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German Pages 200 [206] Year 1960
DEUTSCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN Veröffentlichungen des I n s t i t u t s für d e u t s c h e Sprache und Literatur
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JOHANNES
MANTEY
DER SPRACHSTIL IN GOETHES„TORQUATO TASSO"
AKADEMIE-VERLAG 19 5 9
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BERLIN
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 1, Leipziger Straße 3—4 Lizenz-Nr. 202 . 100/65/59 Satz, Druck und Bindung: IV/2/14 . VEB Werkdruck Gräfenhainichen • 1003 Bestellnummer: 2054/58/18 Printed in Germany ES 7 D
VORWORT
Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 1957 von der Philosophischen F a k u l t ä t der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenomm e n ; der Abdruck erfolgte mit geringfügigen Änderungen. F ü r die Aufnahme der Untersuchung in diese Schriftenreihe bin ich dem Direktor des I n s t i t u t s f ü r deutsche Sprache u n d Literatur, H e r r n Professor Dr. T H E O D O R F R I N G S , sowie den Herren Professoren Dr. W E R N E R SIMON u n d Dr. L E O P O L D MAGON, denen die Begutachtung meiner Arbeit oblag, zu großem D a n k verbunden. Mein D a n k gilt insbesondere Herrn Professor Dr. SIMON, meinem verehrten Lehrer, dessen Unterricht mir die wertvollsten Anregungen f ü r meine Arbeit vermittelte, u n d der ihr Entstehen mit ungemeinem Wohlwollen fördernd verfolgt h a t . Berlin, Februar 1959 Johannes
Mantey
INHALT Einleitung I. Die sprachlichen Inhalte 1. 2. 3. 4.
Schicksalsauffassung und Lebensansicht Die Einstellung zu den Werten des Lebens Die Wertung des Menschen Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht 5. Die Reizbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens 6. Schwäche und Leiden 7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
II. Die sprachliche Form 1. Partizipien des Präsens in Verknüpfung mit dem Verbum finitum 2. Genitiv-Attribute 3. Nominalkomposita 4. Parallelismus und Antithese 5. Sprachform und rhythmische Gestaltung 6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
5 9 II 29 37 48 82 89 96 137 138 143 147 154 163 175
Schlußwort
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Anhang zu Teil II, Abschnitt 1 - 3
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Verzeichnis der angeführten Schriften
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Einleitung Die Aufgabe einer sprachlichen Stiluntersuchung ist nicht schlechthin die einer einfachen Deskription, wie sie etwa die grammatische Analyse eines Sprachwerkes, einer Individualsprache, eines Sprachzustandes usw. darstellt. Die Gründe dafür liegen einerseits in der Fassung, die die neuere Stilwissenschaft dem Begriff des Stils gegeben hat, andererseits in dem Umstand, daß es ein gültiges und anwendbares System der Stilmittel nicht gibt und wohl auch nicht geben kann. Während die traditionelle, an die antike Schulrhetorik anknüpfende Stilistik im wesentlichen die Schmuckelemente der Rede zum Gegenstand hatte, die einen festen, durch die Jahrhunderte tradierten Bestand bildeten, deshalb systematisierbar und auch im einzelnen Sprachwerk inventarisierbar waren, sieht die moderne Forschung als Stilelemente solche sprachlichen Erscheinungen an, die über ihre grammatische Funktion und ihren Aussagewert innerhalb der Textstelle hinaus ausdruckshaltig sind, und deren gleichgerichtetes Zusammenwirken sich zu einem Stilzug eines Werkes und weiterhin zum Gesamtstil einer Dichtung, einer Persönlichkeit, einer Epoche verbindet. Stilelemente dieser Art werden also — im Gegensatz zu den Stilfiguren der herkömmlichen Stilistik, deren Schmuckeffekte in erster Linie der jeweiligen Einzelstelle zugute kommen — ihre Ausdruckskraft vorwiegend in ihrem stets wiederholten, einen ganzen Text durchwirkenden Auftreten bewähren, ohne an der einzelnen Stelle als Ausdrucksträger erkennbar sein zu müssen. Schon deshalb kann eine Stiluntersuchung nicht von einer Bestandsaufnahme abgrenzbarer sprachlicher Gebilde ausgehen und dann deren stilistischen Ausdrucksgehalt zu bestimmen suchen, sondern das methodische Vorgehen führt umgekehrt vom wahrgenommenen Ausdruck zur Ermittlung seiner sprachlichen Träger oder erfaßt doch beide zugleich. Es kommt hinzu, daß bei der weitgehenden Freiheit und Variationsmöglichkeit, die der sprachlichen Fassung eines Sachverhaltes eingeräumt ist, stilistischer Ausdruck sich prinzipiell mit beliebigen Elementen der Sprache verbinden kann, wenn nur das Wie der sprachlichen Wiedergabe einer bestimmten Weise die Dinge zu sehen und aufzufassen entspringt und daher überall im Texte
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wirksam ist. Wie also an der Fassung eines Satzes Elemente aus allen Schichten des Sprachbaues, vom Laut bis zum syntaktischen Fügungsschema, beteiligt sind, so kann jede Veränderung eines dieser Elemente der Auffassung des dargestellten Sachverhaltes ein verändertes Gesicht geben. Das wird zwar im Einzelfalle meist bedeutungslos sein, doch sobald eine bestimmte Sehweise sieh dieser Möglichkeiten bedient, entsteht eine im Texte allenthalben wahrnehmbare Tendenz und damit Stil. Nun müssen sich jedoch, wie die Erfahrung zeigt, die sprachlichen Elemente, denen stilistischer Ausdruck anhaftet, keineswegs mit den Einheiten des grammatischen Systems decken, sondern grenzen sich meist ganz anders ab, ohne daß der Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten irgendwelche Schranken gesetzt wären. Hierin liegt die wesentliche Ursache dafür, daß eine tragfähige Stilsystematik, mit deren Hilfe ein Sprachwerk nach seinen stilistischen Eigentümlichkeiten abzufragen wäre, nicht aufgestellt werden kann: Die sprachliche Gestalt der Stilelemente ist grundsätzlich beliebig 1 , die Zahl der Möglichkeiten nicht zu begrenzen, und von Sprachwerk zu Sprachwerk können durch jeweils andere Mittel andere Ausdruckswerte zur Geltung gelangen. Daher ergibt sich für jede Stilmonographie die Aufgabe, die besonderen stilistischen Ausdrucksmittel des untersuchten Textes von ihren Ausdrucksqualitäten her aufzuspüren, ohne sich einer systematischen Stilistik oder gleichartigen Untersuchungen anderer Texte methodisch anschließen zu können. In anderer Hinsicht wird die Aufgabe und Methode einer Stiluntersuchung durch ihren Gegenstand bestimmt, bzw. es bedingt sich beides wechselseitig. Wie einer Untersuchung, die dem Stil einer Epoche, einer Dichterpersönlichkeit oder einer dichterischen Schaffensperiode gewidmet ist, notwendig sämtliche oder mehrere repräsentative Werke des betreffenden Ausschnittes zugrunde gelegt werden müssen, so kann umgekehrt die Stilanalyse einer einzelnen Dichtung nur die Darstellung des Werkstils zur Aufgabe haben. Unter Werkstil ist also nicht die Gesamtheit an stilistischem Ausdruck zu verstehen, die innerhalb der Grenzen eines einzelnen Werkes festgestellt werden kann, sondern stilistischer Ausdruck, sofern er auf das Sinnganze des Werkes bezogen ist. Man darf sich von dieser Fragestellung — ein geeignetes, stilistisch durchgeformtes Objekt vorausgesetzt - besonders wertvolle Ergebnisse versprechen, da gerade in den werkbezogenen Ausdruckswerten die eigentlich schöpferischen stilistischen Gestaltungskräfte 1
Ebenso gilt umgekehrt, 'daß die Stilforschung nicht a priori mit einer eindeutigen und für immer festliegenden Funktion der sprachlichen Formen rechnen kann' 2 WOLFGANG K A Y S E R , Das sprachliche Kunstwerk. Bern 1951 , S. 131.
Einleitung
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sichtbar werden müssen, die daher auch zu der Gesamtaussage eines sprachlichen Kunstwerks beitragen und f ü r eine umfassende Interpretation nicht außer acht gelassen werden sollten. Ausdruck ist - zwar nicht formulierte aber doch formulierbare — Aussage. F a ß t man also Stil im Sinne der obigen Ausführungen als Ausdruck einer bestimmten Haltung und Sicht auf, so sollte man ihn nicht als Form betrachten, als sprachliches Gewand der Dichtung, das ihrem Inhalt mehr oder weniger 'entspricht', sondern als Inhalt, nämlich als zusätzliche, unformulierte Aussage neben den formulierten Aussagen des Kontextes. Die vorliegende Arbeit wird zu zeigen suchen, daß der Sprachstil des 'Tasso' Aussagen von beträchtlichem Eigenwert enthält, die geeignet sind, ergänzend f ü r die inhaltliche Interpretation der Dichtung herangezogen zu werden. Denn die innere Haltung und die Art, die Dinge zu sehen, die sich in den stilistischen Ausdruckswerten ausspricht, wird, da es sich um den Werkstil handelt, in einem Drama nicht die des Dichters sein, sondern die der fiktiven Sprecher, also der handelnden Personen des Dramas, und es steht zu erwarten, daß sich daraus Rückschlüsse auf deren Sinnesart ziehen lassen, die zu ihrer Charakteristik und damit zur Interpretation der Dichtung beitragen. Die Untersuchung über den Sprachstil des 'Tasso' gliedert sich nach den Erscheinungsformen des sprachlichen Materials in zwei Hauptteile, von denen der eine die sprachlichen Inhalte und der andere die sprachliche Form behandelt. Als Sprachinhalte werden die besonderen, auf Gehalt und Aussage der Dichtung bezogenen Inhalte des Wortschatzes verstanden, also Wörter, die sich durch ihren an der Einzelstelle oft nicht wahrnehmbaren, aber stets wiederkehrenden stilistischen Ausdruckswert aus dem Gesamtwortschatz herausheben. Die Sprachform wird durch Gestaltungstendenzen der Rede repräsentiert, die die Gliederung und Fassung des gedanklichen Inhalts betreffen und auch auf die rhythmische Formung übergreifen. Ihre Mittel sind im wesentlichen syntaktischer Natur, ohne doch an die Kategorien der Syntax gebunden zu sein. I m sprachformalen Teil wird durchgehend, im sprachinhaltlichen Teil nach Bedürfnis der Text der 'Iphigenie' zum Vergleich herangezogen. Die Wahl dieses Vergleichstextes rechtfertigt sich aus der Überlegung, daß der spezifische Werkstil eines sprachlichen Kunstwerkes am deutlichsten in einer Vergleichung zweier Dichtungen hervortreten wird, die sich nach Stoff und Gehalt stark unterscheiden, und daß er sich um so reiner erfassen lassen wird, je näher diese beiden Dichtungen einander in ihren Ursprungsbedingungen stehen, je weniger also mit kreuzenden Einflüssen zu rechnen ist, die etwa aus einem grundsätzlichen Wandel in der Kunstauffassung und Stilhaltung des Dichters
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vom einen Werk zum andern entspringen könnten. Für Goethes Dramen 'Iphigenie' und 'Tasso' können die genannten Bedingungen als hinreichend erfüllt gelten. Die Verschiedenheit des Stoffes und Gehaltes ist schon dadurch gegeben, daß die 'Iphigenie' in der heroischen Welt des antiken Mythus, der 'Tasso' aber in der höfischen Welt der beginnenden Neuzeit wurzelt, und die für den Stil entscheidende Gestaltungsphase beider Werke fällt gleichermaßen in die Zeit der italienischen Reise des Dichters. Mit der Auswahl der genannten stilhaltigen sprachlichen Erscheinungen ist keine willkürliche Einschränkung des Stoffes beabsichtigt; diese ergaben sich vielmehr als die repräsentativen Stilträger des Textes aus der Analyse, die auf alle im Gesamttext wirksamen, dem Werkstil zugehörigen Merkmale gerichtet war. Nicht untersucht wurden hingegen die klanglichen Stilelemente der Dichtung. Zwar hätten klangliche Effekte und Lautmalereien, wie sie in Antonios Lob des Ariost1 und auch sonst gelegentlich begegnen2, leicht herausgehoben werden können, doch bleiben sie, aufs Ganze gesehen, zu vereinzelt, um als konstituierendes Merkmal des Werkstils angesprochen werden zu dürfen. Die latente lautliche Musikalität der Tassoverse, die man überall zu vernehmen meint, entzieht sich indessen den verfügbaren Mitteln der Darstellung. Besonderheiten des Klangbildes der Rede, etwa im Verhältnis und Wechsel der Vokale, werden sicherlich nur mit mathematisch-statistischen Methoden herausgearbeitet werden können, wie sie die im Entstehen begriffene mathematische Stilistik zu entwickeln beginnt. Ein Vergleich der klanglichen Struktur des 'Tasso' und der 'Iphigenie' müßte für diese Disziplin ein dankbarer Gegenstand der Bearbeitung sein. An bisherigen Untersuchungsergebnissen zum Sprachstil in Goethes 'Torquato Tasso' liegt nur wenig vor. Zu nennen sind die Arbeiten von A. F R I E S , die sich jedoch auf sporadische Beobachtungen beschränken, und eine eingehende Darstellung des Parallelismus und der Antithese im 'Tasso' von J. W E I D M A N N 4 , die im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit näher erörtert werden wird.5 3
V. 709-741. Vgl. noch V. 1194f„ 2509f., 3352-3355. 3 A . FRIES, Beobachtungen zu Goethes Stil und Metrik. Zs. für die österreichischen Gymnasien 57 (1906), S. 1057—1075. — Stilbeobachtungen zu Goethe, Schiller und Hölderlin. Berlin 1927. 4 J. WEIDMANN, Parallelismus und Antithese in Goethes T. Tasso. Diss. Greifswald 1911. 6 S. 155ff. 1
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1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
1. Schicksalsauffassung
und
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Lebensansicht
Es bedarf keines Nachweises und entspricht nur der Verschiedenheit der dargestellten Kulturkreise, daß dem empfundenen und erlebten göttlichen Wirken, wie es die 'Iphigenie' erfüllt, im 'Tasso' eine fühlbare Gott- und Götterleere gegenübersteht. Wenn dennoch die Wörter G o t t , G ö t t i n und G o t t h e i t im'Tasso' recht häufig begegnen, so bedeutet das keinen Widerspruch, sondern ist, wie eine nähere Betrachtung des Wortgebrauches erkennen läßt, vielmehr geeignet, diese Tatsache erst recht deutlich zu machen. Nur an zwei Stellen nämlich verbindet sich mit dem Worte Gott überhaupt allenfalls die ernstere Vorstellung einer für die menschlichen Dinge bedeutsamen Wesenheit; in dem einen Falle die des christlichen Gottes: PRINZESSINN
Was half denn unsrer Mutter ihre Klugheit ? Die Kenntniß jeder Art, ihr großer Sinn? Könnt' er sie vor dem fremden Irrthum schützen ? Man nahm uns von ihr weg; nun ist sie todt, Sie ließ uns Kindern nicht den Trost, daß sie 1797 Mit ihrem Gott versöhnt gestorben sey. Keineswegs kann aber aus dieser beiläufigen Erwähnung auf ein lebhaftes religiöses Empfinden geschlossen werden; eher scheint ein bedauerndes Befremden gegenüber dem religiösen Eifer überhaupt aus diesen Zeilen zu sprechen, und die redensartliche Wendung 'mit ihrem Gott versöhnt' wirkt, wenn nicht distanzierend, so doch matt und konventionell. Die zweite Stelle berührt nur eben noch den religiösen Vorstellungskreis; es wird hier lediglich die untrügliche Stimme des Gefühls unter dem flüchtigen und sonst nicht wiederkehrenden Bilde eines Daimonions aufgefaßt: PRINZESSINN
Ach daß wir doch dem reinen stillen Wink Des Herzens nachzugehn so sehr verlernen! 1672 Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, Was zu ergreifen ist und was zu fliehn. Im übrigen bewegt sich der Wortgebrauch in Redewendungen, die für sich genommen nichts Wesentliches aussagen wollen, sondern, indem sie an verblaßte mythologische Vorstellungen anknüpfen, als bloßes Beiwerk zum Renaissancekolorit der Dichtung gehören:
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JOHANNES MANTEY TASSO
0 h ä t t ein tausendfaches Werkzeug mir 1162 Ein Gott gegönnt, kaum drückt ich dann genug Die unaussprechliche Verehrung aus. TASSO
945 Doch — haben alle Götter sich versammelt Geschenke seiner Wiege darzubringen? Die Grazien sind leider ausgeblieben 1 Selbst der Ausdruck des Schmerzes und der seelischen Bedrängnis wird von diesen Wendungen mitgeprägt: TASSO
Du nimmst dir selbst was keiner nehmen konnte 1578 Und was kein Gott zum zweitenmale giebt. PRINZE S SINN
Ich finde keinen R a t h in meinem Busen Und finde keinen Trost f ü r dich und - uns. 32H Mein Auge blickt umher ob nicht ein Gott Uns Hülfe reichen möchte ? TASSO
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Und wenn der Mensch in seiner Quaal verstummt, Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.
Mehrfach werden auch den fürstlichen Personen, besonders der Prinzessin, von Tasso die überhöhenden Bezeichnungen Göttin, Gottheit, Götter beigelegt : 1280 Laß uns verbunden vor die Göttinn treten, Ihr unsern Dienst, die ganze Seele bieten. Vereint f ü r sie das würdigste zu thun. i4ii Ich bete dich als eine Gottheit an Daß du mit Einem Blick mich warnend bändigst. Ohnmächt'ger! du vergaßest wo du standst; 1558 Der Götter Saal schien dir auf gleicher Erde 2 1
So auch 499, 522, 3088, 3273. - Vgl. 'jene himmlischen' 2 3 3 5 . - A l s Interjektion: 3221, 3335, 3385. 2 Ferner 1132, 1335, 1496.
1. Schicksalsauñassung und Lebensansicht
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I n der letzten Stelle wie auch in den Zusammensetzungen 'Erdengötter' (1071) und 'Halbgott' (794, von Gregor) dient der Wortgebrauch nicht so sehr der Verherrlichung, sondern kennzeichnet vielmehr die schicksalähnliche Gewalt oder Unerreichbarkeit der hohen Machtstellung. Gelegentlich werden auch die Bezeichnungen solcher Wesenheiten, denen in der Vorstellungswelt des 'Tasso' wirkliche Bedeutung f ü r die menschlichen Schicksale zukommt, mit dem Gottesbegriff verbunden, nämlich die Wörter Glück und Welt 1 : TÄSSO
Was eine Gottheit diesem frey gewährt Und jenem streng versagt, ein solches Gut Erreicht nicht jeder wie er will und mag. ANTONIO
1306 Schreib es dem Glück vor andern Göttern zu So hör' ichs gern, denn seine Wahl ist blind. TASSO Kenn' ich doch Die Welt von Jugend auf, wie sie so leicht Uns hülflos, einsam läßt, und ihren Weg 24ii Wie Sonn' und Mond und andre Götter geht. Aus dem Gebrauch des Wortes G o t t ist, wie sich gezeigt hat, ein näherer Einblick in die Schicksalsauffassung, Lebensansicht oder Sinnesart der Personen des 'Tasso' nicht zu gewinnen; hingegen gibt das Wort G l ü c k - in Verbindung mit N a t u r — darüber eingehenden Aufschluß. Auch S c h i c k s a l und G e s c h i c k gehören an sich in diesen Bereich, und beide Wörter begegnen nicht selten; aber sie drücken keinen Schicksalsbegriff bestimmter Prägung aus, sondern beziehen sich in sprachüblicher Weise auf die ganz allgemeine Vorstellung einer waltenden, die menschlichen Dinge bestimmenden Macht 2 oder auf das Lebenslos des Einzelnen 3 ; sie scheiden daher f ü r die weitere Betrachtung aus. Wenn dagegen ein Wort wie G l ü ck als Bezeichnung einer Schicksalsmacht auftritt, ein Wort also, das nicht ein neutraler Ausdruck f ü r diesen Gegenstand ist, sondern sich zunächst mit anderen Vor1
Der Begriff der Gegenwart (Die Gegenwart ist eine mächt'ge Göttinn 2613) ist in diesem Zusammenhang nicht genügend tragfähig und erlangt auch im Wortgebrauch des 'Tasso' keine weitere Geltung. 2 Schicksal: 1072, 2218, 2765, 2816, 2828, 3074. Geschick: 1570, 2894. > Schicksal: 322, 1253, 2776, 3089. Geschick: 1600, 1777, 1785, 2223, 2725, 2781.
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MANTEY
stellungsinhalten zu verbinden pflegt 1 , so werden sich daraus Rückschlüsse über die Art dieser Schicksalsauffassung ableiten lassen. Von besonderem Wert sind dabei die folgenden Stellen: TASSO
Wenn die Natur der Dichtung holde Gabe Aus reicher Willkühr freundlich mir geschenkt, 407 So hatte mich das eigensinn'ge Glück Mit grimmiger Gewalt von sich gestoßen TASSO
Ich habe sie gesehn! Sie stand vor mir! Sie sprach zu mir, ich habe sie vernommen! Der Blick, der Ton, der Worte holder Sinn, Sie sind auf ewig mein, es raubt sie nicht 2218 Die Zeit, das Schicksal, noch das wilde Glück. TASSO
Es ist so groß so weit was vor dir liegt! Und hoffnungsvolle Jugend lockt dich wieder I n unbekannte, lichte Zukunft hin. ii89 — Schwelle Brust! — O Witterung des Glücks Begünstge diese Pflanze doch einmal! Der Gegensatz zu einer möglichen Geborgenheit in der Gnadenhand gütiger Schicksalsmächte tritt hier mit aller Schärfe hervor. Die Verbindungen 'das eigensinn'ge Glück' und 'das wilde Glück' lassen klar ein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Wechselfälle des Lebensgeschicks erkennen, die sich nicht abwenden und nicht herbeiflehen lassen, und auch die Wendung ' 0 Witterung des Glücks/Begünstge diese Pflanze doch einmal' macht gerade durch den Begriff der Witterung deutlich, wie machtlos der Ausdruck beschwörenden Wunsches gegenüber dem Unberechenbaren bleibt. I n solcher Prägnanz läßt sich der Wortsinn, den antiken Begriffen Tyche und Fortuna angenähert, als Tyrannei eben dieses Unberechenbaren interpretieren. Weitere Stellen bieten Glück in dem geläufigeren Sinne des günstigen Schicksals, zum Teil ebenfalls in Zusammenhängen, die seine Wandelbarkeit oder Fragwürdigkeit hervorheben : 1 Die Bedeutung 'Schicksalsmacht' im ambivalenten Sinne (s. Glück I B 1 und 2, D W b Teil 4, 1, 5, Spalte 232f.) hat sich zwar aus älterem Sprachgebrauch bis zur Goethezeit gehalten, ist aber stets die weniger geläufige gewesen.
1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
LEONORE
auf
diesem
schönen
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Boden,
2383 Wohin das Glück dich zu verpflanzen schien, Gedeihst du nicht. 0 Tasso! - rath ich dir's ? Sprech' ich es aus ? - Du solltest dich entfernen! TASSO
Ich war begünstigt, und sie schmiegte sich So zart — an den Beglückten. Nun ich falle, 2507 Sie wendet mir den Rücken wie das Glück. 1 Andererseits durchzieht das Wort mit seinen mannigfach variierten Bedeutungen 'Zustand der Beglückung', 'Lebensglück'.. 'Erfolg und Gelingen' in dichter Folge den ganzen Text - auf weniger als hundert Verse fällt im Durchschnitt ein Beleg 2 —, und es wird dadurch zu einem wirksamen Ausdrucksmittel des im 'Tasso' nachdrücklich betonten Strebens nach Beglückung und Lebensgenuß, dessen Bedeutung innerhalb der Ideenwelt des 'Tasso' im folgenden Abschnitt noch an weiteren Wörtern zu zeigen sein wird. Es leuchtet ein, daß solche Betonung und hohe Bewertung des Beglücktseins und Glück-Habens mit jener Auffassung vom Glück als Schicksalsmacht in enger Beziehung steht. Gesteigerte Empfänglichkeit f ü r höchst zerbrechliche Lebenswerte, die innere Einstellung nur auf sie, führt, so darf man hier wohl motivieren, von hochgespannten Hoffnungen und schmerzlichen Enttäuschungen notwendig begleitet, naturgemäß zum Zweifel an einer stetigen und verläßlichen Fügung und damit zu Vorstellungen, wie sie uns in den Worten vom wilden Glück, vom eigensinnigen Glück und von der Witterung des Glücks entgegentreten. Wie also f ü r diese Menschen das Glück eine immer vorhandene gehegte, erfüllte oder enttäuschte Erwartung an das Leben ist, so stellt sich auch das Wort Glück ein, wenn eine Wendung des Gesprächs das Leben des Einzelnen und seine Gestaltung berührt: ALPHONS
So lob ich diese Tage meines Lebens 679 Als eine Zeit des Glückes und Gewinns. Erweitert seh ich meine Gränze, weiß Sie f ü r die Zukunft sicher. 1
Vgl. oben (S. 13) 1306, wiederholt 1310; unten (S. 19.) 115und 2323; ferner 2965. Außer den unten im Wortlaut angeführten und in den Anmerkungen zitierten Stellen sind noch die folgenden heranzuziehen: 99, 579, 1291, 1377, 1710, 1881, 1896, 2039, 2673, 3131. (In abweichender Anwendung 3368; redensartlich 3004). 2
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Mantey
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JOHANNES MANTEY PRINZESSINN
Es fingen schöne Zeiten damals an, Und h ä t t uns nicht der Herzog von Urbino Die Schwester weggeführt, uns wären Jahre 89i Im schönen ungetrübten Glück verschwunden. ANTONIO
Der Schutz von keinem Fürsten macht ihn sicher, Der Busen keines Freundes kann ihn laben. 2933 Und willst du einem solchen R u h und Glück, Willst du von ihm wohl Freude d i r versprechen? Ganz zielbewußt erscheint dieses Glücksstreben in den Worten der Leonore Sanvitale 1 : Wie reitzend ist's in seinem schönen Geiste 1929 Sich selber zu bespiegeln! Wird ein Glück Nicht doppelt groß und herrlich, wenn sein Lied Uns wie auf Himmels-Wolken trägt und hebt. Dann bist du erst beneidenswerth! Du bist, Du hast das nicht allein was viele wünschen, Es weiß, es kennt auch jeder was du hast! Dich nennt dein Vaterland und sieht auf dich, 1936 Das ist der höchste Gipfel jedes Glücks. Aber auch Tasso spricht von dem Gebäude seines Glücks im Sinne des erfolgreich gestalteten Lebensschicksals 2 : H a t nicht die Ankunft dieses Manns allein Mein ganz Geschick zerstört, in Einer Stunde ? 2782 Nicht dieser das Gebäude meines Glücks Von seinem tiefsten Grund aus umgestürzt? I n anderer Auffassung drückt das Wort die Beseligung aus, die sich mit einem bestimmten, als ein Lebenswert empfundenen Gut verbindet: LEONORE
Die Stätte, die ein guter Mensch betrat Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt Sein Wort und seine That dem Enkel wieder. 1 2
Vgl. auch Antonio 2956-2970. Vgl. 1594.
1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
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PRINZESSINN
Dem Enkel, wenn er lebhaft fühlt wie du. 84 Gar oft beneid' ich dich um dieses Glück. So auch in den freilich mit Vorbehalt gesprochenen Worten: TASSO
Der Mensch ist nicht gebohren frey zu seyn, 931 Und für den Edeln ist kein schöner Glück Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen.1 Vor allem findet sich dieser Gebrauch bei Tasso, bezogen auf die Zuneigung der Prinzessin und auf die Anerkennung seiner Dichtergröße: Welch einen Himmel öffnest du vor mir 0 Fürstinn! Macht mich dieser Glanz nicht blind, So seh ich unverhofft ein ewig Glück Auf goldnen Strahlen herrlich niedersteigen.
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Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein Der schäumend wallt und brausend überschwillt % Mit jedem Wort' erhöhst du mein Glück Mit jedem Worte glänzt dein Auge'heller.2 Laßt mich mein Glück im tiefen Hayn verbergen, Wie ich sonst meine Schmerzen dort verbarg. Dort will ich einsam wandlen, dort erinnert Kein Auge mich an's unverdiente Glück. Zu früh war mir das schönste Glück verliehen, Und wird, als hätt' ich sein mich überhoben, Mir nur zu bald geraubt.3
Eben aus dieser Thematik sind aber Tassos Worte vom wilden, eigensinnigen, wetterwendischen Glück hervorgegangen, und nicht weniger eindringlich weisen die Worte der Prinzessin vom Gedanken an die persönliche Beglückung auf das Bewußtsein der Fragwürdigkeit des Glücks und der trügerischen Unbeständigkeit des Schicksals zurück: 1 2 3 2*
Ferner 901, 1813. Dazu 1069, 1129, 1136f., 3278. Dazu 510, 694.
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JOHANNES
MANTEY
Muß ich denn wieder diesen Schmerz als gut Und heilsam preisen ? Das war mein Geschick Von Jugend auf, ich bin nun dran gewöhnt. 1779 Nur halb ist der Verlust des schönsten Glücks Wenn wir auf den Besitz nicht sicher zählten. So selten ist es daß die Menschen finden Was ihnen doch bestimmt gewesen schien, So selten, daß sie das erhalten was Auch einmal die beglückte Hand ergriff! E s reißt sich los was erst sich uns ergab, Wir lassen los was wir begierig faßten. 1912 Es giebt ein Glück, allein wir kennen's nicht: Wir kennen's wohl, und wissen's nicht zu schätzen. Die Schicksalsauffassung, die sich im Gebrauch des Wortes G l ü c k ausspricht, findet nun durch das Wort N a t u r und seinen Vorstellungsgehalt ihre Ergänzung. Zwar erscheint dieses Wort seltener und auch in seiner Anwendung weniger ausgeprägt als Glück, aber es vertritt doch eine Idee, die in der gedanklichen Welt des 'Tasso' ihren festen Platz hat, nämlich die Idee einer gütigen, den Menschen mit ihren Gaben ausstattenden natura naturans. Das Wort verbindet sich denn auch meist mit den Verben verleihen, schenken oder geben 1 , was freilich auch bei dem Wort Gott beobachtet werden kann, dort aber wegen des verblaßten, unrealen Charakters der Gottesvorstellung unerheblich bleibt. I n den Versen: P R I N Z E S S I N N
Wenn du bescheiden ruhig das Talent, 522 Das dir die Götter gaben, tragen kannst, So lern auch diese Zweige tragen, die Das schönste sind was wir dir geben können. hat die fragliche Wendung keine eigene Aussagekraft; sie wirkt formelhaft, weil hier ein nicht näher bestimmtes Etwas mit einer sinnentleerten herkömmlichen Bezeichnung versehen wird. Ganz anders verhält es sich in der folgenden Stelle, wo Natur, wie Glück, von sich aus sehr bestimmte, greifbare Vorstellungen in den Sinnzusammenhang hineinträgt: 1 Vgl. 2316, 2759, 3437. Anders 1705, 2885, 2894, 3069. (Nicht hierher gehören 160, 2904, 3032.)
1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
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PRINZESSINN
Auch kann ich dir versichern hab ich nie Als Rang und als Besitz betrachtet was 115 Mir die Natur, was mir das Glück verlieh. Natur und Glück erscheinen hier als gleichgerichtete, gemeinsam wirkende Kräfte. Von der Gesamtauffassung her, die ihnen der Text verleiht, und die in «Jen Vorstellungen vom wilden, dem Menschen mitspielenden Glück und von der gütigen, vorsorglichen Natur gipfelt, müssen sie jedoch als gegnerische, polare Tendenzen der menschlischen Schickalsdynamik angesehen werden1, und so können die beiden Wörter auch in ausdrücklicher Antithese stehen: TASSO
Ein solcher Mann verzeiht dem andern wohl Vermögen, Stand und Ehre, denn er denkt Das hast du selbst, das hast du wenn du willst, 2323 Wenn du beharrst, wenn dich das Glück begünstigt. 2324 Doch das was die Natur allein verleiht, Was jeglicher Bemühung, jedem Streben Stets unerreichbar bleibt, was weder Gold Noch Schwerdt, noch Klugheit, noch Beharrlichkeit Erzwingen kann, das wird er nie verzeihn. Ebenso in den bereits zitierten Versen: TASSO
405 Wenn die Natur der Dichtung holde Gabe Aus reicher Willkühr freundlich mir geschenkt, 407 So hatte mich das eigensinn'ge Glück Mit grimmiger Gewalt von sich gestoßen Aber Glück und Natur erweisen sich als ungleiche Gegenspieler. Was die Natur verleiht, kann dem Menschen zwar Glücksmöglichkeiten eröffnen und erweitern, ja es lassen sich sogar Rechte daraus ableiten: TASSO Wir nahen uns dem Fürsten Durch Adel nur der uns von den Vätern kam; 1355 Warum nicht durchs Gemüth, das die Natur Nicht jedem groß verlieh, wie sie nicht jedem Die Reihe großer Anherrn geben konnte. 1 Ausnahmen, wie bei Natur in den Versen 2758—2763, fallen hierbei nicht ins Gewicht, da ja in diesen Dingen nicht mit genauester Konsequenz gerechnet werden kann.
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I m Leben bleibt man jedoch der Tyrannei des Glücks ausgeliefert, und die Gaben der Natur vermögen da nur zu lindern, nicht den Menschen zu schützen: TASSO
Wir Menschen werden wunderbar geprüft; Wir könnten's nicht ertragen, hätt uns nicht i58i Den holden Leichtsinn die Natur verliehn. TASSO
Nein, Alles ist dahin! - Nur Eines bleibt: 3427 Die Thräne hat uns die Natur verliehen. Den Schrey des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt — Und mir noch über alles — Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die tiefste Fülle meiner Noth zu klagen Die gegenseitige Verknüpfung aller dieser Vorstellungen untereinander und mit dem Geschehen des Dramas ist leicht zu erkennen. Das Streben nach Glück und Beglückung, durch Gaben der Natur begünstigt; die daraus entspringende Verletzlichkeit gegenüber den Wechselfällen des Glücks; die Schläge der unberechenbaren Schickung, kontrastiert durch die Milde der N a t u r : das alles vollzieht sich im Laufe der Handlung, es wird zum Geschehen. Das f ü r die Frage des Sprachstils Wesentliche aber ist, daß diese Momente im Wortgebrauch nicht nur an den entscheidenden Stellen der Handlung, wo sie unmittelbar in Rede stehen, ihre Wirksamkeit entfalten, sondern daß sie als immer wiederkehrende Motive den Text durchziehen, unvermerkt die Denkart der handelnden Menschen vergegenwärtigen und eine auf die Ereignisse sinnvoll bezogene Atmosphäre schaffen. Von erhöhter Bedeutung im Hinblick auf das Ganze der Dichtung ist dabei das Motiv des tyrannischen Glücks, dem sich der Mensch ausgeliefert f ü h l t ; denn diese Situation des Ausgeliefertseins ist besonders bedrohlich f ü r Tasso, den Heimatlosen, Vertriebenen. Alle seine Hoffnungen auf erwärmendes Geborgensein können sich nur an diesen Kreis knüpfen, in den er Aufnahme gefunden hat, und so erscheint die Trostlosigkeit des Ausganges auf dem Hintergrund solcher Schicksalsauffassung noch vertieft. I n den Bereich der allgemeinen Lebensansicht f ü h r t das Wort W e l t . E s begegnet in sehr verschiedenen Abwandlungen seines Wortsinnes, denen aber eine einheitliche Grundhaltung des Lebensgefühls entspricht, nämlich die Haltung der Weltverbundenheit und Weltzuwendung und der hohen
1. Schicksalsauffaasung und Lebensansicht
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W e r t s c h ä t z u n g dessen, w a s die Vorstellung 'Welt', bei aller keit i m Einzelnen, als G a n z e s Das Bewußtsein, der Welt
Mannigfaltig-
repräsentiert. — hier zunächst im
Sinne der
menschlichen
Mitwelt oder g e n a u e r d e r zeitgenössischen K u l t u r w e l t — v e r b u n d e n zu sein, ist schon d u r c h die besondere, a u f die Öffentlichkeit b e z o g e n e Stellung m o t i viert, die den Menschen dieses höfischen Kreises u n d vor allem d e m Tasso
zugeteilt
ist, u n d es ä u ß e r t
sich u n m i t t e l b a r
Dichter
in der Beachtung,
der Anerkennung u n d E h r u n g durch die Welt gewidmet
die
wird:
LEONORE U n d laß mich der Gelegenheit, d e m
Glück
A u c h seinen Theil a n deiner Bildung geben, D u h a s t sie d o c h , u n d b i s t s a m E n d e
doch,
102 U n d d i c h m i t d e i n e r S c h w e s t e r e h r t d i e W e l t Vor allem großen F r a u e n eurer Zeit. I n der Regel beziehen sich solche Stellen auf T a s s o :
TASSO 447 W e r n i c h t d i e W e l t i n s e i n e n F r e u n d e n
sieht
Verdient nicht d a ß die Welt v o n i h m erfahre.
PRINZESSINN W i r sind n u r hier die ersten stillen Z e u g e n 703 D e s B e y f a l l s d e n d i e W e l t i h m n i c h t
versagt,
U n d den i h m zehnfach künft' ge J a h r e
gönnen.
M e h r f a c h wird dabei, wie es sich i m letzten Beleg schon a n d e u t e t ,
der'Welt'
die 'Nachwelt' gegenübergestellt, u n d so die Vorstellung der Weltbezogenheit ins Geschichtliche
ausgedehnt1:
PRINZESSINN L a ß ihn, m e i n B r u d e r ! d e n n es ist die Zeit Von einem guten Werke nicht das
Maß;
28i U n d w e n n d i e N a c h w e l t m i t g e n i e ß e n s o l l So m u ß des Künstlers Mitwelt sich vergessen.
TASSO 453 J a , W e l t u n d N a c h w e l t s e h i c h v o r m i r s t e h n . 1
Vgl. noch 807 sowie unten (S. 22) 1942f.
22
JOHANNES MANTEY ALPHONS
457 Und stellen wir denn Welt und Nachwelt vor, So ziemt es nicht nur müßig zu empfangen. Daß aber der Gedanke an eine solche Beziehung zur Welt sich nicht ausschließlich auf Tassos Dichterpersönlichkeit beschränkt, zeigen neben dem eingangs zitierten Beleg auch diejenigen Stellen, in denen der Wunsch geäußert wird, an Tassos zukünftiger Weltgeltung einen Anteil zu erlangen: ALPHONS
Wir sehen dann auf einmal ihn vielleicht Am Ziel, wo wir ihn lang gewünscht zu sehn. 289 Dann soll das Vaterland, es soll die Welt Erstaunen, welch ein Werk vollendet worden. Ich nehme meinen Theil des Ruhms davon, Und er wird in das Leben eingeführt. LEONORE
Ist Laura denn allein der Nähme, der Von allen zarten Lippen klingen soll? Und hatte nur Petrarch allein das Recht Die unbekannte Schöne zu vergöttern ? Wo ist ein Mann, der meinem Freunde sich 1942 Vergleichen darf? Wie ihn die Welt verehrt, So wird die Nachwelt ihn verehrend nennen. Wie herrlich ist's, im Glänze dieses Lebens Ihn an der Seite haben! So mit ihm Der Zukunft sich mit leichtem Schritte nahn. Alsdann vermag die Zeit, das Alter nichts Auf dich, und nichts der freche Ruf, Der hin und her des Beyfalls Woge treibt: Das was vergänglich ist, bewahrt sein Lied. Weiterhin begegnet das Wort im Zusammenhang der Kulturauffassung, die sich in dem Gespräch der Frauen am Anfang der Dichtung äußert, einer Auffassung, die sich der eigenen geschichtlichen Stellung wohl bewußt ist und das Lebensgefühl der Menschen beherrscht. Auch hier zeigt sich der Gedanke der Weltverbundenheit wirksam; eben durch den freien Blick auf 'die Welt umher' scheidet sich die Kultur von der Barbarei:
1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
23
LEONORE
Hier zündete sich froh das schöne Licht Der Wissenschaft, des freyen Denkens an, Als noch die Barbarey mit schwerer Dämmrung 67 Die Welt umher verbarg. Dieser Auffassung schließt sich ferner, im Sinne von 'Kulturwelt' 1 , das Kompositum Vorwelt an: PRINZESSINN
Die Kenntniß alter Sprachen und des Besten, los Was uns die Vorwelt ließ, dank ich der Mutter; TASSO
Bescheiden hofft' ich, jenen großen Meistern 2635 Der Vorwelt mich zu nahen; In wieder anderer Ausprägung erscheint die Idee der Weltverbundenheit des kultivierten Menschen dort, wo die formende und bildende Kraft der Welt — des großen öffentlichen Lebens — hervorgehoben wird: ALPHON S
Ein edler Mensch kann einem engen Kreise Nicht seine Bildung danken. Vaterland 295 Und Welt muß auf ihn wirken. LEONORE
Es bildet ein Talent sich in der Stille, 305 Sich ein Charackter in dem Strom der Welt. Von hier aus sind auch weitere, in der Bedeutung erheblich auseinandergehende Anwendungen zu beurteilen; so einerseits die Redewendung vom 'Gebrauch der Welt' im Sinne der gewandten, Anstöße vermeidende Umgangsform : PRINZESSINN
Ich scheute mich gleich mit den ersten Worten Und dringend ihm den Jüngling zu empfehlen, Verließ auf Sitte mich und Höflichkeit, 1693 Auf den Gebrauch der Welt, der sich so glatt Selbst zwischen Feinde legt; 1
Dazu auch 3125.
24
JOHANNES
MANTEY
Diese Glätte des Umgangs stellt zwar ein nur sehr äußerliches Ergebnis jenes Bildungsprozesses dar; aber im ideellen Aufbau des 'Tasso', zu dessen Thema ja auch der Zusammenhang zwischen Gesittung und Wahrung der Form gehört, ist sie von dem Gedanken der Weltverbundenheit des gesitteten Menschen nicht zu trennen. Andererseits und hauptsächlich beziehen sich die Worte von der bildenden K r a f t der Welt auf die Teilnahme an einer Tätigkeit im öffentlichen Leben, als deren Musterbild an späterer Stelle das staatsmännische Wirken Gregors vor Augen gestellt wird. Bei dessen Darstellung tritt wiederum, das Feld dieses Wirkens bezeichnend, das Wort Welt a u f J : ANTONIO
Er sieht das Kleine klein, das Große groß. 6i7 Damit er einer Welt gebiete, giebt E r seinen Nachbarn gern und freundlich nach. ANTONIO
634 Es liegt die Welt so klar vor seinem Blick Als wie der Vortheil seines eignen Staats. Auch hier darf das Wort wohl als Ausdruck einer Lebensauffassung angesehen werden, die den Menschen und sein Tun auf die 'Welt' bezieht, ihn nach seiner Weltverbundenheit wertet, und f ü r die daher eine auf weltumspannende Ziele gerichtete Tätigkeit ein Gegenstand höchster Anerkennung und Bewunderung ist. Ein wichtiges Zeugnis f ü r das im 'Tasso' herrschende Lebensgefühl stellen schließlich diejenigen Anwendungen des Wortes dar, in denen das Dasein in seiner Schönheit und Mannigfaltigkeit als ein Gegenstand frohen Erlebens aufgefaßt wird. Bezeichnend f ü r die Zuwendung zur Welt als einer Quelle des Lebensgenusses ist schon die Verbindung des Wortes mit den Ausdrücken des Genießens, deren bedeutsame Stellung in der Gedankenwelt des 'Tasso' noch im folgenden Abschnitt der Untersuchung zu erwähnen sein wird: PRINZESSINN
Noch treffen sich verwandte Herzen an 1004 Und theilen den Genuß der schönen Welt; 1
Vgl. auch 1971.
1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
25
ALPHONS
Doch, guter Tasso, wenn es möglich wäre, So solltest du erst eine kurze Zeit 3058 Der freyen Welt genießen, dich zerstreuen Aus anderen hierher gehörigen Stellen spricht jedoch nicht nur hohe W e r t schätzung des schönen Daseins, sondern zugleich und sehr eindringlich der Ausdruck der Hemmung in der Zuwendung zur Welt durch vergangene oder gegenwärtige Leiden: TASSO
409 Und zog die schöne Welt den Blick des Knaben Mit ihrer ganzen Fülle herrlich an, So t r ü b t e bald den jugendlichen Sinn Der theuren Eltern unverdiente Noth. PRINZESSINN
Mit breiten Flügeln schwebte mir das Bild Des Todes vor den Augen, deckte mir 855 Die Aussicht in die immer neue Welt. Nur nach und nach entfernt es sich, und ließ Mich, wie durch einen Flor, die bunten Farben Des Lebens, blaß doch angenehm, erblicken. PRINZESSINN
Welch eine Dämmrung fällt nun vor mir ein! Der Sonne Pracht, das fröhliche Gefühl i87i Des hohen Tags, der tausendfachen Welt Glanzreiche Gegenwart, ist öd und tief I m Nebel eingehüllt der mich umgiebt. Anzeichen einer gestörten Beziehung zur Welt begegnen nun auch sonst und weisen auf Zusammenhänge hin, die das Wort mit der Thematik der Dichtung in enge Beziehung setzen. Tatsächlich leiden ja Tasso und die Prinzessin, beide in verschiedener Weise, an einem beeinträchtigten Verhältnis zur Welt, und es kann nicht fehlen, daß diese Lebensproblematik auch im Gebrauch des Wortes Welt anklingt. So zeigt sich im Falle der Prinzessin neben den angeführten Zeugnissen einer gehemmten Zuwendung auch der Ausdruck einer vorsichtigen Zurückhaltung gegenüber der lockenden Mannigfaltigkeit des Daseins:
26
JOHANNES MANTEY
Was ich besitze mag ich gern bewahren: Der Wechsel unterhält, doch nutzt er kaum. Mit jugendlicher Sehnsucht griff ich nie 1885 Begierig in den Loostopf fremder Welt, Für mein bedürfend unerfahren Herz Zufällig einen Gegenstand zu haschen. Besonders hervorzuheben ist aber, daß das Wort nicht nur wiederholt in den Lebensklagen der Prinzessin auftritt, sondern daß es in den Versen, in denen sie, das zweite Gespräch mit Leonore Sanvitale beschließend, ihre Seelenlage endgültig und zutiefst ausspricht, gemeinsam mit dem Worte Glück eine durchaus beherrschende Stellung einnimmt: LEONORE
Wenn einer Freundinn Wort nicht trösten kann, So wird die stille Kraft der schönen Welt, Der guten Zeit dich unvermerkt erquicken. PRINZESSINN
1900 Wohl ist sie schön die Welt! in ihrer Weite Bewegt sich so viel Gutes hin und her. Ach daß es immer nur um Einen Schritt Von uns sich zu entfernen scheint, Und unsre bange Sehnsucht durch das Leben Auch Schritt vor Schritt bis nach dem Grabe lockt! So selten ist es daß die Menschen finden Was ihnen doch bestimmt gewesen schien, So selten daß sie das erhalten, was Auch einmal die beglückte Hand ergriff! Es reißt sich los was erst sich uns ergab, Wir lassen los was wir begierig faßten. 1912 Es giebt ein Glück, allein wir kennen's nicht: Wir kennen's wohl und wissen's nicht zu schätzen. Das Wort von der 'schönen Welt' ist das Stichwort, das der Prinzessin Anlaß gibt, diese schmerzliche Summe ihres Lebens zu ziehen, und in ihrer Klage erweisen sich Welt und Glück als die bestimmenden Vorstellungen, zwischen denen sich der Gedankengang bewegt und auf die das Leben und seine Werte bezogen werden.
1. Schicksalsauffassung und Lebensansicht
27
Andererseits finden sich Aussprüche Tassos, in denen sich mit dem Gedanken an die Welt die Vorstellung einer seine Künstlernatur beengenden kalten und fremden Macht und das Gefühl der Schutz- und Hilflosigkeit verbindet: Frey will ich seyn im Denken und im Dichten, 2306 I m Handeln schränkt die Welt genug uns ein. Kenn' ich doch 2409 Die Welt von Jugend auf, wie sie so leicht Uns hülflos, einsam läßt, und ihren Weg Wie Sonn' und Mond und andre Götter geht. Willst du auf ewig mein Geschick verkehren 2726 Mich hülflos in die weite Welt vertreiben, So bleib auf deinem Sinn und widersteh! Auch diese Stellen sind Ausdruck eines Mißverhältnisses zur Welt, und es deutet sich darin die Beziehung des Wortes zum eigentlichen Thema der Dichtung, der 'Disproportion des Talents mit dem Leben', an. Ausgangspunkt dieses Mißverhältnisses ist Tassos Konflikt mit der 'Welt' als dem Inbegriff der tätigen Lebensübung. In seiner Reaktion auf das Gegenbild seiner Künstlerexistenz, die Schilderung der staatsmännischen Wirksamkeit am päpstlichen Hofe, spricht er sich darüber aus, ohne daß zunächst das Wort Welt dabei als Leitbegriff aufträte 1 : (788—soo) Nein, was das Herz im tiefsten mir bewegte, Was mir noch jetzt die ganze Seele füllt, E s waren die Gestalten jener Welt, Die sich lebendig, rastlos, ungeheuer U m Einen großen, einzig klugen Mann Gemessen dreht und ihren Lauf vollendet, Den ihr der Halbgott vorzuschreiben wagt. Begierig horcht ich auf, vernahm mit Lust Die sichern Worte des erfahrnen Mannes, Doch ach je mehr ich horchte, mehr und mehr Versank ich vor mir selbst, ich fürchtete Wie Echo an den Felsen zu verschwinden, Ein Wiederhall, ein Nichts mich zu verlieren. 1
Welt in Vers 790 sowie die Stellen 644 und 584 scheiden wegen der abweichenden Bedeutung ('Sphäre, Bereich') aus; auch 28 'es umgiebt uns eine neue Welt' und 2041 'Eitelkeit der Welt' sowie 639, 2013 und 2709 werden für diese Untersuchung nicht herangezogen.
28
JOHANNES MANTEY
In der nachfolgenden Antwort der Prinzessin hingegen, mit der sie diesen Konflikt durch die Scheidung der Lebensbereiche von 'Held und Dichter' zu lösen sucht, begegnet sogleich das Wort vom 'wilden Lauf der Welt', dem sie die kontemplative Lebensform des Dichters entgegenstellt: Und schienst noch kurz vorher so rein zu fühlen, Wie Held und Dichter für einander leben, Wie Held und Dichter sich einander suchen, Und keiner je den andern neiden soll? Zwar herrlich ist die liedeswerthe That, Doch schön ist's auch der Thaten stärkste Fülle Durch würd'ge Lieder auf die Nachwelt bringen. Begnüge dich aus einem kleinen Staate, 809 Der dich beschützt, dem wilden Lauf der Welt, Wie von dem Ufer ruhig zu zusehn. Denselben Konflikt zwischen kontemplativer und aktiver Lebenseinstellung, zwischen innerer und äußerer 'Welt', stellt schließlich auch Antonio in den Mittelpunkt seiner Charakteristik von Tassos Wesen: Ich kenn' ihn lang, er ist so leicht zu kennen, Und ist zu stolz sich zu verbergen. Bald Versinkt er in sich selbst als wäre ganz 2120 Die Welt in seinem Busen, er sich ganz In seiner Welt genug, und alles rings Umher verschwindet ihm. Er läßt es gehn, Läßt's fallen, stößt's hinweg und ruht in sich — Auf einmal, wie ein unbemerkter Funke Die Mine zündet, sey es Freude, Leid, Zorn oder Grille, heftig bricht er aus: Dann will er Alles fassen, Alles halten, Dann soll geschehn was er sich denken mag; Die letzten Enden aller Dinge will Sein Geist zusammen fassen; das gelingt Kaum Einem unter Millionen Menschen, Und er ist nicht der Mann: er fällt zuletzt, Um nichts gebessert, in sich selbst zurück. Der Begriff der Welt erweist sich also in der Art, wie der Lebenskonflikt der beiden tragischen Personen der Dichtung als eine Störung ihres Ver-
2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens
29
hältnisses zur 'Welt' im jeweiligen Wortsinne begriffen wird, als eine t r a gende Vorstellung im gedanklichen A u f b a u des Werkes. Wie der Begriff des Glücks stellt er ein wichtiges Element der im 'Tasso' vorherrschenden Lebensanschauung dar, die sich aus der Sinnesart der handelnden Personen ergibt u n d sich in der Auswahl und Zusammensetzung des bevorzugten Wortschatzes abspiegelt. Dabei ist jedoch hervorzuheben, daß Welt u n d Glück - im Gegensatz zu den weiterhin zu behandelnden Wörtern, die jeweils nur einzelne Züge der Sinnesart u n d Auffassungsweise erschließen lassen — als Vorstellungen allgemeiner u n d grundsätzlicher Art zu betrachten sind, die der Auffassungsweise gleichsam den R a h m e n geben, u n d auf die das Leben u n d seine Wechselfälle, im Konfliktfalle wie im Normalfalle, bezogen werden. Die Funktion des Wortes Welt ist es demnach, das Lebensgefühl der Menschen dieses höfischen Kreises im weitesten Sinne, d. h. in allen Bereichen seiner Bedeutung, als weltbezogen u n d weltverbunden zu k e n n zeichnen, u n d an einzelnen hervorgehobenen Stellen die Bedeutung d e r Beziehung zur Welt f ü r die Lebensstimmung des Einzelnen zu betonen. Dies aber nicht im Sinne eines ausdrücklich gesetzten Leitmotives, sondern, in mehr andeutender Weise, von den Personen der Dichtung her gesehen als unwillkürlicher sprachlicher Reflex ihrer Sinnesart, und vom Dichter her gesehen als ein Resultat intensiver sprachlicher Durchdringung des Stoffes. 2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens Während die Wörter Glück u n d Welt über die allgemeine Schicksalsauffassung u n d Lebensansicht der Personen des 'Tasso' Aufschluß gaben, spiegelt die Gruppe von Wörtern, deren B e t r a c h t u n g n u n folgen soll, ihre besondere Einstellung zu den Werten des Lebens wider. E s ist dabei nicht so sehr das einzelne Wort, als vielmehr die gemeinsame Wirkung der aufeinander bezogenen Begriffe, die unverkennbar den Eindruck h e r v o r r u f t , daß diese Lebenswerte unter einem ganz bestimmten Aspekt gesehen werden. Kennzeichnend f ü r diese Auffassungsweise ist zunächst die Neigung, einen als Lebenswert empfundenen Gegenstand gleichsam dem Besitzstand der eigenen Lebenssphäre einzuordnen oder ihn jedenfalls unter dem Gesichtspunkt eines solchen Besitzstandes zu betrachten. Das drückt sich sprachlich nicht allein in den Wörtern besitzen u n d Besitz, sondern bereits im Gebrauch des Wortes G u t aus, insofern es den Gedanken an die Möglichkeit des Besitzes einschließt.
2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens
29
hältnisses zur 'Welt' im jeweiligen Wortsinne begriffen wird, als eine t r a gende Vorstellung im gedanklichen A u f b a u des Werkes. Wie der Begriff des Glücks stellt er ein wichtiges Element der im 'Tasso' vorherrschenden Lebensanschauung dar, die sich aus der Sinnesart der handelnden Personen ergibt u n d sich in der Auswahl und Zusammensetzung des bevorzugten Wortschatzes abspiegelt. Dabei ist jedoch hervorzuheben, daß Welt u n d Glück - im Gegensatz zu den weiterhin zu behandelnden Wörtern, die jeweils nur einzelne Züge der Sinnesart u n d Auffassungsweise erschließen lassen — als Vorstellungen allgemeiner u n d grundsätzlicher Art zu betrachten sind, die der Auffassungsweise gleichsam den R a h m e n geben, u n d auf die das Leben u n d seine Wechselfälle, im Konfliktfalle wie im Normalfalle, bezogen werden. Die Funktion des Wortes Welt ist es demnach, das Lebensgefühl der Menschen dieses höfischen Kreises im weitesten Sinne, d. h. in allen Bereichen seiner Bedeutung, als weltbezogen u n d weltverbunden zu k e n n zeichnen, u n d an einzelnen hervorgehobenen Stellen die Bedeutung d e r Beziehung zur Welt f ü r die Lebensstimmung des Einzelnen zu betonen. Dies aber nicht im Sinne eines ausdrücklich gesetzten Leitmotives, sondern, in mehr andeutender Weise, von den Personen der Dichtung her gesehen als unwillkürlicher sprachlicher Reflex ihrer Sinnesart, und vom Dichter her gesehen als ein Resultat intensiver sprachlicher Durchdringung des Stoffes. 2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens Während die Wörter Glück u n d Welt über die allgemeine Schicksalsauffassung u n d Lebensansicht der Personen des 'Tasso' Aufschluß gaben, spiegelt die Gruppe von Wörtern, deren B e t r a c h t u n g n u n folgen soll, ihre besondere Einstellung zu den Werten des Lebens wider. E s ist dabei nicht so sehr das einzelne Wort, als vielmehr die gemeinsame Wirkung der aufeinander bezogenen Begriffe, die unverkennbar den Eindruck h e r v o r r u f t , daß diese Lebenswerte unter einem ganz bestimmten Aspekt gesehen werden. Kennzeichnend f ü r diese Auffassungsweise ist zunächst die Neigung, einen als Lebenswert empfundenen Gegenstand gleichsam dem Besitzstand der eigenen Lebenssphäre einzuordnen oder ihn jedenfalls unter dem Gesichtspunkt eines solchen Besitzstandes zu betrachten. Das drückt sich sprachlich nicht allein in den Wörtern besitzen u n d Besitz, sondern bereits im Gebrauch des Wortes G u t aus, insofern es den Gedanken an die Möglichkeit des Besitzes einschließt.
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JOHANNES MANTEY
Das Wort bezeichnet dabei nur in einzelnen Fällen unmittelbar einen gegenständlichen Besitz, wie Tassos Dichterkranz oder die Handschrift seines Gedichtes: TASSO
Verschwende nicht Die Pfeile deiner Augen deiner Zunge! Du richtest sie vergebens nach dem Kranze, Dem unverwelklichen, auf meinem Haupt. Sey erst so groß, mir ihn nicht zu beneiden! Dann darfst du mir vielleicht ihn streitig machen. 1325 Ich acht' ihn heilig und das höchste Gut TASSO
3318 Mein einzig Gut ist nun in euren Händen, Das mich an jedem Ort empfohlen hätte Das mir noch blieb vom Hunger mich zu retten! Soweit es sonst in dieser Weise gebraucht wird, geschieht das vielmehr mittelbar und in sentenziöser Allgemeinheit: ANTONIO
Doch giebt es leichte Kränze, Kränze giebt es Von sehr verschiedner Art, sie lassen sich Oft im Spazierengehn bequem erreichen. TASSO
Was eine Gottheit diesem frey gewährt 1304 Und jenem streng versagt, ein solches Gut Erreicht nicht jeder wie er will und mag. TASSO
1582 Mit unschätzbaren Gütern lehret uns Verschwenderisch die Noth gelassen spielen: Wir öffnen willig unsre Hände daß Unwiederbringlich uns ein Gut entschlüpfe. LEONORE
2042 Ein jedes Gut nach seinem Werth zu schätzen, Brauch ich dich nicht zu lehren. Aber doch, Es scheint von Zeit zu Zeit bedarf der Weise,
2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens
31
So sehr wie andre, daß man ihm die Güter, Die er besitzt, im rechten Lichte zeige. Du, edler Mann, du wirst an ein Phantom Von Gunst und Ehre keinen Anspruch machen. Eben diese Allgemeinheit der Betrachtungsweise hebt das Wort über den Zusammenhang der einzelnen Stelle hinaus. Sie läßt erkennen, daß mit dem Begriff des Gutes eine Gegebenheit des Daseins von grundsätzlicher Geltung umschrieben ist. Besonders deutlich zeigt sich das an denjenigen Stellen, wo das Wort von aller gegenständlichen Beziehung abgelöst auf Lebensgüter schlechthin angewendet wird: TASSO
Du nennest uns unbändig, roh, gefühllos ? PRINZESSINN
1024 Nicht das! Allein ihr strebt nach fernen Gütern Und euer Streben muß gewaltsam seyn. Ihr wagt es für die Ewigkeit zu handien, Wenn wir ein einzig nah beschränktes Gut Auf dieser Erde nur besitzen möchten, Und wünschen daß es uns beständig bliebe. ANTONIO
des Lebens Mühe 2949 Lehrt uns allein des Lebens Güter schätzen. So jung hat er zu vieles schon erreicht Als daß genügsam er genießen könnte. 1 Allem Anschein nach steht hinter diesem Wortgebrauch, wie schon in dem eingangs zitierten Beleg die Wendung 'das höchste Gut' verrät, die Güterlehre der antiken Philosophie. Nicht in dem Sinne freilich, daß sie in bestimmter Ausprägung greifbar wäre; aber doch insofern, als der Begriff des bonum offensichtlich ein Element der Lebensorientierung bildet, und die Neigung besteht, so allgemein und schlechthin von Gütern zu sprechen, daß der Begriff des Gutes nicht durch einen gerade in Rede stehenden Sachverhalt provoziert, sondern als geläufige Vorstellung einer bestimmten Lebensauffassung vorgegeben zu sein scheint, gleich als ob dem Sprecher beim Gebrauch des Wortes etwa das Wertsystem der philosophischen 1
3
Dazu 1045, 2672.
Mantey
32
JOHANNES
MANTEY
Güterlehre vorschwebte. Von hier aus würde auch der Gedanke des Besitzes von Lebenswerten seine nähere Begründung erfahren, da eine Güterlehre ja ihrem Wesen nach auf Aneignung und Besitz solcher Werte abzielt und diesen Gesichtspunkt auf die Betrachtung der Verhältnisse des Lebens anwendet. Wie das Wort Gut, so beziehen sich auch b e s i t z e n und B e s i t z nicht auf materielles Eigentum, sondern auf ideelle Güter im allgemeinsten Sinne 1 : PRINZESSINN
Auch kann ich dir versichern hab ich nie 114 Als Rang und als Besitz betrachtet was Mir die Natur, was mir das Glück verlieh. PRINZESSINN
Nur halb ist der Verlust des schönsten Glücks i78o Wenn wir auf den Besitz nicht sicher zählten. PRINZESSINN
1882 Was ich besitze mag ich gern bewahren: Der Wechsel unterhält, doch nutzt er kaum. 2 Gelegentlich kann jedoch selbst der territoriale Besitz von diesem ideellen Standpunkt aus betrachtet werden: PRINZESSINN
Ich höre gern dem Streit der Klugen zu Gern wenn die fürstliche Begier des Ruhms, 130 Des ausgebreiteten Besitzes Stoff Dem Denker wird Besonders kennzeichnend f ü r den Ausdrucksgehalt des Wortes besitzen ist schließlich seine Anwendung auf Personen: PRINZESSINN
959 So haben wir Lenoren lang besessen, Die fein und zierlich ist, mit der es leicht Sich leben läßt; 1
Ausnahmen bilden Gut 1923 und besitzen 2078, auch 3180. (Nicht hierher besitzen 628). 2 Dazu besitzen 207, 943, 949, 1028, 2046, 3095.
2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens
33
LEONORE
Ist's denn so nöthig daß er sich entfernt ? Machst du es nöthig um allein f ü r dich i9i9 Das Herz und die Talente zu besitzen, Die du bisher mit einer andern theilst Und ungleich theilst ? ALPHON S
Das hat Italien so groß gemacht Daß jeder Nachbar mit dem andern streitet 2845 Die Bessern zu besitzen, zu benutzen. 1 Ähnliches ist auch im Gebrauch des Wortes Gut zu beobachten: PRINZESSINN
Erst sagt ich mir, entferne dich von ihm! Ich wich und wich und kam nur immer näher. So lieblich angelockt, so hart bestraft! 1894 Ein reines wahres Gut verschwindet mir, Und meiner Sehnsucht schiebt ein böser Geist Statt Freud und Glück verwandte Schmerzen unter. I n der Art, wie hier auch Menschen in den Bezirk eines - freilich durchaus ideell aufzufassenden — persönlichen Besitzstandes einbezogen werden, zeigt sich wohl am deutlichsten sowohl die Weite, die dem hier zugrundehegenden Begriff des Lebenswertes zuerkannt werden muß, als auch die besondere Eigentümlichkeit der Neigung, solche Lebenswerte nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Teilnahme, des Freude-daran-Habens, sondern darüber hinaus unter dem Aspekt der Aneignung und des gesicherten Besitzes zu betrachten. Dem Bild, das die Anwendung der Wörter Gut und besitzen, Besitz bietet, f ü g t sich nun auch der Gebrauch der Wörter g e n i e ß e n und G e n u ß ein. Auch sie beziehen sich auf Lebenswerte im allgemeinsten Sinne: LEONORE
Sie wird sich freuen Wenn sie ihn fern, wenn sie ihn glücklich weiß, i96i Wie sie genoß, wenn sie ihn täglich sah. 1 3*
Ferner 1159.
34
JOHANNES MANTEY
LEONORE
Wir wünschen ihn zu bilden daß er mehr 2113 Sich selbst genieße, mehr sich zu genießen Den andern geben könne. PRINZE S SINN
und gehst Freywillig arm dahin, und nimmst uns weg 3i84 Was du mit uns allein genießen konntest. PRINZE S SINN
ich wiegte Schmerz und Sehnsucht Und jeden Wunsch mit leisen Tönen ein. i8ii Da wurde Leiden oft Genuß und selbst Das traurige Gefühl zur Harmonie. ALPHONS 3092
Du giebst so vielen doppelten Genuß Des Lebens, lern, ich bitte dich, Den Werth des Lebens kennen, das du noch Und zehnfach reich besitzest. 1
Besonders ist die Neigung hervorzuheben, in derselben Allgemeinheit 'genießen' und 'Genuß' schlechthin zu sprechen, wie sie im Gebrauch Wortes Gut festgestellt und als Ausdruck einer vorgegebenen, nicht durch einen konkreten Anlaß ausgelösten Einstellung zu den Werten Lebens bestimmt werden konnte: TASSO
Die goldne Zeit wohin ist sie geflohn? Nach der sich jedes Herz vergebens sehnt! Da auf der freyen Erde Menschen sich 982 Wie frohe Heerden im Genuß verbreiteten; ALPHONS
Wir sollen eben nicht in Ruhe bleiben! 288i Gleich wird uns, wenn wir zu genießen denken, Zur Übung unsrer Tapferkeit ein Feind, Zur Übung der Geduld, ein Freund gegeben. Dazu genießen 86, 281, 355, 440, 1625, 2769.
Genuß 268, 476, 3049.
von des erst des
2. Die Einstellung zu den Werten des Lebens
35
ANTONIO
des Lebens Mühe Lehrt uns allein des Lebens Güter schätzen. So jung hat er zu vieles schon erreicht 2951 Als daß genügsam er genießen könnte. 1 E s zeigt sich also, daß auch die Vorstellung des Genießens einen festen Bestandteil der in diesem höfischen Kreise herrschenden Lebensauffassung ausmacht. Den Gegenpol zu dem Begriff des Genießens bildet der des E n t b e h r e n s , und in der gegenseitigen antithetischen Bezogenheit dieser beiden Wörter erlangt eine Erscheinung Einfluß auf die Gliederung des Wortschatzes, die bisher im Gebrauch der Einzelwörter Glück und Welt bemerkt werden konnte und auch weiterhin zu beachten sein wird; die Erscheinung nämlich, daß Dinge, denen sich das Lebensgefühl in gesteigertem Maße zuwendet, zugleich entschieden in Frage gestellt werden. Wie dort in dem Motiv der Fragwürdigkeit des Glücks und in den Äußerungen eines beeinträchtigten Verhältnisses zur Welt, so zeigt sich hier in der Betonung des Entbehrens gegenüber dem Genießen ein erschüttertes Lebensgefühl an, und wiederum häufen sich die Zeugnisse dafür vor allem im Sprachgebrauch der Prinzessin : 1773 So nimm ihn weg, und, soll ich ihn entbehren, Vor allen andern sey er dir gegönnt! Wenn Freunde, wenn Geschwister Bey Fest und Spiel gesellig sich erfreuten, Hielt Krankheit mich auf meinem Zimmer fest, Und in Gesellschaft mancher Leiden m u ß t ' 1806 Ich früh entbehren lernen. Ach, meine Freundinn! Zwar ich bin entschlossen, E r scheide nur; allein ich fühle schon Den langen ausgedehnten Schmerz der Tage, wenn 1856 Ich nun entbehren soll was mich erfreute 2 . 1
Ferner genießen 505; ähnlich auch in den Wendungen 'Genuß der schönen elt' 1004 und 'der freyen Welt genießen' 3058. W 2 Ferner 1816, auch 1844. — Abseits dieses Wortgebrauches, wenn auch in einem inneren Zusammenhange mit ihm, stehen die Anwendungen im Sinne der freiwillig geübten Entbehrung: 1122, 1147.
36
JOHANNES MANTEY
Daneben begegnet das Wort in einem weniger tief in die gesamte Lebensstimmung eingreifenden Sinne 1 , wobei aber seine Eigenschaft als tragender Begriff innerhalb der Vorstellungswelt des 'Tasso' unberührt bleibt und gelegentlich noch durch das Mittel der Wiederholung einprägsam unterstrichen wird: ANTONIO
Und von der Gunst der Frauen sagst du nichts, Die willst du mir doch nicht entbehrlich schildern? LEONORE
2059 Wie man es nimmt. Denn du entbehrst sie nicht, Und leichter wäre sie dir zu entbehren, Als sie es jenem guten Mann nicht ist. Die gleiche Art der Hervorhebung verbindet sich an anderer Stelle mit der ausdrücklichen antithetischen Koppelung der Wörter entbehren und genießen, Genuß: PRINZESSINN
1725 Du willst dich in Genuß, o Freundinn, setzen, Ich soll entbehren; heißt das billig seyn? LEONORE
Entbehren wirst du nichts als was du doch In diesem Falle nicht genießen könntest. Auch sonst erweist sich der enge Zusammenhang der in diesem Abschnitt behandelten Wörter darin, daß sie mehrfach innerhalb der einzelnen Belegstellen aufeinander bezogen erscheinen2, und wie die folgende Stelle zeigt, bilden die Vorstellungen des Gutes, des Genießens, Entbehrens und Besitzens geradezu ein geschlossenes System zueinander in Wechselbeziehung stehender Begriffe: ALPHON S
Wer früh erwirbt, lernt früh den hohen Werth 504 Der holden Güter dieses Lebens schätzen; Wer früh genießt, entbehrt in seinem Leben Mit Willen nicht was er einmal besaß; Und wer besitzt, der muß gerüstet seyn. Vgl. 571 und 1927; blasser 47. Genuß: Besitz 476; genießen 2951: Gut 2949; Gut 2045: besitzen 2046; Gut 1027: besitzen 1028; Gut 1045: Besitz 1044. 1
2
3. Die Wertung des Menschen
37
I n diesen Versen ist als Lebensmaxime ausgesprochen, was sich im Gebrauch der einzelnen Wörter dieser Gruppe ausdrückt; sie fassen die Elemente einer Lebensansicht zusammen, f ü r die die Zuwendung zu den Werten des Daseins, ihr Besitz u n d ihr Genuß ein Prinzip der Lebensgestaltung bedeutet. Von hier aus fällt n u n im Rückblick auch weiteres Licht auf die Stellung, die die Wörter G l ü c k u n d W e l t im Wortschatz des 'Tasso' einnehmen. Anknüpfungspunkte im einzelnen ergeben sich bereits daraus, daß einerseits das W o r t Glück in bestimmten Verwendungen, ähnlich wie das W o r t Gut, auf besondere Lebenswerte bezogen erscheint 1 , u n d daß andererseits die Schönheit u n d Fülle der 'Welt' als eine Quelle des Lebensgenusses dargestellt wird. 2 Wichtiger sind jedoch die Beziehungen, die zu diesen beiden Wörtern in ihrer Gesamtauffassung bestehen. Als allgemeine Leitbegriffe der Lebensorientierung vergegenwärtigen sie die Grundtendenzen des Glücksstrebens u n d der Weltzuwendung. Deren besonderen I n h a l t machen aber zum guten Teil eben jene Prinzipien der Lebensgestaltung aus, die in der vorliegenden Gruppe von Wörtern durch die Begriffe des Gutes, des Besitzens, des Genießens u n d Entbehrens u n d ihre spezifische Gebrauchsweise gekennzeichnet sind. Über den Gebrauch der Einzelwörter hinaus deutet sich hierin ein Sinnzusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern des themabezogenen Wortschatzes an, der in der Einheit des Lebensgefühls begründet ist, als dessen sprachliche Reflexe diese Wörter erscheinen. 3. Die Wertung des Menschen Eine weitere Gruppe von Wörtern, die dem Wortschatz des 'Tasso' kennzeichnende Züge verleihen, u m f a ß t Begriffe, die der Wertung der menschlichen Persönlichkeit dienen. I n ihrem gehäuften u n d betonten Gebrauch spricht sich die starke Beachtung aus, die der menschlichen Bedeutung im Lebenskreis des 'Tasso' gewidmet wird. So ist besonders im Gebrauch des Wortes W e r t eine Neigung zu erkennen, den Gesichtspunkt des Persönlichkeitswertes sehr nachdrücklich u n d sehr bewußt auf die Beurteilung der Menschen anzuwenden: LEONORE
Die Freundschaft ist gerecht, sie k a n n allein 98 Den ganzen U m f a n g deines Werths erkennen. 1
S. oben 84 und 931 (S. 17) sowie 901 und 1813. - (An Vers 84 'Gär oft beneid' ich dich um dieses Glück' schließt sich 85 f. 'Das du, wie wenig andre, still und rein / Genießest'; auf 'Glück' 1813 bezieht sich mittelbar 'entbehren' 1816.) 2 S. oben (S. 24f.) 1004 (: Genuß), 3058 (¡genießen) und 409,' 855, 1871.
3. Die Wertung des Menschen
37
I n diesen Versen ist als Lebensmaxime ausgesprochen, was sich im Gebrauch der einzelnen Wörter dieser Gruppe ausdrückt; sie fassen die Elemente einer Lebensansicht zusammen, f ü r die die Zuwendung zu den Werten des Daseins, ihr Besitz u n d ihr Genuß ein Prinzip der Lebensgestaltung bedeutet. Von hier aus fällt n u n im Rückblick auch weiteres Licht auf die Stellung, die die Wörter G l ü c k u n d W e l t im Wortschatz des 'Tasso' einnehmen. Anknüpfungspunkte im einzelnen ergeben sich bereits daraus, daß einerseits das W o r t Glück in bestimmten Verwendungen, ähnlich wie das W o r t Gut, auf besondere Lebenswerte bezogen erscheint 1 , u n d daß andererseits die Schönheit u n d Fülle der 'Welt' als eine Quelle des Lebensgenusses dargestellt wird. 2 Wichtiger sind jedoch die Beziehungen, die zu diesen beiden Wörtern in ihrer Gesamtauffassung bestehen. Als allgemeine Leitbegriffe der Lebensorientierung vergegenwärtigen sie die Grundtendenzen des Glücksstrebens u n d der Weltzuwendung. Deren besonderen I n h a l t machen aber zum guten Teil eben jene Prinzipien der Lebensgestaltung aus, die in der vorliegenden Gruppe von Wörtern durch die Begriffe des Gutes, des Besitzens, des Genießens u n d Entbehrens u n d ihre spezifische Gebrauchsweise gekennzeichnet sind. Über den Gebrauch der Einzelwörter hinaus deutet sich hierin ein Sinnzusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern des themabezogenen Wortschatzes an, der in der Einheit des Lebensgefühls begründet ist, als dessen sprachliche Reflexe diese Wörter erscheinen. 3. Die Wertung des Menschen Eine weitere Gruppe von Wörtern, die dem Wortschatz des 'Tasso' kennzeichnende Züge verleihen, u m f a ß t Begriffe, die der Wertung der menschlichen Persönlichkeit dienen. I n ihrem gehäuften u n d betonten Gebrauch spricht sich die starke Beachtung aus, die der menschlichen Bedeutung im Lebenskreis des 'Tasso' gewidmet wird. So ist besonders im Gebrauch des Wortes W e r t eine Neigung zu erkennen, den Gesichtspunkt des Persönlichkeitswertes sehr nachdrücklich u n d sehr bewußt auf die Beurteilung der Menschen anzuwenden: LEONORE
Die Freundschaft ist gerecht, sie k a n n allein 98 Den ganzen U m f a n g deines Werths erkennen. 1
S. oben 84 und 931 (S. 17) sowie 901 und 1813. - (An Vers 84 'Gär oft beneid' ich dich um dieses Glück' schließt sich 85 f. 'Das du, wie wenig andre, still und rein / Genießest'; auf 'Glück' 1813 bezieht sich mittelbar 'entbehren' 1816.) 2 S. oben (S. 24f.) 1004 (: Genuß), 3058 (¡genießen) und 409,' 855, 1871.
38
JOHANNES MANTEY
PRINZESSINN
Es sey ein Urtheil über einen Mann Iis Der alten Zeit und seiner Thaten Werth; ANTONIO
1291 Ich gönne jeden Werth und jedes Glück Dir gern, allein ich sehe nur zu sehr Wir stehn zu weit noch von einander ab. TASSO
1294 Es sey an Jahren, an geprüftem Werth: An frohem Muth und Willen weich ich keinem. TASSO
Und wiegt denn er allein 2790 Die Schaale meines Werths und aller Liebe, Die ich so reichlich sonst besessen, a u f ? 1 In ähnlichem Sinne wirkt es sich aus, daß der Gedanke, jemandes oder einer Sache w e r t oder w ü r d i g zu sein, durch die reichliche Verwendung dieser Adjektive immer erneut ins Bewußtsein gehoben wird: LEONORE
Um deinen Bruder und um dich verbinden 62 Gemüther sich, die eurer würdig sind, 63 Und ihr seyd eurer großen Väter werth. TASSO
902 Ist denn kein Herz mehr werth daß sie sich ihm Vertrauen dürfte, kein Gemüth dem ihren Mehr gleich gestimmt ? TASSO
Voreiliger, warum verbarg dein Mund 1179 Nicht das was du empfandst, bis du dich werth Und werther ihr zu Füßen legen konntest? TASSO
13« Die Krone der mein Fürst mich würdig achtete, Die meiner Fürstinn Hand f ü r mich gewunden, Soll keiner mir bezweifeln noch begrinsen! 1 Dazu 210, 786, 1199, 1600. Vgl. Unwert 841. (Die übrigen Belegstellen beziehen sich meist auf Lebensgüter im Sinne des vorangehenden Abschnitts: 51, 403, 503, 1203, 2042, 2405, 3094.)
3. Die Wertung des Menschen
39
TASSO
Es soll mein Geist aufs neue sich erheben, Und auf dem Wege den ich froh und kühn, Durch deinen Blick ermuntert, erst betrat, 3003 Sich deiner Gunst aufs neue würdig machen. 1 Zusammengenommen zeigen die Anwendungen dieser drei Wörter, daß die Vorstellungen des Persönlichkeitswertes und der Würdigkeit im Denken der handelnden Personen eine sehr bevorzugte Stellung einnehmen. Sie sind der Ausdruck einer Denkweise, die mit der entschiedenen Forderung an den Menschen herantritt, den Wertansprüchen seines Lebenskreises zu genügen, wobei diese Ansprüche, dem höfischen Charakter dieses Lebenskreises entsprechend, sich auf sehr allgemeingültige, gleichsam offizielle und repräsentative menschliche Vorzüge richten. Diesen offiziellen und repräsentativen Charakter zeigen außer den Begriffen des Wertes und der Würdigkeit vor allem auch die Wörter V e r d i e n s t und R u h m , die ebenfalls im Sprachgebrauch des 'Tasso' merklich hervortreten: LEONORE
157 Ich ehre jeden Mann und sein Verdienst Und ich bin gegen Tasso nur gerecht. TASSO
Wer mag der Abgeschiedne seyn? Der Jüngling Aus der vergangnen Zeit ? So schön bekränzt ? 541 Wer sagt mir seinen Nahmen ? Sein Verdienst ? ANTONIO
Das Glück erhebe billig der Beglückte! i3ii E r dicht ihm hundert Augen f ü r ' s Verdienst Und kluge Wahl und strenge Sorgfalt an 2 PRINZESSINN
Ich höre gern dem Streit der Klugen zu 129 Gern wenn die fürstliche Begier des Ruhms, Des ausgebreiteten Besitzes Stoff Dem Denker wird 1 Dazu wert 497, 1150, 2226. würdig 14, 258, 525, 2641, 3024, auch 604, 807 und in substantivierten Anwendungen 1282, 1299. (Anders wert 1338, 1954, 2166.) 2 Dazu 742, 828, 2025, 2203, 2759.
40
JOHANNES
MANTEY
TASSO
Wir können uns im stillen Herzen sagen: Erreichst du einen Theil von seinem Werth, 787 Bleibt dir ein Theil auch seines Ruhms gewiß. LEONORE
Dein Lorber ist das fürstliche Vertraun Das auf den Schultern dir, als liebe Last Gehäuft und leicht getragen r u h t ; es ist 2056 Dein Ruhm das allgemeine Zutraun. 1 Als wertende Begriffe sind schließlich noch die Adjektive g r o ß , e d e l und g u t zu nennen, von denen aber die beiden ersteren, obgleich sie reich vertreten sind, nur bedingt als charakteristisch f ü r den Wortgebrauch, des 'Tasso' in Anspruch genommen werden können; denn ein Vergleich mit dem Sprachgebrauch der 'Iphigenie' zeigt, daß sie dort, im Gegensatz zu den bisher angeführten Wörtern, annähernd ebenso häufig und in sehr ähnlicher Verwendung anzutreffen sind. Demgegenüber begegnet das Wort gut im 'Tasso' zwar auch nicht häufiger als in der 'Iphigenie', jedoch in durchaus spezifischen Anwendungen. 2 Das Wort g r o ß , sofern es auf menschliche Bedeutung im weitesten Sinne bezogen ist, wird in beiden Dichtungen gleichermaßen vor allem auf seelische Größe angewendet 3 und verbindet sich besonders mit den Substantiven Seele 4 , Herz 5 , Gemüt 6 und Sinn 7 . Daneben begegnet in der 'Iphigenie' mehrfach die Verbindung 'große T a t ' 8 und schließlich die Anwendung des Wortes 1
Dazu 291, 295, 442, 496, 705, 1155, 1564, 2639. Die nachstehenden Zahlen geben die Häufigkeit der einzelnen Wörter ohne Rücksicht auf die Art ihres Gebrauches an. — Hier und im folgenden bezeichnen die nicht in Klammern gesetzten Ziffern die absoluten Häufigkeitswerte in der 'Iphigenie' und im 'Tasso'. D a jedoch die Verszahl des 'Tasso' (3453) die der 'Iphigenie' (2173) um etwa die Hälfte übertrifft, wird der absoluten Häufigkeitsziffer der 'Iphigenie' zum bequemeren Vergleich stets die (um die Hälfte höhere) relative Ziffer in Klammern beigefügt: groß Tasso 32, Iphigenie 22 (33); edel T. 38,1. 21 (32); gut T. 37,1. 26 (39). - Wert T. 16,1. 2 (3); wert T. 10,1. 3 (5); würdig T. 12, I. 2 (3); Verdienst T. 8, I. 0; Ruhm T. 11, I. 2 (3). 3 Vgl. Iph. 320; Tasso 1323, 2616. 4 Iph. 181, 1076; Tasso 557. 6 Iph. 270; Tasso 1784, 1788. 6 Tasso 1356. 7 Tasso 1793. 8 666, 682, 1364. Vgl. 734 und 1895. 2
3. Die Wertung des Menschen
41
im Sinne von 'bedeutend', 'gewaltig' auf Agamemnon 1 , Jupiter 2 und den Stamm der Tantaliden 3 , während im 'Tasso' bei ähnlichem Gebrauch mehr die historische Größe, der Rang oder die Weltbedeutung durch das Wort groß gekennzeichnet werden : LEONORE
75 Italien nennt keinen großen Nahmen Den dieses Haus nicht seinen Gast genannt. LEONORE
Und dich mit deiner Schwester ehrt die Welt 103 Vor allen großen Frauen eurer Zeit TASSO
Mich dünkt hier ist die Hoheit erst an ihrem Platz. Der Seele Hoheit! Darf sie sich der Nähe 1352 Der Großen dieser Erde nicht erfreun ? TASSO
Es waren die Gestalten jener Welt, Die sich lebendig, rastlos, ungeheuer 792 Um Einen großen, einzig klugen Mann Gemessen dreht 4 Auch in der Auffassung menschlicher Größe als Weltgeltung spricht sich der erwähnte offizielle und repräsentative Charakter der Wertmaßstäbe im 'Tasso' aus, und zugleich ist darin dieselbe Grundhaltung der Weltverbundenheit zu erkennen, die den Gebrauch des Wortes Welt bestimmt und auch in den folgenden, in einem entfernteren Sinne hierhergehörigen Stellen hervortritt: LEONORE
51 Groß ist Florenz und herrlich, doch der Werth Von allen seinen aufgehäuften Schätzen Reicht an Ferraras Edelsteine nicht. Das Volk hat jene Stadt zur Stadt gemacht 55 Ferrara ward durch seine Fürsten groß. 1 2 3 4
41, 421, 2039. 321. 976. Dazu 664, 2634, 3022.
42
JOHANNES
MANTEY
ALPHON S
2843 Das hat Italien so groß gemacht Daß jeder Nachbar mit dem andern streitet Die Bessern zu besitzen, zu benutzen.1 Die übrigen Belegstellen im 'Tasso' beziehen sich zum überwiegenden Teil nur sehr mittelbar auf menschliche Größe und lassen ihrer Verschiedenartigkeit wegen keine zusammenfassende Deutung zu. Auch in der Anwendung des Wortes edel stimmt der Sprachgebrauch der 'Iphigenie' mit dem des 'Tasso' weitgehend überein; in beiden Werken wird das Wort vornehmlich auf Gesinnung, Charakter und Handlungsweise des Menschen bezogen.2 Gewisse Unterschiede, auf die hier jedoch kein Wert gelegt werden soll, zeigen sich nur in der feineren Abtönung des Gebrauchs. So scheint im 'Tasso' eine in höherem Maße wertende Haltung vorzuherrschen, während das Wort in der 'Iphigenie' als mehr beiläufig charakterisierendes Adjektiv ohne erhebliches Gewicht verwendet wird. Von stärkerer Eigenart ist hingegen der Gebrauch des Wortes gut. In der 'Iphigenie' wird es nur in vereinzelten und wenig ausgeprägten Anwendungen wertend auf Menschen bezogen3, im 'Tasso' treten jedoch die Ausdrücke 'guter Mensch' und 'die Guten' merklich aus dem indifferenten Gebrauch hervor: LEONORE
80 Die Stätte, die ein guter Mensch betrat Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt Sein Wort und seine That dem Enkel wieder. TASSO
Dich ruf ich in der Tugend Nahmen auf, 1275 Die gute Menschen zu verbinden eifert.4 PRINZESSINN
Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbey: 996 Allein die Guten bringen sie zurück; PRINZESSINN
•
• j
••
-L
J
sie sind vernünftig beyde, Sind edel, unterrichtet, deine Freunde; 1685 Und welch ein Band ist sichrer als der Guten ? 5 Vgl. auch 648. Anders: Iph. 160, 2041; Tasso 842, 1053, 2525, 2958. - I n der Anrede: Tasso 1266, 1285, 2047, 3434. s 357, 555, 632, 715. 1 Dazu 56, 1007, 1286. (Anders 3146.) 5 Dazu 441. 1 2
3. Die Wertung des Menschen
43
Hierzu treten noch die Anwendungen, in denen 'das Gute' als Ziel des menschlichen Strebens aufgefaßt wird: ANTONIO
Zufriedenheit, Erfahrung und Verstand Und Geisteskraft, Geschmack und reiner Sinn 718 Für's wahre Gute, geistig scheinen sie I n seinen Liedern und persönlich doch Wie unter Blüthen-Bäumen auszuruhn TASSO
Doch glaube nur, es horcht ein stilles Herz Auf jedes Tages, jeder Stunde Warnung, 1235 Und übt sich in geheim an jedem Guten Das deine Strenge neu zu lehren glaubt. TASSO leicht hab' ich dich erkannt: 1252 Ich weiß daß du das Gute willst und schaffst. Gut zu sein und das Gute zu erstreben gehört also, wie der sehr ausgeprägte Gebrauch des Wortes zeigt, zu den Forderungen an den Menschen, denen im 'Tasso' besonders starkes Gewicht beigemessen wird. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Bezeichnungen menschlichen Wertes im 'Tasso' in sehr reicher und betonter Verwendung anzutreffen sind und von einer Denkweise zeugen, die den Persönlichkeitswert und seine Äußerungen mit besonderem Nachdruck hervorzuheben trachtet. Legt man einen Vergleich mit dem Sprachgebrauch der 'Iphigenie' zugrunde, so ergibt sich, daß wertende Begriffe wie groß und edel, die in der 'Iphigenie' reich vertreten sind, im 'Tasso' nicht minder stark hervortreten, daß aber darüber hinaus in dieser Dichtung mehrere in der 'Iphigenie' nur schwach bezeugte Wertbegriffe das sprachliche Bild dieses Sinnbezirks beherrschen, denen höfisch-offizielle, repräsentative Wertmaßstäbe zugrunde liegen. Wiederum ist hervorzuheben, daß alle diese Wörter nicht an bestimmte Situationen der Handlung gebunden sind, sondern daß sie, durch den ganzen Text hin immer wiederkehrend, gemeinsam einen f ü r die Sinnesart der handelnden Personen charakteristischen Vorstellungsbereich repräsentieren. I n einem entfernteren Sinne sind den wertenden Begriffen des 'Tasso' noch die bemerkenswert häufigen Wörter k l u g und K l u g h e i t anzufügen. 1 1 klug begegnet im 'Tasso' 35mal, also im Durchschnitt je einmal in 100 Versen, und in der 'Iphigenie' 8mal (645, 741, 925, 950, 1398, 1569, 1867, 1873); Klugheit i m 'Tasso' 7mal und in der 'Iphigenie' 3mal (742, 766, 1839).
44
JOHANNES
MANTEY
Sie zielen zwar nicht auf die Wertung der menschlichen Gesamtpersönlichkeit ab, heben aber eine Eigenschaft hervor, deren hohe Einschätzung für den Menschenkreis des 'Tasso' sehr kennzeichnend ist. Ein Teil der Belegstellen gehört dem Lebensbereich der Staatskunst an : ANTONIO
Es ist nicht mein Betragen, meine Kunst, Durch die ich deinen Willen, Herr, vollbracht. 6oo Denn welcher Kluge fand' im Vatikan Nicht seinen Meister ? ANTONIO
Es ist kein schönrer Anblick in der Welt 640 Als einen Fürsten sehn der klug regiert; TASSO
.
w
,,
jener Welt, Die sich lebendig, rastlos, ungeheuer 792 Um Einen großen, einzig klugen Mann Gemessen dreht und ihren Lauf vollendet, Den ihr der Halbgott vorzuschreiben wagt. LEONORE
,
. ,
,
,
scheint es doch Du kommst aus einem Lager, einer Schlacht, Wo die Gewalt regiert, die Faust entscheidet, 1970 Und nicht von Rom, wo feyerliche Klugheit Die Hände segnend hebt, und eine Welt Zu ihren Füßen sieht, die gern gehorcht.1 Wie aber überhaupt im 'Tasso' das Denken der handelnden Personen dem Leben der 'Welt' verhaftet ist, so geht auch hier die hohe Bewertung der Staatsklugheit mit der Wertschätzung der Klugheit im persönlichen Leben Hand in Hand. Einerseits sind in diesem Zusammenhang die Stellen zu nennen, die sich auf die gebildete Geselligkeit des Renaissancehofes beziehen: PRINZESSINN
125 Ich höre gern dem Streit der Klugen zu, Wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust So freundlich und so fürchterlich bewegen, Mit Grazie die Rednerlippe spielt 2 ; 1
Dazu klug 429, 435, 1508. Vgl. auch 2842. - Klugheit 433.
2
Vgl. 116.
3. Die Wertung des Menschen
45
TASSO
Alphons hat mich zuerst begeistert, wird Gewiß der letzte seyn der mich belehrt. 2650 Und deinen Rath, den R a t h der klugen Männer Die unser Hof versammelt schätz' ich hoch. Andererseits aber werden die Wörter klug und Klugheit mit auffälliger Häufigkeit in Zusammenhängen gebraucht, die den persönlichen Umgang der handelnden Personen betreffen: TASSO
Voreiliger, warum verbarg dein Mund Nicht das was du empfandst, bis du dich werth und werther ihr zu Füßen legen konntest ? ii8i Das war dein Vorsatz, war dein kluger Wunsch. ANTONIO
T
,
.. , ,
Ich mochte gern Nicht übereilt und nicht undankbar scheinen: 1208 Laß mich f ü r beyde klug und sorgsam seyn. TASSO
1209 Wer wird die Klugheit tadlen ? Jeder Schritt Des Lebens zeigt wie sehr sie nöthig sey; Doch schöner ist 's wenn uns die Seele sagt Wo wir der feinen Vorsicht nicht bedürfen. ANTONIO
Du sagst nicht alles, sagst nicht was er wagt, 2094 Und daß er klüger ist als wie man denkt. LEONORE
Dein Gleichmuth, der erträgt was zu ertragen Der Edle bald der Eitle selten lernt, 2249 Die kluge Herrschaft über Zung und Lippe ? — Mein theurer Freund, fast ganz verkenn' ich dich. 1 Schon aus den vorstehenden Belegstellen ist zu ersehen, daß die Wörter klug und Klugheit in solcher Verwendung eine sehr charakteristische Eigenart der zwischenmenschlichen Beziehungen im 'Tasso' hervorheben. Sie kennzeichnen das Fehlen der Unbefangenheit und Unmittelbarkeit in diesen 1
Dazu klug 1248, 2209, 2298. Auch 1416, 1419, 1620, 2389.
46
JOHANNES
MANTEY
Beziehungen und vergegenwärtigen eine Neigung dieser Menschen, einander mit Vorsicht, Berechnung und inneren Vorbehalten gegenüberzutreten. In mehreren Fällen greift der Wortsinn dabei in das Gebiet des Dolosen über: LEONORE
Er spricht mit Achtung oft genug von dir. TA SSO
2308 Mit Schonung willst du sagen, fein und klug. Und das verdrießt mich eben; denn er weiß So glatt und so bedingt zu sprechen, daß Sein Lob erst recht zum Tadel wird und daß Nichts mehr, nichts tiefer dich verletzt als Lob Aus seinem Munde. TASSO
Tyy .
Nein, sie war Und bleibt ein listig Herz, sie wendet sich 2497 Mit leisen klugen Tritten nach der Gunst. 1 Daß aber solche Äußerungen nicht allein ein Ausfluß von Tassos übersteigertem Argwohn sind, sondern die Möglichkeit dolosen Verhaltens ständig vermutet wird und die menschliche Atmosphäre des 'Tasso' in hohem Grade mitbestimmt, wird aus der folgenden Stelle deutlich: PRINZESSINN
131
(Ich höre gern dem Streit der Klugen zu) und wenn die feine Klugheit, Von einem klugen Manne zart entwickelt, Statt uns zu hintergehen uns belehrt.
Es kommt freilich hinzu, daß diese Worte wohl aus einer der Seelenlage Tassos verwandten Stimmung heraus gesprochen sind, die das Mißtrauen der 'Welt' gegenüber auf die weltverhaftete Eigenschaft der Klugheit ausdehnt. Andererseits darf es nicht übersehen werden, daß der Antagonismus zwischen Tasso und Antonio sich auch dem Gebrauch der Wörter klug und Klugheit aufprägt. Es finden sich, ähnlich wie im Gebrauch des Wortes W e l t , 1
Dazu 2488, 2752.
3. Die Wertung des Menschen
47
Unmutsäußerungen Tassos, die sich hier teils gegen den prätentiösen Rationalismus seines Gegenspielers wenden, der Tassos Künstlernatur zutiefst fremd bleiben muß, teils aber auch das Fehlen gescheiter Weltgewandtheit als empfindlichen Mangel bedauern: 2289 Verdrießlich fiel mir stets die steife Klugheit Und daß er immer nur den Meister spielt. Anstatt zu forschen ob des Hörers Geist Nicht schon f ü r sich auf guten Spuren wandle, Belehrt er dich von manchem das du besser Und tiefer fühltest, und vernimmt kein Wort Das du ihm sagst, und wird dich stets verkennen. Ich kann ihm wohl verzeihen, er nicht mir; Und sein bedarf man, leider! meiner nicht. 2393 Und er ist klug, und leider! bin ichs nicht. Er wirkt zu meinem Schaden, und ich kann Ich mag nicht gegenwirken. 1 Der innere Zusammenhang mit den gleichsinnigen Anwendungen des Wortes Welt ist auch daran zu erkennen, daß eine dieser Äußerungen sich gegen die staatsmännische Gestalt des Papstes Gregor wendet, die ja im 'Tasso' die dem künstlerischen Wesen entgegengesetzte Macht der Weltklugheit symbolisiert: ioii Wir sehn ja, dem Gewaltigen, dem Klugen Steht alles wohl, und er erlaubt sich alles. An dieser engen Bezogenheit auf das .Thema der Dichtung, die 'Disproportion des Talents mit dem Leben', zeigt sich die volle Sinnschwere, die dem begrifflichen Gehalt der Wörter klug und Klugheit in der gedanklichen Organisation des 'Tasso' zukommt, und es ist sehr bezeichnend, daß in ihrer Anwendung die gleiche Zwiespältigkeit hervortritt, die im Gebrauch der Wörter Glück und Welt zu beobachten ist und hier wie dort der Zwiespältigkeit des Lebensgefühls Ausdruck verleiht. Die übrigen, hier nicht angeführten Belegstellen der beiden Wörter zeigen keine Besonderheiten, die f ü r die Interpretation heranzuziehen wären, tragen aber dazu bei, die Bedeutung dieser ebenso geschätzten wie suspekten Eigenschaft durch immer wiederholte Betonung hervorzuheben. 1
4
Dazu 3367.
Afantey
48
JOHANNES MANTEY
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer
Hinsicht
Während die im vorangehenden Abschnitt behandelten Ausdrücke die Funktion haben, nicht nur die Bedeutung bestimmter menschlicher Vorzüge zu betonen, sondern gewöhnlich auch ihr Vorhandensein zu bestätigen und anzuerkennen, bezieht sich die nunmehr zu erörternde Gruppe von Wörtern auf ein sittliches Gebot, dessen Erfüllung, und zwar durch Tasso gerade in Frage steht. Es ist das Gebot der Mäßigung, das Tasso durch die Maß- und Hemmungslosigkeit seines Verhaltens aufs schwerste verletzt. Sprachlicher Ausdruck dieser Forderung ist das Wort m ä ß i g mit seinen Ableitungen m ä ß i g e n und M ä ß i g u n g , während das gegenteilige Verhalten gemeinsam durch die Wörter h e f t i g , H e f t i g k e i t , G e w a l t , g e w a l t s a m und r o h , dann aber auch, in subjektiver Sicht, durch f r e i und F r e i h e i t wiedergegeben wird. Entsprechend der Funktion des Wortes m ä ß i g und seiner Ableitungen im Sinnganzen der Dichtung wird in der Mehrzahl der Belegstellen das. Gebot der Mäßigung an Tasso gerichtet und auch von ihm selbst als Postulat anerkannt: PRINZESSINN
Nicht weiter, Tasso! Viele Dinge sind's Die wir mit Heftigkeit ergreifen sollen: 1121 Doch andre können nur durch Mäßigung Und durch Entbehren unser eigen werden. So sagt man sey die Tugend, sey die Liebe Die ihr verwandt ist. Das bedenke wohl! TASSO
0 nimm mich, edler Mann, an deine Brust Und weihe mich, den raschen, unerfahrnen, 1268 Zum mäßigen Gebrauch des Lebens ein. PRINZESSINN
Wenn ich dich, Tasso, länger hören soll, 3266 So mäßige die Glut die mich erschreckt. 1 Daneben wird jedoch, wie es bei den Wertbegriffen des vorigen Abschnittes, der Fall ist, die Bedeutung des Begriffes 'mäßig' durch den allgemeinen Gebrauch des Wortes unterstrichen: 1
Dazu 1147 und (s. unten S. 50) 2680. Vgl. ungemäßigt 2918.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
49
ANTONIO
Mir war es lang bekannt daß im Belohnen Alphons unmäßig ist, und du erfährst Was jeder von den Seinen schon erfuhr. PRINZESSINN
Wenn du erst siehst was er geleistet hat, 701 So wirst du uns gerecht und mäßig finden. 658
ANTONIO
Still und mäßig weiß Gregor Den Seinigen zu nutzen, die dem Staat Als wackre Männer dienen ANTONIO
Es ist gefährlich wenn man allzulang 1976 Sich klug und mäßig zeigen muß. Es lauert Der böse Genius dir an der Seite Und will gewaltsam auch von Zeit zu Zeit Ein Opfer haben.1 Die Wörter h e f t i g , G e w a l t und roh mit ihren Ableitungen sind wesentlich schwächer belegt; sie erhalten aber dadurch ihre Bedeutung, daß sie einerseits in den hierhergehörigen Anwendungen nur auf Tasso oder den Streit der beiden Gegenspieler bezogen erscheinen und zugleich mit dem Begriff der Mäßigung sowie dem übergeordneten der Sitte in Antithese zu stehen pflegen, und daß sie andererseits in gleichsinnigem Gebrauch gemeinsam den Gegensatz des Begriffes mäßig ausdrücken. Die Wörter h e f t i g und H e f t i g k e i t beziehen sich ausschließlich auf Tassos Gemütsart 2 : ANTONIO
Auf einmal, wie ein unbemerkter Funke Die Mine zündet, sey es Freude, Leid, 2126 Zorn oder Grille, heftig bricht er aus: Dann will er Alles fassen, Alles halten, Dann soll geschehen was er sich denken mag; 1 2 4*
Ferner 733. Vgl. ohne Maß 1997. Abweichend heftig 841.
50
JOHANNES
MANTEY
ANTONIO
Gewürze, süße Sachen, stark Getränke, Eins um das andre schlingt er hastig ein, Und dann beklagt er seinen trüben Sinn, 2893 Sein feurig Blut, sein allzuheftig Wesen, Er schilt auf die Natur und das Geschick. Dabei ist es sehr bezeichnend, daß das Wort Heftigkeit an allen drei Stellen seines Vorkommens mit dem Etymon mäßig in Antithese steht: ANTONIO
Der Mäßige wird öfters kalt genannt Von Menschen, die sich warm vor andern glauben, Weil sie die Hitze fliegend überfällt. TASSO
Du tadelst was ich tadle, was ich meide. Auch ich verstehe wohl, so jung ich bin, 1228 Der Heftigkeit die Dauer vorzuziehn. ANTONIO
2677 Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende Was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt. Es fordert meine Pflicht, so viel ich kann Die Hast zu mäß'gen die dich übel treibt. 1 G e w a l t und g e w a l t s a m beziehen sich stets direkt oder indirekt auf die Auseinandersetzung zwischen Tasso und Antonio 2 : ANTONIO
Du zeigst mir selbst mein Recht dich zu verschmähn! Der übereilte Knabe will des Mann's 1364 Vertraun und Freundschaft mit Gewalt ertrotzen? Unsittlich wie du bist hältst du dich gut ? LEONORE
Du bringst uns Krieg statt Frieden; scheint es doch Du kommst aus einem Lager, einer Schlacht, 1969 Wo die Gewalt regiert, die Faust entscheidet 1 2
Dazu der eingangs zitierte Beleg für Mäßigung (1121: Heftigkeit 1120). Abweichend: Gewalt 408, 3274. gewaltsam 176, 1075, 2230.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
51
Du hast mich hier Als einen wüthenden getroffen. Dieser Hat alle Schuld wenn ich mich schuldig machte. 1429 Er hat die Glut gewaltsam angefacht, Die mich ergriff und mich und ihn verletzte. Auch hier begegnet die antithetische Verbindung mit dem Worte mäßig: ANTONIO
Es ist gefährlich wenn man allzulang Sich klug und mäßig zeigen muß. Es lauert Der böse Genius dir an der Seite 1978 Und will gewaltsam auch von Zeit zu Zeit Ein Opfer haben. Schließlich ist hervorzuheben, daß alle drei Belege des Wortes r o h eine ausdrückliche antithetische Beziehung dieses Begriffes zu dem der Sittlichkeit erkennen lassen: TASSO
Hier dieser Mann, berühmt als klug und sittlich, H2o Hat roh und hämisch wie ein unerzogener Unedler Mensch sich gegen mich betragen. ANTONIO
Nun sehen wir nach langem schönem Frieden 1514 In das Gebiet der Sitten rohe Wuth Im Taumel wiederkehren. Der dritte Fall wird dadurch bemerkenswert, daß hier das Wort r o h durch das Wort g e w a l t s a m abgestuft ist und beide gemeinsam dem Begriff der F r e i h e i t zugeordnet erscheinen, der seinerseits dem Begriff der S i t t e antithetisch entgegengestellt wird: PRINZESSINN
Und wirst du die Geschlechter beyde fragen: Nach Freyheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte. TASSO
1023 Du nennest uns unbändig, roh, gefühllos ?
52
JOHANNES MANTEY PRINZESSINN
Nicht das! Allein ihr strebt nach fernen Gütern Und euer Streben muß gewaltsam seyn. Die Funktion der Freiheitsidee im Sinnganzen der Tassodichtung wird aus dieser Stelle vollkommen deutlich. Wie dem Begriff der Sittlichkeit sinngemäß das Postulat der Mäßigung unterzuordnen ist, so ergibt sich aus dem Prinzip der Freiheit ein gegen Mäßigung und Sitte verstoßendes, gewaltsames und im Extremfalle rohes Verhalten. Die wenigen, aber deutlichen auf diesen sittlichen Konflikt bezogenen Stellen der Wörter f r e i und F r e i h e i t bestätigen diese Auffassung und zeigen zugleich, daß - wie die Wörter heftig, gewaltsam und roh gemeinsam den objektiven Gegensatz zu dem Begriff der Mäßigung und Sitte bilden - aus Tassos Sicht heraus der Begriff der Freiheit den subjektiven Widerspart zu jenen beengenden Postulaten darstellt: TASS0
Tadle mich! Doch sage mir hernach wo ist der Mann? Die Frau ? mit der ich wie mit dir Aus freyem Busen wagen darf zu reden. PRINZESSINN
Du solltest meinem Bruder dich vertraun. TASSO
E r ist mein Fürst! - Doch glaube nicht daß mir 929 Der Freyheit wilder Trieb den Busen blähe. Der Mensch ist nicht gebohren frey zu seyn, Und f ü r den Edlen ist kein schöner Glück Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen. TASSO
Was du dir hier erlaubst, das ziemt auch mir. Und ist die Wahrheit wohl von hier verbannt ? 1348 Ist im Pallast der freye Geist gekerkert ? H a t hier ein edler Mensch nur Druck zu dulden ? TASSO 2305
Frey will ich seyn im Denken und im Dichten, I m Handeln schränkt die Welt genug uns ein.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
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Mehrere der übrigen Belegstellen zielen zwar nicht auf die sittliche Wertung des Freiheitsgedankens ab, rücken aber stattdessen die persönliche Voraussetzung von Tassos Freiheitsbedürfnis, die notwendige innere und äußere Ungebundenheit des schaffenden Künstlers, in den Vordergrund der Betrachtung : TASSO
Du warst allein der aus dem engen Leben 4i8 Zu einer schönen Freyheit mich erhob; Der jede Sorge mir vom Haupte nahm, Mir Freyheit gab daß meine Seele sich Zu muthigem Gesang entfalten konnte; LEONORE 2375
Du klagst anstatt zu danken. Wenn er dich I n unbedingter Freyheit lassen mag, So ehrt er dich wie er dich ehren kann.
Ebenso sind - im Gegensatz zu den übrigen auf Tassos H a f t bezogenen Stellen 1 — die beiden folgenden Belege aufzufassen: TASSO
O Fürst, es übergiebt dein ernstes Wort 1537 Mich Freyen der Gefangenschaft. Es sey! Du hältst es Recht. Dein heilig Wort verehrend, Heiß ich mein innres Herz im tiefsten schweigen. TASSO
Alphons ist kein Tyrann, er sprach mich frey. Wie gern gehorcht' ich seinen Worten sonst! Heut kann ich nicht gehorchen. Heute nur 2714 Laßt mich in Freyheit, daß mein Geist sich finde! Ich kehre bald zu meiner Pflicht zurück. Schließlich spricht sich derselbe Gedanke auch in dem Inhalte nach weiter ausgreifenden Anwendungen a u s 2 : ALPHONS
1
,
,
,
„ ,
wenn er den bunten Schwärm 246 Der Menschen flieht, und lieber frey im Stillen Mit seinem Geist sich unterhalten mag
frei 1663, 2555, 2692. Freiheit 1608, 1630, 2586. Nicht oder wenigstens nicht unmittelbar in diesen Zusammenhang gehören die Stellen 65, 356, 1050, 1303, 1989, 2282, 2437, 2552, 2704, 3058, 3067, 3273. 2
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JOHANNES MANTEY
TASSO
g Q ] ( j n e ^eit . . .)
98i Da auf der freyen Erde Menschen sich Wie frohe Heerden im Genuß verbreiteten; 992 Wo jeder Vogel in der freyen Luft Und jedes Thier durch Berg und Thäler schweifend Zum Menschen sprach: erlaubt ist was gefällt. TASSO Wo sind die Stunden hin, Die um dein Haupt mit Blumenkränzen spielten ? 2196 Die Tage wo dein Geist mit freyer Sehnsucht Des Himmels ausgespanntes Blau durchdrang ? Insgesamt hat sich aus den angeführten Stellen ergeben, daß die Wörter dieses Sinnbezirks einen ähnlichen — und kraft der stärkeren antithetischen Korresponsion noch dichter gefügten - Komplex aufeinander bezogener Begriffe bilden, wie die im zweiten Abschnitt behandelten Wörter Gut, besitzen, genießen und entbehren. S i t t e und F r e i h e i t bilden in diesem System die übergeordneten Prinzipien, denen auf der Seite des Verhaltens einerseits der Begriff der M ä ß i g u n g und andererseits die Begriffe h e f t i g , g e w a l t s a m und r o h entsprechen. Das ganze Gefüge dieser Wörter aber ist als sprachlicher Niederschlag des die Handlung des 'Tasso' bestimmenden sittlichen Konfliktes aufzufassen. Die restlichen Belege des Wortes f r e i führen in den Bereich derjenigen Begriffe, die bestimmte Züge des menschlichen Verhaltens unter psychologischem Aspekt festhalten. Dieser Bezirk zeigt nicht die innere Geschlossenheit, die das System der soeben behandelten Begriffe aufweist, sondern setzt sich aus miteinander nicht unmittelbar zusammenhängenden Wörtern zusammen, die sich aber auf zum Teil sehr wesentliche und typische psychologische Merkmale beziehen. Das Wort frei dient in diesem Zusammenhang dazu, den unfreien seelischen Zustand Tassos, seine Befangenheit in Argwohn und Verfolgungsvorstellungen, durch Andeutung des Gegensatzes zu kennzeichnen und zu betonen: ALPHON S Die Menschen fürchtet nur wer sie nicht kennt, Und wer sie meidet wird sie bald verkennen. Das ist sein Fall, und so wird nach und nach 313 Ein frey Gemüth verworren und gefesselt.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
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LEONORE
Du irrst gewiß, und wie du sonst zur Freude Von andern dichtest, leider dichtest du I n diesem Fall ein seltenes Gewebe Dich selbst zu kränken. Alles will ich t h u n 2465 Um es entzwey zu reißen, daß du frey Den schönen Weg des Lebens wandlen mögest. Eben diese Befangenheit in Verfolgungsgedanken wird, zwar nur an einer Stelle, aber in der dreifachen Wiederholung sehr nachdrücklich, durch die Wörter T r a u m und t r ä u m e n ausgedrückt: ANTONIO
Es ist gewiß, ein ungemäßigt Leben, 29i9 Wie es uns schwere wilde Träume giebt, Macht uns zuletzt am hellen Tage träumen. Was ist sein Argwohn anders als ein Traum ? Wohin er tritt, glaubt er von Feinden sich Umgeben. Die Auffassung dieser Stelle schließt sich eng an den sonstigen Gebrauch der Wörter Traum und träumen an. Sie beziehen sich fast ausschließlich auf Tasso und geben dem entrückten Zustand Tassos Ausdruck, der in Leonores Charakteristik als bezeichnender Wesenszug des Dichters mit den Worten umschrieben wird: E r scheint uns anzusehn, und Geister mögen An unsrer Stelle seltsam ihm erscheinen. (171 f.)
In einer f ü r Goethes Wortgebung sehr bezeichnenden Weise wird, was hier in einer knappen Charakteristik umrissen ist, in der nachfolgenden E n t gegnung der Prinzessin — zugleich liebevoll mildernd — sofort in dem Wortbegriff Traum zusammengefaßt 1 : Du hast den Dichter fein und zart geschildert 174 Der in den Reichen süßer Träume schwebt. Im übrigen werden die Wörter Traum und träumen nicht nur von den anderen Personen, sondern auch von Tasso selbst auf seinen Seelenzustand angewandt: 1
Vgl. oben S. 27f. Ähnliches im Gebrauch des Wortes Welt.
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JOHANNES
MANTEY
A L P H O N S
Stört ihn wenn er denkt und dichtet. 378 In seinen Träumen nicht, und läßt ihn wandlen. L E O N O R E
Und wenn wir denn auch Lieb um Liebe tauschten, Belohnten wir das schöne Herz nicht billig, Das ganz sich selbst vergißt und hingegeben 2103 Im holden Traum für seine Freunde lebt ? TASSO
Ich will dir gern gestehn, es hat der Mann, Der unerwartet zu uns trat, nicht sanft 762 Aus einem schönen Traum mich aufgeweckt1; Sicherlich ist es kein Zufall, daß das Etymon Traum, wo es nicht auf Tasso bezogen ist, nur in Aussprüchen der Prinzessin und im Hinblick auf sie selbst begegnet: Wir können unser seyn und stundenlang 23 Uns in die goldne Zeit der Dichter träumen. Die Sonne hebt von meinen Augenliedern 1858 Nicht mehr sein schön verklärtes Traumbild auf; Die Hoffnung ihn zu sehen füllt nicht mehr Den kaum erwachten Geist mit froher Sehnsucht; Denn schon aus dem Gebrauch der Wörter Glück, Welt und auch klug war zu erkennen, daß die themabezogenen Wörter, soweit sie Unterschiede in der Mentalität der einzelnen Personen sichtbar werden lassen, eine bezeichnende Verwandtschaft in der seelischen Haltung Tassos und der Prinzessin widerspiegeln können. So auch hier und im folgenden. Dieselbe Abwendung von Welt und Wirklichkeit, die in der Anwendung der Wörter Glück, Welt und klug als Gebrochenheit des Lebensgefühls und als mißtrauisches Zurückweichen von einer als fremd empfundenen Lebensart sich darstellte, erscheint im Gebrauch der Wörter Traum und träumen als Entrückung in ein Phantasieleben, das in der übersteigerten Form, die es im Falle Tassos annimmt, zu schwerer Mißdeutung der Wirklichkeit führen kann. Dieselbe seelische Grundhaltung ist es aber auch, die durch das Wort s t i l l , nunmehr von der Seite des äußeren Verhaltens her, gekennzeichnet wird. 1
Vgl. 519, 1136f., 2189 und 2194.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
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Das Wort still tritt im 'Tasso' mit derselben Dichte auf, wie in der 'Iphigenie' ; in beiden Dramen kommt auf hundert Verse durchschnittlich eine Belegstelle dieses Wortes. 1 Sehr unterschiedlich ist jedoch sein Gebrauch in den beiden Dichtungen. In der 'Iphigenie' sind seine Anwendungen völlig heterogen: Neben wenigen Stellen, die sich auf Iphigenies Tempeldienst 2 und auf das Todessehnen Orests 3 beziehen, stehen Anwendungen auf verschiedenartige und jedenfalls nicht einem gemeinsamen Stilzug entsprechende seelische Regungen. 4 Wie zum Teil schon diese Stellen, so sind noch weitere auf außerhalb des Personenkreises der Dichtung stehende oder imaginäre Personen bezogen. 5 Völlig ohne stilistische Bedeutung ist der imperativische Gebrauch 6 , und nur drei Stellen, die vielleicht mit den auf den Priesterdienst bezogenen zusammenzunehmen wären, ließen sich allenfalls als Ausdruck der Seelenlage Iphigenies auffassen 7 , während zwei weitere der Charakteristik des Pylades dienen 8 . Ganz andersartig ist der Befund im 'Tasso'. Hier steht das Wort mit einem großen Teil seiner Belege völlig im Dienste der psychologischen Charakteristik, und zwar bezieht es sich direkt oder indirekt auf die seelische Haltung Tassos und der Prinzessin. Daß dabei der Ausdrucksgehalt des Wortes still dem der Wörter Traum u n d träumen eng verwandt ist, zeigen deutlich die folgenden Worte der Prinzessin, in denen sie, die ja selbst an diesem durch 'still' bezeichneten introvertierten Wesen teilhat, dennoch Tassos Seelenlage klar erkennt und ausspricht: Auf diesem Wege werden wir wohl nie Gesellschaft finden, Tasso! dieser P f a d Verleitet uns durch einsames Gebüsch 973 Durch stille Thäler fortzuwandern; mehr Und mehr verwöhnt sich das Gemüth, und strebt Die goldne Zeit, die ihm von außen mangelt, I n seinem Innern wieder herzustellen, So wenig der Versuch gelingen will. 1
I m 'Tasso' erscheint still 34mal, in der 'Iphigenie' 25 (38)mal. 3, 1440, 1984. Dazu Stille 2131. 3 562, 1152, 1261. 4 36 'mit stillem Widerwillen'. 376 'sinnt er still / Auf unerhörte That'. Ferner 241, 353, 458, 620. 6 686, 1025, 1324, 1759. « 758, 793, 923, 2025. 7 513, 1692, 2073. 8 732, 1386. 2
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Dieselbe Haltung wird an anderem Orte durch Alphons gekennzeichnet: Verzeih ich ihm wenn er den bunten Schwärm 246 Der Menschen flieht, und lieber frey im Stillen Mit seinem Geist sich unterhalten mag, So kann ich doch nicht loben daß er selbst Den Kreis vermeidet den die Freunde schließen. Wie in diesen beiden Stellen, so wird auch sonst die Gemütsneigung Tassos durch Andeuten der Umgebung, besonders durch Bilder der Naturstille umschrieben: TASSO
Wie oft zerriß es meine Brust! Wie oft 899 Klagt ich dem stillen Hayn mein Leid um dich! TASSO
Der heitre Wandel mancher schönen Tage, 2632 Der stille Raum so mancher tiefen Nächte War einzig diesem frommen Lied geweiht. 1 Es ist bemerkenswert, daß, von drei bereits genannten Stellen abgesehen, gewöhnlich Tasso selbst das Wort still auf sich anwendet: und wünschte Dir etwas seyn zu können. Wenig nur Doch etwas, nicht mit Worten, mit der That Wünscht' ich's zu seyn, im Leben dir zu zeigen, 911 Wie sich mein Herz im Stillen dir geweiht. 1233 Doch glaube nur, es horcht ein stilles Herz Auf jedes Tages, jeder Stunde Warnung, Und ü b t sich in geheim an jedem Guten Das deine Strenge neu zu lehren glaubt. 2 Diese Stellen haben nun zwar in ihrer neutralen Passung gewiß nichts Besonderes an sich. Sie bringen aber den Vorstellungsinhalt 'still' in seiner Anwendung auf Tasso im Text der Dichtung zur Geltung und bereiten damit prägnanteren Anwendungen dieses Wortes den Boden. An zwei 1 2
Ferner 188, 1157. Vgl. auch 304. Dazu 538, 785, 1264, 2427.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
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Stellen nämlich, in denen wiederum Tasso das Wort still auf sich selbst anwendet, drückt sich darin die affektierte und prätentiöse Haltung eines Menschen aus, der, nachdem er mit geräuschvollem Aufwand vergeblich versucht hat, sich in den Mittelpunkt seines Lebenskreises zu spielen, nunmehr sich den Anschein zu geben sucht, als habe er dieses Ziel gar nicht verfolgt und als sei sein Mißerfolg vielmehr dem Verzicht auf jede derartige Bemühung, also eben seinem 'stillen' Verhalten zuzuschreiben: TASSO
2257 Der stille Mond, der dich bey Nacht erfreut, Dein Auge, dein Gemüth mit seinem Schein Unwiderstehlich lockt, er schwebt am Tage Ein unbedeutend blasses Wölkchen hin. Ich bin vom Glanz des Tages überschienen, I h r kennet mich, ich kenne mich nicht mehr. Hiermit verbindet sich in diesen Versen eine Tendenz der Selbstherabsetzung, die durch den übertreibenden Kontrast zum Widerspruch herausfordern und dadurch gerade auf die eigene Bedeutung aufmerksam machen will. Die gleiche Haltung ist in den 'mit Zurückhaltung' an Alphons gerichteten Worten angedeutet: Ich scheide nun mit völligem Vertraun 2998 Und hoffe still, mich soll die kleine Frist Von allem heilen was mich jetzt beklemmt. Es liegt darin so etwas wie die Prätension der 'Stillen im Lande', das Vorgeben, auf eine Wirksamkeit mit Vorsatz zu verzichten, die in Wahrheit nur außerhalb des Bereiches der Möglichkeiten liegt. F ü r die eigentümliche Wendung, mit der das Kennzeichnende dieser Stellen aus dem sonstigen Gebrauch des Wortes still hervorgeht, gibt es eine Parallele. Auch das Wort b e s c h e i d e n , das ja dem Sinngehalt des Wortes still nahesteht, wird in der Regel neutral, also mit im Einzelfalle berechtigter positiver Wertung auf Tasso angewendet, auch wo er selbst es von sich gebraucht 1 . I n der Bekränzungsszene empfängt der Gebrauch des Wortes jedoch vom Zusammenhang dieser Szene her eine andere Färbung. 1
270, 1108, 2634. Vgl. 3042. (Sonst nur einmal von der Prinzessin: still bescheiden blick't ich / Ins Leben wieder 1826.) Anders 2964.
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Zunächst ist zu fragen, wie es mit Tassos Bescheidenheit an dieser Stelle steht. Die Verse: ALPHON S
Zum zweytenmal verdienst du jedes Lob 425 Und ehrst bescheiden dich und uns zugleich. beziehen sich auf Tassos vorangehende Worte, deren Inhalt er in der Schlußwendung noch einmal zusammengefaßt hat: Und welchen Preis nun auch mein Werk erhält, Euch dank ich ihn, denn Euch gehört es zu.
(422f.)
Das Wort bescheiden enthält hier also zunächst uneingeschränkte Anerkennung. Bald jedoch gibt Tasso zu einer anderen Wertung seines Verhaltens Anlaß. Schon die Wiederholung der an seinen Fürsten gerichteten Lobeserhebung1 scheint Unbehagen auszulösen; man beginnt zart abzuwehren und sucht ein Ende zu machen: PRINZESSINN
Genieße nun des Werks das uns erfreut! ALPHON S
Erfreue dich des Beyfalls jedes Guten. LEONORE
Des allgemeinen Ruhms erfreue dich.
(440ff.)
Aber Tasso hebt von neuem an 2 und verleiht dadurch dem Vorfall ein solches Gewicht, daß etwas geschehen muß. So viel Bescheidenheit, verbunden mit einer solchen Erhebung seiner Gönner, darf nicht unbeachtet übergangen werden. Man fühlt sich zu einer Gegenleistung genötigt und wird ihn bekränzen. Das ist nun gewiß sehr überspitzt ausgedrückt, und Tasso wird wahrlich nicht allein deswegen bekränzt, weil er seine Partner zu einer solchen Handlung genötigt hat; aber er hat ihnen gewissermaßen nicht die Zeit dazu gelassen, von sich aus diese Handlung vorzunehmen, er hat sie zu einer betonten Anerkennung gedrängt, und darin liegt das außerordentlich Peinliche dieser Szene. Zugleich erscheint von hier aus die an sich ganz 1 2
426-439. 443-456.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
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unverfängliche und dem Wortlaute nach gar nicht auf Tassos nähere Umgebung gemünzte Wendung 'Und welchen Preis nun auch mein Werk erhält' in einem zweideutigen Licht. Jedenfalls mußte dieser Zug aus dem feinen Geflecht der Goetheschen Motivierung schon hier herausgelöst werden, weil er im folgenden dominierend wird. Schon die Art, in der Tasso die Bekränzung ablehnt, verrät nämlich, daß er diese liebenswürdige Geste zu einem weit über alles Mögliche hinaus bedeutsamen Akt hinaufsteigern will: 0 laßt mich zögern, seh ich doch nicht ein Wie ich nach dieser Stunde leben soll. (474 f.)
Im Anschluß hieran kann das Wort bescheiden kaum noch ein Lob enthalten; man sieht sich vielmehr genötigt, dem Dichter seine Bescheidenheit erneut zu bestätigen, weil er es so nachdrücklich zu wünschen scheint: LEONORE
E s lebe der zum erstenmal bekränzte! 483 Wie zieret den bescheidnen Mann der K r a n z ! Nun aber f ü h r t Tasso das Angekündigte aus: Durch die Apotheose des Dichterkranzes erreicht er es, daß die Bedeutung, die er diesem zuschreibt, mit der unausbleiblichen Versicherung, daß er seiner würdig sei, auf ihn selbst übergeht. G U S T A V R O E T H E sieht in Tassos Verhalten die reizbare Überempfindlichkeit der Dichternatur. 1 Man muß hier wohl noch einen Schritt weitergehen. Nicht Überregbarkeit und kindische Übertreibung schlechthin sind die Triebfedern dieser Handlungsweise, sondern die übertriebene Selbstbeachtung des vollendeten Autisten; und nicht alles sieht Tasso durch ein Vergrößerungsglas, sondern nur was ihn selbst betrifft. Das allerdings hat, so will es sein Selbstgefühl, in jedem Falle, im Guten wie im Bösen, hoch1
„Die reizbare Überempfindlichkeit, die Richard Wagner am Tasso bewundert, der jedes Nichts zum Koloß anschwillt, ist zugleich tiefer Quell künstlerischen Könnens und menschlichen Irrens. Eine warme Ehrung, wie der Lorbeerkranz sie bietet, wird dem Helden alsbald zur versengenden, verzehrenden Flamme; eine milde, gütige Herzensneigung der hohen Frau entzündet in ihm irre Raserei . . . die schonendste Rüge erschüttert ihn so, daß er sich wie ein Verbrecher behandelt scheint; in jähem Wechsel wird ihm der Boden Ferraras bald das einzige Heil, bald dünkt ihn Flucht die einzige Rettung. Alles sieht er in kindischer Übertreibung durch ein Vergrößerungsglas." G U S T A V R O E T H E , Der Ausgang des 'Tasso'. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 9 (1922), S. 129.
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bedeutsam zu sein. Es ist undenkbar f ü r ihn, daß ihn Treffendes etwa von mittelmäßigem Belang sein könnte. I n der Bekränzungsszene tritt nun noch ein weiteres, die tiefe Lebensechtheit dieser Haltung vergegenwärtigendes Moment hinzu. Tasso übersteigert nur ein Verhalten, das im alltäglichen Umgang mit Menschen jederzeit beobachtet werden kann, nämlich die verbreitete Neigung, ein Lob mit scheinbarer Bescheidenheit nachdrücklich abzuwehren, um es desto entschiedener bestätigt zu erhalten. Er t u t es aber so maßlos, daß dabei der Begriff der Bescheidenheit nicht nur fragwürdig wird, sondern sich völlig in sein Gegenteil verkehrt, und das Wort bescheiden, wo es noch einmal auf Tasso angewendet wird, durchaus keine Anerkennung mehr, sondern nur noch, wie auch die Koppelung mit ruhig andeutet, eine Mahnung enthält: PRINZESSINN
521 Wenn du bescheiden ruhig das Talent, Das dir die Götter gaben, tragen kannst, So lern auch diese Zweige tragen, die Das schönste sind was wir dir geben können. Wem einmal, würdig, sie das H a u p t berührt, Dem schweben sie auf ewig um die Stirne. Es ist das die feinste Form des Tadels, einem Menschen Eigenschaften, die er nicht hat, beizulegen, weil er sie nicht hat, um ihn dadurch auf seine Fehler aufmerksam zu machen. I n ähnlicher Weise werden Tasso an späterer Stelle von Leonore die Vorzüge, die ihm fehlen, untermischt mit denen, die er besitzt, mahnend aufgezählt: Und deine Sanftmuth dein gefällig Wesen, Dein schneller Blick, dein richtiger Verstand Mit dem du jedem giebst was ihm gehört, Dein Gleichmuth, der erträgt was zu ertragen Der Edle bald der Eitle selten lernt, Die kluge Herrschaft über Zung und Lippe ? Mein theurer Freund, fast ganz verkenn' ich dich. (2244—2250) Die dämpfenden Worte der Prinzessin geben dem Dichter jedoch nur zu einem erneuten Ausbruch seiner verkappten Selbsterhebung Anlaß, und es gehört zu den Feinheiten der Goetheschen Motivierung, daß er dadurch selbst den f ü r ihn so demütigenden Übergang zur folgenden Szene herauf-
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beschwört: Alle wenden sich erlöst von ihm und dem peinigend peinlichen Auftritt ab, als Antonio gemeldet wird - 'Er ist gekommen! Recht zur guten Stunde' — und widmen sich ausschließlich dem Neuangekommenen. Auch hier ist es nicht dieser Umstand allein, der zu einer solchen Wendung f ü h r t ; die Rückkehr des Freundes und hohen Beamten von einer wichtigen Mission hätte sie bereits hinreichend erklärt. Aber die doppelte Motivierung trägt erheblich zu der komplizierten Problematik der Dichtung bei; sie gibt Tasso in seinem späteren Verhalten halbes Recht und halbes Unrecht zugleich, und sie entspricht der Zwielichtigkeit, die überhaupt über die Tassodichtung ausgebreitet ist und sich auf Charaktere, Motive, Handlungen und Wortgebrauch gleichermaßen erstreckt. Es hat sich gezeigt, daß sich in dem Gebrauch des Wortes b e s c h e i d e n , gleichwie in dem des Wortes s t i l l , eine Haltung Tassos abspiegelt, die, an sich nicht anfechtbar, in überspitzter Form zu einem sehr bedenklichen Verhalten führen kann. Die durch 'still' und 'bescheiden' ausgedrückten Wesenszüge haben ihre gemeinsame Wurzel in einer - mit Ausbrüchen übersteigerter Zudringlichkeit wechselnden — introvertierten Zurückhaltung, die, mitunter als Waffe im Kampf um die erstrebte Geltung gebraucht, einerseits in anmaßende Selbstentäußerung und andererseits in affektierte, Anerkennung provozierende Bescheidenheit umschlagen kann. I m Falle der Prinzessin zielt der Ausdrucksgehalt des Wortes s t i l l zunächst auf die Haltung einer entsagungsvollen Eingezogenheit ab: PRINZESSINN
Wenn jener edle Kreis wenn jene Thaten Zu Müh und Streben damals dich entflammten, So könnt' ich, junger Freund, zu gleicher Zeit 845 Der Duldung stille Lehre dir bewähren. Die Feste, die du rühmst, die hundert Zungen Mir damals priesen und mir manches J a h r Nachher gepriesen haben, sah ich nicht. 849 Am stillen Ort, wohin kaum unterbrochen Der letzte Wiederhall der Freude sich Verlieren konnte, mußt' ich manche Schmerzen Und manchen traurigen Gedanken leiden. PRINZESSINN
v
,
,,,, . ,
. ,
Kaum erhohlt ich mich Von manchen Leiden; Schmerz und Krankheit waren 1826 K a u m erst gewichen. Still bescheiden blickt' ich 5
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Ins Leben wieder, freute mich des Tags Und der Geschwister wieder, sog beherzt Der süßen Hoffnung reinsten Balsam ein. Diese aus frühem Leiden heraus habituell gewordene Seelenlage bestimmt das ganze Wesen dieser Frauengestalt und verleiht ihr die Gabe einer in der Verinnerlichung geläuterten Empfindung, die in der Wortverbindung still und rein ihren gemäßen Ausdruck findet1: LEONORE
Die Stätte, die ein guter Mensch betrat Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt Sein Wort und seine That dem Enkel wieder. PRINZESSINN
Dem Enkel, wenn er lebhaft fühlt wie du. Gar oft beneid' ich dich um dieses Glück. LEONORE
85 Das du, wie wenig andre, still und rein Genießest. Drängt mich doch das volle Herz Sogleich zu sagen was ich lebhaft fühle, Du fühlst es besser, fühlst es tief und — schweigst. So wird denn auch, von der unterschiedlichen Sicht ihrer Gefährten her, in Naturgleichnissen einerseits die Verborgenheit ihres inneren Reichtums, andererseits aber der Mangel an lebendiger Wirksamkeit durch das Wort still wiedergegeben: TASSO
So sucht man in dem weiten Sand des Meers Vergebens eine Perle, die verborgen 887 In stillen Schaalen eingeschlossen ruht. LEONORE
Denn ihre Neigung zu dem werthen Manne Ist ihren andern Leidenschaften gleich. 1956 Sie leuchten, wie der stille Schein des Monds Dem Wandrer spärlich auf dem Pfad zur Nacht; Sie wärmen nicht und gießen keine Lust Noch Lebensfreud' umher. 1
Vgl. auch 1670.
4. Das menschliche Verhalten in sittlicher und psychologischer Hinsicht
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In den wenigen auf die Prinzessin bezogenen Belegstellen des Wortes still ist also der bestimmende Grundzug ihres Wesens, wie er auch sonst in ihrem Verhalten allenthalben hervortritt, mit diesem Worte zusammengefaßt. Eine noch übrige Stelle f ü h r t jedoch darüber hinaus und weist auf einen Charakterzug hin, der nicht so offen zutage liegt: PRINZE S SINN
Sprich mit Antonio, denn er vermag Bey meinem Bruder viel, und wird den Streit Nicht unserm Freund und uns gedenken wollen. LEONORE
Ein Wort von dir, Prinzessinn, gölte mehr. P R I N Z E S SINN
Ich kann, du weißt es, meine Freundinn, nicht Wie's meine Schwester von Urbino kann, F ü r mich und f ü r die meinen was erbitten. 1754 Ich lebe gern so stille vor mich hin Und nehme von dem Bruder dankbar an Was er mir immer geben kann und will. Ich habe sonst darüber manchen Vorwurf Mir selbst gemacht, nun hab ich überwunden. Es schalt mich eine Freundinn oft d a r u m : Du bist uneigennützig, sagte sie, Das ist recht schön, allein du bist's so sehr Daß du auch das Bedürfniß deiner Freunde Nicht recht empfinden kannst. Ich laß es gehn Und muß denn eben diesen Vorwurf tragen. Bezeichnend ist die Selbsttäuschung, die in diesen Worten liegt. Die Prinzessin nimmt das halbe Lob, in das der feine Tadel jener Freundin eingekleidet ist, f ü r bare Münze, während es doch gerade nicht Uneigennützigkeit, sondern die sublimste Form des Egoismus ist, die aus ihrem Verhalten spricht. Sie gehört zu den Menschen, die, um dem Gefühl ihrer Abhängigkeit zu entgehen, nicht nur sich selbst die höchste Anspruchlosigkeit auferlegen und es peinlich vermeiden, auf sich aufmerksam zu machen — dieser Zug wird hier durch das Wort still bezeichnet — sondern die auch den nächsten Freunden ihre Hilfe entziehen, wenn durch die Notwendigkeit einer Fürsprache ihr empfindliches Selbstgefühl verletzt werden könnte. Es ist ja 5»
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auch nicht so, daß die Prinzessin das Bedürfnis ihres Freundes nicht recht empfände; sie empfindet es sehr wohl, nur mag sie ihm nicht nachkommen. Daß sie es selbst nicht bemerkt, wie sie sich bezichtigt, ist ein sehr kennzeichnendes Bespiel f ü r die subtile Linienführung der Tassodichtung. Sogar dem Leser kann der Sinn dieser diskreten Charakterisierung entgehen. Aber der Wesenszug als solcher ist nicht gut hinwegzuleugnen, denn es ist undenkbar, daß der Dichter die feine Widersprüchlichkeit dieser Worte nicht bemerkt haben sollte. Unlogik ähnlicher Art findet sich nämlich noch an anderer Stelle dieses von so geschliffenem Scharfsinn erfüllten Werkes; im Streit mit Antonio spricht Tasso die Worte: Doch zeige mir den Mann der das erreicht Wornach ich strebe, zeige mir den Helden Von dem mir die Geschichten nur erzählten; Den Dichter stell mir vor der sich Homeren, Virgilen sich vergleichen darf, ja was Noch mehr gesagt ist, zeige mir den Mann Der dreyfach diesen Lohn verdiente, den Die schöne Krone dreyfach mehr als mich Beschämte: dann sollst du mich kniend sehn Vor jener Gottheit die mich so begabte; Nicht eher stünd' ich auf, bis sie die Zierde Von meinem H a u p t auf seins hinüber drückte. und erntet auch prompt die trockene Antwort: Bis dahin bleibst du freylich ihrer werth.
(1326—1338)
Überdies zeigt sich diese Haltung der Prinzessin nicht nur in ihren Worten, sondern auch in ihrem Verhalten. In der Tat verweigert sie ja nicht nur die Fürsprache f ü r Tasso und gibt nicht nur die von ihr selbst vindizierte Verantwortlichkeit f ü r ihn im Augenblick der Gefahr aus der Hand, sondern sie entzieht sich ihm völlig zu einer Zeit, da er ihrer, wie sie wohl wissen muß, am dringendsten bedarf. Und das doch wohl - wenn nicht noch andere, verborgenere Motive aufzufinden sind — allein deshalb, weil sie ihre Verletzlichkeit auch dann nicht überwinden kann, wenn Schicksale auf dem Spiele stehn. Daß sie damit auch ihr eigenes Schicksal untergräbt, entschuldigt nichts, sondern rückt nur das Pathologische dieses Verhaltens ins volle Licht. Zweifellos wird durch diesen Charakterzug das Bild der Prinzessin getrübt, aber es gewinnt in gleichem Maße an menschlicher Dichte und
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Lebensechtheit. Es sei gestattet, auf diese Problematik ihres Wesens noch von einer anderen Stelle aus einzugehen. Es ist eine Stelle, die der Interpretation zu schaffen zu machen pflegt, die aber in ihrer Auswirkung leicht ausschließlich zuungunsten Tassos ausgelegt wird. H . A. K O R F F sagt darüber, von der Schlußwendung der Handlung ausgehend: „Denn genau so maßlos, wie er (Tasso) sich in das Gefühl des gestürzten Künstlers hineingeredet hatte, genau so hemmungslos ergreift jetzt das Gefühl des geliebten Künstlers von ihm Besitz. Von einem Extrem taumelt er in das andere. Und in diesem Taumel überrennt er nicht nur alle äußeren Schranken, die die Prinzessin von dem Dichter trennen, sondern er gibt der Liebe der Prinzessin für den Dichter damit zugleich eine Deutung, durch die sich diese nun aufs tiefste kompromittiert fühlen muß. Denn hat sie diese Entgleisung nicht selbst heraufbeschworen, indem sie ihm in trauter Unterredung gefährlich mißverständlich sagte: Und soll ich dir noch einen Vorzug sagen, Den unvermerkt sich dieses Lied erschleicht? Es lockt uns nach und nach, wir hören zu, Wir hören, und wir glauben zu verstehn; Was wir verstehn, das können wir nicht tadeln, Und so gewinnt uns dieses Lied zuletzt." 1 (1109—1114) Gewiß hat diese Stelle die Funktion, jene tragische Schlußwendung herbeiführen zu helfen. Im Hinblick auf die Feinheit der Goetheschen Motivierung gerade in der Tassodichtung ist aber dennoch zu fragen, wie es an dieser Stelle zu solchen Worten kommen konnte. Denn daß sie nur um dieser Funktion willen hier stehen, ohne zugleich auch etwas vom Wesen der Sprecherin zu enthüllen, ist bei dem nach Inhalt und Formulierung sehr auffälligen Charakter dieser Äußerung und mit Rücksicht auf die sonstige Ausdrucksintensität des Textes nicht wohl anzunehmen. Vor allem sind die letzten Worte Tassos zu beachten, an die diese Äußerung anschließt : Und was hat mehr das Recht Jahrhunderte Zu bleiben und im Stillen fort zu wirken, Als das Geheimniß einer edlen Liebe, Dem holden Lied bescheiden anvertraut? (1105—1108) 1
H. A. KORFF, Geist der Goethezeit 2 (21954), S. 181.
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E s kann nicht genug hervorgehoben werden, mit welch feinem Takt in diesen Worten Kühnheit und Bescheidenheit gegeneinander abgewogen sind. Es darf nicht verkannt werden, daß Tasso einerseits mit einer so unverhüllten Erklärung bis hart an die Grenze des in der Gesittung dieses Menschenkreises Möglichen geht, daß er aber andererseits diese Grenze um so schärfer nachzieht und als endgültig festlegt. Mit bewundernswerter Sicherheit trifft er in diesen Sätzen die f ü r seine Beziehung zur Prinzessin einzig mögliche Formel. Die einzig mögliche Entgegnung müßte eine Bestätigung dieser Formel nach beiden Seiten hin enthalten, also ein 'bis hierher' einerseits und ein 'nicht weiter' andererseits. Wie hemmungslos nehmen sich dagegen die Worte der Prinzessin aus. Das leichteste Wort h a t in diesen Sätzen das schwerste Gewicht: Das kühne Wagnis Tassos mit einem 'und' zu übergehen, als ob es nicht das Letzte wäre, was sie ihm zu gestatten hat, ist eine f ü r die sprachliche Disziplin dieses höfischen Kreises unverzeihliche Fahrlässigkeit, und das fast ans Kupplerische streifende Vokabular dieser Zeilen t u t ein übriges. Es kann nun, nach allem, was vorangegangen ist, nicht ausbleiben, daß Tasso an seiner eigenen Gefühlssicherheit irre wird. 'Willst du genau erfahren was sich ziemt, / So frage nur bey edlen Frauen an', so hatte es geheißen, und nun, da er erwarten muß, das rechte Maß, wenn nicht getroffen, so doch höchstens überschritten zu haben, überschreitet seine Lehrmeisterin selbst eine Grenze, die er f ü r sakrosankt gehalten und erklärt hatte. Daraufhin müssen ihm notwendig alle Maßstäbe entgleiten. 1 Ob Tasso aber hier und am Ende der Handlung mit den Äußerungen seiner doch wahrlich nicht grob-sinnlichen Leidenschaft die Worte der Prinzessin mißdeutet, ist eine Frage, deren Beantwortung von der Beur1 W O L F D I E T R I C H R A S C H , Goethes 'Torquato Tasso', Stuttgart ( 1 9 5 4 ) , S. 1 5 1 , formuliert vorsichtiger: 'Die Prinzessin geht erstaunlich weit mit ihrer Vertraulichkeit und der Ermutigung Tassos. Darin bezeugt sich ihr Gefühl, aber nach gesellschaftlichen Gesetzen dürfte sie nicht so sprechen, und auch menschlich ist es bedenklich genug, Tassos Empfindungen so hervorzulocken und ihn durch das Aussprechen der Gefühle an sich zu binden.' — 'Tasso hat also nicht von sich aus ungestüm die Distanz aufgehoben, sondern sie Prinzessin winkte ihn leise über die Grenze und er folgt ihr.' Diese Deutung berücksichtigt jedoch wohl nicht genügend den Gegensatz zwischen Tassos untadelig maßvoller Haltung und dem Versagen der Prinzessin. Die vorliegende Darstellung, die im Schlußabschnitt des ersten Teils (S. 1 1 8 F F . ) fortgesetzt wird, sucht die zentrale Bedeutung dieser heiklen Stelle hervorzuheben und der weiteren Deutung W . R A S C H S entgegenzutreten, daß die Prinzessin sich in Erkenntnis der Unhaltbarkeit dieser Situation zur Entsagung entschließe.
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teilung der Motive abhängt, die die Prinzessin zu dieser Äußerung veranlaßt haben. Warum spricht sie so, und sagt dann, nachdem Tasso nicht mehr getan hat, als seinem Erstaunen und seiner Beglückung über diese unerwartete Eröffnung Ausdruck zu geben, die Worte: Nicht weiter, Tasso! Viele Dinge sind's Die wir mit Heftigkeit ergreifen sollen: Doch andre können nur durch Mäßigung Und durch Entbehren unser eigen werden. So sagt man sey die Tugend, sey die Liebe Die ihr verwandt ist. Das bedenke wohl! (1119—1124)
Ein solches Verhalten ist der Situation völlig inadäquat. 'Nicht weiter, Tasso!' — das wäre allenfalls zehn Verse früher angebracht gewesen; inzwischen haben sich die Dinge jedoch nahezu umgekehrt, und Tasso erhält eine Rüge f ü r etwas, das er gar nicht verschuldet hat. Hierin aber scheint der Schlüssel zu dieser Stelle zu liegen. Das Ungereimte im Verhalten der Prinzessin löst sich nur, wenn man ihr unterstellt, sie habe dem Dichter eine Aufwallung seiner Leidenschaft entlocken wollen, mit dem festen Vorsatz, dieser sogleich auf das entschiedenste entgegenzutreten — wenn man sich also zu der Annahme entschließt, daß diese so reich angelegte, aber an ihrem sterilen Dasein dahinkümmernde Seele f ü r den Hauch eines Augenblicks die Glut des Mannes spüren wollte, jedoch wohl wissend, daß sie nicht die K r a f t habe, eine solche Leidenschaft aufzufangen, sofort den Mann in die Schranken des Dichters zurückzuweisen gedachte. Besser wäre es wohl noch, zu sagen, daß Regungen dieser Art, ohne Beteiligung einer planvollen Absicht, an dieser Stelle vorausgesetzt werden müssen. E s ist das eine Annahme, die weder mit der Wesensart der Prinzessin, wie sie uns sonst im Text der Dichtung entgegentritt, noch mit der seelenkundlichen Wahrscheinlichkeit in Widerspruch steht. Dem Einwand, daß hier über das nötige Maß hinaus dem Text sehr weitgehende Voraussetzungen untergelegt würden, läßt sich — abgesehen davon, daß die Unstimmigkeit dieser Verse nicht anders behoben werden zu können scheint — mit der Frage begegnen, warum überhaupt dieser Gestalt der Dichtung ein in ihrem Leidens- und Entsagungskult so extremer Charakter verliehen wurde. Auch das geht weit über das f ü r den sinnerfüllten Ablauf der Handlung nötige Maß hinaus; denn diese Charakterhaltung hat nirgends eine dramatische Funktion — wenn nicht an dieser und an der zuvor erörterten Stelle. Beide aber lassen einen Schatten der Unlauterkeit auf die Gestalt der Prinzessin fallen und beide gehören eng zusammen; denn die Weigerung der
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Prinzessin, sich persönlich für Tasso zu verwenden, wie auch ihr Ausweichen vor einer Begegnung mit ihm, werden erst recht verständlich, wenn man annimmt, daß zu der habituellen Verletzlichkeit ihres Selbstgefühls als verstärkendes Moment das Unbehagen hinzutritt, das sie über ihre Entgleisung empfinden muß. Es ist also wohl nicht so, daß Tasso das Verhalten der Prinzessin völlig mißdeutet, sondern er erkennt nur nicht die Vorbehalte, die damit verbunden sind und verbunden sein müssen. Er wird dadurch nicht von seiner Schuld entladen, aber er trägt nicht allein daran Schuld, daß er schuldig %wird. Nicht Tasso allein versagt, sondern auch diejenigen, die ihn in das Leben einführen, versagen und lassen ihn schuldig werden. Es bleibt die Frage, ob bei einer solchen Deutung, wenn sie richtig ist, in der Prinzessin Leonore noch jene hohe weibliche Idealgestalt gesehen werden darf, die sie der Tasso-Interpretation immer gewesen ist. Diese Frage ist wohl nur bedingt zu bejahen, insofern nämlich die Idealität in der Gestalt der Prinzessin wohl intendiert, doch aus menschlicher Gebrechlichkeit nicht erreicht ist. Es ist hier der Versuch unternommen worden, dieses Wesen nicht in seiner idealischen Existenz, sondern in seiner menschlichen Bedingtheit zu sehen, und der Versuch wurde durch die extreme Besonderheit dieses Seelenbildes herausgefordert. In solcher Sicht erscheint die Prinzessin als eine Frauengestalt, deren reiche Innerlichkeit durch eine qualvoll selbstauferlegte Verkümmerung ihrer Wirksamkeit nach außen erkauft ist, und die, den Spannungen ihres Seelenzustandes nicht immer gewachsen, Lauterkeit und Unlauterkeit, eines um den Preis des anderen, in sich vereinigt. Von dem Worte s t i l l haben diese Erörterungen scheinbar weit abgeführt; aber im Hinblick auf die mehr Gegebenes benennende als Zusätzliches ausdrückende Funktion dieses Wortes tragen sie dazu bei, den Hintergrund des in der Bezeichnung 'still' zusammengefaßten Seelenzustandes auszuleuchten. Im Zusammenhang einer Untersuchung, die sich mit den Äußerungen seelischen Verhaltens in der Tassodichtung befaßt, dürfen schließlich die Ausdrücke nicht vernachlässigt werden, mit denen das Seelische selbst bezeichnet zu werden pflegt. Es sind das im 'Tasso' und in der 'Iphigenie' vor allem die Wörter H e r z , S e e l e , G e m ü t , S i n n , G e i s t , B r u s t und B u s e n . Alle diese Wörter begegnen in beiden Dichtungen in sehr disparaten Anwendungen und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, so daß im Gebrauch mannigfache Überschneidungen stattfinden, und sie in verschiedenen Verwendungsbereichen geradezu als auswechselbare Synonyme
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erscheinen. Dennoch soll versucht werden, an Hand der unterschiedlichen Häufigkeit ihres Vorkommens wie auch einiger Besonderheiten ihres Einzelgebrauchs Hinweise auf ihren stilistischen Ausdruckswert zu gewinnen. Zunächst sei eine Aufstellung der Häufigkeit gegeben 1 : Iphigenie Herz Seele Gemüt Sinn Geist Brust Busen
40 41 2 9 6 12 14
(60) (62) ( 3) (14) ( 9) (18) (21)
Tasso 48 18 21 22 25 16 17
Die Wörter B r u s t und B u s e n begegnen in der 'Iphigenie' und im 'Tasso' mit annähernd gleicher Häufigkeit. Da sie zudem in beiden Dramen allgemein das Innere, den Sitz der Gefühle und Strebungen bezeichnen, ohne daß der Gebrauch hier und dort wesentlich verschieden wäre, können sie f ü r die Untersuchung außer'Betracht bleiben. Die übrigen Bezeichnungen zeigen in ihren Häufigkeiten auffällige Unterschiede. Die Wörter Gemüt und Geist, die in der 'Iphigenie' kaum zur Geltung gelangen, sind im 'Tasso' gut vertreten, und während Seele und Herz in der 'Iphigenie' absolut dominieren, erhebt sich im 'Tasso' lediglich das Wort Herz mit etwa der doppelten Zahl von Belegstellen über die übrigen Ausdrücke des Seelischen. Diese erheblichen Unterschiede der Wortwahl können nicht zufällig entstanden sein, sondern es darf vorausgesetzt werden, daß sich in ihnen bestimmte Züge der Stilgebung kundtun. Beim Vergleich des Gebrauchs der Wörter S e e l e und H e r z in der 'Iphigenie' und im 'Tasso' fällt nun eine Besonderheit ins Auge, die an eine ganz bestimmte Verwendung dieser Wörter geknüpft ist, nämlich an ihren metonymischen Gebrauch f ü r eine der handelnden Personen: OREST
1076 Ich kann nicht leiden, daß du große Seele Mit einem falschen Wort betrogen werdest. 1 Einige Belegstellen dieser Wörter beziehen sich nicht, andere nur in einem eingeschränkten Sinne auf den Bereich des Seelischen. Eine scharfe Grenze ist nicht überall zu ziehen; ausgeschieden wurden: Herz T. 3018. Sinn T. 262, 394, 398, 1140, 1229, 2216, 2456, 2514, 2826, 3061, 3255, 3285, 3328, 3369; I. 312, 516. Geist T. 1895, 3022; I. 1053, 1243. Brust T. 711, 1266, 1394, 2380; I. 1205, 1242, 1356. Busen T. 950, 2424; I. 658, 1253, 1849.
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Es ist höchst bemerkenswert, daß von diesen beiden Wörtern in der 'Iphigenie' ausschließlich Seele, im 'Tasso' aber ausschließlich Herz in dieser Weise verwendet wird. 1 Es handelt sich, von dem bereits angeführten Beispiel abgesehen, um die folgenden Stellen: ARKAS
1493 Fühlt eine schöne Seele Widerwillen Für eine Wohlthat, die der Edle reicht? PYLADES
1583 So wirst du, reine Seele, dich und uns Zu Grunde richten. THOAS
Der Vorsicht stellt die List sich klug entgegen. IPHIGENIE
1874 Und eine reine Seele braucht sie nicht. OREST
Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm, 2143 Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele Beschämt PRINZESSINN
Ist meine Schwester von Urbino glücklich? 1788 Das schöne Weib das edle große Herz! LEONORE
1914 Wie jammert mich das edle schöne Herz! Welch traurig Loos das ihrer Hoheit fällt! LEONORE
Und wenn wir denn auch Lieb um Liebe tauschten, 2101 Belohnten wir das schöne Herz nicht billig, Das ganz sich selbst vergißt und hingegeben I m holden Traum f ü r seine Freunde lebt? 1 Entsprechende Anwendungen des Wortes Gemüt im 'Tasso' werden im Anschluß hieran berücksichtigt. — Die Stellen 'eine stille Seele' Iph. 2073 und 'die größten Seelen' Tasso 557 bleiben außer acht, da sie sich nicht auf Personen beziehen, die zum Lebenskreis der beiden Dichtungen gehören.
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,, .
Nein, sie war 2496 Und bleibt ein listig Herz, sie wendet sich Mit leisen klugen Tritten nach der Gunst. TASSO Ih r Götter, ist sie's doch Die mit dir spricht und deiner sich erbarmt! 3223 Und konntest du das edle Herz verkennen ? Eine stilistische Deutung des Befundes, daß im 'Tasso' nur das Wort Herz, in der 'Iphigenie' nur das Wort Seele geeignet erscheint, in Verbindung mit charakterisierenden Attributen eine Person zu kennzeichnen, läßt sich nun freilich aus dem sonstigen Gebrauch dieser Wörter in den beiden Dichtungen nicht gewinnen. Die Wortwahl wird vielmehr durch bestimmte Unterschiede in ihrer gemeinsprachlichen Verwendung veranlaßt worden sein, und es soll daher versucht werden, diejenigen Eigenarten ihres allgemeinen Gebrauches herauszustellen, die einer solchen Differenzierung den Boden bereitet haben könnten. 1 I n der Goethezeit wie auch sonst im Laufe ihrer Wortgeschichte werden Herz und Seele in einem weiten Anwendungsbereich auf das menschliche Innere, das Seelische schlechthin bezogen, ohne daß zwischen ihnen Unterschiede festgestellt werden könnten, die in diesem Zusammenhang ins Gewicht fielen. Jedoch hat jedes von ihnen noch besondere Bezirke des Wortgebrauchs inne, die es mit dem anderen nicht teilt. Hier kommen die folgenden in Betracht, die zugleich die wesentlichsten Unterschiede zwischen den beiden Wortbegriffen begründen: Seit dem Beginn der Überlieferung wird das Wort S e e l e vorzugsweise in religiös-metaphysischen Bezügen gebraucht 2 und bezeichnet in solchen Zusammenhängen den nichtirdischen, unsterblichen Teil des Menschen, also sein Seelisches im allgemeinsten Sinne. Diese Auffassung schließt einige Merkmale ein, auf die es hier anzukommen scheint. Sie umfaßt nämlich uneingeschränkt den sittlich-geistigen Bezirk innerhalb des Seelischen, während das Emotionale, das Fühlen und Trachten, in dieser Anschauung als irdisch und der 'Welt' zugehörig zurücktritt. I n innerem Zusammenhang damit erscheint hierbei das Seelische mehr als ein allen Menschen 1
Zugrunde gelegt sind die Artikel 'Herz' und 'Seele' des Deutschen Wörterbuches als die umfassendsten bereitstehenden Materialsammlungen: Deutsches Wörterb u c h v o n JACOB u n d WILHELM GRIMM, Teil 4, 2, S p a l t e 1207—1223, u n d T e i l 9, S p a l t e 2851—2926; b e i d e A r t i k e l v o n MORIZ HEYNE. 2
V g l . D W b . 'Seele' I I 10, S p . 2 8 7 6 - 2 8 8 2 , u n d I I 20, S p .
2911-2917.
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Gemeinsames, denn als individuell-charakterliche Sonderart.1 Dagegen bleibt das Wort H e r z gewöhnlich in einem viel engeren Sinne als Seele auf den Bereich des Fühlens und Trachtens, der Antriebe und Leidenschaften beschränkt2, zielt also, wenigstens der Tendenz nach, eher auf das Charakterliche und Persönlich-Geprägte des Menschen ab. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck ' K e n n t n i s des menschlichen Herzens', der, wie die folgende Stelle aus dem Anfang des 17. Buches von 'Dichtung und Wahrheit' ausweist, in der Goethezeit die geläufige Bezeichnung einer praktischen, auf die Triebkräfte des individuellen psychischen Verhaltens gerichteten Seelenkunde gewesen ist: Man traute mir aus meinen Schriften Kenntniß des menschlichen Herzens, wie man es damals nannte, zu, und in diesem Sinne waren unsere Gespräche sittlich interessant auf jede Weise. Wie sollte man sich aber von dem Innern unterhalten, ohne sich gegenseitig aufzuschließen? (I 29, 37, 5ff. Zitiert in: DWb. Teil 4, 2 Sp. 1207.) Ganz deutlich und geradezu als fester Terminus bezeichnet das Wort Herz hier solche Bezirke des Seelischen, die der individuellen Prägung angehören, zugleich aber auch im Verborgenen liegen und der einfühlenden Menschenkenntnis oder des Sich-Eröffnens bedürfen, um erkannt werden zu können. Andererseits begegnet als ein noch geläufigerer Ausdruck der Goethezeit die Wendung 'schöne Seele' 3 . In nuancenreicher Verwendung bezieht sie sich auf eine reine und harmonische, ethische mit ästhetischen Werten verbindende Gemütsbildung. Sie kann bald eine mehr intellektuell-schöngeistige, bald eine mehr sittlich-gemüthafte Färbung annehmen - in jedem Falle bezeichnet sie eine Wesensform, die der offen zutage liegenden Schicht des Seelischen angehört und zugleich mehr als Steigerung allgemein menschlicher Vorzüge, denn als individuelle Sonderart erscheint.4 1 Dieser Auffassung entsprechen die meisten der im D W b . unterschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes Seele, die deshalb nicht eigens angeführt werden. 2 Vgl. im Artikel 'Herz' des D W b . den umfangreichen Kernabschnitt B I 4, Sp. 1211-1217, ferner auch B I 5, Sp. 1217-1218, und B I 6, Sp. 1218-1219. 3 Zur Geschichte dieses Ausdruckes vgl. H . SCHMEER, Der Begriff der 'schönen Seele', besonders bei Wieland und in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Berlin 1926 (Germanische Studien 44). Ferner DWb. 'Seele' I I 18 e ß, Sp. 2902, und 'schön' 4 c, Sp. 1478f. sowie O. LADENDORF, Historisches Schlagwörterverzeichnis (1906), S. 280f., wo weitere Literatur verzeichnet ist. 4 Wenn auch etwa in den 'Bekenntnissen einer schönen Seele' der innere Werdegang dieser Gestalt durchaus den Stempel des höchst Individuellen und Besonderen trägt, so kennzeichnet doch der Ausdruck 'schöne Seele' mehr das Resultat, nämlich die in ihrer Weise vollendete harmonische Ausbildung gemeinmenschlicher sittlicher und gemüthafter Anlagen.
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Die unterscheidenden Merkmale im Gebrauch der Wörter Herz und Seele sind hier also in zwei der Goethezeit geläufigen und geradezu terminologischen Wendungen manifest geworden, und es erscheint daher um so glaubhafter, daß eben diese Merkmale auch die Differenzierung des Wortgebrauchs in der 'Iphigenie' und im 'Tasso' bewirkt haben. I n extremer, aber verdeutlichender Formulierung könnte man sagen, das Wort Seele habe eine Affinität zur Licht- oder Schauseite des Seelischen, das Wort Herz aber eine solche zur Nachtseite oder doch zu denjenigen Bezirken des menschlichen Inneren, die das Labyrinthisch-Abgründige mit einschließen. Was dem im seelischen Klima der 'Iphigenie' und des 'Tasso' entspricht, mögen, wiederum im Extrem, die beiden folgenden Stellen veranschaulichen: IPHIGENIE
Unsterbliche, die ihr den reinen Tag Auf immer neuen Wolken selig lebet, H a b t ihr nur darum mich so manches J a h r Von Menschen abgesondert, mich so nah Bei euch gehalten, mir die kindliche Beschäftigung, des heil'gen Feuers Gluth 1045 Zu nähren aufgetragen, meine Seele Der Flamme gleich in ew'ger frommer Klarheit Zu euern Wohnungen hinaufgezogen, Daß ich nur meines Hauses Gräuel später Und tiefer fühlen sollte? ALPHON S
Dich führet alles was du sinnst und treibst Tief in dich selbst. Es liegt um uns herum Gar mancher Abgrund den das Schicksal grub; 3075 Doch hier in unserm Herzen ist der tiefste Und reitzend ist es sich hinabzustürzen. Ich bitte dich, entreiße dich dir selbst! Der Mensch gewinnt was der Poet verliert. Es bedarf nun noch des näheren Zusehens, welches im einzelnen die Unterschiede in der Beschaffenheit des Seelischen sind, die die verschiedene Wortwahl in den beiden Dramen herausgefordert haben mögen. Zunächst ist hervorzuheben, daß die seelische Problematik in der 'Iphigenie' - im Gegensatz zu der des 'Tasso' - nicht von individuellen Triebkräften und Leidenschaften ausgelöst, sondern von außen, vom Schicksal
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her veranlaßt wird und sich in klaren psychischen Abläufen vollzieht, die, auch wo sie düster sind, gleichsam der Kontrolle zugänglich bleiben und nicht individuell, sondern schlechthin menschlich motiviert sind. Gerade das seelische Verhalten wird ja in dieser Dichtung durch die Typizität der handelnden Personen bestimmt, die ihr Gepräge einerseits durch ihre schicksalhafte Rolle, andererseits aber dadurch erhalten, daß sie einer vorgeprägten Lebensform nachleben. Am deutlichsten zeigt sich dieser letztere Zug in der ausdrücklichen Parallele Pylades — Odysseus, während Orest, der am wenigsten als Individualität Faßbare, als der nur durch sein besonderes Schicksal ausgezeichnete, dem Vorbild des mythischen Agamemnon nachlebende Held schlechthin erscheint. Auch Iphigenie schließlich ist, was sie ist, zunächst kraft ihres Schicksals und ihres Amtes. Das, was sie sein kann als 'des größten Königes verstoßne Tochter' und als 'Priesterin, von ihrer Göttin selbst gewählet und geheiligt', das ist sie in vollkommener Weise, doch ohne jede Beimischung individueller Sonderart. Und ebenso ist ihr Verhalten, das Thema der Dichtung ausmachend, 'reine Menschlichkeit' schlechthin, von deren Blickpunkt aus jede ihr entgegenstehende Regung lediglich als Trübung, nicht aber als Ausfluß nationaler oder persönlicher Besonderheit erscheint: THOAS
-p.
i
u 4.
IPHIGENIE
„
... ,
.
u-
Du glaubst, es höre Der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus, Der Grieche, nicht vernahm ? . j
Jis hört sie jeder, Geboren unter jedem Himmel, dem Des Lebens Quelle durch den Busen rein Und ungehindert fließt. ( 1936—1942) Aus dem Zusammentreffen dieser Gegebenheiten des Seelischen in der Iphigeniendichtung mit den im Wortbegriff Seele angelegten Tendenzen scheint sich nun der bevorzugte Gebrauch dieses Wortes zu erklären. Nicht das Besondere und Geprägte, sondern das — jenseits aller Individualität — potentiell Allgemein-Menschliche, zugleich aber das Reine und Vollkommene soll hier bezeichnet werden, und es besteht nach dem oben Gesagten kein Zweifel, daß das Wort S e e l e aus seiner Geschichte eine entschiedene Affinit ä t gerade zu diesem Bereich des Seelischen mit sich bringt. Insbesondere
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scheinen sich die Wendungen ' r e i n e S e e l e ' (1583, 1874) und ' h o h e S e e l e ' (2143) in der Auffassung, die der Textzusammenhang ihnen gibt, der Vorstellung der anima Candida zu nähern — ohne daß freilich eine historische Beziehung zu diesem ihrem begrifflichen Vorläufer 1 vorauszusetzen wäre — wodurch der schon im Wortbegriff Seele allein anklingende Ausdruckswert noch präzisiert und gesteigert wird. Ganz anders als in der 'Iphigenie' sind die Äußerungen des Seelischen im 'Tasso' geartet. Besonders kennzeichnend ist hier die Hinwendung auf das. eigene Ich, wie sie sich in den peinlichen Analysen der eigenen Seelenzustände, zumal in Tassos Monologen und in den Gesprächen der Prinzessin mit der Gräfin Leonore, ausdrückt. Wird hierin schon ein individualistischer Zug sichtbar, so andererseits auch in der durchaus nicht typologisch angelegten, sondern sehr profilierten und in der Wesensart extrem besonderen Individualität der Personen des 'Tasso'. Nur wenig Entscheidendes versteht sich ferner im 'Tasso' — wie es in der 'Iphigenie' der Fall ist — aus Motiven, die dem Menschenwesen schlechthin entspringen und nur durch die besondere Situation ausgelöst sind. Zwar sind die Reaktionen des Herzogs, der Gräfin Leonore und auch Antonios bis zu einem gewissen Grade berechenbar, von einer Oberflächenschicht des Seelischen her verständlich und daher in gewissem Sinne typisch. Aber der eigentliche Vortrieb des Geschehens wird doch eben durch unberechenbare, atypische Verhaltensweisen veranlaßt, die einem tiefer gelegenen, undurchleuchteten und nicht unmittelbar zugänglichen Bereich des Seelischen entstammen. Es soll nicht etwa behauptet werden, daß der Gebrauch des Wortes H e r z nun alledem Ausdruck verleihe. Aber die Eignung und Neigung dieses Wortes, besonders auch die Bezirke des Fühlens und Trachtens innerhalb desSeelischen, dessen 'Nachtseite' im Sinne der obigen Gegenüberstellung anzudeuten, zugleich aber auch das mehr Persönlich-Geprägte als das MenschlichAllgemeine zu bezeichnen, diese Neigung läßt die Vorzugsstellung, die dem Worte Herz im 'Tasso' eingeräumt wird, verständlich erscheinen. Wenn das allgemeine Häufigkeitsverhältnis der Wörter Seele und H e r a auf seiten der 'Iphigenie' nicht das Bild einer entschiedenen Differenzierung liefert, so wird das zum guten Teil an dem oft wenig betonten und prägnanten Gebrauch dieser Wörter liegen, die ja vielfach nur als beiläufig verwendete Bezeichnungen der inneren Empfindung auftreten. Jedenfalls erhebt sich das Wort Herz an keiner Stelle der 'Iphigenie' über diese untergeordnete Funktion, die es mit den Wörtern Brust und Busen teilt. 1
Vgl. D W b . 'schön' 4 c, Teil 9, Sp. 1778.
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Im 'Tasso' ist immerhin auch das allgemeine Zahlenverhältnis eindeutig, und in beiden Dramen lassen die besprochenen metonymischen Wendungen aufs deutlichste erkennen, wie scharf sich bei nur wenig exponierterem Gebrauch die Wortwahl scheidet. Es bleibt noch zu erwähnen, daß sich in Wendungen wie 'das schöne Herz', 'das edle, große Herz' mit der Tönung des individuell Geprägten zugleich ein Zug der Exklusivität zu verbinden scheint, der an die 'edelen herzen' Gottfrieds von Straßburg erinnert. Deutlicher tritt dieser Zug in den beiden folgenden Stellen hervor, wo die Werte einer entwickelten Gemüts- und Geistesbildung und einer besonderen inneren Gestimmtheit durch das Wort Herz als diejenigen Eigenschaften zusammengefaßt werden, die zu einer erlesenen Gemeinsamkeit überhaupt erst befähigen: TASSO
Ach! rief ich aus, hat denn die Schwester nur Das Glück, das Recht, der Theuren viel zu seyn ? »02 Ist denn kein Herz mehr werth daß sie sich ihm Vertrauen dürfte, kein Gemüth dem ihren Mehr gleich gestimmt ? Ist Geist und Witz verloschen ? PRINZESSINN
1003 Noch treffen sich verwandte Herzen an Und theilen den Genuß der schönen Welt; Wohl nicht zufällig teilt das Wort Herz diese Funktion in' dem ersten Beispiel mit dem Worte G e m ü t , das noch an zwei weiteren Stellen in metonymischer Verwendung als Kennwort dieser Exklusivität auftritt: LEONORE
Ferrara ward durch seine Fürsten groß. PRINZESSINN
Mehr durch die guten Menschen, die sich hier Durch Zufall trafen und zum Glück verbanden. LEONORE
Sehr leicht zerstreut der Zufall was er sammelt. Ein edler Mensch zieht edle Menschen an Und weiß sie fest zu halten wie ihr thut. Um deinen Bruder und um dich verbinden 62 Gemüther sich, die eurer würdig sind, Und ihr seyd eurer großen Väter werth.
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Und in negativer Wendung derselben Auffassung: TASSO
Und warum nach Florenz? Ich seh es wohl. Dort herrscht der Mediceer neues Haus, Zwar nicht in offner Feindschaft mit Ferrara. Doch hält der stille Neid mit kalter H a n d 2524 Die edelsten Gemüther auseinander. Auch in den folgenden Belegen erscheinen die Werte des Gemüts als wirkliches oder mögliches Medium einer exklusiven Gemeinsamkeit : PRINZESSINN
Wie mehrte sich im Umgang das Verlangen Sich mehr zu kennen, mehr sich zu verstehn, 1867 Und täglich stimmte das Gemüth sich schöner Zu immer reinem Harmonien auf. TASSO Wir nahen uns dem Fürsten Durch Adel nur der uns von Vätern k a m ; 1355 Warum nicht durchs Gemüth, das die Natur Nicht jedem groß verlieh, wie sie nicht jedem Die Reihe großer Anherrn geben konnte. Von den übrigen Verwendungen des Wortes Gemüt läßt ein größerer Teil keine Besonderheiten in der Auffassung erkennen. 1 Jedoch wird die tragende Vorstellung einer reichen und kultivierten inneren Empfindungswelt durch den wiederholten Gebrauch des Wortes 2 auch sonst hervorgehoben: LEONORE
163 Das weit zerstreute sammelt sein Gemüth, Und sein Gefühl belebt das Unbelebte. LEONORE
Es bildet ein Talent sich in der Stille, Sich ein Charackter in dem Strom der Welt. 306 0 daß er sein Gemüth wie seine Kunst An deinen Lehren bilde! 1
Ein vom hier Besprochenen abweichender Anwendungsbereich wird unten S. 81 f. erörtert. 2 In der 'Iphigenie' begegnen nur die Stellen . . So wende meinem Freunde dein Gemüth, j Dem würd'gern Manne zu' 1208 und 'Das Heer entwöhnte längst v o m harten Opfer / Und von dem blut'gen Dienste sein Gemüth' 1469. 6
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P R I N Z E S SINN
m e h r
874 Und mehr verwöhnt sich das Gemüth, und strebt Die goldne Zeit, die ihm von außen mangelt, I n seinem Innern wieder herzustellen Zudem wird diese Anschauung nach der intellektuellen Seite hin durch den Wortbegriff G e i s t ergänzt. Auch hier kommen nur wenige sprechende Stellen in Betracht, doch darf dem Wort auf Grund seines reichlichen Gebrauches wohl eine stilistische Wirkung in dem Sinne zugeschrieben werden, daß es die Vorstellung des intellektuellen Vermögens und der Wertschätzung desselben im höfischen Kreise des 'Tasso' durch einen größeren Teil seiner Anwendungen lebendig erhält. 1 Daß auch diesem Vorstellungsbereich tragende Bedeutung im Sinngefüge des 'Tasso' zukommt, konnte an seinen prägnanteren sprachlichen Entsprechungen, den Wörtern klug und Klugheit, bereits gezeigt werden. Hier sind nun noch diejenigen Stellen des Wortes Geist hervorzuheben, die der Ausdrucksrichtung nach mit dem Worte Gemüt korrespondieren, indem sie der Vorstellung einer entwickelten inneren Empfindungswelt diejenige einer kultivierten Geistesbildung in ausdrücklicherer Fassung gegenüberstellen 2 : LEONORE
139 Dein hoher Geist umfaßt ein weites Reich Ich halte mich am liebsten auf der Insel Der Poesie in Lorberhaynen auf. LEONORE
1928 Wie reitzend ist's in seinem schönen Geiste Sich selber zu bespiegeln! Wird ein Glück Nicht doppelt groß und herrlich, wenn sein Lied Uns wie auf Himmels-Wolken trägt und hebt. ANTONIO
Die letzten Enden aller Dinge will 2136 Sein Geist zusammen fassen; 1
Außer den unten zitierten Stellen sind hier vor allem die folgenden zu nennen: 183, 247, 893, 1348, 2027, 2196, 3134. In den übrigen Verwendungen bezieht sich Geist — ähnlich wie in den sechs Belegstellen der 'Iphigenie' — zumeist unspezifisch auf das menschliche Innere. a Dazu die schon oben S. 78 für Herz (902) und Gemüt zitierte Stelle 904.
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ANTONIO
2875 Wer seinen Geist so viel gebildet hat, Wer jede Wissenschaft zusammen geitzt Und jede Kenntniß die uns zu ergreifen Erlaubt ist, sollte der, sich zu beherrschen Nicht doppelt schuldig seyn? Schließlich ist noch eine Verwendungsweise des Wortes G e m ü t zu nennen, die es mit dem Worte S i n n teilt. Beide Ausdrücke bezeichnen häufig das Seelische eines Menschen, insofern es eine bestimmte Beschaffenheit zeigt; sie zielen also auf die individuelle Sonderart einer Person a b : TA SSO
2318 O glaube mir ein selbstisches Gemüth K a n n nicht der Quaal des engen Neids entfliehen. TASSO
3101 Du hörtest wohl das war nicht sein Gemüth, Das waren seine Worte nicht, mir schien Als klänge nur Antonios Stimme wieder. LEONORE
n Du hast mit höherm Sinn und größrem Herzen Den zarten schlanken Lorber dir gewählt. PRINZESSINN
Was half denn unsrer Mutter ihre Klugheit ? 1793 Die Kenntniß jeder Art, ihr großer Sinn? TASSO
2772 Erkenn' ich noch Alphonsens festen Sinn? Der Feinden trotzt und Freunde treulich schützt Insbesondere beziehen sich solche Anwendungen auf die problematische Sinnesweise Tassos: ALPHON S
2865 Ich kenne nur zu gut den Sinn des Mannes, U n d weiß nur allzuwohl was ich gethan, Wie sehr ich ihn geschont, wie sehr ich ganz Vergessen, daß ich eigentlich an ihn Zu fordern hätte. Über vieles kann 2870 Der Mensch zum Herrn sich machen, seinen Sinn Bezwinget kaum die Noth und lange Zeit. 6»
82
JOHANNES
LEONORE
MANTEY
,
A
dort Traf' ich in wenig Wochen ihn, und könnte 1719 Auf sein Gemüth als eine Freundinn wirken. LEONORE
2161 Nun hoffst du selbst auf ein Gemüth zu wirken Das dir vor kurzem noch verlohren schien. ANTONIO
Gewürze, süße Sachen, stark Getränke, Eins um das andre schlingt er hastig ein, 2892 Und dann beklagt er seinen trüben Sinn, Sein feurig Blut, sein allzuheftig Wesen 1 Auch hier darf wohl von einer Spiegelung inhaltlicher Gegebenheiten der Dichtung im Wortgebrauch gesprochen werden. Die Besonderheit der Gemütsart, der im 'Tasso' so hervorragende Bedeutung zukommt, bedarf als Faktum der Bezeichnung, und durch den reichlichen Gebrauch der Worte Gemüt und Sinn wird dieses Faktum merklich hervorgehoben. 5. Die Reizbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens Man könnte erwarten, daß im Wortgebrauch des 'Tasso' besonders auch diejenigen Wörter einen bevorzugten Platz einnehmen, die mit der Ansprechbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens zusammenhängen. Das ist indessen nur in begrenztem Maße der Fall. Von den hierhergehörigen Ausdrücken f ü h l e n , G e f ü h l , s c h ö n , sowie h o l d , s ü ß , r e i z e n d , z a r t und f e i n treten die drei ersten zwar im 'Tasso' recht häufig auf, doch sind fühlen und schön auch in der 'Iphigenie' nicht selten 2 , und ihr Gebrauch zeigt in den beiden Dramen keine ins Gewicht fallenden Unterschiede. Die Wörter f ü h l e n und G e f ü h l weisen im 'Tasso' eine besondere Eigenart nur in den folgenden wenigen Stellen auf, in denen sie einer gesteigerten inneren Empfänglichkeit für Werte des Gemüts und des Geistes Ausdruck verleihen: 1 Vgl. noch Gemüt 3068; Sinn 92, 1449, 2763, 3217 (abweichend: 109, 717). Die neun Belegstellen für Sinn in der 'Iphigenie' (zu Gemüt vgl. S. 79 Anm. 2) zeigen demgegenüber keine Besonderheiten der Auffassung: 121, 261, 394, 530, 572, 784, 791, 1457, 1466. 2 fühlen: Tasso 35, Iph. 16 (24); Gefühl: Tasso 12, Iph. 3 (5); schön: Tasso 88, Iph. 38 (57).
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JOHANNES
LEONORE
MANTEY
,
A
dort Traf' ich in wenig Wochen ihn, und könnte 1719 Auf sein Gemüth als eine Freundinn wirken. LEONORE
2161 Nun hoffst du selbst auf ein Gemüth zu wirken Das dir vor kurzem noch verlohren schien. ANTONIO
Gewürze, süße Sachen, stark Getränke, Eins um das andre schlingt er hastig ein, 2892 Und dann beklagt er seinen trüben Sinn, Sein feurig Blut, sein allzuheftig Wesen 1 Auch hier darf wohl von einer Spiegelung inhaltlicher Gegebenheiten der Dichtung im Wortgebrauch gesprochen werden. Die Besonderheit der Gemütsart, der im 'Tasso' so hervorragende Bedeutung zukommt, bedarf als Faktum der Bezeichnung, und durch den reichlichen Gebrauch der Worte Gemüt und Sinn wird dieses Faktum merklich hervorgehoben. 5. Die Reizbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens Man könnte erwarten, daß im Wortgebrauch des 'Tasso' besonders auch diejenigen Wörter einen bevorzugten Platz einnehmen, die mit der Ansprechbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens zusammenhängen. Das ist indessen nur in begrenztem Maße der Fall. Von den hierhergehörigen Ausdrücken f ü h l e n , G e f ü h l , s c h ö n , sowie h o l d , s ü ß , r e i z e n d , z a r t und f e i n treten die drei ersten zwar im 'Tasso' recht häufig auf, doch sind fühlen und schön auch in der 'Iphigenie' nicht selten 2 , und ihr Gebrauch zeigt in den beiden Dramen keine ins Gewicht fallenden Unterschiede. Die Wörter f ü h l e n und G e f ü h l weisen im 'Tasso' eine besondere Eigenart nur in den folgenden wenigen Stellen auf, in denen sie einer gesteigerten inneren Empfänglichkeit für Werte des Gemüts und des Geistes Ausdruck verleihen: 1 Vgl. noch Gemüt 3068; Sinn 92, 1449, 2763, 3217 (abweichend: 109, 717). Die neun Belegstellen für Sinn in der 'Iphigenie' (zu Gemüt vgl. S. 79 Anm. 2) zeigen demgegenüber keine Besonderheiten der Auffassung: 121, 261, 394, 530, 572, 784, 791, 1457, 1466. 2 fühlen: Tasso 35, Iph. 16 (24); Gefühl: Tasso 12, Iph. 3 (5); schön: Tasso 88, Iph. 38 (57).
5. Die Reizbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens
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LEONORE
Die Stätte, die ein guter Mensch betrat Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt Sein Wort und seine That dem Enkel wieder. PRINZESSINN
83 Dem Enkel, wenn er lebhaft fühlt wie du. Gar oft b^neid' ich dich um dieses Glück. LEONORE
Das du, wie wenig andre, still und rein Genießet. Drängt mich doch das volle Herz 87 Sogleich zu sagen was ich lebhaft fühle, 88 Du fühlst es besser, fühlst es tief und - schweigst. TASSO
Die Menge macht den Künstler irr und scheu: 455 Nur wer Euch ähnlich ist, versteht und fühlt, Nur der allein soll richten und belohnen! PRINZESSINN
~
Du Sollst uns dereinst in Tassos Liedern zeigen 745 Was wir gefühlt und was nur du erkennst. LEONORE
Das weit zerstreute sammelt sein Gemüth, 164 Und sein Gefühl belebt das Unbelebte. Dieser Wortgebrauch fügt sich also der Ausdrucksrichtung der im vorigen Abschnitt behandelten Wörter Gemüt und Geist an, ohne doch von sich aus eine dominierende Stellung einzunehmen. Die Verwendung des Wortes schön im 'Tasso' weicht vom Gebrauch des Wortes in der 'Iphigenie' nur insofern ab, als hier einerseits der Dichterkranz 1 und andererseits die Poesie im engeren oder weiteren Sinne 2 durch dieses Beiwort ausgezeichnet werden. Die übrigen Verwendungen des Wortes beziehen sich im 'Tasso' wie in der 'Iphigenie' teils auf gegenständliche oder im Erlebnis liegende, teils auf seelisch-sittliche Schönheit, ohne daß ihre Aussagekraft über die Forderungen der jeweiligen Textstelle hinausginge. 1 2
459, 473, 480, 540, 1333; auch 524, 709, 2028. 177, 182, 806, 2123, 2759.
Johannes Mantby
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Etwas anders steht es mit den Wörtern h o l d , s ü ß und r e i z e n d . Sie betonen in einigen ihrer Anwendungen einen Zug gefühlvoller Empfindsamkeit, der f ü r den Geist des Tasso-Kreises charakteristisch ist. Jedoch tritt von diesen Wörtern nur hold mit nennenswerter Häufigkeit auf 1 , so daß lediglich dem Zusammenwirken der drei Wörter eine gewisse stilistische Suggestivkraft zugeschrieben werden kann. So wird in unterschiedlichen Auffassungen der Zauber der Poesie mit diesen Ausdrücken angedeutet 2 : LEONORE
Und dann nach dieser ernsten Unterhaltung R u h t unser Ohr und unser innrer Sinn Gar freundlich auf des Dichters Reimen aus, Der uns die letzten lieblichsten Gefühle 138 Mit holden Tönen in die Seele flößt. TASSO Des Mahlers Pinsel und des Dichters Lippe, lies Die süßeste die je von frühem Honig Genährt war, wünscht ich mir. PRINZESSINN
E r will nicht Mährchen über Mährchen häufen, 277 Die reitzend unterhalten und zuletzt Wie lose Worte nur verklingend täuschen. In ähnlichem Sinne kennzeichnen hold und süß die Anmut der träumerischen Phantasien Tassos: PRINZESSINN
Du hast den Dichter fein und zart geschildert 174 Der in den Reichen süßer Träume schwebt. LEONORE
Und wenn wir denn auch Lieb um Liebe tauschten, Belohnten wir das schöne Herz nicht billig, Das ganz sich selbst vergißt und hingegeben 2103 I m holden Traum f ü r seine Freunde lebt? Wesentlich ausdruckskräftiger sind jedoch diejenigen Verwendungen, in denen durch das Mittel des Oxymorons der betörende Reiz hervorgehoben wird, der im Leid, in der Schwäche, ja in der Verfehlung und Unart liegen kann: 1 2
hold: Tasso 21, Iph. 7 (11); süß: Tasao 8, Iph. 3 (5); reizend: Tasso 5, Iph. 0. Vgl. noch hold 405, 1108, 2008.
5. Die Reizbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens
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LEONORE
195 Sein reitzend Leid, die selge Schwermuth lockt Ein jedes Ohr und jedes Herz muß nach LEONORE
Er heftet sich an Schönheit und Gestalt 233 Nicht gleich mit süßem Irrthum fest, und büßet Nicht schnellen Rausch mit Ekel und Verdruß. TASSO
Wir Menschen werden wunderbar geprüft; Wir könnten's nicht ertragen, h ä t t uns nicht i58i Den holden Leichtsinn die Natur verliehn. Mit diesem K u ß vereint sich eine Thräne Und weiht dich der Vergänglichkeit! es ist 1588 Erlaubt das holde Zeichen unsrer Schwäche. ANTONIO
Glückseiger Jüngling. . . . . . dem so schön vergönnt ist Den Knaben noch als Mann zu spielen, der 2090 Sich seiner holden Schwäche rühmen darf! Die Zwielichtigkeit dieser Stellen ist gewiß nicht nur zufälliger Ausdruck einer gesteigerten Reizbarkeit des Gefühls. I n anderen Zusammenhängen wurde schon an den Wörtern Glück, Welt, klug, Traum und still gezeigt, wie leicht die mit diesen Ausdrücken bezeichneten Werte ins Negative und Gefährlich-Abgründige umschlagen können. Die Erörterung des Wortes Herz lief auf den Versuch hinaus, dessen bevorzugten Gebrauch im 'Tasso' zu eben diesen nächtigen Zügen des Seelischen in Beziehung zu setzen. Die folgende, dort schon einmal zitierte Stelle spricht dafür, daß auch mit den hier in Frage stehenden Wörtern eine Empfindungsweise angedeutet wird, die ins Verderbliche umzuschlagen droht: ALPHON S
Dich führet alles was du sinnst und treibst Tief in dich selbst. Es liegt um uns herum Gar mancher Abgrund den das Schicksal grub; Doch hier in unserm Herzen ist der tiefste 3076 Und reitzend ist es sich hinabzustürzen. Ich bitte dich, entreiße dich dir selbst! Der Mensch gewinnt was der Poet verliert.
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JOHANNES MANTEY
Auf Grund der angeführten Stellen darf den Ausdrücken des ästhetischen Empfindens und der Ansprechbarkeit des Gefühls wohl ein bescheidener Platz im Gesamtgefüge des stilistisch relevanten Wortschatzes zuerkannt werden. Wenn sie auch im einzelnen kein nennenswertes Gewicht erlangen, so unterstützen sie sich doch gegenseitig in ihrer Wirkung und umfassen gemeinsam einen für den 'Tasso' charakteristischen Sinnbezirk. Aus diesem Grunde mögen noch einige andere Wörter in die Betrachtung einbezogen werden, die zwar nur sporadisch und ohne besondere Prägnanz auftreten, sich aber dem beschriebenen Gebrauch anschließen und ihn verstärken. So begegnen l i e b l i c h und selig in den bereits für hold (V. 138) und reizend (V. 195) angeführten Belegen in ganz ähnlicher Auffassung wie diese Wörter. Ebenso in den folgenden Stellen: LEONORB
209 Wenn er in seliger Betrachtung sich Mit deinem Werth beschäftigt, mag er auch An meinem leichtern Wesen sich erfreun. PRINZESSINN
Erst sagt ich mir, entferne dich von ihm! Ich wich und wich und kam nur immer näher. 1898 So lieblich angelockt, so hart bestraft! ALPHONS
, ...
,
hüte dich 3032 Durch strengen Fleiß die liebliche Natur Zu kränken, die in deinen Reimen lebt Auch die Wörter e n t z ü c k t und E n t z ü c k e n können hier genannt werden, die eine gesteigerte Gemütslage der Empfindsamkeit bezeichnen: Hat die Freude mir 5X4 Hat das Entzücken dieses Augenblicks Das Mark in meinen Gliedern aufgelöst ? TASSO
LEONORE
Erwach! Erwache! Laß uns nicht empfinden Daß du das Gegenwärtge ganz verkennst. TASSO
Es ist die Gegenwart die mich erhöht, 56i Abwesend schein ich nur, ich bin entzückt. 1 1
Vgl. noch entzückt 152; wie ein Verzückter 737.
5. Die Reizbarkeit des Gefühls und des ästhetischen Empfindens
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In etwas anderer Richtung liegt der Ausdrucksgehalt von z a r t und fein. Zart, im 'Tasso' nicht unhäufig 1 , wird hier vor allem auf die weibliche Wesensart bezogen, und zwar in betonterer Verwendung, als es in den vergleichbaren Stellen der 'Iphigenie' der Fall ist, die einen mehr beiläufigen und konventionellen Charakter haben 2 : PRINZESSINN
Die Schicklichkeit umgiebt mit einer Mauer 1018 Das zarte leicht verletzliche Geschlecht. ALPHON S
Es wäre doch recht artig, meine Freundinn, Wenn in das große Spiel wir auch zuweilen 649 Die zarten Hände mischen könnten - Nicht? 3 Daneben aber charakterisiert zart ausdrücklicher eine Empfindungsweise von besonderer Feinheit und kommt damit der Auffassung der Wörter hold, süß usw. näher. So in den folgenden Versen aus dem Anfang des 'Tasso', die die erste Charakteristik der beiden Frauen enthalten: LEONORE
Wir winden Kränze. Dieser, bunt von Blumen, Schwillt immer mehr und mehr in meiner Hand, Du hast mit höherm Sinn und größerm Herzen 12 Den zarten schlanken Lorber dir gewählt. Dann auch in engerer oder loserer Koppelung mit fein 4 : PRINZE S SINN
173 Du hast den Dichter fein und zart geschildert Der in den Reichen süßer Träume schwebt. PRINZE S SINN
. . . wenn die fürstliche Begier des Ruhms, Des ausgebreiteten Besitzes Stoff Im 'Tasso' 14, in der 'Iphigenie' 6 (9) Belege. Vgl. 'Muß ein zartes Weib / Sich ihres angebornen Rechts entäußern' 1908; auch 496, 512, 1715. 3 Vgl. noch 1088, 1628 und 1938. Andere Zeugnisse dieser Auffassung bezeichnen das Verhalten der Frauen zu Tasso: 2506, 3333; zum Teil mit bitterer Ironie: 2272, 2491. 4 Fein begegnet im 'Tasso' siebenmal, in der 'Iphigenie' nur einmal (168). 1
3
88
JOHANNES MANTEY
131 Dem Denker wird, und wenn die feine Klugheit, Von einem klugen Manne zart entwickelt, Statt uns zu hintergehen uns belehrt. Hierbei ist anzumerken, daß auch der durch fein repräsentierte Sinngehalt gelegentlich eine Wendung ins Negative erfährt; denn wie in dem soeben zitierten Beleg, so verbindet sich fein auch in den beiden übrigen hier in Betracht kommenden Verwendungen mit dem Begriff der Klugheit, durch dessen spezifische Tönung es besonders in der letzten Stelle in das Gebiet des Dolosen übergeführt wird 1 : TASSO
Wer wird die Klugheit tadlen ? Jeder Schritt Des Lebens zeigt wie sehr sie nöthig sey; Doch schöner ist's wenn uns die Seele sagt 1212 Wo wir der feinen Vorsicht nicht bedürfen. LEONORE
Er spricht mit Achtung oft genug von dir. TASSO
2308 Mit Schonung willst du sagen, fein und klug. Und das verdrießt mich eben; denn er weiß So glatt und so bedingt zu sprechen, daß Sein Lob erst recht zum Tadel wird und daß Nichts mehr, nichts tiefer dich verletzt als Lob Aus seinem Munde.2 Zusammenfassend kann von den Wörtern dieses Sinnbereiches gesagt werden, daß sie in mannigfaltigen Brechungen einer gesteigerten und bisweilen übersteigerten Ansprechbarkeit des Feingefühls Ausdruck verleihen, der jedoch die Gefahr des Sichverlierens in der Empfindung oder auch des Abgleitens ins Unlautere innewohnt. 1
Dieser Wortsinn ist jedoch bereits im allgemeinen Sprachgebrauch angelegt; vgl. fein 'astutus' DWb. Teil 3, Sp. 1454, Ziffer 14. 1 Vgl. noch 1470; anders 960 und 2076.
6. Schwäche und Leiden
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6. Schwäche und Leiden Zu einem nicht unwesentlichen Teil erhält der Wortschatz des 'Tasso' sein Gepräge durch Wörter, die dem Sinnbezirk des Leidens und der Schwäche angehören. Diese Ausdrücke sind nun zwar in weit höherem Maße als die übrigen Bestandteile des stilistisch wirksamen Wortschatzes an den Inhalt des Textwortlautes gebunden. Da in dem zweiten Gespräch der Prinzessin mit Leonore Sanvitale und in den letzten verzweifelten Äußerungen Tassos von Schmerz und Leid stets unmittelbar die Rede ist, kann es nicht verwundern, wenn solche Ausdrücke sich in diesen Stellen sehr stark häufen, während sie sonst nur sporadisch auftreten. Die Wörter des Schmerzes haben also keinen erheblichen Anteil an der sonst beobachteten Erscheinung, daß ein f ü r die Sinnesart des Tasso-Kreises kennzeichnendes Wort gleichsam ständig in Bereitschaft liegt, in den Dialog eingeflochten zu werden. Dennoch darf die Intensität, mit der die Begriffe der Krankheit, des Leidens, der Einsamkeit, der Sehnsucht im Text hervortreten, nicht übersehen werden. Das Besondere der Auffassung liegt darin, daß die leidvollen Seiten des Lebens nicht als etwas im Grunde Zufälliges erscheinen, sondern daß das Leid sich als eine immer gegenwärtige Lebenswirklichkeit darstellt. So in den folgenden Worten Tassos, in denen der Schmerz als etwas ihm stets Vertrautes und gleichsam Selbstverständliches erwähnt wird: So laßt mich denn beschämt von hinnen gehn! Laßt mich mein Glück im tiefen H a y n verbergen, 529 Wie ich sonst meine Schmerzen dort verbarg. Ähnliches drückt sich in den Versen aus, die zu der bitteren Lebensklage der Prinzessin überleiten: PRINZESSINN
1776 Muß ich denn wieder diesen Schmerz als gut Und heilsam preisen ? Das war mein Geschick Von Jugend auf, ich bin nun dran gewöhnt. Wie hier, so findet sich auch in Äußerungen Tassos die biographische Ursache dieser Vertrautheit mit dem Schmerz angedeutet: Eröffnete die Lippe sich zu singen, So floß ein traurig Lied von ihr herab, Und ich begleitete mit leisen Tönen 4i6 Des Vaters Schmerzen und der Mutter Quaal.
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JOHANNES MANTEY
Dort wohnet meine Schwester, die mit mir 3151 Die Schmerzensfreude meiner Eltern war. Aber nicht auf diese sparsam angedeuteten biographischen Fakten kommt es an. Das Wesentliche ist, daß hier vergangenes Leid die gegenwärtige Lebenseinstellung Tassos und besonders der Prinzessin durchaus beherrscht; daß es nicht als etwas Abgetanes erscheint, woran man sich wohl einmal erinnert, wovon man sich aber im Grunde befreit fühlt, sondern als eine das Leben beherrschende Macht, vor der es kein Entrinnen gibt. Das tiefe Mißtrauen in das Leben, das dieser Einstellung zugrunde liegt, spricht sich sogleich in den Versen aus, die den oben angeführten Worten der Prinzessin unmittelbar folgen: PRINZESSINN
Nur halb ist der Verlust des schönsten Glücks Wenn wir auf den Besitz nicht sicher zählten. LEONORE
Ich hoffe, dich so schön du es verdienst Glücklich zu sehn! PRINZESSINN
Eleonore! Glücklich?
Wer ist denn glücklich ? — Meinen Bruder zwar Möcht' ich so nennen, denn sein großes Herz Trägt sein Geschick mit immer gleichem Muth; Allein was er verdient das ward ihm nie. Ist meine Schwester von Urbino glücklich ? (1779—1787 t—1797]) Nach diesen Worten erscheint die daran anschließende Klage, in der die Wörter des Schmerzes, der Krankheit, der Einsamkeit und der Sehnsucht 1 in dichter Häufung auftreten, nicht lediglich als eine Schilderung überstandenen Leides, sondern sie hat gleichsam exemplarische Geltung. Was hier implicite vorliegt, ist die Beweisführung des Entmutigten, der aus erlittenem Mißgeschick die sichere Erwartung des Künftigen herleitet: LEONORE
0 blicke nicht nach dem was jedem fehlt, Betrachte was noch einem jeden bleibt! Was bleibt nicht Dir, Prinzessinn ? 1
Mit eindringlicher Wiederholung begegnet das Wort Sehnsucht noch in den Versen 1860, 1895 und 1904. (Abweichend 1884.)
6. Schwäche und Leiden
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PRINZESSINN
Was mir bleibt ? Geduld, Eleonore! üben könnt ich die Von Jugend auf. Wenn Freunde, wenn Geschwister Bey Fest und Spiel gesellig sich erfreuten, Hielt Krankheit mich auf meinem Zimmer f e s t , Und in Gesellschaft mancher Leiden m u ß t ' Ich früh entbehren lernen. Eines war Was in der Einsamkeit mich schön ergötzte, Die Freude des Gesangs; ich unterhielt Mich mit mir selbst, ich wiegte Schmerz und Sehnsucht Und jeden Wunsch mit leisen Tönen ein. Da wurde Leiden oft Genuß und selbst Das traurige Gefühl zur Harmonie. Nicht lang war mir dieß Glück gegönnt, auch dieses Nahm mir der Arzt hinweg; sein streng Gebot Hieß mich verstummen; leben sollt' ich, leiden, Den einz'gen kleinen Trost sollt' ich entbehren! (1798—1816)
Durch diese Bezogenheit auf eine Grundtönung der Lebensstimmung erhalten die Wörter des Schmerzes erst ihr Gewicht, und die Wucht ihrer Häufung an so betonter Stelle verleiht ihnen an Nachdruck, was ihnen an gleichmäßiger Wirkung im Texte abgeht. Bemerkenswert und auffällig ist in diesen Versen die Wendung 'Da wurde Leiden oft Genuß', die an die im vorigen Abschnitt berührten Oxymora 'reizend Leid', 'sel'ge Schwermut' usw. erinnert. Wie hier die ästhetische Wertung im Vordergrund steht, so in der folgenden Stelle die sittliche: PRINZESSINN
Wenn jener edle Kreis wenn jene Thaten Zu Müh und Streben damals dich entflammten, So könnt' ich, junger Freund, zu gleicher Zeit 845 Der Duldung stille Lehre dir bewähren. Zusammengenommen weisen auch diese beiden Stellen - wenngleich von einer ganz anderen Seite her — darauf hin, daß hier das Leid nicht lediglich erlitten, sondern gleichsam als ein gehegter Besitz in das Lebensgefühl aufgenommen wird. Während die Gemütslage der Prinzessin vornehmlich durch die Ausdrücke des Leides und Leidens - S c h m e r z , L e i d , l e i d e n , k r a n k ,
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Johannes
Mantey
K r a n k h e i t und D u l d u n g 1 — bezeichnet wird, stehen im Hinblick auf Tasso mehr die Wörter e i n s a m , E i n s a m k e i t , s c h o n e n , S c h o n u n g und d u l d e n , G e d u l d im Vordergrund, denen gemeinsam ist, daß sie von verschiedenen Seiten her den Zug der Schwäche, der Labilität und Schonungsbedürftigkeit in Tassos Wesen hervorheben. Der Begriff der E i n s a m k e i t scheint zunächst aus dem hier behandelten Sinnbezirk herauszufallen, ja zu den Ausdrücken des Schmerzes sogar einen Gegensatz zu bilden, wenn man die Beiwörter 'schmeichelnd' und 'gefällig' in den beiden folgenden Stellen in Betracht zieht: ALPHONS
,
,
,
Sich und andre Wird er gezwungen recht zu kennen. Ihn 298 Wiegt nicht die Einsamkeit mehr schmeichlend ein. Es will der Feind — es darf der Freund nicht schonen TASSO
753 Mir scheint die Einsamkeit zu winken, mich Gefällig anzulispeln: komm, ich löse Die neu erregten Zweifel deiner Brust. Aber schon aus diesen Stellen selbst wird deutlich, daß die Dinge anders liegen. I n beiden Fällen wird dem Streben Tassos nach Einsamkeit durch den weiteren Textzusammenhang ganz unzweideutig der Charakter der Flucht beigelegt, des Ausweichens vor den Anforderungen des Weltlebens und seinen möglichen Konflikten, oder vor einem bereits eingetretenen Konflikt. Die Sensibilität, die diesem Verhalten Tassos zugrunde liegt, zeigt sich in einer Stelle der Bekränzungsszene in ihrer ganzen Kompliziertheit : TASSO
So laßt mich denn beschämt von hinnen gehn! Laßt mich mein Glück im tiefen H a y n verbergen, Wie ich sonst meine Schmerzen dort verbarg. 530 Dort will ich einsam wandlen, dort erinnert Kein Auge mich an's unverdiente Glück. 1 Außer den angeführten Stellen vgl noch Schmerz 851, 1740, 1825, 1855, 1896, auch 3174; Leiden 1825; leiden 852; krank 1848 (nicht hierher 1819); Krankheit 1043. — Auf Tasso bezogen begegnen Wörter des Schmerzes von den angeführten Stellen abgesehen nur am Schlüsse der Dichtung (Elend 3357; elend 3405, 3407; Schmerz 3364, 3409, 3428, 3430; Schmerzenslaut 3374; schmerzlich 3383). Als bedingt hierher gehörig ist Leiden 2039 anzusehen; außer Betracht bleiben Leid 195, 899, 2125, leiden 1744, 2202 und Leiden, leiden 2914.
6. Schwäche und Leiden
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Zwar muß hier wohl, wie bei der Erörterung des Wortes bescheiden ausgeführt wurde, Tassos Reaktion als — wenn auch unbewußt — affektiert angesehen werden; aber daß er gerade auf diesen Zug seines Wesens zurückgreift und sich und den anderen vorspiegelt, vor der Auszeichnung mit dem Dichterkranz zurückzuschrecken und in die Einsamkeit fliehen zu wollen wie vor einem Schmerz, dieses Verhalten erweist doch aufs deutlichste, wie tief die Fluchtbereitschaft in seinem Wesen verankert ist. Ganz unzweifelhaft ist daher der mit den Wörtern einsam und Einsamkeit angedeutete Zug als ein Symptom der Verletzlichkeit und Schwäche zu deuten, und er wird auch von Tasso selbst so empfunden 1 : Nein, künftig soll Nicht Tasso zwischen Bäumen zwischen Menschen 1168 Sich einsam, schwach und trübgesinnt verlieren! Er ist nicht mehr allein, er ist mit Dir. Auf diesen Zug der Verletzlichkeit und Schwäche weisen nun auch die Wörter s c h o n e n und S c h o n u n g in einigen ihrer Anwendungen h i n 2 : ALPHON S
299 Es will der Feind - es darf der Freund nicht schonen: Dann übt der Jüngling streitend seine K r ä f t e Fühlt was er ist und f ü h l t sich bald ein Mann. TASSO
Und wie der Mensch nur sagen kann: Hie bin ich! 389 Daß Freunde seiner schonend sich erfreuen: So kann ich auch nur sagen: Nimm es hin! TASSO
2752 Er spielt den Schonenden, den Klugen, daß Man nur recht krank und ungeschickt mich finde LEONORE
Er spricht mit Achtung oft genug von dir. TASSO
2308 Mit Schonung willst du sagen, fein und klug. 1
In dieselbe Richtung deutet der Tadel des Herzogs (Einsamkeit 244) und der Prinzessin (einsam 972). 2 Nicht hierher 372, 3165, 3328; mit Ausnahme der erstgenannten, ganz abweichenden Stelle werden die beiden Wörter nur auf Tasso angewendet.
94
JOHANNES
MANTEY
Während in diesen Stellen, wenn auch in unterschiedlichem Sinne, die Nachsicht gemeint ist, deren Tasso bedarf, beziehen sich die beiden folgenden auf die Nachsicht, die er durch sein Verhalten auf die Probe stellt: ALPHON S
Ich kenne nur zu gut den Sinn des Mannes, Und weiß nur allzuwohl was ich gethan, 2867 Wie sehr ich ihn geschont, wie sehr ich ganz Vergessen, daß ich eigentlich an ihn Zu fordern hätte. ANTONIO
1376 Du traust auf Schonung, die dich nur zu sehr Im frechen Laufe deines Glücks verzog. E s ist wohl kein bloßes Spiel mit Worten, wenn man auch diese Auffassung der Wörter schonen und Schonung in den Begriffskreis der S c h w ä c h e einbezieht und die nachfolgenden Verse als Stütze dieser Wertung a n f ü h r t : ANTONIO
Glückseiger Jüngling dem man seine Mängel Zur Tugend rechnet, dem so schön vergönnt ist Den Knaben noch als Mann zu spielen, der 2090 Sich seiner holden Schwäche rühmen darf! Denn in der Tat handelt es sich ja hier um zwei nur oberflächlich verschiedene Äußerungsformen einundderselben seelischen Verfassung. Als wesentliche Charaktermerkmale Tassos treten allenthalben seine Labilität und seine übersteigerte Sensibilität hervor, und beide Züge sind verantwortlich f ü r seine Verletzlichkeit wie f ü r seine Unart. Die Wörter schwach und Schwäche selbst können nicht in die Erörterung einbezogen werden, da sie, von einer oben angeführten Stelle 1 abgesehen, zu sehr auf den speziellen Sinn des jeweiligen Textzusammenhanges bezogen sind, als daß ihnen allgemeine Geltung zugesprochen werden dürfte. 2 Hingegen stellen sich G e d u l d und d u l d e n zu der letztgenannten Auffassung der Wörter schonen und Schonung 3 : 1
'einsam, schwach und trübgesinnt' 1168. Nicht hierher: schwach 2480; Schwäche 3325. Sonst nur von Tasso: schwach 481, 2277, 3408; Schwäche 1588, 2760 — und einmal von der Prinzessin: 'wie schwach ich bin und krank' 1848. 3 Geduld 1801 s. oben S. 91. - Nicht hierher: dulden 1349, 1483, 1973, 2075, 2299, 2821; Geduld 3121, 3379. 2
6. Schwäche und Leiden
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ALPHON S
Und da man alles üben muß, so üb' ich, 344 Weil er's verdient, an Tasso die Geduld; Und ihr, ich weiß es, steht, mir willig bey. ALPHONS
Wir sollen eben nicht in Ruhe bleiben! Gleich wird uns, wenn wir zu genießen denken, Zur Übung unsrer Tapferkeit ein Feind, 2883 Zur Übung der Geduld, ein Freund gegeben. ALPHONS
Mit welcher Nachsicht, welcher fürstlichen 2945 Geduld und Langmuth trugen diese Männer Manch groß Talent, das ihrer reichen Gnade Nicht zu bedürfen schien und doch bedurfte! ANTONIO
Und bilden wir dann auch umsonst an ihm, 2168 So ist er nicht der einz'ge den wir dulden. TASSO
Es sey nicht anders, einmal habe nun Den Einen Mann das Schicksal so gebildet, Nun müsse man ihn nehmen wie er sey, 2767 Ihn dulden, tragen und vielleicht an ihm Was Freude bringen kann am guten Tage Als unerwarteten Gewinnst genießen, Im übrigen, wie er gebohren sey So müsse man ihn leben, sterben lassen. Im ganzen ist deutlich geworden, daß die Wörter des Leidens und der Schwäche zwar keinen einheitlichen und deutlich abgegrenzten Sinnbezirk ausfüllen, aber in ihrer Mannigfaltigkeit doch sehr bedeutsame Züge in der Wesensart Tassos und der Prinzessin hervorheben, denen das Merkmal der Verletzlichkeit und Unfestigkeit gegenüber dem Leben gemeinsam ist. Der Begriffskreis der Schwäche, Labilität und Rücksichtnahme ist auf Tassos Wesensart abgestimmt, der des Leidens auf die Gemütslage der Prinzessin; aber am Rande berühren sich beide, und zusammen weisen sie auf die Gebrochenheit des Lebensgefühls dieser beiden Menschen hin, deren Reflexe in der Wortgebung des 'Tasso' schon mehrfach zu beobachten waren. 7
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JOHANNES
MANTEY
7. Die zwischenmenschlichen
Beziehungen
Schon bei der Besprechung der Wörter k l u g und K l u g h e i t ergab sich die Veranlassung, auf die Eigenart der zwischenmenschlichen Beziehungen im 'Tasso' einzugehen. Als ein Grundzug des Verhaltens von Mensch zu Mensch im Lebenskreise des 'Tasso' konnte dort das Fehlen der Unmittelbarkeit und Unbefangenheit im persönlichen Umgang festgestellt werden, verbunden mit einer Neigung, einander mit Vorsicht, Berechnung und inneren Vorbehalten entgegenzutreten. Selbst die Möglichkeit dolosen Verhaltens erschien als etwas, womit in diesem Kreise durchaus gerechnet wird, und das daher dessen menschliche Atmosphäre in hohem Grade mitbestimmt. Wenn es richtig ist, daß eine solche Einstellung derMenschen zueinander die Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen im 'Tasso' bildet, so müssen sich daraus sehr wesentliche Auswirkungen auf den Handlungsverlauf ergeben, die bei der Interpretation der Dichtung nicht außer acht gelassen werden dürfen. Da es jedoch nicht zulässig ist, allein von den wenigen Wörtern aus, in deren Gebrauch sich die Eigenart der zwischenmenschlichen Beziehungen abspiegelt, auf inhaltliche Gegebenheiten von solcher Tragweite zu schließen, soll im folgenden versucht werden, die im Wortgebrauch sich ausdrückenden Eigenheiten wenigstens in einigen wesentlichen Punkten auch von der inhaltlichen Seite her sicherzustellen. Eine allgemeine Charakteristik der zwischenmenschlichen Beziehungen im 'Tasso', auf die sich die nachfolgenden Ausführungen stützen können, sei zunächst vorangeschickt. Wenn man von der Neigung, die die Prinzessin und Tasso miteinander verbindet, vorerst absieht, so läßt sich der Eindruck einer tieferen persönlichen Verbundenheit und wirklichen menschlichen Nähe zwischen den Menschen dieses Lebenskreises nicht gewinnen. Ihre Beziehungen liegen auf einer ganz anderen Ebene: sie erfüllen sich in der Pflege eines kultivierten geselligen Zusammenlebens. Diese von Formgefühl und gegenseitiger Distanz bestimmte Sphäre der Geselligkeit ist das eigentliche Medium der Kommunikation zwischen ihnen, das Element, in dem sie sich begegnen und verstehen. Darin liegt zugleich etwas Trennendes und etwas Verbindendes. Durch das Mittel der konventionellen Formen oder - mit den Worten der Prinzessin - durch den 'Gebrauch der Welt, der sich so glatt / Selbst zwischen Feinde legt' (1693f.) werden die Menschen auf der Ebene der Geselligkeit gerade dadurch zusammengeführt, daß auf der Ebene der menschlich-persönlichen Beziehungen eine Distanz zwischen ihnen geschaffen
7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
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wird, die die Möglichkeit der Reibung, aber auch die der Vertraulichkeit abschneidet. Diese Erscheinungsform menschlichen Zusammenlebens ist an sich in verschiedenen Abstufungen denkbar und braucht Übergänge zu vertraulicher Verbundenheit nicht auszuschließen; doch wird sie im 'Tasso' in ganz entschiedener Form kultiviert, und es soll an späterer Stelle zu zeigen versucht werden, daß der Konflikt, der die dramatischen Vorgänge beherrscht, als Zusammenstoß zwischen rein menschlich-persönlichem und rein gesellschaftlichem Empfinden beschrieben werden kann. Sprachlicher Ausdruck dieser Geselligkeitsform ist der nirgends verlassene formbewußte und bei aller scheinbaren Vertraulichkeit distanzierte Ton der höfischen Konversation. Es könnte nun scheinen, als ob diese Beschreibung der menschlichen Beziehungen im 'Tasso' nicht überall zuträfe. Wenigstens zwischen dem Herzog und der Prinzessin möchte man ein geschwisterliches Verhältnis menschlicher Nähe vermuten, und auch die Freundschaft der beiden Frauen scheint, wenn man von der späteren Intrige der Gräfin absieht, den Charakter engerer Vertrautheit zu tragen. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß es sich nicht so verhält. Die geselligen Umgangsformen schließen zwar den Ton der Vertraulichkeit keineswegs aus, sondern fordern ihn sogar in einer gleichsam stilisierten Form. Was ihnen jedoch bei der Konsequenz, mit der sie im 'Tasso' vorherrschen, durchaus fehlt, ist die menschliche Unmittelbarkeit, das vorbehaltlose Eingehen auf den anderen und das wirkliche gegenseitige Verstehen und Verstehen wollen. Bei allem wechselseitigen Wohlwollen zeigt auch das geschwisterliche Verhältnis des Herzogs und der Prinzessin diese Züge nicht. Jedenfalls sind sie nicht dargestellt, und eine — bereits in anderem Zusammenhange angeführte — Äußerung der Prinzessin deutet auf ihr Fehlen hin: Ich lebe gern so stille vor mich hin Und nehme von dem Bruder dankbar an Was er mir immer geben kann und will. (1754—1756) So sehr sich in diesen Versen, wie bei der Erörterung des Wortes still ausgeführt wurde, ein ganz spezifischer Charakterzug der Prinzessin ausspricht, so liegt es doch auf der Hand, daß zu einer solchen, jeder positiven Lebensregung sich entäußernden Anspruchslosigkeit nur dann ein Anlaß besteht, wenn ein tieferes, in vollem gegenseitigen Verstehen begründetes Einvernehmen mit dem Bruder nicht gegeben ist. Ein weiterer in diese R i c h t u n g deutender Hinweis mag noch der folgenden Stelle entnommen werden: 7*
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JOHANNES MANTEY ALPHON S
Und haben wir uns wieder ausgesprochen, So mag der Schwärm dann kommen, daß es lustig In unsern Gärten werde, daß auch mir, Wie billig, eine Schönheit in dem Kühlen Wenn ich sie suche gern begegnen mag. LEONORE
Wir wollen freundlich durch die Finger sehen. ALPHON S
Dagegen wißt ihr daß ich schonen kann. P R I N Z E S S I N N (nach der Scene gekehrt)
Schon lange seh ich Tasso kommen . . . (366—373)
In der Art, wie hier die Gräfin einerseits und die Prinzessin andererseits auf das vom Herzog berührte Thema reagieren, liegt ein Stück Charakteristik nicht nur der Personen, sondern auch ihres Verhältnisses zueinander. Während Leonore Sanvitale auf den Ton des Herzogs unbefangen eingeht, nimmt die Prinzessin an dieser Wendung des Gesprächs nicht mehr teil. Sie steht 'nach der Szene gekehrt', das heißt, sie hört weg, und das Nahen Tassos, das sie, wie sie sagt, 'schon lange' bemerkt hat, gibt ihr nunmehr willkommenen Anlaß, dieses ihr nicht mehr zusagende Gespräch zu unterbrechen. Es scheint, als ob sich hier eine Fremdheit zwischen den Geschwistern auftut. Die Art und Weise, in der Alphons die Person seiner Schwester in die lockeren Sphären des galanten Hoflebens durch die Anrede mit einbezieht, enthält jedenfalls ein Verkennen ihres Wesens, und sie scheint, ihrer Reaktion nach, auch nicht zu erwarten, daß er zu ihrer Gemütsart Zugang hat. Daß auch das Vertrauensverhältnis zwischen der Prinzessin und der Gräfin Sanvitale ein fragwürdiges und jedenfalls kein wechselseitiges ist, wird schon in dem ersten Gespräch der beiden Frauen sichtbar. Gerade hier zeigt es sich, daß die zum Konversationston dieser Geselligkeitsform gehörige scheinbare Vertraulichkeit eben nicht die wirkliche Vertrautheit intimer Freundschaft ist und es auch nicht sein will. In wiederholten Ansätzen bemüht sich die Prinzessin, das Gespräch ernsthaft auf Dinge des Herzens zu lenken. Unüberhörbar ist dieser Wunsch in den Worten: Die schönen Lieder . . . . . . Erkennst du sie nicht alle Für holde Früchte einer wahren Liebe ?
(177 — 181)
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7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
Doch die Frage bleibt unbeantwortet. Die Entgegnung der Gräfin beginnt mit den Worten: Ich freue mich der schönen Blätter auch. (182)
und geht in einen Lobpreis der Liebespoesie Tassos über, der die realen Beziehungen durchaus im Unbestimmten läßt. Die Prinzessin hält jedoch unbeirrt an ihrem Thema fest: Und wenn er seinen Gegenstand benennt, So giebt er ihm den Nahmen Leonore. (197 f.)
Daß sie dabei vorgibt, Tassos Liebesbekenntnisse auf Leonore Sanvitale zu beziehen, ist nicht mehr als eine kleine Finte, die die Freundin zur offenen Stellungnahme herausfordern soll; denn daß diese Möglichkeit den Umständen nach nicht ernstlich in Frage kommt, beweist ihre spätere Äußerung gegenüber Tasso: So haben wir Lenoren lang besessen, Die fein und zierlich ist, mit der es leicht Sich leben läßt; auch dieser hast du nie, Wie sie es wünschte, näher treten wollen. (959—962)
Sie erwartet also wohl gar nicht, daß ihre kleine List undurchschaut bleibt. Die Gräfin räumt denn auch unumwunden ein, daß sie es besser weiß; aber sie geht einer intimeren Aussprache ganz entschieden aus dem Wege und will von einer wahren Liebe nichts wissen: Uns liebt er nicht, - verzeih daß ich es sage! Aus allen Sphären trägt er was er liebt Auf einen Nahmen nieder den wir führen, Und sein Gefühl theilt er uns mit; wir scheinen Den Mann zu lieben, und wir lieben nur Mit ihm das Höchste was wir lieben können. (212—217)
So sehr sie die von ihr geschilderte Form der Liebe als ein gesellschaftliches Spiel höherer Art bejaht, so wenig kann sie sich entschließen, Regungen einer persönlichen Leidenschaft f ü r diskutabel zu halten. Und das wohl nicht allein darum, weil sie nicht daran glaubt. An die Wirklichkeit von Tassos Liebe zur Prinzessin glaubt sie freilich nicht, sonst würde sie später nicht hoffen, ihn f ü r sich gewinnen zu können. Hingegen liegt ihr der Gedanke an eine Liebe zu Tasso nicht gar so fern:
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JOHANNES
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Liebst du ihn? Was ist es sonst warum du ihn nicht mehr Entbehren magst ? (1925—1927)
Wie nahe würde daher bei dem von der Prinzessin angeschlagenen Tone unter Freundinnen die Rückfrage liegen, wie es wohl mit ihrem eigenen Herzen bestellt sei. Wenn die Gräfin also ausweicht und in ihrer ausweichenden Antwort die Deutung des Gefühls der Prinzessin sogleich vorwegnimmt, so wird der Grund darin zu suchen sein, daß sie gar nicht geneigt ist, die Unverbindlichkeit eines nur zum Scheine vertraulichen Gesprächs zu verlassen und auf die Herzensangelegenheiten ihrer Freundin einzugehen. Auch an späterer Stelle, als an der ernstlichen Liebe der Prinzessin nach allem schon Gesagten nicht mehr zu zweifeln ist, deutet sie dieses Gefühl mit einer verlegenen Wendung ins Platonische um: P R I N Z E S S I N N
D
a
Eleonore, stellte mir den Jüngling Die Schwester vor; er kam an ihrer Hand, Und daß ich dir's gestehe, da ergriff Ihn mein Gemüth und wird ihn ewig halten. L E O N O R E
O meine Fürstinn, laß dich's nicht gereuen! Das Edle zu erkennen, ist Gewinnst Der nimmer uns entrissen werden kann. (1832—1839)
Zu diesem Zeitpunkt kann sie freilich auch nicht mehr darauf eingehen, ohne ihren Plan zu gefährden, und überhaupt ist das Verhalten der Gräfin in dieser Szene so völlig auf ihren Zweck abgestellt, daß sie die Seelennot der Prinzessin mit den notwendigsten Beschwichtigungen mehr von sich fernzuhalten als wirklich zu lindern bestrebt ist. Es zeigt sich also, daß auch zwischen den beiden Frauen ein wechselseitiges Verhältnis des Verstehens und Verstehenwollens und des wirklichen Eingehens aufeinander nicht besteht. Daß aber die Darstellung einer tieferen gegenseitigen menschlichen Zuwendung vom Dichter lediglich als überflüssig ausgespart worden sei, ist nicht wohl anzunehmen. In anderen Dramen Goethes findet sich dergleichen durchaus, und selbst in den bis zur Steifheit stilisierten Versen der 'Natürlichen Tochter' fehlt es nicht an Tönen der Innigkeit und Wärme. Wenn also die Gespräche dieser Menschen
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7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
die Distanz und letztliche Unverbindlichkeit des höfischen Konversationstones im Grunde nicht verlassen, so ist darin eine wesentliche Eigenart dieses Lebenskreises zu sehen. Stets ist jedoch im Auge zu behalten, daß dies nur die eine — negative — Seite der zwischenmenschlichen Beziehungen im 'Tasso' ist, weil eben diese Unverbindlichkeit im Persönlichen es andererseits ermöglicht, die konträrsten Charaktere zu einer erlesenen, mit bewußtem Form- und Traditionsgefühl gepflegten Geselligkeit zu verbinden. Es ist daher nötig, auch auf Inhalt und Form dieser Geselligkeit mit einigen kurzen Worten einzugehen. Ihren Inhalt bilden, wie es in der einführenden Unterhaltung der Frauen zugleich berichtet und dargestellt und in dem späteren Gespräch mit Antonio noch einmal vorgeführt wird, Dinge der Wissenschaft, Staatskunst und Poesie, also Gegenstände der Geistes- und Gemütskultur, in deren Pflege man sowohl Belehrung und Nutzen als auch Genuß zu finden sucht. Diese Verschmelzung des delectare mit dem prodesse ist für den Geist des Tasso-Kreises durchaus charakteristisch. Daß sie geradezu die Geltung eines Grundsatzes hat, zeigt sich in den Worten der Prinzessin: Es sey von einer Wissenschaft die Rede, Die, durch Erfahrung weiter ausgebreitet, Dem Menschen nutzt indem sie ihn erhebt
(120—122)
Ebenso in der Bemerkung Antonios über die kulturellen Bestrebungen Gregors: Er ehrt die Wissenschaft, sofern sie nutzt, Den Staat regieren, Völker kennen lehrt; Er schätzt die Kunst, sofern sie ziert, sein Rom Verherrlicht, und Pallast und Tempel Zu Wunderwerken dieser Erde macht. In seiner Nähe darf nichts müßig seyn; Was gelten soll, muß wirken und muß dienen. (665—671) Der Grundsatz gilt jedoch in beiderlei Richtung. Wie einerseits von der geistigen und künstlerischen Beschäftigung Nutzen erwartet wird, so stehen andererseits Vortrag und Darbietung geistiger Inhalte unter dem Gesetz der Gefälligkeit und Grazie: PRINZESSINN
Ich höre gern dem Streit der Klugen zu, Wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust So freundlich und so fürchterlich bewegen,
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Mit Grazie die Rednerlippe spielt; Gern wenn die fürstliche Begier des Ruhms, Des ausgebreiteten Besitzes Stoff Dem Denker wird, und wenn die feine Klugheit, Von einem klugen Manne zart entwickelt, Statt uns zu hintergehen uns belehrt. (125—133) Diese Verpflichtung gilt nun aber überhaupt für die Sprache der Menschen im 'Tasso', die sich ja in besonderem Maße durch Geschliffenheit der Formulierung, klangvolle Anmut des Ausdrucks und romanischen Strophenformen angenäherte elastische Straffheit in der Gliederung der Rede auszeichnet. Denn daß diese Redeweise nicht lediglich das sprachliche Gewand der Goetheschen Dichtung ist, sondern vom Dichter als die eigentümliche Sprache dieses Lebenskreises stilisiert wurde, ist allein schon aus den Besonderheiten des Wortgebrauches zu erkennen. Im zweiten Teil dieser Untersuchung soll versucht werden, dies auch für die Eigenart der sprachlichen Form besonders nachzuweisen. Es können demnach für den Umgangston innerhalb dieses Menschenkreises zwei bezeichnende Merkmale in Anspruch genommen werden: einerseits das Fehlen der menschlichen Unmittelbarkeit, die Distanz, die bei aller zum Stile dieses Verkehrstones gehörigen scheinbaren Vertraulichkeit ganz bewußt innegehalten wird, und andererseits die Betonung der Form, des schönen und geschliffenen sprachlichen Ausdrucks. Man wird nicht erwarten, diese beiden Merkmale in dem stilistischen Ausdrucksgehalt eines Wortes wie L i p p e wiederzufinden; und doch ruft die sehr spezifische Verwendung dieses Wortes im 'Tasso' einen solchen Eindruck hervor. Es bezeichnet in dieser Dichtung ganz konsequent das Organ der menschlichen Rede und steht in dieser Verwendung bevorzugt an solchen Stellen, an denen dem geäußerten Wort besonderes Gewicht zukommt: PRINZESSINN
Dort werden lautere Stimmen dich begrüßen, 487 Mit leiser Lippe lohnt die Freundschaft hier. TASSO
Doch werf ich einen Blick auf dich, vernimmt 757 Mein horchend Ohr ein Wort von deiner Lippe, So wird ein neuer Tag um mich herum Und alle Bande fallen von mir los.
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ANTONIO
i6i5 Und seinen Lippen ist im größten Zorne Kein sittenloses Wort entflohn. ALPHON S
Lenore Sanvitale mag ihn erst 1628 Mit zarter Lippe zu besänft'gen suchen TASSO 2534
O ich verstund ein jedes Wort zu gut, Das ich Lenoren von den Lippen lockte! ANTONIO
Allein kein schimpflich Wort 256i Ist meinen Lippen unbedacht entflohen; Zu rächen hast du nichts als Edelmann, Und wirst als Mensch Vergebung nicht versagen. LEONORE
Dein Gleichmuth, der erträgt was zu ertragen Der Edle bald der Eitle selten lernt, 2249 Die kluge Herrschaft über Zung und Lippe PRINZESSINN
3218 Das treuste Wort, das von der Lippe fließt, Das schönste Heilungsmittel wirkt nicht mehr. E s kommt hierbei nicht auf die Einzelinterpretation der bisher angeführten Stellen an. Auffällig ist vielmehr die Konsequenz, mit der das Wort — und nur dieses Wort — immer wieder in Zusammenhängen erscheint, in denen nicht etwa beiläufig von einer sprachlichen Äußerung die Rede ist, sondern wirklich die entscheidende Bedeutung, die der menschlichen Rede zukommen kann, erfaßt werden soll. Das Wort Lippe ist demnach im 'Tasso' die zentrale, gewichtigste Bezeichnung f ü r die menschliche Rede, und es erhebt sich daher die Frage, wie es zu einer solchen Wortwahl kommen konnte. I n der Iphigenie 1 findet sich ein kontrastierendes Gegenbeispiel, das hier weiterhelfen kann: 1
Lippe in vergleichbarer Verwendung, doch ohne stilistischen Ausdrucksgehalt begegnet in der 'Iphigenie' dreimal: 813, 1547 und 1821 (abweichend: 17). Demgegenüber erscheint das Wort im 'Tasso' 16 mal (zu den bisher und im folgenden zitierten Stellen noch 1544 und 1938); dazu die Komposita Rednerlippe 128 und Lippenspiel 1372 (s. unten S. 105 f.).
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JOHANNES
MANTEY
ARKAS
Vergebens harren wir schon Jahre lang es Auf ein vertraulich Wort aus deiner Brust. Darf man einen bedeutungsvollen Unterschied darin sehen, daß hier die B r u s t , im 'Tasso' aber die L i p p e als das Organ der menschlichen Rede aufgefaßt wird? Wenige Zeilen später heißt es: Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele In's Innerste des Busens dir geschmiedet. (72f.)
Die herrschende Vorstellung ist hier also die des vertrauensvollen SichAufschließens, das hier, im Lebenskreis der 'Iphigenie', erwartet wird und nur aus Notzwang vorübergehend nicht geschieht. Man wird an den Gegensatz S e e l e - H e r z in der 'Iphigenie' und im 'Tasso' erinnert, und der Gedanke liegt sehr nahe, daß sich ein ähnlicher Gegensatz der menschlichen Mentalität in dieser - freilich singulären - Stelle der 'Iphigenie' und dem Gebrauch des Wortes Lippe im 'Tasso' ausdrückt.1 Die Deutung der Wortwahl im 'Tasso', die sich ohne dieses Gegenbeispiel vielleicht recht konstruiert ausgenommen hätte, mag daher nun unbedenklich ausgesprochen werden. Der Ausdrucksgehalt des Wortes L i p p e wird dahingehend zu interpretieren sein, daß es einerseits, indem es das äußerste Artikulationsorgan der menschlichen Rede bezeichnet, das Fehlen der Unmittelbarkeit in den Äußerungen dieser Menschen symbolisiert. Hier sei noch einmal an den Aussagewert der Wörter klug und Klugkeit erinnert: Man hat Vorbehalte, das gesprochene Wort geht durch die Kontrolle des Verstandes, und der gemäße symbolische Ausdruck dafür ist offenbar, daß es als Produkt des phonetischen Endorgans vorgestellt wird. Andererseits - und in innerem Zusammenhang mit dem Vorigen - scheint das Wort Lippe, indem es das sichtbar formende sprachliche Organ der Vorstellung nahebringt, die in diesem Kreise waltende Verpflichtung zu schönem und edlem sprachlichem Ausdruck, also zur Form, zu kennzeichnen. Dieser Gedanke ist sicherlich nicht gar so abwegig, wie er auf den ersten Anblick erscheinen mag; denn während Goethes italienischem Aufenthalt kann sich in dichterischer Sicht sehr wohl die Vorstellung eines symbolischen Zusammenhanges zwischen der betonten Lippenartikulation der 1
Auch hier läßt sich Verwandtes im allgemeinen Sprachgebrauch nachweisen, vgl. die Fügungen 'Lippenbekenntnis' und (wenngleich usuell ironisch) 'Brustton der Überzeugung'.
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romanischen Sprachen und romanischem Formgefühl herausgebildet haben, wie es sich ja auch in der metrischen Gestaltung des 'Tasso' ausspricht, die im zweiten Teil dieser Untersuchung erörtert werden soll. Diese beiden für den Ausdruckswert des Wortes Lippe in Anspruch genommenen Deutungen finden nun noch eine weitere Stütze darin, daß sich dafür in beiderlei Sinne mehrere spezifische Verwendungen belegen lassen. So kennzeichnet das Wort einerseits die dolose Äußerung: TASSO
Und wer giebt mir den Rath ? wer dringt so klug Mit treuer lieber Meynung auf mich ein? Lenore selbst, Lenore Sanvitale Die zarte Freundinn! Ha, dich kenn' ich nun! 2492 0 warum traut' ich ihrer Lippe je! Sie war nicht redlich wenn sie noch so sehr Mir ihre Gunst, mir ihre Zärtlichkeit Mit süßen Worten zeigte! TASSO
Nun kommt sie als ein Werkzeug meines Feindes, Sie schleicht heran und zischt mit glatter Zunge, Die kleine Schlange, zauberische Töne. Wie lieblich schien sie! Lieblicher als je! 2512 Wie wohl that von der Lippe jedes Wort! Doch konnte mir die Schmeicheley nicht lang Den falschen Sinn verbergen; Andererseits bezieht sich Lippe in zwei Stellen auf das dichterische Wort, wozu noch zwei weitere treten, in denen die Zusammensetzungen L i p p e n s p i e l und R e d n e r l i p p e die formvolle Beherrschung der Eloquenz bezeichnen : TASSO
413 Eröffnete die Lippe sich zu singen, So floß ein traurig Lied von ihr herab, Und ich begleitete mit leisen Tönen Des Vaters Schmerzen und der Mutter Quaal. TASSO
ii64 Des Mahlers Pinsel und des Dichters Lippe, Die süßeste die je von frühem Honig Genährt war, wünscht ich mir.
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JOHANNES MANTEY ANTONIO
1372 Wo Lippenspiel und Saitenspiel entscheiden, Ziehst du als Held und Sieger wohl davon. PRINZESSINN
Ich höre gern dem Streit der Klugen zu, Wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust So freundlich und so fürchterlich bewegen, 128 Mit Grazie die Rednerlippe spielt; Besonders beachtenswert ist der letzte Beleg. Die Stelle wurde oben schon einmal in etwas weiterem Zusammenhang f ü r das Vorwalten des Formbewußtseins, die Verpflichtung zu schönem und edlem Ausdruck im 'Tasso' angeführt. Tatsächlich nimmt sie gleichsam eine Schlüsselstellung ein, d a hier zugleich auch der innere Abstand gekennzeichnet wird, den die bewußte Grazie, die verpflichtende Wahrung der Form zu dem Bereich der Gefühle, Antriebe und Leidenschaften herstellt. I m Grunde ist hier die Formel ausgesprochen f ü r Inhalt und Form der Tassodichtung, in der die von zerstörender Leidenschaft beherrschten Konflikte bis zum letzten in edler und gebändigter Form ausgetragen werden. Es liegt auf der Hand, daß der Dichter mit diesem Gebrauch des Wortes Lippe eine wahrnehmbare Wirkung nicht absichtlich angestrebt haben kann. Die Häufigkeit des Wortes bei solcher Verwendung ist über alles Erwarten groß, der Vergleich mit dem spärlichen Vorkommen in der 'Iphigenie' beweist das. Aber bemerkt werden kann der Ausdrucksgehalt des Wortes nicht einmal bei mehrfacher Lektüre, geschweige denn etwa bei einmaligem Besuch des Schauspiels. Vielmehr ist schon die Absicht notwendig, nach stilistischen Ausdruckswerten zu fahnden, um dergleichen aufzufinden. Aber gerade darin liegt die exemplarische Bedeutung dieses Falles. Denn der Gebrauch des Wortes erweist, daß Goethe völlig frei von jeder auf Wirkung berechneten Absicht mit tiefer Verantwortung und unbestechlichem Gefühl f ü r die Werte der Sprache sich auch dort um den gemäßen und im tiefsten Wesen treffenden Ausdruck bemüht hat, wo gar nicht zu erwarten war, daß die Nuancen seiner Wortwahl noch bemerkt werden konnten. Nicht als Stütze hier vorgetragener Ansichten, sondern lediglich um die Übereinstimmung von Wollen und Gelingen einmal am Extremfalle zu dokumentieren, sei daher die folgende Äußerung Goethes angeführt:
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Wir haben das unabweichliche, täglich zu erneuernde, grundernstliche Bestreben: das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten, Erfahrenen, Imaginirten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen. (142, 2, 193.) Wenn dem Gebrauch des Wortes Lippe eine wahrnehmbare Wirkung abgesprochen wurde, so bedeutet das keineswegs, daß ihm eine stilistische Wirkung überhaupt abgeht: Der volle Ausdrucksgehalt des Wortes in den festen Umrissen, mit denen er oben nachgezeichnet wurde, kann freilich durch sein bloßes wiederholtes Auftreten im Text nicht zur Geltung gebracht werden. Aber es ist doch nicht zu bestreiten, daß etwa durch Formulierungen wie 'ein vertraulich aus deiner Brust' einerseits und ' 0 sprich mir nicht mit sanfter Lippe zu' (3366) andererseits die Vorstellung in ganz verschiedene Richtungen gelenkt wird. Gewiß ist auch der Gesamtsinn der beiden hier als Beispiel gewählten Stellen verschieden. Doch die Wortwahl trägt zu den Verstellungskomplexen 'vertrauliches Wort' und 'sanfter Zuspruch' durchaus noch etwas Eigenes bei, das auch - so sehr es im Einzelfalle meist in dem vagen Zustand eines nur gefühlsmäßig erfaßbaren Stimmungswertes verbleibt und sich einer scharfen Definition entzieht — aus dem Gesamteindruck herausgelöst und für sich betrachtet werden kann. Es wird in der einen Stelle etwa als das Moment der innersten Gemütstiefe, in der anderen als das der beredt-gefälligen Form zu bestimmen sein. In beiden Fällen hat diese Ausdrucksqualität nur den Wert einer Anmutung. Aber diese Anmutung ist da, sie wiederholt sich im 'Tasso' mit jeder neuen Verwendung des Wortes Lippe in stärkerem oder geringerem Grade, und es kann nicht ausbleiben, daß sie den Eindruck, den der Leser oder Hörer von der Wesensart der Menschen des Tasso-Kreises gewinnt, unvermerkt, also ohne daß er sich der Herkunft dieser Anmutung bewußt wird, modifiziert. Auf die gleiche Weise wird man sich überhaupt die stilistische Wirksamkeit der in dieser Untersuchung behandelten Wörter vorzustellen haben. Die Valenz ihres Ausdruckswertes beruht auf der Suggestivkraft sich stets wiederholender, in der Ausdrucksrichtung ganz spezifischer Anmutungen, deren Summierung schließlich gestaltenden Einfluß auf den Gesamteindruck von Wesens- und Sinnesart der handelnden Personen ausübt, wobei jedoch das Einzelwort als Quelle der Anmutung und Träger eines Ausdruckswertes in der Regel durchaus unbemerkt bleibt. Ein Niederschlag des soeben beschriebenen Vorganges findet sich in einer Charakteristik des wesentlichen Inhalts der Tassodichtung von H E R M A N
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in der er die zentralen Vorgänge des Dramas mit den Begriffspaaren e r k e n n e n — v e r k e n n e n und a n z i e h e n — a b s t o ß e n wiedergibt: Ja, es ist, als beherbergten der Palast und die Gärten von Belriguardo Niemanden als die fünf Menschen, als deren Centrum die Leonore erscheint. Nur sie sollen sich erkennen, verkennen, anziehen, abstoßen und für immer sich verlieren. Bis dahin sollen sie sanft verkettet wie Morgenwolken im Aether des Daseins schwimmen über freundlichen Gefilden. Aber ihr Loos wird Verdunklung und Verflüchtigung sein. Offensichtlich liegt hier eine Wiederaufnahme von tragenden Begriffen des Goetheschen Textes vor, jedoch nicht eine wörtliche. Das Wort erkennen hebt sich im 'Tasso' nicht sonderlich hervor; an seiner Stelle tritt k e n n e n dem Worte v e r k e n n e n als begrifflicher Partner gegenüber.2 Für das zweite Begriffspaar sind überhaupt andere verbale Entsprechungen einzusetzen, denn anziehen gelangt im 'Tasso' zu keiner nennenswerten Bedeutung 3 , und abstoßen fehlt ganz. Dafür entspricht dem von H E R M A N G R I M M Angedeuteten durchaus das Wortpaar s i c h n a h e n — s i c h e n t f e r n e n (nah - fern), das zwar nicht häufig, aber doch in ausdrucksvollen Verwendungen anzutreffen ist. 4 GRIMM 1 ,
Die Wirkungsweise der in der Wortgebung angelegten Ausdruckswerte ist an diesem Beispiel deutlich abzulesen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden im 'Tasso' nicht nur dargestellt, sondern zugleich ihrem Wesen und ihrer Polarität nach im Wort begrifflich verdichtet. Diese Wortbegriffe erweisen sich als fähig, geeignete Kategorien zu liefern, unter denen das zwischenmenschliche Geschehen im 'Tasso' aufgefaßt werden kann. Da sie jedoch im Einzelfalle stets in den speziellen Beziehungszusammenhang der jeweiligen Textstelle verflochten sind und zunächst nur im Hinblick auf diesen verstanden werden können, ist es eine Frage der Häufigkeit und Nachdrücklichkeit ihrer Verwendung, ob sie in ihrer Funktion als Kennwörter und Leitbegriffe, die ja erst in der Wiederholung wirksam werden 1
HEBMAN GBIMM, Leonore v o n Este. I n : Beiträge zur deutschen Culturgesehiehte. Berlin 1897, S. 89 f. 2 I m Zusammenhang mit den wechselseitigen Beziehungen der handelnden Personen wird erkennen nur einmal (1251) angewendet; die übrigen, zum Teil völlig abweichenden Stellen können hier außer Betracht bleiben. — Kennen begegnet i m hierhergehörigen Sinne, zum Teil mehrfach, an 17 Stellen (außerdem abweichend 607, 633, 666, 1541, 1890, 1912f„ 1934, 2574, 2659, 2681, 2911 f., 3446); verkennen, ebenfalls verschiedentlich wiederholt, an 11 Stellen (außerdem abweichnd 559, 743). 3 59, 168, 176, 409. 4 Die Stellen, in denen diese Wörter nicht gemeinsam auftreten, weichen in der Auffassung ab und k o m m e n für diesen Zusammenhang nicht in Betracht.
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7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
kann, nun auch als Einzelwörter, vom Textverbande losgelöst, sich einprägen, wie es hier bei verkennen der Fall ist, oder ob sich lediglich ihr Ausdrucksgehalt summiert, der dann auch durch andere Wörter wiedergegeben werden kann. Die ganze Schwierigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen im 'Tasso' ist im Gebrauch der Wörter s i c h n a h e n — s i c h e n t f e r n e n ihrem Wesen nach erfaßt. Es wird deutlich, daß hier nicht von einem einfachen Miteinander der Menschen die Rede sein kann, sondern daß, bei aller äußeren Verbundenheit, gerade der Abstand zwischen ihnen und dessen veränderlicher Grad das Kennzeichnende ihrer Beziehungen ausmacht: LEONORE
170 Er scheint sich uns zu nahn, und bleibt uns fern; Er scheint uns anzusehn, und Geister mögen An unsrer Stelle seltsam ihm erscheinen. TASSO
..
nur zu oft That ich im Irrthum was dich schmerzen mußte. Beleidigte den Mann den du beschütztest, Verwirrte unklug was du lösen wolltest, Und fühlte so mich stets im Augenblick 9X7 Wenn ich mich nahen wollte, fern und ferner. PRINZE S SINN
So haben wir Lenoren lang besessen, Die fein und zierlich ist, mit der es leicht Sich leben läßt; auch dieser hast du nie, Wie sie es wünschte, näher treten wollen. TASSO
Ich habe dir gehorcht, sonst h ä t t ' ich mich 964 Von ihr entfernt anstatt mich ihr zu nahen. PRINZE S SINN
i89i Erst sagt ich mir, entferne dich von ihm! Ich wich und wich und kam nur immer näher. So lieblich angelockt, so hart bestraft! Sehr eindrücklich und treffender, als durch die resultativen Ausdrücke anziehen und abstoßen, ist hier das Spiel der verbindenden und trennenden Kräfte eingefangen, das die menschlich-persönlichen Beziehungen nicht zu einem dauerhaften und verläßlichen Ergebnis kommen läßt, sondern ihnen die Züge des Schwebenden und Schwankenden verleiht.
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J o h a n n e s
M a n t e y
Von einer ganz anderen Seite her wird dieser Sachverhalt durch Tasso mit den Wörtern k e n n e n und v e r k e n n e n charakterisiert: Die Menschen kennen sich einander nicht; Nur die Galerensclaven kennen sich, Die eng an Eine Bank geschmiedet keuchen; Wo keiner was zu fordern hat und keiner Was zu verlieren hat, die kennen sich! Wo jeder sich für einen Schelmen giebt, Und seines Gleichen auch für Schelmen nimmt. Doch wir verkennen nur die andern höflich, Damit sie wieder uns verkennen sollen. (3338—3346)
Zwar entspringen diese Sätze der tiefsten Verzweiflung und Verbitterung; aber Tasso, der an dem Fehlen der Unmittelbarkeit in den menschlichen Beziehungen dieses Kreises am meisten leidet und - wie noch dargelegt werden soll — auch hieran letzten Endes scheitert, trifft diesen Punkt auch noch in dem Augenblick mit sicherem Gefühl, da sich sonst alle Dinge in seinem Geiste verkehren. Wie überhaupt in seinen Anklagen bisweilen die groben Fehlurteile an sehr richtig Gesehenes anknüpfen 1 , so geschieht es auch hier: Die Auslegung ist im höchsten Maße ungerecht und bitter, aber die Sache selbst, die vorbehaltvolle Distanz zwischen den Menschen seines Lebenskreises, und die Tatsache, daß sie sich gegeneinander niemals völlig öffnen, ist in diesen Worten überaus scharf gekennzeichnet. Ist nun diese Art des menschlichen Umgangs im 'Tasso' durchaus die herrschende, so ist doch die innere Einstellung, die die einzelnen Personen zu ihr einnehmen, sehr verschieden. Der Herzog, Antonio und Leonore Sanvitale leben augenscheinlich völlig in diesem Element; ihr Kommunikationsbedürfnis scheint restfrei darin aufzugehen. Ganz anders steht es mit Tasso. Für ihn haben nur die Beziehungen im menschlich-persönlichen Bereich Wert und Realität. Das Verbindende und die Gemeinschaft Erleichternde der höfisch-geselligen Formen nimmt er nicht wahr, und gesellschaftliche Distanz ist ihm gleichbedeutend mit dem Abstand des Mißtrauens. Er findet daher nicht über persönliche Ressentiments hinweg den 1 Am auffälligsten ist die Übereinstimmung zwischen Antonios wirklicher Äußerung 'Er / Ist unserm Fürsten werth. Er muß uns bleiben / Und bilden wir dann auch umsonst an ihm, / So ist er nicht der einz'ge den wir dulden' (2165—2168) und Tassos Vermutung darüber 'Nun müsse man ihn nehmen wie er sey, / Ihn dulden, tragen und vielleicht an ihm / Was Freude bringen kann am guten Tage / Als unerwarteten Gewinnst genießen' (2766—2769).
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7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
Weg zu gesellschaftlicher Annäherung — seine Äußerungen über Leonore Sanvitale, Antonio und selbst über den Herzog im Gespräch mit der Prinzessin zeigen das in aller Deutlichkeit —, und wenn er zur Annäherung entschlossen ist, so glaubt er sie nur durch radikale Verbrüderung herbeiführen zu können. 'Tassos Wesen hat', wie es H A N S R T J E F F überaus treffend formuliert, 'keine Vorhöfe'; er kennt nur die absolute Distanz und die völlige Distanzlosigkeit. Während daher die anderen Personen dieses Kreises-von der Prinzessin hier zunächst abgesehen - gar nicht auf jene menschliche Nähe eingehen, bei der die tiefere gegenseitige Kenntnis zum Problem werden kann, ist es Tasso einzig und allein um die menschlichpersönliche Seite der wechselseitigen Gesinnungen und um deren Ergründung zu tun. Da er dabei aber immer wieder auf die Isolierschicht der gesellschaftlichen Distanz stößt, hiervon jedoch nur den Widerstand fühlt und nicht deren Wesen erkennt, verwirren sich ihm völlig die Maßstäbe für die wahren Gesinnungen seiner Umgebung. Die mit den Ausdrücken kennen und verkennen bezeichnete Problematik trifft daher auf Tasso in besonderem Maße zu, und auf seine Urteile bezieht sich auch der Gebrauch dieser Wörter im weitesten Umfange 2 : 1
Denn wer ist wohl gewaffnet wenn du zürnst ? 1597 Und wer geschmückt, o Herr, den du verkennst? Ich bin vom Glanz des Tages überschienen, 2262 Ihr kennet mich, ich kenne mich nicht mehr. Du bist es selbst, wie du zum erstenmal Ein heil'ger Engel mir entgegen kamst! Verzeih dem trüben Blick des Sterblichen 3249 Wenn er auf Augenblicke dich verkannt. 3250 Er kennt dich wieder! Ganz eröffnet sich Die Seele, nur dich ewig zu verehren. Und die verschmitzte kleine Mittlerinn! Wie tief erniedrigt seh ich sie vor mir! Ich höre nun die leisen Tritte rauschen, Ich kenne nun den Kreis um den sie schlich. 3356 Euch alle kenn' ich! Sey mir das genug3! 1 H A N S R H E F F , Zur Entstehungsgeschichte von Goethes 'Torquato Tasso'. Marburg 1910, S. 20. 2 Anders kennen 1866, 2117, 2 4 3 8 ; verkennen 919, 1984, 2250. 3 Dazu verkeimen 2267, 3223; kennen 1418, 2491, 2501.
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Vor allem ist die Verwendung dieser Wörter für das Verhältnis zwischen Tasso und Antonio charakteristisch: Sey willkommen! 1199 Dich kenn' ich nun und Deinen ganzen Werth, Dir biet' ich ohne Zögern Herz und Hand Und hoffe daß auch du mich nicht verschmähst. Es ist nicht klug, es ist nicht wohl gethan 1249 Vorsätzlich einen Menschen zu verkennen, Er sey auch wer er sey. Der Fürstinn Wort Bedurft es kaum, leicht hab' ich dich erkannt: Ich weiß daß du das Gute willst und schaffst. Ich weiß, es reut dich nicht wenn du dich öffnest; i26i Ich weiß, du bist mein Freund wenn du mich kennst: Und eines solchen Freunds bedurft' ich lange. Du brauchst nicht deutlicher zu seyn. Es ist genug! 1317 Ich blicke tief dir in das Herz und kenne Für's ganze Leben dich. 0 kennte so Dich meine Fürstinn auch! Gelassen, kalt, hat er mich ausgehalten, 1474 Aufs höchste mich getrieben. 0 ! du kennst, Du kennst ihn nicht und wirst ihn niemals kennen! Es ist mir neu, so neu daß ich fast dich 1541 Und mich und diesen schönen Ort nicht kenne. Doch diesen kenn' ich wohl — 2295
und vernimmt kein Wort Das du ihm sagst, und wird dich stets verkennen. Verkannt zu seyn, verkannt von einem Stolzen Der lächlend dich zu übersehen glaubt!
Die Häufigkeit der Wörter gerade im Zusammenhang dieser Auseinandersetzung ist nicht etwa nur allgemein durch die bloße Gegensätzlichkeit dieser beiden Charaktere bedingt, die nun einmal nicht zueinander finden können, sondern sie beruht ganz speziell auf der Disproportion zwischen rein persönlich-menschlichem und rein gesellschaftlichem Empfinden, auf der absoluten Unvergleichbarkeit dieser beiden Standpunkte und auf dem restlosen Aneinander-Vorbeireden das sich daraus ergibt und das ja auch die eigentliche Quelle der beiderseitigen Gereiztheit ist, die erst den Streit
7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
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aufflammen läßt. Das Kennzeichnende dieser Situation ist nicht, daß sich hier zwei Gegner gegenübertreten, zwischen denen es unausweichlich zum Bruch kommen müßte, sondern daß Tasso die isolierende Kraft der gesellschaftlichen Distanz, den 'Gebrauch der Welt, der sich so glatt selbst zwischen Feinde legt' mißachtet und eine radikale Annäherung herbeiführen will, die nicht nur für Antonio nicht akzeptabel ist, sondern auch mit allen gesellschaftlichen Gepflogenheiten dieses Kreises in krassem Widerspruch steht. Hierin liegt der eigentliche Streitpunkt, der alle übrigen Gegensätze erst aktiviert; denn die Durchbrechung dieser Distanz, die erzwungene Berührung im Persönlichen, die durch Tassos enthusiastisches Freundschaftsangebot herbeigeführt wird, ermöglicht überhaupt erst die Kränkung ; das beweisen Antonios wiederholte Versuche, Tasso mit versöhnlichen Worten zum Abstehen von seinem Vorhaben zu bewegen. 1 Erst die unermüdliche Zudringlichkeit Tassos, die Unmöglichkeit, ihn abzuschütteln, veranlaßt schließlich Antonio, der dieses Verhalten als Anmaßung empfinden muß, ärgerlich den Wert der Freundschaft Tassos und damit dessen persönlichen Wert in Zweifel zu ziehen. Da tritt denn freilich der prinzipielle Gegensatz zwischen beiden sofort in aller Schärfe hervor; denn es ist nur natürlich, daß Antonio seine Angriffe gegen die Grundposition von Tassos Geltungsanspruch richtet, gegen seine Bedeutung als Dichter, deren hohe Bewertung er ihm zugleich abspricht und mißgönnt. Hier liegt aber auch Tassos empfindlichster Punkt, und so muß der Zwist nunmehr zwangsläufig zum vollen Ausbruch kommen. Der eigentliche Streitpunkt ist das jedoch wie gesagt nicht, denn bei der Gesittung dieses Kreises können Fragen der gegenseitigen Wertschätzung keinen Konflikt verursachen. Vielmehr liegt der gefährliche Zündstoff dieser Auseinandersetzung darin, daß beide von grundverschiedenen Voraussetzungen aus über dasselbe zu reden vermeinen, und jeder das Nichtverstehenkönnen des anderen für Nichtverstehenwollen halten muß. Die Gegensätzlichkeit der Standpunkte tritt in den folgenden Versen klar hervor: ANTONIO
In Einem Augenblicke forderst du Was wohlbedächtig nur die Zeit gewährt. TASSO
In Einem Augenblick gewährt die Liebe Was Mühe kaum in langer Zeit erreicht. (1269—1272)
1 8«
Vgl. 1202-1208, 1269-1270, 1288-1293.
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Hierzwischen ist keine Überbrückung möglich, und wie tief die Ansichten beider in ethischen Auffassungen begründet sind, zeigt eine spätere Stelle: ANTONIO
Du zeigst mir selbst mein Recht dich zu verschmähn! Der übereilte Knabe will des Mann's Vertraun und Freundschaft mit Gewalt ertrotzen? Unsittlich wie du bist hältst du dich gut ? TASSO
Viel lieber was ihr euch unsittlich nennt Als was ich mir unedel nennen müßte. (1362—1367)
Für die Wörter kennen und verkennen ergibt sich aus dieser Situation, daß sie den Standpunkt Tassos in diesem Konflikt der Anschauungen charakterisieren helfen. Denn nicht zufällig werden diese Wörter nur von ihm gebraucht. Worum es ihm zu tun ist, wenn er etwa sagt: 'Ich weiß, du bist mein Freund wenn du mich kennst', also die vertraute gegenseitige Kenntnis im Bezirk des Persönlich-Menschlichen, das liegt Antonio ebenso fern, wie es ihm nicht einfällt, sich verkannt zu fühlen. Tasso hingegen vermag in den Reaktionen seines Gegenspielers nur den Ausdruck persönlicher Gesinnungen zu sehen, nicht auch ihre von der Lebensform dieses Kreises bestimmten Motive. Wenn er daher Antonio zunächst im Guten, später im Bösen zu kennen glaubt, so stellt er nicht die Bedingtheit von dessen Verhalten in Rechnung, und wenn er sich von ihm verkannt fühlt, so hat er damit zwar faktisch recht, aber er übersieht, daß dieses Verkennen wechselseitig ist und auf der grundsätzlichen Disproportion zwischen gesellschaftlichem und menschlich-persönlichem Empfinden beruht. Der Wortgebrauch veranschaulicht also auch hier die Problematik, die sich für Tasso aus der Berührung seiner Empfindungsweise mit einem ganz anders gestimmten Kreise ergibt. Auf einer anderen Ebene liegt der Aussagewert der Wörter kennen und verkennen in der folgenden Stelle1: ALPHONS
310 Die Menschen fürchtet nur wer sie nicht kennt, Und wer sie meidet wird sie bald verkennen. Das ist sein Fall, und so wird nach und nach Ein frey Gemüth verworren und gefesselt. 1
Dazu kennen 297.
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7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
Hier ist nicht das tiefere Verstehen aus menschlicher Nähe gemeint, um das es Tasso zu tun ist, sondern die kühle und sichere Einschätzung anderer als eine nützliche Fertigkeit im menschlichen Umgang. Jedoch stehen diese beiden Auffassungen der Wörter in Wechselbeziehung zueinander. Denn was der Herzog hier unter 'kennen' versteht, gehört zu den Elementen jener Geselligkeitsform, der Tasso mißtrauisch und mit innererer Fremdheit gegenübersteht, weil er die menschliche Unmittelbarkeit, die für ihn allein Wert hat, darin vermißt. Mit wenigen Bemerkungen ist noch auf die Stellung einzugehen, die die Wörter F r e u n d , F r e u n d i n , F r e ü n d s c h a f t und v e r t r a u e n , V e r t r a u e n im Sinnbereich der zwischenmenschlichen Beziehungen einnehmen. Die Wörter der Freundschaft stechen bereits durch ihre Häufigkeit hervor. Zusammengenommen machen sie fast 100 Belegstellen aus 1 , so daß im Durchschnitt alle 35 Verse eines dieser Wörter begegnet. Es kommt hinzu, daß sie, von der Anredeform abgesehen, nur selten in beiläufiger und belangloser Verwendung auftreten; vielmehr werden sie in der Regel mit Nachdruck und oft mit sehr entschiedenem Nachdruck gebraucht. Diese beinahe überstarke Betonung hebt mit besonderer Eindringlichkeit hervor, daß die Freundschaft für die Menschen des Tasso-Kreises einen hochgeschätzten Wert bedeutet, wodurch die Krise und der Zerfall der Freundschaft — darin liegt die stilistische Bedeutung dieser Wörter - aufs schärfste kontrastiert werden. Den Gebrauch der Wörter im einzelnen vorzuführen, wäre von geringem Wert, da ihre stilistische Wirkung erst in der Massierung ihres Auftretens zur Geltung kommt. Es bleiben lediglich einige Stellen zu zitieren, in denen zugleich die Problematik der Freundschaft im 'Tasso' sichtbar wird: ALPHONS
So kann ich doch nicht loben daß er selbst 249 Den Kreis vermeidet den die Freunde schließen. PRINZESSINN
767 Es ist unmöglich daß ein alter Freund, Der lang entfernt ein fremdes Leben führte, Im Augenblick da er uns wiedersieht Sich wieder gleich wie ehmals finden soll. TASSO
1
,
.
,
und wenn sie auch «es Die Absicht hat, den Freunden wohlzuthun, So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.
Freund begegnet 69mal, Freundin 15mal, Freundschaft 12mal.
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ALPHONS
Wir sollen eben nicht in Ruhe bleiben! Gleich wird uns, wenn wir zu genießen denken, Zur Übung unsrer Tapferkeit ein Feind, 2883 Zur Übung der Geduld, ein Freund gegeben. ANTONIO
Der übereilte Knabe will des Mann's 1364 Yertraun und Freundschaft mit Gewalt ertrotzen ? Unsittlich wie du bist hältst du dich gut ? TASSO
Schon lange kenn' ich diese Tyranney 2682 Der Freundschaft, die von allen Tyranneyen Die unerträglichste mir scheint. Die weniger häufigen Wörter vertrauen und Vertrauen 1 sagen im wesentlichen dasselbe aus wie die Wörter der Freundschaft und schließen sich deren Gebrauche unterstützend an. Auch hier mögen nur einige Verwendungen angeführt werden, die der Krise des Vertrauens im 'Tasso' Ausdruck geben: PRINZESSINN
927 Du solltest meinem Bruder dich vertraun. TASSO
Er ist mein Fürst! LEONORE
Sie denken alle gut und gleich von dir, 2365 Und jegliches vertraut dir unbedingt. TASSO
O Leonore, welch Vertraun ist das? H a t er von seinem Staate je ein Wort, Ein ernstes Wort mit mir gesprochen? TASSO (mit
Zurückhaltung)
2997 Ich scheide nun mit völligem Vertraun Und hoffe still, mich soll die kleine Frist Von allem heilen was mich jetzt beklemmt. 1
Das Verbum begegnet im 'Tasso' llmal, das Substantiv 13mal.
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Eine Differenzierung in der Auffassung von Freundschaft und Vertrauen als gesellige Verbundenheit einerseits und als menschliche Nähe und Vertrautheit andererseits ist im Gebrauch der Wörter im allgemeinen nicht zu bemerken und auch nicht zu erwarten, da ja gerade die Latenz dieses Unterschiedes, wie oben ausgeführt wurde, zu dem hoffnungslosen gegenseitigen Mißverstehen und Aneinander-Vorbeireden führt, das den Konflikt zum Ausbruch bringt. Um so mehr Beachtung verdient daher eine Verwendung des Wortes Vertrauen, in der es ganz ausdrücklich auf die Verläßlichkeit in der Wahrung der Regeln und Formen des höfisch-geselligen Zusammenlebens abzielt. Es sei noch einmal betont, daß allein das Medium einer gegen alles Persönliche abgeschirmten Geselligkeit es ermöglicht, Menschen der gegensätzlichsten Mentalität in dem Gefühl wechselseitiger Verbundenheit miteinander zu vereinigen. Diese Verbundenheit ist kein spannungsfreies Miteinander, sondern sie besteht in einem empfindlichen Gleichgewicht polarer Kräfte. Die Anziehungskraft, die diese Menschen aufeinander ausüben, kann nur dadurch in ihrer reinen Wirkung erhalten werden, daß im Persönlichen eine unverbrüchliche Distanz zwischen ihnen sorgfältig respektiert wird. Wie sensibel man daher auf den Einbruch des Persönlichen in die Sphäre der Geselligkeit reagiert, zeigen die Worte Antonios: ANTONIO
Verwöhnt ihn nur und immer mehr und mehr, Laßt seine Selbstigkeit f ü r Liebe gelten, Beleidigt alle Freunde die sich euch Mit treuer Seele widmen! Gebt dem Stolzen Freywilligen Tribut, zerstöret ganz 2109 Den schönen Kreis geselligen Vertrauns! Die bisherige Erörterung ließ erkennen, daß der sprachliche Niederschlag, den die Eigenart der zwischenmenschlichen Beziehungen des 'Tasso' in den behandelten Wörtern findet, auch wenn man den Ausdruckswert der Wörter klug und Klugkeit mit heranzieht, noch verhältnismäßig als spärlich angesprochen werden muß gegenüber dem tiefgreifenden Einfluß, der dem zwischenmenschlichen Verhalten selbst und seinen Beweggründen auf die dramatischen Vorgänge der Dichtung eingeräumt ist. Die vorstehenden Ausführungen zeigten vor allem die Auseinandersetzung zwischen Tasso und Antonio von dieser Problematik beherrscht. I m Hinblick auf die Bedeutung, die der Besonderheit der menschlichen Wechselbeziehungen im 'Tasso' deshalb f ü r die Interpretation des Dramas zukommt, sei es gestattet, dieses Thema nach seiner inhaltlichen Seite hin wenigstens in den wich-
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tigsten Linien zu Ende zu führen. Die nachfolgenden Darlegungen hierüber knüpfen sich vor allem an die Gestalt der Prinzessin, deren Stellung in diesem Zusammenhang bisher noch kaum berührt wurde. Über die letzte Begegnung zwischen der Prinzessin und Tasso bemerkt 1 W O L F D I E T R I C H RASCH : 'Immerhin läßt sich fragen, ob es nicht schöner und menschlich richtiger wäre, mit dem verwirrten, verstörten Tasso offen und freimütig zu sprechen, ihm die Notwendigkeit der Trennung zu erklären ; und es ließe sich weiter fragen, ob Tasso auch dann den Verzicht verweigern und die gewaltsame Verwirklichung der Liebe versuchen würde. Die Frage bleibt offen, und sie ist müßig; denn nur das Gedichtete gilt.' W . R A S C H geht hier von der Voraussetzung aus, daß die Prinzessin zur Entsagung entschlossen sei und von Tasso die gleiche Haltung erwarte — einer Voraussetzung, die durch den Text zumindest nicht zwingend nahegelegt wird und der im folgenden widersprochen werden soll. Dennoch ist es bezeichnend, daß der Text hier offenbar zu einer solchen Bemerkung herausfordert. Allein die Tatsache, daß man über die Absicht der Prinzessin in dieser Szene verschiedener Meinung sein kann, weist bereits darauf hin, daß ihre Haltung gegenüber Tasso jedenfalls nicht als 'offen und freimütig' anzusprechen ist. Es versteht sich von selbst, daß die Beurteilung des Verhaltens der Prinzessin für die Interpretation des Dramas nicht geichgültig sein kann, da ja gerade in der Beziehung zwischen der Prinzessin und Tasso dasjenige Ereignis eintritt, das die Katastrophe herbeiführt. U m s o schwerwiegender ist die Unsicherheit, die sich daraus ergibt, daß die Gesinnung der Prinzessin gegenüber Tasso so überaus verschieden eingeschätzt werden kann. Als Gegenbeispiel zu W. RASCHS Urteil, der die Liebe der Prinzessin als wirkliche Leidenschaft anerkennt, jedoch voraussetzt, daß sie sich zur Entsagung durchringt, sei hier nur dasjenige G. R O E T H E S angeführt: 'Nein, sie liebt Tasso nicht; sie liebt „mit ihm das Höchste, was wir lieben können".' 2 'Eine milde, gütige Herzensneigung der hohen Frau entzündet in ihm irre Raserei.'3 Daß die Liebe der Prinzessin zu Tasso als eine wahrhafte und heftige Leidenschaft anzusehen ist, muß allein schon aus der langen, verzweifelten Klage gefolgert werden, die sich ihrer Zustimmung zur Entfernung Tassos vom Hofe anschließt. 4 Vollends deutlich wird es in ihrem Erschrecken über die nicht einzudämmende zerstörende Kraft dieses Gefühls: 1 3 4
2 A. a. O. S. 163f. A. a. O. S. 126. A. a. O. S. 129. 1854-1879, 1882-1896, 1900-1913.
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Zu fürchten ist das Schöne das Fürtrefliche, Wie eine Flamme, die so herrlich nützt So lange sie auf deinem Heerde brennt, So lang' sie dir von einer Fackel leuchtet, Wie hold! wer mag, wer kann sie da entbehren ? Und frißt sie ungehütet um sich her Wie elend kann sie machen! Laß mich nun. Ich bin geschwätzig und verbärge besser Auch selbst vor dir wie schwach ich bin und krank. (1840—1848)
Mit dieser Feststellung ist aber die besondere Rolle der Prinzessin im Geflecht der Handlung durchaus noch nicht geklärt. Wie schon hervorgehoben wurde, bleibt noch zu fragen, ob sie in der Tat die Kraft zur Entsagung aufbringt - ein sicheres Urteil hierüber ist für die Interpretation der Umarmungsszene von entscheidender Bedeutung - , und vor allem bleibt die Frage offen, wie sich ihre Liebe zu Tasso mit der von ihr selbst in Anspruch genommenen Aufgabe, den Jüngling zu führen, verträgt. In der Szene, in der die Prinzessin den Verzicht auf Tasso auszusprechen scheint, sind mit W. RASCH 1 zwei Motive zu unterscheiden, die ihr Verhalten in diesem Zwiegespräch mit Leonore Sanvitale bestimmen. Sie gelangt zu dem Entschluß Tasso aufzugeben zunächst nicht aus freier Entscheidung, sondern läßt sich die Zustimmung zu seiner Entfernung vom Hofe durch die Gräfin abringen, ohne in Wahrheit damit einverstanden zu sein: PRINZESSINN
Ich gebe nicht mein J a daß es geschehe. LEONORE
So warte noch ein größres Übel ab. PRINZESSINN
Du peinigst mich und weißt nicht ob du nützest. LEONORE
Wir werden bald entdecken, wer sich irrt. PRINZESSINN
Und soll es seyn, so frage mich nicht länger. 1
A. a. O. S. 151 ff.
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Wer sich entschließen kann, besiegt den Schmerz. PRINZESSINN
Entschlossen bin ich nicht, allein es sey, Wenn er sich nicht auf lange Zeit entfernt — (1735—1742)
Die Prinzessin gibt hier zwar nach, doch t u t sie es mit allen inneren Vorbehalten einer Kapitulation, indem sie die Entscheidung als ihr aufgezwungen hinstellt und die Verantwortung dafür der Freundin zuschieben möchte: 'Und soll es seyn, so frage mich nicht länger' - und weiter u n t e n : 'So nimm ihn weg (!), und, soll ich ihn entbehren, / Vor allen andern sey er dir gegönnt!' (1773f.). Schon hierauf folgen die Worte 'Ich seh es wohl so wird es besser seyn' (1775), aber erst an späterer Stelle, in den oben schon einmal angeführten Versen 'Zu fürchten ist das Schöne, das Fürtrefliche . . . ' 1 , zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß die Prinzessin nun von einer ganz anderen Seite her erkennt, daß Tassos Anwesenheit mit Gefahr verbunden ist. Es wird ihr bewußt, daß sie nicht die K r a f t hat, der Leidenschaft, von der sie und Tasso ergriffen sind, Grenzen zu setzen, sie zu beherrschen und einzudämmen. Diese Erkenntnis f ü h r t ihr die Notwendigkeit des Verzichts vor Augen, und sie spricht ihn auch aus — aber in einer alles andere als definitiven Form: PRINZESSINN
Ach, meine Freundinn! Zwar bin ich entschlossen, Er scheide nur; allein ich fühle schon Den langen ausgedehnten Schmerz der Tage, wenn Ich nun entbehren soll was mich erfreute. (1853—1856)
Diese Bedingtheit der Aussageweise hebt auch W. R A S C H hervor 2 , doch zieht er, da er auf andere Ergebnisse zusteuert, keine Folgerungen daraus. I m Grunde liegt hierin jedoch nur die Umkehrung jener früheren Worte Entschlossen bin ich nicht, allein es sey (1741)
und die Ausgewogenheit der Formulierumg weist darauf hin, daß hier die Furcht vor der Gefahr und die Furcht vor dem Verlust einander die Waage halten, ohne daß schon zu sehen wäre, wohin der Ausschlag sich endgültig neigen wird. 1
1840-1848.
2
A. a. O. S. 154.
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Alles hängt nun von dem weiteren Verhalten der Prinzessin ab, und da zeigt sich denn, daß die Erkenntnis der Gefahr, die in ihrer Liebe zu Tasso liegt, nicht endgültig ihr Handeln bestimmt. Zu Beginn der letzten Unterredung mit Tasso befindet sie sich wieder an demselben Punkt, an dem sie mit ihrer vorbehaltvollen Zustimmung 'Entschlossen bin ich nicht, allein im ersten Teil des es sey, / Wenn er sich nicht auf lange Zeit entfernt Gesprächs mit Leonore Sanvitale gestanden h a t t e : Du denkst uns zu verlassen, oder bleibst Vielmehr in Belriguardo noch zurück, Und willst dich dann von uns entfernen, Tasso, Ich hoffe, nur auf eine kurze Zeit. (3114—3117)
Dabei bleibt es jedoch nicht, sondern ihr ganzes weiteres Verhalten deutet darauf hin, daß die rückläufige Entwicklung ihrer Beweggründe anhält. Sie spricht im ferneren Verlauf der Szene keinen Satz, der nicht Bedenken und Einwände gegen Tassos Absichten enthielte, und fast als Beweis dafür, daß von einem Entschluß zur Entsagung nicht die Rede sein kann, müssen die Worte angesehen werden: Ist alles denn in wenig Augenblicken Verändert ? (3172—3173)
So könnte sie zu Tasso nicht sprechen, wenn sie von ihm erwartete, daß er die Notwendigkeit einer Trennung eingesehen habe. Ebenso entschieden stehen zu dieser Auffassung mehrere weitere Stellen im Gegensatz: und nimmst uns weg Was du mit uns allein genießen konntest. (3183—3184)
Das treuste Wort, das von der Lippe fließt, Das schönste Heilungsmittel wirkt nicht mehr. Ich muß dich lassen, und verlassen kann Mein Herz dich nicht. (3218—3221)
Und wenn du uns auch ungeduldig machst, So ist es nur, daß wir dir helfen möchten Und, leider! sehn daß nicht zu helfen ist; Wenn du nicht selbst des Freundes H a n d ergreifst, Die, sehnlich ausgereckt, dich nicht erreicht. (3241—3245)
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Diese Haltung ist konsequent durch den ganzen Verlauf des Auftritts hin durchgeführt, und es findet sich kein Wort, das auch nur andeutungsweise auf einen Entschluß zur Trennung hinwiese. Außerdem spricht gegen W. RASCHS Annahme, die Prinzessin setze auch bei Tasso den Willen zur Entsagung voraus, auf das entschiedenste die psychologische Wahrscheinlichkeit. In jenem ersten Zwiegespräch hatte sie sich mit Tassos maßvoll beherrschtem Liebesbekenntnis nicht begnügen können, sondern ihn zu einer Aufwallung seines Gefühls verlockt. Mit welchem Recht darf sie nun bei Tasso die Erkenntnis voraussetzen, daß diese Liebe auch nicht in den Grenzen, die er selbst ihr zu stecken gedachte, Bestand haben dürfe ? Eine solche Vermutung ist umso weniger vertretbar, als die Bedingungen, die die Prinzessin zur Einsicht in die Notwendigkeit des Verzichts führen, ganz in ihrer eigenen Persönlichkeit begründet liegen. Denn es kann nicht angenommen werden, daß sie 'das Geheimniß einer edlen Liebe, / Dem holden Lied bescheiden anvertraut' für eine untragbare Form der Beziehung zwischen sich und Tasso betrachtet. Wie schon angedeutet wurde, muß vielmehr das Erschrecken, das sie über die Gefahr dieser Liebe empfindet, als ein Zeichen der Einsicht angesehen werden, daß sie im Begriff ist, gegenüber dieser Leidenschaft die Gewalt über ihre Handlungen zu verlieren, dann aber auch dem ihrer Lenkung sich anvertrauenden Tasso keine zuverlässige Führerin mehr sein zu können. Davon aber kann Tasso nichts ahnen, und wenn sie es dennoch voraussetzte, so wäre die von ihr ausgesprochene Hoffnung, er möge sich 'nur auf eine kurze Zeit'1 entfernen, eine sehr schlechte Einleitung für einen Abschied auf immer. Und daß weder dieser Konflikt noch der Gegensatz zwischen Tasso und Antonio dadurch wirksam beseitigt werden könnte, daß man Tasso eine Zeitlang wegschickt, ist eine Voraussetzung, an der im Hinblick auf die ganze Anlage des Dramas wohl unbedingt festgehalten werden muß. Darf man nun als gegeben voraussetzen, daß die Prinzessin ihren Verzicht nicht aufrechterhält, so bleibt jedoch noch genauer zu untersuchen, von welchen Motiven ihr Verhalten in dieser Szene geleitet wird. Denn sie spricht j a nicht aus, was sie will oder nicht will, sondern das Kennzeichnende ihres Verhaltens besteht gerade in jener Undurchsichtigkeit, die W . R A S C H , wenngleich von anderen Voraussetzungen her, als einen Mangel an Offenheit und Freimut registriert, und die so wiedersprechende Urteile über ihre Gemütslage möglich macht. Man kann sich daher zunächst nur an das Faktische halten und aus der Tendenz ihrer Äußerungen auf deren Motive zu schließen suchen. 1
3 1 1 7 ; vgl. auch 3176.
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In welcher Absicht tritt sie überhaupt in dieses Gespräch ein? Da sie in ihren einleitenden Worten 1 Tassos Vorhaben, sich zu entfernen, konstatiert, die Hoffnung ausspricht, er möge nur für kurze Zeit abwesend bleiben, und die Frage 'Du gehst nach Rom?' anschließt, möchte man an Worte des Abschieds denken. Aber dann - und nicht nur dann, sondern in jedem Falle - ist die Form, die sie dieser Einleitung des Gesprächs gibt, sehr befremdend. Weder hier noch sonst im Verlaufe der Unterredung geht die Prinzessin auf die realen Umstände ein, die dazu geführt haben, daß Tasso im Begriff steht, den Hof zu verlassen. Es fällt kein Wort des sanften Tadels, der Verzeihung, des Trostes. Diese Sätze hängen beziehungslos in der Luft. Sie klingen wie Worte an einen fernerstehenden Hofgenossen, der, wie man soeben zufällig erfahren hat, aus Gründen, die einen nicht eben viel angehen, zu verreisen beabsichtigt, von dem man sich diese Absicht bestätigen zu lassen wünscht, und den man sodann zu verabschieden gedenkt. Da das jedoch in keiner Weise den wirklichen Gegebenheiten entspricht, drängt sieh die Annahme auf, daß diese Worte überhaupt nicht auf diese Gegebenheiten hin formuliert sind, sondern allein darauf abzielen, Tasso zu einer Stellungnahme zu nötigen. Darauf deutet außerdem auch die Ausdrücklichkeit, mit der die Prinzessin Tassos Vorhaben als einen von ihm selbst ausgehenden Willensakt kennzeichnet: 'Du denkst uns zu verlassen', '(du) willst dich . . . entfernen' - als ob sie nicht den Plan, seine Entfernung vom Hofe in die Wege zu leiten, schon bevor Tasso daran denken konnte, durch ihre eigene Zustimmung besiegelt hätte. Sie sucht es also offensichtlich zu vermeiden, zu der vorliegenden Situation eine eigene Stellung zu beziehen oder ihren Willen kundzutun, und versetzt hingegen den Dichter in die Notwendigkeit, sich zu erklären, seine Absichten zu begründen und auf ihre Einwürfe einzugehen. Fragt man nach dem Sinn dieses Vorgehens, so muß die Antwort, wie schon angedeutet, aus der Tendenz entnommen werden, die den weiteren Äußerungen der Prinzessin im Verlaufe des Gespräches innewohnt. Zusammenfassend läßt sich darüber folgendes sagen: Die Prinzessin tastet Tassos Vorhaben als solches nicht an, sondern richtet ihre Einwände zunächst gegen die Art, wie er es ausführen will. Hieran schließt sie jedoch im Tone des Vorwurfs weitere Vorhaltungen, die sich dem äußeren Ansehen nach ebenfalls gegen die Art der Durchführung seiner Absicht zu wenden scheinen, die aber ihrem Inhalte nach die Notwendigkeit seiner Abreise überhaupt in Frage stellen, ja das Gegenteil als erwünscht erscheinen lassen. Mit anderen Worten, sie legt ihm nahe, zu bleiben, sie läßt durchblicken, 1
3114-3118.
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wie sehr sie es wünscht, aber sie vermeidet es peinlich, diesen Wunsch geradezu auszusprechen und damit auf Tassos Entschlüsse offen Einfluß zu nehmen. I n der Entgegnung auf Tassos Vision seiner Reise nach Sorrent sind diese Momente deutlich zu unterscheiden. 1 Ausdrücklich gegen den Plan, Sorrent aufzusuchen, nicht aber gegen seine Abreise als solche wenden sich die Worte: Blick auf, o Tasso, wenn es möglich ist Erkenne die Gefahr in der du schwebst! (3163f.)
Nach vier überleitenden Verszeilen folgen dann aber die Sätze, die ganz unmißverständlich den Ausdruck unveränderter Gunst enthalten und daher Tassos Absicht, sich zu entfernen, die eigentliche, das heißt die f ü r ihn allein bedeutsame Begründung entziehen 2 : Ist's dir verborgen wie mein Bruder denkt? Wie beyde Schwestern dich zu schätzen wissen ? Hast du es nicht empfunden und erkannt? Ist alles denn in wenig Augenblicken Verändert? (siso-sm) Durch das 'wenn', mit dem die Prinzessin sodann wiederum auf Tassos Entschluß zu sprechen kommt, stellt sie diesen vollends auf einen Willensakt hin, dessen Durchführung oder Widerruf allein in seinem Belieben liegt: Tasso! Wenn du scheiden willst So laß uns Schmerz und Sorge nicht zurück. (3173f.)
Zugleich vermeidet sie dadurch den Anschein, Tasso in seinen Entschlüssen beeinflussen zu wollen. Ebenso in den anschließenden Versen, in denen sie, von neuem anhebend, den Plan einer freilich kurzen Abwesenheit nach wie vor als gegeben hinstellt: Wie tröstlich ist es einem Freunde, der Auf eine kurze Zeit verreisen will, Ein klein Geschenk zu geben . . . (3175-3x77) Hierauf folgen nun wieder Worte, die sich gegen das Wie von Tassos Reiseabsichten richten: 1
3X63-3174, 3175-3184. Dem ursprünglichen Argument der Gräfin Sanvitale, Tasso und Antonio müßten voneinander getrennt werden, kann an dieser Stelle kein Gewicht mehr zukommen, da sowohl die Prinzessin als auch Tasso dem Für und Wider seiner Abreise inzwischen mit ganz anderen inneren Voraussetzungen gegenüberstehen. 2
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Dir kann man nichts mehr geben, denn du wirfst Unwillig alles weg was du besitzest. Die Pilgermuschel und den schwarzen Kittel, Den langen Stab erwählst du dir, und gehst Frey willig arm dahin, (3179—3183)
Die Schlußworte enthalten jedoch noch einmal den deutlichen Hinweis darauf, daß die Prinzessin Tassos Abreise weder f ü r ihn noch f ü r sich und die Hofgenossen als wünschenswert betrachtet: und nimmst uns weg Was du mit uns allein genießen konntest. (3183 f.)
Dieser Hinweis wird von Tasso offensichtlich verstanden: So willst du mich nicht ganz und gar verstoßen! 0 süßes Wort, o schöner theurer Trost, Vertritt mich! Nimm in deinen Schutz mich auf! (3185—3187)
Er gibt die Absicht, aus dem Hofe auszuscheiden, nunmehr auf und bittet um Asyl in einem entfernten Schloß. Es wäre vielleicht nicht nötig gewesen, auf diese Einzelheiten so ausführlich einzugehen, wenn nicht ganz abweichenden Urteilen über die Gemütslage und die Absichten der Prinzessin hätte Rechnung getragen werden müssen. Als Ergebnis der Erörterung darf jedenfalls festgehalten werden, daß die Prinzessin eine längere oder gar endgültige Entfernung Tassos nicht wünscht, sondern ihm vielmehr überhaupt den Widerruf seines Entschlusses nahelegen möchte, doch so, daß nicht sie als die Urheberin seiner Sinnesänderung erscheint, sondern Entscheidung und Verantwortung ihm überlassen bleiben. Damit sind jedoch noch immer nicht die Beweggründe geklärt, die die Prinzessin zu einer solchen Handlungsweise veranlassen. Die Auflösung könnte sehr einfach sein, wenn man annähme, die Prinzessin wolle, in Übereinstimmung mit dem Wunsche des Herzogs, den Versuch Antonios, Tasso zum Bleiben zu bewegen, wiederholen oder sich wenigstens seiner baldigen Wiederkunft versichern, und bediene sich nun, nach einem bereits fehlgeschlagenen Versuche, aus weiblicher Vorsicht eines so indirekten Verfahrens. Mit dieser Annahme würde man aber die Wirkung außer acht lassen, die das Erschrecken der Prinzessin über die Gefahr ihrer Liebe zu
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Tasso in ihrem Gemüt hinterlassen haben muß. Es ist daher von der Frage nach der seelischen Situation auszugehen, in der sie sich nach dem Gespräch mit Leonore San vitale und zu Beginn der Unterredung mit Tasso befindet. Die Tiefe und den Ernst jenes Erschreckens machen die Verse 'Zu fürchten ist das Schöne, das Fürtrefliche . . . ' 1 auf das eindringlichste deutlich, und es muß vorausgesetzt werden, daß der Prinzessin die Entsagung als unabweisbare Notwendigkeit erscheint. Ebenso deutlich wird jedoch aus ihrer bangen, trostlosen Klage im letzten Teil des Gespräches mit Leonore Sanvitale, welch einen unheilbaren, ihr Leben untergrabenden Schmerz die Trennung von Tasso für sie bedeuten würde. Daher muß es verständlich erscheinen, wenn es über ihr Vermögen geht, an einem solchen Entschluß aus eigener Kraft festzuhalten. Sie, die von sich selbst sagt 'Ich lebe gern so stille vor mich hin . . . ', die nicht dazu geschaffen ist, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu tragen, sie wird es erdulden, wenn es ihr auferlegt wird, aber sie vermag nicht mit festem Willen auf eine Entscheidung von solcher Art zuzusteuern. Was sie ersehnt, muß sie fürchten, und was sie gutheißen muß, würde ihr Leben zerstören. Sie fürchtet daher die Entscheidung überhaupt, und, daran gewöhnt, über sich verfügen zu lassen, sich passiv zu verhalten, nimmt sie Zuflucht zu dieser ihrer passiven Lebensform, indem sie auf Folgerungen aus ihrer eigenen Einsicht überhaupt verzichtet. Sie flieht aus der Verantwortung und überläßt es Tasso, auf seinem Entschluß zu beharren oder ihn zu widerrufen. Damit spielt sie sich in eine seelische Situation hinein, die ihr den Schein der Beruhigung gibt, nicht handeln zu müssen und also keine Schuld auf sich zu laden, die ihr nun aber auch die innere Möglichkeit verschafft, das, was sie im Tiefsten wünscht, scheinbar ohne ihr Zutun zu befördern. Denn wenn die Entscheidung nun einmal unabhängig von ihr durch Tasso gefällt werden soll, so kann sie wieder hoffen, und so kann es ferner geschehen, daß die Hoffnung ihre Befürchtungen übertönt. Dann aber ist es nur noch ein kleiner Schritt, wenn sie nun auch mit leisen Winken und Andeutungen Tasso die Möglichkeit der erwünschten Entscheidung vor Augen rückt, ohne doch direkt und offen auf seinen Willen Einfluß zu nehmen. Der vorgetragene Deutungsversuch empfiehlt sich freilich nicht durch jene ansprechende Einfachheit, die die klassische Lösung des Verzichts für sich hat. Doch streitet gegen diese nun einmal der Text des letzten Zwiegesprächs zwischen der Prinzessin und Tasso, und wenn man es als gegeben voraussetzt, daß die Prinzessin in der Unterredung mit Leonore Sanvitale 1
1840-1848; s. oben S. 119.
7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
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die Gefahr der ihrer Kontrolle entgleitenden Leidenschaft erkennt und die Notwendigkeit des Verzichts begreift, dann aber Tasso den Widerruf seines Abschieds nahezulegen sucht, so scheint kaum eine andere Deutung möglich zu sein, als die angegebene. Nimmt man sie an, so gewinnt das letzte Gespräch zwischen Tasso und der Prinzessin überdies ein sehr konsequentes und abgerundetes Ansehen. Denn dem indirekten Vorgehen der Prinzessin, ihrem Zuverstehengeben und Durchblickenlassen, das bei jeder abweichenden Interpretation als störend und inadäquat erscheinen müßte, antwortet ein ganz entsprechendes Verhalten Tassos. Die ganze Szene ist also auf diese vorsichtig - mittelbare, abtastende und Umwege suchende Gesprächsführung hin angelegt. Die Eigentümlichkeit der Haltung Tassos zeigt sich schon in seiner ersten Entgegnung 1 auf die fragend — konstatierenden Worte der Prinzessin. Nachdem er zunächst seine nicht völlig unbegründete und durch Aufträge des Herzogs approbierte Absicht, sich nach Rom zu begeben, dargetan hat, gibt er den Dingen ganz plötzlich eine durchaus unerwartete Wendung. Mit dem Tone der Verzweiflung an seinem Geschick gibt er vor, nach Neapel gehen zu wollen, wo ihm höchste Gefahr droht, und malt sein Schicksal nach Verlassen des Hofes in so düsteren Farben aus 2 , daß er den Einspruch der Prinzessin unmittelbar herausfordert. Hierbei ist daran zu erinnern, daß das Vertrauen Tassos in die Gesinnung der Prinzessin durch das Ausbleiben ihrer Anteilnahme während seiner Zimmerhaft aufs schwerste erschüttert worden ist. E r hatte sich dieses Verhalten nicht anders erklären können, als durch die Annahme, auch sie stehe auf der Seite seiner vermeintlichen Gegner 3 , und nur unter der Voraussetzung, daß sie ihm ihre Gunst entzogen habe, war sein Entschluß, Ferrara zu verlassen, zustande gekommen. 4 Es ist daher verständlich, daß er sich zumindest ihres Wohlwollens versichern möchte, und daß es ihm weiter darum zu t u n sein muß, von ihr eine Erklärung zu erlangen, die ihm den Widerruf seines Entschlusses gestattet. Da sie ihm jedoch — darauf bedacht, Entscheidung und Verantwortung von sich fernzuhalten - keinen Anhaltspunkt f ü r eine offene Aussprache an die Hand gibt, greift er auch seinerseits zu dem nicht ganz lauteren Mittel, ihr indirekt eine Erklärung abzunötigen. Dasselbe wiederholt sich in der folgenden Rede und Gegenrede. Die Prinzessin läßt in ihrer oben besprochenen Entgegnung 5 recht deutlich durch1 3 8
9
3118-3137. 2818ff. 3163-3174, 3175-3184; s. S. 124f.
Mantey
2 4
3140-3162. 2530-2546.
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M A N T E Y
blicken, wie sehr sie wünscht, daß Tasso sie nicht verlasse; da sie es aber vermeidet, sich zu ihrem Wunsch freimütig zu bekennen, glaubt Tasso sich wiederum zu einem nicht ganz redlichen Manöver genötigt, um Gewißheit erlangen zu können. Er äußert den Wunsch, als letzter Knecht des Herzogs ein verlassenes Schloß pflegen zu dürfen. Damit gibt er aufs deutlichste kund, wie dringend sein Verlangen ist, dem Hofe weiterhin anzugehören, doch tut er es in Verbindung mit einem Ansuchen, das, wie er wohl wissen muß, durchaus unannehmbar ist und notwendig entschiedenere Erklärungen nach sich ziehen muß. Man sieht, daß das Verhalten Tassos und das der Prinzessin einander vollkommen entsprechen. Beide weichen einer eigenen Entscheidung und einer offenen Aussprache aus und suchen sich gegenseitig auf Umwegen zu der erwünschten Erklärung zu veranlassen. Es kann nicht ausbleiben, daß dieses wechselseitige Durchblickenlassen und Nahelegen, gerade infolge der Indirektheit der Aussagen, die keine Sicherheit und Beruhigung geben kann, eine gefährliche Spannung und Erregung befördert, die zu der schließlichen Katastrophe in beträchtlichem Maße beiträgt. Dabei ist festzuhalten, daß die Prinzessin bereits durch ihre einleitenden Worte das Gespräch in diese Bahn gelenkt hat. Daß auch Tasso gegebenenfalls zu derartigen Mitteln zu greifen geneigt ist, wenn er einen Wunsch erfüllt haben möchte, zeigte sich bei der Erörterung der Bekränzungsszene im Zusammenhang mit dem Worte bescheiden. Dennoch darf man voraussetzen, daß er der Prinzessin gegenüber zu Offenheit und Freimut bereit wäre, zumal die höfische Distanz, der Mangel an vorbehaltloser Zuwendung und Offenheit unter den Menschen dieses Kreises, seinem Wesen im tiefsten nicht gemäß ist. Davon zeugt seine vertrauensvolle, unverfälscht offene Haltung im ersten Zwiegespräch mit der Prinzessin, und es ist ihm auch zu glauben, daß der Wunsch, die Schranken des Mißtrauens und der vorsichtigen Reserve zu durchbrechen, und die Bereitschaft, sich warmherzig hinzugeben, zu den wesentlichen Antrieben gehörten, die ihn zu seinem Freundschaftsangebot an Antonio verleiteten: Wer wird die Klugheit tadlen? Jeder Schritt Des Lebens zeigt wie sehr sie nöthig sey; Doch schöner ist's wenn uns die Seele sagt Wo wir der feinen Vorsicht nicht bedürfen. (1209—1212)
und gönne mir die Wollust, Die schönste guter Menschen, sich dem Bessern Vertrauend ohne Rückhalt hinzugeben! (1285—1287)
7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
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Ich sah ihn an und ward vom guten Willen, Vom Hoffnungswahn des Herzens übereilt: Der sey ein Mensch der menschlich Ansehn trägt. Ich ging mit offnen Armen auf ihn los, Und fühlte Schloß und Riegel, keine Brust. (2204—2208) Man darf also wohl sagen, daß es in erster Linie die Prinzessin ist, die in diesem Gespräch jene schöne Offenheit vermissen läßt, die auf das menschliche Verständnis des anderen vorbehaltlos vertraut. Wie befreiend müßte, als Einleitung des Gespräches, auf Tasso schon ein Wort des milden Tadels wirken, gesprochen mit dem Tone des Verzeihens und verbunden mit der Bitte, Ferrara nicht zu verlassen. Ein Zuspruch solcher Art, erleichternd und dämpfend zugleich, könnte f ü r diesen Augenblick alle Konflikte lösen, ohne neue heraufzubeschwören. Gewiß, nur das Gedichtete gilt; aber zum Gedichteten gehört nicht nur das Handeln, sondern auch das Unterlassen, und man würde einem Werk von der Art des 'Tasso' Unrecht tun, wenn man in der Gestaltung dieser Szene nur einen dramatischen Kunstgriff sehen wollte, dazu bestimmt, die tragische Schlußwendung herbeizuführen, und nicht auch die in den Charakteren begründete innere Motivation des Verhaltens. Schließlich bleibt zu fragen, wie die Prinzessin der von ihr selbst in Anspruch genommenen Aufgabe, den Dichter menschlich zu führen und sittlich zu bilden, durch ihre Handlungsweise gerecht wird. Sie widmet sich dieser Aufgabe zunächst, indem sie in dem ersten Zwiegespräch mit Tasso sittliche Postulate aufstellt und sich als Richterin in den Fragen des Geziemenden erbietet. Über den weiteren Verlauf ihrer Mission muß dann ihr Verhalten gegenüber Tasso Aufschluß geben, und da wird denn offenbar, daß der pädagogische Eifer und die seelische Fürsorge sehr bald hinter anderen, im tiefsten von der Rücksicht auf das eigene Selbst bestimmten Beweggründen zurücktreten. Bei der Behandlung des Wortes still wurden die hierfür entscheidenden Stellen bereits erörtert. Es sei nochmals daran erinnert, daß die Prinzessin sich nach Tassos Streit mit Antonio der Fürsprache f ü r ihn entzieht und ihm ihre teilnehmende Sorge vorenthält, letztlich um ihr empfindliches Selbstgefühl zu schonen und ohne danach zu fragen, wie ein solches Verhalten auf sein labiles und reizbares Gemüt wirken muß. Aber auch wo es um ihre Liebe zu Tasso geht, trägt ihr Handeln eher einen Zug der Selbstigkeit, als den der hingabebereiten, auf das Wohl und den seelischen Frieden des anderen bedachten Sorge. Davon zeugt die Art, in der sie Tasso nach seinem ebenso entschiedenen wie verhaltenen Liebesbekenntnis durch ihre halbverschlei9»
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JOHANNES MANTEY
erten und unbestimmt-lockenden Worte zu einer Aufwallung seines Gefühls erregt - statt ihm durch ein Gegenbekenntnis von gleicher Verhaltenheit und Bestimmtheit die Ruhe seines Gemütes zu bewahren - und ihn dann in seine Schranken zurückweist. Diese Handlungsweise ist nicht anders zu erklären, als daß sie Tassos Gefühl nach dem Bedürfnis ihres Herzens stimulieren und drosseln möchte, ohne doch das Bedürfnis seines Herzens recht empfinden zu wollen. Und auch in dem anderen Zwiegespräch mit Tasso zeigt die Prinzessin diese wenig einfühlende, ja zunächst fast mitleidlose und in erster Linie auf die Ruhe des eigenen Gemütes bedachte Art, indem sie den gequälten Tasso noch weiterhin vexiert, ihm eine klare und beruhigende Stellungnahme vorenthält und die Last der Erklärung und Entscheidung ihm zuschiebt. Zwar im Endergebnis möchte sie Tasso halten und trifft dadurch mit seinen Wünschen zusammen, aber sie möchte es auf eine f ü r sie selbst möglichst schonende, ihr Peinlichkeit und Verantwortung ersparende Weise, ohne Rücksicht darauf, daß Tasso in seiner prekären Lage viel eher der zartfühlenden Schonung bedürfte. Weit schwerer wiegt jedoch noch der in ihrem Verhalten liegende Verstoß der Prinzessin gegen ihre erzieherische Aufgabe. Bei der Erörterung des Wortes still wurde schon betont, daß Tasso in seinem Liebesbekenntnis ein weit geschärfteres Feingefühl f ü r das in der Gesittung dieses Kreises Mögliche bewährt, als seine Lehrmeisterin, daß er daher aber auch, weil er sich ihren Aussprüchen unbedingt zu unterwerfen gewillt ist, durch ihre Verfehlung in seinem Urteil aufs schwerste beirrt werden muß. I m Prinzip das Gleiche wiederholt sich nun in der Umarmungsszene. Hier muß als überaus wichtig hervorgehoben werden, daß nicht etwa diejenigen Worte der Prinzessin, die die eigentliche Bestätigung ihres früheren Liebesbekenntnisses enthalten, es sind, die den Gefühlsausbrauch Tassos hervorrufen : PRINZESSINN Ich finde keinen R a t h in meinem Busen U n d finde keinen Trost f ü r dich und - uns. Mein Auge blickt umher ob nicht ein Gott Uns Hülfe reichen möchte? Möchte mir E i n heilsam K r a u t entdecken, einen Trank D e r deinem Sinne Frieden brächte, Frieden uns. D a s treuste Wort, das von der Lippe fließt, D a s schönste Heilungsmittel wirkt nicht mehr. I ch muß dich lassen, und verlassen kann Mein Herz dich nicht.
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TASSO
Ihr Götter, ist sie's doch Die mit dir spricht und deiner sich erbarmt! Und konntest du das edle Herz verkennen ? Wars möglich daß in ihrer Gegenwart Der Kleinmuth dich ergriff und dich bezwang ? Nein nein, du bist's und nun ich bin es auch. 0 fahre fort und laß mich jeden Trost Aus deinem Munde hören! deinen R a t h Entzieh' mir nicht, o sprich: was soll ich thun? Damit dein Bruder mir vergeben könne, Damit du selbst mir gern vergeben mögest, Damit ihr wieder zu den euren mich Mit Freuden zählen möget. Sag mir an. (3212—3233)
Die Worte 'und verlassen kann / Mein Herz dich nicht' befreien Tasso von jedem Zweifel an der unveränderten Liebe der Prinzessin, und er bringt, wie es billig ist, seine Beglückung darüber zum Ausdruck. Dennoch ergreift ihn nicht jenes alle Schranken durchbrechende Hochgefühl, das ihn nach dem Ausgang der ersten Zwiesprache in die unbesonnene Auseinandersetzung mit Antonio getrieben hatte. Vielmehr bittet er mit dem Ausdruck des Schuldgefühls um Unterweisung f ü r ein Verhalten, durch das er sich der Hofgemeinschaft willkommen und wert machen könnte. Es besteht kein Zweifel, daß Tasso die Verstellung, zu der ihn nur die Unsicherheit über die Gesinnung der Prinzessin getrieben hatte, nunmehr abgelegt hat, und daß diese Worte ehrlich gemeint sind. Sein Verhalten ist an dieser Stelle völlig makellos. Es ist also, wenn man gewillt ist, dem Text in aller Strenge zu folgen, ausschließlich der Inhalt der nachfolgenden Worte der Prinzessin und ihre Bedeutung gerade an dieser Stelle des dramatischen Geschehens f ü r die nun ausbrechende leidenschaftliche Erregung Tassos verantwortlich zu machen, und es muß daher gefragt werden, wie diese ihre Wirkung zu erklären ist. Wie im Falle der Prinzessin, so ist auch im Falle Tassos von der seelischen Situation auszugehen, in der er sich während dieses Zwiegespräches befindet. Oben wurde schon angedeutet, daß die Vorstellung Tassos von den Gesinnungen seiner Hofgefährten und damit von seiner Lage am Hofe bis zum Beginn dieser Szene entscheidend dadurch bestimmt wurde, daß er glauben mußte, die Prinzessin habe ihm ihre Gunst entzogen. I n dem Augenblick, da sich diese Voraussetzung als unrichtig erweist, löst sich daher auch das ganze Gewebe von Argwohn und VerfolgungsVorstellungen, das
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sich daran geknüpft hatte, auf, und da er sich nun nicht mehr von allen Seiten angefeindet fühlt, weicht auch sein Trotz. Dadurch gewinnt er die innere Freiheit, sein Verhalten affektlos zu überprüfen, und der Standpunkt, zu dem er dabei gelangt, ist derjenige, den er vor dem Liebesbekenntnia der Prinzessin im ersten Zwiegespräch mit ihr eingenommen hatte: Er erkennt, daß das ungebändigte Hochgefühl, das ihn nach jenen Worten der Prinzessin ergriffen hatte, nicht angemessen war, und daß er durch sein ungestümes Verhalten gegen das Wort 'erlaubt ist was sich ziemt' verstoßen haben muß. Er, der zu sich selbst sagen konnte Ist nicht mein ganzer Fehler ein Verdienst ? (2203)
und an dieser Meinung bis zuletzt festgehalten hatte, korrigiert diesen Standpunkt nun, da er der Prinzessin wieder gegenübersteht, und ist, wie seine Worte zeigen, aufs neue bereit, sich mit Ernst den Notwendigkeiten eines geselligen Zusammenlebens fügen zu lernen und aus ihrem Munde zu erfahren, was sich denn zieme. In diesem Augenblick antwortet die Prinzessin mit Worten, die alles Geschehene gleichsam als irrelevant glatt übergehen und Tasso von jeder Verpflichtung, die nicht auf seine Harmonie mit sich selbst gerichtet ist, entbinden: Gar wenig ist's was wir von dir verlangen Und dennoch scheint es allzuviel zu seyn. Du sollst dich selbst uns freundlich überlassen. Wir wollen nichts von dir was du nicht bist, Wenn du nur erst dir mit dir selbst gefällst. Du machst uns Freude wenn du Freude hast, Und du betrübst uns nur wenn du sie fliehst; Und wenn du uns auch ungeduldig machst, So ist es nur, daß wir dir helfen möchten Und, leider! sehn daß nicht zu helfen ist; Wenn du nicht selbst des Freundes Hand ergreifst, Die, sehnlich ausgereckt, dich nicht erreicht. (3234—3245)
Ganz offensichtlich vergißt die Prinzessin hier vollends ihre Verantwortung für den Dichter und scheint nur noch bestrebt zu sein, ihn zu halten und an sich zu binden, ohne daran zu denken, daß Tasso in jeder ihrer Äußerungen zugleich ihr Urteil über sein Verhalten sehen muß. Bei der Frage, wie diese Worte auf Tasso wirken müssen, darf man die Problematik nicht unterschätzen, die für ihn mit dem Widerstreit der Sätze 'erlaubt ist was gefällt'
7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
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und 'erlaubt ist was sich ziemt' verbunden ist. 'Erlaubt ist was gefällt' das bedeutet ihm nicht Willkür, sondern das Walten eines natürlichen, unbestechlich sicheren Gefühls f ü r das Schöne und Gefällige als Maxime alles Verhaltens. Demgegenüber erscheint ihm das Geziemende als Zwang eines konventionellen Reglements, dessen Gesetze man nicht aus angebornem Gefühl beherrschen kann, sondern die man erst erfahren und erlernen m u ß : 0 wenn aus guten edlen Menschen nur Ein allgemein Gericht bestellt entschiede Was sich denn ziemt ? (1007—1009) Dieser Gegensatz aber ist im Wesen derselbe wie derjenige, der hinsichtlich der wechselseitigen Beziehungen im Lebenskreis des 'Tasso' zwischen dem rein menschlichen Empfinden Tassos und dem rein gesellschaftlichen Empfinden der anderen besteht. Es ist der Gegensatz zwischen 'sittlich' in der Auffassung Antonios und 'edel' in der Auffassung Tassos: ANTONIO
Unsittlich wie du bist hältst du dich gut? TASSO
Viel lieber was ihr euch unsittlich nennt Als was ich mir unedel nennen müßte. (1365—1367)
- ein Gegensatz also, der nicht zu überbrücken ist, weil hier ein und dasselbe mit zwei verschiedenen Maßen gemessen wird, die nicht ohne Rest ineinander umzurechnen sind. Denn der Begriff des Natürlich-Edlen schließt ja eine ihm eigene Sittlichkeit ein, und der des GesellschaftlichSittlichen schließt das Edle, sofern es auf gleicher Ebene liegt, nicht aus; aber beide entspringen einem grundverschiedenen Lebensgefühl, sind daher von völlig verschiedener innerer Struktur und können wohl zu einem Kompromiß, aber nicht zur Übereinstimmung gebracht werden. Die Gesetze des Geziemenden zu befolgen bedeutet daher f ü r den wenig kompromißfähigen Charakter Tassos einen Zwang, dem er sich zwar freiwillig unterwirft, der aber seinem natürlichen Empfinden zutiefst Gewalt antut. Und nun, da er sich dieser herben Bemühung aufs neue unterziehen will, hört er aus dem Munde der Prinzessin die Worte: Wir wollen nichts von dir was du nicht bist, Wenn du nur erst dir mit dir selbst gefällst. Es kann nicht anders sein, als daß er hier den Satz 'erlaubt ist was gefällt' heraushört, an den der Sinn dieser Worte ja zum Verwechseln anklingt.
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Zumal er den Anschluß an das Empfinden seiner höfischen Gefährten überhaupt erst sucht, und sein Urteil darüber bisher mit jeder Wendung des Geschehens von Grund auf umgestürzt wurde, muß er aufs neue glauben, nun endlich vor der Wahrheit zu stehen: Alle Not, die ihm die Antinomie der Sätze 'erlaubt ist was gefällt' und 'erlaubt ist was sich ziemt' bereitet hatte, war Trug; sie enthalten nicht zweierlei Ethik, sondern ein und dieselbe; er hat nicht gefehlt; er ist befreit aus der Entfremdung seiner selbst, darf sich auf sein Gefühl verlassen und darf er selbst sein: Ich fühle mich im innersten verändert, Ich fühle mich von aller Noth entladen, Frey wie ein Gott, und alles dank' ich dir! (3271—3273)
Dieser stürmische befreiende Auftrieb seines Lebensgefühls wird aber zugleich durch die Bedeutung, die die Liebe der Prinzessin nun f ü r ihn gewinnt, aufs heftigste gesteigert. Gewiß sein durfte er dieser Liebe schon zuvor; aber ihr Inhalt ist nach den letzten Worten der Prinzessin f ü r ihn ein anderer geworden. Denn es ist ja trotz allem nicht so, daß nunmehr die Harmonie Tassos mit den übrigen Gliedern dieses höfischen Kreises hergestellt wäre. Die Gegensätze haben wohl ihre Schärfe f ü r ihn verloren, ja sie sind unwesentlich geworden, doch sie bleiben als solche bestehen. Aber gerade im Kontrast dazu gewinnt es f ü r ihn um so größere Bedeutung, daß die Prinzessin sich offenbar voll auf seine Seite stellt, indem sie das zwischen ihm und Antonio Vorgefallene keiner Erwähnung wert zu finden scheint und ihn ermutigt, sich in Harmonie mit sich selbst ganz zu geben, wie er ist. Denn das ist das genaue Gegenteil derjenigen Haltung, die er sonst bei seinen höfischen Gefährten vorauszusetzen gewohnt ist und die er Antonio mit den Worten in den Mund legt: Es sey nicht anders, einmal habe nun Den Einen Mann das Schicksal so gebildet, Nun müsse man ihn nehmen wie er sey, Ihn dulden, tragen und vielleicht an ihm Was Freude bringen kann am guten Tage Als unerwarteten Gewinnst genießen, Im übrigen, wie er gebohren sey So müsse man ihn leben, sterben lassen. (2764—2771)
Auch der Prinzessin hatte er ja eine Gesinnung der zwar liebevollen, aber doch nachsichtig-herablassenden, sein Wesen nicht in seinem vollen Wert anerkennenden Duldung zugeschrieben:
7. Die zwischenmenschlichen Beziehungen
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Du hast mich oft, o Göttliche, geduldet, Und wie die Sonne trocknete dein Blick Den Thau von meinen Augenliedern ab. (1082—1084)
— und noch eben erst hatte er sich darauf beschränkt, ihre Liebe in diesem Sinne zu verstehen. Ganz, unvermutet nun sieht er sich aus dieser niederdrückenden, sein Lebensgefühl kränkenden und lähmenden Lage befreit, und fühlt sich von dem einen Menschen, an dessen Urteil ihm alles liegt, in jedem Zuge seines ganzen Wesens bejaht. Der Umstand aber, daß in einer Welt fremder und schroffer Gesinnungen einzig die geliebte Frau sich zu ihm zu stellen scheint, schafft für sein Gefühl eine Gemeinschaft zwischen ihnen beiden, die fast einer Verschwörung gleichkommt. Wie er an früherer Stelle sagen konnte: Nun sind erst meine Feinde stark, nun bin ich Auf ewig einer jeden Kraft beraubt. Wie soll ich streiten wenn Sie gegenüber Im Heere steht?
Mit jedem Wort' erhöhest du mein Glück Mit jedem Worte glänzt dein Auge heller. Ich fühle mich im innersten verändert, Ich fühle mich von aller Noth entladen, Frey wie ein Gott, und alles dank' ich dir!
(Tasso
3269—3273)
Solche Versgruppen begegnen in mannigfaltigen Spielarten. So klingen in dem nachstehenden Abschnitt zwei Verspaare in eine freier rhythmisierte Gruppe von drei Versen aus: Der Wille lockt die Thaten nicht herbey; Der Muth stellt sich die Wege kürzer vor. Wer angelangt am Ziel ist, wird gekrönt, Und oft entbehrt ein würd'ger eine Krone. Doch giebt es leichte Kränze, Kränze giebt es Von sehr verschiedner Art, sie lassen sich Oft im Spazierengehn bequem erreichen. (Tasso 1296—1302)
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Öfters entstehen Quartette, indem je zwei Verspaare durch Parallelen oder Antithesen enger miteinander verbunden werden: So selten ist es daß die Menschen finden Was ihnen doch bestimmt gewesen schien, So selten daß sie das erhalten, was Auch einmal die beglückte H a n d ergriff! Es reißt sich los was erst sich uns ergab, Wir lassen los was wir begierig faßten. Es giebt ein Glück, allein wir kennen's nicht: Wir kennen's wohl, und wissen's nicht zu schätzen. (Tasso 1906—1913)
Wenn die Natur der Dichtung holde Gabe Aus reicher Willkür freundlich mir geschenkt , So h a t t e mich das eigensinn'ge Glück Mit grimmiger Gewalt von sich gestoßen: Und zog die schöne Welt den Blick des Knaben Mit ihrer ganzen Fülle herrlich an, So trübte bald den jugendlichen Sinn Der theuren Eltern unverdiente Noth. Eröffnete die Lippe sich zu singen, So floß ein traurig Lied von ihr herab, Und ich begleitete mit leisen Tönen Des Vaters Schmerzen und der Mutter Quaal. (Tasso 405—416)
Diese Versgruppe ist aus drei Quartetten gebildet, von denen die beiden ersten aus antithetisch verbundenen Verspaaren bestehen. A. F R I E S weist darauf hin, daß in dieser Stelle eine Stanze aus Tassos 'Jerusalem' anklingt. 1 In den Versen des folgenden Beispiels sind zwei Terzette an zwei Quartette gereiht, so daß in der Gruppierung der Verse die Form des Sonetts deutlich zu erkennen ist: Sein Auge weilt auf dieser Erde kaum; Sein Ohr vernimmt den Einklang der N a t u r ; Was die Geschichte reicht, das Leben giebt Sein Busen nimmt es gleich und willig auf: Das weit zerstreute sammelt sein Gemüth, Und sein Gefühl belebt das Unbelebte. Oft adelt er was uns gemein erschien, 1
A. FRIES,
Stilbeobachtungen zu Goethe, Schiller und Hölderlin. Berlin
1927,
S.
28.
5. Sprachform und rhythmische Gestaltung
173
Und das Geschätzte wird vor ihm zu nichts. I n diesem eignen Zauberkreise wandelt Der wunderbare Mann und zieht uns an Mit ihm zu wandlen, Theil an ihm zu nehmen: E r scheint sich uns zu nahn, und bleibt uns fern; E r scheint uns anzusehn, und Geister mögen An unsrer Stelle seltsam ihm erscheinen. (Tasso 159—172)
Aus den angeführten Beispielen wird deutlich, daß Goethe im 'Tasso' nach strenger, den romanischen Formen verwandter metrischer Gestaltung strebt. Für die fehlende Reimbindung tritt um so straffere Sinnbindung durch Parallelismus und Antithese ein, und die Sätze decken sich mit den Verszeilen oder Verspaaren. I n ihren ausgeprägteren Formen nehmen diese Verssysteme im 'Tasso' fast eine ähnliche Stellung ein, wie die freirhythmischen Partien in der 'Iphigenie'. I n anderen Fällen wird nur der Sinnzusammenhang im ganzen in parallele oder antithetische Teile gegliedert, während innerhalb der Versgruppen die Formgebung freier ist: 0 glaube mir ein selbstisches Gemüth K a n n nicht der Quaal des engen Neids entfliehen. Ein solcher Mann verzeiht dem andern wohl Vermögen, Stand und Ehre, denn er denkt Das hast du selbst, das hast du wenn du willst, Wenn du beharrst, wenn dich das Glück begünstigt. Doch das was die Natur allein verleiht, Was jeglicher Bemühung, jedem Streben Stets unerreichbar bleibt, was weder Gold Noch Schwerdt, noch Klugheit, noch Beharrlichkeit Erzwingen kann, das wird er nie verzeihn. Er gönnt es mir? Er, der mit steifem Sinn Die Gunst der Musen zu ertrotzen glaubt ? Der, wenn er die Gedanken mancher Dichter Zusammenreiht, sich selbst ein Dichter scheint? Weit eher gönnt er mir des Fürsten Gunst Die er doch gern auf s i c h beschränken möchte, Als das Talent das jene himmlischen Dem armen, dem verwaisten Jüngling gaben. (Tasso 2318—2336)
Nach den beiden einleitenden Versen stehen in diesem Abschnitt je zwei Gruppen von vier bzw. fünf Versen antithetisch zueinander. Ihre innere
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Füllung ist reich an Parallelismen, die aber keinen Einfluß auf den Versbau gewinnen, nur die abschließende Gruppe ist straffer gegliedert. Die vorstehenden Beispiele wurden zum Teil aus dem Zusammenhang eines größeren Redeabsatzes herausgeschnitten. Zum Abschluß dieser Auswahl sei an einer Stelle, die eine solche Aussonderung aus dem Textverbande nicht wohl vertragen würde, die rhythmische Einbettung derartiger Versgebilde in den klanglichen Zusammenhang des Redeabschnittes vorgeführt. Auf eine lockerer rhythmisierte Einleitung folgen zwei Gruppen von je drei straff gebundenen Verspaaren; ihnen ist ein Abgesang von fünf Versen antithetisch gegenübergestellt, der in einer den Formen der 'Iphigenie' nahestehenden Weise von rhythmisch gegliederten Wortgruppen getragen wird. Die letzte Versgruppe schließlich läßt diese Antithese in einer Opposition von vier zu zwei Versen nach- und ausklingen: Wenn das Vertrauen heilt, so heil' ich bald; Ich hab es rein und hab' es ganz zu dir. Ach, meine Freundinn! Zwar ich bin entschlossen, Er scheide nur; allein ich fühle schon Den langen ausgedehnten Schmerz der Tage, wenn Ich nun entbehren soll was mich erfreute. Die Sonne hebt von meinen Augenliedern Nicht mehr sein schön verklärtes Traumbild auf; Die Hoffnung ihn zu sehen füllt nicht mehr Den kaum erwachten Geist mit froher Sehnsucht; Mein erster Blick hinab in unsre Gärten Sucht' ihn vergebens in dem Thau der Schatten. Wie schön befriedigt fühlte sich der Wunsch Mit ihm zu seyn an jedem heitern Abend! Wie mehrte sich im Umgang das Verlangen Sich mehr zu kennen, mehr sich zu verstehn, Und täglich stimmte das Gemüth sich schöner Zu immer reinem Harmonien auf. Welch eine Dämmrung fällt nun vor mir ein! Der Sonne Pracht, das fröhliche Gefühl Des hohen Tags, der tausendfachen Welt Glanzreiche Gegenwart, ist öd und tief Im Nebel eingehüllt der mich umgiebt. Sonst war mir jeder Tag ein ganzes Leben; Die Sorge schwieg, die Ahndung selbst verstummte,
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
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Und glücklich eingeschifft trug uns der Strom Auf leichten Wellen ohne Ruder hin: Nun überfällt in trüber Gegenwart Der Zukunft Schrecken heimlich meine Brust.
(Tasso 1851—1879)
6. Ausdruckswerte
der Sprachform
im Zusammenhang
des Textes
In den ersten Abschnitten dieses Teils der Untersuchung konnten an Einzelerscheinungen im Sprachbau der 'Iphigenie' und des 'Tasso' sehr spezifische Merkmale der Sprachform nachgewiesen werden, die den einander entgegengesetzten Denk- und Auffassungsformen der ganzheitlichen Schau und der gliedernden Analyse Ausdruck verleihen. Die Aufgabe der weiteren Darstellung ist es, im Vergleich einzelner Textabschnitte aus beiden Dichtungen die Ausdruckswerte der Sprachform im Textzusammenhang vorzuführen und ihre Eigenart näher zu bestimmen. Die nachfolgende Gegenüberstellung verdeutlicht noch einmal die grundlegenden Merkmale der explizierenden Analyse im 'Tasso' und der ganzheitlichen Sicht in der 'Iphigenie': Er, der von Jugend auf dem Staat gedient, Beherrscht ihn jetzt und wirkt auf jene Höfe, Die er vor Jahren als Gesandter schon Gesehen und gekannt und oft gelenkt. Es liegt die Welt so klar vor seinem Blick Als wie der Vortheil seines eignen Staats. Wenn man ihn handien sieht, so lobt man ihn Und freut sich wenn die Zeit entdeckt was er Im Stillen lang bereitet und vollbracht. Es ist kein schönrer Anblick in der Welt Als einen Fürsten sehn der klug regiert; Das Reich zu sehn, wo jeder stolz gehorcht, Wo jeder sich nur selbst zu dienen glaubt Weil ihm das Rechte nur befohlen wird. (Tasä0 630_643) Am Tage seiner Ankunft, da der König Vom Bad erquickt und ruhig, sein Gewand Aus der Gemahlin Hand verlangend, stieg, Warf die Verderbliche ein faltenreich Und künstlich sich verwirrendes Gewebe Ihm auf die Schultern, um das edle Haupt; 12 Mantey
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
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Und glücklich eingeschifft trug uns der Strom Auf leichten Wellen ohne Ruder hin: Nun überfällt in trüber Gegenwart Der Zukunft Schrecken heimlich meine Brust.
(Tasso 1851—1879)
6. Ausdruckswerte
der Sprachform
im Zusammenhang
des Textes
In den ersten Abschnitten dieses Teils der Untersuchung konnten an Einzelerscheinungen im Sprachbau der 'Iphigenie' und des 'Tasso' sehr spezifische Merkmale der Sprachform nachgewiesen werden, die den einander entgegengesetzten Denk- und Auffassungsformen der ganzheitlichen Schau und der gliedernden Analyse Ausdruck verleihen. Die Aufgabe der weiteren Darstellung ist es, im Vergleich einzelner Textabschnitte aus beiden Dichtungen die Ausdruckswerte der Sprachform im Textzusammenhang vorzuführen und ihre Eigenart näher zu bestimmen. Die nachfolgende Gegenüberstellung verdeutlicht noch einmal die grundlegenden Merkmale der explizierenden Analyse im 'Tasso' und der ganzheitlichen Sicht in der 'Iphigenie': Er, der von Jugend auf dem Staat gedient, Beherrscht ihn jetzt und wirkt auf jene Höfe, Die er vor Jahren als Gesandter schon Gesehen und gekannt und oft gelenkt. Es liegt die Welt so klar vor seinem Blick Als wie der Vortheil seines eignen Staats. Wenn man ihn handien sieht, so lobt man ihn Und freut sich wenn die Zeit entdeckt was er Im Stillen lang bereitet und vollbracht. Es ist kein schönrer Anblick in der Welt Als einen Fürsten sehn der klug regiert; Das Reich zu sehn, wo jeder stolz gehorcht, Wo jeder sich nur selbst zu dienen glaubt Weil ihm das Rechte nur befohlen wird. (Tasä0 630_643) Am Tage seiner Ankunft, da der König Vom Bad erquickt und ruhig, sein Gewand Aus der Gemahlin Hand verlangend, stieg, Warf die Verderbliche ein faltenreich Und künstlich sich verwirrendes Gewebe Ihm auf die Schultern, um das edle Haupt; 12 Mantey
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MANTEY
Und da er wie von einem Netze sich Vergebens zu entwickeln strebte, schlug Ägisth ihn, der Verräther, und verhüllt Ging zu den Todten dieser große Fürst. (Iphigenie 891—900)
I n dem Beispiel aus dem 'Tasso' sind die dargestellten Sachverhalte mit aller Schärfe und Bestimmtheit in ihre Einzelmomente auseinandergelegt. Besonders hervorzuheben ist, daß die geschilderten Tatsachen jeweils von verschiedenen Seiten her beleuchtet werden. Was in der Antithese 'Er, der . . . dem Staat gedient, beherrscht ihn jetzt' allgemein, d. h. in bezug auf die Gesamtheit des staatlichen Lebens, ausgedrückt ist, wird dann auf einem Einzelgebiet noch einmal verdeutlicht, indem Gregors gegenwärtigem außenpolitischen Wirken seine innere Entwicklung zu diesem Vermögen stufenweise gegenübergestellt wird: von der ersten Berührung mit dem politischen Getriebe über das verstehende Eindringen bis zur selbständigen geheimen Einflußnahme von innen her, die als Endglied der durchlaufenen Entwicklung zu der zuerst erwähnten offenen Einflußnahme von außen her zurückführt. I n den Versen 'Wenn man ihn handeln sieht . . . bereitet und vollbracht' ist noch einmal der sichtbaren Tätigkeit das Wirken im Stillen gegenübergestellt, und schließlich wird die innere Regierungstätigkeit von der Seite des Befehlenden und von der des Dienenden her betrachtet. Die intensive Nutzung von Parallelen und Antithesen macht es möglich, diese mannigfaltigen Verhältnisse mit sparsamen Mitteln hell und deutlich darzulegen. Dagegen ist in der Schilderung des Königsmordes aus der 'Iphigenie', die gewiß starke Gegensätzlichkeiten zugelassen hätte, keine ausgeprägte Antithese zu finden. Die sprachlichen Inhalte sind in verbalen Geflechten und attributiven Fügungen zu Komplexen verknüpft, so daß der ganze Vorgang in einem Zuge als ein einziges Bild der Vorstellung nahegebracht wird. Mit dem gliedernden Auseinanderlegen der Inhalte verbindet sich nun im 'Tasso' eine ausgeprägte Neigung zur begrifflichen Reflexion, während die Geflechte und Gefüge der 'Iphigenie' meist mit reichem Bildgehalt gefüllt sind 1 : Bin ich bestimmt zu leben und zu handeln, So nehm' ein Gott von meiner schweren Stirn Den Schwindel weg, der auf dem schlüpfrigen, 1 Unter bildhafter Ausdrucksweise wird hier nicht im engeren Sinne die Verwendung von Metaphern, Gleichnissen usw. verstanden, sondern überhaupt der Reichtum an sinnlichem, besonders visuellem Ausdrucksgehalt.
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
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Mit Mutterblut besprengten Pfade fort Mich zu den Todten reißt. Er trockne gnädig Die Quelle, die, mir aus der Mutter Wunden Entgegen sprudelnd, ewig mich befleckt. (Iphigenie 749—755)
Die folgende Stelle zeigt zugleich ein jähes Umschlagen vom bildhaften zum begrifflich-reflektierenden Ausdruck, wie es sich mehrfach in Tassos Redeweise findet: Wo sind die Stunden hin, Die um dein Haupt mit Blumenkränzen spielten ? Die Tage wo dein Geist mit freyer Sehnsucht Des Himmels ausgespanntes Blau durchdrang? Und dennoch lebst du noch und fühlst dich an, Du fühlst dich an und weißt nicht ob du lebst. Ist's meine Schuld, ist's eines andern Schuld Daß ich mich nun als schuldig hier befinde ? Hab' ich verbrochen daß ich leiden soll? Ist nicht mein ganzer Fehler ein Verdienst ? (Tasso 2194—2203)
Intensiver Bildgehalt des Ausdrucks ist nicht nur im ganzen im 'Tasso' seltener als. in der 'Iphigenie', sondern es scheint auch ein bedeutender Unterschied in der Verteilung bildhaft gehaltener Partien zu bestehen. In der 'Iphigenie' liegen sie vorwiegend in den Mittelakten, besonders im dritten Aufzug; es sind also die Stellen der stärksten seelischen Erregung. Im 'Tasso' dagegen sind es zunächst Teile des ersten Aufzugs und der beiden ersten Szenen des zweiten Aufzugs, die sich durch bildhaften Ausdruck herausheben : das Gespräch der Frauen über Frühling und Poesie, Antonios Worte über die Dichtkunst des Ariost, und Tassos Schilderung des Hoffestes und des goldenen Zeitalters. Es handelt sich dabei also um Inhalte, die dem dramatischen Geschehen nur den Rahmen geben. An den Stellen des zentralen seelischen Erlebens dagegen tritt meist die erwähnte Neigung zur begrifflichen Reflexion hervor. Hierin unterscheiden sich vor allem die Monologe des 'Tasso' von denen der 'Iphigenie'. Nur in den Augenblicken tiefster Trostlosigkeit und Verzweiflung spricht sich das Gefühl unmittelbar in Bildern aus, wie in den Klagen der Prinzessin im Gespräch mit Leonore Sanvitale oder in den folgenden Worten Tassos, in denen die Sphäre des Grauens der 'Iphigenie' noch einmal anklingt: 12»
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JOHANNES
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Es geht die Sonne mir der schönsten Gunst Auf einmal unter; seinen holden Blick Entziehet mir der Fürst, und läßt mich hier Auf düstrem, schmalen Pfad verlohren stehn. Das häßliche zweydeutige Geflügel, Das leidige Gefolg der alten Nacht, Es schwärmt hervor und schwirrt mir um das Haupt. Wohin, wohin beweg ich meinen Schritt ? Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaußt, Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt ? (Tasso 2231—2240)
Sonst aber ist, wie die folgende Gegenüberstellungen 1 verdeutlichen sollen, eine durchaus gegensätzliche Tendenz des Ausdrucks in den beiden Dichtungen festzustellen: Von dieses Mannes Rede fühl' ich mir Zur ungelegnen Zeit das Herz im Busen Auf einmal umgewendet. Ich erschrecke! Denn wie die Fluth mit schnellen Strömen wachsend Die Felsen überspült, die in dem Sand Am Ufer liegen: so bedeckte ganz Ein Freudenstrom mein Innerstes. Ich hielt I n meinen Armen das Unmögliche. Es schien sich eine Wölke wieder sanft U m mich zu legen, von der Erde mich Empor zu heben und in jenen Schlummer Mich einzuwiegen, den die gute Göttin Um meine Schläfe legte, da ihr Arm Mich rettend faßte. (Iphigenie isos-isie) Wie oft hab' ich mich willig selbst betrogen, Auch über sie, und doch im Grunde hat Mich nur - die Eitelkeit betrogen. Wohl! Ich kannte sie, und schmeichelte mir selbst. So ist sie gegen andre, sagt' ich mir, Doch gegen dich ist's offne treue Meynung. 1
Auch in den Beispielen des vorhergehenden Abschnittes tritt der Gegensatz zwischen der bildhaften Redeweise in der 'Iphigenie' und der begrifflichen Ausdrucksweise im 'Tasso' klar hervor. Für den 'Tasso' vgl. ferner die Textausschnitte auf S. 162 u. 163.
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
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Nun seh' ichs wohl und seh es nur zu spät: Ich war begünstigt, und sie schmiegte sich So zart — an den Beglückten. Nun ich falle, Sie wendet mir den Rücken wie das Glück. (Tasso 2498—2507)
Erinnre mich nicht jener schönen Tage, Da mir dein Haus die freie Stätte gab, Dein edler Vater klug und liebevoll Die halberstarrte junge Blüthe pflegte; Da du ein immer munterer Geselle, Gleich einem leichten bunten Schmetterling Um eine dunkle Blume, jeden Tag Um mich mit neuem Leben gaukeltest, Mir deine Lust in meine Seele spieltest, Daß ich, vergessend meiner Noth, mir dir In rascher Jugend hingerissen schwärmte. (Iphigenie 643—653)
Ihn mußt' ich ehren, darum liebt ich ihn; Ich mußt' ihn lieben, weil mit ihm mein Leben Zum Leben ward wie ich es nie gekannt. Erst sagt ich mir, entferne dich von ihm! Ich wich und wich und kam nur immer näher. So lieblich angelockt, so h a r t bestraft! Ein reines wahres Gut verschwindet mir, Und meiner Sehnsucht schiebt ein böser Geist Statt Freud und Glück verwandte Schmerzen unter. (Tasso 1888—1896)
Die Verquickung jeweils zweier Haupttendenzen der sprachlichen Auffassung in den beiden Dramen ist aus den Beispielen klar zu ersehen. Die Grundmerkmale der Sprachform können daher zusammenfassend bestimmt werden als integrierende Komplexion der Sprachinhalte, verbunden mit bildhafter Schau der Gegenstände des Erlebens in der 'Iphigenie', und als gliedernde Analyse der Sachverhalte, verknüpft mit scharfsinniger begrifflicher Reflexion im 'Tasso'. Die folgenden Stellen zeigen insbesondere Tassos Redeweise in extremer Form von dieser Ausdruckstendenz beherrscht: Wohl hast du recht, ich bin nicht mehr ich selbst Und bin's doch noch so gut als wie ich's war. Es scheint ein Räthsel und doch ist es keins. (Tasso 2254—2256)
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Ja, auch Sie! Darf ich es sagen und ich glaub es kaum, Ich glaub es wohl und möcht' es mir verschweigen. Auch Sie! auch Sie! Entschuldige sie ganz Allein verbirg dir's nicht: auch Sie! auch Sie! (Tasso 2808—2812)
Du hast's gewagt zu denken, hast's gesprochen, Und es ist wahr eh du es fürchten konntest! (Tasso 2824 f.)
bin ich Nichts Ganz Nichts geworden ? Nein, es ist alles da und ich bin nichts; Ich bin mir selbst entwandt, sie ist es mir! (Tasso 3415—3418)
Demgegenüber macht sich in der 'Iphigenie' selbst bei kurzer Rede und Gegenrede die Neigung zur bildhaft-komplexiven Auffassung geltend: THOAS
Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind Zu tilgen sucht, so wehret sich der Zorn In meinem Busen gegen deine Worte. IPHIGENIE
0 laß die Gnade, wie das heil'ge Licht Der stillen Opferflamme, mir, umkränzt Von Lobgesang und Dank und Freude, lodern.
(Iphigenie 1979—1985)
Auf Grund dieses Befundes könnte man in zugespitzter Formulierung sagen, daß in der 'Iphigenie' das Bild und im 'Tasso' der Begriff das eigentliche Element der Auffassung und das Vehikel der Vorstellung bildet. Im 'Tasso' findet sich noch eine weitere Erscheinung, die die Bedeutung des Begriffes in dieser Dichtung deutlich macht. Es ist das die normalerweise eher gemiedene Wiederholung desselben Etymons oder auch desselben Wortes, die hier mit einer spürbaren Lust am scharfsinnigen Hin- und Herwenden des Begriffes und am Jonglieren mit ihm betrieben wird.1 1
Hierin scheint Goethe an die Kunst der 'Argutien' anzuknüpfen, die zum Inventar der älteren Rhetorik gehörte. Als Beispiel diene eine Stelle aus dem Kapitel 'Von Übung mit den Argutiis' in C H R I S T I A N W E I S E S Politischem Redner, Leipzig 1 6 7 9 . W E I S E definiert: 'Und zwar so besteht das Spiel der Worte in einer zierlichen Wiederholung / wenn entweder eben dieselben / oder doch andere gleichmäßige gegen
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
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Einige sehr ausgeprägte Beispiele hierfür bieten bereits die auf Seite 162 and 163 angeführten Textausschnitte. Mehrere weitere mögen hier eingerückt werden: stets ist dein Antheil groß Am Großen, das du wie dich selbst erkennst. (Tasso 93 f.)
und wenn die feine Klugheit, Von einem klugen Manne zart entwickelt, Statt uns zu hintergehen uns belehrt. (Ta930 131
133)
PRINZESSINN
Du willst dich in Genuß, o Freundinn, setzen, Ich soll entbehren; heißt das billig seyn ? LEONORE
Entbehren wirst du nichts als was du doch In diesem Falle nicht genießen könntest. (Tasso 1725 — 1728)
ANTONIO
Und von der Gunst der Frauen sagst du nichts, Die willst du mir doch nicht entbehrlich schildern ? LEONORE
Wie man es nimmt. Denn du entbehrst sie nicht, Und leichter wäre sie dir zu entbehren, Als sie es jenem guten Mann nicht ist. (Tasso 2057—2061)
so begiebst du dich Erst nach Florenz, und eine Freundinn wird Gar freundlich für dich sorgen. (XaS30 ¿m—2«6) Gar freundliche Gesellschaft leistet uns Ein ferner Freund wenn wir ihn glücklich wissen. (Tasso 2448 f.)
einander gesetzet werden' (S. 63) und führt u. a. das Exempel an: 'In der Welt ist dieser nicht gluckselig / welcher viel Glückseligkeit besitzt / sondern welcher sich in Hoffnung der ewigen Glückseligkeit glückselig nennen kan' (S. 64). — Wie überhaupt in der sprachformalen Gestaltung der 'Iphigenie' und des 'Tasso', so macht sich Goethe auch hier schon vorgeprägte und bereitliegende Formen zunutze, die er aber in spezifischer Auswahl als Ausdrucksträger des Werkstils zusammenwirken läßt und dadurch über den bloß formalen Effekt erhebt.
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JOHANNES M A N T E Y
T A SSO
Laß mich bedenken, ich beschließe bald. LEONORE
Bedenke nur und wenn du recht bedenkst, So wirst du schwerlich etwas bessers denken. (Tasso 2429—2433)
Es ist gewiß, ein ungemäßigt Leben, Wie es uns schwere wilde Träume giebt, Macht uns zuletzt am hellen Tage träumen. Was ist sein Argwohn anders als ein Traum ? (Tasso 2918—2921)
ich bin gesund Wenn ich mich meinem Fleiß ergeben kann, Und so macht wieder mich der Fleiß gesund. Du hast mich lang gesehn, mir ist nicht wohl I n freyer Üppigkeit. Mir läßt die R u h Am mindsten Ruhe. „ „„„,„
(Tasso 3063—3068)
Versucht man nun, die Ausdruckswerte der Sprachform auf die Mentalität der handelnden Personen in der 'Iphigenie' und im 'Tasso' zu beziehen, so ist unschwer zu erkennen, daß hier eine Art von physiognomischem Ausdruck ihrer Gemüts- und Geisteshaltung vorliegt. Das bildhafte und die Gegenstände des Erlebens ganzheitlich erschauende Sprachdenken der 'Iphigenie' vergegenwärtigt ein Erleben aus der Tiefe der Seele heraus, das nicht scheidet und sondert, weil gleichsam die Kräfte der Seele noch nicht in die des Gemüts und die des Verstandes getrennt sind. Es darf wohl als ein Zeugnis hierfür angeführt werden, daß die ulyssische Klugheit und Verstandesklarheit des Pylades in der 'Iphigenie' als eine Seelenkraft aufgefaßt wird: 0 segnet, Götter, unsern Pylades Und was er immer unternehmen mag! Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht, Des Greises leuchtend Aug' in der Versammlung: Denn seine Seel' ist stille; sie bewahrt Der Ruhe heil'ges unerschöpftes Gut, Und den Umhergetriebnen reichet er Aus ihren Tiefen R a t h und Hülfe. (Iphigenie 1382—1389)
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
183
Demgegenüber erseheint im 'Tasso' das Vermögen der Seele wie auseinandergelegt in die Elemente 'Verstand' und 'Herz'. Bei der Erörterung des letzteren Wortes im ersten Teil der Untersuchung wurde bereits auf die Züge des Abgründigen hingewiesen, die in dem Bezirk des Fühlens und Trachtens, den dieses Wort im 'Tasso' bezeichnet, hervortreten, und die auch sonst in manchen Eigentümlichkeiten des Wortgebrauches wahrnehmbar sind. Hier, im Bereiche der Sprachform, sind es zunächst das begriffliche Akumen und die gedankliche Überhelle einer hochentwickelten Verstandeskultur, die sich als Ausdruck der Wesensart der handelnden Personen der sprachlichen Form aufprägen, und deren physiognomischer Ausdrucksgehalt durch die metrischen Gestaltungen noch überhöht wird. Weiterhin wendet sich der Scharfsinn dieses disjunktiven Sprachdenkens, wie mehrere der angeführten Textausschnitte zeigen 1 , mit Vorliebe auch auf die eigenen Seelenzustände oder auf die Beziehung des eigenen Ich zu anderen Menschen und unterwirft diese Verhältnisse einer zergliedernden Analyse. Die aus Überbewußtheit entspringende Selbstbespiegelung hebt O S K A R W A L Z E L als Kennzeichen eines 'nervösen Charakters' hervor, dessen Merkmale auf dem Wege vom 'Werther' zur Romantik eine sich steigernde Entwicklung erfahren. 2 Dieser Begriff des nervösen Charakters erscheint vortrefflich geeignet, die in der Sprachform sich ausdrückende Mentalität der Personen des Tasso zu kennzeichnen und gegen die entsprechenden Erscheinungen in der 'Iphigenie' abzuheben. Es soll hier darunter die spezifische Art des Erlebens und der Bewältigung des Erlebten im 'Tasso' verstanden werden, die sich in der sprachlichen Fassung der Erlebnisinhalte widerspiegelt. Während in der 'Iphigenie' die großen und einfachen Gefühle das seelische Bild beherrschen, ist im 'Tasso' alles auf die komplizierte Problematik verwickelter psychologischer Konflikte gestellt, die mit geschärfter Bewußtheit erlebt und der zergliedernden Reflexion unterworfen werden 3 . Den angeführten Beispielen seien noch die folgenden Gegenüberstellungen hinzugefügt, in denen die Zusammenhänge zwischen seelischer Disposition und sprachlicher Ausdrucksform auch vom Inhalt her besonders deutlich sichtbar werden 4 : 1
Vgl. Tasso 2194-2203 (S. 177), 2498-2507 (S. 178f.), 1888-1896 (S. 179) und die Beispiele auf S. 179 und 180. 2
2,
OSKAR WALZEL, D e u t s c h e D i c h t u n g v o n G o t t s c h e d b i s z u r G e g e n w a r t ( 1 9 2 7 / 3 2 )
S. 3 3 . 3
Vgl. hierzu die Ausführungen im ersten Teil, S. 75—77.
4
Vgl. auch die Beispiele auf S. 164 (Iphigenie 1619-1628, Tasso 3221-3233).
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0 laß den reinen Hauch der Liebe dir Die Gluth des Busens leise wehend kühlen. Orest, mein Theurer, kannst du nicht vernehmen ? H a t das Geleit der Schreckensgötter so Das Blut in deinen Adern aufgetrocknet ? Schleicht, wie vom H a u p t der gräßlichen Gorgone, Versteinernd dir ein Zauber durch die Glieder ? O wenn vergoss'nen Mutterblutes Stimme Zur Holl' hinab mit dumpfen Tönen r u f t ; Soll nicht der reinen Schwester Segenswort Hülfreiche Götter vom Olympus rufen ? ( I p h i g e n i e 1X57—1167)
Gar wenig ist's was wir von dir verlangen Und dennoch scheint es allzuviel zu seyn. Du sollst dich selbst uns freundlich überlassen. Wir wollen nichts von dir was du nicht bist, Wenn du nur erst dir mit dir selbst gefällst. ' Du machst uns Freude wenn du Freude hast, Und du betrübst uns nur wenn du sie fliehst; Und wenn du uns auch ungeduldig machst, So ist es nur, daß wir dir helfen möchten Und, leider! sehn daß nicht zu helfen ist; Wenn du nicht selbst des Frendes Hand ergreifst, Die, sehnlich ausgereckt, dich nicht erreicht. (Tasso 3234—3245)
Auch der Ausdruck der Unruhe und Ungewißheit nimmt in der 'Iphigenie' und im 'Tasso' ganz verschiedene Formen an: Sprich deutlicher, daß ich nicht länger sinne. Die Ungewißheit schlägt mit tausendfältig Die dunkeln Schwingen um das bange H a u p t . (Iphigenie 1000—1002)
O laßt das lang erwartete, Noch kaum gedachte Glück nicht, wie den Schatten Des abgeschiednen Freundes, eitel mir Und dreifach schmerzlicher vorübergehn! (Iphigenie
1114—1117)
6. Ausdruckswerte der Sprachform im Zusammenhang des Textes
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Wo bleibt Eleonore? Schmerzlicher Bewegt mir jeden Augenblick die Sorge Das tiefste Herz. Kaum weiß ich was geschah, Kaum weiß ich wer von beyden schuldig ist. O daß sie käme! möcht' ich doch nicht gern Den Bruder nicht, Antonio nicht sprechen Eh ich gefaßter bin, eh ich vernommen, Wie alles steht und was es werden kann. (Tasso 1649 — 1656)
Gegenüber Iphigeniens gefaßten, ja gelassenen, mit großem Atem gesprochenen Sätzen zeugen die Worte der Prinzessin im 'Tasso' von einer nervösen Erregung; und während hier die seelischen Vorgänge einer zergliedernden Beobachtung unterworfen werden, scheinen sie dort bildhaft in das Bewußtsein des Sprechenden zu treten und werden in Bildern ausgesprochen. Die Menschen der 'Iphigenie' fühlen sich abhängig von den Schicksalsmächten des antiken Mythus; was sie bedrängt und beglückt, nimmt in ihrem Erleben und in ihren Worten die Gestalten dieser Mächte an. Und dieses schauende Erleben einer beseelten Welt bleibt nicht auf den Gestaltenkreis des Mythus beschränkt, sondern alles, was die Seele berührt, wird aus der Tiefe des Gemütes heraus aufgefaßt und wird zum Bild. Dagegen sind die Personen des 'Tasso', Menschen eines individualistischen Lebenskreises, ganz auf ihr eigenes Ich gestellt. Sie fühlen sich nicht von objektiven Mächten getragen, sondern auf sich selbst zurückverwiesen. Ihr eigenes Ich und ihre Beziehungen zueinander werden ihnen zu Problemen, mit denen sie sich reflektierend auseinandersetzen. Die Wesenszüge der Sprachform in der 'Iphigenie' und im 'Tasso', die in den Ausführungen über Komplexion und Analyse der Sprachinhalte, bildhafte Schau und begriffliche Reflexion, getragenen und bewegten Redefluß hervorgehoben werden konnten, erweisen sich als Ausdruck zweier ganz verschiedener Grundhaltungen des seelischen Erlebens.
Aus der Untersuchung über den Sprachstil in Goethes 'Torquato Tasso' hat sich ergeben, daß sowohl die Ausdruckswerte des Wortschatzes als auch die der sprachlichen Form Aussagen von entschiedenem Eigenwert enthalten, die ergänzend neben die inhaltlichen Aussagen des Textes treten und mit ihnen zusammen den geistigen Gehalt der Dichtung ausmachen. Es konnte gezeigt werden, daß in den Ausdrucksqualitäten des Wortschatzes sehr wesentliche, im Text kaum oder gar nicht explizit ausgesprochene Elemente der Sinnesart der handelnden Personen sichtbar werden, die über
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ihre Weltsicht und Lebensauffassung, ihre Wertungsmaßstäbe, ihre psychologische Besonderheit und über das Wesen ihrer wechselseitigen Beziehungen Aufschluß geben. Die Aussagewerte des Wortes still und der f ü r die Eigenart der zwischenmenschlichen Beziehungen kennzeichnenden Wörter haben zudem auf inhaltliche Gegebenheiten aufmerksam gemacht, die eine in manchen Punkten veränderte Interpretation der Dichtung möglich erscheinen lassen. Als durchaus eigenständig, wenngleich weniger reich facettiert, erwiesen sich auch die Stilwerte der sprachlichen Form, die gleichsam als physiognomische Züge der Sinnesart und seelischen Haltung dem sprachlichen Material aufgeprägt erscheinen. In Übereinstimmung mit den in der Einleitung ausgesprochenen Erwartungen darf daher f ü r die Ausdruckswerte des Sprachstils im 'Tasso' in Anspruch genommen werden, daß sie nicht als auf den Inhalt abgestimmte bloße Form, sondern als selbständige Inhalte neben den unmittelbaren Aussagen des Textes anzusehen sind.
ANHANG
Zu Teil II, Abschnitt 1 - 3 : 1. Partizipien des Präsens in Verknüpfung mit dem Verbum finitum a) Unerweiterte Partizipien b) Erweiterte Partizipien in Schaltstellung c) Nachgestellte erweiterte Partizipien 2. Vorangestellte Genitiv-Attribute 3. Nominalkomposita
1. Partizipien des Präsens in Verknüpfung mit dem Verbum finitum a) Unerweiterte Partizipien Iphigenie wo / Sich Mitgeborgene spielend fest und fester Mit sanften Banden an einander knüpften. (20—22)
wenn / Uns jeder Tag, vergebens hingeträumt, Zu jenen grauen Tagen vorbereitet, Die an den Ufern Lethe's, selbstvergessend, Die Trauerschaar der Abgeschiednen feiert (110—114)
Daß, der du über viele sorgend herrschest, Du auch vor vielen seltnes Glück genießest. (224 f.)
Rächend treibet Atreus Ihn aus dem Reiche