hört des Stummen Klagen. Er warf die Lerche in die Luft. Er gab der Blume Färb und Duft. Er gab dem Korn die halmende Kraft, dem Apfel allen süßen Saft; dem Bauern Macht und Leidenschaft zum Werk, dem menschenguten. Er hat die Ewigkeit verliehn. Wir alle müßten ohne ihn am Acker Zeit verbluten.

7. Das Lied der reifen Maiskolben. Von Maria Ditha Santifaller. Ein raschelnder See von Verdorren sind wir, von Totgebrannten im Sommer, und wie durch ein Leichenhaus rast uns der Wind und rüttelt Gebeine. Aber inmitten des gelblichen Todes glüht das Leben, glüht der Samen, rötliches Gold. Schwer ist das Gold, schwer ist es zu tragen auf dorrenden Händen, in sterbendem Schoß. Aber wir harren des Tages unsrer Erlösung, wir harren des Feuers, das uns verzehrt. Uber Menschen und Tiere schütten das Gold wir unseres Lebens. Und sterbend im Leben kehren wir wieder im Kreise der Zeiten, ein grünendes Meer. (Gekürzt.)

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Das hohe Lied der Arbeit. 1. Das hohe Lied. Von Bruno Schönlank.

Das hohe Lied der Arbeit tönt. Hört, wie's über schüttelnden Schienen dröhnt. Hört, wie es unterirdisch saust, hört, wie es in den Fabriken braust. Die Arbeit spielt mit Riesenhänden gewaltiges Orgellied der Zeit, hinflutet es an grauen Wänden, hinrauscht es zu der Ewigkeit. 2. Die neue Zeit.

Wir Pflanzen unsre Fahne auf die Zinne der unruhvollen, nimmermüden Zeit; wir haben uns der Gegenwart geweiht, daß jeder von uns recht den Tag beginne. Und doch sind wir, inmitten Ruß und Qalm, der mütterlichen Erde tief verbunden. Wir haben unser Bestes dort gefunden, wo heil'ge Urkraft strömt aus jedem Halm. In unserm Blute liegt seit Anbeginn der Rätsel tiefstes und des Wunders Sinn: Wir lieben Vogellied und Werksirenen! Wenn spät ringsum die Zechen lärmend hämmern, Urmutter Heimat lockt im letzten Dämmern, daß unsre Tage weich sich in den Abend dehnen. Von Wilhelm Haas. („Antlitz der Zeit", Bolksverband der Bücherfreunde, Berlin.)

3. Arbeit. Bond Heinrich Lersch.

Dröhnend fallen die Hämmer, wuchtig in Schlag und Takt gellen eherne Zungen: Angepackt!



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Riemen knarren und knirschen, — uns ist das Werk zu schwer. Kurze Kommandoworte fliegen dahin, daher. Das ist ein starkes Singen! Mächtig, voll Kraft ohne End. Das ist Musik für jeden, der unsere Arbeit kennt.

4. Wir Werkleute all. Wir Werkleute all, wir alte und junge, wir Männer und Frau'n, die wir nur Flammen, Gluten, Massen und Kräfte schau'n, wir, die wir die Flammen, Gluten und Kräfte bezwingen: hört unsere Fäuste das Lied der Arbeit singen. Wir Werkleute all tragen unter dem blauen Tuch wie ihr eine Seele, die weint und jubelt unter Segen und Fluch, und neben dem lauten Leben ein Menschsein mit allen Gefühlen, in Liebe und Frühling, in Armut und Not, Erde und Himmel wühlen. Wir Werkleute all sind allein Werks Fundament: Auf unseren Leibern stehn die Maschinen, auf unseren Leibern der Hochofen brennt; auch unsere Seelen zwingen wir in Hebel und Walzen, Räder und Achsen, darum kann sie nicht mit steilen Bäumen in Gottes Himmel wachsen. Wir Werkleute all hüten Gottes Erde und machen sie untertan; darum ist uns Gott gnädig, wenn wir im Tod uns ihm nah'n — — und zerbräch' diese Erde, loderten aus den Spalten des Erd­ kerns Flammen — wir Werkleute all, wir schmiedeten sie wieder mit stählernen Ringen aus Trägern und Schienen zusammen. Von Heinrich Lersch. („Mensch im Eisen." Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart.)

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5. Gebet der Arbeitslosen. Bon I. Prestel, München.

Herr, wir warten auf Arbeit. Reiße Deine Himmel auseinander und sieh auf uns herab, Zahllose, die fiebernd warten auf Arbeit mit Augen, die wie Löcher sind in Gesichtern, weiß vor Mangel, aufgetan zu Deinen Himmeln. Herr, wir warten auf Arbeit. Du bist der große Meister der Tat, der Du im ungeheuren Schwünge schufest im Anfang aller Arbeit Urmaß. Herr, Du weißt es: Du hast von Deiner Kraft Feuer gegossen in unsre Körper, auf daß auch sie sich recken zur nützlichen Arbeit, hast unsrer Seele den Hunger gegeben, zu schaffen das Werl. Herr, wir warten auf Arbeit. Laß uns die Meere ausschöpfen, oder die Berge abtragen, wir wollen nicht murren. Teile die Erde uns neu aus wie sie war am Anfang. Wir wollen die riesigen Sümpfe austrocknen, wir wollen alle Steine weglesen von den Feldern, wir wollen alle Disteln und Domen ausreißen mit bloßen blutenden Händen, wir wollen pflügen alle Acker der Welt — nur Herr, gib uns Arbeit!

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6. Lied der Kohlenhäuer. Bon Gerrit Engelke. Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir fallen und fallen auf schwankender Schale ins lampendurchwanderte Erde-Gedärm — die andern, sie schweben auf schwankender Schale steilauf in das Licht! in das Licht! in den Lärm. Wir fallen und fallen auf schwankender Schale. — Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir wühlen und wühlen auf wässernder Sohle, wir lösen vom Flöze mit rinnendem Schweiß und fördern zutage die dampfende Kohle. Uns Häuern im Flöze ist heißer als heiß — wir wühlen und wühlen auf wässernder Sohle. Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken; im wachsenden Schacht — bei Tage, bei Nacht — Wir pochen und pochen, wir bohrenden Würmer, im Häuser- und gleisüberwachsenen Rohr, tief unter dem Meere, tief unter dem Türmer, — tief unter dem Sommer. Wir pochen im Rohr, wir pochen, wir pochen, wir bohrenden Würmer. Wir wracken, wir hacken, mit Hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir speisen sie alle mit nährender Wärme: Den pflügenden Lloyd im atlantischen Meer, die erdenumkreisenden Eisenzug-Schwärme,

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der Straßenlaternen weitflimmerndes Heer, der ragenden Hochöfen glühende Därme; wir nähren sie alle mit Lebensblut — Wärme! Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir können mit unseren schwieligen Händen die Lichter ersticken, die Brände der Welt! Doch — hocken wir fort in den drückenden Wänden: wir klopfen und bohren und klopfen für Geld — doch hocken wir fort in den drückenden Wänden: Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht — Wir pochen und pochen durch Wochen und Jahre, wir fahren lichtauf — mit Glück-Auf! dann hinab — wir pochen und pochen von Wochen — zur Bahre — und mancher schürft unten sein eigenes Grab — wir pochen und Pochen durch Wochen und Jahre. Wir wracken, wir hacken, mit hangendem Nacken, im wachsenden Schacht bei Tage, bei Nacht. 7. Der steinerne Psalm. Von Karl Bröger.

Unsre Straßen klingen von Stimmen alter und neuer Zeit. Edle Kirchen und Häuser singen schönstes Lied der Vergangenheit. Über Firste und Giebel, traulich im Winkel verschmiegt, noch ein später Glanz verblaßter Tage sich wiegt. Mer Kamine und Essen, trotzig gereckt in den Wind, heulen herrisch: Heute ist heute! Wir sind!

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Jeder Stein erklingt unter deinem Fuß, schickt ein Haus dem andern Haus seinen Englischen Gruß. Jauchzt die Esse steil aus rauchgeschwängerter Luft; tönt der Kirchturm Antwort aus seinem marienseligen Himmels­ duft. Dome, Kapellen, für Beter gewölbtes Schiff, Bahnhofshallen, Fabriken, von Arbeit durchdampft, durchgellt von Sirenenpsiff, ihre Gesänge münden aus Duft und Weihrauch, aus Dunst und beißendem Qualm alle in einen riesenstimmigen Lebenspsalm. „Wir sind gebaut auf schwankenden Erdengrund. Wir sind gebaut von einem schaffenden Menschenbund. Stehn wir längst von allen Gerüsten entschält, bleibt doch des Werkes Ruhm in Ewigkeit ungeschmält. Schlafen auch Maurer und Steinmetz in der kühlen Gruft, recken wir doch ihr Werk in hellste Himmelsluft, künden wir jedem Auge, das uns liebend schaut: Wir sind gebaut! Wir sind von einem schaffenden Bund gebaut!" Wo die Stadt sich verliert im blauen Himmelsrand, reicht das letzte Haus dem ersten Baum die Hand, klingt noch ins Rauschen der Wälder von diesem Psalm ein Klang. Unsre Stadt ist ein mächtiger steinerner Lobgesang.

8. Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist's Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns; ja, das Werk unserer Hände wolle er fördern. (Aus dem 90. Psalm.)

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9. Werkleute sind wir. Von Rainer Maria Rilke.

Werkleute sind wir, Knappen, Jünger, Meister, und bauen dich, du hohes Mittelschiff, und manchmal kommt ein ernster Hergereister, geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister und zeigt uns zitternd einen neuen Griff. Wir steigen in die wiegenden Gerüste, in unsern Händen hängt der Hammer schwer, bis eine Stunde uns die Stirne küßte, die strahlend und als ob sie alles wüßte, von dir kommt wie der Wind vom Meer. Dann ist ein Hallen von den vielen Hämmern und durch die Berge geht es Stoß um Stoß. Erst, wenn es dunkelt, lassen wir dich los, und Deine kommenden Konturen dämmern. Gott, Du bist groß!

Uns laßt die Heimat! 1. Das Land und wir. Von Ina Seidel.

Der Ströme Geröll, durch die Ebene schiebend, war eins mit der Wälder schwarzem Gebraus unterm ewigen Wind. Die Landschaft hatte kein Antlitz, sie lagerte blind, von keiner Seele gespiegelt, unkundig des eigenen Scheins. Der Boden dampfte aus endlos brauendem Moor, und strotzte krachend von ungebändigtem Holz, und heulte der großen Tiere Brunstschrei empor, — das warst du, mein Land, dem der Gletscher vom Herzen schmolz. Wir kamen von Morgen, wir kamen von Mitternacht —, ich weiß nicht, woher wir über dich kamen, Land. Aus dunklen Horden hob sich durch Blut und Schlacht ein Volk und füllte dich wogend bis an den Rand. Und quoll vom Safte aus hundert Stämmen verquickt, und hallte wider von einer Sprache Hall: Da wuchsen Grenzen, von keinem Auge erblickt, und trotzten wie Felsenwälle der Fremden Prall.

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Du wurdest unser, Land, wir wurden dein Los. Wir kämpften mit deiner Härte Herz an Herz und zwangen Ernten aus deinem steinigen Schoß und hoben aus deinen Tiefen Kohle und Erz. Geschlechter starben und sanken in dich hinab, der Väter heiliger Staub durchschichtet dich gut: Und unser Brot quillt golden aus ihrem Grab. Land, wir sind eins, verschmolzen in Fleisch und Blut. 2. Das Land im Gebirge. Wir müssen lang warten, eh die Sonne kommt, denn das Gebirge ist hoch und flüchtig brandet der Tag, eine schäumende Woge, feurig am Abend hinab. Kurz ist der Lenz. Des Sommers Hast drängt die Monde zu ängstlicher Schar, die wirbelnd flüchtet, wenn des Herbstes allzufrühe schmetternde Hörner blasen. Aber der Winter jagt mit hellem Getümmel taglang und nachtlang um den Hof. Hart bedrängt uns die Macht der Berge, Ungestüm der Lawinen, Rollen des Steinbruchs, oder des Hochwetters Schlag. Aber jauchzend klingt von unseren Bergen das Lied der Freiheit, weht die Sonne hinaus über alle Ebenen, Mond und Sterne. Eng sind die Marken unserer Höfe, aber vertraut Scholle und Baum, ganz uns zu eigen durch vieler Jahre Mühsal und Fleiß. Korn trägt die Wiese, Gras, wehenden Flachs, Apfel der Garten, traurig oft, Daß die Frucht nicht quillt in überfülle, denn herb ist das Land und arm.

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Aber du, Land, schwermütige Mutter, freust dich deiner Söhne und Töchter, wenn die Wälder widerhallen von Jagdgetümmel, Jauchzen der Holzknechte und wenn das Lied der Hirten am Abendfeuer über die Bergwiese rollt, oder wenn am schweigenden Eschenweg Liebende träumen und der Hochzeitszug mit Schwegeln und Pfeifen hinabzieht von deinen Bergen. Gering sind unsere Herden, gern vertraut eines kleinen Mädchens Hut. Nicht Gold und Schätze bergen unsere Truhen, doch Korn und Leinwand und der Väter uralten Hausrat. Wir fahren nicht aus in die Welt, Sprache und Sitte ist uns ein heiliges Erbgut, doch ist dem Fremden immer Obdach und Mahl bereit. Nicht Könige und Fürsten sind unsere Gebieter. Hoch über den Grenzen der Reiche steht unserer Heimat Gemarkung. Laßt den Völkern Länder und Meere, den Herrschern Staaten, uns laßt die Heimat, denn sie ist unser! Bon Joseph Georg Oberkosler. 3. Bekenntnis. Von Karl Bröger.

Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt, bloß wir haben sie nie mit einem Namen genannt. Ms man uns rief, da zogen wir schweigend fort, auf den Lippen nicht, aber im Herzen das Wort Deutschland.

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Unsere Liebe war schweigsam; sie brütete tiefversteckt. Nun ihre Zeit gekommen, hat sie sich hochgereckt. Schon seit Monden schirmt sie in Ost und West dein Haus, und sie schreitet gelassen durch Sturm und Wettergraus, Deutschland. Daß kein fremder Fuß betrete den heimischen Grund, stirbt ein Bruder in Polen, liegt einer in Flandern wund. Me hüten wir deiner Grenze heiligen Saum. Unser blühendstes Leben für deinen dürrsten Baum, Deutschland. Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt, bloß wir haben sie nie bei ihrem Namen genannt. Herrlich zeigte es aber deine größte Gefahr, daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war. Denk es, o Deutschland. 4. Gemeinschaft. Von Karl Bröger. I.

Bon deinen Toten bist du bewacht, teures Land! Sie schweben um dich in jeder Nacht und wirken aus ihrer geheimen Macht, aus Gut und Blut, aus Brand und Schlacht ein Band von ewigem Bestand. Liebe der Toten in Sumpf und Sand ruft uns an: Denkt daran! Bergeßt es nicht, was uns in euer Leben verflicht! Opfert wie wir und sollt ihr vergehn: Deutschland muß immer und immer besteh'». II.

Nichts kann uns rauben Liebe und Glauben zu diesem Land.

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Es zu erhalten und zu gestalten sind wir gesandt. Mögen wir sterben! Unseren Erben gilt dann die Pflicht, es zu erhalten und zu gestalten. Deutschland stirbt nicht. 5. Für uns.

Von Rcinhold Samuelsohn. Fern, fern im Osten, da gähnt ein Grab; da senkt man zu tausend die Toten hinab Für uns! Im Westen da ragt manch Kreuz schlicht und klein, da lagen sie stumm in langen Reihn Für uns! Und wo im Winde rauscht das Meer, da gaben sie freudig ihr Leben her Für uns! Sie opferten Zukunft und Jugendglück, sie kehrten nie wieder zur Heimat zurück Für uns! Sie gaben ihr Alles, ihr Leben, ihr Blut, sie gaben es hin mit heiligem Mut Für uns! Und wir? Wir können nur weinen und beten für sie, die da liegen bleich, blutig, zertreten Für uns! Denn es gibt kein Wort, für das Opfer zu danken, und es gibt keinen Dank für sie, die da sanken Für uns! 6. Lied der Luftkapitäne.

Bon Rudolf Maria Holzapfel. Wir schlagen Brücken über Länder und Meere, überschweben auf Flügeln den höchsten Grat, wir sind die Besieger der größten Heere, erkämpfen den Frieden, sä'n seine Saat.

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Vor unseren Augen verschwinden die Grenzen, wir sind zu Hause in jeglichem Land, wir schauen den Tod in täglichen Tänzen, sind ihm verbrüdert durch heimliches Band. Wir schauen von droben zukünftiges Werde, wir furchen die Wege, wir bauen die Bahn. Wir fühlen: Uns ist die ganze Erde, der Menschheit Vaterland, untertan! 7. Licht mutz wieder werden. Von Herman Claudius. Licht muß wieder werden nach diesen dunkelen Tagen. Laßt uns nicht fragen, ob wir es sehen. Es wird geschehen: Auferstehen wird ein neues Licht. Waren unsre Besten nicht ein wanderndes Sehnen, unerfüllt nach Licht, das da quillt, von ihnen noch ungesehn? Es wird geschehen. Laßt uns nicht zagen. Licht muß wieder werden nach diesen dunkelen Tagen.

Herr (Bott, du bist unsre Zuflucht. 1. Der 90. Psalm. Herr Gott, Du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, und sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird,

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das da frühe blühet und bald welk wird und des Abends ab­ gehauen wird und verdorret. Das machet Dein Zorn, daß wir so vergehen, und Dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsre Missetaten stellest Du vor Dich, unsre uner­ kannte Sünde ins Licht vor Deinem Angesicht. Darum fahren alle unsre Tage dahin durch Deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist's Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. Wer glaubt's aber, daß Du so sehr zürntest, und wer fürchtet sich vor solchem Deinem Grimm? Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Herr, kehre Dich doch wieder zu uns und sei Deinen Knechten gnädig! Fülle uns frühe mit Deiner Gnade, so wollen wir uns rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. Erfreue uns nun wieder, nachdem Du uns so lange Plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden. Zeige Deinen Knechten Deine Werke und Deine Ehre ihren Kindern. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns; ja das Werk unsrer Hände wolle er fördern! Von den sonstigen zu Chorvortrag geeigneten Psalmen seien noch erwähnt: Psalm 136, Vers 1—9: „Danket dem Herrn; denn er ist freundlich." Psalm 148: „Halleluja. — Lobet ihr Himmel den Herrn!" Der Parallelismus ihrer Verse weist ganz von selbst auf ihren Vortrag durch Wechselchöre hin. — Psalm 136 ist litanei­ artig mit dem stets wiederkehrenden „denn seine Güte währet ewiglich".

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3. Bor Dir. Vor Dir, vor Dir sind wir ein Nichts, sind Funken Finsternis im All des Lichts. Wir sind verlassen, sind arm und blind, auf kalten Gassen ein fröstelndes Kind. Wir sind nur Sünde, sind Not und Spott, sind bettelnde Armut vor Dir, o Gott. Wir sind wie Staub, den die Sonne durchscheint, ein Blätterraub, der im Winde weint.------Du unsre Sonne, laß uns Dein Licht; Du, ewiger Sturm, verstürme uns nicht. Bon Ernst Thrasolt.

4. Psalm. Um Erden wandeln Monde, Erden um Sonnen, aller Sonnen Heere wandeln um eine große Sonne: „Vater unser, der Du bist im Himmel!" Auf allen diesen Welten, leuchtenden und erleuchteten, wohnen Geister, an Kräften ungleich und an Leibern; aber alle denken Gott und freuen sich Gottes. „Geheiliget werde Dein Name." Er, der Hocherhabene, der allein ganz sich denken, seiner ganz sich freuen kann, machte den tiefen Entwurf zur Seligkeit aller seiner Weltbewohner. „Zu uns komme Dein Reich."

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Wohl ihnen, daß nicht sie, daß er ihr Jetziges und ihr Zukünftiges ordnete. Wohl ihnen, wohl! Und wohl auch uns! „Dein Wille gescheh, wie Himmel, also auch auf Erden." Er hebt mit dem Halme die Ähr' empor, reifet den goldnen Apfel, die Purpurtraube, weidet am Hügel das Lamm, das Reh im Walde. Aber sein Donner rollet auch her, und die Schloße zerschmettert es am Halme, am Zweig, an dem Hügel und im Walde! „Unser tägliches Brot gib uns heute." Ob wohl hoch über des Donners Bahn Sünder auch und Sterbliche sind? Dort auch der Freund zum Feinde wird? Der Freund im Tode sich trennen muß? „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern." Gesonderte Pfade gehen zum hohen Ziel, zu der Glückseligkeit: Einige krümmen sich durch Einöden, doch selbst an diesen sproßt es von Freuden auf und labet den Durstenden. „Führ uns nicht in Versuchung, sondern erlös uns vom Übel." Anbetung Dir, der die große Sonne mit Sonnen und Erden und Monden umgab. Der Geister erschuf, ihre Seligkeit ordnete, die Ähre hebt, der betn Tode ruft, zum Ziele durch Einöden führt und den Wanderer labt, Anbetung Dir! „Denn Dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit. Amen." Anmerkung. Die Bitten des Vaterunsers werden vom ganzen Chor in einem streng liturgischen Stil gesprochen. Die zu den Bitten hinleitenden Worte übernehmen Einzelsprecher bzw. Teilchöre in einem mehr ausdeutenden Sprechcharakter wie die Bitten. Belgier» Stolz, Sprechchor.

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- 114 4. Osterhymnus.

Nach dem Lateinischen des 15. Jahrhunderts.

Bon Joseph Bernhart. Jauchzet, ihr Himmel, Lache, du Äther! Freue dich, Erde, Höhen und Tiefen! Wetter und Toben Schweigen zerstoben — Hehrstem der Bäume Leuchten die Räume. Lenzig ersprießet, sprießet, ihr Blumen, Gräser entsprießet, farbigen Wiesen! Rosen, Violen, prangend, verstohlen — weiße und blaue Sterne der Aue!

Drang des Geblütes, Sang des Gemütes, springet zur Feier hell von der Leier: Grab ist zerbrochen, wie Er versprochen. Heil ist aus Banden Christus erstanden. Jauchzet, ihr Wälle, sprudelt, Gefälle! Sing es, Gelände, echot, ihr Wände: Grab ist zerbrochen, wie Er versprochen. Heil ist aus Banden Christus erstanden.

5. Pfingsten.

Sein schönstes Fest, sein Fest im Freien, sein Freudenfest begeht das Jahr. Schmückt Tür und Tor mit grünen Maien, mit Maien Gräber und Mtar! Stellt Rotdornzweige und Holunder ins ärmste Armenstübchen heut! Das Fest der Zeichen und der Wunder hat sonnenfunkelnd sich erneut. Im Blütendufte stehn die Reben, in allen Stämmen quillt der Saft — die alte heil'ge Lust am Leben flammt wieder auf mit starker Kraft. Die erste Beere schwillt im Laube, in schlanken Halmen steht die Saat: Nun wachs auch du, du froher Glaube und du, du heitre, gute Tat! Frieda Schanz.

- 115 — 6. Warum geben wir uns hin.... Von Hans Carossa. Warum geben wir uns hin jedem eitlen Grauen? Laßt uns doch mit höchstem Sinn dem Gestirn vertrauen, das zwar ewig nicht vernimmt unser Jubeln, Klagen, doch sein Licht so milde stimmt, daß wir es ertragen!

7. Chor der Toten. Bon K. F. Meyer. Wir Toten, wir Toten sind größere Heere, als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere! Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten, ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten, und was wir vollendet und was wir begonnen, das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen, und all unser Lieben und Hassen und Hadern, das klopft noch dort oben in sterblichen Adern, und was wir an gültigen Sätzen gefunden, dran bleibt aller irdische Wandel gebunden, und unsere Töne, Gebilde, Gedichte erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte, wir suchen noch immer die menschlichen Ziele — drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!

8. Adventsgebet. Bon Paul Kaestner. Laß die Wurzel unseres Handelns Liebe sein, senke sie in unser Wesen tief hinein, laß doch alles hier auf Erden Liebe werden.

- 116 9. Weihnachts.Choral. Bon Max Mell. Jahr, dein Haupt neig! Still abwärts steig! Dein Teil ist bald verbrauchet. So viel nur Lust doch darleihn mußt, als uns ein Tannenzweiglein hauchet. Herz werde groß, denn namenlos soll Lieb in dir geschehen! Welt, mach dich klein! Schließ still dich ein! Du sollst vor Kindesaug bestehen!

10. Tedeum. Bon Gertrud von Le Fort. Großer Gott meines Lebens, ich will Dir lobsingen an allen drei Ufern Deines einigen Lichts! Ich will mit meinem Lied ins Meer Deiner Herrlichkeit springen: unterjauchzen will ich in den Wogen Deiner Kraft! Du goldener Gott Deiner Sterne, Du rauschender Gott Deiner Stürme, Du flammender Gott Deiner feuerspeienden Berge, Du Gott Deiner Ströme und Deiner Meere, Du Gott aller Deiner Tiere, Du Gott Deiner Ähren und Deiner wilden Rosen; Ich danke Dir, daß Du uns erweckt hast, Herr, ich danke Dir bis an die Chöre Deiner Engel, Sei gelobt für alles, was da lebt! Du Gott Deines Sohnes, großer Gott Deines ewigen Erbarmens, großer Gott Deiner verirrten Menschen, Du Gott aller, die da leiden, Du Gott aller, die da sterben, brüderlicher Gott auf unsrer dunklen Spur: Ich danke Dir, daß Du uns erlöst hast, Herr, ich danke Dir bis an die Chöre Deiner Engel, Sei gelobt für unsre Seligkeit!

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Du Gott Deines Geistes, flutender Gott in Deinen Tiefen von Liebe zu Liebe, Brausender bis hinab in meine Seele, Wehender durch alle meine Räume, Zündender durch alle meine Herzen, Heil'ger Schöpfer Deiner neuen Erde: Ich danke Dir, daß ich Dir danke, Herr, ich danke Dir bis an die Chöre Deiner Engel: Gott meiner Psalmen, Gott meiner Harfen, großer Gott meiner Orgeln und Posaunen, Ich will Dir lobsingen an allen drei Ufern Deines einigen Lichts! Ich will mit meinem Lied ins Meer Deiner Herrlichkeit springen: unterjauchzen will ich in den Wogen Deiner Kraft! (Aus Hymnen an die Kirche.)

Weihnacht. Sprechchorspiel von K. Riemann, bearbeitet von P. Stolz. Gedruckt mit Erlaubnis des Verlags Arwed Strauch, Leipzig.

Chorgesang: O Heiland, reiß den Himmel auf, herab, herab zur Erde lauf! Reiß ab vom Himmel Tür und Tor, Reiß ab, wo Schloß und Riegel vor! Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt, darauf die Welt ihr Hoffnung stellt? Ach komm, ach komm vom höchsten Saal! Komm, tröst uns hie im Jammertal. O klare Sonn! Du schöner Stern! Dich wollen wir anschauen gern. O Sonn, geh' auf; ohn' deinen Schein in Finsternis wir alle sein. (Aus dem Kölner Pfälterlein. Melodie bei Helene Pagss: Unser Weihnachtsbuch).

Sprechchor: In Angst und Not, in Sündentod, in Leid zerfällt die alte Welt.

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Kein Licht, kein Stern verloren! Fern Glückseligkeit, — o Leidenszeit! Aus tiefer Not zu Dir, o Gott, bringt Schmerzensschrei, o mach uns frei! O mach uns frei von aller Schmach, öffne das Tor zu fel'gem Tag zu Hellem Licht. Verlaß uns nicht! Verlaß uns nicht in unsrer Not, o Herre Gott! Einzelsprecher: Und Gott sprach: Ich will wieder öffnen die Pforten, die zugeschlagenen, die tausend goldnen Tore, die ich verschlossen hielt im Fluß der Tage. Chor: Wann, wann öffnen sich die Pforten? Wann sich das verschloss'ne Tor? Schmerz und Klage allerorten. Bricht kein Licht, kein Trost hervor? Einzelsprecher (dunkle Stimme): Ach, es ist so Nacht geworden, daß ein graues Dämmern bleibt noch am Tage. Nichts vertreibt dieses Nachten. Chor: Nacht ist, Nacht! Schwarzes Dämmern!

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Schweigen weit, Einsamkeit! Seufzer hämmern Klageworte nur noch an der Ewigkeit dunkle Pforte.------Nacht ist, Nacht, schwarzes Dämmern, Schweigen weit! Einzelsprecher (helle Stimme): Aber schaut, o schaut! Aus Wolkenschwere ins Dunkel bricht in schwarze Leere Licht! Chor: Licht strahlt! Licht! Einzelsprecher: Schon flutet's hell und rein! O schaut! — Ein Sternenschein, der niedertaut. Chor: O Wunder! Wunder! Aus Not und Nacht wird Segen und Weihe! Weihnacht, Weihnacht! 1. Teilchor (dunkle Stimmen): Die Erde lag tot in Schnee und Eis in schaudernder Stille, kalt und weiß. 2. Teilchor (helle Stimmen): Bis der Stern erglüht, der Trost uns strahlt, bis die Blume erblüht im Winterwald. Gesamtchor: Dies Wunder, das große, betet freudig es an, da im Schnee eine Rose ihr Blühen begann.

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Chorgesang: Es ist ein Ros' entsprungen aus einer Wurzel zart

(1. Strophe.)

Einzelsprecher: Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschähet werde. Und jeder­ mann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem ver­ trauten Weibe. Und als sie daselbst waren, gebar sie ihren Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberg. Chorgesang: Das Röslein, das ich meine, davon Jesaias sagt----- (2. Strophe.) 1. Sprecher: über Bethlehems Stalle der Weihnachtsstern strahlt hell durch alle Zeiten 2. Sprecher: und fern und tröstlich auch uns noch immer, noch immer leuchtet ein Schimmer von seinem Licht. Chor:

Schüttet's nicht zu! Verlöscht es nicht! Einmal int hastenden Jahr sei Ruh, einmal in harter Zeit sei Fried! dann leuchtet der Stern nah zu uns her mit dem alten Lied, mit der heiligen Mär: Hört stille zu!

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Einzelgesang: Vom Himmel hoch, da komm ich her ... . (Zwei Strophen bis zu der Stelle: Das soll euer Freud und Wonne sein.)

Chor:

Ein Geläute durch die Welt, die in harter Zeit einmal Friede in den Armen hält. Glocken, Glocken ohne Zahl schwingen, tönen! Glocken tönen! Und in ihrem schwerern dumpfern Dröhnen braust das große Friedenswort: Versöhnen. Und im helleren, höheren Geläute jauchzt und jubiliert es: Freude! Freude!

Chorgesang: O Jubel! O Freud! Glückselige Zeit! (Weihnachtslied aus Kärnten.)

Feier zum Schulschlutz. Von Franz Seih.

Spieler (Sprecher) Erstes Erster Zweites Zweiter Knabe Mädchen Drittes Dritter Vierter Viertes Chor der Knaben Chor der Mädchen Chor der Knaben und Mädchen.

1. Knabe (tritt aus betn Chor hervor): Blick ich um mich, so ist's wie immer, wenn wir uns hier zusammenfanden, des Festes froherblühten Schimmer uns hell um Haupt und Stirnen wanden und unsrer Herzen heimlich Schlagen uns und den andern zugetragen.

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Mädchen (tritt aus betn Chor hervor): Bon schwesterlichem Band umschlungen sich näher kannten unsre Herzen, und zwischen uns mit reinen Zungen unsichtbar brannten helle Kerzen: So über unsrer Herzen Bunde hing festlich manch' durchglänzte Stunde. Chor der Knaben und Mädchen: Ja, Kerzen brannten und unsre Herzen brannten und fühlten, wie leise, sich nährend aus ihrem Grund, die Flamme aufstieg ins Leuchten und Helle sich goß durch unsere Augen zurück ins Herz. Das Mädchen: Und wieder so. — Und dennoch zittert das Herz uns heut' in anderm Schlage — es drängt sich an und es durchwittert uns fremd und fern am hellen Tage: wie eine Wolke, die vom Meere sich hebt und naht in dunkler Schwere. Chor der Mädchen (leise — dunkel): Dunkel hebt sich's — es wogt empor hinauf zur Höhe des Himmels, es wächst und es heben sich Berge — Wolkenberge und dunkel wachsen sie in unseres Himmels goldene Bläue. Wir liebten die Bläue, es wohnten in ihr unsere Augen und unser spielender Finger schrieb Lieder in sie, in des Himmels große, goldene Bläue. Nun hebt sich's dunkel — es steigt empor und umdunkelt des Himmels, unseres Himmels, goldene Bläue.

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Der Knabe: Ja, nur die Türe noch, die unten das Haus von offner Straße scheidet, die Stille hier abtrennt vom Bunten, das sich auf Markt und Straßen weidet, nur noch der Türe schmale Schwelle trennt uns von jener wilden Welle. Chor der Knaben (hell): So öffnet die Tür und es münde des Hauses Pforte, das lang uns gehalten, hinaus ins Bunte — aufschäume die Welle, wenn wir aus offener Tür brausend stürzen hinein. (zum Chor der Mädchen) Es trage die Welle uns hin zu den Bergen, die rund in den Himmel sich türmen, wir fürchten uns nicht — wir wollen die Berge ersteigen, wir wollen die Gipfel erklimmen, vor denen euch bangt.

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Zweites Mädchen (tritt aus dem Chore hervor): Welche Worte muß ich hören, so von euch zu uns geschmettert — Worte, die dem Tag nicht ziemen und vergessen unsre Pflicht! Wollt ihr so von hinnen eilen, abwärts über Flur und Treppe, hinter euch der Türe Flügel schlagen ins erschrockne Schloß? Wißt ihr nicht, wie oft wir traten durch der hohen Türe Wölbung — Sommer, Winter, viele Jahre, Tag um Tag in dieses Haus? Denkt ihr nicht mehr jenes Tages, da euch sacht die Mutter führte durch die Tür und ihr erschräket vor dem Hall des eignen Tritts?

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Chor der Mädchen (mit Gebärde — etwas spöttisch): So klein — so, so — so klein und eingeschmiegt ins Kleid der Mutter, daß man nur die Augen, die erschrocknen Augen sah — Zweiter Knabe (tritt Ja, wir denken und wie schwer von den hohen schlug an unser

aus dem Chor hervor): noch des Tages der Hall der Tritte, Mauern dröhnend, zitternd Herz.

Und der Treppe viele Stufen Schritt um Schritt uns weiterstießen — und der Türen harte Stirnen, Tür an Tür sah'n wir mit Angst. Bis sich eine von den vielen, die sich hart und schweigend glichen, Tür an Tür mit fremden Antlitz, auftat und die unsre war. Ja, wir denken noch des Tages und er bleibt uns unvergessen — doch seit jenem Tag ist's lange — anders schlägt uns heut' das Herz. Chor der Knaben: Da die Tage gingen und täglich unsre Schritte dröhnten wider die hallende Wand — nicht mehr erschrak unser Herz — da die Sommer und Winter sich reihten und Jahre an Jahre sich schlossen — da wuchs uns das Herz und schlug uns von Sommer zu Winter und über die Jahre hinweg mit festerem Schlage. Drittes Mädchen (tritt aus dem Chor hervor): Auch uns — auch unser Herz fand seinen Schlag und unsre Füße liefen leicht

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an jedem Tag, den uns die Sonne brachte, den Weg durchs Tor, hin über Flur und Treppen und huschten flink Chor der Mädchen (Gebärde — flink):

Husch-Husch — Husch-Husch — Husch-Husch

Drittes Mädchen (weitersprechend): in Stube, Bank und wohlbekannten Platz. Dritter Knabe (spöttisch): Und saßen dann wie an der Kette schön still und brav, schön brav und still des Tages schönste Stunden gehorsam, weil wir mußten. Und in den Händen juckt's nach Spiel Und in den Füßen zuckt's zum Lauf — zum Strecken, Ringen, Balgen, zum Purzelbäumerollen, Kopfstandschlagen zieht's in allen Muskeln, zum Riesengähnen in den starren Kiefern. Viertes Mädchen (aus dem Chor hervortretend): Ja, das ist wahr. Dritter Knabe (weitersprechend): Da heißt's „Wer hat die Taschenuhr erfunden 7" wenn ich grad draußen auf der Wiese bin — „Ein Sechstel von Zweihundertfünfundzwanzig!" wenn mir grad dringend die Bilder, die ich gestern ein­ getauscht, innerlich vor den Augen steh'n. Viertes Mädchen: Ja, das ist wahr. Dritter Knabe: Als ob der Kopf ein Schraubstock wäre, in den man eingespannt, was man mag und festhält drin mit Eisenpackern, zum Hämmern dran und Feilen.

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Viertes Mädchen: Da gibt's ein Mittel! Dritter Knabe: Welches? Viertes Mädchen: Je nun, man paßt nicht auf. Man sitzt schön brav mit frommen Augen wie angemalt auf einem Heil'genbildchen und die Gedanken sind da wo sie wollen. Dann fließt wie weiches Wasferplätschern das Wort der Lehrerin dahin — dahin und wiegt die Träume. Und Träumen ist so schön. Chor der Mädchen (Gebärde und Rhythmus): Es hängen rot in Träumen die Rosen übers Land, aus zauberfarbigen Schäumen taucht auf ein ferner Strand. Vierter Knabe (tritt aus dem Chor hervor — zornig): Ihr Tugendhaften, ja so seid ihr! Das Köpflein schief gehalten, demütig frommes Augenspiel zu List und Trug! Wie — uns zu Pflicht und Dank zu mahnen zum heutigen Tag euch steht es an! Habt ihr vergessen all der Stunden, der Tage, da das Herz uns schlug, da uns die Wunder unsrer Welt mit Augen ansah'n, von denen uns des Lehrers Hand den Schleier weggehoben? Die Wunder draußen, die in uns selbst?

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Und da wir fühlten, daß das Herz, das Blut, das in uns schlug, im gleichen Takt geht, in der gleichen Farbe leuchtet wie Herz und Blut der Welt? Vergessen habt ihr das? Und da uns heimlich wurde und nicht bang, wenn er uns schauen ließ Geheimnis, dran wir blind vorbeigestolpert, sei's ein zerschlagner Stein, der auf der Straße lag, sei es ein Blick aus eines Menschen Auge, den wir nun plötzlich sahen? Drittes Mädchen: Ja, das ist auch wahr. Vierter Knabe: Sei still! — Und ist nie Eifer unter euch erwacht, daß ihr im Innern glühtet und weiterlaufen wolltet, wenn er sagte: es ist genug? Daß ihr gleich einem angestoßnen Stein nicht halten wolltet, liefet den Abhang selbst hinauf? Und war's nicht so, dann schweigt und lehrt uns nicht zum heutigen Tag von Pflicht und Dank! Chor der Knaben (stark): So war's! — So war's! Wahrhaftig ja, so war's. Zweites Mädchen (wie vorn zu Beginn des 2. Teils): Ja, so war es, ja, so war es und drum dürft ihr uns nicht schelten, daß wir euch zu ehren mahnten diesen Tag und seine Pflicht.

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Denn die Worte, die ihr sprächet und was lebt in diesen Worten wollten wir ja selber sagen, Pflicht und Ehre diesem Tag. Denn es lebt in unsern Herzen das Gedenken all der Tage, das Gedenken all der Jahre, unzerstörbar lebt es fort: Da sich daß es ja, wir sterben

uns das Herz erhoben, schlägt mit vollern Schlägen, sagen es und wissen: wird es erst mit uns.

Chor der Mädchen: Ja, wir tragen's im Herzen, und es geht mit uns hinab die Treppen, zur Türe hinaus, hinein ins bunte, ins laute Gewühl, das draußen über den Marktplatz sich drängt. Wir gehen hinab und fürchten uns nicht mehr. Zweiter Knabe (wie vorn zu Beginn des 2. Teils): Ja, nun sagt ihr's, wie wir's meinten, als wir uns zur Türe drängten, jubelrufend einzumünden in das Meer, das draußen schwillt. Durch die Fenster rauscht's vom Marktplatz, und wir hören aus dem Rauschen Stimmen, die uns heimlich rufen und mit ziehender Gewalt. Und wir folgen — doch im Herzen lebt Gedenken all der Tage, lebt Gedenken all der Jahre, unzerstörbar lebt es fort: Da sich uns das Herz erhoben, daß es schlägt in vollern Schlägen und den Stimmen, die uns rufen, helle Antwort tönen kann.

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Chor der Knaben (hell): O, so öffnet, öffnet die Tür, daß wir die Stufen hinab, brausend münden hinaus den rufenden Stimmen jauchzend begegnen, der Welt fallen ans Herz: Hier sind wir. Erstes Mädchen (wie zum Beginn des 1. Teils): Noch nicht — o hemmt des Fußes Eile der froh, nur mühsam noch gezügelt, hinab über der Treppen Steile sich stürzen will, welthingeslügelt, o weilt, blickt nochmal in die Runde und Hort die Stimme dieser Stunde. Chor der Mädchen: Da uns zum letztenmal das Fest vereint wie es uns oft zusammenschloß in Freude — es schwebt der Widerhall von unfern Liedern, die hier erklangen über uns, unhörbar andern, uns vertraut — wir werden hier nicht wieder fingen. Erster Knabe (wie zum Beginn des 1. Teils): Bon brüderlichem Band umschlungen kannten sich näher unsre Herzen und zwischen uns mit lichten Zungen brannten unsichtbar helle Kerzen: So über unsrer Herzen Bunde hing festlich manch durchglänzte Stunde. Chor der Knaben: So leuchte die letzte, die um uns ist, in vollstem Glanze und aller andern Geleucht, das gewesen, glänze in ihr.

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Erstes Mädchen: Und leuchte uns und glüh' noch lange, wenn wir nun unsre Wege gehen. Hell über eines jeden Gange soll sie am Himmel leuchtend stehen und soll uns rückwärts, vorwärts scheinen und im Gedenken uns vereinen. Erster Knabe: Vereinen, wie auch unsre Wege getrennt sich in die Ferne winden und über unbekannte Stege hinauf — hinab ins Weite finden: Gedenken folgt in jede Ferne und leuchtet uns gleich einem Sterne! ChorderKnabenundMädchen (alle heben die Arme feierlicich): Nun öffnet die Türen wir kommen, wir steigen hinab, wir schreiten hinaus, wir tragen die Helle unserer Augen und unserer Herzen weltwilligen Schlag hinein in die Straßen, hinaus auf den Marktplatz und heute am Abend wird manches Fenster nicht dunnkel und über dem Marktplatz glüh'n reiner und Heller die Sterne. Offnet die Türe Wir kommen. — Ende —

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Vaterland. 1. Sei gegrüßt Deutschland! Von Ernst Leibl.

Sei gegrüßt Deutschland, du dornengekröntes! Mutter, cs dringen die Schmerzen, die dich jetzt grausam durchbohren, auch durch unsere Herzen, die jungen, die für dich schlagen. Dich schauen wir an: Antlitz, von Schmerzen durchsehret, Leib, von Wunden durchwundet und in entsetzlicher Qual ganz zerkrümmt imb verzerrt. Sei gegrüßt Deutschland, du dornengekröntes! Über die blühenden Felder gehen Wolken und Wind ... Gleich dem dunklen Gewölk vor dem Tagesgcstirn müssen wir müde versinken. Du aber, heiliges Deutschland, ragst noch, wenn längst wir verga»igen unter den Völkern der Erde und bist der Gottheit Leuchten brechend aus zagem Fleische über dein Menschengeschlecht. (Gekürzt.)

2. Dein Reich komme zu uns. Von Ernst Leibl.

Herr, deine Streiter rufen und flehen: Laß deine Sache nicht untergehn! Laß sie bestehen, wenngleich wir vergehen; laß unsre Fahnen in Deutschland wehn!

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Deutschland, dein Name, maßlos geschändet, Deutschland, du bist nufer Feldgeschrei. Bis deiner Knechtschaft Schmach ist geendet, bis du Mutter wieder frei! Frei am Rheine, frei an der Memel, frei an der Etsch, an der Eger, om Belt. Deutschland, du Heilger Ackergrund Gottes, aus deiner Pein drängt der Morgen der Welt. Er unsre Sehnsucht! Licht, das wir grüßen aus unsrer Herzen Bedrängnis mtb Qual. Brich durch die Wolken, leucht in die Lande, leuchte anch in unser Tal!

3. über der Weichsel drüben. Bon Agnes Micgel.

Über der Weichsel drüben, Vaterland höre uns an! Wir sinken wie Pferd und Wagen, versinken im mahlende» Sand. Recke aus deine Hand, daß sie uns hält, die allein uns halten kann! Denke der Zeiten, die dich jung gesehn! „Nach Ostland wollen wir reiten, nach Ostland wollen wir gehn, fern über die grünen Heiden, fern über die blauen Seen!" Wer war's, der so sang? Sie kamen von Flandern, sie kamen vom Niederrhein, von den hohen Tauern und aus der goldenen Au. Sie strömten, harrendes Land, in dich hinein.

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Über der Weichsel drüben, Vaterland höre uns an! Wir sinken wie Pferd und Wagen, versinken im Dünensand. Recke aus deine Hand, daß sie uns hält, die allein uns halten kann. Deutschland, heiliges Land, Vaterland! — (Gekürzt.) 4. Marschlied bett Rhein hinab Von Rudolf G. Binbing.

Wir schreiten aus! — Es leuchtet und unsre Blicke feuchtet der alte ewige Strom. Wir schreiten aus! — Uns locken die Ufer und die Glocken vertraut von jedem Dom. Daß keiner sich erdreiste: Wir sind von gleichem Geiste wie um uns Strom ttnb Land. Wir segnen deutsches Schaffen. Wir wahren deutsche Waffen und fühlen beider Kraft in unsrer Hand. 5. Die Toten an die Lebenden. Bon Owlglaß.

Uns hat die Nacht verschlungen. Nun hebt es an zu tagen. An unsre düstren Schrägen rollt eine Woge Lichts. ........... Hat nicht ein Vogel 'sungen? ........... Ist doch ein' Ros' entsprungen? ........... War's nicht für nichts? O ihr, durch deren Wern noch warm das Leben blutet: Geschafft, gewerkt, gesputet! Und hütet Herz und Mund und lasset ab vom Hadern! Ihr seid der Zukunft Quadem — wir sind der Grund!

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6. Die Toten von Langemarck. Von Rudolf G. Binding.

Die Wir starben mit die wir starben mit die wir starben mit die wir starben alle

dem Liede unseres Landes ans den Lippen, dem Bilde unseres Landes in den Herzen, dem Rufe unseres Landes in der Seele, Zukunft jauchzend schon in unserem Blute:

Hört uns, wir mahnen euch! Einfach ist Tod. Das Leben schwer. Wir ziehen euch nicht hinterher. Anderes ist das Gedächtnis, anderes ist das Vermächtnis. Heilig war Krieg uns. Heiligt nun das Leben! Dann wird es euch dereinst die Krone geben, um die wir fielen — fielen tausendfach — und die wir nicht errangen. Folgt uns dort nicht nach! Geachtet sollt ihr stehn, von Völkern nicht gehaßt. Die Heiligung faßt euch, wenn ihr sie erfaßt! 7. Lehret die Kinder... Bon Hans Friedrich Blnnck.

Eine dunkle Gemeinschaft sind wir von Lebenden, Toten und Kommenden, Kind, wir, Deutschland! Ewig, wie durch die Welt ein Herz, schlägt deines Volkes Blut in Dir, in dieser Erde Erz, nimmer entgehst du ihm. Stoß der Verdammnis dem, der's verriet in jenseitige Zeit! Immer im Werk singt wappnend das Lied: Deutschlands Recht und sein Leid.

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Eine dunkle Gemeinschaft sind wir von Lebenden, Toten und österlich Auferstehenden, Kind Wir, Deutschland!

8. Junges Deutschland. Bon Rudolf G. Unding.

Heraus, wir Jungen! Deutschland ruft. Väter, wir höre», da ihr es schuft. Heraus, wir Jungen! Frieden und Recht tragen als Banner wir junges Geschlecht. Heraus, wir Jungen! All auf die Bahn. Junger Tat alle Ehr ist aufgetan. Heraus, wir Jnngen! Unser Schritt ist gleich. Ein Herz in der Brust — so sind wir reich. Heraus, wir Jungen! Hört, wie es ruft. Deutschland will leben. Deutschland ruft.

9. Wille ist Macht. Bon Heinrich Anacker.

Nicht beben und bangen im Dunkel der Nacht! In die Sterne langen: Wille ist Macht!

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Es fallen der Stärke die Kränze zu; es wachsen die Werke aus innerer Ruh. Nur den Flammenden reifen die Träume der Nacht... In die Sterne greifen: Wille ist Macht! 10. Der Fahneneid. Von Heinrich Lersch.

Herz, aufglühe dein Blut! Brüder, nun laßt uns schwören, daß wir dem Vater gehören, in dessen sicheren Händen unser Geschick, das Schicksal der Teutschen ruht. Was unser Spruch auch schwört, loti schwören dem eigenen Leben, daß wir nur wiedergeben was unseren Vätern, den Helden, die es erstritten, was allen Deutschen gehört. Deutschland, dem wir geweiht die Arbeit unserer Hände; an deines Schicksals Wende stehn wir erhobener Seele und weihen uns dir voll Dankbarkeit. Treue, glüh unverzehrt! Treue, die mit uns geboren, Treue, von der nichts verloren, wenn auch unsere ewige Seele zur ewigen Heimat kehrt. 11. Erntedanklied der Teutschen. Bon Hermann Claudius.

Erde, — du bist das Koru und das Brot und die Traube. Erde — du bist der Leib und der Geist und der Glaube. Erde — du bist unserer Väter Arbeit und Blut. Deutsche Erde — wir halten treu deine Hut — Deutschland!

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Wir pflügten und säten und pflanzten in deinen Schoß. Erde, du machtest cs wachsen — o Wunder groß! O ewiges Wunder bis au den Jüngsten Tag, das keine Klugheit uns jemals ergründen mag — Deutschland! Siehe: wir harren in grauem und blondem Haar! Siehe: du bringst uns all deine Gaben dar! Siehe: du bringst sie uns dar in köstlicher Fülle! Siehe: wir stehen am Weg in Andacht und Stille — Deutschland! Denn wir fühlen heimlich Gottes prüfend sich legen über Volk und denn wir fühlen alle des Ewigen Denn wir fühlen alle der Notzeit Deutschland!

Hand Land Hände. Wende —

Erde, — du bist das Korn und das Brot und die Traube. Erde — du bist der Leib und der Geist und der Glaube. Erde — du bist unserer Väter Arbeit und Blut. Deutsche Erde — wir halten treu deine Hut — Deutschland! 12. Wanderlied. Bo» Hans Fr. Blunck. Her zu uns, wir schreiten, schreiten, faßt den Tritt, faßt den Tritt, deutsches Lied wird uns geleiten, Brüder, Schwestern, schreitet mit! Eines Volks und ohne Grenzen — Werkmann, Bauer, Bürger, gleich — wandern wir aus frühen Lenzen in die Sommer emtereich. Deutsches Wort ist's, das uns bindet, Muttersprache zart und groß, alle Herzen sind entzündet, alle trägt ein einzig Los.

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Recht und Glauben, Kunst und Sitte hast du groß der Welt geschenkt, wachse, deutsches Volk der Mitte, allen Völkern eingesenkt. Her zu uns, wir schreiten, schreiten, faßt den Tritt, faßt den Tritt, deutsches Lied wird uns geleiten, Brüder, Schwestern, schreitet mit! 13. Gruß. Von Ernst Leibl.

Die wir wir wir

wir hier schreiten aus der Dunkelheit, tragen aller Menschheit Fried und Leid, tragen alle Ruh und süße Rast, tragen aller Menschen Not und Last!

Grüßen wir Gott als unser Eigentum, das stille aus uns blüht und weiß von keinem Ruhm. Grüßen wir unsrer Ahnen Seele und Blut, die in uns brennen und loh'n wie ein blutender Dombusch rot. Grüßen wir alle Werkleut und Bauersleut, denn sie bauen am Reich der kommenden Zeit! Grüßen wir alle Arbeit und Müh und Plag, denn sie bringen das Glück in unseren Tag. Grüßen wir den geknechteten grüßen wir alle, die auf ihm grüßen wir allen Trotz wider grüßen wir alle Freiheit und grüßen grüßen grüßen die da

wir wir wir will

Heimatboden, kämpfen und roden, fremden Zwang, allen Freiheitsdrang,

alle Sehnsucht auf Erden, die Liebe und das Leid, alle Menschheit, erlöset werden. (Gekürzt.)

Verzeichnis der Dichtungen. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.

Unter- tmb Mittelstufe. Seite Osterhas................................................................................................ 82 Heidelbeeren............................................................................................82 Böttcherlied............................................................................................82 Ri, ra, rutsch....................................................................................... 82 Die Schneider....................................................................................... 83 Ausflug mit der Eisenbahn.................................................................84 Die Schneeglöckchen sagen.................................................................85 Die Weidenkätzchen.............................................................................. 86 Die kleinen Mädchen tänzelt und sinnen..................................... 87 Wetterwunsch........................................................................................87 Flucht des Winters.............................................................................. 88 Lenzeslust.................................................................................................88 Elfenreigen............................................................................................89 Elfensang.................................................................................................90 Lied vom Winde...................................................................................90 Ähren im Sturm................................................................................... 91 Große Wanderschaft.............................................................................. 91 Neujahr..................................................................................................... 92 Chor der Monate...................................................................................92 Gebet..................................................................................................... 92 Gotenzug.................................................................................................93 Oberstufe.

1. 2. 3. 4. 6. 6. 7.

I. Segen der Erde. Die Drescher............................................................................................94 Ernte..................................................................................................... 94 Säerspruch............................................................................................ 95 Lied der Ähren................................................................................... 96 Wir Bauern (von Huggenberger)................................................... 97 Wir Bauern (von Billinger)............................................................ 97 Lied der reifen Maiskolben.................................................................98

1. 2. 3. 4. 5. 6.

II. Das Hohe Lied der Arbeit. DaS Hohe Lied................................................................................... 99 Die neue Zeit....................................................................................... 99 Arbeit..................................................................................................... 99 Wir Werkleute all.............................................................................100 Gebet der Arbeitslosen....................................................................101 Lied der Kohlenhäuer........................................................................ 102

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Seite

7. Der steinerne Psalm........................................................................ 103 8. Aus dem 90. Psalm.............................................................................104 9. Werkleute sind wir............................................................................. 106

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

III. Uns laßt die Heimat! Das Land und wir.............................................................................105 Das Land int Gebirge....................................................................106 Bekenntnis...........................................................................................107 Gemeinschaft...........................................................................................108 Für uns...............................................................................................109 Lied der Lustkapitäne.........................................................................109 Licht muß wieder werden...............................................................110

1. 2. 3. 4. 6. 6. 7. 8. 9. 10.

IV. Herr Gott, du bist unsre Zuflucht. Der 90. Psalm......................................................................................110 Vor dir................................................................................................... 112 Psalm (Klopstock)................................................................................. 112 Osterhymnus......................................................................................114 Pfingsten...............................................................................................114 Warum geben wir uns hin...............................................................115 Chor der Toten................................................................................. 115 Adventsgebet...................................................................................... 115 Weihnachts-Choral............................................................................ 116 Tedeum..............................................................................................116

Spiele. Weihnacht............................................................................................... 117 Feier zum Schulschluß.........................................................................121

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

V. Vaterland. Sei gegrüßt Deutschland!...............................................................131 Dein Reich komme zu uns...............................................................131 über der Weichsel drüben...............................................................132 Marschlied den Rhein hinab.......................................................... 133 Die Toten an die Lebenden........................... 133 Die Toten von Langemarck...............................................................134 Lehret die Kinder............................................................................ 134 Junges Deutschland............................................................................ 135 Wille ist Macht................................................................................. 136 Der Fahneneid......................................................................................136 Erntedanklied der Deutschen........................... 136 Wanderlied.......................................................................................... 137 Gruß........................................................................................................138

Kultur der Aussprache Von Franz Jakobi Mitglied des bayerischen Staattztheaters, Professor an der Staatl. Akademie der Tonkunst in München 224 Seiten mit Abb. Gr.-S". 1927. Ganzleinen NM. 5.—

Aus dem Inhalt: I. Theorie des Sprechens: Der Atem- und Stimmapparat. Das Atmen. Die Kultur der Aussprache. II. Mechanische Übungen: Klinger- und Anschwellübungen. Blählautübungen. Artikulati­ onsübungen. Auf welche Weise den Schülern die widerspenstigen Zungen gelenkig gemacht werden. III. Praktische Übungen. Einige Urteile: Dem Jakobischen Buch gebührt ein hervorragender Platz in unserer Fachliteratur. Man möchte wünschen, daß das Werk in den Lehrerbüchereien nicht ein ruhevolles Dasein führen, sondern eifrigst be­ nützt werden möge zum Aufbau unserer deutschen Muttersprache, zur Förderung detz gesamten Deutschunterrichts, zum Segen unserer Kinder durch Stützung ihres Nationalgefühls und der Hebung ihre- ganzen inneren Menschen. „Zeit und Schule." Dieses vom Geiste eines Menschenkenners und Sprachmeisters er­ füllte lebendige Buch ist nicht eines von vielen, es wird in der Hand jedes Suchenden zum Wegweiser zu noch unerschlossenen Gebieten unserer von so vielen Zeitgenossen schwer mißhandelten deutschen Muttersprache. „Literarische Umschau."

Verlag R.Oldenbourg,München und Berlin